The Soundies. A History and Catalog of Jukebox Film Shorts of the 1940s
Von Mark Cantor
Jefferson/NC 2023 (McFarland & Company)
893 Seiten, 125 US-Dollar
ISBN: 978-1-4766-8313-3
Es gibt im Bereich der populären Musik eine Art Grundlagenforschung, die sich erheblich von der Klassifikation klassische Musik unterscheidet. Diskographen haben über Jahrzehnte hinweg die Aufnahmen von Jazzmusikern kartiert, Datum, Ort, Studio, Zeit, Besetzungen, Besetzungswechsel, einzelne Takes (mit Nummern), veröffentlichte Takes (mit Nummern) und vieles mehr recherchiert. All das ist (neben der Musik, neben Interviews, neben Analysen, neben Kontextbeschreibungen) eine wichtige Basis dafür, was wir über die Geschichte der populären Musik wissen. Eine ähnliche Grundlagenforschung gibt es auch für den Film, und im Bereich des Musikfilms gilt Mark Cantor als einer der größten Kenner. Jetzt hat er einen Teil seines Wissens in einem opulenten Band zusammengefasst, “The Soundies”, der sich einer speziellen Art von Kurzfilmen widmet, die in den 1940er Jahren populär wurden. 1940 nämlich wurde in New York die erste Video-Jukebox vorgestellt, ein Gerät, das auf Münzeinwurf ausgewählte musikalische Kurzfilme zeigte, Drei-Minuten-Filmchen, die eigens für diese Geräte produziert worden waren mit oft populären Namen des damaligen Musikgeschäfts.
Cantor, der in Südkalifornien für seine enorme Filmsammlung bekannt ist, beginnt sein Buch mit einer Anekdote: In den frühen 1980ern, in einer Zeit also, in der die Filmrecherche weit schwerer war als heutzutage mithilfe des Internets, rief ihn eines Tages der Bassist Red Callender an. Er würde sich gern zwei alte Filmen asehen, in denen er einst mitgewirkt habe, meinte Red, “Jammin’ the Blues” und “New Orleans”, und Cantor lud ihn zu sich nach Hause ein. Während des Screenings klingelte der Postbote und brachte ein Päckchen – Cantor erhielt damals drei- oder viermal pro Woche Filmsendungen. Darin fand sich “Hey Lawdy Mama”, ein dreiminütiger Soundie aus den Mitt-1940er Jahren mit Roy Miltons Rhythm ‘n’ Blues-Band. Sie schauten sich den Film zusammen an und fielen, wie Cantor erzählt, fast von ihren Stühlen, als gleich zu Beginn kein anderer als Red Callender am Bass zu sehen war, der sich überhaupt nicht mehr daran erinnerte, dabei jemals mitgewirkt zu haben.
Soundies also: Alltag für Studiomusiker der 1940er Jahre, weil die Musikindustrie versuchte ein neues Produkt zu platzieren, eine Hardware, die nur dann lukrativ zu sein versprach, wenn es genügend Software gab, sprich: genügend Kurzfilme. Die oben beschriebene Projektionsmaschine hieß “Panoram” und wurde etwa sechs Jahre lang extensiv vertrieben. Die Software waren eigens für sie aufgenommene musikalische Filme, von denen jede Woche acht neue ins Programm aufgenommen wurden. Am Ende produzierten mehr als 50 Filmfirmen zwichen dem 10. März 1941 und dem 5. Januar 1947 exact 1.869 Soundies. Hinzu kommen ähnliche Kurzfilme anderer Firmen, die Cantors “Inventory” am Ende auf knapp 2.600 Einträge anschwellen lassen. Mitte der 1940er Jahre lief das Geschäft nicht mehr so gut, auch Versuche der Panoram-Verantwortlichten, es durch eine neue Nutzung der Videomaschinen neu anzukurbeln, durch “burlesque shorts”, also erotische, oder “peep” shows, zeitigte keinen großen Erfolg. Letzten Endes spielten eine Reihe an Faktoren eine Rolle beim Niedergang der Soundies: das Kriegsende, Änderungen im populären Geschmack, die ersten Filmprojektoren für Zuhause… Als wenig später dann noch das Fernsehen zu einem Alltagsgegenstand in jedem Haushalt wurde, waren Soundies jedenfalls schon lange Vergangenheit.
In Cantors 900-seitigem Kompendium nun finden sich alle Informationen, die man sich über die Jukebox Film Shorts der 1940er Jahre wünschen kann. Im ersten Teil erzählt Cantor die Geschichte des Genres, teils als Geschichte eines wirtschaftlichen Unterfangens, teils die Kontexte erklärend und dabei auch auf den unterschwelligen Rassismus oder Sexismus in den Filmen hinweisend. Er weiß um die Bedeutung von “pre-recorded” Soundtracks, beispielsweise in der Zeit des AFM-Musikerstreiks, der nicht nur die Plattenfirmen, sondern auch die Soundies-Produzenten betraf. Er beschreibt, inwieweit die Filmzensur, die eigentlich vor allem Hollywood im Blick hatte, auch dieses Genre betraf. Er beschreibt Vorläufer des Systems aus den 1920er Jahren und die wichtigsten industriellen Player der 1940er. Er erklärt den Produktionsablauf, nimmt Einblick in Verträge mit den Künstlern, und diskutiert Copyright-Fragen. Und er spricht mit Beteiligten: dem Soundies-Regisseur John Primi beispielsweise, dem Klarinettisten Abe Most, der Pianistin Alma Smith sowie zahlreichen weiteren an den Produktionen beteiligten Personen.
Teil 2 seines Buchs besteht dann aus dem Katalog selbst. Cantor hat so viele Details als nur irgend möglich über jeden Kurzfilm gesammelt, verweist aber genauso offen auf Lücken seiner Recherchen, auf unsichere Daten etwa, Filmorte oder gezeigte Künstler. Er beginnt sein “Inventory” mit der Nummer 1, dem ersten Soundie, “Sweet Sue”, und endet 450 Seiten später mit Nummer 2.593, dem letzten Soundie, “Unexpected Kiss”. Jeder Eintrag enthält Essentials: Titel, Künstler, Datum der Veröffentlichung, Produktionsnummern, Songtitel, Texter/Komponist, Arrangeur, Verlag, Copyrightdaten, Ort und Datum der Produktion, Ort und Datum der Musikaufnahme, Besetzung der Band, Besetzung der Musiker, die im Film zu sehen sind (und die nicht immer mit der spielenden Band übereinstimmen), gefeaturete Soli oder Vocals, Tänzer:innen, andere Performers, die Katalogbeschreibung für Panoram-Besitzer, Verweise auf Rezensionen im Billboard Magazin, Anmerkungen zu eventueller Zensur und anderes mehr. Ein zweiter Teil des “Inventory” listet 500 “recording sessions” auf, bei denen die Soundtracks aufgenommen wurden, und beschreibt die Bands bzw. Künstler und den Kontext, in dem sie sonst so agierten in jener Zeit. Verschiedene Anhänge listen bbeispielsweise die Produktionsnummern und die dazugehörigen Produktionsfirmen, die exakten Veröffentlichungstermine, bzw. “sideline extras”, sprich: die Musiker, die im Film auch zu sehen sind. Eine Bibliographie zum Thema sowie ein ausführlicher Index aller im Komendium genannten Namen und Titel beschließt das Buch.
Mark Cantor hat mit seinem Buch ein Standardwerk zu einem speziellen Aspekt der Geschichte des amerikanischen Musikfilms vorgelegt. Man muss die Akribie seiner Recherchen genauso bewundern wie seinen Blick auf die Nutzbarkeit seines Kompendiums für Forscher:innen unterschiedlichster Disziplinen. Und wenn man sich beim ersten Blick etwas erschlagen fühlt von der Menge an Information, dann schmökert man sich bald insbesondere in seinen historischen Kapiteln fest und findet vielleicht den einen oder anderen Filmclip auf YouTube.
Wolfram Knauer (November 2023)
Hans Reichel. Daxophonie
herausgegeben von Klaus Untiet & Peter Klassen
Hofheim 2023 (Wolke)
272 Seiten, 38 Euro
ISBN: 978-3-95593-147-6
Hans Reichel, ein Name, der in Jazzkreisen irgendwie nachhalt – Wuppertaler Free-Jazz-Szene, FMP, Instrumentenerfinder, Daxophon ¬–, ohne dass man dabei viel von der Musik im Ohr hat. Klangabenteuer, sound research, genremäßig oder stilistisch schwer zuordbar. Seine Musik werde schon mal in die “New-Age-Kiste” gesteckt, lacht Reichel im Gespräch mit Markus Müller 1991, er sei innerhalb der FMP “immer ein Kuckuksei” gewesen.
Hans Reichel also, um das Vorwort zu zitieren, “war Musiker, Komponist, Improvisateur, Instrumentenerfinder und Instrumentenbauer, Tontechniker, Schriftenerfinder und Schriftenschneider, Holzhandwerker, Spielegestalter, Grafikdesigner, Gartengestalter, Teichbauer, Fotograf und Freigeist”. Und das vorliegende Buch dokumentiert ziemlich alle dieser unterschiedlichen Seiten des 1949 in Hagen geborenen, 2011 in Wuppertal verstorbenen Universalkünstlers.
Ein Mitschüler erinnert sich an einen Grundschullehrer, der die Klasse anleitete mit Sperrholz und Schleifpapier Instrumente zu bauen. Verschiedene Zeitungsausrisse belegen die Erfindungskraft, mit der Reichel die Gitarre immer für seine Klangmöglichkeiten anpasste. Eine Erklärung des Daxophons durch den Erfinder selbst: “Es besteht im Wesentlichen aus vier Teilen, von denen zwei mechanisch miteinander verbunden sind, zwei aber nicht…”. Die Laudatio, die Bert Noglik 1999 auf Reichel hielt, als dieser den Kuns-Preis der Stadtsparkasse Wuppertal erhielt. Eine Erinnerung von Sabine Heseling daran, wie Reichel 2000 den Auftrag erhielt, eine Bühnenmusik für Shakespeares “Komödie der Irrungen” am Maxim Gorki Theater zu schreiben. Eine Würdigung des Musikers Reichel durch Giuseppe Colli. Das bereits erwähnte Interview mit Markus Müller von 1991 mit ein- und ausführender Kontextbeschreibung. Eine Einordnung seines kompositorischen Approaches durch den saxophonisten Wolfgang Schmidtke. Erinnerungen an Reichels Ausflüge nach und Faszination mit Japan. Ein Spiegel-Interview mit Reichel über die Erfolge der von ihm entwickelten Schriften. Dazwischen: Fotos, Bilder, Buchstaben, Beispiele für Reichels andere Tätigkeiten, seinen Garten etwa, inklusive zweier Teiche in Form des “Kommas” und des “Semikolons” seiner Schrift FF Dax, Schachfiguren, Backgammon- und Mühlebretter und –steine. Abschließend eine Diskographie und ein Blick in eine große Ausstellung in der Sparkasse Wuppertal im Herbst 2012, zehn Monate nach Reichels Tod.
