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Universal Consciousness [blog]

Spiritualität im Jazz und der Blues vom guten Leben.

Gedanken zum Thema der Konferenz zum 19. Darmstädter Jazzforum vom 25. bis 27. September 2025


Seit 1989, also eigentlich schon ein Jahr länger als das Jazzinstitut Darmstadt selbst (gegründet im Oktober 1990), gibt es das Darmstädter Jazzforum. Der Initiator des ersten Jazzforums, der Gießener Musikwissenschaftler und Jazzmusiker Ekkehard Jost, formulierte den Anspruch der Veranstaltung in einem Vorwort zum ersten Tagungsband als, „einen ersten Versuch, verstreute Forschungsvorhaben und -ergebnisse aufeinander beziehbar zu machen, Erfahrungsaustausch zwischen Musikwissenschaftlern und Musikern zu ermöglichen und eine interessierte Zuhörerschaft über den aktuellen Stand der Jazzforschung – oder doch zumindest einiger seiner Teilbereiche – zu informieren.“ (Ekkehard Jost (Hrsg.): Darmstädter Jazzforum 89. Beiträge zur Jazzforschung. Hofheim 1990, S. 9)

Unter der Leitung von von Wolfram Knauer (17 Ausgaben zwischen 1991 bis 2023) hat sich das Jazzforum nicht nur in seinen Vortragsformen (Referat und Diskussion) stark weiterentwickelt, sondern ist auch viel stärker an den konkreten Aus- und Wechselwirkungen seiner Themensetzungen mit der künstlerischen und sozialen Alltagserfahrung der Menschen innerhalb der Jazzszene interessiert. Seit 2024 lenkt nun Bettina Bohle die Geschicke des Jazzinstituts Darmstadt. Damit wurde auch das Jazzforum noch einmal einem kritischen Blick von außen unterworfen. Für die Ausgabe im September 2025 werden wir am in den letzten Ausgaben unter Wolfram Knauer etablierten Format im wesentlichen festhalten. Insbesondere den Ansatz, ein übergreifendes Thema bzw. eine zentrale Fragestellung in den Mittelpunkt des Jazzforum zu stellen, werden wir absehbar beibehalten.  Ebenso wollen wir Beiträge aus der akademischen Diskussion, von Forschenden, weiterhin in den Mittelpunkt stellen und darüber zur Diskussion einladen. Dabei spielt Interdisziplinarität auch weiterhin eine große Rolle: Jazzgeschichtliche  Forschung steht neben musikwissenschaftlicher Analyse und sozialwissenschaftliche Fragestellungen treffen auf kulturpolitische Debatten.

Für das bevorstehende 19. Darmstädter Jazzforum haben wir uns für das Thema „Spiritualität“ entschieden. Warum das so ist, wie unser teaminternen Überlegungen dazu verlaufen sind, welche anderen interessanten Ansätze von außen wir zu diesem Themenfeld entdecken, wollen wir hier vorstellen. Wir werden versuchen, diese Seite regelmäßig mit Beiträgen aus dem Jazzinstitut zu befüllen.

Wir freuen uns dabei auch über Input und Hinweise zu interessanten Aspekte von außerhalb, die wir gerne in Rücksprache mit den Autor*innen und natürlich nach unserer kritischen Betrachtung, gerne an dieser Stelle veröffentlichen.

Die aktuelle Einsendefrist für eigene Beiträge zum 19. Darmstädter Jazzforum endet zunächst am 31.1.2025. Einreichungen per E-Mail an: jazzforum@jazzinstitut.de


Im Juni 2024 starteten wir mit folgenden Überlegungen zu „Spiritualität und Jazz“ institutsintern ins Thema.

Juni 2024 von Marie Härtling

Jazz und Spiritualität – ein chronologischer Bogen

Jazz und Spiritualität sind nicht nur auf den zweiten Blick Themen, die eng im Austausch stehen. Begonnen mit der Versklavung und christlichen Missionierung von Afrikaner*innen in Amerika, über das Konvertieren von Jazzmusiker*innen zum Islam in den 1960er und 1970er-Jahren und in die Gegenwart, mit der Frage nach einem achtsamen Leben von Jazz-Musiker*innen.

Spirituals und Gospel

Robert Patterson Singers, 1962 (Archiv JID)

Ihrer ursprünglichen Spiritualität beraubt, beginnen die afrikanischen Sklaven im 19. Jahrhundert sich den Zwang, den christlichen Glauben praktizieren zu müssen, zunutze zu machen. Ohne dafür bestraft zu werden, dürfen sich die Sklav*innen und später die „befreiten“ Sklav*innen in Gottesdiensten treffen. In Spirituals und Gospel verarbeiten sie ihre kollektiven Erfahrungen und führen durch sprachliche Codes in den Liedtexten ihre Oral-History weiter. „Swing low, sweet chariot, coming for to carry me home“, die Liedzeile des berühmten Spirituals der Fisk Jubilee Singers vom Ende des 19. Jahrhunderts, drückt eine Sehnsucht nach den Roots und eine transzendente Verbindung zur Heimat Afrika aus. Gemeinsam praktizierter Glaube wird zu einer der Grundsäulen der Afroamerikanischen Kultur, wirkt sinnstiftend und verspricht Heilung und eine bessere Zukunft. Die Musik, die fester Bestandteil dieser religiösen Rituale ist, wird zu einem Grundstein für die musikalische Bildung der Afroamerikaner*innen und beflügelt die Weiterentwicklung der schwarzen Musik in Amerika, auch den Jazz.

Spiritualität in der Bürgerrechtsbewegung

Mit der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren beginnt eine neue Form des kollektiven Glaubens. Es geht nicht mehr darum, sich durch Assimilation Freiräume zu schaffen, sondern Abgrenzung von „den Unterdrückenden“ soll eigene, selbstbestimmte Räume aufmachen. Dabei spalten sich die Lager. Während der eher christlich spirituell verwurzelte Martin Luther King im Sinne Gandhis den gewaltfreien Widerstand propagiert, macht der ebenso spirituelle Malcom X als Mitglied der Nation of Islam Furore mit seinem Aufruf zur Gewalt. Viele Afroamerikaner*innen konvertieren zum Islam, nicht nur weil sie sich hier der weißen Vorherrschaft entzogen fühlen, sondern auch aus pragmatischen Gründen. So werden Personen mit muslimischen Namen weniger diskriminiert.

Der Sound eines offen spirituell geprägten Jazz

Im Jazz findet ab den 1960er Jahren eine Hinwendung zu musikalischen Traditionen der islamischen und hinduistischen Kultur hin. Der von der Apartheit in Südafrika geprägte Musiker Abdullah Ibrahim (Dollar Brand) kommt in den 1960er Jahren in die USA und konvertiert zum Islam. Gemeinsam mit u.a. Pharoah Sanders, Don Cherry, Alice und John Coltrane, verkörpert er Figuren im Jazz, die sich sehr offen zu ihrer Spiritualität bekennen und das in die Musik einfließen lassen. Zusammenfassend, bietet die Spiritualität den Afroamerikaner*innen einen gemeinsamen Ausweg vor der rassistischen Wirklichkeit.

Forschungsfragen zu Spiritualität und Musik heute

Wirft man einen Blick in die Gegenwart, wird sich mit dem Thema Spiritualität im musikalischen Kontext allgemein gehäuft auseinander gesetzt. Im Band-Kontext wird das Zusammenspiel der Musiker*innen untersucht und nach einem „Band-Spirit“ und „Band-Ritualen“ geforscht. Dabei tauchen Begriffe wie „Atmosphäre“ als Platzhalter auf. Bezogen wird sich hier auf den gesamten Prozess, von der Lehratmosphäre im Musik- und Instrumentalunterricht, über das obengenannte Zusammenspiel von Musiker*innen und das Komponieren von Musikstücken selbst. Besonders während der Corona-Pandemie zeigte sich hier eine Veränderung in der Kompositionsatmosphäre. Viele Musiker*innen äußerten sich zu ihrer entweder sehr hohen oder sehr niedrigen Inspiration durch die Isolation während der Pandemie. Auch das Erlebnis der Hörer*innen wird untersucht. Welche Rituale gibt es, auf Konzertbesuche und das Musikhören generell bezogen und welche Atmosphäre entsteht dabei? Begriffe wie „Music is my Religion“ entstehen bereits in der Techno-Szene der 1990er-Jahre.

Jazz und Improvisation im Blickwinkel der Spiritualität

Bezogen auf den Jazz und die improvisierte Musik wird erforscht, wie sich der „Flow“ des Improvisierens auswirkt, auch auf die seelische Gesundheit der Musiker*innen. Ca. 100 Jahre nach der Entstehung des Jazz unter obengenannten Umständen, fragt man nach den persönlichkeitsbildenden Aspekten, Teil einer Jazz-Szene zu sein. Gibt es einen „Jazz-Spirit“? Wie spirituell ist der Zugang von Musiker*innen zur Jazzmusik und gibt es Punkte, an dem sie durch die Musik ihre eigene Wirklichkeit begründen? Gibt es Menschen die von sich behaupten, „Jazz als Sinn des eigenen Lebens“ zu haben?

Der chronologisch aufgespannte Bogen durch das Sujet „Jazz und Spiritualität“ umfasst eine Fülle an Themen aus verschiedenen Disziplinen und ist nach allen Seiten offen. Die Frage nach dem Sinn, warum gibt es Jazz, warum hört man Jazz, warum spielt man Jazz und was ist eigentlich Jazz, treiben seit Jahrzehnten Musiker*innen, Journalist*innen und Hörer*innen um. Es scheint als gäbe es keine definitive Antwort, nur: da ist einfach irgendetwas, das hat mich eingenommen, daran halte ich fest und ich kann es nicht sehen, aber es ist da.


Juni 2024 von Arndt Weidler

Free Your Spirit – Jazz und Spiritualität

Technologisch, gesellschaftlich und politisch betrachtet, befindet sich die Menschheit derzeit in einem gewaltigen Transformationsprozess. Veränderungen der persönlichen Lebenswelt werden dabei von den allermeisten Menschen weltweit als alltägliche Bedrohung  wahrgenommen. Künstliche Intelligenz, demografischer Wandel, die aggressive Konkurrenz internationaler Beziehungen, Klimakrise, Bedrohungen der Biodiversität oder der ungleiche Zugang zu gesellschaftlichen und natürlichen Ressourcen überfordern dabei ein balanciertes Empfinden für die Bewertung persönlicher Handlungsmacht der Individuen.

Grausame Realität vs. Heilende Parallelwelten

Liegt da nicht der Rückzug aus der erlebten Realität und der Übertritt in künstlich geschaffene oder transzendentale Erfahrungswelten nahe; der Rückzug in eine Welt, die, wenn nicht ideal, so doch scheinbar unberührt und verlässlich bleibt, ganz gleich wie tiefgreifend und nachhaltig sich die Wirklichkeit verändert?

Diese Welt kann einerseits im virtuellen Parallelraum liegen – Individuen handeln und interagieren dort als Avatare oder Pseudonyme (Stichwort „Metaverse“) – oder eben in einer spirituellen Sphäre, in jener geistigen Meta-Ebene also, die – enthoben von der Alltäglichkeit kognitiver und biophysikalischer Immanenz – Transzendenz, Übersinnliches, Irrationales zulässt.

Perspektivwechsel fürs nächste Jazzforum?

Wir haben bei unseren letzten Jazzforen viel darüber nachgedacht, inwieweit eine transformationsoffene Musik wie der Jazz, zu dessen Kernelementen die Improvisation, die Innovation und die Interaktion, aber auch die besondere, kunstbezogene Haltung und die kultursoziologische Erfahrung der sich in diesem Kontext bewegenden Akteur*innen zählen, mit den globalen Entwicklungen moderner Gesellschaften resonieren. Wie politisch ist der Jazz? Wie geht er mit Forderungen nach geschlechtlicher Gleichstellung (gender equity) oder der Repräsentanz ethnischer und sozialer Diversität um? Welche Verantwortung tragen Kulturschaffende und Kreative? Ist die musikalische Praxis, die Art und Weise wie Musiker*innen Jazz interpretieren, ihr persönlicher Kommentar zur selbst erlebten Realität?

Wir sind also immer davon ausgegangen, dass die Musiker*innen proaktiv auf Veränderungen ihrer Umwelt reagieren, nicht nur um diese nachvollziehbar, künstlerisch zu spiegeln, sondern vielfach sogar, um sie bewusst zu verändern.

Aber kann es nicht auch umgekehrt sein, dass sich der Transformationsdruck der Gesellschaft auch auf die Kreativen niederschlägt; dass der Rückzug aus der erlebten Realität, die ja ganz praktisch für viele Jazzmusiker*innen hart genug ist, auch hier stattfindet? Vielleicht ist ja die Erschaffung eines Kunstwerks, dass nur für sich Selbst steht, gespeist aus der „Energie“ eines Individuums, allein ausreichender Antrieb künstlerischer Produktivität? Welche Rolle spielen Konstrukte wie „neue Innerlichkeit“, „Selbstfindung“, „kosmische Ordnung“ als Quelle der Inspiration beim Erschaffen neuer Musik und in der Aufführungspraxis?

Spiritualität beschäftigt den Jazz immer schon

Die Rückbesinnung auf, die Hinwendung zu oder die „Flucht“ in die Spiritualität (je nach Perspektive) hat schließlich historisch immer eine Rolle gespielt, ganz besonders auch in der slave culture beider Amerikas zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert: Da geht es um die Bewahrung oder Adaption echter oder vermeintlicher Rituale der afrikanischen „Heimat“, aber auch um Widerständigkeit im gewalttätigen und willkürhaften Unterdrückungssystem der Sklaverei, der Segregation und der Zwangschristianisierung. Musikalischen und kulturellen Ausdruck findet das in Field Songs, Spirituals und Gospelmusik, in Mardi Gras und Okkultismus, im Country Blues als devils music, in „unchristlicher“ Soulmusik, bis hin zum Sprengen der (jazz)musikalischen Konventionen durch Free Jazz im Sinne Ornette Colemans, dem surrealen Impetus des Afrofuturismus eines Sun Ra Arkestra oder dem frenetisch Transzendentalen einer Alice Coltrane bis hin zu Kamasi Washington.

Was würde mich bei dem Thema interessieren?

Mit welchen Themen könnte sich also ein Jazzforum befassen, das das Spannungsverhältnis oder eben die Symbiose von Spiritualität und Jazz behandelt?

Musik- und Sozialhistorisch:

  • Analysen zur „afrikanischen“ Ritualität in klassischen Sprituals
  • Schaffung von Spiritualität durch call-and-response-Muster in Gospel und Blues
  • Bedeutung von Spiritualität und „devianter“ Religionen für schwarze US-amerikanische Musiker*innen anhand von Beispielen: Dizzy Gillespie, Art Blakey, Yusef A. Lateef, John & Alice Coltrane, Benny Golson, Al Jarreau u.a.

Musikwissenschaftlich

  • Einflüsse als besonders spirituell wahrgenommener Musiken des Orients oder Südostasiens auf Schaffensphasen einzelner Musiker*innen
  • Veränderungen des Personalstils unter dem Einfluss veränderter oder wachsender Religiosität
  • Auswirkungen auf Bandsound oder Interaktion im Bandkontext durch spirituell geprägte Rituale

Philosophisch

  • Musik als Lebenssinn oder sinnveränderndes Medium
  • Jazz als ideale Imagination vom „guten Leben“
  • Sind „gutes“ Leben und „verantwortliches“ Leben dasselbe? Hedonismus versus Ethik

Psychologisch

  • Seelische Heilung durch Musik
  • Aufbau von psycho-sozialer Resilienz durch Förderung besonderer (musikalischer) Talente
  • „Kopfkino“ als Antrieb künstlerischer Produktivität

Soziologisch

  • Die Rolle religiös vorgeprägter Musiker*innen-Netzwerke
  • Der Einfluss der Institution Kirche auf die Entwicklung und Verbreitung des Jazz

APE OUT – Die perfekte Symbiose von Jazz und Videospiel?

Autor: Oliver Gries

[Trigger-Warnung: Die eingebetteten Inhalte (Trailer) enthalten Darstellungen physischer Gewalt! Minderjährige oder Personen, für die derlei explizite Darstellungen emotional belastend sein könnten, bitten wir von der Ansicht der Videos Abstand zu nehmen.]

Improvisierte Musik im bewegten Bild

Die Gattung Jazz ist in seiner gesamten Laufbahn des Öfteren mit anderen medialen Formen in Kontakt getreten. Dabei ist gerade die Beziehung zwischen Jazz und Film über die Jahre recht intim geworden; sowohl bei Klassikern wie „Anatomie eines Mordes“ (1959), als auch bei moderneren Produktionen wie „Midnight in Paris“ (2011) scheint der Jazz regelrecht in der DNA verbaut zu sein. Kein Wunder: Das immense Potential des Jazz, in seiner Komplexität und improvisatorischen Vielfalt, klimatische Spannung und emotionale Höhepunkte zu erzeugen, bietet in vielerlei Hinsicht eine ideale Passform für das Medium des Films. In manchen Fällen rücken zwar musikalische Kernaspekte wie eben diese Spontanität, Improvisation, Liveness etc. zwangsläufig in den Hintergrund und entfalten sich wenn überhaupt nur begrenzt, sofern die Handlung des Films es ihnen abverlangt.

Auf der anderen Seite gibt es aber auch Beispiele für den vordergründigen Einsatz von improvisatorischer Musik im Film, beispielsweise in der Gattung Stummfilm oder bei Produktionen wie Louis Malles „Fahrstuhl zum Schafott“ (1958), für welchen Miles Davis in nur einer Nacht den kompletten Soundtrack improvisierte und aufnahm, oder Alejandro G. Iñárritus „Birdman“ (2014), bei dem der Schlagzeuger Antonio Sánchez ganze Szenen in seinen Improvisationen adaptierte. Dazu kommentierte er: „The movie fed on the drums and the drums fed on the imagery.“

Vertonungen im Videospiel

Doch welchen Stellenwert findet der Jazz denn nun im Medium des Videospiels? Eigentlich könnte man ja meinen, dass sich besagtes Medium, mit seinem de-facto inhärenten Augenmerk auf Interaktivität und Spontanität, für eine Fusion mit dieser Gattung Musik regelrecht anbieten würde. Doch – wie es im diskursiven Rahmen des Videospiel-Journalismus bereits diskutiert wurde – waren Jazz-Soundtracks in Spielen bis vor relativ kurzer Zeit noch eine relative Seltenheit. Die potentiellen Gründe reichen dabei von der vergleichsweise jungen Existenz des Mediums bis hin zu den dominanten kulturellen Strömungen während seiner Entwicklung.

Inzwischen gibt es glücklicherweise eine Vielzahl nennenswerter Spiele, die teilweise oder maßgeblich Jazz-basierte Soundtracks aufweisen, von großen AAA-Produktionen wie „Super Mario Odyssey“ (2017) bis zu originellen Indie-Spielen wie „Cuphead“ (2017). Die Art und Weise der Implementation des Jazz variiert dabei in beträchtlichem Ausmaß von Spiel zu Spiel, mit unterschiedlichem Fokus auf Genre, Stil, (historischer) Repräsentation usw. Allerdings unterscheiden sich hier die Arten der Implementation des Jazz im Vergleich zu jenen im Film in vielen Fällen recht geringfügig. Dies mag wenig verwunderlich sein, wenn man bedenkt, wie prägend der Einfluss des Films auf den Werdegang des Videospiels war und weiterhin ist; aber existiert da nicht Potential, welches geradezu darum bettelt, ausgeschöpft zu werden? Videospiele haben über die Jahre eine Unzahl an technologisch beeindruckenden Innovationen präsentiert, darunter Systeme prozeduraler Generierung von Animationen, Figuren und sogar ganzen Spielwelten. Warum nicht auch von Musik? Ist es überhaupt möglich, ein Spiel seinen Soundtrack in Echtzeit generieren bzw. „improvisieren“ zu lassen?

Improvisierte Musik im Videospiel APE OUT

Im Lichte dieser Problematik möchte ich an dieser Stelle ein denkwürdiges, interaktives Kunstwerk in den Vordergrund rücken: Das 2019 von Devolver Digital veröffentlichte Videospiel APE OUT.

Wie es vom obigen Trailer wahrscheinlich bereits zu erahnen ist, ist APE OUT in konzeptueller Hinsicht recht simpel: Der/die Spielende versetzt sich in die Position eines Gorillas, welcher wiederholt von Menschen gefangen und eingesperrt wird und sich daraufhin immer wieder mit Gewalt befreien muss. In diesem kurzen und bündigen Handlungsspielraum hat der Protagonist nur eine begrenzte Anzahl an Möglichkeiten, mit der virtuellen Welt zu kommunizieren: Laufen,  Greifen und Werfen. Trotz dieser mechanischen Simplizität bietet APE OUT durch diverse Techniken prozeduraler Level-Generierung und Gegner-Positionierung eine große Vielfalt an möglichen Szenarien und Abläufen, welche dem/der Spielenden immerzu unterschiedliche Herausforderungen in den Weg stellen.

