Ein Gespräch mit Gerd Dudek

Seit 1992 veranstaltet das Jazzinstitut zusammen mit dem Kulturzentrum Bessunger Knabenschule den jährlichen Workshop “Jazz Conceptions”. Neben den sechs bis sieben Dozent:innen, die die ganze Woche dabei sind, laden wir ab und zu auch Gastdozenten ein, die uns für einen Tag einen Blick in ihre Sicht auf den Jazz erlauben. Im Sommer 2017 war das der im November 2022 verstorbene Saxophonist Gerd Dudek. Im Gespräch mit Wolfram Knauer erzählt er von seiner Karriere vor dem Globe Unity Orchestra, von einem Aufeinandertreffen mit John Coltrane und von der ewigen Suche nach dem richtigen Blättchen. Gerahmt wurde das Gespräch übrigens musikalisch: Dudek spielte dabei mit den Dozent:innen des damaligen Workshops, John-Dennis Renken (tp), Nicole Johänntgen (sax), Uli Partheil (p), Jürgen Wuchner (b) und Martial Frenzel (d).

Für das Dezember/Januar 2023/2024-Heft der Zeitschrift Jazz Podium haben wir das Gespräch transkribiert. Hier ein Link zum Jazz Podium und wenn Sie aufs Cover klicken, findet sich dort ein PDF des publizierten Artikels mit Fotos vom Gespräch:

Gerd Dudek, 8. Juli 2017, Jazz Conceptions
Bessunger Knabenschule, Darmstadt, 15:00 Uhr

Wolfram Knauer:
Gerd, ich würde mit dir gern ein bisschen über deinen Lebensweg und deine Karriere und deinen Weg zum Jazz sprechen, aber, weil das hier ja ein Workshop ist, auch ein bisschen über Technik, Instrument und Blättchen. Fangen wir vorne an. Wie bist du zum Jazz gekommen?

Gerd Dudek:
Ich habe schon als kleiner Junge nach dem Krieg, in zerstörten Häusern und so auf alten Büchsen getrommelt. Zuhause hatten wir einen alten Schallplattenspieler und haufenweise Schallplatten. Die hab’ ich dann alle gehört, egal, was es war. Da waren auch Märsche dabei. Ich habe alles gehört, mich hat Musik einfach interessiert.

Knauer:
Du bist bei Breslau geboren. Wann seid ihr in den Westen gekommen?

Dudek:
Wir sind erst 1950 rausgekommen. Eine frühere Ausreise wurde uns immer wieder verwehrt, weil wir als Polen galten. Man hat uns sogar angeboten “richtige” Polen zu werden. Mein Name ist ja polnisch, Dudek, polnisch für Wiedehopf. Aber unser Vater war fünf Jahre lang in russischer Gefangenschaft. Wie gesagt, wir wollten immer raus, aber man hat niemanden offiziell rausgelassen. Viele sind direkt nach dem Krieg geflüchtet. Jedenfalls hat es dann Ende 1950 irgendwie geklappt. Unser Haus steht immer noch da, das hat der Bürgermeister von Groß-Döbern übernommen, Dobrzen Wielki auf Polnisch.

Wir sind dann also in den Westen gegangen, ins Siegerland. Mein Bruder fing dann an Trompete zu spielen. Ich hatte damals noch überhaupt kein Instrument; ich spielte auf seiner Trompete, lernte mit zwölf oder dreizehn Jahren Tonleitern auf der Trompete zu spielen. Nach einem Jahr nahm mich mein Bruder dann mit zu dem Werksorchester, in dem er gespielt hatte. Der Leiter des Orchesters machte einen Schrank auf und holte eine Klarinette raus, eine Es-Klarinette. Ich nahm sie, blies hinein, trillerte irgendwas. Bei dem habe ich dann meinen ersten Unterricht bekommen, Klarinettenunterricht.