“Hans Reichel. Daxophonie” ist eine Biographie, eine auf die jeweiligen Aktivitäten passende Werk-Annäherung geworden, ein sorgfältig gestaltetes und inhaltlich abwechslungsreiches Coffeetable-Buch, neugierig-machend auf so vieles. Auf deutsch und englisch, nebeneinander, aber so gestaltet, dass man sich beim Spaltenspringen nicht verliest. Gelungen!
Wolfram Knauer (November 2023)
Formation. Building a Personal Canon. Part One
von Brad Mehldau
Sheffield 2023 (Equinox)
294 Seiten, 30 Britische Pfund
ISBN: 978-1-80050-313-7
Mit 53 Jahren die eigene Autobiographie veröffentlichen? Macht Sinn, wenn man viel zu erzählen hat. Und Brad Mehldau, der seit Mitte der 1990er Jahre weit über die Jazzszene hinaus erfolgreich war, hat viel zu erzählen. Seine Autobiographie (erster Teil!) ist dabei weit mehr geworden als eine Musikererinnerung. Mehldau selbst, der deutsche Literatur und Philosophie liebt, beschreibt seine Herangehensweise lieber als “Bildungsroman”; stellenweise mag maan allerdings auch an eine Therapiesitzung denken: so ehrlich wie möglich, so schonungslos wie möglich, immer reflektierend, welche Auswirkungen die Entscheidungen, die er zu verschiedenen Zeiten trifft, auf sein weiteres Leben hatten.
Mehldau beginnt mit seiner Jugend in New England. Er erzählt von seiner Unsicherheit unter anderen Kindern, vom Mobbing in der Schule, von den ersten Klavierstunden und seiner Faszination mit den drei B’s: Bach, Beethoven, Brahms. Als seine Klassenkameraden bei einem Projekt ihre Eltern nach ihrer Herkunft befragen soll, antwortet er: “Ich weiß nicht genau, wie ich das tun soll. Ich wurde adoptiert”, worauf die Lehrerin nur meinte: Dann zeichne halt einen Stammbaum deiner Adoptiveltern. “Ich hatte keinen”, wird Mehldau bewusst. “Adoptiert zu sein, heißt, keine eigene Geschichte zu haben. Es gab nichts zu erzählen. Ich war höchstens eine Chiffre.”
Mehldau liebte zwar die drei B’s, daneben aber auch die Rockmusik des Tages, AC/DC, Led Zeppelin, Black Sabbath, Van Halen. In einem Sommercamp hörte er seine erste John Coltrane-Platte, eine musikalische Initiation. Er nahm Unterricht und begann die Klassiker des modernen Jazz zu transkribieren. Er machte erste, nicht sehr erfüllende sexuelle Erfahrungen mit anderen Jungs, freundete sich andererseits mit Musikern an, die ihn ermutigten. statt des Jazzrock der Zeit Bebop zu studieren. Einer seiner Lehrer missbrauchte ihn über Jahre – eine Erinnerung, die ihn über Jahre, wenn nicht sein Leben prägte.
Die Musik zog ihn nach New York, wo er sich auf der New School einschrieb, abends Pianistenkollegen im Bradley’s hörte oder Bands im Village Vanguard, Sweet Basil und den anderen Jazzclubs in Greenwich Village. Er traf auf gleichaltrige Kollegen, die die Fahne des Bebop hochhielten. Mehldau erzählt, wie er sich langsam an die Kunst der Begleitung, des Comping herantastete, und wie er und seine Freunde Musiker wie Barry Harris verehrten, die quasi die direkte Linie zu Charlie Parker darstellten. Er rauchte Marijuana, spielte im Village Gate oder im Augie’s nahe der Columbia University, verdiente wenig Geld – oft genug mussten die Musiker selbst mit dem Hut rumgehen. Irgendwann hatte er ein eigenes Trio, anfangs mit Ugonna Okegwo und Leon Parker, später mit Larry Grenadier und Jorge Rossy.
In seiner musikalischen Entwicklung habe es zwei Fragen gegeben, meint Mehldau. Die eine sei gewesen: Wie wird man Musiker, die zweite: warum? Fürs Wie brauchte es Lehrer, Praxis, viele, viele Gigs. Das Warum war weit schwerer zu beantworten. Mehldau sucht bei Autoren nach Antworten, Goethe, Thomas Mann, Theodor W. Adorno, James Joyce. Er findet sie aber auch in seiner Auseinandersetzung mit der populären Musik der Zeit, mit Hard Rock und HipHop.
1994 wurde Mehldau Mitglied des Quartetts des Saxophonisten Joshua Redman, der ihn aber bald wieder feuerte, weil der Pianist zu oft unter Drogen- oder Alkoholeinfluss stand. Und das ist dann das zweite große Thema seines Buchs: der Weg zu den Drogen. Was mit Alkohol und Joints begonnen hatte, wurde irgendwann zur Heroin-Abhängigkeit, einer Sucht, die – wie jede Sucht – nicht nur ihn betraf, sondern auch die Menschen um ihn herum. Mehldau berichtet schonungslos von den Auswirkungen. Wie er sich in Madrid mit einem etwa gleichaltrigen Typen anfreundete, der kokainsüchtig war und Mehldau mit zu einem Gitanos-Camp nahm, wo er beide mit Stoff versorgte. Wie ein anderer Typ in Hamburg ihm ebenfalls Stoff besorgte – für ihn und für sich – und zum Dank seinen Körper anbot. Wie er seine Freundin Sarah (Mehldau bezeichnet sich selbst als bisexuell) mit der “Pink Lady” (so nannte er das Heroin) bekannt machte. Wie er bei einem Entzugsversuch in einer Spezialklinik von einem perversen Pfleger ausgiebig rektal untersucht wurde. Wie seine Freunde an Überdosen starben.
Brad Mehldaus Autobiographie ist kein Feel-Good-Buch. Er nimmt seine Leser:innen mit in die düstersten Tiefen seines bisherigen Lebens, erzählt von Selbstzweifeln und musikalischen Rettungsankern, davon, wie oft er sich selbst im Weg stand, weil er “aus den falschen Gründen” loskommen wollte vom Stoff. Nebenbei erfahren wir eine Menge über die Lebens- und Arbeitsbedingungen seiner Generation. Er erzählt von den Lehrern an der New School, vom Freiraum, den Clubs wie das Village Gate, Augie’s oder Smalls ihm und seinen Freunden boten, von der Großzügigkeit, mit der ältere Musikerkollegen ihnen immer weiterhalfen. Sein Buch endet mit einem Ausblick auf den weiteren Karriereverlauf: Er machte irgendwann einen erfolgreichen Entzug, festigte sein Privatleben (Frau, drei Kinder) und konnte danach seine musikalische Karriere zielgerichteter verfolgen.
“Formation” ist ein aufwühlendes Buch, das stellenweise mehr Fragen offenlässt als es Antworten gibt, aber: So ist das Leben. “Formation” lese sich wie ein Bildungsroman, eine coming-of-age novel, heißt es ganz zu recht im Covertext, aber es sei eben kein Roman, sondern sehr ausgiebig gelebte persönliche Erfahrung.
Wolfram Knauer (September 2023)
Viersener Köpfe. Bekannte Bürger(innen) unserer Stadt und ihre Geschichte(n)
von Paul Eßer & Torsten Eßer
Viersen 2023 (Iris Kater Verlag)300 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-3-944514-21-5
Es gibt mittlerweile einige Lokalgeschichten des Jazz, Publikationen, die sich etwa den Aktivitäten eines Clubs oder einer lokalen bzw. regionalen Szene widmen. Für Viersen am Niederrhein haben jetzt Paul Eßer und Torsten Eßer ein Buch vorgelegt, das zwar nicht die Jazzgeschichte der Stadt beschreibt, aber Persönlichkeiten, die das gesellschaftliche und kulturelle Leben Viersens prägten. Als Jazzer und Nicht-Viersener fallen einem vielleicht vor allem zwei ein, die es natürlich auch ins Buch geschafft haben: der Bassist, Moderator und Konzertveranstalter Ali Haurand sowie der Trompeter Till Brönner. Zwei weitere, nämlich Thomas Kessler und Monika Linges, sorgen für einen dann doch ganz guten Jazzer-Schnitt bei insgesamt knapp über 40 Portrait-Kapiteln.
Till Brönner beschreibt Torsten Eßer, der für alle Jazzkapitel verantwortlich war, in der auch nach außen wahrnehmbaren Gespaltenheit eines Jazz-Nerds, der aber mit der Avantgarde dieser Musik eher fremdelt. Er durchläuft Brönners Karrierestationen als Musiker, Produzent, Fotograf und, irgendwie auch, als Kulturaktivist (Stichwort “House of Jazz Berlin”).
Ali Haurand ist der einzige der Musiker, der sein ganzes Leben lang mit seiner Heimatstadt verbunden blieb. Eßer zeichnet seinen Weg zum Kontrabass nach, erste Schritte mit eher traditionellen Bands, spätere Aktivitäten in modernen bis zeitgenössischen Stilistiken. Neben seiner musikalischen Karriere sticht Haurand als Moderator fürs WDR-Fernsehen heraus und vor allem als Gründer und Organisator des Viersener Jazzfestivals sowie zwölf Jahre lang als künstlerischer Leiter der Düsseldorfer Jazz-Rally”.
Thomas Kessler, erklärt Eßer, gewann Preise beim Wettbewerb Jugend jazzt, erhielt aber auch den Förderpreis der deutschen Zementindustrie. Der Pianist, Keyboarder und Architekt begann bei Ali Haurand Unterricht zu nehmen, gründete Mitte der 1980er Jahre seine eigene Band und spielte in den 1990ern mit den Dissidenten.
Auch Monika Linges verweist auf Ali Haurands Aktivitäten, die ihr den Zugang zum Jazz erleichtert hätten. Neben ihrem musikfernen Studium in Aachen ging sie auf Jam Sessions in der Umgebung, sang in der ersten Band Markus Stockhausens und nahm 1982 ihr Debutalbum auf. Sie unterrichtete am Jazzlabor der Universität Duisburg, zog sich aber vom Jazzerinnenleben Anfgang der 190er Jahre mehr und mehr zurück und unterrichtet bis heute “Stimmbildung unter Zuhilfenahme von Mantras”.