Und hierin liegt auch auf der Ebene des Soundtracks das Kernelement, durch welches APE OUT sich von dem Großteil seiner medialen Artgenossen abhebt: Ein immenses Ausmaß an adaptiver Interaktivität. Nicht nur nimmt jeder erzielte Kill seitens des/der Spielenden durch einen plötzlich ertönenden Beckenschlag einen unmittelbaren Einfluss auf den Soundtrack; der Soundtrack passt sich in seiner Struktur und Intensität von Moment zu Moment an eine Vielzahl unvorhersehbarer Variablen an – sei es eine große Anzahl an Gegnern, die in kurzer Zeit getötet wurden, oder so etwas subtiles wie das Material des Bodens, auf welchem der Gorilla sich bewegt. Um diese Funktionalität zu ermöglichen, nutzte der Komponist Matt Boch eine Machine-learning – Technologie namens variational autoencoder neural network, welche aus Bochs vorher komponiertem und gesampletem Tonmaterial dynamisch neue Tonspuren generiert. Dadurch wird garantiert, dass jeder individuelle Playthrough von APE OUT von einem individualisierten Soundtrack begleitet wird. Hierbei kann durchaus – wie es Forscher*innen und Komponist*innen experimenteller Computermusik wie Joel Chadabe und George E. Lewis in vergleichbaren Fällen bereits getan haben[1] – von einem Beispiel „interaktiver Komposition“ gesprochen werden. Lewis spricht im Bezug auf etwaige Interaktivitäten zwischen Mensch und Computer auch mitunter von einer „dialogischen“ Improvisation zwischen den zwei Entitäten und wirft interessante Fragen im Bezug auf die Hierarchie zwischen menschlicher Intention und maschineller Programmation auf.[2]

Doch ist das, was APE OUT uns bietet, bereits „richtige“ Improvisation? Die Frage zieht direkte Parellelen zur Debatte um „Künstliche Intelligenz“, und ob von ihr erzeugte Produkte in ihrem Stellenwert verglichen werden können mit menschlicher Intention, menschlicher Arbeit, menschlicher Kunst usw. Das neuronale Netzwerk, welches den Soundtrack von APE OUT generiert – so eindrucksvoll dieser Prozess auch sein mag – bezieht sich schließlich ebenfalls auf bereits komponiertes Material; ist das folglich nicht mehr Imitation und Variation als Improvisation? Spätestens an dieser Stelle der Diskussion kommt meistens jemand daher, der die ganze Prämisse „originaler Improvisation“ in Frage stellt und entgegnet, dass alle menschengemachte Kunst in irgendeiner Form iterativ sei; dass „richtige“ Improvisation nur ein Ideal, aber keine Wirklichkeit sein kann. Diese Debatte, so spannend sie auch ist, sprengt leider nicht nur den Rahmen dieses Beitrags, sondern scheint für jetzt (und, seien wir ehrlich, in absehbarer Zukunft) keinen konkreten Schlussstrich zu erlangen.

Aber einen Soundtrack lupenreiner, wahrhaftiger Improvisation zu erzeugen war von vorneherein nie APE OUT’s ausdrücklicher Anspruch; nach eigenen Angaben des Entwicklers Gabe Cuzzillo[3] war das gesamte Konzept seines Spiels maßgeblich von Pharoah Sanders’ Stück „You’ve Got to Have Freedom“ – welches auch in der Endszene des Spiels ertönt – inspiriert. Geradezu „besessen“ von der entfesselten, schieren Unberechenbarkeit des Stücks wollte er ein Spiel kreieren, welches es schafft, die von ihm wahrgenommene „wilde, tierhafte“ Katharsis des Stücks zu verkörpern.[4] Dieser Zielsatz inspirierte sämtliche stilistischen Eigenschaften des Spiels – vom abstrakten, Saul Bass-esken[5] Kunststil bis hin zum hochoktanigen Schlagzeug-Soundtrack.

Auch im Launch-Trailer des Spiels kommt Sanders’ Stück recht prominent zur Geltung

Kritische Betrachtung der Wahl des Protagonisten von APE OUT (oder: „Warum ein Gorilla?“)

Es ist auch eben dieses Konzept des „Tierhaften“, welches APE OUT in den Augen einiger problematisieren dürfte: Die Tatsache, dass der Hauptcharakter dieses dediziert auf Jazz (und damit auf „schwarzer Musik“) basierenden Spiels ein Gorilla ist, weckt für einige sicherlich unangenehme Erinnerungen an den rassistischen Stereotyp des Vergleichs von schwarzen Menschen mit Affen. Selbst wenn die Message des Spiels eine prinzipiell emanzipatorische sein mag, ist dies dennoch eine potentiell strittige artistic choice, welche zwar nicht in böswilliger Absicht erfolgt sein mag, aber sich dennoch in eine lange Tradition rassifizierter Stereotypisierung einfügt. Dies soll jetzt nicht die besprochenen Errungenschaften von APE OUT klein reden, sondern ist schlichtweg eine Anerkennung der Existenz des Kunstwerks im weiteren Kontext der strukturell rassistischen Gesellschaft, in welcher es entstanden ist.

Impro or no Impro? Abschließende Gedanken

Aber – um noch einmal auf die Problematik vom Anfang des Beitrags zurückzukommen – schafft es APE OUT, sich den Jazz nicht lediglich als Begleitmusik nutzbar zu machen, sondern ihn gleichberechtigt in den Vordergrund zu rücken? Die Antwort auf diese Frage ist – man verzeihe mir die formelhafte Bemerkung – natürlich erst einmal Ansichtssache. Sie hängt davon ab, welche Facetten des Jazz man als besonders wichtig wahrnimmt, sei es die Unmittelbarkeit, die Spontanität, die Improvisation und weitere Faktoren. Es kann APE OUT diesbezüglich zumindest eines angerechnet werden: Dass es besagten Aspekten und Idealen in solch einem Ausmaß entgegenkommt, dass es in seinem Medium als definitive Besonderheit hervorsticht. Die adaptive Echtzeit-Generation eines Spiele-Soundtracks auf solch einem Level an Qualität und Variabilität, wie APE OUT sie erzielt, birgt meines Erachtens immenses Potential für die Zukunft der Komposition interaktiver Musik – und vielleicht, mit etwas Glück, auch endlich einen künstlerisch tatsächlich wertvollen Verwendungszweck für KI.


[1]Born_Georgina_2017_Improvisation_and_Social_Aesthetics_p91-109

[2]Born_Georgina_2017_Improvisation_and_Social_Aesthetics_p105

[3]https://www.gamedeveloper.com/design/road-to-the-student-igf-gabe-cuzzillo-s-i-ape-out-i-; https://www.gamereactor.de/video/309103/Ape+Out+-+Gabe+Cuzzillo+Interview/

[4]Vgl. https://www.gamereactor.de/video/309103/Ape+Out+-+Gabe+Cuzzillo+Interview/ & https://www.gamedeveloper.com/design/road-to-the-student-igf-gabe-cuzzillo-s-i-ape-out-i-

[5]Aus dem Interview von Gabe Cuzzillo auf der Webseite Game Developer: „The soundtrack is a series of jazz drum solos. I hope the music emphasizes the improvisational, animal feeling of the game, as well as fits aesthetically with the Saul Bass-inspired art. The song “You’ve Got To Have Freedom“ by Pharoah Sanders inspired lot of the feel of the game.“ URL: https://www.gamedeveloper.com/design/road-to-the-student-igf-gabe-cuzzillo-s-i-ape-out-i-



Der Autor, Oliver Gries, ist Student der Musikwissenschaft und Amerikanistik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er hat im September und Oktober 2024 ein studentisches Praktikum im Jazzinstitut Darmstadt absolviert. Der Text verbindet Olivers persönliche Leidenschaften für Games und Jazzmusik – und er war das Resultat spannender Diskussionen, die wir im Jazzinstitut mit ihm über die Möglichkeiten und Beschränkungen der Verwendung improvisierter Musik im Kontext intuitiver Visualisierung wie sie bei Computerspielen eingesetzt wird, geführt haben.

UNIVERSAL CONSCIOUSNESS

19. Darmstädter Jazzforum (24.–28. September 2025)

Jazz, Spiritualität und der Blues des guten Lebens

Eine Musik, die offen für Wandel ist – wie der Jazz – spiegelt globale gesellschaftliche Entwicklungen wider. Diese Themen standen bereits in früheren Darmstädter Jazzforen zur Diskussion. Wie aber beeinflussen gesellschaftliche Veränderungen die Künstler*innen und die Jazz-Szene? Wie reagieren sie auf zeitgeschichtliche Herausforderungen? Gestalten sie diese aktiv oder ziehen sie sich zurück? Das Jazzforum 2025 widmet sich der künstlerischen und spirituellen Auseinandersetzung im Jazz – historisch und zeitgenössisch – und untersucht damit verbundene künstlerische und soziale Praktiken.

Musik hat seit jeher eine zentrale Rolle in spirituellen und rituellen Kontexten gespielt. Call-and-Response-Strukturen, die in vielen Musiktraditionen verankert sind, fördern Dialog und Gemeinschaft und stehen oft für spirituelle Verbundenheit. Dabei ist Musik ein Medium der Inspiration und Kommunikation und kann durch Tanz und Bewegung zur körperlichen Erfahrung werden.

Viele afro-amerikanische Musiker*innen nutzten spirituelle musikalische Formen – von Spirituals über Gospel bis hin zum Free Jazz – als Widerstand gegen Rassismus und Diskriminierung. Diese spirituelle Widerstandskraft prägte die Entwicklung des Jazz nachhaltig. Jazz als offenes, improvisationsbetontes Genre und seine Live-Charakteristik bieten auch heute Raum für unterschiedliche Sinnsuchbewegungen.

Das Jazzforum 2025, das vom 24. bis 28. September in Darmstadt stattfindet, wird unter dem von Alice Coltrane inspirierten Titel „Universal Consciousness – Jazz, Spiritualität und der Blues des guten Lebens“ historische und aktuelle (künstlerische) Reflexionen beleuchten.

Weiterlesen: In unserem Blog zum Jazzforum sammeln wir lose Gedanken zum Thema Spiritualität, Jazz und möglichen Fragestellungen zum Thema, versuchen aber auch regelmäßig über den Fortschritt der Veranstaltung und besondere geplante Formate während des 19. Darmstädter Jazzforums zu schreiben.

Beteiligung am Darmstädter Jazzforum 2025

Zum 19. Darmstädter Jazzforum waren Musiker*innen, Wissenschaftler*innen, Veranstalter*innen, Journalist*innen, Musikpädagog*innen und weitere Interessierte eingeladen, Beiträge einzureichen. Neben klassischen Vorträgen sind alternative Formate wie Lecture Performances, interaktive Diskussionsrunden (z.B. World Cafés, Fish Bowl) und interdisziplinäre Ansätze willkommen.

Wir ermutigen Hochschulen, das Jazzforum als anrechenbaren Kurs in ihre Semesterplanung aufzunehmen. Studentische Beiträge können nach Absprache eingebracht werden, und wir unterstützen die Vorbereitung der Kurse im Rahmen unserer Möglichkeiten.

  • Bei Interesse an einer Teilnahme an der Konferenz als Zuhörer*in schreiben Sie gerne eine E-Mail an: jazzforum@jazzinstitut.de

Bei Rückfragen oder Unterstützungsbedarf wenden Sie sich an:
Bettina Bohle, Tel. +49 6151 963740
oder
Arndt Weidler, Tel. +49 6151 963744

Diversität

Wir möchten gezielt Menschen aus unterrepräsentierten Gruppen in der Jazz- und Improszene zur Beteiligung ermutigen. Diese Vorschläge werden mit besonderer Priorität berücksichtigt.

Barrierefreiheit

Die Veranstaltungsorte und -formate sollen möglichst barrierearm gestaltet sein. Bei Unterstützungsbedarf für Einreichung oder Teilnahme setzen Sie sich bitte mit uns in Verbindung.

Mögliche Themenfelder und Fragestellungen:

  1. Eskapismus vs. Innerlichkeit: Musik als Rückzug oder universeller Ausdruck?
  • Spiritualität und Selbstfindung: Nutzen Jazzmusiker*innen spirituelle Konzepte zur Selbstfindung – als Rückzug oder universeller Ausdruck?
  • Utopie und Spiritualität – Afrofuturismus und darüber hinaus: Sun Ras Visionen und deren Fortführung heute. Welche neuen Strömungen prägen den Jazz?
  1. Musik und Spiritualität in verschiedenen Religionen
  • Religiöse Musikpraktiken im Jazz: Einfluss von Spirituals, Gospel und modernen Formen.
  • Jazz als transkulturelle spirituelle Brücke
  • Spiritualität für nicht-religiöse Künstler*innen
  1. Improvisation und die Präsenz des „Jetzt“
  • Flow, Interaktion und kollektive Schöpfung
  • „Band-Spirit“ und Rituale in der Improvisation
  1. Streaming und alternative Begegnungsformen
  • Kreativität und neue Formate
  • Isolation und ihre Auswirkungen
  • Rituale im Jazz und neue Wege der Selbstfürsorge

Jazz Conceptions (Kleingedrucktes)

Anmeldungen:

Die Darmstädter Jazzconceptions finden traditionell in der ersten Woche der hessischen Sommerferien statt. Aus organisatorischen Gründen ist eine Anmeldung erst möglich, wenn alle Dozentinnen und Dozenten feststehen und auch Veranstaltungsorte, Räumlichkeiten und Abläufe abschließend von den veranstaltenden Einrichtungen, Jazzinstitut Darmstadt und Bessunger Knabenschule geklärt sind.  In der Regel können sich Interessierte ab Anfang April über ein Online-Formular (siehe unten) anmelden. Für Fragen, die hier nicht beantwortet werden können, stehen wir gerne zur Verfügung.

WICHTIG: Wir empfehlen allen Interessierten, die sich fragen, ob ihr instrumentales Können für die Teilnahme am Kurs ausreicht, den ausführlichen Beschreibungstext durchzulesen. Sollten Zweifel oder Fragen bestehen, sollte man sich vor einer Anmeldung bitte unbedingt zunächst mit dem künstlerischen Leiter der Jazz Conceptions, Uli Partheil, kurzschließen.

Neues Raumkonzept:

Seit der zurückliegenden Pandemie gehören dezentrale, ausreichend große und gut belüftete Proberäume für die Kurse dazu. Neben der Halle und zwei weiteren Räumen in der Bessunger Knabenschule stehen uns drei Probenräume in der nahe gelegenen Akademie für Tonkunst zur Verfügung. Alle geselligen Teile der Veranstaltung, gemeinsames Frühstück und Mittagessen oder auch die abendlichen Sessions finden soweit möglich unter freiem Himmel statt.

Teilnehmerzahl:

Die unterschiedlichen Erfahrungen der vergangenen Jahre haben auch dauerhafte Veränderungen zur Folge. Dazu gehört vor allem die Begrenzung der Zahl der Musiker*innen pro Ensemble auf möglichst nicht mehr als acht Teilnehmende; davon in der Regel ein Piano, ein Schlagzeug, ein Bass und fünf weitere Instrumente. Die Teilnehmerzahl der Jazz Conceptions wird auf maximal 50 begrenzt.

Das ist weniger als in den Jahren vor Corona, aber wir – und vor allem die Teilnehmenden – haben kleinere Ensembles als individuell vorteilhaft und musikalisch fruchtbar  wahrgenommen.  Wir hoffen auf das Verständnis derjenigen, die dadurch möglicherweise nicht zum Zuge kommen.

Teilnahmemöglichkeit:

Es können Musikerinnen und Musiker aller Instrumente teilnehmen, auch Vokalist*innen sind willkommen! Aus allen Teilnehmenden werden sechs gemischte Ensembles gebildet, die von je einem Dozenten oder einer Dozentin geleitet werden. Die Ensembles bleiben die ganze Woche zusammen und erarbeiten gemeinsam ein etwa 20minütiges Konzertprogramm. Bei den Instrumenten Piano, Bass und Schlagzeug die Zahl der Plätze daher auf jeweils sechs insgesamt beschränkt. Darüber hinaus gehende Anfragen für eine Teilnahme nehmen wir aber gerne auf eine Warteliste.

Im Zweifelsfall sollte man vor der Online-Anmeldung bitte kurz telefonisch Kontakt mit Uli Partheil  aufnehmen, Tel. 06151 665138, oder eine E-Mail senden (siehe auch oben „Anmeldungen“).

Kosten:

Die Teilnahme am Kurs kostet 250 Euro; für Nichtverdienende* 125 Euro. In der Kursgebühr sind keine Kosten für Unterkunft oder Verpflegung enthalten.

Die Kursgebühr sollte möglichst rasch nach der schriftlichen Anmeldung auf das Konto der Bessunger Knabenschule überwiesen werden. Allerspätestens 28 Tage vor Kursbeginn. Erst nach Eingang der Kursgebühr ist die Anmeldung gültig.

Bessunger Knabenschule, IBAN: DE46 5085 0150 0008 0006 54 (Stadt- und Kreissparkasse Darmstadt, BIC: HELADEF1DAS); Verwendungszweck: „Name, Vorname“ und „Jazz Conceptions 2025“


*Als Nichtverdienende verstehen wir Schüler*innen und Student*innen, aber auch Menschen,  die etwa staatliche Transferleistungen erhalten, etwa „Bürgergeld“ oder AsylbLG. Bei Fragen bitte gerne und unbedingt anrufen unter Tel. 06151 61650 (Bessunger Knabenschule).

Online-Anmeldung

*** Kurs ausgebucht. Leider nur noch Warteliste. (Stand 26.6. 2024) ***  

Hier geht’s zur Online-Anmeldung (Achtung: Weiterleitung auf eine externe Webseite).

Bei organisatorischen Fragen oder bei Problemen mit der Online-Anmeldung melden Sie sich bitte per Mail (jazz@jazzinstitut.de) oder telefonisch beim Jazzinstitut Darmstadt, Tel. 06151 963744 (Jazzinstitut Darmstadt).

Wir bitten um Verständnis, falls es passieren sollte, dass einige Instrumentengruppen frühzeitig ausgebucht sind. Wir werden uns dann umgehend mit Ihnen in Verbindung setzen und gerne dann auch auf eine Warteliste setzen. Wir versuchen hier auf diesen Seiten  immer zeitnah zu informieren, falls bestimmte Instrumente bereits überbucht sind (siehe „Teilnahmemöglichkeit“).

Die Anmeldung ist grundsätzlich erst dann vollständig gültig, wenn der Teilnehmerbeitrag überwiesen wurde (siehe „Kosten“ und „Das Kleinstgedruckte“).

Unterbringung:

Wir helfen gerne, die auswärtigen Teilnehmer*innen privat in der Nähe der Bessunger Knabenschule unterzubringen. Ihren Wunsch auf private Unterkunft können Sie auf dem Anmeldebogen vermerken. Sollten Sie sich selbst nach einer Unterkunft umschauen wollen, so gibt es in der Nähe des Veranstaltungsortes Möglichkeiten zur Unterbringung in Ferienwohnungen oder Hotels. Auch die Jugendherberge am Woog eignet sich als Unterkunft.

Wochenplan:

Traditionell beginnen die Darmstädter Jazz Conceptions seit 33 Jahren mit einem ersten Treffen aller Beteiligten am Montagmorgen im Hof der Bessunger Knabenschule. Dort findet die Vorstellung der Dozent*innen und die Einteilung der Gruppen statt. Anschließend verteilen sich die Ensembles auf die Probenräume.

JazzConceptions_2024_Ablaufplan

Das im vergangenen Jahr erstmals eingeführte offene Forum für alle Teilnehmenden, in dem jeweils an einem Tag der Woche die Dozent:innen ihr persönliches musikalisches Konzept  vorstellen, werden wir beibehalten. Soweit es das Wetter zulässt, werden die abendlichen Sessions sowie die beiden Abschlusskonzerte ausschließlich unter freiem Himmel stattfinden. Bei Regen können manche Sessions möglicherweise nicht  stattfinden, für andere gibt es Ausweichspielorte. Die Abschlusskonzerte der Ensembles am Freitag- und Samstagabend finden bei schlechtem Wetter in der Halle der Bessunger Knabenschule statt.

Essen und Trinken:

Während des Kurses bietet eine eigens eingerichtete Cafeteria in der Bessunger Knabenschule preiswert Speisen und Getränke an. Ein gemeinsames Frühstück und Mittagstisch gehört zum Angebot. Wie immer kocht das Team der Knabenschule für die Teilnehmenden ein leckeres Mittagessen (immer auch vegan). Mahlzeiten und Getränke müssen von den Teilnehmer*innen extra bezahlt werden.