Mein Bruder und seine Freunde, die jammten schon in Lokalen oder bei Freunden, und daneben wurden mal bei dem, mal bei dem, viele Schallplatten gehört. Man traf sich und man hörte alles. Ich hörte natürlich Charlie Parker, und der Sound elektrisierte mich sofort. Natürlich hörte ich auch Johnny Hodges und Coleman Hawkins. Von da ab war mein Traum Saxophon zu spielen. Zuerst aber fing ich eine Architekturlehre an, arbeitete viereinhalb Jahre in einem Architekturbüro, weil meine Eltern fanden, Musiker, das geht nicht, du musst einen anständigen Beruf lernen. Ich hatte immer viel gemalt, und wurde dann also in dem Büro angenommen, wo ich Bauzeichnungen anfertigte. Wir bauten riesige Projekte, Hochhäuser, Stahlwerke, alles in Süd-Westfalen. Und daneben wurde immer gejammt, auch im Büro. Alle Architekten spielten ein Instrument; wir jammten bei der Weihnachtsfeier, zu Ostern saß man auch zusammen, und es kamen viele Künstler vorbei. Damals bekam ich dann mein erstes Altsaxophon. Mein Bruder hatte mit Freunden eine Bigband organisiert, die Melodia Rhythmiker – später wurde die Band auf meinen Bruder umgetauft, Ossi Dudek Bigband, nach Ossi, Oswald Dudek. In der spielte ich Klarinette – inzwischen hatte ich eine B-Klarinette und spielte Benny Goodman-Arrangements einschließlich der Soli, die es als Transkriptionen gab.

Und dann bekam ich mein erstes Saxophon, und schon nach einer oder zwei Wochen konnte ich das spielen. Ich hatte ein bisschen Unterricht. Wenn du vorher Klarinette gespielt hast, ist das nicht so schwer. Dann hab’ ich jedenfalls in der Bigband angefangen, mit 15 oder 16 Jahren. Der erste Saxophonist, Michalek hieß der, der ging dann weg und ich übernahm die erste Saxophonstimme. Die Band wurde dann praktisch berühmt. Wir spielten jedes Wochenende in riesigen Hallen, in denen die Leute natürlich auch tanzten. Wir spielten Arrangements von Benny Goodman und Glenn Miller und solche Sachen. Und nebenbei jammten wir eigentlich immer; es gab eigentlich immer Jam Sessions, mal in diesem, mal in jenem Lokal. Ich selbst war besessen vom Sound Charlie Parkers, aber noch härter war Earl Bostic, der hat mich damals unglaublich angehauen. Obwohl ich Alt spielte, dachte ich aber eigentlich immer auf Tenorsaxophon.

Dann ergab es sich, dass eine andere Bigband vorbeikam und mein Bruder und ich da einstiegen. Und in der Band waren dann wieder Leute, die ihre eigene Band gründeten, ein Quintett. Mit dem Posaunisten der Band, Hans Ernst, Jacky Ernest genannt, ging ich dann und spielte in den amerikanischen Clubs. Meinen ersten dieser Gigs hatte ich in Frankfurt auf der Kaiserstraße. Man spielte damals einen oder vielleicht zwei Monate in einem Club. Ich trug damals ein Hawaiihemd und stand in der Pause vor dem Club, es war etwa so heiß wie heute, und dann kam eine Militärkontrolle vorbei, die wollten meinen Ausweis sehen, die wollten mich verhaften…

Knauer:
… weil sie dachten, du seist Amerikaner…

Dudek:
Genau… Mit der Band vom Posaunisten Hans Ernst spielte ich vielleicht zwei, drei Monate, , dann kehrte ich zurück nach Hause, blieb dort ein, zwei Monate, dann spielte ich schon wieder in der nächsten Band. Und dann gab’s ein Engagement in einem amerikanischen Hotel in Garmisch-Partenkirchen, im General Patton Hotel, da war ich dann den ganzen Sommer ’58, und da traf ich viele amerikanische Musiker, die in der Army waren, Cedar Walton zum Beispiel und Joe Henderson, glaube ich, und wir jammten viel zusammen.