“Viersener Köpfe” ist einerseits ein Buch vor allem für Viersener, enthält andererseits zahlreiche Kapitel über andere mit Viersen verbundenen Persönlichkeiten, die über die Stadt hinaus bekannt wurden.
Wolfram Knauer (September 2023)
Prehistory of Jazz
by Maximilian Hendler
Wien 2023 (Hollitzer: Studies in Jazz Research, vol. 16)
256 pages, 56 Euro
ISBN: 978-3-99012-980-7
This groundbreaking monograph analyses the prehistory of jazz, from Portuguese exploration of the New World in the 15th century to the 1920s. It’s one of the Studies in Jazz Research – most of them not translated into English – published since 1969 by the International Society for Jazz Research, based at the Institute for Jazz Research at Graz’s University of Music and Performing Arts. Maximilian Hendler, born 1939, is an expert in Byzantine and Slavic Studies, and Indo-European languages, and was a member of the Graz Institute until 2002. The development of jazz has become his primary area of research.
Hendler first focuses on the background of the slave trade, particularly in the Antilles, the music of European immigrant families, and the music of Spanish-controlled Mississippi. He analyses the musical relationships between Cuba and the USA, and the former’s crucial influence on American popular music around 1900. He discusses fashionable march music, ragtime and spirituals. After reading the Introduction and first chapter, the reader knows that some of the most entrenched views on the origins of jazz are going to be upset.
The book was based on listening to recordings made in the US between 1890 and 1930, that belong to European genres or American derivatives of them. Hendler comments:
While they had nothing to do with the development of jazz as such, their neglect by jazz scholars has led to serious misconceptions…[Jazz] was influenced by European art music and its derivatives from the very beginning, with the Tin Pan Alley songs around 1900 representing the “low” end of this musical spectrum.
This leads us to the first of Hendler’s key claims: “The notion – proposed by American, and compliantly adopted by Europeans – that jazz is a continuation of African music must be continually questioned and revised on the basis of facts” (p. 1). This, he says, is one of the aims of his book.
Enslaved Africans were increasingly Americanised, he argues: “[They] had no choice but to take the music…made available to them…It was likely that the music of the Irish and Scottish had the most appeal.” This doesn’t mean that the “African American masses” followed figures like Booker T. Washington in becoming “accommodationist followers of the dominant white culture”. They were “relatively free to devote themselves to the music they found most appealing”. I’m reminded here of Peter van der Merwe’s claim, in Origins of the Popular Style, that that style is an international phenomenon.
I directly quote a lot of what Hendler says – as translated for this edition – because the author himself is aware that it is not woke. He says that he will “disregard the demands of ‘political correctness'” (p. 29), and indeed he does. The fact that I hesitate in adding “without a trace of racism” indicates the difficulty of writing on these questions today – Hendler is a brave commentator who is direct and sometimes clumsy. I believe that “politically correct”, like “woke”, denotes an essentially salutary critique of racism. But I agree with African-American commentator John McWhorter, author of Woke Racism, that these terms are now unhelpful at best. McWhorter criticises what he calls “the woke Elect” for their evangelism: people who “see themselves as having been chosen…as understanding something most do not.” As Ian Buruma comments, proponents of woke may resemble pre-modern Christians in punishing those who have not seen the light. So although “woke” denotes an essentially salutary critique of racism, if taken to an evangelical extreme it is itself a threat to liberal values; perhaps one could distinguish liberal and illiberal woke attitudes. Thus on my view, Hendler’s work should be debated, despite its problematic nature.
In his first chapter, Hendler discusses the slave trade. “The institution of slavery is age-old”, he insists (p. 8): “For anyone approaching the history of American slavery without a guilt complex, there is no reason to exculpate the Africans from their own share [“responsibility”, he means] in this history” (p. 11). However, he stresses the unique features of the transatlantic slave trade that began soon after the discovery – or rather, he should have said, “discovery” – of America. It reached a scale that not even the Roman Empire could compete with. Hendler’s position is nuanced. He mentions more than once the irony of a nation that kept slaves and propagated freedom: “It is downright mockery that [as] Enlightenment was spreading in 17th- and 18th century Europe…philosopher John Locke was among the stockholders of the ‘Company of Royal Adventurers trading into Africa,’ which was deeply involved in [slavery]” (p. 17):
While Europeans did not invent slavery, it reached nightmarish proportions in their hands…an average of 15% of the slaves – and their crews – died on board between 1630 and 1803…the ship was so crowded that each had scarcely room to turn himself (p. 16).
At the end of the 17th century, England became the world’s biggest slave trader.
Concerning the attitude of the slave states of the US, Hendler is rightly incredulous. He comments that as English – he means British – abolitionism was gaining force, and sugarcane production began to flourish, “landowners in the…’northern Southern states’ had the inhuman idea not only to import slaves, but to breed them themselves” (p. 21). For Hendler, the “irrational intensity” of the South’s defence of slavery comes from the latter’s nature as a system of sexual privilege or “forced concubinage”. He adds that “It is understandable that the United States has a hard time coming to terms with its past, given that it likes to act as world police on behalf of democracy and the freedom of the individual” (p. 22). I would respond that it does indeed act in this way – in post-war Germany and Japan very successfully – but that the Southern states seem unable to come to terms with their past as Germany has. The legacy of slavery in the US thus remains poisonous.
We now come to the book’s central thesis, outlined in Ch. II, Prehistory of Jazz – by far the largest chapter, which occupies pp. 29-161 of the 192-page text. The white population of the US increasingly saw African-American culture as African, “[a] misconception [that] applies to all areas of traditional African American culture” (p. 25). The book’s central concern is to criticise what Hendler calls the out of Africa thesis. It informs his musical discussion, for instance the claim that “For the slaves, music had become what it was in Europe and in the white American colonies – entertainment” (p. 27). Hendler means that music is no longer integral to the community’s cultural life, but is becoming professionalised – that is, I would argue, it is part of the modern system of art and entertainment. He stresses that “If there is anything ‘African’ at all in African American music, it’s in the blues – despite its English name” (p. 30).
Hendler refers to America’s “troubled relationship with the minstrel tradition”, any investigation of which rapidly leads to “political incorrectness”. Indeed it takes courage for a white writer to tackle it, not least because it is so painful even to describe. But it is necessary. For instance, Hendler argues that the black version of minstrelsy developed towards jazz:
Jazz may have been “invented” in New Orleans. But the readiness with which it was welcomed elsewhere after New Orleans musicians left their hometown, and the changes it was already subject to in the 1920s, point back to earlier tendencies, which originated in minstrelsy (p. 33)
He argues that no trace of Africa is found in the “coon songs”, a label that is now hard even to mention. Any influence imputed is due solely to the assumption that it must be there, he adds: “those who advocate an ‘out of Africa’ hypothesis probably simply disregard the history of slavery, instead assuming that people have music ‘in their blood'” (p. 45).
Hendler argues that the label jazz applies to music sometime before 1917 and the ODJB (Original Dixieland Jazz Band). It applies, for instance, to Sophie Tucker’s 1911 recording of “Some Of These Days”, a song later made famous by Louis Armstrong: “It is largely the fault of small-minded jazz critics and fans that Sophie Tucker is not considered a jazz singer” (p. 49). He compares the Jewish-American singer with Eubie Blake; both were in touch with jazz musicians, but largely stayed within the world of vaudeville and revues.
In a subtle treatment, Hendler discusses the contrast between spirituals and gospel. He considers whether spirituals might be distinguished from gospel because they were arranged and performed with a view to white audiences – but eventually decides that we should speak simply of “spirituals and gospel”: “Nothing in the melodic material of these slave songs points to any elements coming from Africa”, he insists (p. 54). Recordings of spirituals and gospel in the 1920s still fall into the “accommodationist category of singing” – one that aims to appeal to white audiences – but they were beginning not to, because whites were not their target audience (p. 62). Hendler interestingly discusses Eubie Blake’s piano roll of spirituals from 1921, which suggests “a musical horizon much wider than one would expect from a ragtime pianist” (p. 64). This discussion leads on to the issue of race records – in the mid-20s, managers of big labels realised that there was a market among urban blacks in big cities and small towns.
There is a long and rich discussion of the roots of ragtime, and a detailed year-by-year discussion of 1900-1917. A “digression” on “Tiger Rag” is followed by a similarly detailed discussion up to 1930, after which ragtime became revivalist. Hence arises what Hendler calls “the central mystery of so-called African American music”:
That the enslaved African accustomed themselves to the European major/minor system over the course of the generations is an understandable result of the pressure from the master society. But what led them to relinquish their tendency for polyrhythms, which permeate sub-Saharan music? (p. 135).
His answer is that unlike the Portuguese and Spanish in Latin America, who had contact with Africans since antiquity, emigrants to the US from England the UK and Northern Europe “had no experience with black Africans”. (This is an exaggeration, I think.) Also, slaves in the (later) US “were scattered more among whites than in many parts of Latin America, which led to stricter control by white customs and prejudices” (p. 137). Thus “memories [of Africa] were exorcized as a result of the cultural and religious disposition of the slaveholder society” (p. 138).
The few pages on the blues at the end of Ch. II form the most profound discussion I’ve encountered. Hendler opens it by commenting that
we arrive at the form that represents the epitome of the African heritage in the New World – at least according to scholars of jazz and African American studies. The seemingly irrefutable rationale for this are the so-called blue notes used by blues singers…lowered thirds and sevenths that are not so much minor…but rather neutral (p. 141).
He argues that poetic forms of the blues are common throughout Europe, yet had no influence on African Americans. His conclusion is that “the 1920s were decisive in giving the so-called ‘blues feeling’ a significance in jazz. This lasted until the 1960s, when everything hitherto considered ‘jazz’ was questioned and dismantled”. By abandoning the blues, Hendler argues, “jazz lost much of its genre-specific singularity” (p. 149). Again, the author’s remarks invite the examination question “Discuss”.
The final chapter, “Heading Towards Jazz”, is short and dense. Hendler asks why over its hundred years of history, jazz hasn’t succeeded in building a steady audience like classical music. He responds that “The jazz world never quite succeeded in convincing the accommodationist institutions that jazz was a ‘great’ music worthy of being passed on” (p. 181). In developing this analysis, Hendler discusses how “a certain type of person [became] a mass phenomenon, a type…previously only encountered in relatively narrow professional circles…the accommodationist disciple“. Since this review is already several times over its limit, I leave it to the reader to explore this fascinating concept (pp. 181-88). They will learn more in those few pages than in most academic histories of jazz.
