Jazz von Shabaka Hutchings : Männer müssen sich zu ihrer Verletzlichkeit bekennen
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Er versöhnt die Bebop-Tradition mit dem karibischen Straßenkarneval: Shabaka Hutchings. Bild: Picture-Alliance
Geh, ruf es von den Bergen: Der Saxophonist und Klarinettist Shabaka Hutchings erneuert mit seinem Album „We Are Sent Here By History“ den spirituellen Jazz.
Zurück in die Zukunft: In Westafrika leben die Griots, die Geschichte in Form von Geschichten an nachfolgende Generationen weitergeben. Die Weisheit der Vergangenheit wird von ihnen gesammelt, um Schicksale der Gegenwart und Zukunft mitbestimmen zu können. Auch nach der Entdeckung des geschriebenen Worts galten die Griots lange Zeit als die sicherste Instanz, um Wissen aufzubewahren – Schriftrollen konnten verlorengehen und Buchsammlungen in Brand geraten. Doch die erzählbaren Geschichten wurden im kollektiven Bewusstsein sicher verwahrt. Eingeschrieben in unsere Gene, konnten sie individuelle Tragödien überleben und sich in der Zeit behaupten. In diesem Sinne sind Griots viel mehr als Historiker, sie repräsentieren ganze Bibliotheken. „Unser neues Album ist der Versuch, diese Griot-Tradition in einem transatlantischen, modernen Kontext weiterzuführen“, erklärt der Saxophonist und Klarinettist Shabaka Hutchings. Und doch dreht er jetzt auf „We Are Sent Here By History“ (Impulse/Universal) die Perspektive um: Es ist ein Rückblick auf die Gegenwart aus einer nicht allzu weit entfernten Zukunft.
Dass die Veröffentlichung des zweiten Albums mit seiner Band The Ancestors zeitlich genau mit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie zusammenfiel, ist natürlich ein Zufall – aber ein sehr aufschlussreicher: Das Album wirkt wie eine Art „akustische Zeit-Kapsel“, die – im Sand vergraben – zurückgelassen wurde, um von zukünftigen Entdeckern nach der Apokalypse gefunden zu werden. Es warnt nicht länger vor einem zukünftigen Zusammenbruch, sondern versteht sich als Tatsachenbericht all der Fehler und Versäumnisse, die für den Niedergang verantwortlich waren. Oder wie Shabaka Hutchings formuliert: „In Zeiten wie diesen, in denen wir den Zusammenbruch vieler Institutionen erleben, von denen wir dachten, dass sie noch sehr lange Bestand haben würden, müssen wir anfangen zu überdenken, was es bedeutet, zu leben, was es heißt, zu helfen, und welche Bedeutung das Konzept des Fortschritts überhaupt noch hat.“
Ein starkes Fundament
In den vergangenen zehn Jahren hat kein anderer Musiker mit solch unermüdlicher Energie die Jazz-Diaspora in der englischen Hauptstadt befeuert wie Shabaka Hutchings. Er bildet das Gravitationszentrum der neu erwachten Londoner Jazzszene. Leichthändig leitet der Sechsunddreißigjährige drei Formationen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Mit seinen Sons Of Kemet, einem Quartett mit Saxophon, Tuba und zwei Perkussionisten, versöhnt er die Bebop-Tradition mit dem karibischen Straßenkarneval auf Barbados, wo der britische Staatsbürger mit seinen Eltern zehn Jahre lang lebte. Das Trio The Comet Is Coming versucht sich dagegen mit elektronischen und akustischen Mitteln an einem kosmischen Space-Jazz. Doch erst Shabaka And The Ancestors, sein seit 2016 in Südafrika beheimatetes Sextett, schlägt die Brücke vom spirituellen Jazz eines John Coltrane und Pharoah Sanders über den Afro-Futurismus von Sun Ra bis zum Hip-Hop-Groove unserer Tage. Mit der Verpflichtung von Shabaka Hutchings und seinen drei Band-Projekten hat sich das renommierte amerikanische „Impulse!-Label“ – Jazzheroen wie Sonny Rollins, Charlie Mingus, John Coltrane oder Archie Shepp veröffentlichten hier ihre wichtigsten Alben – wieder an die Spitze der Jazz-Avantgarde katapultiert. Danny Bennett, der Präsident des Verve-Labels, zu dem auch das Impulse!-Label gehört, erklärt denn auch selbstbewusst: „Jazz entwickelt sich gerade zur musikalischen Alternative des 21. Jahrhunderts.“