Knauer:
… in Garmisch? oder Frankfurt?

Dudek:
… in Garmisch. Hmm, es kann auch in Kitzingen gewesen sein. Da hatte ich auch mein erstes Tenor. Das hatte ich in Düsseldorf gekauft, bin dann mit dem Zug nach Kitzingen, hatte aber in Frankfurt Aufenthalt und gab mein Instrument da auf, um ins AKI-Kino zu gehen – die gab es damals in großen Städten, die hatten rund um die Uhr auf. Nach ein paar Stunden holte ich mein Instrument wieder aus der Aufbewahrung, schaute es mir gar nicht weiter an und stieg in den Zug nach Kitzingen. Erst dort machte ich den Koffer auf, aber da ging überhaupt nichts mehr, das war total verbogen. Es muss bei der Aufbewahrung geschehen sein; da stellte man die Koffer einfach in so ein Fach, und dann hat man wahrscheinlich einen weiteren Koffer reingeschoben und dabei ist es runtergefallen. Ich machte jedenfalls den Koffer auf und musste erst mal weinen. Ein nagelneues Tenor, das erste Mal! Ich bin dann nach Würzburg gefahren, das war ja in der Nähe, da hat mir das dann einer repariert. Gottseidank hatte ich mein Altsaxophon und meine Klarinette dabei.

Danach ging’s nach Garmisch, und dann kam eine Rock ‘n’ Roll-Band, mit der ich auch mit in Frankfurt spielte, mit Fats and his Cats. Damals hatten wir einen Gig in Hanau, das muss so Anfang, Mitte ’58 gewesen sein. Man fing damals bereits am Nachmittag an zu spielen, egal wie viele Leite da waren. An dem Tag jedenfalls war nichts los in dem Laden, gar nichts, kein Mensch da. Wir spielten dann einfach Jazz, Mulligan-Nummern und Chet Baker/Mulligan, genau, das war dann im Quartett, mit Fats and his Cats, “Hot Cats”, wie es groß auf der Trommel des Schlagzeugers stand. Normalerweise spielten die so Rhythm & Blues-Stücke, Fats Domino-Sachen. Eines Nachmittags jedenfalls spielten wir da, es war ganz dunkel, der Laden war leer, aber ganz hinten, in der hintersten Ecke saßen drei Köpfe. Und dann – ich spielte gerade –, dann standen die langsam auf, sie hatten so Hawaiihemden an, und zückten ihre Messer, drei so lange Klingen, und kamen langsam auf mich. Du musst dir das vorstellen: Ich spielte, und die drei mit ihren langen Klingen… dann ging der mittlere zur großen Trommel, die ganz vorne auf der Bühne stand, kniete sich davor, während die anderen beiden mit ihren Messern Schmiere standen. Und er kratzte die Buchstaben von der großen Trommel, “Fats and his Hot Cats”, langsam runter. Die fielen dann einfach runter… ich spielte immer weiter. Ich dachte, jetzt ist es aus, vorbei. Ich hab’ noch ein Foto, da kann man die Schatten von der Schrift sehen. Die sind dann über die Felder und weg. Es war ja niemand da sie aufzuhalten, nur der Chef von dem Laden. Es waren wohl GIs, Puertoricaner auf Freigang. Die wollten wahrscheinlich Hot Music hören, keinen Mulligan. Später kam dann die Militärpolizei und nahm alles auf. Die haben sie aber, glaube ich nie gekriegt.

The next step: Dann fing ich im Berlin Jazz Quintett an. Das war die Band von Helmut Brandt, wir hatten über Gigs, in Stuttgart, Hamburg im Rundfunk. Helmut Brandt ging dann weg nach Berlin zur RIAS Big Band, und dafür kam Conny Jackel, Trompete. Dann kam noch die Jazz Group Hannover, bei der ich den Saxophonisten Bernd Rabe ersetzte. Aber vor Edelhagen war meine letzte Band tatsächlich die von Helmut Brandt, das Berlin Jazz Quintett, mit Rudi Füsers, Ventilposaune, Heinrich Schröder, also John Schröders Vater, am Schlagzeug und Klaus Gernhuber am Bass. Ich hab’ noch super Fotos aus der Zeit.

