Pianist über künstlerische Arbeit: „Musik ist wie Trinkwasser“

Der Hamburger Pianist Florian Heinisch erfreut sich aufgrund seiner Verve und seinen ambitionierten Programmen immer größerer Aufmerksamkeit.

Florian Heinisch vorm Hamburger Hafen

Könnte 24 Stunden am Tag am Flügel sitzen: Pianist Florian Heinisch Foto: Miguel Ferraz

taz: Herr Heinisch, wären Sie ohne Ihre Großmutter Pianist geworden?

Florian Heinisch: Wahrscheinlich. Schon als Kind wollte ich spielen. Aber meine Großmutter, Kirchenorganistin in Frankfurt/Oder, war schon eine außergewöhnliche Frau, die sich leidenschaftlich der Musik verschrieb und diese Begeisterung auch auf andere übertrug

Dabei hatte sie es sicher nicht leicht in der kirchenfernen DDR.

Mein Großvater war Pfarrer; dadurch war sie wohl ein bisschen geschützt. Sie hat allerdings wenig über diese Zeit gesprochen.

Wie haben Sie sie musikalisch erlebt?

Das war durchaus prägend: Schon wenn ich als Kind in die Wohnung meiner Großeltern kam, war ich hin und weg: Da standen ein Steinway-Flügel, eine Heimorgel, ein Spinett! Und wenn wir zu Besuch waren, musizierte die ganze Familie. Das war für meine Großmutter ein heiliges Ritual, das wir bis heute auf Familienfeiern pflegen.

Ihre Eltern haben Sie von klein auf unterstützt und zu Wettbewerben gefahren. Haben Sie das nie als Drill empfunden?

Soweit ich mich erinnern kann, war es immer meine eigene Entscheidung. Es gab natürlich schwierige Phasen, aber gezwungen wurde ich nie.

Geboren 1990 in Eisenach, studierte an der Leipziger Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“. Der Wahlhamburger gastierte unter anderem in Paris, Amsterdam, Bremen sowie bei Philharmonischen Staatsorchester Hamburg.

Welche schwierigen Phasen meinen Sie?

Als Musiker müssen Sie immer abwägen, wie viel Arbeit, Leidenschaft, Zeit Sie investieren. Wie tief gehen Sie in die Musik hinein? Das ist ein Fass ohne Boden. Ich könnte mich 24 Stunden an den Flügel setzen und wäre immer noch nicht fertig. Die Frage ist: Wann gönne ich mir Entspannungsphasen, in denen ich den Geist schweifen lasse, vielleicht Inspiration bekomme? Da die richtige Balance zu finden, fiel mir als junger Mensch schwer.

Heute nicht mehr?

Inzwischen weiß ich ziemlich genau, was ich brauche. Das ist natürlich nie in Stein gemeißelt, aber im Moment fühle ich mich gut im Gleichgewicht.

Was erwarten Sie generell von der Musik? Dass sie Ihnen hilft zu leben?

Musik ist mein Leben. Das sagen wahrscheinlich viele, aber für mich ist Musik wie für andere das Wassertrinken. Sie ist ein unverzichtbarer Bestandteil meines Lebens – und, wie ich finde, unser aller Leben. Wenn wir zu empathischen Menschen werden wollen, kommen wir an Musik – wie an jeder Facette von Kultur – nicht vorbei. Sie ist das, was Geist und Seele Nahrung gibt.

Wenn die Musik Ihr Leben ist: Laufen Sie als Profimusiker nicht Gefahr, Ihre Seele zu verkaufen?

Das klingt so negativ. Ich würde eher sagen: Ich gebe meine Seele dem hin und kann nicht mehr zurück.

Und wie verläuft Ihre Begegnung mit einem neuen Stück?

Ich lese Biografien des Komponisten und befasse mich mit der Epoche. Mit diesem Wissen versuche ich das Stück „wörtlich“ zu spielen, bis ich es verinnerlicht habe. Danach geht die echte Arbeit los, und ich fange ich an, meine Persönlichkeit einfließen zu lassen. Je länger ich an einem Stück arbeite, desto mehr Freiheiten erlaube ich mir.

Lässt sich dieses „Freischwimmen“ steuern?

Am Ende lässt es sich nicht mehr steuern, daher ist das erwähnte Fundament so wichtig. Auf dieser Basis kann ich mir im Konzertsaal die größtmöglichen Freiheiten erlauben, ohne die Persönlichkeit des Stücks zu stören. Dazu kommen die äußeren Faktoren: Ich finde jedes Mal ein anderes Instrument vor, einen anderen Raum, ein anderes Publikum. Und genau das freut mich so: dass jedes Konzert anders ist und dass das nicht nur von mir abhängt.

Die Dechiffrierung musikalischer Botschaften sei wichtig, betonen Sie im Booklet Ihrer Beethoven-CD „An die unsterbliche Geliebte“. Sie machen das fest an einer Sequenz, die sich als ein Seufzer des Komponisten deuten lässt, gerichtet an Josephine von Brunsvik. Widerspricht diese Akribie nicht Ihrer Idee von Freiheit?

Ich finde nicht. Natürlich könnte man sagen, dass es egal ist, wen Beethoven 1812 in seinem „Brief an die unsterbliche Geliebte“ meinte, deren Identität ja immer noch unklar ist. Trotzdem finde ich es interessant, darüber nachzudenken, denn hier offenbart sich ein Teil seines Seelenlebens. Und wenn ich mich mit einem Komponisten befasse – und Beethoven hat als einer der ersten eigene Gedanken und Emotionen so intensiv in seine Musik gebracht – dann muss ich mich auch dem Chiffrierten widmen.

