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Vier Schlägel, alle Sinne. Christopher Dell 2019 in der Salzburger Galerie 5020.M

© imago images/Rudolf Gigler

Zwischen Komposition und Improvisation: Das ewig Vorläufige ist mein Ziel

"Das Arbeitende Konzert": Der Komponist und Vibrafonist Christopher Dell erklärt die Strukturen seiner musikalischen Welt.

Von Gregor Dotzauer

Einmal vergleicht er sein Buch mit Aby Warburgs „Bilderatlas Mnemosyne“ – nur dass er statt visueller ausschließlich musikalische Muster sammelt. „Formblock“ sind die meisten von Christopher Dells Notenblättern überschrieben, manche davon rein grafischen Inhalts. Es gibt ein „Pattern Reservoir“, einen „Harmonic Pool“ und „Faust Link Actions“. Insgesamt 35 Seiten Material, das von Tempo- und Registeranweisungen bis zu akribisch festgehaltenen Tonreihen reicht.

Bausteine eines Werks, das eigentlich kein Werk ist, sondern ein unendlicher Prozess. Jede Realisierung, die „Das Arbeitende Konzert“ erfährt, ist schon eine Revision. Insofern schafft der auf Seite 199 abgedruckte QR-Code, der zum Download der jüngsten, parallel auf einer Doppel-CD erschienenen Aufnahmen berechtigt, vollendete Tatsachen, die mit Vorsicht zu genießen sind.

[Christopher Dell: Das Arbeitende Konzert / The Working Concert. Spector Books, Leipzig 2020. 202 Seiten, 28 €.]

Was hier ein Sextett mit dem Schlagzeuger Christian Lillinger und dem Bassisten Jonas Westergaard an oftmals kleinsten Klangereignissen zusammenträgt, lässt sich nur als Dokument eines ewig Vorläufigen würdigen, das in seiner Spontaneität zugleich von einer erfüllten Gegenwart zeugt. Das gilt umso mehr, als Christopher Dell einen großen Teil seiner Musik nicht als reine Musik versteht, sondern als Installation in einem konkreten Raum: Man hat sie eigentlich nur live wirklich erlebt.

Ein Mann mit mindestens drei Leben

Dennoch vermittelt die Verbindung von Theorie und Praxis einen seltenen Einblick in den Entwicklungsstand einer Musik, die den Abgrund zwischen Komposition und freier Improvisation zu schließen versucht: Wer sie nur hören würde, käme ihren inneren Gesetzen von alleine kaum auf die Spur. Wer sich nur mit ihrer intellektuellen Konzeption auseinandersetzen würde, könnte sich ihre klanglichen Reize schwer vorstellen.

Dell, 1965 in Darmstadt geboren und seit vielen Jahren in Berlin zu Hause, führt mindestens drei miteinander kommunizierende Leben. Eines als Jazzmusiker, der auf seinem Instrument, dem Vibraphon, zur europäischen Spitze zählt und mitreißend swingen und grooven kann – etwa als Teil von Wolfgang Haffners Band. Eines als habilitierter Stadt- und Architekturtheoretiker, der zwischen der Hamburger HafenCity Universität und der Münchner TU schon zahlreiche Gastprofessuren im Bereich Urban Design übernommen hat:

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Eines seiner früheren Bücher heißt nicht von ungefähr „Stadt als offene Partitur“. Und eines als komponierender und improvisierender Musikforscher, der in seinen Ensembles Strukturpartikel aufeinander reagieren und zu offenen Großformen wuchern lässt.

„Das Arbeitende Konzert“, für ein internationales Publikum auf Englisch geschrieben, gewinnt seinen besonderen Reiz aus der doppelten Perspektive, die Dell als semiotisch und medientheoretisch geschulter, keine philosophische Referenz und Abstraktion scheuender Musiker und Kenner bildender Kunst einnimmt.

Musikalisch kann man Dell stark verkürzt zwischen dem seriellen Denken von Pierre Boulez und dem afroamerikanischen Selbstverständnis des gerade ans Berliner Wissenschaftskolleg eingeladenen Posaunisten und Improvisationstheoretikers George Lewis verorten. In der Kunst bezieht er sich, um hier gar nicht erst mit Namen anzufangen, auf Minimal Art, konzeptuelle Kunst und die Techniken von Montage und Assemblage.

John Cages Schwächen überwinden

Die Bewunderung für die Zufallsprinzipien, die John Cage oder Earle Brown in den 1950er und 1960er Jahren kompositorisch walten ließen, erscheint Dell als blind. Sie hätten lahme, uninspirierte Aufführungen zur Folge gehabt, die das Publikum gelangweilt und unberührt zurückließen. Der Ausweg besteht für ihn darin, metrisch definierte Elemente und exakt Notiertes ins Undefinierte und Unnotierte einzuführen und umgekehrt.

Im „Arbeitenden Konzert“ geht es ihm darum, dem Geschehen einen Vektor mitzugeben, der die beteiligten Musiker vor totaler Subjektivität und richtungslosem Desinteresse bewahrt. Dell plädiert sowohl für das Unbestimmte oder Aleatorische wie für das Festhalten an musikalischen Rastern, die in der mehrfachen Überlagerung Räume von schwer überschaubarer Komplexität ergeben. So zielt er auf eine Form, die durch das Aushandeln des vorhandenen Materials in der gemeinsamen körperlichen Erfahrung erzeugt wird – Musik als Diskursprojekt.

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Mit dieser ästhetischen Ausrichtung verbindet sich für ihn auch ein gesellschaftlicher Auftrag: „Die Verpflichtung zu politischer Veränderung kann sich nicht auf Kritik und Widerstand beschränken, sie geht auch mit der Herstellung neuer ästhetischer Dispositive und Wahrnehmungsgewohnheiten einher.“

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Die Musik, die dabei entsteht, verachtet nichts mehr als das Eingängige. In ihrem nichtlinearen, jedem vertrauten Vokabular aus dem Weg gehenden Charakter sucht sie Komplexitätssteigerung um jeden Preis: Je mehr Elemente sie verschaltet, desto freier fühlt sie sich. Das ist mitunter anstrengend, gibt sich aber zumindest keinen falschen Illusionen hin.

Mit steigender Komplexität gewinnt der Einzelne auch in urbanen Gefügen Handlungsoptionen hinzu. Dell hält es da mit dem Philosophen Mark C. Taylor: „Sobald alles transparent wird, verschwinden Tiefe und inneres Leben.“ Das ist kein schlechtes Motto, um sich dieser Welt zu nähern.

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