The book has a weighty scholarly apparatus, but the reader can skim over it and focus on its challenging statements on the received musical history of African-American music in the 19th and 20th centuries. I have some mostly minor criticisms. As we’ve seen, Hendler several times says “English” when he means “British” – he seems not to know of the Act of Union of 1707. He comments that Robert Burns’ contemporaries “testified that he had no connection whatsoever to art music” (p. 55) – but the art v. popular contrast was not articulated till later in the 19th century. Less minor is the lack of any reference to the work of Peter van der Merwe, who anticipates Hendler on the British origins of the blues – which, it occurs to me, adds a nuance to the British invasion of the US in 60s rock. Hendler is anticipated by van der Merwe in his discussion of the Scottish origins of the pentatonic structures used in the US. Older pentatonic forms are still found in the Hebrides, and its singing forms are totally different from the rest of Western Europe, as Hendler argues.
Finally, I wonder if the author’s target, the “out of Africa” thesis, is really the received view. Authorities such as Gerhard Kubik and Alfons Dauer seem to be strong proponents of it. But does that thesis say that jazz is derived directly from African music, without significant contribution from European sources? As Paul Bream points out to me, this is not a widely held claim among serious students of jazz – and indeed, I’ve always thought of jazz as an amalgam of African and European. So – against Hendler – it is understood that enslaved Africans and their immediate descendants had little if any direct access to the music of Africa:
Despite these criticisms, this is a brave book. In our current intellectual and cultural climate, opinion is increasingly and shockingly polarised. Anyone, from any background or heritage, who writes honestly on the questions that Hendler addresses, is taking risks, and this should be recognised in criticising them. Hendler’s voice is both honest and nuanced, and is urgently needed.
(Andy Hamilton, August 2023)
Jazzklubs und Jazzmusiker in Thüringen 1959-1989. Eigensinn, Aneignung und die Praktiken sozialistischer Kulturpolitik
von Martin Breternitz
Berlin 2023 (Peter Lang)
587 Seiten, 94,95 Euro
ISBN: 978-3-631-89093-6
“Die DDR war sozusagen ein Jazzklubland”, beginnt Martin Breternitz sein aus einer Dissertation an der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar entstandenes Buch. Etwa 60 solcher Clubs gab es in den 1980er Jahren, erklärt er, sie alle drückten letzten Endes ein Bedürfnis danach aus, “(…) sich mit Jazzkultur individuell und zeitgleich in selbstgewählter Gemeinschaft in bezug zu eigenen Lebensvorstellungen in der DDR zu beschäftigen”. Klingt kompliziert? Der Fokus auf die Region erleichtert das Verständnis ganz enorm.
Breternitz stellt für seine Studie vor allem die acht aktiven Clubs im Thüringer Raum in den Fokus: Eisenach (seit 1959), Ilmemau (1964), Weimar (1976), Sonneberg (1978), Altenburg (1980), Jena (1980), Erfurt (1982) und Nordhausen (1983). Es waren junge Menschen, die sich in diesen Clubs zusammenfanden, schreibt er, “meist Anfang bis Ende 20”, Fans, die sich selbst schon mal als “Sammelbecken ‘freier’ Geister und kreativer Köpfe” bezeichneten, “abseits von […] erwarteten bzw. vorgegebenen Denk- und Lebensstrukturen”. Er beschreibt die Haltung der Clubmitglieder als individualistisch und die Beurteilung durch den Staat als “subversiv” bis “negativ-dekadent”.
Und da sind wir dann schon mittendrin: Jazz konnte in der DDR (und anderen Staaten des damaligen Ostblocks) durchaus als politisches, gesellschaftliches Statement wahrgenommen werden, von beiden Seiten, jener der Jazzszene genauso wie jener staatlicher Aufsichtsbehörden. Breternitz will in seiner Arbeit, wie er schreibt, “Alltagserfahrungen, Spektren von eigensinnigem Handeln und individuelle Aneignungsformen von Jazzfans und Jazzmusikern im DDR-Staatssozialismus greifbar” machen “und ihre sozialen, musikalischen und kulturellen Praktiken exemplartisch am Kulturraum Thüringen dicht” beschreiben. Dafür hat er sich mit 21 Zeitzeugen getroffen und biografieorientierte Interviews mit ihnen geführt. “‘Wie es sich wirklich ereignet hat in der DDR mit dem Jazz’, kann diese Forschungsarbeit dabei nicht abschließend und umfassend beantworten”, räumt Breternitz ein, verweist aber darauf, wie ergiebig gerade auch in sozialhistorischen Themen die Lupe sein kann, die individuelle Entscheidungen, Gruppenprozesse und den jeweiligen Umgang mit staatlichen Strukturen näher beleuchtet.
Also beschreibt er: das Zustandekommen der Clubs, ihr Selbstverständnis, ihre Funktion als “Nische”, die historisch tradierten Konfliktlinien zwischen Jazzclubs und SED, sozialistische Diskurse, die den Jazz als Musik der “unterdrückten afroamerikanischen Arbeiterklasse” definierten, die Auswirkungen der US-amerikanishen Jazz-Diplomatie (Tourneen und Sendungen auf der Voice of America). Er diskutiert die Auseinandersetzung mit dem Jazz in der DDR der 1950er Jahre und die Veränderungen im Jazzverständnis der Kulturbehörden in den 1960er Jahren. Er zeichnet die Gründung von Jazzclubs als eine “selbstorganisierte Kulturform” nach und geht dann die acht bereits genannten Thüringer Jazzclubs einen nach dem anderen durch.
Breternitz fragt, wie Jazzfans überhaupt zu ihrem Wissen über Jazz kamen, nennt den Rundfunk (insbesondere West-Sender), Schallplatten, Tonbänder, sowie vermehrt Liveerlebnisse. Konzerte, Festivals sowie Vorträge über wichtige Aufnahmen der Jazzgeschichte waren die, wie Breternitz sie nennt, “kulturellen Praktiken und Veranstaltungsformate” der Jazzclubs; hier zitiert der Autor nicht nur aus Vorankündigungen, sondern zitiert auch aus seinen Gesprächen mit Teilnehmern der Vorträge. Er erklärt, wie die Veranstaltungspraxis in den 1970er und 1980er Jahren aussah, erklärt die “Honorarordnung Interpreten Musik und Theater von 1971”. Er weiß um das “Erlaubniswesen”, also die Notwendigkeit, dass Vereine wie selbstorganisierte Jazzclubs eine Genehmigung durch die örtlichen Kulturbehörden erhalten mussten, und er erklärt die Aufgaben beispielsweise der Konzert- und Gastspieldirektion des Bezirkes Erfurt.
Das klingt höchst bürokratisch, und so war es auch, und denn Bürokratie diente letzten Endes einer weitgehenden Kontrolle durch die Behörden. Viel war möglich, auch im zwischenmenschlichen Kontakt, aber es konnte eben auch vorkommen, dass Konzerte unter fadenscheinigen Gründen abgesagt wurden, dafür tatsächlich aber politische Gründe die maßgebliche Rolle spielten (z.B. Absage eines Uschi Brüning-Konzerts 1976, weil “die Gruppe im Zusammenhang mit der Unterschriftensammlung für [Wolf] Biermann stehe”.
Im Kapitel “FDJ-Kampfprogramm, Finanzen und sprachlicher Eigensinn” verweist Breternitz auf die Einbindung der Jazzclubs in Massenorganisationen wie FDJ und Kulturbund, auf tiefere Bedeutungsebenen, die sich aus der Selbstbezeichnung einzelner Clubs ablesen lassen (arbeitsgemeinschaft jazz halle, alles in Kleinschreibung), und auf die Finanzpläne einzelner Clubs. Er entlarvt die Phrasen, derer sich Jazzclubakteure bedienten, um ihre Musik zu legitimieren. Und er bringt konkrete Fallbeispiele, etwa über “FDJ und Free Jazz” in Ilmenau oder die “Jazztage der DDR 1985 in Weimar”.
Ein eigenes Kapitel widmet Breternitz der Staatssicherheit und ihrem Versuch der Unterwanderung der DDR-Jazzszene durch Schlüsselfiguren. Er beschreibt die Bedingungen für den Status als “Reisekader”, als Künstler oder Künstlerin, die im Westen auftreten durften. Er erörtert, wie Jazzclubs mehr und mehr ins Visier der Stasi gerieten, wobei nicht ganz klar war, was eigentlich wirklich das Feindbild war: der Jazz als Musik oder die Tatsache, dass die Mitglieder dieser Szene herzlich unangepasst waren. Über die Ausmaße der Unterwanderung der Szene durch die Stasi berichtet er am Beispiel des Jazzclubs in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), zitiert hierfür ausführlich aus Stasi-Berichten, in denen sich zuallererst ein generelles Unverständnis gegenüber dem Jazz zeigt, mehr aber noch gegenüber den Menschen, die er anzog, und schließlich ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber einer Musik, die sich zunehmend freier Improvisation öffnete. Am Beispiel der “Operative Vorgang ‘Blues’ gegen den Jazzklub Eisenach” zeichnet Breternitz konkret nach, wie die Jazzbegeisterung Manfred Blumes, des Mitbegründers der AG Jazz Eisenach, zu einer langjährigen Stasiüberwachung führte, die nicht nur Blume selbst betraf, sondern auch seine beiden Söhne. Eine der für diesen Leser schönsten / erschreckendsten Stilblüten findet sich in einem Ermittlungsbericht über die Befragung Stanley Blumes Nachbarn. Darin hieß es in schönstem Beamtendeutsch: “Der B. ist freischaffender Berufsmusiker. Die Mieter vermuten bei ihm diese Berufstätigkeit, da er mit Regelmäßigkeit im häuslichen Bereich Instrumentalübungen mit einem Blasinstrument durchführt. Darüber hinaus hört er gern und ausdauernd Musik über eine heimelektronische Anlage.”
