In unserer Reihe "Und jetzt Jazz!" schreibt der ZEIT-Reporter Ulrich Stock in loser Folge über Musiken am Rande der medialen Aufmerksamkeit. Jeder Text kann gelesen werden als Teil einer unendlichen Recherche über Jazzdenken, Jazzmachen und Jazzleben.

… und es ja die Frage ist, was hören und sehen wir eigentlich noch jenseits unserer häuslichen Schirme mit den Infotröpfchen aus dem weltweiten Netz? Ich war als Jazzreporter vor einigen Wochen in Gütersloh, als Zweitagesgast, und wenn ich das jetzt mit etwas Abstand so hinschreibe, dann schaudert's mich fast, dann klingt das nach einer riskanten Expedition, aber ich kann Sie beruhigen: Das war vor Corona! Da konnte man noch hinfahren, wohin man wollte, unmaskiert in den Zug steigen und für drei, vier Stunden des Unterwegsseins unbesorgt durchatmen.

Ja, es war die Expedition in eine Gegenwart, die im Moment der Bereisung noch als unbestimmt fortdauernd erlebt wurde und erst jetzt als gründlich vergangen identifiziert wird. Das Kulturleben ist überall implodiert, so auch in Gütersloh, und in der textlichen Rekonstruktion schimmert die Frage durch, ob es wieder so werden wird, wie es war, demnächst, bald oder irgendwann.

Ankunft in der Bahnhofshalle: "Willkommen in Gütersloh!" Man kennt solch ein an die Wand gepinseltes Hallo, findet es an Orten, an denen Zeit Geld ist, niemand Zeit für Persönliches hat und Zugereiste trotzdem irgendwie angesprochen werden sollen. "Danke, Gütersloh", möchte ich gleich dazuschreiben, als mein Blick auf das riesige Wort fällt, das hinter dem Schriftzug prangt: Miele.

Ist das nicht Italienisch? Heißt das nicht Honig? Ist Gütersloh die Stadt, in der Milch und Honig fließen? Ein schöner Gedanke, wenn man das städtische Kulturamt besuchen will. Wo die Gewerbesteuer sprudelt, wird nicht am Hungertuch genagt werden müssen. Gütersloh, 100.000 Einwohner zählende Heimstatt der Waschmaschinen und des global agierenden Bertelsmann, bei dir muss Kunst doch drin sein!

Und ist auch. In der weitläufigen Stadthalle, gelegen am Ende eines kilometerlangen Fußwegzickzacks, begrüßt mich Lena Jeckel, die Chefin hier, Grund meines Kommens. Eine Jazzmusikerin an den Schalthebeln einer städtischen Kulturbehörde?! Das ist die Frage (mit Ausrufezeichen), der hier jetzt nachgespürt werden soll.

Was hat sie es schön in Gütersloh: abends Konzerte, am Wochenende Festivals, oft ein volles Haus, auch im schick-weißen Stadttheater, zuletzt der WDR-Jazzpreis, ein zweitägiges Musikfest mit Tombola. Und sie: eine lässige Frau Ende dreißig, Bassistin, Mutter eines Viertklässlers, Führungskraft mit untertöniger Strenge. Sie führt mich in ihr Büro, beiläufig eingerichtet, die Digitaluhr stehen geblieben, die Kaffeesahne abgelaufen, aber noch nicht am Ausflocken, ein Dienstzimmer grad so ungemütlich wie backstage. Sie war ja jahrelang auf Tour.

Ambition statt Repräsentation. Lena Jeckel verfügt über einen Millionenetat und weiß, "dass ich Kultur nicht für mich mache, sondern für die, die hier leben". Im Alltag balanciert sie auf dem heiklen Grat zwischen Anspruch und Zuspruch, weder zur einen noch zur anderen Seite hin abstürzen dürfend, und das angesichts "des großen Rückzugs nach Hause, in die digitalen Medien", dieses Megatrends der Gegenwart.

(An dieser Stelle stockt der Bericht des Jazzreporters: Locker plaudert die Kulturchefin vom großen Rückzug nach Hause, als der noch gar nicht stattgefunden hat. Gutes Gespür in Gütersloh? Oder zeigt sich unter dem Eindruck des Virus nur deutlicher, was in aller Stille lang begonnen hatte: das isolierte Sicheinrichten vor den privaten Endgeräten, gern mit Dosenbier und angelieferter Nahrung?)

Lena Jeckel vertraut auf persönliche Ansprache. Sie sei bei den Konzerten, die sie organisiert, zugegen, suche die Nähe zu den Musikern wie zum Publikum. So bekomme sie ein Gefühl für die Stimmung, für die Ansichten. "Ich finde diesen analogen Weg auch ganz gut, um einer Reizüberflutung entgegenzusteuern." Was zudem gut sei in dieser Stadt: "Es geht nicht nur darum, Säle auszuverkaufen, sondern auch darum, Impulse zu geben." So könnten auch mal nur 150 Leute zu einer Veranstaltung kommen, ohne dass von oben gleich ein Druck da wäre, es müssten mehr sein.

Provinzielles Publikum mit offenen Ohren

Man wisse ja eh nie, wie viele Leute kämen, sagt sie. Im schon immer beachtlichen Jazzangebot von Gütersloh wachse die Zahl der Abonnenten Jahr um Jahr, und das, "obwohl sie nicht wissen, was kommt". Denn Lena Jeckel holt auch Musik in die Stadt, die man hier noch nie gehört hat.

Ein provinzielles Publikum mit offenen Ohren – das ist Deutschland, wie es internationale Musiker kennen und lieben. Jeckel berichtet von Konzerten, nach denen eine Band 40 CDs verkaufe, obwohl sie im Saal kaum jemand vorher gekannt habe.

(Und wieder muss der Jazzreporter die Niederschrift unterbrechen. Eine Band, die nach dem Auftritt 40 CDs verkauft, das ist schon was. Aber jetzt, in den Viruswirren, wirkt das alles so riesengroß: eine Band, die anreist und spielt, ein Publikum, das sich versammelt, die Köpfe zusammensteckt, sich Alben signieren lässt mit Stiften, die durch viele Hände gehen, die im Übrigen auch geschüttelt werden; Selfies begeisterter Fans mit ihren Musikern, Seite an Seite.)

Bis vor zwei Jahren arbeitete Lena Jeckel nebenan in Bielefeld, ihrer Heimatstadt, als Geschäftsführerin vom Bunker Ulmenwall. Was martialisch klingt, war martialisch. Der unterirdische Club, vom Treppeneingang in die Tiefe her einer Subway-Station nachgebildet, hatte im Zweiten Weltkrieg dem Luftschutz gedient. Frauen und Kinder drängten sich zwischen die Mauern, um den alliierten Angriffen zu entgehen, während ihre noch nicht gefallenen Männer das Ausland verwüsteten. Seit 1956 gibt's im Bunker Jazz, rekordverdächtig. Carla Bley, Chick Corea, Archie Shepp, Chet Baker, Michael Wollny haben hier gespielt.