Knauer:
Dann warst du ein paar Jahre bei Kurt Edelhagen…

Dudek:
Ja, wir spielten damals auch in Köln, im Bohème, einem Lokal in der berühmten Eigelstein-Szene. Und da kamen Musiker aus der Edelhagen-Band vorbei und stiegen ein, Derek Humble, Jimmy Deuchar, und wir jammten den ganzen Abend. Und dann fragte Derek auf einmal: Willst du in die Edelhagen-Band einsteigen? Es gab gerade einen Wechsel im Saxophonsatz, weil der Tenorist, Jean-Louis Chautemps, zurück nach Paris ging. Ich musste dann, es war Ende 1959, ein Vorspiel machen. Ich war gerade auf einem Riverboat in Lübeck engagiert, und die Edelhagen-Band spielte in einer großen Halle in Hamburg. Ich bin dann hingefahren und auf die Bühne. Da saßen sie dann alle vor ihren Noten, und ich spielte alles einfach von den Noten ab, langsame Stücke, schnelle. Da Lustigste: Edelhagen war gar nicht da. Ich musste ja gleich wieder zurück nach Lübeck, weil ich am Abend den Gig hatte, und gerade als ich die Bühne verließ, kam Edelhagen rein. Eine Woche später bekam ich dann Bescheid: ich hatte den Gig. Im Februar 1960 fing ich dann an.

Damals war auch Dusko Goykovitch in der Band. Ich war gerade mal ein paar Wochen in der Band, da schlug Dusko vor: Gerd, lass uns morgen nach Düsseldorf fahren, da spielt Jazz at the Philharmonic. Das war eine Tournee unter anderem mit dem Miles Davis Quintet, dem Stan Getz Quartet und mit Oscar Peterson. Die machen auch Fernsehaufnahmen. Dusko und ich fuhren also ins Apollo Theater in Düsseldorf. Dort war alles dunkel, auf der Bühne tat sich nichts. Stan Getz saß im Schneidersitz auf dem Boden. Dusko unterhielt sich mit ihm und stellte mich vor: Stan, meet Gerd Dudek, a fantastic tenor player. Oh, nice to meet you. Die warteten alle auf Miles, auf Miles Davis, aber der kam nie. Ich sah Coltrane rumlaufen, und dann ging ich in die Kantine einen Kaffee trinken. Es gab dort eine lange Theke, wie aus einem Hopper-Bild mit einer Bedienung dahinter in weißer Kittelschürze. 1950er Jahre halt.

Ich ging also zur Kantine, und Coltrane ging direkt neben mir. Wir gingen zusammen zur Theke, bestellten Kaffee. Coltrane hatte einen Smoking an und darüber eine kurze schwarze Cordjacke. Er war ungefähr einen halben Kopf kleiner als ich, und ganz dünn. Wir gingen dann zurück zur Bühne. Miles war immer noch nicht gekommen, und dann fingen Stan Getz und Coltrane an etwas zu spielen, in F, “Hackensack”. Das wurde zwar aufgenommen, ist aber nie gesendet worden. Irgendwann später hatte ich Ali Haurand mal gefragt, der ja für den WDR gearbeitet hatte, und dann fanden sich die Bänder irgendwo in der hintersten Ecke im Archiv. Ich kriegte dann eine Kopie, als Audio, nicht als Video. Darauf spielt Oscar Peterson, Paul Chambers, Jimmy Cobb. Wynton Kelly war auch dabei, in der Band, und Coltrane spielte im Quartett, und mit Stan Getz spielte er “Hackensack”. (Das heißt im Original ja eigentlich “Rifftide” und ist von Coleman Hawkins.)