Breternitzs letztes Kapitel wechselt nach der Sicht von Jazzklubs sowie Institutionen der SED-Kulturpolitik noch einmal die Perspektive und zeichnet “biografisch Aneignungsprozesse und Alltagserfahrungen von jazzmusikern des Thüringer Raums der DDR-Zeit” nach. Dazu befragt er eher weniger bekannte Musiker (tatsächlich nur Männer), nämlich: drei Mitglieder der Band Arnstädter Teddys, den Schlagzeuger Peter Wicklein der Sonneberger Jazz Optimisten, den Trompeter und Bandleader Lothar Stuckart (Erfurt), den Pianisten Udo Decker (Zeulenroda), den Saxophonisten Stanley Blume (Eisenach), den Pianisten Matthias Bätzel (Weimar), den Organisten Andi Geyer (Ilmenau) sowie den Bassisten Uwe Leßmann (Erfurt). Sie sprechen über ihre individuellen Lebenswege, über ihren Weg zum Jazz, über ihre persönliche Hörbiographie sowie über der Lebensrealität als Musiker in der DDR.
“Jazzklubs und Jazzmusiker in Thüringen 1959-1989” ist zuerst einmal eine wissenschaftliche Arbeit, akribisch recherchiert und mit 1732 Fußnoten versehen. Das Buch ist mittlerweile der neunte Band der von Gertrud Pickhan und Rüdiger Ritter herausgegebenen Reihe “Jazz under State Socialism”, in der Forscherinnen und Forscher die Rolle, Funktion und Realität des Jazz hinter dem eisernen Vorhang analysieren. Der wissenschaftlichen Akribie gemäß verliert das Buch insbesondere dort an Lesefluss, wo Breternitz sämtliche Quellen zum jeweiligen Thema einzubinden versucht. Andererseits macht der von ihm gewählte Fokus aufs Lokale genauso wie aufs Persönliche dieses Buch dann doch wieder zu einer spannenden Lektüre, führt er doch die subjektive Lebenswirklichkeit Beteiligter vor Augen.
Im Schlusswort verweist Breternitz darauf, dass er ursprünglich angedacht hatte, seine Interviewpartner auch nach den Entwicklungen der Wendezeit und den damit verbundenen Strukturveränderungen in der Jazzszene zu befragen. Er formuliert damit auf den letzten Seiten seines Buchs eine spannende Aufgabe für weitere Forschung, für die jetzt, 24 Jahre nach der Wende, genau der richtige Abstand zu sein scheint, Zeitzeugengespräche zu führen. Auch einen zweiten Themenblock reißt er an, der intensivere Recherchen lohnen würde: die “akademische Institutionalisierung von Jazz” nämlich, also die Hochschulausbildung – und da, schließe ich mal an, könnte man gleich gut die Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland, ihre Inhalte und ihre Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Musiker:innen zusammen untersuchen.
Breternitzs Buch erklärt die verschiedenen Strukturen, in die das Jazzleben in der DDR eingebettet war: die privaten, die lokalen und regionalen, die politischen, die behördlichen, die globalen. Er bietet seinen Leser:innen dafür gut herausgearbeitete Beispiele und konkrete Belege. Wenn es etwas zu bemängeln gibt, so ist es der fehlende Namens- und Sachindex, der gerade bei einem so grundlegenden Werk eigentlich obligatorisch wäre. Ansonsten aber: Chapeau; uns allen, die wir uns mit der Jazzgeschichte Deutschlands befassen, erlaubt Breternitz mit seiner klaren Aufdröselung von Strukturen und persönlichen Betroffenheiten ein besseres Verständnis des Beziehungsgeflechts, in dem sich der Jazz in der DDR entwickelte.
Wolfram Knauer (August 2023)
Tokyo Jazz Joints
Von Philip Arneill (with James Catchpole)
Heidelberg 2023 (Kehrer Verlag)
168 Seiten, 45 Euro
ISBN: 978-3-96900-120-2
John Coltrane spielt an jedem 17. des Monats von 18 bis 21 Uhr!
Natürlich spielt Coltrane nicht an jedem 17. des Monats, aber im Down Beat, einem Jazzcafé im japanischen Yokohama ist an diesem Tag jedes Monats ein ausgesuchtes Programm mit der Musik Coltranes zu hören. Von Schallplatte. Vinyl.
Philip Arneill ist ein irischer Fotograf, der 1997 für 20 Jahre nach Japan ging und dort unter anderem die Kultur der “Jazz kissa” kennenlernte, der Jazz-Cafés, die es schon vor dem Krieg gegeben hatte, die aber insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren populär waren. Jazz kissa sind Cafés oder Bars, geöffnet zwischen Mittag und spätem Abend, ruhige Orte wie ein öffentliches Wohnzimmer neben den kleinen Wohnungen des Landes, in denen man Kaffee oder alkoholische Getränke zu sich nimmt und dabei einem Programm ausgesuchter Platten aus der riesigen Vinylsammlung des “Meisters” lauscht, wie man die Betreiber dieser Etablissements ehrfurchtsvoll nennt, abgespielt auf High-End-Audiogeräten. Keine Livemusik, dafür Regale voller LPs, eine kaschemmenartige Atmosphäre.
Philipp Arneill und der amerikanische Radiomacher James Catchpole haben sich für ihre Dokumentation der jazz kissa also auf die Suche gemacht. Catchpole meint, er er mag wohl 272 von ihnen besucht haben, sicher 150 würden ihm noch fehlen. In Arneills Fotos meint man den Geruch der Getränke genauso wahrnehmen zu können wie die Musik, die gerade auf dem Plattenteller liegt. Es ist ein schummriger Gelbstich, der zumindest die Innenaufnahmen der Cafés beherrscht. Sorgsam in Regalen ruhende LPs. Man sieht die Albumrücken; Impulse-Platten lassen sich anhand ihres rot-schwarzen Rückens besonders leicht erkennen.
Eine schmale Bar mit langer Theke und großem Getränkeangebot (Jazz Pepe, Shinjuku-ku, Tokyo), eine Baristaküche mit Platten von Armstrong, Coltrane und Basie über dem Tresen (Bunka, Shiki), eine etwas ranzig wirkende Treppe mit Jazzmusiker-Zeichnungen an den Wänden (Rundo, Honjo), ein Toilettenraum, dessen Wände nicht etwa mit sexuellen Zoten, sondern mit Jazzverweisen bemalt sind (Meg, Musahino, Tokyo), Coltrane als Werbeschild (Naima, Oita), als Werbeposter (Kabo, Sendai) oder gleich als Name des Cafés (Coltrane Coltrane, Tosu), oder aber in einer Kladde als Playlist für den Abend (Pithecanthropus Erectus, Ota-ku, Tokyo).
Menschen kommen auch vor auf den Fotos, aber sie spielen nicht die Haupt-, vor allem spielen sie kaum eine aktive Rolle. Sie sind Besucher, sind Hörende, meistens wohl die hinter dem Tresen sitzenden Wirte (Jericho, Sapporo). Eine tiefe Liebe zum Jazz erkennt man in jedem der Bilder. Live-Musik ist höchstens im Umi (Asaka) ab und an zu hören, meistens aber LPs, ab und an CDs (Yushima, Atami) oder sogar Kassetten (Full House, Edogawa-ku, Tokyo).
Aus Interviews mit vielen Musikern weiß man, wie sehr japanische Fans Jazzkünstler verehren. Philipp Arneills Fotos lassen diesen Fanatismus selbst für Betrachter verständlich werden, die noch nie in Japan waren. “Tokyo Jazz Joints” dokumentiert dabei eine verschwindende Welt, wie es im Pressetext zum Buch heißt, bedingt durch neue Trends, Gentrifizierung und das Alter der Kunden. Die jazz kissa, heißt es weiter, seien eine Art “lebendiger Museen” – und irgendwie macht das Betrachten der auf gutem Papier sorgfältig gedruckten Bilder Lust darauf, bald mal Freunde, jazzbegeistert wie man selbst, zu einem Abend vor dem eigenen Plattenspieler einzuladen. Obwohl: Eigentlich würde man dafür doch viel lieber in das Jazz Café um die Ecke gehen, um die Musik mit Freunden und Fremden zu genießen.
Wolfram Knauer (Juli 2023)
Easily Slip Into Another World. a Life in Music
von Henry Threadgill (mit Brent Hayes Edwards)
New York 2023 (Alfred A. Knopf)
406 Seiten, 32,50 US-Dollar
ISBN: 978-1-5247-4907-1
“Easily Slip Into Another World” war der Titel eines Albums, das Saxophonist Henry Threadgill mit seinem Sextett 1986 einspielte. Es zeigt einen Musiker, dessen Arbeit von improvisatorischer Risikobereitschaft genauso geprägt ist wie von einer klaren kompositorischen Vorstellung. Threadgill ist nicht unbedingt ein Household-Name des Jazz, obwohl er jede Menge bedeutender Preise erhalten hat, darunter den Jazz Master des National Endowment for the Arts und den Pulitzer Preis für Musik. Musiker:innen bewundern ihn unter anderem als ideenreichen Komponisten und klaren Konzeptionalisten. Nun also hat Threadgill seine Autobiographie vorgelegt, und diese ist weit mehr als ein Buch über Musik.
In Chicago geboren wächst Threadgill mit der Popkultur der Zeit auf, einem Sammelsurium an Radioklängen und frühen Fernsehshows. Die Boogie-Woogie-Pianisten der 1940er Jahre faszinieren ihn; in den Kirchen seiner Großelten lernt er so etwas wie die Community-Funktion von Musik. Seine Mutter nimmt ihn mit in Konzerte, zuhause lauscht er den Platten der Eltern, Jazz at the Philharmonic oder Nat King Cole, in der Schule wird er außerdem mit klassischer Musik vertraut gemacht. Und dann, mit 14 oder 15, hört er zum ersten Mal eine Platte Charlie Parkers. “That’s it!”, sagt er sich, das ist die Tür, die ihm die Welt eines für ihn neuen Sounds eröffnet.
Klavierstunden hatte er bereits als Kind erhalten, mit 15 kauft ihm seine Großmutter ein Saxophon. Er spielt in der Schulkapelle und entscheidet mehr und mehr, dass die Musik seine Zukunft sein soll. Er lebt ja in Chicago, und die Stadt ist reich an bedeutenden Musikern. Er spielt in Tanzkapellen und beginnt ernsthaft zu komponieren – weder Jazz noch europäische klassische Musik, wie er erklärt, sondern einfach Klänge, die er in sich hört. Er beschreibt, wie er sich ab 1962 im College mit Musik unterschiedlichster Genese befasst: Varèse, Ellington, Bud Powell, Maria Callas, Beethoven, Liszt, Ali Akbar Khan. Etwa zu der Zeit wird auch seine eigene Musik erstmals aufgeführt, von seiner Schulkapelle. Nach zwei Jahren auf dem College wechselt Threadgill auf das American Conservatory in Chicago. Nebenbei engagiert er sich mehr und mehr in der Kirchengemeinde einer Freundin und beginnt mit einem reisenden Prediger zu touren, eine weitere emotionale, musikalische wie geschäftliche Erfahrung für seinen Lebensweg.