Das Kleinstgedruckte:

Sollte der Kurs von Veranstalterseite abgesagt werden, erhalten die Teilnehmer*innen die volle Kursgebühr zurück. Bei Absagen von Teilnehmerseite später als vier Wochen vor Kursbeginn wird eine Rücktrittsgebühr von 20% einbehalten. Für Beschädigungen oder Diebstahl von mitgebrachten Instrumenten übernimmt der Veranstalter keine Haftung.

Was passiert noch bis zum Kursbeginn?

Etwa vier Wochen vor Beginn des Workshops gibt es ein Rundschreiben für alle angemeldeten Teilnehmer*innen. Darin finden sich dann weitere Detailinformationen (Wegbeschreibung und aktualisierter Wochenplan). Gerne helfen wir auch bei der Bildung von Fahrgemeinschaften, um nach Darmstadt zu kommen.

Ansprechpartner:

Kulturzentrum Bessunger Knabenschule, Jürgen Schüler, Ludwigshöhstraße 42, 64285 Darmstadt, Tel. (06151) 61650, info@knabenschule.de, Internet: www.knabenschule.de

Jazzinstitut Darmstadt, Arndt Weidler, Bessunger Straße 88d, 64285 Darmstadt, Tel. (06151) 963700, e-mail: weidler@jazzinstitut.de, Internet: www.jazzinstitut.de

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Dozentinnen und Dozenten 2024

Christopher Dell

Foto: Wilfried Heckmann

… ist seit den späten 1990er Jahren Stammgast in der illustren Riege der Lehrkräfte bei den Darmstädter Jazz Conceptions.  Seitdem hat der gebürtige Darmstädter eine fantastische musikalische Karriere hingelegt, die ihm neben dem Musikpreis seiner Heimatstadt, den der Vibraphonist bereits 2005 erhielt, 2021 den „Deutschen Jazzpreis“ und im folgenden Jahr auch noch den „Hessischen Jazzpreis“ einbrachte.

Aber nicht nur als improvisierender Musiker zählt Dell zu den herausragenden Protagonisten der Gegenwart, sondern auch als Stadtbautheoretiker, Philosoph und Architekturkritiker sind Dells Diskursbeiträge europaweit gefragt. Plan, Struktur, Komplexität, Information sind zentrale Begriffe im künstlerischen wie akademischen Kosmos Christopher Dells. Insbesondere mit seinen egalitären Trios D.R.A. (Dell/Ramond/Astor) und Dell/Lillinger/Westergaard verfolgt er diese musikalische Philosophie seit bald zwei Jahrzehnten konsequent. „Dell mag es schwierig, mag die Schwelle, den Widerstand. (…) Musikalische Forschung ohne Gefallsucht, das ist sein Metier“, schrieb Ulrich Stock in der ZEIT dazu.

Norbert Dömling

Foto: Doering

… ist Musikpreisträger 2023 der Kulturstadt Darmstadt. Seit über 40 Jahren ist der in Seeheim lebende Bassist eng mit der Darmstädter Jazzszene verwoben. Musikalisch führte ihn ein weiter Weg zur überaus populären Krautrock-Band „Missus Beasly“ von 1973 zu seinem aktuellen Duo „Bass ’n Flutes“ mit der ebenfalls in Seeheim lebenden Querflötistin Stephanie Wagner.

Dazwischen spielte er mit Top-Musikern in der ganzen Welt Konzerte und wirkte bei zahlreichen LPs, CDs, Radio- und TV-Aufnahmen mit (u.a. Toto Blanke, Biréli Lagrène, Joachim Kühn, Jasper van ́t Hoff, Stu Goldberg, Bob Degen, Billy Cobham, Trilok Gurtu, Ramesh Shotam, Carlo Rizzo, Christoph Lauer, Charlie Mariano, Tony Lakatos, Toots Thielemans, Tomasz Stańko); war Initiator von Projekten wie „Jazz meets Tango“, ein Trio mit Juan José Mosalini am Bandoneon oder „Family of Percussion meets Bass-Strings“ mit Peter Giger, Tom Nicholas und Dom Um Romão (Percussion), Vitold Rek und Jürgen Wuchner am Kontrabass und spielte mit Ali Neander im „Fifty Fingers Acoustic Orchestra“.

Norbert Dömling gehört noch der inzwischen rar gewordenen Spezies der Autodidakten im Jazzbetrieb an – und dennoch (oder gerade deswegen?) gibt er schon seit Ende der 1970er Jahre Workshops. Er unterrichtete an der Wiesbadener Musik- und Kunstakademie oder der Mannheimer Musikhochschule, verfasste ein vielbeachtetes Lehrbuch über Flageoletts am Bass und gab bereits Anfang der 1990er Jahre Solokonzerte mit E-Bass und Loopstation – in Deutschland ein Novum zu dieser Zeit.

Über seine Ideen für den diesjährigen Kurs sagt er folgendes:

„Für meinen Kurs bei den Jazz Conceptions 2024 werde ich eigene Kompositionsfragmente mitbringen, die wir dann gemeinsam in eine aufführbare Form bringen werden, sodass alle Beteiligte ihre „Rolle“ darin finden. Außerdem möchte ich auch ein Stück ohne vorherige Vorgaben mit den Teilnehmern gemeinsam entwickeln. Ich freue mich auf die Aufgabe.“

Jan Leipnitz …

Foto: Ben Kraef

… zog es wie so viele zum Studium nach Berlin. Zunächst studierte er dort Philosophie, später Jazzschlagzeug an der Universität der Künste, fand aber keinen richtigen Abschluss der akademischen Karriere, vielleicht auch weil eher das Unkonventionelle das Metier des in Schkeudnitz, in der Nähe von Leipzig, geborenen Drummers ist.

Längst ist der umgängliche Mitvierziger unverzichtbarer Teil der vitalen Hauptstadtszene, spielte – und spielt noch – mit Kollegen wie Gebhard Ullmann, Allan Praskin, Larry Porter, Henrik Walsdorff, Johannes Barthelmes und unzähligen anderen. Was ihn auszeichnet, ist vor allem seine Vielseitigkeit, seine Offenheit für alle Spielarten des Genres, seine Wandlungsfähigkeit in einen „multidimensionalen musikalischen Organismus“ (wie er sich selbst bezeichnet), der sich mit seinem hochenergetischen Spiel in jede Situation bestens einfügt. Vielleicht gar nicht so ungewöhnlich, wenn man weiß, dass Leipnitz als Jugendlicher die Chemnitzer Hardcore-Szene mit seinen Trommelgewittern beglückte. In Darmstadt trat er zuletzt mit dem eher im souligen Mainstream verwurzelten Quartett der Saxophonistin Cordula Hamacher auf.

Bei dieser Gelegenheit hat ihn auch Uli Partheil für das Dozent:innenteam der diesjährigen Jazz Conceptions entdeckt und ist sich sicher, dass Jan Leipnitz, mit seiner von musikalischen Scheuklappen befreiten Art, genau der Richtige für unseren Darmstädter Sommerworkshop ist.

Über seine Ideen für den diesjährigen Kurs sagt er folgendes:

„Ich stelle mir unsere Arbeit als zwangloses und intensives Zusammensein vor. Wir werden uns mit den elementaren Aspekten des gemeinsamen Musizierens beschäftigen, dem rhythmischen Puls, der harmonischen Intensität und des melodischen Ausdrucks. Eigenkompositionen sind absolut willkommen. Natürlich können und werden wir aus dem  reichen Fundus an Kompositionen der Jazzgeschichte schöpfen um unsere Fähigkeiten zu verbessern. Mir wird es in dieser Woche besonders darum gehen, unsere musikalischen Sinne zu schärfen und ein kleines, gemeinsames musikalisches Universum zu erschaffen, das wir mit unseren Persönlichkeiten und Spielfreude füllen werden.“

Anke Lucks

Foto: Dovile Sermokas

… stammt ursprünglich aus Mettmann in Westfalen. Sie studierte zunächst Rhythmikerziehung an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover und verbrachte ein Auslandsjahr an der  „Longy School of Music“ in Boston. Nach Abschluss des Studiums wechselte sie nach Berlin, wo sie an der Hochschule „Hans Eisler“ Jazzposaune und Instrumentalpädagogik u.a. bei Jiggs Whigham und Sören Fischer studierte.

Anschließend tourte sie weltweit mit dem Artistik und Musikprogramm „Balagan“ und europaweit mit der Band „Rotfront“, spielte Theater- und Filmmusik mit der Band „Shmaltz“. Als Solistin oder Mitglied in anderen Formationen ragen Aufritte mit Albert Mangelsdorff, Anthony Braxton, Tyshawn Sorey heraus. Gemeinsam mit Almut Schlichting und dem Schlagzeuger Christian Marien bildet sie seit einigen Jahren das Trio „Insomnia Brass Band“, das im vergangenen Jahr mit dem Deutschen Jazzpreis in der Kategorie Band des Jahres ausgezeichnet wurde.

Über ihre Gedanken zum Workshop sagt sie:

„Beim Workshop möchte ich mit den Teilnehmer:innen spielerisch Stücke auseinandernehmen, neu zusammensetzen und dadurch gemeinsam neue Arrangements und Kompositionen  für die aktuelle Besetzung entwickeln. Freie Improvisation wird bestimmt auch mit einfließen. Ich werde eigene Kompositionen mitbringen, freue mich aber auch auf Stücke der Teilnehmer:innen.“ 

Uli Partheil

Foto: Oskar Partheil

… ist seit 2021 künstlerischer Leiter der Darmstädter Jazz Conceptions und damit Nachfolger seines langjährigen musikalischen Mentors und Freundes Jürgen Wuchner. Partheil ist einer der aktivsten Protagonisten der Darmstädter Szene, beeinflusst von der Musik Duke Ellingtons, Thelonious Monks, kubanischen Rhythmen und dem Blues. Er ist nicht nur ein versierter Pianist in sämtlichen Stilistiken des Jazz, sondern auch als Komponist tätig. In seinen Werken geht er äußerst kreativ mit den verschiedenen Einflüssen um, die ihn als Musiker prägen.

Uli Partheil studierte an der Mannheimer Musikhochschule unter anderem bei Professor Jörg Reiter Jazzpiano, außerdem Komposition und Arrangement. Seit Beginn der 1990er Jahre arbeitete er mit Jürgen Wuchner, Matthias Schubert, Janusz Stefanski, Ack van Rooyen, Rudi Mahall, Emil Mangelsdorff, Hanns Höhn, Peter Back, dem Wiener Kronenbräu Orchester und vielen anderen zusammen. Als Begleiter ist er auch immer wieder am Staatstheater Darmstadt zu hören. Bis zum Beginn der Pandemie leitete er das von ihm selbst ins Leben gerufene Darmstädter Jugendweltmusikorchester.

Mit seinem Working Trio „Playtime“ ist er in den letzten Jahren mit verschiedenen Literatur- & Jazz-Projekten erfolgreich. Zuletzt veröffentlichte er gemeinsam mit Ulli Jünemann, Ralf Cetto und Angela Frontera den Longplayer „Reflections2020“. Partheil unterrichtet an der Jazz & Pop School und der Akademie für Tonkunst in Darmstadt. Für seine musikalischen Verdienste und sein Wirken für die Förderung des jazzmusikalischen Nachwuchses erhielt er 2008 den Darmstädter Musikpreis.

Über seine Vorstellungen zum diesjährigen Workshop schreibt er folgendes:

Ich möchte wieder versuchen mindestens ein Stück auswendig und ganzheitlich zu erarbeiten, d.h. die Musiker:innen sollen nicht nur ihren Part, sondern das ganze Werk lernen und verstehen. Dazu werde ich eigene Kompositionen und andere ausgewählte Stücke mitbringen.“

Almut Schlichting

Foto: Frank Schindelbeck

… arbeitet seit 25 Jahren als Saxophonistin, Komponistin und Kuratorin in Berlin in den Bereichen Jazz, zeitgenössische Musik, Performance und Theatermusik. Noch während ihres Studiums an der Hochschule der Künste Berlin gründetet sie die Band Shoot the Moon als Heimathafen für ihre kompositorische Arbeit. Von 2009 bis 2015  verfolgte sie mit Ensembles wie dem Garagenoper Kollektiv und Le Sorelle Blu ihr Interesse am Crossover und der Zusammenarbeit mit Künstlern aus den Bereichen Tanz, Theater und Literatur.

2015 gründete Almut Schlichting gemeinsam mit Alexander Beierbach das Label Tiger
Moon Records. Dort erscheinen seitdem regelmäßig CDs von ihren verschiedenen Bands. Mittlerweile konzentriert sich Almut Schlichting wieder mehr auf die Bandarbeit im Bereich Jazz und ihr Instrument, das Baritonsaxophon. Aktuell ist sie meistens mit dem Duo Subsystem, dem Quartett Bauhauskapellentraum und dem Trio Insomnia Brass Band mit zahlreichen Konzerten in Jazzclubs und auf Festivals unterwegs.

Für ihre Kompositionsvorhaben, ihre Bandarbeit und ihre Audioproduktionen wurde Almut Schlichting in den letzten Jahren mehrmals durch Stipendien des Berliner Senats und des
Musikfonds gefördert. Die Insomnia Brass Band wurde im April 2023 mit dem Deutschen Jazzpreis ausgezeichnet.

Zu ihren Vorstellungen für die Arbeit mit ihrem Ensemble sagt sie folgendes:

„Workshop-Preview: Improvisation und Komposition, Collage und Stilmix!“

JazzNews 2024

Wir lesen die Morgenzeitung für Sie!

Die Presseberichte, die wir in dieser Rubrik zusammenfassen, finden sich übrigens in unserem Archiv in herkömmlicher (papierner) sowie in digitaler Form. Wenn Sie an den kompletten Artikeln zu den auf dieser Seite notierten Meldungen interessiert sind, wenden Sie sich bitte per e-mail an uns. Darüber hinaus verweisen wir auf unseren Jazz-Index, die weltweit größte computergestützte Bibliographie zum Jazz, in der neben Büchern und Zeitschriften auch aktuelle Presseberichte aus Tages- und Wochenzeitungen gelistet sind. Sie können Auszüge aus dem Jazz-Index zu bestimmten Stichworten (also beispielsweise konkreten Musikernamen) kostenlos per e-mail erhalten. Noch ein Hinweis zu den Links auf dieser Seite: Einige der verlinkten Artikel sind ohne Anmeldung nicht einsehbar; bei vielen Online-Zeitungen ist die Lektüre älterer Artikel kostenpflichtig. Bitte beachten Sie, dass die Zusammenfassungen und die Übersetzungen auf dieser Seite unsere Zusammenfassungen und Übersetzungen sind. Wenn Sie die hier gelisteten Artikel zitieren wollten, sollten Sie zu den Originalquellen greifen.

Autor der JazzNews bis Januar 2024 (deutsch wie englisch): Wolfram Knauer

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Content (English)

Die geheimisvolle Kladde des Hans Blüthner

Ich lernte Hans Blüthner irgendwann Ende der 1990er Jahre kennen. Er lebte in einem Seniorenheim in Weinheim an der Bergstraße, wo ich ihn ein paar Mal besuchen durfte. Blüthner war Jazzgeschichte pur, ein Zeitzeuge der Berliner Jazzszene der 1920er bis 1960er Jahre, ein Brieffreund Louis Armstrongs, Sammler, Organisator, vor allem aber ein großer Jazzfan. „Meine Unterlagen habe ich leider vor vielen Jahren weggegeben“, sagte mir Blüthner etwas wehmütig. Der einzige Jazzbezug in seinem Zimmer waren CDs mit Wiederveröffentlichungen seiner Lieblingsmusik. Blüthner was schwer zu Fuß; der Körper machte nicht mehr mit, aber der Kopf war ganz da.

Hans Blüthner

Hans Blüthner (links 1952 mit Louis Armstrong) wurde am 23. Juni 1913 in Berlin-Charlottenburg geboren. Mit elf Jahren musste er wegen einer schweren Osteomyelitis monatelang im Bett bleiben. Sein Stiefvater bastelte ihm einen Detektor, mit dem er über Kopfhörer Radio hören konnte, und bald vertiefte er sich in die Schlager- und Tanzmusiksendungen auf „Welle 505 Berlin“, dem ersten deutschen Rundfunksender, der seit 1923 sendete, live aus dem Palais de Dance oder dem Pavillon Mascotte in der Berliner Friedrichstadt. Es war die populäre Musik der Zeit, die ihn anfixte und nicht mehr losließ und von der er zu Beginn wahrscheinlich noch gar nicht wusste, dass dies Jazz war und welche Rolle Jazz für sein Leben spielen sollte.

Ende der 1920er Jahre entdeckte Blüthner Alberti in der Rankestraße nahe der Gedächtniskirche, das seinerzeit modernste Musikfachgeschäft Berlins. „Hier“, erinnert er sich 1986, „gab es alles, was mit Hot-, Dance- und Jazzmusik zu tun hatte: Musikinstrumente, Noten, Schallplatten, Jazzliteratur inkl. Fachzeitschriften von hüben und drüben. Musiker gingen aus und ein. Für mich war das eine neue Welt.“ (Blüthner 1986: 9) Er hörte die internationalen Bands der Hauptstadt, Weintraub’s Syncopators, Efim Schachmeister, Sidney Bechet, Sam Wooding, Arthur Briggs. Er wurde endgültig zum Jazzfan.

Dann kam das „Dritte Reich“ und der Versuch, den Jazz zu verbannen, aber Bands wie die von Teddy Stauffer, Arne Hülphers und andere „brachten uns alles, was in den USA gespielt wurde“. Das Falk-Real-Gymnasium, das er besuchte, musste Blüthner im Herbst 1933, „fünf Monate vor dem Abitur aufgrund politischer Streitigkeiten“ verlassen. Im Herbst 1934 begann er eine Lehre als Bankkaufmann bei der Diskont- & Kredit-Aktiengesellschaft, die ihn danach als kaufmännischen Sachbearbeiter übernahm. Bis 1939 bezog Blüthner sowohl den britischen Melody Maker wie auch das amerikanische Down Beat per Post und blieb so auf dem Laufenden über die amerikanische Jazzszene.

Und er begann Platten zu sammeln. „Man bekam auf Electrola, Columbia, Odeon, Brunswick, Imperial usw. so ziemlich alles, was das Herz begehrte – mit bestimmten späteren Einschränkungen, was Nichtarier betraf.“ (Blüthner 1986: 10) Seit 1934 war er Mitglied im Melody Club (auch „Melodie Club“, später „Magische Note“), dessen Mitglieder sich jeden Donnerstag in einem Café am Kurfürstendamm trafen und sich gegenseitig ihre Plattenschätze vorführten.

Im März 1940 stürzte Blüthner bei Eisglätte und brach sich den Arm. Die Verletzung und seine Osteomyelitis bewahrten ihn vor dem Kriegsdienst. Inzwischen arbeitete er in der Massivbau-Gesellschaft m.b.H. seines Onkels, bald als kaufmännischer Geschäftsführer. 1944 verriet ihn ein Geschäftspartner des Onkels wegen verbotenen Hörens von Feindsendern (BBC); einer Inhaftierung entging er nur, weil die Gefängnisse bereits voll mit politischen Gefangenen waren. Zu Weihnachten jedenfalls war er wieder frei. Gegen Ende des Kriegs waren vom Freundeskreis des Melody Club nur Blüthner und Gerd Peter Pick noch in Berlin (Kater 1992: 76); der Rest hatte die Hauptstadt verlassen, wenn nicht gar das Land, oder war im Krieg umgekommen.

Nach dem Krieg wurde Blüthner (auf dem Foto rechts mit Lil Hardin-Armstrong, ca. 1954) Mitgründer des Hot Club Berlin, der 1947 eine Lizenz von der Militärregierung erhielt. Er arbeitete weiter in der Baufirma seines Onkels, bis diese 1969 Konkurs anmeldete. Danach war er als Disponent und Leiter der Programm-Abteilung bei der Theaterbesucher-Organisation der Freien Volksbühne angestellt, bis er sich 1980 mit 67 Jahren zur Ruhe setzte. Zusammen mit seiner Frau zog er nach Hemsbach an der Bergstraße. „Etwas Schwierigkeiten haben wir mit dem Verstehen des hiesigen Gebabbele“, schrieb er kurz nach dem Umzug an einen Freund. „Leider gibt es noch kein Wörterbuch für Badisch-Pfälzer Hessisch.“ (Blüthner 1981) Hans Blüthner starb am 9. April 2002 in einem Pflegeheim in Weinheim im Alter von 88 Jahren.