Knauer:
Für die, die diese Geschichte jetzt bebildert sehen möchten: Es gibt tatsächlich einen Ausschnitt von dieser Session auf YouTube, Stan Getz und John Coltrane bei ihrem einzigen gemeinsamen Auftritt, aus Düsseldorf.

Erzähl doch mal ein bisschen über deine Einflüsse als Saxophonist.

Dudek:
Anfangs war das hauptsächlich Stan Getz. Das war für mich der absolute Meister, seine Technik, sein Sound. Daneben hörte ich Coleman Hawkins und Charlie Parker. Nachdem ich zum Tenor gewechselt habe, war es aber Stan Getz, absolut. In Frankfurt gab es auf der Taunusstraße dieses Musikhaus Hummel, da ging ich immer hin, da kam auch immer Don Menza hin. Ich spielte damals wie Stan Getz, mit genau diesem Sound. Menza hatte alle möglichen Schallplatten, und der sagte mir dann: Gerd, hör mal dies, hör mal das, hör mal den. Dann hat er mir vor allem Coltrane-Platten vorgespielt, also die alten Coltrane-Platten, auf Prestige. Schon ein wahnsinniger Sound, aber ich hab’ da überhaupt nicht drauf gestanden. Der Sound war mir damals einfach zu hart, ich stand nun mal total auf Stan Getz, auf dessen homogen runden Sound. Coltrane war mir einfach zu hart, das ist doch kein Saxophon. Später kam ich dann natürlich dahinter, was da alles drin steckt. Ich erinnere mich jedenfalls noch genau, wie Stan Getz mit Coltrane kommuniziert hat, nicht verbal, sondern eigentlich nur mit Blicken.

Knauer:
Noch mal zurück zu Edelhagen. Du hattest ja mit deinem Bruder Ossi in einer Bigband angefangen, dann hast du in kleinen Besetzungen gespielt, und dann mit der Edelhagen-Band, die nicht nur ein Jazzorchester war, sondern auch viel Tanzmusik und Schlagermusik aufgenommen hat. Ist so etwas für einen Jazzmusiker in den 1960er Jahren frustrierend? Oder sieht man das vor allem als gute Einnahmequelle?

Dudek:
Also, die Band war super-präzise. Derek Humble saß als erster Altist viereinhalb Jahrelang direkt neben mir. Ich hab noch genau im Ohr, wie der gespielt hat, so genau, im Timing und so. Das hab’ ich von ihm gelernt. Und die Edelhagen-Band war damals auch wegen dieser Präzision das Top-Orchester in ganz Europa. Und wir haben auch viel Jazz gespielt, hatten eigentlich andauernd Jazzkonzerte. Wenn Johnny Griffin kam, hab’ ich mit Johnny Griffin gejammt, sobald die Proben vorbei waren, mit Johnny und Maffy Falay, Trompete, und da war noch Mely Güröl, ein türkischer French-Horn-Spieler, der später nach Hollywood ging und Filmmusik schrieb. Wir haben dann im Kreis gestanden, einer spielte den Chorus, Johnny Griffin spielte auf dem Saxophon den Bass dazu. Und dann nahm er mein Horn und gab mir seins. Ich hab’ dann auf seinem gespielt und er auf meinem, ich mit seinem Blättchen und er mit meinem Blättchen. Weißt du, Johnny spielte immer King. Ich nehme an, der wollte einfach mal ein Selmer spielen – ich hatte dieses alte Selmer. Später hat er dann auch auf Selmer gewechselt, weil der den Sound liebte.

Naja, und dann kamen noch Donald Byrd und Jimmy Giuffre mit Steve Swallow und Paul Bley… Mit Jimmy Giuffre bin ich in Köln auf der berühmten Hohen Straße einkaufen gegangen. Wir hatten von der Bigband aus so einen Schneider, der sagte mir: Kauf du den Stoff, ich mach dir Anzüge. Heute kannst du so was gar nicht mehr bezahlen.