Gene Ammons, eine Begegnung mit John Coltrane, die frühe AACM — es gibt viele musikalische Asides, an die sich Threadgill erinnert. Er spricht von Rassismuserfahrungen und jugendlichen Gangs, in denen er mitmischte, vom politischen Klima der Mitt-1960er-Jahre, von der Ermordung Malcolm Xs, den er bewundert habe. Dann, im August 1966, verpflichtet er sich freiwillig zum Dienst in der US Army, spielt erst Klarinette und Saxophon in der Armeekapelle, bevor er zum Arrangeur der Band avanciert. Eines seines ersten Arrangements im Sommer 1967 über ein Medley patriotischer Songs kommt zwar bei den Musikern gut an (really sophisticated stuff), bei der Feier allerdings, für die es geschrieben war, fällt es vor den Generälen, dem Gouverneur, vor hohen Kirchenvertretern, einfach nur durch. Zurück ins Glied: Threadgill wird vom Arrangeur wieder zum einfachen Ensemblemusiker degradiert und kurz darauf – er empfindet es als Strafe – nach Vietnam versetzt.
Auch hier ist Threadgill als Klarinettist und Altsaxophonist in der Infanteriekapelle tätig, aber natürlich ist niemand “nur” Musiker in diesem Krieg, wie seine Erinnerungen an den Armeealltag anschaulich zeigen. Einmal hätten sie ein Platzkonzert gespielt, bei dem den Musikern vom Aushilfs-Dirigenten untersagt wurde, ihre Waffen mit auf die Bühne zu nehmen. Die Hälfte der Band ignorierte den Befehl — glücklicherweise, denn das Konzert wurde nach nur vier Takten durch einen Überraschungsangriff der Vietcong unterbrochen. In diesen Kapiteln handelt Threadgills Autobiographie weniger von Musik, mehr vom Überleben in der feindlichen Wirklichkeit des Kriegs, von die Notwendigkeit von Freundschaften, Vertrauen, vom Umgehen mit der Angst. Im Krieg, erzählt Threagill, zählt die Hautfarbe nichts, andererseits habe gerade der Krieg viele der schwarzen Soldaten politisiert.
1968 kehrt der Saxophonist zurück, anfangs noch abhängig von den Schmerzmitteln, die in Vietnam freizügig unter den Soldaten verteilt wurden. Er findet eine Szene vor, die sich zunehmend selbst organisiert. Er spielt mit den Musikern der Black Artists Group in St. Louis und engagiert sich in der Chicagoer Initiative AACM, spielt auf Alben von Kollegen wie Muhal Richard Abrams, mischt aber auch auf Rhythm ‘n’ Blues-Sessions mit und unterrichtet am Columbia College. Auf einem Schrottmarkt findet er Radkappen, die ihn an asiatische Gogs erinnern, für sie bastelt er eigens ein Gestell und nimmt das von ihm so genannte Hupkaphone mit in sein Konzertprogramm auf.
Viele der AACM-Musiker hatte es in diesen Jahren nach Paris gezogen; zusammen mit Wadada Leo Smith geht Threadgill stattdessen Ende 1970 erst nach London, dann nach Amsterdam. Als seine Frau ein Kind bekommt, kehrt er nach Chicago zurück und setzt sein Studium fort, jetzt bei der Komponistin Stella Roberts. Er trifft auf den Bassisten Fred Hopkins und den Schlagzeuger Steve McCall, gründet mit ihnen ein Trio, das erst Reflections, dann Air heißt. Ihre Musik wird oft als Free Jazz wahrgenommen, obwohl sie, wie Threadgill betont, doch großteils komponiert ist. 1975 ziehen alle drei Musiker nach New York, werden Teil der sogenannten Loft Scene, spielen im Tin Palace oder in den Lageretagen von Musikerkollegen und Künstlern in SoHo. Der Geiger Leroy Jenkins ermutigt ihn in größeren Formen und Besetzungen zu denken und sich um Förderung und Kompositionsaufträge zu bewerben.
Threadgill gründet sein Sextett in ungewöhnlicher Besetzung (Saxophon, Trompete, Posaune, Cello, Bass, zwei Schlagzeuger – also sieben Instrumente, aber die Musik sei in sechs Stimmen gedacht, erklärt er) und mit einem klaren Sound im Hinterkopf. Nebenbei spielt er Sidemen-Gigs, etwa mit Pat Patrick, mit Mario Bauzá oder Howard McGhee, von denen er sich Leadership-Skills abschaut. Er arbeitet kurz mit Cecil Taylor, und erklärt, wie dessen Konzept, insbesondere seine Bereitschaft, sich immer auch auf Unvorhersehbares einzulassen, ihn beeinflusste. Er trifft seine zweite Frau, eine Inderin, lebt mit ihr teils in Goa, teils in New York. Er beschäftigt sich mit den Grenzen diatonischer Harmonik, studiert intensiv die Musik Edgar Varèses und lässt all das in seine aktuelle Musik einfließen, zuletzt mit der Band Zooid.
Insbesondere in den ersten drei Vierteln liest sich Threadgills Buch spannend wie ein Roman, eine Mischung bescheidener Selbstreflexion und kluger Einsichten. Dem erfahrenen Literaturwissenschaftler und Jazzkenner Brent Hayes Edwards gelingt es bestens Threadgills Erinnerungen in Form zu bringen, thematische Blöcke zu formen und doch das Narrativ zu erhalten. Man erhält Einblick in Threadgills Persönlichkeit genauso wie in die Musikszene der 1950er bis 1990er Jahre, und zwischendurch jede Menge gesellschaftliche Kommentaren zu aktuellen Themen der jeweiligen Zeit – Bürgerrechtsbewegung, Black Arts Movement, Vietnam Krieg, Loft Scene usw.
Immer wieder fühlte ich mich bei der Lektüre ermutigt Notizen zu machen, wenn Threadgill besonders anschaulich und aus erster Hand Besonderheiten in den musikalischen Konzepten von Kollegen verdeutlicht. Da spricht er etwa über die Kunst in Bluesbands zu spielen, bei denen es vor allem darauf ankommt, die volle Aufmerksamkeit auf die Richtung der musikalischen Energie zu lenken (163). An anderer Stelle erinnert er sich an eine Begegnung mit Duke Ellington im Jahr 1971, bei der der Duke ihn auf seine Kompositionstätigkeit ansprach, Threadgill sich aber nicht traute ihm etwas vorzuspielen (201-204). Oder er erklärt, wie er einmal im selben Programm wie Dizzy Gillespie aufgetreten sei und dieser allein durch seine Bühnenpräsenz einen solchen Fokus im Publikum herstellen konnte, dass er alles andere an dem Abend in den Schatten stellte (225).
Threadgills Buch ist die Autobiographie eines Jazzmusikers. Aber es ist eben auch das Buch eines Vietnamkriegsveteranen, ein Buch. das aus der Sicht des Protagonisten, der eher zufällig Musiker ist, ein Schlaglicht auf die USA der zweiten Hälfte des 20sten Jahrhunderts wirft. “Easily Slip Into Another World” gehört schon jetzt zu den wichtigen Autobiographien dieser Musik – absolut lesenswert und wärmstens empfohlen!
Wolfram Knauer (Juli 2023)
Serendipity. Jürgen Wuchners Kompositionen
herausgegeben von Monika Schießer-Wuchner
Hofheim 2023 (Wolke)
176 Seiten, 36 Euro
ISBN: 978-3-95593-144-5
Im Wolke Verlag ist soeben “Serendipity. Jürgen Wuchners Kompositionen” erschienen, ein großformatiges Buch, das die Kompositionen des im Mai 2000 verstorbenen Darmstädter Bassisten und Komponisten Jürgen Wuchner würdigt. Wuchners Witwe Monika Schießer-Wuchner hat den Band herausgegeben, dessen erste Hälfte Erinnerungen von Musikerkollegen wie Rudi Mahall, Uli Partheil, Ole Heiland, Valentin Garvie, Christopher Dell, Bob Degen, Karl Berger, Wollie Kaiser, Thomas Cremer, Wolfgang Puschnig, Bülent Ates, Jörg Fischer und Christof Thewes enthält.
Die zweite Hälfte des Buchs besteht aus Wuchners Kompositionen, Lead Sheets einiger seiner “Hits” und weniger bekannter Stücke, chronologisch geordnet von 1976 bis 2019. Wer schon einmal eines von Jürgens Stücken gehört hat, weiß um deren Eingängigkeit, die er erreicht, egal wie komplex die Musik ist. Uli Partheil, der die Musik für die Veröffentlichung eingerichtet hat, erklärt, dass alle der Stücke sehr unterschiedlich sind und jeweils einen anderen Grad an Freiheit beinhalten. Manche scheinen einfach zu sein, schreibt er, dennoch muss man zu jedem seinen eigenen Zugang zur Musik finden. Partheil erzählt aus eigenem Erleben, wie oft Jürgens Stücke verändert wurden, verändert werden sollten, damit sie sich der jeweiligen Spielsituation anpassten. Irgendwann aber habe er einmal gesagt “Now it’s enough”, weil er fand, jetzt seien keine weiteren Änderungen mehr nötig.
Für alle, die wir Jürgen Wuchner kannten, ist das reich bebilderte Buch eine schöne Erinnerung an den Bassisten, Komponisten, Freund Jürgen Wuchner. Für seine Schüler:innen, die Workshop-Teilnehmer:innen, hält es in Noten fest, was sie vielleicht einmal zusammen gespielt haben oder gerne mal spielen würden. Für alle anderen ist es ein Fundus spannender Stücke, die das eigene Repertoire reicher machen können.
Wolfram Knauer (Juli 2023)
Vergnügen in Besatzungszeiten. Begegnungen in westalliierten Offiziers- und Soldatenclubs in Deutschland, 1945-1955
von Lena Rudeck
Bielefeld 2023 (transcript)
316 Seiten, 39 Euro
ISBN: 978-3-8376-6622-9
Lena Rudecks Studie über westalliierte Offiziers- und Soldatenclubs in Deutschland in den Jahren 1945-1955 füllt eine Lücke. Konkreter und ganz persönlich: Ich klage oft genug in Gesprächen über die westdeutsche Nachkriegsgeschichte des Jazz, dass bislang niemand sich eingehend mit den “Amiclubs” auseinandergesetzt hat, also dokumentiert hat, zu welchen Konditionen, unter welchen Bedingungen deutsche Musiker:innen nach dem Krieg in den GI-Clubs Süddeutschlands arbeiteten. Was es ihnen brachte, ist gut dokumentiert: Jeder Musiker, jede Musikerin, die in den 1940er bis 1960er Jahren sozialisiert wurde, berichtet ja von seinen (ihren) GI-Club-Erfahrungen. Aber wie diese Arbeit tatsächlich aussah, warum überhaupt so viele deutsche Musiker:innen in diesen Orten auftraten, wie die amerikanische (oder britische oder französische) Besatzung dazu stand und was sie überhaupt mit der Unterhaltung ihrer Truppen bezweckte, darüber gab es bislang vor allem verstreute Berichte, Vermutungen, Hinweise.