Die Kladde

Seine Unterlagen also hatte er vor vielen Jahren weggegeben, meinte Blüthner zu mir, und auf Nachfrage wusste er nicht mehr genau an wen ­­– jemanden, dem der deutsche Jazz am Herzen lag, sagte er. Fast forward in die frühen 2000er Jahre, ziemlich kurz nach Blüthners Tod: Wir erhielten einen Anruf aus Wuppertal, dort sei eine Wohnung aufzulösen, dessen Bewohner offenbar jede Menge an Information über Jazz gesammelt hatte. Vor allem Papier, hieß es, davon aber wirklich sehr, sehr viel. Wir mieteten einen kleinen LKW und fuhren an den Niederrhein. Und luden ein: Kisten um Kisten voll mit Zeitschriften, Aktenordnern mit Zetteln, Fotokopien, Büchern, Briefen, adressiert an den „Kulturellen Wirkungskreis Jazz“. Dahinter steckte der Sammler Martin Pecherstorfer, der in Kontakt mit anderen Fachleuten stand – auch mit dem Jazzinstitut Darmstadt hatte er zu Lebzeiten korrespondiert ­–, von denen er jede Menge an Informationen über die Jazzgeschichte Deutschlands wie Osteuropas erhielt. Insbesondere hatte Pecherstofer auch gute Kontakte hinter den Eisernen Vorhang, tauschte sich mit Sammlern wie Wolfgang Muth oder Jazzfreunden aus der CSSR oder Polen aus.

Nun also ging all das Material nach Darmstadt, und es dauerte lange, bis wir auch nur den Hauch eines Überblicks erhielten, um was es sich da handelte. Massenhaft Down Beats, Jazz Hots, aber eben auch Melodie und Rhythmus und andere osteuropäische Magazine. Daneben Ordner um Ordner mit den Rechercheunterlagen von Privatforschern und Diskographen, Aufzeichnungen, von denen diese meinten, sie lieber nach Wuppertal zu schicken als im Müll zu entsorgen.

Und dann waren da zwei Kisten mit der Aufschrift „Blüthner“. „Meine Unterlagen habe ich leider vor vielen Jahren weggegeben“, hatte der mir von seinem Bett aus wehmütig gesagt. Hier nun waren sie, hatten auf einem seltsamen Umweg über Wuppertal ihren Weg ins Darmstädter Jazzinstitut gefunden. Korrespondenz mit Armstrong aus den 1950er und 1960er Jahren, Erinnerungen, die Mitteilungen, eine von Dietrich Schulz-Köhn herausgegebene Zeitschrift, handgeschriebene Notenhefte mit Schlagern und Tanzmusik, ein Vortragsmanuskript von Dietrich Schulz(-Köhn) von 1936 über „Einführung in die Swing-Musik“ (gehalten im Delphi-Palast am 20. Januar 1936; Manuskript überarbeitet im Juni 1936).

Und eine seltsame Kladde mit einer Auflistung von Schallplatten, und hinter jeder Platte eine Reihe an Namen. Wir hatten anfangs keine Ahnung, worum es sich dabei handelte. Erst nach und nach verbanden wir die Namen hinter den Einträgen mit unserem Wissen um die Berliner Jazzszene der 1930er Jahre und erkannten: Dies war der Bestandskatalog der „Berliner Hotfreunde“, wie Blüthner die Gruppe in einer Erinnerung aus dem Jahr 1947 nannte.

Der Melody Club

„Seit 1934“ heißt es darin, „existiert in Berlin ein Kreis wirklicher Hot-Freunde, die sich s.Zt. wöchentlich einmal im Café Hilbrich am Kurfürstendamm (im blauen Zimmer) trafen, um sich gemeinsam an ihren Platten, die auf einem Kofferapparat gespielt wurden, zu erfreuen und darüber zu diskutieren. Damals war es Herr Adalbert Schalin vom Alberti-Verlag, dem Dorado aller Jazz-Begeisterten (hier gab es alle In- und ausländischen Platten, Noten, Jazz-Zeitungen, Instrumente usw), der diesen ‚Melody-Club‘, wie er sich nannte, aufzog.“ (Blüthner 1947) [Foto: Siegfried Schröter, Hans Friedemann, Hans Blüthner in den späten 1930er Jahren]

Noch ausführlicher erinnert er sich 1950: „Was lag da näher, als 1934 einen Hot-Club zu gründen, in dem man als Anhänger des authentischen Jazz die einmaligen und keiner Modeerscheinung unterworfenen Platten eines Louis Armstrong oder Bix Beiderbeckes zu spielen [sic!], diese zu vergleichen mit modernen Aufnahmen von Benny Goodman & Tommy Dorsey und immer wieder festzustellen, daß Kunst sowohl eine ideelle als auch eine materielle Seite haben kann. Natürlich konnte der Kreis um diesen Club nie an die Öffentlichkeit treten, denn die Anhängerschaft des Jazz war identisch mit Demokratie und Freiheit. Solche Ideale durfte es im 3. Reich nicht geben. So durfte der Hot Club Berlin, der damals „Melodie Club“ hiess, nicht laut werden und konnte nur in der Stille arbeiten. Die Aussichten, sich ein Ziel zu setzen, wurden immer geringer. Der Kreis, in dem man weder Rassen- noch Klassenhass kannte, wurde hervorgerufen durch Verfolgungen und den bevorstehenden Krieg, immer kleiner und reduzierte sich in kürzester Zeit auf ein Minimum. Könnte man es auch durchsetzen, die Jazzmusik und alles, was mit ihr in Zusammenhang stand, zu verbieten, den Geist und die Liebe zu dieser Musik und die Verbundenheit zwischen den einzelnen Anhängern untereinander innerhalb des Clubs, konnte man nicht verhindern. Unter großen Schwierigkeiten wurde sogar mitten im Krieg ein ‚Mitteilungsblatt‘ herausgebracht, welches eine Verbindung herstellen sollte zwischen allen Freunden des Jazz. Der nicht enden wollende Krieg machte aber schließlich alles zunichte, und so mußte schließlich auch alles intern gehaltene in Berliner Jazzkreisen eingestellt werden.“ (Blüthner 1950)

Aber zurück zur Kladde: Sie enthält letzten Endes eine Art Verzeichnis der Privatsammlungen des harten Kerns dieses Melody Clubs, zusammengestellt von Blüthner, der so Interessierte an die Eigentümer der Platten verweisen konnte, so nach dem Motto: „Wenn Du dies oder jenes suchst, wende Dich mal an xvz, der hat die Aufnahme, bei dem kannst du sie bestimmt hören.“ 1989 erwähnt Blüthner die Kladde im Gespräch mit Bernd Polster über die Club-Treffen im Café am Kurfürstendamm: „Wir tagten jeden Donnerstag in einem Café am Kurfürstendamm. Das existiert heute alles nicht mehr. In der ersten Etage hatten wir den Blauen Salon und hatten einen Nudelkasten [Plattenspieler]. Und dann wurden Platten gespielt, Schellack natürlich. Und einer war da, der hatte die Buchführung. Jeder, der in dem Club war, mußte einen Katalog abgeben über seinen Plattenbestand. Und der Buchführer übertrug das auf einen allgemeinen Katalog. Und wenn ein Programm gemacht wurde, dann sagte der ‚Bring doch mal die Platte mit. Die und die‘, und dann mußte jeder mal ’n Programm machen.“ (Polster 1989: 31-32) Buchprüfer war, scheint’s, Blüthner selbst, und was uns da mit der Kladde vorlag, war dieser „allgemeine Katalog“ des Plattenbestandes des Melody Clubs aus den Mitt-1930er Jahren.

Die Mitglieder des Clubs, erinnert sich Blüthner, wurden eingehend nach Fachwissen durchleuchtet. Es sei „ein gemischter Kreis“ gewesen, „auch viele jüdische junge Herren“ (Polster 1989: 32). Im Café tagte der Club vielleicht zwei Jahre lang, danach schob der Besitzer vor, ein Skatclub hätte den Blauen Salon gemietet, sie müssten raus. Eine Weile trafen sie sich in einer Tanzschule gleich nebenan, zogen dann in ein anderes Café um, dessen Besitzer aber mit dem Verzehr der jungen Leute nicht zufrieden war (Polster 1989: 32). Schließlich trafen sie sich bei einem der Mitglieder in dessen Privatwohnung. Der Melody Club (Magische Note) bestand bis in den Krieg hinein, wenn auch die Mitgliederzahl immer mehr abnahm: Blüthner: „Die jüdischen Herren waren dann weg, die anderen mußten zum Militär. Im Krieg war’n wir zuletzt nur noch zwei, drei Mann.“ (Polster 1989: 33)

„Die Berliner Hotfreunde“, 17. Januar 1947
(komplettes PDF öffnet sich beim Klicken auf die Abbildung)

„Berlin und Jazz“, 22. September 1950
(komplettes PDF öffnet sich beim Klicken auf die Abbildung)

Die Kladde
(komplettes PDF öffnet sich beim Klicken auf die Abbildung)

Die Mitglieder

Wer also waren die Sammler des Melody Clubs, die in dieser Kladde verewigt sind? Es waren, alphabetisch sortiert: Auerbach, Blüthner, Boger, Cornfield, Gittermann, Petruschka, Pfrötschner, Robert, Sternberg, v. Drenkmann sowie Wolff. Wir haben ein wenig recherchiert:

Heinz Auerbach war ein Berliner Jude (Kater 1992: 74) und zusammen mit Franz Wolff ein Befürworter vor allem des schwarzen Jazz (Kater 1992: 85) – ja, das war unter Jazzfreunden durchaus ein ästhetisches Politikum in jenen Jahren. Er verließ Deutschland 1938, gründete in Brasilien den Hot Club de Janeiro in Rio (Blüthner 1950) und landete schließlich in Buenos Aires (Lange 1966: 71), wo er den dortigen Hot Club leitete, der ganz ähnliche Aktivitäten verfolgte wie der Melodie-Club: „meet to compare, discuss, and argue over recorded music“ (Crosby 1953: 23), sich aber vor allem auf älteren Jazz beschränkte (Thiers 1960: 262).

Hans Blüthner haben wir bereits kennengelernt. Als er im Herbst 1934 auf Einladung Adalbert Schalins Mitglied des Melody Clubs wurde, stellte er zum Einstand im Kreis seiner neuen Freunde Jimmie Luncefords Platte „Swingin’Uptown“ vor (Kater 1992: 85; in der Kladde verzeichnet auf Seite 33). Blüthner ging ganz selbstbewusst mit seiner Jazzliebe um. Er hatte den britischen Melody Maker abonniert und las diese Zeitung in der U-Bahn – Englisch konnte da ja sonst eh kaum einer lesen. Nazis, erklärt er, habe es in den Jazzkreisen nicht gegeben: „Das ist so eine Regel, möcht‘ ich sagen, wer sich für Jazz interessiert, kann kein Nazi sein.“ (Polster 1989: 34)

Carlo Boger (1911-1943) war als Bühnenbildner, Schauspieler, Zeichner und Cartoonist aktiv in Weimar, Wien (1928), Stuttgart (1929), Leipzig (1932-33) und Berlin. In Leipzig war er im Kammerspiel von Bruno Tuerschmann als Bühnenbildner und Schauspieler tätig gewesen, im März/April 1933 außerdem im Literarischen Kabarett Litfaßsäule aufgetreten (https://www.buchprojekt1.de/produkt/c-boger-1911-1943-das-mistvieh-n-2-karikatur-um-1930-tusche-figuerlich/). Michael Kater beschreibt ihn als „Alkoholiker, Autor von Kurzgeschichten, Grafiker, Liebhaber von Literatur und Theater“ (Kater 1992: 97). 1933 heiratete Boger Else Eichler, eine zwölf Jahre ältere Schriftstellerin und Publizistin für Frauenfragen. Bogers Grafiken hatten oft den Jazz zum, von 1936 etwa datiert ein Porträt der Sängerin und Trompeterin Valaida Snow (https://www.pinterest.at/pin/400187116881463220/). Boger galt nach dem Krieg als vermisst, Kater erklärt, er sei an der Front gestorben (Kater 1992: 97).

Robert Kornfilt [Bob Cornfield] war ein enger Freund Blüthners. Er stammte ursprünglich aus der Türkei [Kater 1992: 75]. Horst H. Lange schreibt in seiner Jazzgeschichte Deutschlands, Kornfilt habe die Gründung dieses „erste[n] bedeutende[n] deutsche[n] Jazzclubs […] bereits im Jahre 1932“ angeregt (Lange 1966: 69), bevor dieser dann „mit Hilfe des rührigen Alberti-Musikhaus-Prokuristen, Adalbert Schalin, regelrecht gegründet“ wurde (Lange 1966: 69-70). Kornfilt war Amateur-Arrangeur, gut genug immerhin, dass der populäre Bandleader Erhard Bauschke eines seiner Arrangements ins Repertoire aufnahm (Kater 1992: 89). Nach dem Krieg kehrte er in die Türkei zurück.

Gittermann: Zu diesem Namen konnten wir leider nichts herausfinden.

Sigmund Petruschka (1903-1997) war Trompeter und Arrangeur. Gebürtig in Leipzig hatte er als Kind Klavier- und Cellounterricht erhalten und im Gewandhaus-Chor unter Arthur Nikisch gesungen. 1923 zog er zum Studium des Maschinenbaus nach Berlin, besuchte daneben das Stern’sche Konservatorium, wo er Trompeten- und Kontrabassunterricht nahm (https://www.nli.org.il/en/a-topic/987007266398905171). Zusammen mit Kurt Kaiser war er Mitgründer der Band Sid Kay’s Fellows, in der unter anderem Friedrich Holländer als Pianist und Arrangeur wirkte. In den 1930er Jahren schrieb Petruschka unter Pseudonymen für die Deutsche Gramophone Gesellschaft, für UFA-Filme, aber auch für populäre Bands wie die von James Kok (Lange 1966: 52). 1938 emigrierte er nach Palästina (Kater 1992: 39-40) und leitete bald das Orchester des Palestine Broadcasting Service. Petruschka starb 1997 in Jerusalem. Er wird in Blüthners Kladde nur zwei Mal erwähnt: offenbar war er großer Fan des Casa Loma Orchestra, dessen Platten „Ol’Man River“ / „I Got Rhythm“ sowie „Dallas Blues“ / „Limehouse Blues“ er besaß.

Es ist gut möglich, dass sich hinter „Pfrötschner“ der Autor Gerhard E. Pfrötzschner verbirgt, der in den 1930er Jahren als Deutschland-Redakteur des Londoner Melody Maker und des British Metronome schrieb. Als „Rasender Reporter“ berichtete Pfrötzschner seit den Mitt-1930er Jahren für die Zeitschrift Der Artist von der Berliner Jazzszene und schrieb Plattenrezensionen. Vom September 1934 verfasste er den Artikel: „Wie steht der deutsche Musiker zur Jazzmusik? Bedeutet nicht Verwerfen derselben Arbeitslosigkeit?“ (vgl. Jockwer 2004: 298). 1935 besuchte Prötschner Konzerte des britischen Bandleaders Jack Hylton in Berlin (Jockwer 2004: 300). Über Pfrötschners Verbleib nach dem Krieg ist nichts bekannt.

Robert: Zu diesem Namen konnten wir leider nichts herausfinden.

Dieter Sternberg: Zu diesem Namen konnten wir leider nichts herausfinden. Den Vornamen entnahmen wir der Beschriftung des ganz unten abgebildeten Fotos.

Günter von Drenkmann, genannt „Bobby“ (1910-1974) entstammte einer Juristenfamilie und studierte auch selbst Rechtswissenschaften. Er wollte Richter werden, hatte aber in den 1930er Jahren keine Chance, weil er sich weigerte irgendeiner NS-Organisation beizutreten (Schmid 2010). Nach dem Krieg allerdings machte Drenkmann schnell Karriere, als Richter beim Landgericht, dann Landgerichtsrat, dann Kammergerichtsrat, schließlich ab 1967 Präsident des Kammergerichts Berlin. Hans Blüthner schrieb aus Anlass der Ernennung zum letzten Karriereschritt im Januar 1967 an Drenkmann: „Im stillen muß ich – unter uns gesagt – immer daran denken, daß wir mal vor ca. 30 Jahren meinten, alle höheren einflußreichen Posten müßten Leute mit ein wenig Hang und Liebe zu unserem gemeinsamen Hobby bekleiden! Nun, Du hast es realisiert und geschafft.“ (Blüthner 1967) Am 10. November wurde Drenkmann von Terroristen der Bewegung 2. Juni bei einem Entführungsversuch ermordet.

Jakob Franz Wolff, genannt „Franny“ (1907-1971) machte in Berlin eine Fotografenlehre. 1925 hatte er zusammen mit seinem Freund Alfred Löw die Band des Pianisten Sam Wooding im Admiralspalast gesehen, danach war er lebenslanger Jazzfan. Löw war bereits 1936 nach New York ausgewandert, Wolff folgte ihm zwei Jahre später auf einem der letzten Passagierdampfer, die aus Nazideutschland in Richtung des Big Apple verlassen konnten. Danach schrieben die beiden Geschichte, gründeten das Plattenlabel Blue Note, das erst traditionellen Jazz und Boogie-Boogie, bald aber auch die jungen moderneren Musiker des Jazz aufnahm und seit den 1950er Jahren stilbildende Platten herausbrachte. Löw, der sich in den USA Alfred Lion nannte, war der Geschäftsmann unter ihnen, und Wolff, der jetzt als Francis Wolff firmierte, ebenbürtiger Partner. Beide nahmen die Musiker, die für sie aufnahmen, als Künstler ernst, vergüteten ihnen sogar die Probezeiten (bislang völlig unüblich in dieser Musik), und Wolff machte sich außerdem einen Namen als meisterhafter Fotograf, dessen Bilder geradezu ikonisch wurden, nicht nur, aber auch, weil sie die Platten des eigenen Labels schmückten.

Die Kladde stammt, wie wir unten sehen werden, aus dem Jahr 1936. Jazzfreunde, die danach zum Kreis des Melody Club bzw. der Magischen Note wurden,  finden sich hier deshalb nicht. Blüthner erwähnt sie in seinen Erinnerungen aus dem Jahr 1947: Zur Olympiade 1936 etwa verzeichnet er Besuche von Gästen wie dem amerikanischen Posaunisten Herb Fleming, dem Frankfurter Saxophonisten Eugen Henkel, dem Pianisten Fritz Schulz-Reichel, von Dietrich Schulz-Köhn, aber auch von Duncan McLougald, einem „Freund von Benny Goodman und Helen Ward“.

Ab 1938 traf man sich privat, meist bei Blüthner selbst, und als häufige Gäste nennt er Gerd Pick, Folke Johnson aus Schweden, den belgischen Pianisten Coco Collignon, Varvavar Varasiri aus Siam. „Fräulein Thieme und Herr von Drenkmann“, schreibt er, seien 1947 aus dem Kreis der „Alten“, also von vor 1936 übrig. Ein „Herr Edelscharf“ sei 1938 dazu gekommen. Und dann erwähnt er noch, was aus den anderen Mitgliedern geworden sei: „Es ist sehr bedauerlich, daß die Atmosphäre des alten ‚Hot-Kreises‘ nie wieder wird, zumal fast alle damaligen Mitglieder von Wichtigkeit Berlin den Rücken gekehrt haben. Franz Wolff ist Anfang des Krieges nach New York gegangen, Heinz Auerbach ging nach Süd-Amerika, Bob Cornfield ging in die Türkei zurück, Gerd Pick ist in Frankfurt, Olaf Hudtwalcker in Mannheim, Hans Friedemann in Luckenwalde,  Vasiri in Washington, Wilfried von Weselstedt und Hans Horseck sind an der Ostfront gefallen, Carlo Boger gilt als vermißt, Egon Wilrich fiel einem Fliegerangriff zum Opfer. Es bleibt nur noch zu hoffen, daß der eine oder andere aus der Gefangenschaft nach Berlin zurückfindet.“ (Blüthner 1947)

Ab 1945 gründete Blüthner zusammen mit alten und neuen Freunden den Hot-Club Berlin der sein erstes Treffen am 27. Oktober 1945 hatte (Blüthner 1947).

Die Musik

Die Kladde also enthält eine Auflistung der Platten im Besitz der Melody Club-Mitglieder. Aufgelistet werden sie nach den Bandleadern, darunter jeweils zwei Titel pro Platte, dahinter die Besitzer; mal einer, mal mehrere. Der Compiler (also Blüthner) ließ so viel Platz, wie er meinte, das die jeweiligen Bands benötigten, für bekannte und populäre Bands also mehr als für weniger bekannte. Gleich auf der ersten Seite gibt es schon einen der Hits, der nämlich gleich bei sechs der Mitglieder vorhanden ist: Duke Ellingtons „Tiger Rag I u. II“ (Wolff, Sternberg, Cornfield, Robert, Blüthner, Boger). Blüthner verzeichnet einzig die Titel auf den Platten, keine weiteren diskographischen Details, etwa Label oder Plattennummern. Er gruppiert die jeweils zwei Titel einer Schellackplatte mit geschweiften Klammern. Und wenn auf einer Platte mal Titel von unterschiedlichen Bands veröffentlicht wurden, verzeichnet er sie zweimal, nämlich unter den Namen der jeweiligen Bandleader, aber mit einem Verweis auf die jeweilige Rückseite.