Knauer:
Du hast jetzt ganz viel über eine Zeit und eine Musik erzählt, mit der dich hier im Raum wahrscheinlich gar nicht so viele Leute verbinden. Viele kennen dich eher von dem Ensemble her, mit dem du letztes Jahr auch auf dieser Bühne gestanden hast, mit dem Globe Unity Orchestra. Also eher mit freier als mit Bigband-Musik. Wie bist du in diese freie Szene hineingerutscht?

Dudek:
Naja, mit der Edelhagen-Band hab’ ich eines Tages einen totalen Bruch gemacht. Von heute auf morgen hab’ ich gesagt, ich bin weg, Kurt, ich gehe! Drei Monate Kündigungsfrist. Wir hatten halt immer diese Fernsehshows gespielt, Filme mit Joachim ‘Blacky’ Fuchsberger und so… “Nur nicht nervös werden” hieß einer davon. Und da wurde tagelang im Studio gefilmt, du durftest aber keinen einzigen Ton spielen, weil das Playback bereits vorher aufgenommen worden war. Du sitzt also zwei Wochen lang im Scheinwerferlicht, Filme, Pause, nächste Szene und so weiter. Ich hab’ dann in den Pausen immer in der Ecke gesessen und geübt, bis es wieder hieß: einsteigen, wieder einsteigen! Also wieder ab auf die Bühne. Ich war ja gerade mal 24 oder 25, also 1964 war das. Ich wollte spielen.

Und dann machten wir eine Russland-Tournee. 1964, also mitten im Kalten Krieg, und die erste Station war Moskau, danach Leningrad und Sotchi. Wir kommen im Hotel an, einem Riesenhotel, warten in der Lobby, und dann kriegen wir unsere Zimmer nicht. Es hieß, wir gehen in ein anderes Hotel, das war ein ganz billiges und lag ein bisschen außerhalb der Stadt. Derek Humble wachte in der ersten Nacht auf und war total von Wanzen zerstochen. Wieso das alles? Das Bolshoy-Ballett war im Austausch für die Edelhagen-Bigband in Deutschland, nicht, Bolshoy-Ballett. Und die deutschen Behörden hatten zwei der Leute vom Bolshoy-Ballett ausgewiesen, ich weiß auch nicht, was der Grund war, ob die spioniert hatten oder so. Jedenfalls nehme ich an, dass unsere Umquartierung ins verwanzte Hotel eine Retourkutsche gewesen war. Ansonsten hatten wir auf der Tournee immer einen freundlichen Begleiter dabei. Wir spielten zwei Wochen lang in Moskau, und auch in den anderen Städten teilweise in Stadien und vor Tausenden Menschen, 20.000 Leute, jeden Abend…

Dann hatte ich also bei Edelhagen gekündigt und bin sofort nach Berlin gegangen, wo Fritz Bauer, Joe Nay und Hans Rettenbacher ein Quartett mit mir machen wollten. Ich hatte einen großen 220er Mercedes, bin dann gleich mit Bob Carter, einem Amerikaner und dem letzten Bassisten, mit dem ich bei Edelhagen zusammengespielt hatte, nach Berlin. Da traf ich dann wieder Johnny Griffin, der gerade in Berlin spielte. Wir wohnten zusammen mit anderen Musikern in einer gemeinsamen riesigen Wohnung auf der Westfälischen Straße. Da kam dann auch der Bruder von Kenny Barron, der Saxophonist Bill Barron, der mir über John Coltrane erzählte. Der war zusammen mit Coltrane auf der Schule gewesen. Die beiden hatten zusammen angefangen Musik zu machen; Bill Barron war anfangs viel moderner gewesen als Coltrane, der ganz konventionell gespielt habe, noch auf dem Altsaxophon. Dann hat er sich natürlich weiter entwickelt.