Muss man dem Komponisten sein Geheimnis entreißen?

Na ja, ganz geheim wollte er es wohl doch nicht halten, sonst hätte er es nicht chiffriert. Darin besteht ja gerade der Widerspruch des Komponisten: dass er einerseits Dinge im Geheimen lassen, andererseits ein Rätsel zum Knobeln aufgeben möchte.

Glasklar ist dagegen der Hintergrund von Karlrobert Kreitens „Ungespieltem Konzert“, das Sie 2016 erstmals seit seinem Tod aufführten.

Ja. Der 27-jährige Nachwuchspianist wurde 1943 unmittelbar vor einem Konzert in Heidelberg verhaftet und später in Berlin-Plötzensee hingerichtet. In dem Projekt wollte ich die Stücke, die Kreiten nicht mehr spielen konnte, dem Publikum wiedergeben und an das Schicksal dieses Musikers erinnern.

Kreiten wurde wegen weniger unbedachter Sätze denunziert – und ermordet.

Ja. Gegenüber einer Freundin seiner Mutter hat er angesichts der Niederlage der deutschen Wehrmacht bei Stalingrad gesagt, dass der Zweite Weltkrieg verloren und Hitler „wahnsinnig“ sei. Die Frau verriet ihn ans NS-Regime und schickte ihn so in den Tod. Dass hier jemand, der doch nur die Wahrheit sagte, ermordet wurde, geht mir bis heute nahe. Deshalb – und weil ich nun mal dem Volk der NS-Täter angehöre – fühle ich mich verpflichtet, die Erinnerung an ihn und alle anderen Opfer des NS-Regimes wachzuhalten.

Für dieses Jahr hatten Sie ein Konzert geplant unter dem Titel „Wilde Fantasien für eine Welt ohne Grenzen“ – das klingt politisch. Welches ist die Idee dahinter?

Dass wir in einer idealen, grenzenlosen Welt alle so respektvoll miteinander umgehen, dass die Herkunft keine Rolle spielt. Ich finde es wichtig, das jetzt zu sagen, weil die aktuellen Entwicklungen – auch schon vor der Coronakrise – eher in die andere Richtung gehen. Man schließt Grenzen, nimmt Freiheiten weg. Dem möchte ich eine Vision entgegensetzen.

Aber was haben die Stücke dieses Programms – von Beethoven, Mendelssohn, Ligeti und Schumann – mit offenen Grenzen zu tun?

Jedes Stück ist entweder als Fantasie bezeichnet oder transportiert fantastische und damit visionäre Gedanken. Der zweite Aspekt betrifft die Struktur. Generell gibt es ja zwei Formen von Musikstücken: diejenige, deren Komponist eine sehr feste Struktur anlegt, in deren Grenzen man sich dann bewegt – wie bei einer Sonate oder Sinfonie. Das andere Extrem ist: Der Komponist löst die Strukturen auf und versucht innerhalb des Chaos neue zu schaffen – wie in der musikalischen „Fantasie“. Die Stückauswahl steht also auch für das Wechselspiel von Struktur und Chaos, von starrer „Grenzsicherung“ und toleranter Durchlässigkeit.

Sprengen Sie die Grenzen der klassischen Musik manchmal auch durch Improvisation?

In der Tat habe ich eine Zeit lang Improvisationsunterricht genommen, weil mich das interessierte. Und im Konzert ist es natürlich gut zu wissen, dass man im Notfall improvisieren könnte. Es nimmt einem die Angst, dass Fehler passieren, aus denen man nicht mehr herausfindet. Und was die konkreten Noten betrifft: Natürlich sind bei klassischer Musik Lautstärke und Tempo angegeben. Aber dazwischen liegt viel „Ungesagtes“, das interpretiert werden muss. Und hier fangen wir an, über Improvisation zu sprechen.

Die haben Sie unter anderem bei dem Jazzpianisten Richard Beirach gelernt. Hat das Ihr Spiel verändert?

Ja. Erstens hat mir dieses Studienjahr den Tunnelblick genommen. Viele Klassik-Musiker glauben ja, Jazz sei bloß „zweite Liga“. Wie ich erstaunt feststellte, ist das im Jazz anders. Alle Jazz-Musiker, denen ich begegnet bin, haben eine riesige Hochachtung vor uns klassischen Musikern. Auch Beirach findet, dass jeder Jazzpianist Beethoven und Bach auf hohem Niveau spielen können muss. Und es war faszinierend zu erleben, mit welcher Freiheit Beirach Bach spielte. Das war so lebendig und klang, als ob das Stück in diesem Moment entstünde. Es war eine spannende Art Musik zu spielen: als ob Gegenwart und Vergangenheit zu einer Symbiose verschmölzen.

Spielen auch Sie seither Beethovens extrem schwere „Hammerklaviersonate“, als ob sie Ihnen gerade erst einfiele?

Ich versuche es.

Derzeit ist öffentliches Musizieren nicht möglich. Ein Problem für Sie?

Ich empfinde es als sehr schwierige Zeit. Durch Konzerte mit dem Publikum zu kommunizieren verleiht meiner Arbeit erst Sinn. Deshalb fühlt sich die aktuelle Zwangspause wie ein vorübergehendes Berufsverbot an.

Die Krise bietet also keinerlei Chance?

Allenfalls, dass die Menschen vielleicht begreifen lernen, dass Kultur nicht selbstverständlich ist, sondern etwas Kostbares. Musik oder Kunst gelten oft als Dinge, die „Spaß machen“. Aber für uns Kulturschaffende ist das kein unverbindlicher Spaß, den man nach Lust und Laune konsumiert. Für uns ist das eine ernste Sache.

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