Konkret, und alphabetisch geordnet nach den Bandnamen:

  • Henry Red Allen: 5 Platten
  • Pauline Alpert: 1 Platte
  • Bert Ambrose: 15 Platten
  • Louis Armstrong:  31 Platten.
  • Gus Arnheim: 1 Platte
  • Artiphon Orchester: 1 Platte
  • Harry Ascher: 1 Platte
  • DeFord Bailey: 1 Platte
  • Balalaika Orchester: 1 Platte
  • Billy Barton: 1 Platte
  • Bix Beiderbecke: 4 Platten
  • Benson Orchestra of Chicago: 1 Platte
  • Ben Bernie: 5 Platten
  • Bluejeans: 1 Platte
  • Boswell Sisters: 15 Platten
  • Arthur Briggs mit seinen Savoy Syncopators: 1 Platte
  • Buddy’s Brigade: 1 Platte
  • Hans Bund: 1 Platte
  • Rev. J.B. Burnett: 1 Platte
  • Cab Calloway: 12 Platten
  • Francisco Camaro: 2 Platten
  • Benny Carter: 4 Platten
  • Casa Loma Orchestra: 21 Platten
  • Castlewood Marimba Band: 1 Platte
  • Cellar Boys: 1 Platte
  • The Charleston Chasers: 1 Platte
  • Chicago Feetwarmers: 1 Platte
  • Chocolate Dandies: 7 Platten
  • Junie Cobb: 1 Platte
  • Oliver Cobb: 1 Platte
  • Eddie Condon: 2 Platten
  • Coon-Sanders Orchestra: 3 Platten
  • Charles Creath’s Jazz O’Maniacs: 1 Platte
  • Zez Confrey: 1 Platte
  • The Cotton Pickers: 3 Platten
  • Julio de Caro: 2 Platten
  • The Decca Dance Band: 1 Platte
  • Dickson’s Harlem Orchestra: 1 Platte
  • Dixie Rhythm Kings: 2 Platten
  • Vance Dixon: 1 Platte
  • Johnny Dodds: 2 Platten
  • Dorsey Brothers: 1 Platte
  • Duke Ellington: 91 Platten
  • Reginald Foresythe: 1 Platte
  • Caroll Ginnons: 3 Platten
  • Lud Gluskin: 2 Platten
  • Benny Goodman: 1 Platte
  • Stéphane Grappelli: 2 Platten
  • Henry Hall: 1 Platte
  • Coleman Hawkins: 3 Platten
  • Fletcher Henderson: 26 Platten
  • Horace Henderson: 1 Platte
  • Earl Hines: 9 Platten
  • Sol Hoopie: 1 Platte
  • Claude Hopkins: 2 Platten
  • Brigitte Horney: 1 Platte
  • Spike Hughes: 11 Platten
  • Jack Hylton: 4 Platten
  • Isham Jones: 1 Platte
  • Jack Jones: 2 Platten
  • Oskar Joost: 1 Platte
  • Greta Keller: 1 Platte
  • Eddie Lang: 1 Platte
  • Layton & Johnstone: 1 Platte
  • Ted Lewis: 2 Platten
  • Guy Lombardo: 1 Platte
  • Jimmie Lunceford: 10 Platten
  • Cecil Mack: 1 Platte
  • Wingy Manone: 1 Platte
  • Clyde McCoy: 1 Platte
  • McKinney’s Cotton Pickers: 5 Platten
  • Mills Blue Rhythm Band: 5 Platten
  • Mills Brothers: 3 Platten
  • Emmett Miller and his Georgia Crackers: 1 Platte
  • Irving Mills & His Hotsy Totsy Gang: 5 Platten
  • Borrah Minevitch: 1 Platte
  • Miff Mole: 1 Platte
  • Jelly Roll Morton: 11 Platten
  • Bennie Moten: 29 Platten
  • New Orleans Rhythm Kings: 1 Platte
  • Red Nichols: 10 Platten
  • Ray Noble: 2 Platten
  • King Oliver: 10 Platten
  • Raymond Parige: 1 Platte
  • Jack Payne: 2 Platten
  • Louis Prima: 1 Platte
  • Don Redman: 5 Platten
  • Leo Reisman: 1 Platte
  • Harry Roy: 4 Platten
  • Valaida Snow: 1 Platte
  • Lew Stone: 2 Platten
  • Joe Venuti: 5 Platten
  • Fats Waller: 4 Platten
  • Washboard Rhythm Band: 1 Platte
  • Washboard Rhythm Boys: 2 Platten
  • Washboard Rhythm Kings: 1 Platte
  • Washboard Serenaders: 3 Platten
  • Chick Webb: 1 Platte
  • Paul Whiteman: 2 Platten
  • Jay Wilbur: 1 Platte
  • Sam Wooding: 6 Platten

Und noch ein paar Besonderheiten: Franz Wolff ist hier der offenbar der begeistertste Sammler Duke Ellingtons (und anderer vorrangig afro-amerikanischer Künstler, zum Beispiel auch King Oliver). Die drei Platten von Coleman Hawkins stammen alle aus dem Jahr 1933, also vor seinem langen Europaaufenthalt, und natürlich fehlt „Body and Soul“, einfach, weil er es offenbar noch gar nicht eingespielt hatte, als Blüthner die Kladde erstellte. Die sechs Platten Sam Woodings stammen alle aus seiner europäischen Periode, wurden zwischen 1925 und 1929 in Berlin, Paris und Barcelona aufgenommen. Von Benny Goodman ist nur eine Aufnahme dabei. Carlo Boger hatte eine Vorliebe für Red Nichols und Spike Hughes, wie Blüthner sich erinnerte (Polster 1989: 33), was auch an seinem Plattenbestand zu ersehen ist: Von zehn Red Nichols-Platten besaß er acht, außerdem alle elf Spike Hughes-Platten. Zu den Exoten der Liste zählt insbesondere Sol Hoopii, ein Vertreter von Hawai-Gitarren-Musik, der mit zwei Aufnahmen verzeichnet ist („Farewell Blues“, „Stack O’Lee Blues“), die sich zumindest in den üblichen Jazzdiskographien nicht finden lassen.

Nach dem Eintrag über Emmett Miller and his Georgia Crackers folgt ein deutlicher Hinweis auf die Datierung der Kladde: „Samstag, 1. März 1936“. Auf den Seiten 71-75 scheint Blüthner detaillierte Notizen über Musik gemacht zu haben, die er im März und April des Jahres im Radio gehört hatte. BBC? Wir wissen es nicht.

Es war, kann man nach Durchsicht der Kladde feststellen eine Sammlung, die sich sehen lassen konnte. Vor allem afro-amerikanischer Jazz, daneben einige britische Bandleader und relativ wenige deutsche Bands. Man kann sich vorstellen, wenn man Blüthners Veröffentlichungen nach dem Krieg liest, die zum Beispiel an die Mitglieder des Hot Clubs Berlin gingen, wie sich sein Geschmack entlang dieser Aufnahmen gebildet hat.

Und dann erinnere ich mich wieder an meinen letzten Besuch bei ihm, bei dem er irgendwann eine CD einlegte, Jimmie Lunceford, sofern ich mich richtig erinnere. Er wusste nach wie vor alles über diese Musik. „Mein Kopf ist klar, nur der Körper macht nicht mit“, klagte er. Hans Blüthner hat nicht mehr erfahren, dass Teile seiner Papiere schließlich auf Umwegen doch im Jazzinstitut Darmstadt landen sollten. Aber ich bin mir sicher, es hätte ihn gefreut. (Foto: Hans Blüthner, Dieter Sternberg und Egon Wilrich, ca. 1936)

Blüthners Kladde, die einen kleinen Einblick in die Berliner Jazzszene der 1930er Jahre erlaubt und in die Gewissenhaftigkeit, mit der junge Jazzfans in dieser Zeit sich allen Widrigkeiten zum Trotz mit der Musik befassten, war bereits in mehreren Ausstellungen zu sehen, darunter einer mit Fotos von Francis Wolff für das Blue Note-Label im Jüdischen Museum Berlin.

Wolfram Knauer (18. Dezember 2023)


Zitierte Quellen:

Blüthner 1947: Hans Blüthner: Die Berliner Hotfreunde, 17. Januar 1947 (Manuskript im Jazzinstitut Darmstadt)

Blüthner 1950: Hans Blüthner: Berlin und Jazz, 22. September 1950 (Manuskript im Jazzinstitut Darmstadt)

Blüthjner 1967: Hans Blüthner: Brief an Günter von Drenkmann, 23. Januar 1967 (Briefkopie im Jazzinstitut Darmstadt)

Blüthner 1981: Hans Blüthner: Brief an Hans Berry, 14. Juli 1981 (Briefkopie im Jazzinstitut Darmstadt)

Crosby 1953: Barney Crosby. Foreign Extraction, in: Theme, 1/3 (Oktober 1953): 23

Jockwer 2004: Axel Jockwer: Unterhaltungsmusik im Dritten Reich, Konstanz 2004 (PhD thesis: Universität Konstanz)

Lange 1966: Horst H. Lange: Jazz in Deutschland. Die deutsche Jazz-Chronik, 1900-1960, Berlin 1966 (Colloquium Verlag)

Kater 1992: Michael H. Kater: Different Drummers. Jazz in the Culture of Nazi Germany, New York 1992 (Oxford University Press)

Polster 1989: Bernd Polster: Swing Heil. Jazz im Nationalsozialismus, Berlin 1989 (Transit Buchverlag)

Schmid 2010: Thomas Schmid: Ein vergessenes Verbrechen. Der Berliner Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann war das erste Opfer des Linksterrorismus in der Geschichte der Bundesrepublik. In dieser Woche wäre er 100 Jahre alt geworden. Rückblick auf ein deutsches Leben, in: Die Welt, 13. November 2010 <https://www.welt.de/print/die_welt/vermischtes/article10904029/Ein-vergessenes-Verbrechen.html>

Thiers 1960: Walter Thiers: Argentinien liebt Hot Jazz, in: Jazz Podium, 9/12 (Dec.1960): 262-263

Ein Gespräch mit Gerd Dudek

Seit 1992 veranstaltet das Jazzinstitut zusammen mit dem Kulturzentrum Bessunger Knabenschule den jährlichen Workshop „Jazz Conceptions“. Neben den sechs bis sieben Dozent:innen, die die ganze Woche dabei sind, laden wir ab und zu auch Gastdozenten ein, die uns für einen Tag einen Blick in ihre Sicht auf den Jazz erlauben. Im Sommer 2017 war das der im November 2022 verstorbene Saxophonist Gerd Dudek. Im Gespräch mit Wolfram Knauer erzählt er von seiner Karriere vor dem Globe Unity Orchestra, von einem Aufeinandertreffen mit John Coltrane und von der ewigen Suche nach dem richtigen Blättchen. Gerahmt wurde das Gespräch übrigens musikalisch: Dudek spielte dabei mit den Dozent:innen des damaligen Workshops, John-Dennis Renken (tp), Nicole Johänntgen (sax), Uli Partheil (p), Jürgen Wuchner (b) und Martial Frenzel (d).

Für das Dezember/Januar 2023/2024-Heft der Zeitschrift Jazz Podium haben wir das Gespräch transkribiert. Hier ein Link zum Jazz Podium und wenn Sie aufs Cover klicken, findet sich dort ein PDF des publizierten Artikels mit Fotos vom Gespräch:

Gerd Dudek, 8. Juli 2017, Jazz Conceptions
Bessunger Knabenschule, Darmstadt, 15:00 Uhr

Wolfram Knauer:
Gerd, ich würde mit dir gern ein bisschen über deinen Lebensweg und deine Karriere und deinen Weg zum Jazz sprechen, aber, weil das hier ja ein Workshop ist, auch ein bisschen über Technik, Instrument und Blättchen. Fangen wir vorne an. Wie bist du zum Jazz gekommen?

Gerd Dudek:
Ich habe schon als kleiner Junge nach dem Krieg, in zerstörten Häusern und so auf alten Büchsen getrommelt. Zuhause hatten wir einen alten Schallplattenspieler und haufenweise Schallplatten. Die hab‘ ich dann alle gehört, egal, was es war. Da waren auch Märsche dabei. Ich habe alles gehört, mich hat Musik einfach interessiert.

Knauer:
Du bist bei Breslau geboren. Wann seid ihr in den Westen gekommen?

Dudek:
Wir sind erst 1950 rausgekommen. Eine frühere Ausreise wurde uns immer wieder verwehrt, weil wir als Polen galten. Man hat uns sogar angeboten „richtige“ Polen zu werden. Mein Name ist ja polnisch, Dudek, polnisch für Wiedehopf. Aber unser Vater war fünf Jahre lang in russischer Gefangenschaft. Wie gesagt, wir wollten immer raus, aber man hat niemanden offiziell rausgelassen. Viele sind direkt nach dem Krieg geflüchtet. Jedenfalls hat es dann Ende 1950 irgendwie geklappt. Unser Haus steht immer noch da, das hat der Bürgermeister von Groß-Döbern übernommen, Dobrzen Wielki auf Polnisch.

Wir sind dann also in den Westen gegangen, ins Siegerland. Mein Bruder fing dann an Trompete zu spielen. Ich hatte damals noch überhaupt kein Instrument; ich spielte auf seiner Trompete, lernte mit zwölf oder dreizehn Jahren Tonleitern auf der Trompete zu spielen. Nach einem Jahr nahm mich mein Bruder dann mit zu dem Werksorchester, in dem er gespielt hatte. Der Leiter des Orchesters machte einen Schrank auf und holte eine Klarinette raus, eine Es-Klarinette. Ich nahm sie, blies hinein, trillerte irgendwas. Bei dem habe ich dann meinen ersten Unterricht bekommen, Klarinettenunterricht.

Mein Bruder und seine Freunde, die jammten schon in Lokalen oder bei Freunden, und daneben wurden mal bei dem, mal bei dem, viele Schallplatten gehört. Man traf sich und man hörte alles. Ich hörte natürlich Charlie Parker, und der Sound elektrisierte mich sofort. Natürlich hörte ich auch Johnny Hodges und Coleman Hawkins. Von da ab war mein Traum Saxophon zu spielen. Zuerst aber fing ich eine Architekturlehre an, arbeitete viereinhalb Jahre in einem Architekturbüro, weil meine Eltern fanden, Musiker, das geht nicht, du musst einen anständigen Beruf lernen. Ich hatte immer viel gemalt, und wurde dann also in dem Büro angenommen, wo ich Bauzeichnungen anfertigte. Wir bauten riesige Projekte, Hochhäuser, Stahlwerke, alles in Süd-Westfalen. Und daneben wurde immer gejammt, auch im Büro. Alle Architekten spielten ein Instrument; wir jammten bei der Weihnachtsfeier, zu Ostern saß man auch zusammen, und es kamen viele Künstler vorbei. Damals bekam ich dann mein erstes Altsaxophon. Mein Bruder hatte mit Freunden eine Bigband organisiert, die Melodia Rhythmiker – später wurde die Band auf meinen Bruder umgetauft, Ossi Dudek Bigband, nach Ossi, Oswald Dudek. In der spielte ich Klarinette – inzwischen hatte ich eine B-Klarinette und spielte Benny Goodman-Arrangements einschließlich der Soli, die es als Transkriptionen gab.

Und dann bekam ich mein erstes Saxophon, und schon nach einer oder zwei Wochen konnte ich das spielen. Ich hatte ein bisschen Unterricht. Wenn du vorher Klarinette gespielt hast, ist das nicht so schwer. Dann hab‘ ich jedenfalls in der Bigband angefangen, mit 15 oder 16 Jahren. Der erste Saxophonist, Michalek hieß der, der ging dann weg und ich übernahm die erste Saxophonstimme. Die Band wurde dann praktisch berühmt. Wir spielten jedes Wochenende in riesigen Hallen, in denen die Leute natürlich auch tanzten. Wir spielten Arrangements von Benny Goodman und Glenn Miller und solche Sachen. Und nebenbei jammten wir eigentlich immer; es gab eigentlich immer Jam Sessions, mal in diesem, mal in jenem Lokal. Ich selbst war besessen vom Sound Charlie Parkers, aber noch härter war Earl Bostic, der hat mich damals unglaublich angehauen. Obwohl ich Alt spielte, dachte ich aber eigentlich immer auf Tenorsaxophon.

Dann ergab es sich, dass eine andere Bigband vorbeikam und mein Bruder und ich da einstiegen. Und in der Band waren dann wieder Leute, die ihre eigene Band gründeten, ein Quintett. Mit dem Posaunisten der Band, Hans Ernst, Jacky Ernest genannt, ging ich dann und spielte in den amerikanischen Clubs. Meinen ersten dieser Gigs hatte ich in Frankfurt auf der Kaiserstraße. Man spielte damals einen oder vielleicht zwei Monate in einem Club. Ich trug damals ein Hawaiihemd und stand in der Pause vor dem Club, es war etwa so heiß wie heute, und dann kam eine Militärkontrolle vorbei, die wollten meinen Ausweis sehen, die wollten mich verhaften…

Knauer:
… weil sie dachten, du seist Amerikaner…

Dudek:
Genau… Mit der Band vom Posaunisten Hans Ernst spielte ich vielleicht zwei, drei Monate, , dann kehrte ich zurück nach Hause, blieb dort ein, zwei Monate, dann spielte ich schon wieder in der nächsten Band. Und dann gab’s ein Engagement in einem amerikanischen Hotel in Garmisch-Partenkirchen, im General Patton Hotel, da war ich dann den ganzen Sommer ’58, und da traf ich viele amerikanische Musiker, die in der Army waren, Cedar Walton zum Beispiel und Joe Henderson, glaube ich, und wir jammten viel zusammen.

Knauer:
… in Garmisch? oder Frankfurt?

Dudek:
… in Garmisch. Hmm, es kann auch in Kitzingen gewesen sein. Da hatte ich auch mein erstes Tenor. Das hatte ich in Düsseldorf gekauft, bin dann mit dem Zug nach Kitzingen, hatte aber in Frankfurt Aufenthalt und gab mein Instrument da auf, um ins AKI-Kino zu gehen – die gab es damals in großen Städten, die hatten rund um die Uhr auf. Nach ein paar Stunden holte ich mein Instrument wieder aus der Aufbewahrung, schaute es mir gar nicht weiter an und stieg in den Zug nach Kitzingen. Erst dort machte ich den Koffer auf, aber da ging überhaupt nichts mehr, das war total verbogen. Es muss bei der Aufbewahrung geschehen sein; da stellte man die Koffer einfach in so ein Fach, und dann hat man wahrscheinlich einen weiteren Koffer reingeschoben und dabei ist es runtergefallen. Ich machte jedenfalls den Koffer auf und musste erst mal weinen. Ein nagelneues Tenor, das erste Mal! Ich bin dann nach Würzburg gefahren, das war ja in der Nähe, da hat mir das dann einer repariert. Gottseidank hatte ich mein Altsaxophon und meine Klarinette dabei.

Danach ging’s nach Garmisch, und dann kam eine Rock ’n‘ Roll-Band, mit der ich auch mit in Frankfurt spielte, mit Fats and his Cats. Damals hatten wir einen Gig in Hanau, das muss so Anfang, Mitte ’58 gewesen sein. Man fing damals bereits am Nachmittag an zu spielen, egal wie viele Leite da waren. An dem Tag jedenfalls war nichts los in dem Laden, gar nichts, kein Mensch da. Wir spielten dann einfach Jazz, Mulligan-Nummern und Chet Baker/Mulligan, genau, das war dann im Quartett, mit Fats and his Cats, „Hot Cats“, wie es groß auf der Trommel des Schlagzeugers stand. Normalerweise spielten die so Rhythm & Blues-Stücke, Fats Domino-Sachen. Eines Nachmittags jedenfalls spielten wir da, es war ganz dunkel, der Laden war leer, aber ganz hinten, in der hintersten Ecke saßen drei Köpfe. Und dann – ich spielte gerade –, dann standen die langsam auf, sie hatten so Hawaiihemden an, und zückten ihre Messer, drei so lange Klingen, und kamen langsam auf mich. Du musst dir das vorstellen: Ich spielte, und die drei mit ihren langen Klingen… dann ging der mittlere zur großen Trommel, die ganz vorne auf der Bühne stand, kniete sich davor, während die anderen beiden mit ihren Messern Schmiere standen. Und er kratzte die Buchstaben von der großen Trommel, „Fats and his Hot Cats“, langsam runter. Die fielen dann einfach runter… ich spielte immer weiter. Ich dachte, jetzt ist es aus, vorbei. Ich hab‘ noch ein Foto, da kann man die Schatten von der Schrift sehen. Die sind dann über die Felder und weg. Es war ja niemand da sie aufzuhalten, nur der Chef von dem Laden. Es waren wohl GIs, Puertoricaner auf Freigang. Die wollten wahrscheinlich Hot Music hören, keinen Mulligan. Später kam dann die Militärpolizei und nahm alles auf. Die haben sie aber, glaube ich nie gekriegt.

