Manchester: Einst Joy Division, heute Jazz

Die Musikmetropole lieferte immer wieder spannende Impulse, vom Post-Punk bis zum Britpop. Inzwischen geben Musiker mit Jazz-Erfahrungen wie GoGo Penguin und Matthew Halsall den Ton an.

Christoph Wagner
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Matthew Halsall sorgt für neue Töne in der Musikszene Manchesters.

Matthew Halsall sorgt für neue Töne in der Musikszene Manchesters.

PD

Manchester hat musikhistorisch einiges Gewicht. In die Pop-Annalen schrieb sich die Industriestadt im Norden Englands bereits Ende der 1970er Jahre ein, als der Post-Punk und Synthi-Pop von Joy Division, New Order, The Smiths sowie das Label Factory Records für Furore sorgten. Später rückten Oasis mit ihrem robusten Britpop die Stadt abermals ins Rampenlicht.

Was den Jazz betrifft, blieb Manchester lange blass. Aber gerade jetzt ändert sich das. GoGo Penguin war die erste Gruppe, die die Stadt auf die Landkarte des Jazz setzte. In letzter Zeit finden auch der Trompeter Matthew Halsall und sein Gondwana Orchestra zunehmend Beachtung.

Heimspiele

Im Underground-Klub YES in der Charles Street herrscht am letzten Donnerstag jedes Monats stets reger Betrieb. Das ist jeweils der Termin für die «residency» des Bandleaders Matthew Halsall. Vier Stockwerke umfasst dieser neue Tempel der Kreativkultur, der in einem alten Backsteinbau im Zentrum Manchesters untergebracht ist. Im Erdgeschoss gibt es eine Bar mit Street-Food-Gastronomie, wo es zu moderaten Preisen ein Stück Pizza oder eine Portion Chips zu essen gibt, während die Dachterrasse zum Chillen einlädt.

Auf der Treppe ins Kellergeschoss stehen die Fans von Halsall Schlange. Junge Hipster sind in der Überzahl. Auf der kleinen Bühne drängen sich die sieben Musiker auf engstem Raum. Rechts steht eine riesige Konzertharfe, die viel Platz braucht, doch aus dem Sound des Gondwana Orchestra nicht wegzudenken ist. Denn Matthew Halsall verehrt die Harfenspielerin Alice Coltrane und hat deren «Spiritual Jazz» zum Leitstern erkoren. Der Auftritt beginnt tatsächlich mit sanftem Harfengezirpe, das in eine ruhig dahinfliessende Musik mündet, die grosse Bögen schlägt. Nach jedem Stück brandet begeisterter Beifall auf, der deutlich macht, dass Halsall hier ein Heimspiel hat.

Der Bandleader hat ursprünglich Tontechnik studiert und viel als Produzent gearbeitet. Er ist ein eher introvertierter Charakter, der leise redet und nicht unbedingt die Öffentlichkeit sucht. Als «ego-frei» beschreibt er seine musikalische Vision. Will heissen: Der einzelne Musiker soll im kollektiven Ensembleklang aufgehen. «Mein musikalisches Konzept kennt keinerlei Grenzen und umfasst theoretisch alle Stile», erklärt Halsall. «Jazz ist ja normalerweise eine Solistenmusik, in der sich die Instrumentalisten in den Improvisationen profilieren. Mir schwebt eine Ensemblemusik vor.»

Mit seiner Gruppe probt Matthew Halsall jede Woche mittwochs in seinem Heimstudio. Jede Probe wird auf 16-Kanal mitgeschnitten, um danach die brauchbaren Teile herauszudestillieren und weiter zu bearbeiten. «Anfangs war wenig festgeschrieben, inzwischen notiere ich die Stücke aus, wobei offenen Passagen viel Platz eingeräumt wird», erläutert er sein Konzept. «Die grösste Herausforderung ist es, komponierte Musik entspannt und frei zu spielen und nicht an den Notenblättern zu kleben. Das setzt intensives Proben voraus. Die Musik muss einem in Fleisch und Blut übergehen.»

Parallel zum Gondwana Orchestra hat Halsall vor zehn Jahren das Schallplatten-Label Gondwana Records gegründet, ungefähr zur gleichen Zeit, als die Streaming-Plattformen der Plattenindustrie das Wasser abzugraben begannen. «Jeder erklärte mich für verrückt, weil das Zeitalter der Schallplatte vorbei schien», erinnert sich Halsall. Und doch hatte er den richtigen Instinkt. Er nahm das blutjunge Trio GoGo Penguin unter Vertrag, das mit seiner Musik zwischen Minimalismus, Electronica, Post-Rock und Jazz den Nerv der Zeit traf.

GoGo Penguin hatte grossen Erfolg. Beim zweiten Album gingen die Plattenverkäufe förmlich durch die Decke. «Es war atemberaubend», erinnert sich der Labelchef. «Gerade hatten die drei noch in kleinen Kellerklubs in Manchester vor einer Handvoll Leute gespielt, und plötzlich traten sie weltweit in grossen Hallen und auf Festivals auf.» 2014 wurde GoGo Penguin für den Mercury-Preis nominiert – für das Independent-Label ein Triumph.

«Ich habe das Gefühl, dass die Magnetwirkung von London nachlässt. Man kann von anderen Orten aus ebenfalls erfolgreich sein», sagt Penguin-Bassist Nick Blacka. «Wir mögen Manchester. Es ist eine Stadt, die gross genug ist, um sich nicht klaustrophobisch zu fühlen, aber auch klein genug, um nicht in der Masse unterzugehen.

Trendsetter von morgen

Die stilistische Vielfalt in der Musikszene von Manchester manifestiert sich auch im breiten Sortiment von Gondwana Records. Das Spektrum der Veröffentlichungen reicht von Jazz und Soul über Elektropop und Electronica bis zu neuem Folk, und das Label zielt mit seiner Vinyl-Präferenz auf ein junges Publikum. Während andere Plattenfirmen über schrumpfende Umsätze jammern, stimmt Halsall kein Klagelied an: «Unser Käuferkreis reicht von Teenagern und Studenten bis zur älteren Generation. Am Anfang brachten wir zwei Produktionen im Jahr heraus, heute sind es wesentlich mehr.»

Um auf dem Laufenden zu bleiben, besucht Halsall monatlich im Klub Band on the Wall in der Swan Street die sogenannte «Free-Jazz-Nacht». Der Titel ist irreführend, weil hier kein Free Jazz geboten wird, sondern sich junge Bands aus Manchester bei freiem Eintritt der Öffentlichkeit präsentieren. «Dort hoffe ich Musiker zu hören, die in ein paar Jahren die Richtung vorgeben werden», erklärt Halsall. «Ich rede mit ihnen, finde heraus, was sie antreibt, und wenn dann in meiner Band ein Posten frei wird, weiss ich, wen ich anrufen muss.»

Matthew Halsall: Oneness (Gondwana). – GoGo Penguin: A Humdrum Star (Blue Note).

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