Maske ab, Ohren auf – Seite 1

Fünf Monate und zehn Tage ohne Publikum in einem Haus, das sonst immer, immer, immer ausverkauft ist. Was haben sie dort in dieser Zeit gemacht? "Rückerstattet", sagt der freundliche Mitarbeiter im Ticketcenter der Elbphilharmonie. 250.000 Eintrittskarten waren es, die keinen Eintritt mehr gewährten.

Und jetzt kommen wieder Leute, an diesem Sonntag, dem 23. August 2020, der in die Geschichte des Hamburger Konzerthauses eingehen wird: als Tag des "Testkonzerts" unter Corona-Hygienebedingungen. Markiert das historische Datum die Wende zum Besseren? Oder ist es nur ein trügerisches Zwischenhoch auf dem Weg in eis neues Tal sozialer Isolation?

Das weiß niemand. Aber die Freude ist so viel stärker zu spüren als aller Zweifel. Die Freude im Ticketcenter, bei der Einlasskontrolle, an den Türen zum großen Saal. Endlich Musik, endlich Menschen! Alle sind eingeladen. Keiner muss zahlen. Dafür sind die Gäste Versuchskaninchen. So vieles wird ja jetzt getestet, um Befürchtungen durch Befunde zu ersetzen.

Von den insgesamt 2.100 Plätzen des Großen Saales werden nur 628 vergeben. Die ersten beiden Reihen vor der Bühne bleiben frei; zwischen den Sitzen klaffen große Lücken. Man kann die Arme über die benachbarten Lehnen ausbreiten, wie um den Durchmesser des eigenen Luftraums anzuzeigen; manch einer tut es. Es gibt auch Zweier- und Vierersitzgruppen für Kunstsinnige, die als Hygienegemeinschaft antreten.

Statt eines langen Abends mit potenziell infektiöser Pause gibt es zwei zeitlich versetzte Sets ohne parakulturelle Schnörkel, sodass zweimal 628 Leute Einlass finden. Der Saal wäre somit pro ausverkauftem Spieltag zu immerhin zwei Dritteln gefüllt. Ob das Publikum aber gleich auch zahlend wiederkommen wird? Der Vorverkauf der am 1. September beginnenden Saison verläuft teilweise schleppend. Je schwieriger die Musik, desto größer das gesundheitlich bedingte Zaudern. Wer schon immer mal in Deutschlands populärstes Musikhaus wollte, aber nie eine Karte bekommen hat: Jetzt wäre die Gelegenheit. Maske auf und mutig voran!

Im Saal heißt es dann: Maske ab, Ohren auf. Die löchrig wirkenden Ränge dämpfen die Stimmung keineswegs, sie heben: Wie gut wir es doch haben! Alle, die auf den leeren Sitzen hätten Platz nehmen können, ahnen nicht, was ihnen entgeht.

Die Beatles! Aber so hat man ihre Musik noch nicht gehört. Arrangiert und dargeboten von der deutschen Jazzpianistin Julia Hülsmann, die den virtuosen Vibrafonisten Christopher Dell aus Berlin mitgebracht hat und den bei Zürich lebenden Posaunisten Nils Wogram, mit dem sie erstmals auf der Bühne steht.

"Plötzlich wusste man wieder, warum man das alles tut"

"Ah, look at all the lonely people": Die Leute waren hygienisch einwandfrei verteilt in der Elbphilharmonie zum Testkonzert. © Daniel Dittus

"Ah, look at all the lonely people", so geht es gleich beziehungsreich los mit Eleanor Rigby. In der folgenden Stunde kennt man alle Titel von Come Together bis Strawberry Fields, auch wenn einem die Songnamen nicht immer gleich einfallen wollen. Nicht nur die Beatles sind betagt oder schon tot, das Publikum ist ja auch schon ein wenig angejahrt.

Dass die Fab Four hier so hingebungsvoll beatmet werden, hat seinen Grund darin, dass sie vor 60 Jahren ihr erstes Konzert in einer nahen Kaschemme gaben, was in Hamburg als Beitrag zum Weltpopkulturerbe verstanden wird. Ist nachvollziehbar in einer Stadt, in der es meist nur für maritimes Geraune und Genöle reicht, von Hans Albers bis Udo Lindenberg.

Hülsmann, Dell und Wogram setzen die ewigen Melodien von John Lennon und Paul McCartney verwegenen Improvisationstests aus. Eben noch Ohrwurm, dann Wohrurm, Wrohmur, Rumwohr, dann wieder Ohrwurm. Drei fabelhafte Solisten, die ins musikalische Erbgut ihres Publikums eingreifen, und manch eine Sequenz ganz schön ins Schwingen bringen.

Im Saal sind die Leute angetan, begeistert. Es wird sogar gejuchzt am Schluss, was ansteckend wirkt. Auch die Musiker sind gerührt, bewegt, endlich wieder Menschen sehen zu können, die ihnen zuhören. Julia Hülsmann erzählt tags darauf beim Frühstück, wie "privilegiert" sie sich fühlt, "das hier ausprobieren zu können".

"Es war ein berauschendes Erlebnis, ergreifend", simst Nils Wogram, schon unterwegs im Zug nach Zürich. "Plötzlich wusste man wieder, warum man das alles tut."

Christopher Dell rühmt das Publikum: "Wie diszipliniert! Zweitausendmal disziplinierter als in jedem Flieger, in jeder Bahn, in jeder Shoppingmall oder Fleischfabrik. Ich kann also Entwarnung geben: Die Kultur ist nicht gefährlich!"

Aber was ist mit dem Mann links in Reihe 5, der die ganze Zeit gehustet hat?

Dell ist unbeeindruckt. "Das Husten gehört zur philharmonischen Halle wie das Marzipan nach Lübeck. Das hat es immer gegeben. Der Mann hustet und die Frau schubst ihn immer, weil sie sich schämt. Das ist Teil der Sache und Teil des Tests, dass man sich da entspannt."

Nun denn, die Elbphilharmonie hat von allen Gästen Name und Anschrift, und wenn hier was schiefgegangen sein sollte, müssen ein paar Testhörer hinterher getestet werden.

Hülsmann, Dell und Wogram haben am 17. August, noch ohne Publikum, im kleinen Saal der Elbphilharmonie ein Streaming-Konzert gespielt. Auch der Popsänger Tim Bendzko gab zuletzt ein Testkonzert, allerdings in Leipzig und eher zu wissenschaftlichen Zwecken.