The next step: Dann fing ich im Berlin Jazz Quintett an. Das war die Band von Helmut Brandt, wir hatten über Gigs, in Stuttgart, Hamburg im Rundfunk. Helmut Brandt ging dann weg nach Berlin zur RIAS Big Band, und dafür kam Conny Jackel, Trompete. Dann kam noch die Jazz Group Hannover, bei der ich den Saxophonisten Bernd Rabe ersetzte. Aber vor Edelhagen war meine letzte Band tatsächlich die von Helmut Brandt, das Berlin Jazz Quintett, mit Rudi Füsers, Ventilposaune, Heinrich Schröder, also John Schröders Vater, am Schlagzeug und Klaus Gernhuber am Bass. Ich hab‘ noch super Fotos aus der Zeit.

Knauer:
Dann warst du ein paar Jahre bei Kurt Edelhagen…

Dudek:
Ja, wir spielten damals auch in Köln, im Bohème, einem Lokal in der berühmten Eigelstein-Szene. Und da kamen Musiker aus der Edelhagen-Band vorbei und stiegen ein, Derek Humble, Jimmy Deuchar, und wir jammten den ganzen Abend. Und dann fragte Derek auf einmal: Willst du in die Edelhagen-Band einsteigen? Es gab gerade einen Wechsel im Saxophonsatz, weil der Tenorist, Jean-Louis Chautemps, zurück nach Paris ging. Ich musste dann, es war Ende 1959, ein Vorspiel machen. Ich war gerade auf einem Riverboat in Lübeck engagiert, und die Edelhagen-Band spielte in einer großen Halle in Hamburg. Ich bin dann hingefahren und auf die Bühne. Da saßen sie dann alle vor ihren Noten, und ich spielte alles einfach von den Noten ab, langsame Stücke, schnelle. Da Lustigste: Edelhagen war gar nicht da. Ich musste ja gleich wieder zurück nach Lübeck, weil ich am Abend den Gig hatte, und gerade als ich die Bühne verließ, kam Edelhagen rein. Eine Woche später bekam ich dann Bescheid: ich hatte den Gig. Im Februar 1960 fing ich dann an.

Damals war auch Dusko Goykovitch in der Band. Ich war gerade mal ein paar Wochen in der Band, da schlug Dusko vor: Gerd, lass uns morgen nach Düsseldorf fahren, da spielt Jazz at the Philharmonic. Das war eine Tournee unter anderem mit dem Miles Davis Quintet, dem Stan Getz Quartet und mit Oscar Peterson. Die machen auch Fernsehaufnahmen. Dusko und ich fuhren also ins Apollo Theater in Düsseldorf. Dort war alles dunkel, auf der Bühne tat sich nichts. Stan Getz saß im Schneidersitz auf dem Boden. Dusko unterhielt sich mit ihm und stellte mich vor: Stan, meet Gerd Dudek, a fantastic tenor player. Oh, nice to meet you. Die warteten alle auf Miles, auf Miles Davis, aber der kam nie. Ich sah Coltrane rumlaufen, und dann ging ich in die Kantine einen Kaffee trinken. Es gab dort eine lange Theke, wie aus einem Hopper-Bild mit einer Bedienung dahinter in weißer Kittelschürze. 1950er Jahre halt.

Ich ging also zur Kantine, und Coltrane ging direkt neben mir. Wir gingen zusammen zur Theke, bestellten Kaffee. Coltrane hatte einen Smoking an und darüber eine kurze schwarze Cordjacke. Er war ungefähr einen halben Kopf kleiner als ich, und ganz dünn. Wir gingen dann zurück zur Bühne. Miles war immer noch nicht gekommen, und dann fingen Stan Getz und Coltrane an etwas zu spielen, in F, „Hackensack“. Das wurde zwar aufgenommen, ist aber nie gesendet worden. Irgendwann später hatte ich Ali Haurand mal gefragt, der ja für den WDR gearbeitet hatte, und dann fanden sich die Bänder irgendwo in der hintersten Ecke im Archiv. Ich kriegte dann eine Kopie, als Audio, nicht als Video. Darauf spielt Oscar Peterson, Paul Chambers, Jimmy Cobb. Wynton Kelly war auch dabei, in der Band, und Coltrane spielte im Quartett, und mit Stan Getz spielte er „Hackensack“. (Das heißt im Original ja eigentlich „Rifftide“ und ist von Coleman Hawkins.)

Knauer:
Für die, die diese Geschichte jetzt bebildert sehen möchten: Es gibt tatsächlich einen Ausschnitt von dieser Session auf YouTube, Stan Getz und John Coltrane bei ihrem einzigen gemeinsamen Auftritt, aus Düsseldorf.

Erzähl doch mal ein bisschen über deine Einflüsse als Saxophonist.

Dudek:
Anfangs war das hauptsächlich Stan Getz. Das war für mich der absolute Meister, seine Technik, sein Sound. Daneben hörte ich Coleman Hawkins und Charlie Parker. Nachdem ich zum Tenor gewechselt habe, war es aber Stan Getz, absolut. In Frankfurt gab es auf der Taunusstraße dieses Musikhaus Hummel, da ging ich immer hin, da kam auch immer Don Menza hin. Ich spielte damals wie Stan Getz, mit genau diesem Sound. Menza hatte alle möglichen Schallplatten, und der sagte mir dann: Gerd, hör mal dies, hör mal das, hör mal den. Dann hat er mir vor allem Coltrane-Platten vorgespielt, also die alten Coltrane-Platten, auf Prestige. Schon ein wahnsinniger Sound, aber ich hab‘ da überhaupt nicht drauf gestanden. Der Sound war mir damals einfach zu hart, ich stand nun mal total auf Stan Getz, auf dessen homogen runden Sound. Coltrane war mir einfach zu hart, das ist doch kein Saxophon. Später kam ich dann natürlich dahinter, was da alles drin steckt. Ich erinnere mich jedenfalls noch genau, wie Stan Getz mit Coltrane kommuniziert hat, nicht verbal, sondern eigentlich nur mit Blicken.

Knauer:
Noch mal zurück zu Edelhagen. Du hattest ja mit deinem Bruder Ossi in einer Bigband angefangen, dann hast du in kleinen Besetzungen gespielt, und dann mit der Edelhagen-Band, die nicht nur ein Jazzorchester war, sondern auch viel Tanzmusik und Schlagermusik aufgenommen hat. Ist so etwas für einen Jazzmusiker in den 1960er Jahren frustrierend? Oder sieht man das vor allem als gute Einnahmequelle?

Dudek:
Also, die Band war super-präzise. Derek Humble saß als erster Altist viereinhalb Jahrelang direkt neben mir. Ich hab noch genau im Ohr, wie der gespielt hat, so genau, im Timing und so. Das hab‘ ich von ihm gelernt. Und die Edelhagen-Band war damals auch wegen dieser Präzision das Top-Orchester in ganz Europa. Und wir haben auch viel Jazz gespielt, hatten eigentlich andauernd Jazzkonzerte. Wenn Johnny Griffin kam, hab‘ ich mit Johnny Griffin gejammt, sobald die Proben vorbei waren, mit Johnny und Maffy Falay, Trompete, und da war noch Mely Güröl, ein türkischer French-Horn-Spieler, der später nach Hollywood ging und Filmmusik schrieb. Wir haben dann im Kreis gestanden, einer spielte den Chorus, Johnny Griffin spielte auf dem Saxophon den Bass dazu. Und dann nahm er mein Horn und gab mir seins. Ich hab‘ dann auf seinem gespielt und er auf meinem, ich mit seinem Blättchen und er mit meinem Blättchen. Weißt du, Johnny spielte immer King. Ich nehme an, der wollte einfach mal ein Selmer spielen – ich hatte dieses alte Selmer. Später hat er dann auch auf Selmer gewechselt, weil der den Sound liebte.

Naja, und dann kamen noch Donald Byrd und Jimmy Giuffre mit Steve Swallow und Paul Bley… Mit Jimmy Giuffre bin ich in Köln auf der berühmten Hohen Straße einkaufen gegangen. Wir hatten von der Bigband aus so einen Schneider, der sagte mir: Kauf du den Stoff, ich mach dir Anzüge. Heute kannst du so was gar nicht mehr bezahlen.

Knauer:
Du hast jetzt ganz viel über eine Zeit und eine Musik erzählt, mit der dich hier im Raum wahrscheinlich gar nicht so viele Leute verbinden. Viele kennen dich eher von dem Ensemble her, mit dem du letztes Jahr auch auf dieser Bühne gestanden hast, mit dem Globe Unity Orchestra. Also eher mit freier als mit Bigband-Musik. Wie bist du in diese freie Szene hineingerutscht?

Dudek:
Naja, mit der Edelhagen-Band hab‘ ich eines Tages einen totalen Bruch gemacht. Von heute auf morgen hab‘ ich gesagt, ich bin weg, Kurt, ich gehe! Drei Monate Kündigungsfrist. Wir hatten halt immer diese Fernsehshows gespielt, Filme mit Joachim ‚Blacky‘ Fuchsberger und so… „Nur nicht nervös werden“ hieß einer davon. Und da wurde tagelang im Studio gefilmt, du durftest aber keinen einzigen Ton spielen, weil das Playback bereits vorher aufgenommen worden war. Du sitzt also zwei Wochen lang im Scheinwerferlicht, Filme, Pause, nächste Szene und so weiter. Ich hab‘ dann in den Pausen immer in der Ecke gesessen und geübt, bis es wieder hieß: einsteigen, wieder einsteigen! Also wieder ab auf die Bühne. Ich war ja gerade mal 24 oder 25, also 1964 war das. Ich wollte spielen.

Und dann machten wir eine Russland-Tournee. 1964, also mitten im Kalten Krieg, und die erste Station war Moskau, danach Leningrad und Sotchi. Wir kommen im Hotel an, einem Riesenhotel, warten in der Lobby, und dann kriegen wir unsere Zimmer nicht. Es hieß, wir gehen in ein anderes Hotel, das war ein ganz billiges und lag ein bisschen außerhalb der Stadt. Derek Humble wachte in der ersten Nacht auf und war total von Wanzen zerstochen. Wieso das alles? Das Bolshoy-Ballett war im Austausch für die Edelhagen-Bigband in Deutschland, nicht, Bolshoy-Ballett. Und die deutschen Behörden hatten zwei der Leute vom Bolshoy-Ballett ausgewiesen, ich weiß auch nicht, was der Grund war, ob die spioniert hatten oder so. Jedenfalls nehme ich an, dass unsere Umquartierung ins verwanzte Hotel eine Retourkutsche gewesen war. Ansonsten hatten wir auf der Tournee immer einen freundlichen Begleiter dabei. Wir spielten zwei Wochen lang in Moskau, und auch in den anderen Städten teilweise in Stadien und vor Tausenden Menschen, 20.000 Leute, jeden Abend…

Dann hatte ich also bei Edelhagen gekündigt und bin sofort nach Berlin gegangen, wo Fritz Bauer, Joe Nay und Hans Rettenbacher ein Quartett mit mir machen wollten. Ich hatte einen großen 220er Mercedes, bin dann gleich mit Bob Carter, einem Amerikaner und dem letzten Bassisten, mit dem ich bei Edelhagen zusammengespielt hatte, nach Berlin. Da traf ich dann wieder Johnny Griffin, der gerade in Berlin spielte. Wir wohnten zusammen mit anderen Musikern in einer gemeinsamen riesigen Wohnung auf der Westfälischen Straße. Da kam dann auch der Bruder von Kenny Barron, der Saxophonist Bill Barron, der mir über John Coltrane erzählte. Der war zusammen mit Coltrane auf der Schule gewesen. Die beiden hatten zusammen angefangen Musik zu machen; Bill Barron war anfangs viel moderner gewesen als Coltrane, der ganz konventionell gespielt habe, noch auf dem Altsaxophon. Dann hat er sich natürlich weiter entwickelt.

Bill jedenfalls empfahl mir: Schau nicht auf Sonny Rollins, schau auf Coltrane. Ich war ja noch am Üben. In Berlin traf ich viele amerikanische Musiker, die waren schon in der Free-Szene aktiv waren. Dann spielte ich mit dem Schlagzeuger Stu Martin in total freiem Kontext zusammen. Ich war aber noch gar nicht so weit. An einem Abend spielten wir einen Set, und ich zitierte „All the Things You Are“ dazwischen. Und da fuhr Stu von hinten dazwischen: BAAAA! What’s that?! Das war schon ein radikaler Umbruch.

Mit Manfred Schoof und Alexander von Schlippenbach hatten wir schon zu Edelhagen-Zeiten ein Quintett, mit dem wir vor allem Hardbop spielten, Art Blakey, Horace Silver. Ich war bereits anderthalb Jahre in Berlin, als mich Manfred anrief: Gerd, komm‘ zurück nach Köln, wir machen unser Quintett neu, aber jetzt mit eigenen Stücken, keine Bebop-Nummern mehr. Ich bin dann sofort zurück nach Köln. Wir übten in Marburg; Claus Schreiner lebte dort, und auch Buschi Niebergall, bei dem ich meistens wohnte. Nur eigene Stücke also. Wir probten und übten und spielten, und dann kam die erste Platte heraus bei Lippmann+Rau, „Voices“, die wurde ein Riesenhit in ganz Europa. Wir haben in der Folge alle Festivals abgespielt, Molde, Montreux, Prag, Warschau…

Knauer:
Ihr habt eigene Stücke gespielt; ihr habt begonnen, freier zu improvisieren. Du kamst ja eigentlich von einer ganz anderen Musik, das ist ja schon ein großer ästhetischer Umschwung, oder? Wie hat denn das Publikum darauf reagiert

Dudek:
Ja, das war schon plötzlich. Die Reaktionen haben mich erstaunt, sie waren größtenteils positiv. Natürlich gab es auch Buhs von den eingefleischten Jazzern. Aber selbst von amerikanischen Musikern bekamen wir nur Zuspruch. Woody Shaw und der Saxophonist Nathan Davis hatten eine Gruppe, die bei einem Gig zusammen mit uns gebucht war. Woody Shaw kam danach zu mir und meinte: Awww, fantastisch. I’d like to play like you. Die meisten der Amerikaner waren damals, Mitte der 1960er Jahre, noch nicht so frei. Und wir haben das einfach gemacht. Naja, und natürlich waren wir bereits zuvor in Kontakt mit modernen Komponisten gewesen, Bernd Alois Zimmermann und Karlheinz Stockhausen, die ja beide in Köln lebten. 1965 hatten wir bei der Uraufführung von Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ mitgewirkt, später dann beim „Requiem für einen jungen Dichter“.

Mit Wolfgang Dauner und Jean Luc Ponty war ich 1967 bei der Platte „Free Action“ dabei gewesen. Wolfgang hatte seine Stücke schon richtig notiert, aber die Improvisationen dazwischen waren immer frei. Und dann war da natürlich Globe Unity, ab 1966, wo wir in Berlin auftraten. In der Band gab es ebenfalls aufgeschriebene Teile, die quasi die Richtung vorgaben – von hier nach da –, und die Struktur ¬ jetzt spielt der ein Solo oder zwei Solisten zusammen, dann aber kommt wieder ein geschriebener Block. Das waren dann meist grafische Partituren, aber nach und nach wurde das später ganz aufgegeben. Naja, es gab schon noch Noten, zum Beispiel bei einer Asien-Tournee fürs Goethe-Institut, bei der wir anfangs Stücke spielten. Aber dann waren wir in Bombay beim Festival, und Alex meinte nur: heute keine Noten! Und dann spielten wir eben nur frei. Du musst dir das vorstellen: ein riesiges Openair-Festival. Stan Getz spielte vor uns, und dann wir, 20, 21 Leute, völlig freie Improvisation, und dann sah man schon die ersten Leute rausgehen. Wir spielten aber einfach weiter, am Ende war kaum mehr einer da. Es gab einen Riesen-Verriss in der Presse, da las man dann von einer Kakophonie ohnegleichen.

Knauer:
Wie war das denn für dich, wenn du mitkriegst, dass das Publikum, das einen zuvor geliebt hat, plötzlich nichts mehr mit deiner Musik anfangen kann? Fragst du dich da als Musiker, ob du noch alles richtig machst? Oder habt ihr gesagt: Jetzt erst recht!?

Dudek:
Ja, das ist eine gute Frage. Früher man hat ja immer fürs Publikum gespielt. Und dann kam in den 1960er Jahren dieser Umbruch, da wollten wir’s denen zeigen, wollten keine anschmeichelnde Musik, keine schöne Musik mehr machen. Ich selbst … für mich war das immer ein bisschen too much. Ich hab auch in den freien Passagen immer versucht einen großen Bogen zu machen. Weißt du, es gab ja damals auch Leute, die konnten kaum ihr Instrument spielen, haben dann aber „frei“ gespielt.

Knauer:
Ich würde zum Schluss vielleicht noch gern über Instrumentales sprechen, über Technik. Wie oft übst du am Tag?

Dudek:
Ich übe eigentlich jeden Tag, und wenn es nur eine halbe Stunde ist. Ich versuche immer noch den richtigen Sound zu finden, also einen Sound, der mit dem Körper in Einklang ist. Das hängt ja mit dem Instrument genauso zusammen wie mit den Mundstücken. Gerade habe ich ein Saxophon zur Ansicht bekommen, das hatte dem Saxophonisten Frank Wright gehört. Das ist schon lange nicht mehr gespielt worden, und es hat einen ganz anderen Sound. Der hatte sich in Paris so eine Spezialanfertigung machen lassen. Ich spiele ab und zu mit Markus Lüppertz, und Frankie Wollny, der das organisiert, hatte das Instrument zuhause. Die hatten mal in der gleichen Gegend gewohnt, jedenfalls hatte er das Saxophon jahrzehntelang bei sich liegen. Letzte Woche haben wir dann mit Lüppertz in einer Kirche gespielt, eine andere Art von Musik, frei, aber auch melodisch. Jedenfalls hat der Veranstalter zwei Söhne, die auch spielen, und der eine Sohn probierte das Saxophon aus, kriegte aber kaum was raus. Frankie hat mir das dann zum Auschecken gegeben; ich musste das erstmal ein bisschen säubern.

Knauer:
Jedes Instrument hat also seinen eigenen Sound? Nicht du machst den Sound, sondern nur gemeinsam du und das Instrument…

Dudek:
Ja, das ist für mich sehr wichtig. Dein Instrument darf dich nicht überwältigen. Du musst damit machen können, was du willst. Und deshalb hab‘ ich das schöne alte Mark VI von 1959, das ist wie ein Teil von mir.

Knauer:
Spielst du nach wie vor Sopransaxophon? Querflöte?

Dudek:
Ja, ich spiele jeden Tag Querflöte. Ich möchte gern noch mehr Flöte und Klarinette spielen, das kann ja ganz wichtig für die Stimmung sein. Andererseits ist ja im Grunde genommen in einem Instrument das alles schon drin. Aber auch da suche ich immer noch, Mundstücke, Blätter. Das ist ein Thema für sich, Saxophonblätter. Neulich spielte ich mit Klaus Doldinger bei der Düsseldorfer Jazz Rallye im neuen Landtag, und Klaus empfahl mir diese Blätter. Ich hab sie dann sofort gekauft, aber ich komm mit denen einfach nicht zurecht. Man sucht halt immer weiter…

Knauer:
Du spielst also seit sehr, sehr vielen Jahren Saxophon und bist immer noch auf der Suche nach dem richtigen Blättchen, immer noch auf der Suche nach dem Sound?

Dudek:
Ja, sicher, ja.

Oral History

Joachim Ernst Berendt

Mit Joachim Ernst Berendt fing alles an – zumindest wenn man die Geschichte des Jazzinstituts betrachtet. Seine Sammlung, die er 1983 an die Stadt Darmstadt veräußerte, war der Grundstein dessen, was – mittlerweile um ein Vielfaches angewachsen – das Archiv des Jazzinstituts ausmacht. Als ich im September 1990 als erster Direktor des Jazzinstituts mit der Arbeit begann, kam ich selbstverständlich rasch in Verbindung mit Berendt, Wir sahen uns regelmäßig, etwa drei oder vier Mal im Jahr, meist in seinem Haus in Varnhalt bei Baden-Baden, wo ich Kisten mit Material abholte, das er vertragsgemäß ans Jazzinstitut weiterreichte; CDs, Bücher, andere Dinge, die er zum Jazz erhalten hatte, die aber sein Interesse nicht mehr so stark weckten.