Jetzt also schließt Lena Rudeck diese Lücke, detailliert, und dabei nicht beschränkt auf die “amerikanische Zone” fokussiert, die uns Jazzern am wichtigsten scheint. Sie beschreibt und vergleicht die Bedingungen, unter denen “Vergnügen” in den drei westlichen Besatzungszonen offiziell organisiert und sanktioniert wurde, wie rigoros oder offen die Besatzungsorgane mit der Einbindung deutscher Mitarbeiter:innen (von Kellner:innen über Reinigungskräfte bis zu Musiker:innen) umgingen und was all das bei den Angehörigen der Besatzungstruppen sowie bei den deutschen Arbeitnehmer:innen bewirkte.
Rudeck hat tief gewühlt: in Korrespondenzen, in persönlichen Nachlässen, in hektographierten Clubzeitschriften, in amerikanischen genauso wie bundesdeutschen Archiven. Das Ergebnis ist eine Studie, die immer wieder vom Großen ins Kleine und zurück ins Große zeigt, von den politischen Vorstellungen und der Umsetzbarkeit vor Ort handelt, von pragmatischen Entscheidungen, die dann wieder die offiziellen Regeln verändern, von Begegnungen zwischen Menschen, von den sehr unterschiedlichen Bedürfnissen der beteiligten Parteien, vom Aushandeln sehr unterschiedlicher Kapitale, von Kontrolle und Annäherung. Sie beschreibt die anfänglichen Fraternisierungsverbote und die Gründe für ihre baldige Aufhebung. Sie betrachtet die verschiedenen Seiten, ihre Bedürfnisse und Vorstellungen: die der Besatzungsorgane also, die der Soldaten und der zivilen amerikanischen Bediensteten, aber auch jene der deutschen Angestellten, sowie nach und nach auch der zugelassenen deutschen Gäste. Die Clubs waren ursprünglich als “home away from home” gegründet worden, sollten ein Stück Heimat vermitteln, in Dekoration, Speisen und Getränken, Einkaufsmöglichkeiten und Vergnügungsmöglichkeiten. Sie bewerkstelligten das mit Filmabenden, Tanz, Konzerten, Weihnachtsfeiern, aber auch mit für die Besatzer als exotisch empfundenen Präsentationen deutschen Brauchtums (Stichwort: Bayern).
Wo diese Clubs bei den Soldaten also ein Stück heimatliche Gemütlichkeit brachten, hatten sie in der deutschen Bevölkerung einen eher umstrittenen Ruf als unmoralische Orte, an denen junge Frauen von Besatzungssoldaten verführt würden. Als Gegenbeispiel dienen Rudeck das Domicile du Jazz (der heutige Jazzkeller) in Frankfurt sowie den Anglo-German Swing Club in Hamburg, zwei Orte, an denen der Jazz die Menschen zusammenbrachte.
Insbesondere in Bezug auf die Musik beschreibt sie “die Knappheit an Musikerinnen und Musikern, die in westalliierten Clubs auftreten konnten, und die sich daraus ergebenen Möglichkeiten für deutsche Bands” als Austauschprozesse und deren Aushandlungen. Und sie bringt konkrete Beispiele: Wie etwa ein klassisches Orchester, das 1948 im Frankfurter Palmgarden Club auftret, davon ausging, nach dem Konzert mit einer warmen Mahlzeit verköstigt zu werden, vor dem Konzert aber erfuhr, dass es nicht mehr als Kaffee und Kuchen geben sollte, woraufhin die Orchestermitglieder drohten gar nicht aufzutreten. Gerade in ihren Dienstleistungen für die Besatzungskräfte sahen sich Deutsche in unterschiedlichsten Berufen eben nicht länger nur als “Besiegte”, sondern genauso als Handelspartner mit eigenen Rechten und Bedürfnissen.
Rudeck berichtet über die Präsenz westalliierter Armeeangehöriger in den Clubs und die zunehmenden Bemühungen, deutsche Frauen als Tanzpartnerinnen zu gewinnen. Sie beschreibt, wie die Clubs für die Soldaten “ein Stück ziviles Leben im Militäralltag” sein sollten, für die deutschen Gäste dagegen wie eine “Flucht aus dem Nachkriegsalltag” wirkten.
Lena Rudecks Buch entstand als Dissertation, entsprechend ist ihre Herangehensweise systematisch und wissenschaftlich. Und da sie – zumindest im deutschsprachigen Raum – eines der ersten Bücher über das Thema geschrieben hat, weiß sie, dass es genügend weiterer Untersuchungen bräuchte. Wie etwa unterscheiden sich die amerikanischen Soldatenclubs in Deutschland, Japan und Korea nach dem II. Weltkrieg, könnte eine solche Frage lauten. Wie veränderte sich das Selbstverständnis der Clubs nach 1955, und welchen Einfluss hatten sie auf das Alltagsleben der in Deutschland stationierten Soldaten? Ein Oral History-Projekt wäre wünschenswert, allerdings sei es für den von ihr behandelten Zeitraum dafür wahrscheinlich bereits zu spät.
Ich, der ich viel gelesen habe zur deutschen Jazzgeschichte, habe viel gelernt von der Lektüre. Rudeck hat mich dazu angeregt weiterzudenken, Recherchemöglichkeiten in Betracht zu ziehen, hat für mich, ihren Leser, schon mal vorgefühlt, wo sich was finden lässt. Sie beleuchtet dabei einen bislang vernachlässigten Teil deutscher Nachkriegsgeschichte und nebenbei ein keineswegs unwichtiges Kapitel der deutschen Jazzhistorie.
Wolfram Knauer (Juni 2023)
Kansas City Jazz. A Little Evil Will Do You Good
von Con Chapman
Sheffield 2023
370 Seiten, 30 Britische Pfund
ISBN: 9781800502826
Eines Morgens, beginnt Con Chapman sein Buch über Jazz in Kansas City, hörte Bill Basie, der gerade mit einer Revuetruppe in Tulsa, Oklahoma, war, Musik, von der er dachte, sie käme von einer Schallplatte. Aber nein, es war eine Band, die auf einem Lastwagen spielte, um Werbung für ihren Gig am selben Abend zu machen. Es waren die Blue Devils, und sie waren sein erster Kontakt nach Kansas City.
Neben New Orleans, Chicago und New York war K.C. wahrscheinlich die wichtigste Stadt der Jazzgeschichte bis zur Mitte des 20sten Jahrhunderts. Count Basie, Jay McShann, Mary Lou Williams, Ben Webster, Lester Young, Charlie Parker – sie alle begannen ihre Karriere in der Stadt im Mittleren Westen, die ihre lebendige Musikszene zum einen der Tatsache zu verdanken hatte, dass sie Eisenbahnknoten und zentraler Viehmarkt war und die Händler und Käufer sich nach dem Geschäft gern unterhalten ließen, zum anderen, dass in den 1930er Jahren eine korrupte Stadtregierung den Kasinos und Revuetheatern der Stadt freie Hand ließ, oder besser, den Besitzern selbiger, die eng mit der örtlichen Unterwelt verbunden waren.
In Kansas City jedenfalls erklang eine Musik, die anders war als in allen anderen Metropolen des Landes: mal dem Ragtime verbunden – James Scott hatte eine Weile hier gewirkt -, stark vom Blues durchdrungen, der Improvisation aufgeschlossen, den instrumentalen Wettbewerb anfeuernd. Con Chapman erzählt in seinem Buch die Geschichte dieser Musik von den Anfängen bis in die 1940er Jahre. Er beginnt mit den Wurzeln im Ragtime, in der Minstrelsy und den Tent Shows, einer Musik, die mal dem Zirkus nahe stand, dann europäischer Salonmusik mit einem rhythmischen Pusch. Während der Jazz meist mit New Orleans, Chicago und New York verbunden wurde, waren viele der Ragtime- und Bluespioniere in Städten wie St. Louis oder Kansas City zuhause.
Chapman sieht es als seine Aufgabe an, auch oft übersehene Musiker zu legitimieren. So kontert er die zeitgenössische Kritik an der Theatralik Wilbur Sweatmans, der in seinem Bühnenact schon mal drei Klarinetten zugleich spielte, mit dem Verweis auf Rahsaan Roland Kirk (der das allerdings aus ganz anderen Gründen tat). Er verweist zu Recht auf die weit offenere Genrehaltung der frühen Jazzjahre, in denen technisch exzellente Musiker wie Sweatman ohne ästhetische Bedenken klassische Stücke genauso spielen konnten wie Gpysy Tunes, Ragtime, Blues oder Jazz.
Vom Stomp zum Swing, von der Tuba zur Bull Fiddle überschreibt Chapman sein zweites Kapitel, das letzten Endes davon handelt, wie die Musik von der Revuebühne mehr und mehr aufs Tanzparkett wechselte und sich dabei auch klanglich veränderte. Er führt nach und nach seinen ersten Hauptcharakter ein: den Tubisten Walter Page, der 1923 zusammen mit anderen die Blue Devils gründete, die Basie in Oklahoma gehört hatte. Chapman erklärt, wie die Band klarer, schärfer, sauberer geklungen habe als andere Bands der Stadt, die des Schlagzeugers Jesse Stone etwa und auch die Bennie Motens, der sich schließlich entschloss, wenn er die Blue Devils schon nicht musikalisch schlagen konnte, sie eben nach und nach, Musiker um Musiker zu plündern.
Dann nimmt sich Chapman die anderen Bands der Zeit und Region an: die bereits erwähnten von Moten und Stone, Troy Floyd, Alphonso Trent, Nat Towles. Er weiß Geschichten, die Musiker über die Bands und ihre Musik erzählten; er hört sich aber auch selbst die Aufnahmen an, die ab den frühen 1930er Jahren auf den Markt kamen. Er beschreibt den Wandel in der rhythmischen Auffassung, der insbesondere im Kansas City-Jazz zu spüren ist, diskutiert die Entwicklung der elektrischen Gitarre (Eddie Durham, Charlie Christian), und erklärt den Erfolg der All American Rhythm Section der Basie Band.
