In unserer Reihe "Und jetzt Jazz!" schreibt der ZEIT-Reporter Ulrich Stock in loser Folge über Musiken am Rande der medialen Aufmerksamkeit. Jeder Text kann gelesen werden als Teil einer unendlichen Recherche über Jazzdenken, Jazzmachen und Jazzleben.

… dass ich den Namen der Straße schon mal gehört hatte, man kommt ja über die Jahre herum in der eigenen Stadt, selbst wenn sie so groß ist wie Hamburg mit seinen 104 Stadtteilen. Auf nach Poppenbüttel also in den Müssenredder, dessen Name von Pflichterfüllung zu berichten scheint, sich allerdings als von üppigem Grün umranktes Bürgerparadies erweist, ein Baumtraum mit eingestreuten Einfamilienhäusern.

Nie hätte ich gedacht, ausgerechnet hier, in einem akkurat gepflegten Hintergarten, nach Monaten virusbedingter Hördürre, mein erstes Live-Konzert zu erleben: ein köstlicher Sonntagnachmittag bei praller Sonne und frischen Böen, die den Musikern auf der Veranda die Noten umblättern.

Am Saxofon Adrian Hanack, am Kontrabass Giorgi Kiknaze, der dem auf dem Rasen hygienisch verteilten Publikum "das tollste Lied der Welt" ankündigt, und, nachdem sie es gespielt haben, "noch ein tollstes Lied der Welt" und dann noch ein "allertollstes" und wahrlich ist es toll, toller und tollstens, nun endlich wieder Musik zu hören und zu sehen.

An einem Sonntag in Poppenbüttel: links am Saxofon Adrian Hanack, rechts am Kontrabass Giorgi Kiknaze © Ulrich Stock

Die beiden spielen Standards, Jazzballaden aus den Zwanziger- bis Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts, und sie tun es so lässig wie beschwingt. Stardust von Hoagy Carmichael, The Jitterbug Waltz von Fats Waller, den Basin Street Blues, mit dem Louis Armstrong einst die Säle eroberte. Wie gut der unverstärkte Kontrabass bei Wind und Wetter klingt! Die hervorgezogene Markise und das Wohnzimmerfenster bilden einen verblüffenden Resonanzraum.

Die quirlige Herrin des Hauses, Frauke Schreck, die sich ihren wenigen Gästen qua Lebensalter als "Risikogruppenangehörige" vorstellt, hat nicht nur für die Musik in die Tasche gegriffen (die Gastgeber zahlen die Gage), sondern tischt mit Unterstützung ihrer Lieben auch Erdbeeren und Selbstgebackenes auf, Nusstörtchen, Cremetorte, Kaffee und – kaum ist das alles probiert und goutiert – noch Rotwein und Champagner. Schließlich muss das historische Ereignis gefeiert werden.

Die Stimmung im Garten mit Ehemann, Tochter, Schwiegersohn und Enkeln ist euphorisch. Hinter der Hecke haben die Nachbarn ihr eigenes Mehrgenerationenfestchen mit quiekenden Kindern organisiert, alles auf Abstand. Von oben, aus dem Dachfenster nebenan, schwenkt ein Seniorenpaar die Strohhüte. Party ist keine Frage des Alters!

Die Freude wird durch die Anwesenheit eines NDR-Teams noch gesteigert: Wann kommt der eigene Garten je ins Fernsehen? Alle spüren: Das Private im Filmbericht wird öffentliche Wirkung zeigen.

Und so ist es. Bei Eva Johannsen, die das Projekt "Jazzvisite" zum Laufen bringt, wird das Telefon hinterher nicht mehr stillstehen und sich das Mail-Postfach füllen. Vor allem Jazzmusiker scheinen das Hamburg Journal im NDR zu schauen und melden sich nun: Sie würden gern, sie könnten auch.

"Etliche kenne ich gar nicht", sagt Eva Johannsen, dabei kennt sie sehr viele, macht sie doch seit 18 Jahren den "Jazzraum", die montägliche Reihe im Hafenbahnhof, der gegenüber den neugebauten Hochhäusern an der Elbe langsam im Lehmboden Altonas zu versinken droht. Wenn man vor der Kaschemme steht, kuckt grad noch das Dach raus.

Jeden Montag Jazz, rund ums Jahr, immer abends um halb zehn, freie, fantasievolle Musik in einer staubtrockenen Akustik mit Eva Johannsen hinterm Tresen. Sie stellt die Ohren auf und die Biere kalt.