Nach dem Vorbild des Institute of Jazz Studies begannen wir bereits 1991 mit Interviews  mit Zeitzeugen der deutschen Jazzgeschichte, einer Art Oral History, die wir auf Band, zum Teil sogar auf Video festhielten. Es ist keine sehr große Sammlung an Interviews geworden – zu sehr entwickelte sich die tägliche Arbeit des Instituts in andere Richtungen. Das mehrstündige Gespräch mit Joachim Ernst Berendt aber ist eines, das mir besonders wichtig war, weil es mehr war als nur seine Geschichte: es erzählte ja auch die Geschichte des Materials, das wir nun verwalteten. Wie immer in solchen persönlichen Erinnerungen ist Berendts Darstellung eine rein subjektive. Bestimmte Themen sparte er ganz bewusst aus, über andere hatte er seine ganz eigene Perspektive. Ich war (und bin) kein investigativer Journalist; meine Aufgabe war es, ihn zum sprechen zu bringen. Und als ich jüngst – so ein wenig beim Ausmisten der Regale zum Ende meiner Amtszeit – wieder über das Gespräch mit ihm stolperte, fand ich es doch bemerkenswert. Hier also die Geschichte von Joachim Ernst Berendt, in seinen eigenen Worten…

(Wolfram Knauer, Oktober 2023)

Zum Lesen der PDF-Datei einfach auf das Bild klicken

(Bild oben: Joachim Ernst Berendt beim 4. Darmstädter Jazzforum 1995. Foto: Matthias Creutziger)

Destination Unknown: Abstracts

Ablauf der Konferenz:

DONNERSTAG – Nachmittag
28. September 2023

14:00:
Oberbürgermeister Hanno Benz
Grußwort: Eröffnung des 18. Darmstädter Jazzforums

Wolfram Knauer
Die Zukunft des Jazz. Eröffnung

Organisatorische und inhaltlich einführende Worte zur Konferenz und zur Bedeutung des Gesprächs über die Zukunft des Jazz für die aktuellen Jazzdiskurse insbesondere in Deutschland

Thema:
PAST AND FUTURE

14:15:
André Doehring (Graz)
Blubberbumm! Wolfgang Dauners Zukunft des Jazz ins Heute gewendet

— abstract: —

Die Frage nach dem Entwurf einer jazzmusikalischen Zukunft ist oft von den Nöten einer Gegenwart geprägt, die den Blick auf historische Kontinuitäten trüben können. In meinem Vortrag diskutiere ich am Beispiel Wolfgang Dauners während der 1970er, wie er eine musikalische Zukunft des Jazz entwarf, die meines Erachtens einerseits unsere Jazzgegenwart zu einem guten Teil kennzeichnet.

Doch ein Aspekt von Dauners Musik scheint mir andererseits ein wenig unterbelichtet: seine ernsthafte jazzmusikalische Ansprache eines kindlichen Publikums. Vor der Einsicht, dass eine lebendige Zukunft des Jazz stets nur in der Gegenwart gestaltet werden kann, schließt der Vortrag mit dem Plädoyer, sich heute stärker und anders zukünftigen Sympathisant*innen des Jazz zuzuwenden.

— bio: —

André Doehring (Dr. phil.) ist Professor für Jazz- und Popularmusikforschung am von ihm geleiteten Institut für Jazzforschung der Kunstuniversität Graz (Österreich). Seine Arbeitsgebiete sind Analyse und Historiographien von populärer Musik und Jazz sowie Musik und Medien. Er ist Mitherausgeber von Jazzforschung / Jazz Research und Beiträge zur Jazzforschung / Studies in Jazz Research.

15:15:
Harald Kisiedu (Hamburg)
Jazz is dead: Überlegungen zu einer gar nicht mal so neuen Idee

— abstract: —

2022 verkündete der Trompeter Theo Croker lapidar „JAZZ IS DEAD“. Dabei lässt sich die Vorstellung vom Tod des Jazz bis in die späten 1950er Jahre zurückverfolgen. So steht diese Idee beispielsweise im Zentrum von Ed Blands Film The Cry of Jazz, der 1959 erschien. In diesem Beitrag wird die Idee vom Tod des Jazz in den größeren historischen Kontext der Zurückweisung des Begriffs „Jazz“ seitens afroamerikanischer Musiker:innen gestellt, die mit kulturell-ästhetischer Selbstbestimmung einherging. Ausgehend von der mit einem einengenden Begriff von Jazz als Genre verbundenen Beschränkung der Mobilität Schwarzer Menschen wird mit Fokus auf die 1968 in New York gegründete Society of Black Composers das noch immer von Schweigen umgebene Schaffen afrodiasporischer Komponist:innen beleuchtet.

— bio: —

Harald Kisiedu ist historischer Musikwissenschaftler und Saxophonist, der an der Columbia University in historischer Musikwissenschaft promoviert wurde. Zu seinen Forschungsinteressen gehören afrodiasporische klassische und experimentelle Komponist:innen, Jazz als globales Phänomen, Improvisation, Musik und Politik sowie Wagner. Kisiedu ist Dozent am Institut für Musik der Hochschule Osnabrück und hat bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt, an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig und am British and Irish Modern Music Institute Hamburg gelehrt. Er ist u. a. mit Branford Marsalis, George Lewis, Hannibal Lokumbe und Henry Grimes aufgetreten und machte Aufnahmen mit dem von Greg Tate geleiteten New Yorker Ensemble Burnt Sugar, the Arkestra Chamber und dem Komponisten und Improvisator Jeff Morris. Kisiedu ist der Autor von European Echoes: Jazz Experimentalism in Germany, 1950-1975 (Wolke Verlag) und ist Mitherausgeber (mit George E. Lewis) von Composing While Black: Afrodiasporische Neue Musik Heute/Afrodiasporic New Music Today (ebenfalls Wolke Verlag).

 

16:15:
Roundtable 1
Jazz – aber für wen eigentlich?
James Banner (Berlin), Evi Filippou (Berlin), Julia Kadel (Dresden), Moderation: Sophie Emilie Beha

In unserem ersten Roundtable diskutieren wir unter der Überschrift „Jazz – aber für wen eigentlich?“ ob der Jazz tatsächlich unsere gegenwärtige Gesellschaft abbildet bzw. was zu tun ist, um ihn noch stärker als eine Musik der Offenheit und des Aufeinanderhörens zu positionieren. Wir haben dafür den Bassisten James Banner eingeladen, über seine Auseinandersetzung mit Klassismus in seinem Class-Work-Projekt zu berichten; die Vibraphonistin Evi Filippou, die ihre Erfahrungen mit Schüler:innen thematisiert; sowie die Pianistin Julia Kadel, die sich im Projekt QueerCheer für sie Sichtbarkeit queerer Menschen auch in Jazz und improvisierter Musik einsetzt (Moderation: Sophie Emilie Beha).

— bios: —

James Banner ist ein in Berlin lebender Improvisator/Komponist. Er kreiert (elektro-)akustische Kompositionen, oftmals auf Basis von Improvisation. Er kuratiert kollaborative improvisierte Musikprojekte und tritt mit zeitgenössischer Kammermusik und Soloprogrammen auf. Seine Werke sind von der aktuellen – vor allem britischen – gesellschaftspolitischen Lage beeinflusst.

Evi Filippou studierte Schlagzeug in ihrer Heimatstadt Volos (Griechenland) und in Berlin. Nebenbei nahm sie Vibraphonunterricht und sammelte bald Berufserfahrungen in Orchestern und Kammermusikensembles sowie mit Solo- und Duoauftritten im Bereich klassischer und improvisierter Musik. Als Sidewoman spielte Filippou unter anderem mit Chris Dahlgren, Arne Braun, Elias Stemeseder, Uli Kempendorff und Angelika Niescier, ist außerdem Teil der Nïm Dance Company. Ihre eigene Musik spielt sie mit ihrem Projekt inEvitable. Seit 2019 setzt sich Filippou als Kuratorin für Diversität im Jazz und in der Improvisationsszene Berlins ein, organisierte etwa Balance for Better (Werkstatt der Kulturen, 2019), Das ist nicht eine Frauen-Konzertreihe (ZigZag Jazzclub, 2021) sowie zusammen mit Jacobien Vlasman dem Bitches Brew Festival (House of Music 2021, Gretchen 2022). Sie wirkt bei zahlreichen Musiktheaterproduktionen mit und ist Gründungsmitglied des Opera Lab Berlin Ensembles. Seit 2016 ist Evi zudem als Dozentin in Berliner Grundschulen in einem Projekt, das Berliner Kinder durch Kultur stärken will aktiv. Ständig beschäftigt mit der Koexistenz von Komposition und Improvisation, Präzision und authentischem persönlichen Ausdruck, wohnt und übt Evi Filippou in Berlin.

Julia Kadel ist europaweit in  zahlreichen Projekten als Pianist:in und Komponist:in aktiv und spielte Konzerte in Philharmonien sowie bei internationalen Festivals. 2019 zählte das Magazin Jazzthing sie zu den deutschen „Top Ten Key Players“. Sie erforscht die Möglichkeiten des Ausdrucks durch Spiel und eine konzeptionelle Anlage der eigenen Kompositionen und Improvisationen, um die Themen des Alltags mit dem Publikum zu teilen. Als Solistin ist Kadel auch in Projekten wie „How to Fail (Together)“ mit dem australischen Konzeptkünstler Julian Day oder „Systemrelativismus – Was ist richtiger?“ mit dem Darmstädter Installationskünstler Stefan Mayer-Twiehaus aktiv. Politisch engagiert sich Kadel unter anderem in der 2021 von ihr mitgegründeten Queer Cheer Community for „Jazz“ and Improvised Music in Germany, die 2022 ihr erstes Event im Donau115 in Berlin veranstaltete und 2023 mit dem Sonderpreis der Jury des Deutschen Jazzpreises ausgezeichnet wurde.

Sophie Emilie Beha ist multimediale Musikjournalistin. Sie ist Autorin und Moderatorin für die verschiedenen öffentlich-rechtlichen Sender. Daneben schreibt sie regelmäßig für die taz und Fachmagazine wie Jazz thing, JazzZeitung oder Jazz’n’More. Auf Bühnen sowie vor der Kamera moderiert sie Festivals (Leipziger Jazztage), Konzerteinführungen, Podcasts (domicil Dortmund) und Podiumsdiskussionen (Stadtgarten Köln). Außerdem steht sie immer wieder auch hinter der Kamera, beziehungsweise führt Regie für Videoprojekte (domicil Dortmund, WDR). In Köln kuratiert Beha Konzerte und Festivals im Stadtgarten und hat das interdisziplinäre Festival guterstoff mitgegründet. Außerdem ist sie Dramaturgin des Sänger*innenkollektivs PHØNIX16 in Berlin und Mitglied des experimentellen Vokalensembles Γλωσσα (Glossa), mit dem sie 2022 das Karl-Sczuka-Recherchestipendium gewonnen hat. Im Jahr 2021 wurde sie für den Preis für deutschen Jazzjournalismus nominiert und seit 2022 wird ihre kuratorische Tätigkeit von NICA artist development gefördert. In Köln und Budapest hat sie Musikjournalismus studiert.


FREITAG – Vormittag
29. September 2023

Thema:
ANCIENT TO THE FUTURE

9:30:
Richard Herzog (Gießen)
Ancient to the Future.
Free Jazz ersteht aus seiner Vergangenheit auf, bei Matana Roberts und Moor Mother

— abstract: —

Die Musiker:innen, die Free Jazz spielten, betonten bereits in den frühen 60er Jahren ihre Verwurzelung in zahlreichen Traditionen der afrikanischen Diaspora. Neben Blues-Licks bei Ornette Coleman entwickelten unter anderem Milford Graves oder Andrew Cyrille innovative Schlagzeug-Rhythmen, die aus karibischer und afrikanischer Perkussion entstammten. Diese Entwicklungen werden im Vortrag historisch nachgezeichnet, wie auch anhand zweier aktueller US-amerikanischer Musikerinnen: Matana Roberts und Moor Mother (Camae Ayewa). Beide setzen sich in ihren Werken mit den fortwährenden Traumata der Plantagen-Sklaverei auseinander; beide verbinden auf unterschiedliche Weise Free Jazz mit vorangegangenen und neueren Musikformen, von Spoken Word über Oper bis hin zu Noise.

— bio: —

Richard Herzog ist Historiker an der Philipps-Universität Marburg und am DFG-Sonderforschungsbereich „Dynamiken der Sicherheit“. Er promovierte zum Thema „Nahua-Stimmen aus dem kolonialen Zentralmexiko: zum Überleben ihrer gesellschaftlichen Überzeugungen“. Richards Forschungsinteressen umfassen Iberoamerika, Food Studies, sowie Emotionsgeschichte. Er forscht zudem zu Jazz, afrikanischer Musik und Improvisationsmusik.

10:30:
Magdalena Fürnkranz (Wien)
Jazz und Afrofuturismus.
Stellen Sie sich vor, Sun Ra hätte Janelle Monáe getroffen

— abstract: —

Mit Akteuren wie Sun Ra und George Clinton etablierte sich der Afrofuturismus in den 1960er und 70er Jahren zu einem popkulturellen Phänomen. Lange Zeit war es ruhig um die Bewegung, wiewohl sie in den letzten Jahren eine Renaissance in der Popkultur erlebte. Vor allem eine Reihe von Jazz- und Popmusikerinnen wie Janelle Monáe integrieren afrofuturistische Ideen und Ansätze in ihr Repertoire und definieren Aspekte afroamerikanischer Weiblichkeit durch die Verwendung verschiedener ästhetischer Elemente neu. Für Monáe und Sun Ra verkörpert Musik, insbesondere der Jazz, eine Form der Überschreitung sowie einen Bewusstseinszustand, in dem die Zuhörer:innen die Instabilität der künstlerisch gewählten Narrative vergegenwärtigen.

In diesem Vortrag diskutiere ich die einzigartigen Charakteristika von Janelle Monáe und Sun Ra in Bezug auf Afrofuturismus und Jazz und stelle erste Verbindungen zwischen den beiden Künstler:innen her. Anschließend möchte ich mich mit der Frage einer möglichen Kooperation auseinandersetzen und versuche die Entstehung eines gemeinsamen Albums zu skizzieren. Ich beabsichtige, eine klangliche, lyrische und visuelle Reise von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart zu entwerfen, um eine theoretische Grundlage für eine imaginäre Zusammenarbeit zu schaffen und eine mögliche Richtung für die Zukunft des Jazz zu diskutieren.

— bio: —

Magdalena Fürnkranz ist Senior Scientist am Institut für Popularmusik der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) und als Mitinitiatorin des PopNet Austria Organisation des seit 2014 stattfindenden interdisziplinären Symposions zur Popularmusikforschung in Österreich an der mdw. Sie ist außerdem Co-Leiterin des künstlerisch-wissenschaftlichen Forschungsprojekts „Instrumentalistinnen und Komponistinnen im Jazz“ gemeinsam mit der Bassistin Gina Schwarz. Zu den weiteren Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem: Performativität und Inszenierung in populären Musikformen, intersektionale, queere und postkoloniale Perspektiven auf musikkulturelle Felder, Musikszenen in Österreich und New Jazz Studies.

11:30:
Bettina Bohle (Berlin)
Genre no Genre

— abstract: —

Die Genrefrage scheint gerade in Bezug auf Jazz eine hochkomplexe Angelegenheit. Als Hilfsmaßnahme wird Jazz häufig nicht als Genre, sondern als Musikpraxis beschrieben. Damit wird die Frage nach einer tragfähigen Definition jedoch nur verschoben, nicht beantwortet. An den verschiedensten Stellen tauchen Abgrenzungs- und Zugehörigkeitsfragen dann wieder auf, mit mehr oder weniger starken Konsequenzen. Die Schwierigkeiten scheinen jedoch weniger im Jazz selbst, sondern in einem zu starren Genrebegriff zu liegen. Ausgehend von einer Arbeitsdefinition sollen verschiedene Bereiche der unter dem Begriff „Jazz“ in Deutschland laufenden Praxen beleuchtet werden. Denn: Über die Zukunft des „Jazz“ nachzudenken braucht ein solides Verständnis davon, worüber eigentlich gesprochen wird.

— bio: —

Bettina Bohle leitet das Projekt „House of Jazz – Zentrum für Jazz und Improvisierte Musik“ (AT). Seit 2013 ist sie für verschiedene Jazz-Verbände aktiv (IG Jazz Berlin, BK Jazz, Deutsche Jazzunion). Zum Jazz kam die studierte Gräzistin, Musikwissenschaftlerin und Philosophin über selbst organisierte Hauskonzerte. Mehrere Jahre betrieb sie den Blog JAZZAffine samt zugehörigem Newsletter. Als freie Projektmanagerin hat sie die Initiative Musik beim Aufbau des Deutschen Jazzpreises unterstützt.


FREITAG – Nachmittag
29. September 2023

Thema:
WAS WÄRE WENN?

14:00:
Niels Klein + Jorik Bergman (Köln)
Zukunftsmusik

— abstract: —

Das BuJazzO hatte 2022 einen Kompositionswettbewerb unter der Überschrift „Zukunftsmusik“ ausgerichtet, damit allerdings vor allem auf das Alter der teilnehmenden Komponist:innen angespielt. Der Saxophonist Niels Klein, der den Wettbewerb leitete, und die Flötistin Jorik Bergmann, die zu den Preisträger:innen gehörte, machen sich dennoch gemeinsam Gedanken darüber, was Zukunft für sie und für ihre jeweilige Musik bedeuten mag, ganz konkret, künstlerisch oder für ihre jeweilige Lebensplanung.

— bios: —

Niels Klein ist Saxophonist, Klarinettist, Komponist, Arrangeur und Dirigent und lebt in Köln. Seine zahlreichen Veröffentlichungen als Bandleader umfassen Alben von Trio-, und Quartettformaten über Large Ensembles verschiedener Grössen bis hin zu Bigband und Orchesterbesetzungen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen wie den WDR Jazzpreis Komposition, ECHO Jazz, u.v.a. Als Komponist, Arrangeur und Dirigent arbeitet er regelmässig mit den Bigbands des  NDR und WDR sowie vielen anderen Bigbands und Orchestern der freien Szene in Deutschland und Europa. Er ist seit 2011 Teil des festen künstlerischen Leitungsteams des Bundesjazzorchesters (BuJazzO) und ist seit 2016 als Professor für Jazz-Saxophon und Ensemble an der Hochschule für Musik und Tanz Köln tätig.

Jorik Bergman is a professional jazz flutist, composer, arranger and bandleader living in Cologne, Germany. She works with her own jazz trio, called the „Jorik Bergman Trio“, and various large ensemble projects. These include an upcoming EP with her own big band, a tour with her octet, the „Julius Eastman Project“ and her „Mingus Project. In the course of the last few years she has written arrangements for multiple big band constellations such as the Jazzorchestra of the Concertgebouw Amsterdam and the the JugendJazzOrchester (JJO) among others. She has also been in charge of the „Julius Eastman Project“ at the 10th edition, and the „Mingus Project“ at the 11th edition of the Weekend Festival. She has won 1st prize at the 2022 Composition Competition, from the JJO NRW, the 2021 Composition Competition from the Subway Jazz Orchestra, the 2022 Composition Competition from the BundesJazzOrchester and the ACADÉMIE DE COMPOSITION JAZZ 2023 by the ONJ (Orchestre National de Jazz) in Paris. As a flute player she has played at well-known festivals such as the aforementioned Weekend Festival, the Nijmegen International Music Meeting Festival and the renowned North Sea Jazz festival.

15:00:
Frank Gratkowski (Berlin)
Was ist Jazz? Oder: Was könnte Jazz heute sein bzw. aus ihm werden?
Eine persönliche Sichtweise

— abstract: —

Es ist nahezu unmöglich, heute genau zu definieren, was Jazz ist bzw. was der Begriff bedeutet – bleiben also die Fragen danach, was er sein und was daraus werden könnte. Ist Jazz ein Stil oder eher eine Haltung? Was zeichnet Musik aus, die auch heute als Jazz bezeichnet wird? Gibt es Merkmale, die Jazz deutlich von anderen Musikstilen unterscheiden? Ich persönlich frage mich oft, ob ich überhaupt noch ein Jazzmusiker bin. Die Wurzeln sind da, da bin ich mir sicher, bei manch anderem oft nicht mehr. In dem Vortrag will ich versuchen, eine Art kubistische Betrachtung des Begriffs Jazz vorzunehmen. Wo sind die Grenzen der Musik, um nicht mehr oder noch Jazz zu sein? Gibt es diese Grenzen überhaupt? Ich werde versuchen, diese und andere Fragen anhand meiner Einflüsse und meiner musikalischen Tätigkeiten zu untersuchen.