Er verfolgt die Musiker von ihren Tanzgigs zu den informellen After-Hours-Sessions, die zugleich eine Mischung aus Wettbewerbsarena und Experimentierlabor waren. Er betont die Bedeutung der Improvisation, der eigenen Stimme, des überzeugenden Narrativs, auf das in dieser Musik geachtet wurde, und er beschreibt, wie selbst viel der Musik der größeren Ensembles diese Jam Session-Atmosphäre atmete, wenn sie tatsächlich auf spontan gemeinsam entwickelten Riffs fusste.
Er verfolt die Boogie-Woogie-Mode der 1930er, deren wichtigste Protagonisten alle zeitweise in Kansas City aktiv waren, und die Legenden um die Tenoristen der Stadt, Herschel Evans, Ben Webster und Lester Young. Er diskutiert “Shouters and Singers”, Joe Turner und Jimmy Rushing, Cleanhead Vinson und Jimmy Witherspoon, aber auch ihre weiblichen Kolleginnen, Ada Brown, Julia Lee, June Richmond, Trixie Smith und Helen Humes. Er listet Trompeter auf wie Hot Lips Page, Buck Clayton, Ed Lewis, Harry Edison oder Snooky Young, und Posaunisten wie Jack Teagarden, Jimmy Harrison, Dan Minor oder Dicky Wells.
Er widmet ein Kapitel Andy Kirk und seinen Twelve Clouds of Joy sowie der Pianistin und Arrangeurin Mary Lou Williams, ein weiteres den Altsaxophonisten Buster Smith und Eddie Barefield, lässt auch die Thamon Hayes Rockets nicht aus, die nicht ganz den erhofften Erfolg hatten, und landet schließlich bei Charlie Parker, dessen Kindheit und Jugend in Kansas City ihn wohl zu dem gemacht hat, was er war: ein im Blues verhafteter Musiker, der wusste, dass er sein Instrument vollkommen beherrschen musste, um es in der Musik zu etwas zu bringen.
Ein Ausflug bringt uns das Orchester Jay McShanns näher, in dem Parker seine ersten offiziellen Aufnahmen machte. Und zum Schluss erklärt Chapman noch ein wenig die politische Lage, in der die Musikszene florierte im Kansas City der 1930er Jahre, die korrupte Stadtregierung also unter Bürgermeister Tom Pendergast, und der Niedergang der Kulturszene, der mit dessen Verhaftung und dem politischen Wandel in der Stadtverwaltung verbunden war. Dieses Kapitel hätte man sich übrigens früher gewünscht, vielleicht mit einer eingehenderen Diskussion der wirtschaftlichen Hintergründe, auf denen die Musikszene hier fusste.
Auch der musikalische Wandel machte der Szene zu schaffen: Der junge Bebop war keine Massenmusik mehr. Und hier wird Chapmans Buch stellenweise leider zur Klischeesammlung – zwischen den Zeilen lässt sich leicht erkennen, dass dem Autor die Entwicklung hin zum Bebop nicht wirklich gefällt, dass er sich am Riemen zu reißen versucht, dann aber doch noch ein Zitat findet – von Mary Lou Williams oder Ralph Ellison -, das seine kritische Haltung zu stützen scheint.
Hier auch endet Chapmans Buch, und in seiner ästhetischen Wehmut hat er zugleich eine große Chance vertan: nämlich zu erkennen, dass die Geschichte des Jazz in Kansas City auch eine der Ermächtigung schwarzer Künstler:innen war, dass sie just jenen Umschlagpunkt beleuchtet, in der der Jazz von Unterhaltung zum Experiment wurde. Von hier an ging es nicht mehr zurück. Ohne Kansas City wären ein Großteil der spätereen Jazzentwicklungen gar nicht denkbar – und dasselbe gilt eigentlich für die gesamte afro-amerikanische Musikkultur.
Enden wir aber versöhnlich: Chapmans Buch ist leicht lesbar; es gelingt ihm neben den Stars der Ära auch weniger bekannte Musiker:innen zu beleuchten, und wenn die musikalischen Verweise auch wenige sind, so sind sie dennoch da, ermutigen also zum Weiterhören. In seinem Buch findet sich nichts, was nicht auch anderswo ähnlich diskutiert worden wäre; er hat allerdings fließig in den Quellen gewühlt und immer wieder interessante Verweise gefunden, die durchaus eine seltener bedachte Seite der Ära erklären helfen.
Wolfram Knauer (März 2023)
The Routledge Companion to Jazz and Gender
herausgegeben von James Reddan, Monika Herzig und Michael Kahr
New York 2023 (Routledge)
498 Seiten, 152 Britische Pfund
ISBN: 978-0-367-53414-1
Sie versuche Konferenzen zu vermeiden, bei denen sie eingeladen werde, um über “Frauen im Jazz” zu sprechen, sagte die amerikanische Musikwissenschaftlerin Sherrie Tucker einmal in Darmstadt. Wann immer sie auf das Thema angesprochen werde, betone sie, dass, wer auch immer sich mit Frauen im Jazz befasse, sich mindestens gleichermaßen mit Diversität im Jazz befassen müsse. Nach Darmstadt brachte Tucker damals, im Jahr 2015, eine Konferenz, die das Jazzinstitut unter dem Titel “Gender and Identity” abgehalten hatte und deren Buchpublikation durchaus wegweisend war, weil sie eben über das reine “Frauenthema” hinausblickte. Zuvor hatte es zwar einige Bücher gegeben, die sich “women in jazz” widmeten, auch immerhin eines, dass sich dem Thema der Homosexualität annahm – dann aber gleich in der gesamten populären Musik. Jetzt haben James Reddan, Monika Herzig und Michael Kahr ein dickes Kompendium herausgebracht, dass sich zumindest ansatzweise an die gesamte Bandbreite von “Jazz and Gender” heranwagt.
Es ist ein “companion”, also keine systematische Übersicht über die Thematik, sondern eine Sammlung sehr unterschiedlicher Aufsätze. Die Herausgeber haben sich entschieden die 38 Essays in vier Blöcken zusammenzufassen, die bereits die Vielfalt der Ansätze andeuten: “Historical Perspectives”, “Identity and Culture”, “Society and Education” sowie “Policy and Advocacy”.
Die erste Abteilung, “Historical Perspectives” versammelt beispielsweise einen Beitrag über sexistische Klischees zum Jazz in Australien (Bruce Johnson), eine Reflektion über die legendäre Mamie Desdunes in New Orleans (Benjamin Barson), eine Darstellung über Lil Hardin und Helen Joyner (Jeremy Brown), über die queere Ästhetik der 1920er Jahre (Magdalena Fürnkranz), über schwarze Musikerinnen im britischen Jazz zwischen den Weltkriegen (Jessica Chow), über Maskulinität im Auftreten von Freddie Hubbard, Lester Bowie (Aaron J. Johnson) und Lee Morgan (Keith Karns), sowie über die Programmgestaltung etablierter Jazzspielstätten aus feministischer Sicht (Kara Attrep).
Der Teil über “Identity and Culture” befasst sich beispielsweise mit den Bedingungen, die es Mädchen und Frauen erschweren Jazz zu spielen (Erin L. Wehr), mit dem Zusammenhang zwischen Gender, Geschlecht und dem Spiel des Saxophons (Yoko Suzuki), mit der Vielfalt an Identitäten, die Jazzmusiker:innen ausmachen (Wolfram Knauer), mit der Rolle von Geschlecht bei Jazz-Wettbewerben (Matthias Heyman), mit der Geschlechterbalance in europäischen Jazzfestivals (Kristin McGee), mit patriarchalen und rassistischen Klischees in Bezug auf den Tanz im Jazz (Brandi Coleman), mit der Schwierigkeit für Frauen das “glass ceiling” der Jazzwelt zu durchbrechen (Marie Buscatto), sowie mit offen schwulen Jazzmusikern der jüngeren Vergangenheit, Graham Collier, Fred Hersch, Gary Burton (Ann Cotterrell).
“Society and Education” ist jener Buchteil überschrieben, in dem hinterfragt wird, inwieweit Gender-Stereotype sich bis in die Jazzgeschichtsschreibung und –pädagogik finden lassen (James Reddan), wie Frauen in drei verschiedenen “textbooks” zum Jazz erwähnt werden (Ramsey Castaneda, Amanda Quinlan), wie die Gitarre eigentlich ein “gendered instrument” sei, also eines, das mit einem bestimmten Geschlecht verbunden wird, und wie man das ändern kann (Tom Williams). In einem eigenen Kapitel erzählt die Bassistin Jennifer Leitham von ihrer Transition von Mann zu Frau (Joshua Palkki, Carl Oser). Und dann lesen wir noch über den Versuch einer inklusiven Jazzpädagogik (Sonya R. Lawson), sowie über die Erfahrungen weiblicher Pädagoginnen in Hochschulkontext (Natalie Boeyink).
“Policy and Advocacy” schließlich beschreibt unter anderem die jüngsten Bestrebungen nach “gender justice” im Jazz (Betariz Nunes, Leonor Arnaut), die Erfahrungen von Musikerinnen in Spanien (Rebeca Munozu-García) und Südosteuropa (Jasna Jovicevic), Wege zur Geschlechtergerechtigkeit durch Mentorenschaft und andere Arten des Empowerment (Ellen Rowe) sowie die Rolle von Frauenkapellen in der Jazzgeschichte und -gegenwart (Monika Herzig).
Zusammen mit anderen Büchern zum Thema – beispielsweise denen von Sherrie Tucker oder dem bereits erwähnten Darmstädter Band zu “Gender and Identity” – bietet der “Routledge Companion to Jazz and Gender” eine gute Übersicht über den Forschungsstand. Bei der Lektüre wird schnell klar, dass es sich beim Thema um eine Entwicklung handelt, die noch lange nicht abgeschlossen ist. Wir befinden uns mitten im Diskurs, der im Buch immer wieder durchscheint, mit mal mehr, mal weniger Vehemenz, mit Erfahrungsberichten genauso wie Handlungsanleitungen. Das Buch ist ein akademischer Band geworden, dick also und nicht gerade preiswert, aber hoffentlich insbesondere an Hochschulen präsent und viel genutzt, erlaubt er doch eine kritische Selbstbetrachtung der Jazzlandschaft, die seit langem überfällig ist.
Wolfram Knauer (Dezember 2022)