Bill jedenfalls empfahl mir: Schau nicht auf Sonny Rollins, schau auf Coltrane. Ich war ja noch am Üben. In Berlin traf ich viele amerikanische Musiker, die waren schon in der Free-Szene aktiv waren. Dann spielte ich mit dem Schlagzeuger Stu Martin in total freiem Kontext zusammen. Ich war aber noch gar nicht so weit. An einem Abend spielten wir einen Set, und ich zitierte “All the Things You Are” dazwischen. Und da fuhr Stu von hinten dazwischen: BAAAA! What’s that?! Das war schon ein radikaler Umbruch.

Mit Manfred Schoof und Alexander von Schlippenbach hatten wir schon zu Edelhagen-Zeiten ein Quintett, mit dem wir vor allem Hardbop spielten, Art Blakey, Horace Silver. Ich war bereits anderthalb Jahre in Berlin, als mich Manfred anrief: Gerd, komm’ zurück nach Köln, wir machen unser Quintett neu, aber jetzt mit eigenen Stücken, keine Bebop-Nummern mehr. Ich bin dann sofort zurück nach Köln. Wir übten in Marburg; Claus Schreiner lebte dort, und auch Buschi Niebergall, bei dem ich meistens wohnte. Nur eigene Stücke also. Wir probten und übten und spielten, und dann kam die erste Platte heraus bei Lippmann+Rau, “Voices”, die wurde ein Riesenhit in ganz Europa. Wir haben in der Folge alle Festivals abgespielt, Molde, Montreux, Prag, Warschau…

Knauer:
Ihr habt eigene Stücke gespielt; ihr habt begonnen, freier zu improvisieren. Du kamst ja eigentlich von einer ganz anderen Musik, das ist ja schon ein großer ästhetischer Umschwung, oder? Wie hat denn das Publikum darauf reagiert

Dudek:
Ja, das war schon plötzlich. Die Reaktionen haben mich erstaunt, sie waren größtenteils positiv. Natürlich gab es auch Buhs von den eingefleischten Jazzern. Aber selbst von amerikanischen Musikern bekamen wir nur Zuspruch. Woody Shaw und der Saxophonist Nathan Davis hatten eine Gruppe, die bei einem Gig zusammen mit uns gebucht war. Woody Shaw kam danach zu mir und meinte: Awww, fantastisch. I’d like to play like you. Die meisten der Amerikaner waren damals, Mitte der 1960er Jahre, noch nicht so frei. Und wir haben das einfach gemacht. Naja, und natürlich waren wir bereits zuvor in Kontakt mit modernen Komponisten gewesen, Bernd Alois Zimmermann und Karlheinz Stockhausen, die ja beide in Köln lebten. 1965 hatten wir bei der Uraufführung von Zimmermanns Oper “Die Soldaten” mitgewirkt, später dann beim “Requiem für einen jungen Dichter”.

Mit Wolfgang Dauner und Jean Luc Ponty war ich 1967 bei der Platte “Free Action” dabei gewesen. Wolfgang hatte seine Stücke schon richtig notiert, aber die Improvisationen dazwischen waren immer frei. Und dann war da natürlich Globe Unity, ab 1966, wo wir in Berlin auftraten. In der Band gab es ebenfalls aufgeschriebene Teile, die quasi die Richtung vorgaben – von hier nach da –, und die Struktur ¬ jetzt spielt der ein Solo oder zwei Solisten zusammen, dann aber kommt wieder ein geschriebener Block. Das waren dann meist grafische Partituren, aber nach und nach wurde das später ganz aufgegeben. Naja, es gab schon noch Noten, zum Beispiel bei einer Asien-Tournee fürs Goethe-Institut, bei der wir anfangs Stücke spielten. Aber dann waren wir in Bombay beim Festival, und Alex meinte nur: heute keine Noten! Und dann spielten wir eben nur frei. Du musst dir das vorstellen: ein riesiges Openair-Festival. Stan Getz spielte vor uns, und dann wir, 20, 21 Leute, völlig freie Improvisation, und dann sah man schon die ersten Leute rausgehen. Wir spielten aber einfach weiter, am Ende war kaum mehr einer da. Es gab einen Riesen-Verriss in der Presse, da las man dann von einer Kakophonie ohnegleichen.