— bio: —

Frank Gratkowski ist ein in Berlin lebender freischaffender Saxophonist, Klarinettist, Flötist, Improvisator und Komponist. Er studierte an der Hochschule für Musik und Tanz Köln, wo er seit über 30 Jahren unterrichtet. Frank Gratkowski veröffentlichte über 50 CDs unter seinem Namen und ist auf vielen weiteren als „Sideman“ zu hören.
Seine musikalische Spannbreite umfasst u.A. experimentelle Musik, Jazz, improvisierte Musik, Neue Musik, Rock und Elektronische Musik. Er konzertiert weltweit solo, in Bands sowie Orchestern und komponiert für Ensembles (u.A. Ensemble MusikFabrik und Ensemble Modern), in letzter Zeit mit einem Fokus auf Mikrotonalität.

16:00:
Roundtable 2
Macht Platz!

  • Esther Weickel (Köln)
  • Camille Buscot (Berlin)
  • Jonas Pirzer (Stuttgart)
  • Moderation: Sophie Emilie Beha

— abstract: —

Im zweiten Panel des Jazzforums fragen wir unter der Überschrift „Macht Platz!“ danach, wo sich die Zukunft der Musik gestalten lässt. Kreativität benötigt schließlich Räume, im wörtlichen Sinn genauso wie metaphorisch. Eingeladen haben wir dafür Esther Weickel, die als Projektleiterin des NICA artist development am Europäischen Zentrum für Jazz und aktuelle Musik des Stadtgarten Köln arbeitet, das sie vorstellt; Camille Buscot, Projektleiterin bei der Deutschen Jazzunion und Co-Geschäftsführerin der IG Jazz Berlin, die Einblick in regionale genauso wie nationale Strukturdiskurse hat; sowie Jonas Pirzer, Referent im Kunstministerium Baden-Württemberg, der erklären kann, was es von öffentlicher Seite braucht, um Räume zur Verfügung zu stellen (Moderation: Sophie Emilie Beha).

— bios: —

Aufgewachsen in den 90ern auf einem Pferdehof in Süddeutschland, konnte Esther Weickel Pferde am Klang ihres Wieherns unterscheiden, Musik war meistens nur als flirrendes Hintergrundgeräusch aus dem Radio präsent. Während ihres Philosophiestudiums landete sie zufällig auf einer Jazz-Session und ihre Neugierde wurde geweckt. In der Folge begann Esther aufmerksam Musik zu hören und für sie öffnete sich eine neue Welt. Ab 2018 arbeitete sie für den Jazzclub Leipzig e. V., leitete zunächst hauptverantwortlich dessen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, zu der auch die Redaktion einer monatlichen Veranstaltungsbroschüre für „Jazz und andere Musik“ für Leipzig und Umgebung gehörte. Später hinzukam die mitverantwortliche Planung und Umsetzung der Leipziger Jazztage 2020 und 2021. Im vergangenen Jahr ist Esther mit dem Bestreben, Neues zu Lernen und so der weiter wachsenden Neugierde nachzukommen für die Übernahme der Projektleitung von NICA artist development nach Köln gezogen. NICA artist development ist ein vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen getragenes Förderprogramm für herausragende Musiker:innen aus NRW, angesiedelt am Stadtgarten Köln.

Camille Buscot: Nach ihrem Masterabschluss 2020 hat die Kulturwissenschaftlerin und Kunsthistorikerin ihre im Studium angefangene Tätigkeit bei der Deutschen Jazzunion als Referentin intensiviert. Mittlerweile ist sie als Leiterin Kommunikation und Netzwerke für den Verband tätig. Seit 2022 ist sie zudem Geschäftsführerin der IG Jazz Berlin. Durch diese Tätigkeiten kennt sie sich sehr gut mit den aktuellen politischen Herausforderungen der Szene sowohl auf regionaler als auch der Bundesebene aus.

Jonas Pirzer ist Jazzmusiker (Schlagzeug, Komposition) und Kulturmanager. Seine Band Trilith und Jonas Pirzers Konfrontationen spielten ausschließlich seine Eigenkompositionen. Er war Geschäftsführer der Deutschen Jazzunion, arbeitete als Referent für Kunst und Kultur bei der BASF, in den Kulturämtern der Städte Esslingen und Leonberg (in letzterem als Amtsleiter) und ist seit 2023 als Referent im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg beschäftigt und dort unter anderem für die Landesjazzförderung zuständig.

Sophie Emilie Beha ist multimediale Musikjournalistin. Sie ist Autorin und Moderatorin für die verschiedenen öffentlich-rechtlichen Sender. Daneben schreibt sie regelmäßig für die taz und Fachmagazine wie Jazz thing, JazzZeitung oder Jazz’n’More. Auf Bühnen sowie vor der Kamera moderiert sie Festivals (Leipziger Jazztage), Konzerteinführungen, Podcasts (domicil Dortmund) und Podiumsdiskussionen (Stadtgarten Köln). Außerdem steht sie immer wieder auch hinter der Kamera, beziehungsweise führt Regie für Videoprojekte (domicil Dortmund, WDR). In Köln kuratiert Beha Konzerte und Festivals im Stadtgarten und hat das interdisziplinäre Festival guterstoff mitgegründet. Außerdem ist sie Dramaturgin des Sänger:innenkollektivs PHØNIX16 in Berlin und Mitglied des experimentellen Vokalensembles Γλωσσα (Glossa), mit dem sie 2022 das Karl-Sczuka-Recherchestipendium gewonnen hat. Im Jahr 2021 wurde sie für den Preis für deutschen Jazzjournalismus nominiert und seit 2022 wird ihre kuratorische Tätigkeit von NICA artist development gefördert. In Köln und Budapest hat sie Musikjournalismus studiert.


SAMSTAG – Vormittag
30. September 2023

Thema:
AM WANDEL MITWIRKEN

9:30:
Teresa Becker (Hannover)
Musiker:innen als Key Change Agents in Sustainability.
Zur Rolle und Funktion von Musiker:innen in der Nachhaltigkeitskommunikation

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1713 sprach Hans Carl von Carlowitz das Thema nachhaltige Entwicklung zum ersten Mal an, mit dem Industriezeitalter im 20. Jahrhundert waren die Emissionen auf dem europäischen Kontinent hoch wie noch nie, 1972 beschloss der Club of Rome international, dass etwas getan werden muss, um der täglich zunehmenden Umweltverschmutzung und der Ausbeutung unseres Planeten entgegenzuwirken. Seitdem wird viel über nachhaltige Entwicklung geredet und (ein bisschen) gehandelt, doch die Transformation unserer auf Kosten des Planeten lebenden Gesellschaft hin zu einer nachhaltig handelnden bleibt aus. Musiker:innen haben durch ihre Aktivitäten und ihre Reichweite das Potential, als Kommunikator*innen und Multiplikator:innen nachhaltiger Entwicklung zu agieren. Immer mehr Musiker:innen nutzen ihre Präsenz auf öffentlichen Bühnen und ihre Reichweite, um das Thema nachhaltige Entwicklung vor ihrem Publikum anzusprechen. Doch viele stellen sich auch die Frage, wie schaffe ich es, mein Publikum zu erreichen und ihnen mein Ziel einer lebenswerten Zukunft für Alle näher zu bringen? Bin ich als Musiker:in dafür geeignet, diese Rolle zu übernehmen? Nicht zuletzt quält jede:n auch mal die Frage nach dem Sinn ihres Engagements.

Bisher wurde der Rolle von Musiker:innen für eine nachhaltige Entwicklung noch nicht viel Aufmerksamkeit in der Forschung gewidmet. Doch für die Zukunft des Jazz und unserer Gesellschaft können Musiker:innen eine wichtige Rolle in der Nachhaltigkeitskommunikation einnehmen. Sie weisen unter anderem viele Eigenschaften auf, mit denen sie kreativ und flexibel auf den komplexen Diskurs reagieren können und sind mit ihren Aktivitäten und ihrer Nachhaltigkeitskommunikation unter anderem dazu in der Lage, ihr Publikum niedrigschwellig zu inspirieren, sich im Alltag nachhaltiger zu verhalten. In meinem Vortrag möchte ich die Ergebnisse meiner Forschung zur Rolle und Funktion von Musiker:innen in der Nachhaltigkeitskommunikation präsentieren und Musiker:innen sowie Akteur:innen der Musikindustrie dazu aufrufen, sich mit ihrer Funktion und ihren Möglichkeiten zur Vermittlung von Nachhaltigkeitswerten auseinander zu setzen.

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Teresa Becker (M.A.) ist Kulturmanagerin und unter anderem im Artist- und Projektmanagement tätig. Zudem forscht sie zur Rolle und Funktion von Musiker:innen in der Nachhaltigkeitskommunikation. Sie ist Mitglied bei Music Declares Emergency und engagiert sich für ökologische Nachhaltigkeit in der Musikbranche. Angetrieben von dem Wunsch einer nachhaltigen Entwicklung und Klimagerechtigkeit ist Nachhaltigkeit ein zentrales Thema ihrer beruflichen Tätigkeiten und die Reduktion von Emissionen sowie ein nachhaltiger Umgang mit Ressourcen stehen neben den Projektzielen im Vordergrund.

10:30:
Monika Herzig (Wien)
New Standards: 101 Action Items
Ein praktischer Leitfaden zur Geschlechterparität

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Dieser Vortrag bezieht sich auf Erkenntnisse und persönliche Erfahrungen mit mehreren Projekten: Berklee`s New Standards: 101 Lead Sheets by Women Composers, the Routledge Companion to Jazz and Gender, Sheroes, Jazz Girls Days, und die 2022 Jazzstudie der Deutschen Jazzunion. Das Ziel ist klare Richtlinien zur Geschlechtsparität im Jazz zu erarbeiten die in den kommenden zwei Jahrzehnten den Ausgleich bewirken können. Der praktische Ansatz beruht auf der persönlichen Perspektive als Teilnehmer, Musiker, und Forscher.

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Professor of Artistic Research an der Jam Music Lab University, Monika Herzig ist Autor und Co-Editor von „David Baker: A Legacy in Music“, „Experiencing Chick Corea: A Listener’s Companion“ und des „Routledge Companion to Jazz and Gender“ sowie weiteren Forschungsartikeln. Sie leitet das Research Committee des Jazz Education Network. Als Jazzpianistin und Leiterin von Sheroes erscheint sie regelmäßig auf den größten Weltbühnen. Info: www.monikaherzig.com

11:30:
Kaspar von Grüningen (Basel)
Die Basler „Volksinitiative für mehr Musikvielfalt“ und ihr kultur- und gesellschaftspolitisches Potential

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Aktuell gehen 95% der öffentlichen Fördergelder in Basel an Institutionen, davon über 90% an klassische Orchester. Die „Volksinitiative für mehr Musikvielfalt“ wurde im Sommer 2022 eingereicht und verlangt, dass künftig ein Drittel der öffentlichen Fördergelder für Musik an das freie Musikschaffen aller Genres gehen soll. Zudem soll die kantonale Verwaltung ihre Förderstrukturen und Vergaberichtlinien anpassen. Wann es zur Abstimmung kommt, ist noch offen. Ich berichte zum politischen Prozess, zu Reaktionen aus Musikszene, Politik und Bevölkerung.
Im Kern geht es um kulturelle Demokratie. Soll steuerfinanzierte Kultur das Produkt von Interessenspolitik sein oder sich nach den Bedürfnissen der Bevölkerung richten?

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Kaspar von Grüningen (*1982) wuchs in den Schweizer Voralpen auf. Er studierte Theaterwissenschaft und Germanistik in Bern und Jazz-Kontrabass und Komposition in Basel. Er ist seit 20 Jahren aktiver Musiker, Veranstalter, Organisator, vielfaches Vorstandsmitglied. Seit 2016 leitet er die Musikschule Jazz Basel und gründete 2019 die IG Musik Basel mit. www.kasparvongruenigen.com


SAMSTAG – Nachmittag
30. September 2023

Thema
ES GEHT UMS GANZE!

14:00:
Thomas Meinecke im Gespräch mit Peter Kemper

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Am Samstagnachmittag fassen wir zusammen. Dafür ist ein Blick von außen vielleicht nicht ganz falsch. Thomas Meinecke beschäftigt sich als Autor, DJ und Musiker mit Fragen der Ästhetik, der Geschlechtertheorie, mit Authentizität und künstlerischer Utopie. Im Gespräch mit Peter Kemper wird er über die Zukunft und die Grenzen des Jazz als Genre nachdenken und uns vielleicht das Bild eines Jazz vor Augen führen, den wir uns noch gar nicht vorstellen können.

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Thomas Meinecke, *1955 in Hamburg, lebt bei München und in Marseille und veröffentlicht seit 1986 Bücher im Suhrkamp Verlag. Seit 1980 ist er Mitglied der Band F.S.K. und hat seit 1998 gemeinsame Projekte mit Move D., zwei davon mit Karl Berger. Als Radio-DJ im BR hatte er sein erstes Interview 1983 mit Sun Ra und 1985-2021 eine eigene Show und ist auch als DJ in Techno Clubs tätig. Im Berliner HAU lud er zwischen 2007 und 2020 in der Reihe „Plattenspieler“ verschiedenste Gäste von Schlippenbach bis Moor Mother ein. Seit 2022 wird das Programm an der Berliner Volksbühne fortgesetzt wird, mit Baby Sommer als erstem Gast.

Peter Kemper, Jahrgang 1950, ist langjähriger Kulturredakteur im Hessischen Rundfunk (hr) und war von 1981 bis 2015 einer der Programmverantwortlichen für das Deutsche Jazzfestival Frankfurt. Seit 1981 ist er Musikkritiker im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er kann zahlreiche Veröffentlichungen unter seinem Namen verbuchen, wie zuletzt John Coltrane  – Eine Biographie und Eric Clapton – Ein Leben für den Blues. Im Oktober 2023 erscheint mit The Sound of Rebellion sein Buch zur politischen Ästhetik des Jazz (alle Reclam-Verlag).

15:00:
Uli Kempendorff (Berlin)
Exit from the Nineties.
Fehlstellen im Diskurs an Hochschulen

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Uli Kempendorff denkt über Fehlstellen im Diskurs an Hochschulen nach, gibt einen Streikbericht und schaut auf interessante Lösungswege aus unseren Nachbarländern. Für die meisten aktiven Musiker:innen sind die Hochschulen ein selbstverständlich gewordenes Nadelöhr auf dem Weg in die Professionalität – was sollten man heute von einer künstlerischen Ausbildung erwarten können?

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Uli Kempendorff, (*1981 in Berlin) ist als Saxophonist dokumentiert auf Labels wie ECM, Enja, Enja/Yellowbird, WhyPlayJazz, oder Four Music, worunter fünf eigene Produktionen mit seinem Projekt »Field«. Er spielt und spielte u.a. mit Christopher Dell, Benjamin Weidekamp, Julia Hülsmann, Felix Henkelhausen, Tobias Delius, Kalle Kalima, Rudi Mahall, Wanja Slavin, Lina Allemano, Janning Trumann, Pablo Held, SEEED, Rolf Kühn, Jimi Tenor und ‚Little‘ Jimmy Scott. Er ist bei Konzertreihen-und Festivalkuration in Berlin und Polen tätig und in der kulturpolitischen Arbeit in der IG Jazz Berlin und DJU seit 2012.

16:00:
Roundtable 3
Es geht ums Ganze!

  • Jan Klare (Münster)
  • Mariana Bondarenko (Kyiv)
  • Akiko Ahrendt (Köln)
  • Moderation: Sophie Emilie Beha

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Beim Abschlusspanel unter der Überschrift „Es geht ums Ganze!“ diskutieren wir Jazz als Teil eines aktuellen gesellschaftlichen Diskurses, fragen, welche Aspekte der Praxis improvisierter Musik dazu beitragen können, uns für Gegenwart und Zukunft zu engagieren? Saxophonist Jan Klare erläutert die inneren Strukturen und die Arbeitsweise seiner Band Das Dorf, reflektiert Rollenverständnisse im Ensemble und erklärt, wie sich politische Überzeugung und Musikmachen miteinander vereinen lassen. Die Geigerin Akiko Ahrendt berichtet über die Überschneidungen von Musik und politischem Aktivismus; und die ukrainische Kulturmanagerin Mariana Bondarenko reflektiert, welche Rolle Jazz, Musik, Kultur in Zeiten des Kriegs spielt, spricht aber auch über die ganz direkten Auswirkungen des Kriegs, in dem ja zahlreiche Musiker als Soldaten aktiv sind (Moderation: Sophie Emilie Beha).

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Akiko Ahrendt arbeitet im Kollektiv und alleine. Der Fokus liegt auf ungewöhnlichen live Settings mit Sound. Sie ist daran interessiert, verschiedene bubbles aneinander stoßen und miteinander agieren zu lassen und fragt sich, ob z.B. Kunst und Politik in einen produktiven Widerspruch zueinander geraten können. Akiko spielt/e als Performerin und Geigerin in den Gruppen radikaltranslation, orange gruppe, Rundfunk-Tanz-Orchester Ehrenfeld, ensemble Garage, Contrechamps u.a. Sie ist außerdem in verschiedenen Kontexten politisch aktiv, so z.B. bei radionordpol.

Mariana Bondarenko (Kyjiw, Ukraine) arbeitet als Kulturmittlerin seit ihrer Studentenzeit an der Nationalen Taras Schewtschenko Universität in Kyjiw. Als OeAD Stipendiatin hatte sie drei Semester an der Uni Wien an der Dissertation im Bereich Germanistik und Linguokulturologie gearbeitet. Später war sie in den internationalen diplomatischen Institutionen tätig, unter denen das Goethe Institut und das Österreichische Kulturforum, sowie auch bei german films in München. Zurzeit arbeitet sie als Jazzmusik Managerin für das Ukrainische Institut, eine staatliche Institution, die seit 2018 als Struktur des Außenministeriums der Ukraine Auslandskulturpolitik ausübt. In ihrem Tätigkeitsbereich liegen Präsentation der ukrainischen Jazz Bühne im Ausland, Initiierung der Kooperationen mit Festivals, Musikinstitutionen, Musikmedien sowie Musikakademien. 

Jan Klare ist seit Mitte der 80er Jahre als Saxofonist, Bandleader und Komponist unterwegs und hat wenig ausgelassen. Seine Biographie verweist auf Konzerte in vielen Ländern, dutzende CD-/ Radio/ TV- Produktionen und Kooperationen mit namhaften Kollegen. Verschiedene Preise belegen die Qualität seiner Arbeit – als Begründer des Orchesters „The Dorf“ hat er in den letzten Jahren Spuren hinterlassen, eine Masterclass am New England Conservatory in Boston, die Fußballoper „Duell D/NL 74“, die Mitbegründung des Labels „Umland Records“, Kompositionen für „Neue Musik“ Ensembles sowie die WDR BigBand, ein Stück für zwei Blasorchester/ Gospelchor/ Rockband/ Kirchenglocken und Pyrotechnik und vieles mehr lässt sich aufzählen. Klare versteht seine Arbeit als „soziologische Feldforschung“ über Hörgewohnheiten, Hörerwartungen und deren Manipulation.

Sophie Emilie Beha ist multimediale Musikjournalistin. Sie ist Autorin und Moderatorin für die verschiedenen öffentlich-rechtlichen Sender. Daneben schreibt sie regelmäßig für die taz und Fachmagazine wie Jazz thing, JazzZeitung oder Jazz’n’More. Auf Bühnen sowie vor der Kamera moderiert sie Festivals (Leipziger Jazztage), Konzerteinführungen, Podcasts (domicil Dortmund) und Podiumsdiskussionen (Stadtgarten Köln). Außerdem steht sie immer wieder auch hinter der Kamera, beziehungsweise führt Regie für Videoprojekte (domicil Dortmund, WDR). In Köln kuratiert Beha Konzerte und Festivals im Stadtgarten und hat das interdisziplinäre Festival guterstoff mitgegründet. Außerdem ist sie Dramaturgin des Sänger*innenkollektivs PHØNIX16 in Berlin und Mitglied des experimentellen Vokalensembles Γλωσσα (Glossa), mit dem sie 2022 das Karl-Sczuka-Recherchestipendium gewonnen hat. Im Jahr 2021 wurde sie für den Preis für deutschen Jazzjournalismus nominiert und seit 2022 wird ihre kuratorische Tätigkeit von NICA artist development gefördert. In Köln und Budapest hat sie Musikjournalismus studiert.


Das 17. Darmstädter Jazzforum wird gefördert von