Seit 2016 ist Tom R. Schulz Pressesprecher von HamburgMusik, der Betreibergesellschaft der Hamburger Elbphilharmonie und der Laeiszhalle. Vorher arbeitete er als Musikjournalist in Hamburg, als Festivalkurator – und als Produktionsassistent des Labels ECM in München. Jetzt holt Schulz seine Vergangenheit ein: Sein ehemaliger Chef bei ECM, Manfred Eicher, kuratiert in dieser Woche den "Reflektor" – eine Konzertreihe, deren Programm jeweils eigens ein namhafter Künstler gestaltet. ECM ist eines der wichtigsten deutschen Labels für Jazz und anspruchsvolle Klassik, Eicher ist dessen Gründer und Hauptproduzent. Und kaum jemand in Hamburg kennt ihn so gut wie Schulz.

ZEIT ONLINE: Was macht Manfred Eicher so besonders, dass ihm die Elbphilharmonie vier Tage lang beide Säle überlässt?

Tom R. Schulz: Er setzt seit fünfzig Jahren ästhetische Maßstäbe – und er hat einen unbedingten Willen zur Unabhängigkeit. ECM hätte sich schon in den Siebzigerjahren einem großen Label an den Hals werfen können, aber das hat er immer abgelehnt. Das "Köln Concert" des Pianisten Keith Jarrett wurde millionenfach verkauft und ermöglichte ihm finanzielle Unabhängigkeit. Eichers Produktionsweise bei ECM-Alben hat sich deshalb aber nicht geändert. Die allermeisten Platten entstehen in drei Tagen: zwei Tage aufnehmen, einen Tag mischen. Wer mit ihm aufnimmt, kommt in einer konzentrierten Atmosphäre auf den Punkt.

ZEIT ONLINE: Einer der Künstler, die erst durch die Arbeit für ECM Ruhm und Anerkennung erlangten, ist der Komponist Arvo Pärt. Sie haben Ihre Diplomarbeit über den Komponisten geschrieben. Was fasziniert Sie an Pärt?

Tom R. Schulz © Michael Zapf

Schulz: Pärt ist eine der Galionsfiguren des Labels. Als ich über ihn geschrieben habe, waren erst zwei Platten von ihm bei ECM erschienen. Ich habe ihn damals rauf und runter analysiert. Der Titel meiner Arbeit war ebenso hochtrabend wie zutreffend: "Eine singuläre Position zeitgenössischen Komponierens." Vielen Kritikern kam Pärts Musik zu einfach vor. Ich habe mich damals auch mit der Wirkung auseinandergesetzt, die natürlich schwer messbar ist. Aber lesen Sie mal in YouTube-Kommentaren nach, was für eine tröstende Wirkung seine Musik für Menschen in existenziellen Krisen gehabt hat. Arvo Pärt erwischt auch mich immer wieder neu. Wie schafft er es, mit so wenig Material eine so unfassbare Tiefe zu erzeugen?

ZEIT ONLINE: Hören Sie die Platten heute anders, nachdem Sie sich wissenschaftlich damit befasst haben?

Schulz: Mit einem rein akademischen Zugang zur Musik habe ich mich immer schwergetan. Mich hat vor allem die emotionale Qualität interessiert. Was klingt da in mir?

ZEIT ONLINE: Ihre Diplomarbeit hat Ihnen einen Job bei ECM eingebracht, stimmt’s?

Schulz: Eicher kannte schon ein paar Texte von mir. Als er hörte, dass ich meine Diplomarbeit über Pärt schreiben wollte, kam das Angebot, für das Label zu arbeiten. Ich war dann dort ein Jahr lang Mädchen für alles, war Produktionsassistent und habe Pressearbeit gemacht.

ZEIT ONLINE: Ein Jahr ist keine lange Zeit.

Schulz: Die Zusammenarbeit zwischen uns lief nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Eicher ist eine komplexe Persönlichkeit. Bei wirklich strahlkräftigen Künstlern kann man sich verbrennen, wenn man ihnen sehr nahe kommt. Aber auch wenn man nur kurz dort gearbeitet hat: die ästhetische Duftmarke geht nicht mehr raus. Es ist ein bisschen wie bei der Waldorfschule – Leute, die mal bei ECM waren, erkennen einander am Stallgeruch.

ZEIT ONLINE: Eichers besondere Liebe galt dem Jazz

Schulz: Er hat sich sowohl für US-amerikanischen Jazz als auch für verschiedene europäische Spielarten davon interessiert. Durch ihn hat beispielsweise norwegischer Jazz erst den Stellenwert bekommen, den er heute hat. Für mich steht Manfred Eicher auf einer Stufe mit Leuten wie Ernst Rowohlt oder Samuel Fischer – er ist eine verlegerische Figur. Und er hat nicht nur eine Ästhetik des Klangs geprägt, sondern auch eine visuelle. Sie finden außerdem immer wieder Berührungspunkte zwischen ECM-Platten und der Welt des Theaters, der Literatur, des Films.

ZEIT ONLINE: Was sind das für Künstler, die Eicher eingeladen hat?

Schulz: Wichtige Künstler, die seit Langem nicht in Hamburg waren. Zwei Beispiele: Der Brasilianer Egberto Gismonti ist ein Phänomen, sowohl als Pianist als auch als Gitarrist. Seine Kompositionen werden von Klassik- und Jazz-Interpreten ersten Ranges gespielt. Und der Klarinettist Louis Sclavis ist zum ersten Mal seit Langem wieder mit einem vergleichsweise konventionell besetzten Quartett unterwegs – mit Klavier, Bass und Schlagzeug. Sein Kompositionsniveau ist schwindelerregend hoch, die Feinheiten sind unglaublich, auch in der Improvisation des Quartetts.

ZEIT ONLINE: Zwischen Ihrer Arbeit für ECM und Ihrer Tätigkeit als Pressesprecher lagen Jahrzehnte als Journalist. Fühlt es sich nicht merkwürdig an, jetzt Reihen wie den Reflektor zu bewerben?

Schulz: Ich habe kein Problem damit, jedes dieser acht Konzerte in den schillerndsten Farben anzupreisen. Die Elbphilharmonie ist aktuell tatsächlich der einzige Ort, an dem die ganze Bandbreite von ECM abgebildet wird. Es ist schon etwas anderes, wenn der Labeleigner selbst kuratiert und ein Programm nicht von den Tourplänen von Musikern abhängt.

ZEIT ONLINE: Wie groß ist Ihre eigene ECM-Sammlung?

Schulz: Ich besitze vermutlich ungefähr zwei Drittel des Katalogs, viele hundert LPs und CDs. Als ich noch Platten besprochen habe, habe ich neue Musik übrigens am liebsten beim Bügeln gehört. Es funktioniert fast automatisch, man bleibt am selben Ort und kann dabei wunderbar zuhören. Kann ich nur empfehlen.