Knauer:
Wie war das denn für dich, wenn du mitkriegst, dass das Publikum, das einen zuvor geliebt hat, plötzlich nichts mehr mit deiner Musik anfangen kann? Fragst du dich da als Musiker, ob du noch alles richtig machst? Oder habt ihr gesagt: Jetzt erst recht!?

Dudek:
Ja, das ist eine gute Frage. Früher man hat ja immer fürs Publikum gespielt. Und dann kam in den 1960er Jahren dieser Umbruch, da wollten wir’s denen zeigen, wollten keine anschmeichelnde Musik, keine schöne Musik mehr machen. Ich selbst … für mich war das immer ein bisschen too much. Ich hab auch in den freien Passagen immer versucht einen großen Bogen zu machen. Weißt du, es gab ja damals auch Leute, die konnten kaum ihr Instrument spielen, haben dann aber “frei” gespielt.

Knauer:
Ich würde zum Schluss vielleicht noch gern über Instrumentales sprechen, über Technik. Wie oft übst du am Tag?

Dudek:
Ich übe eigentlich jeden Tag, und wenn es nur eine halbe Stunde ist. Ich versuche immer noch den richtigen Sound zu finden, also einen Sound, der mit dem Körper in Einklang ist. Das hängt ja mit dem Instrument genauso zusammen wie mit den Mundstücken. Gerade habe ich ein Saxophon zur Ansicht bekommen, das hatte dem Saxophonisten Frank Wright gehört. Das ist schon lange nicht mehr gespielt worden, und es hat einen ganz anderen Sound. Der hatte sich in Paris so eine Spezialanfertigung machen lassen. Ich spiele ab und zu mit Markus Lüppertz, und Frankie Wollny, der das organisiert, hatte das Instrument zuhause. Die hatten mal in der gleichen Gegend gewohnt, jedenfalls hatte er das Saxophon jahrzehntelang bei sich liegen. Letzte Woche haben wir dann mit Lüppertz in einer Kirche gespielt, eine andere Art von Musik, frei, aber auch melodisch. Jedenfalls hat der Veranstalter zwei Söhne, die auch spielen, und der eine Sohn probierte das Saxophon aus, kriegte aber kaum was raus. Frankie hat mir das dann zum Auschecken gegeben; ich musste das erstmal ein bisschen säubern.

Knauer:
Jedes Instrument hat also seinen eigenen Sound? Nicht du machst den Sound, sondern nur gemeinsam du und das Instrument…

Dudek:
Ja, das ist für mich sehr wichtig. Dein Instrument darf dich nicht überwältigen. Du musst damit machen können, was du willst. Und deshalb hab’ ich das schöne alte Mark VI von 1959, das ist wie ein Teil von mir.

Knauer:
Spielst du nach wie vor Sopransaxophon? Querflöte?

Dudek:
Ja, ich spiele jeden Tag Querflöte. Ich möchte gern noch mehr Flöte und Klarinette spielen, das kann ja ganz wichtig für die Stimmung sein. Andererseits ist ja im Grunde genommen in einem Instrument das alles schon drin. Aber auch da suche ich immer noch, Mundstücke, Blätter. Das ist ein Thema für sich, Saxophonblätter. Neulich spielte ich mit Klaus Doldinger bei der Düsseldorfer Jazz Rallye im neuen Landtag, und Klaus empfahl mir diese Blätter. Ich hab sie dann sofort gekauft, aber ich komm mit denen einfach nicht zurecht. Man sucht halt immer weiter…

Knauer:
Du spielst also seit sehr, sehr vielen Jahren Saxophon und bist immer noch auf der Suche nach dem richtigen Blättchen, immer noch auf der Suche nach dem Sound?

Dudek:
Ja, sicher, ja.