A Treasury of Rhode Island Jazz & Swing Musicians
Von Dennis Pratt & Tom Shaker
West Greenwich/Rhode Island 2016 (Consortium Publishing)
218 Seiten, 35 US-Dollar
ISBN: 978-0-940139-70-1
Dennis Pratt und Thom Shaker haben die Jazzliteratur mit diesem Buch um ein biographisches Personenlexikon erweitert, das Musiker:innen listet, die im amerikanischen Bundesstaat Rhode Island geboren oder aktiv sind. Dazu gehören bekannte Namen wie Frankie Carle, Hal Crook, Paul Gonsalves, Bobby Hackett, Scott Hamilton, George Masso, Dave McKenna oder Duke Robillard, daneben zahlreiche Musiker:innen, die wahrscheinlich außerhalb von Rhode Island kaum bekannt sind. Jeder Eintrag enthält eine kurze Biographie, insbesondere das Wer, Wann und Mit Wem, dazu jede Menge Fotos und eine kurze Zusammenfassung der Jazzszene in Rhode Island. Es ist ein auch optisch schönes Buch geworden, das vor allem Jazzfans im Land selbst ansprechen wird, allerdings kaum Informationen über Aufnahmen oder gar den Stil der gelisteten Musiker:innen gibt.
Wolfram Knauer (Januar 2021)
Murray Talks Music. Albert Murray on Jazz and Blues
herausgegeben von Paul Devlin
Minneapolis 2016 (University of Minnesota Press)
274 Seiten, 25,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8166-9955-1
Der 2013 verstorbene Albert Murray war ein bedeutender afro-amerikanischer Philosoph und Kulturtheoretiker, dessen Arbeit und Denken unter anderem Wynton Marsalis nachhaltig beeinflusste, mit dem zusammen er Jazz at Lincoln Center möglich machte. Jazzfans ist er vielleicht am ehesten als Co-Autor der Autobiographie Count Basies bekannt, des 1985 erschienenen Buchs “Good Morning Blues”. Paul Devlin hat nun etliche der Aufsätze und Interviews mit und von Albert Murray in einem Band versammelt, der einen Blick auf die ästhetischen Diskurse der 1980er bis 2000er Jahre gibt, in denen die Bedeutung des Jazz als des kulturellen Gedächtnisses Afro-Amerikas sich mit neuen Konnotationen, aber auch mit neuen Institutionen verfestigte.
Es geht los mit einem Interview, das Wynton Marsalis 1994 mit Murray führte, in dem die beiden über die Bedeutung des Blues für den Jazz sprechen und diese Musikform als wichtigste kulturelle Botschaft Amerikas definieren. Murrays Interview mit Dizzy Gillespie von 1985 ist ein Gespräch auf gleicher Augenhöhe, in dem Gillespie über seine Zeit bei Earl Hines spricht, über wichtige Trompeter, über die Bedeutung des Bebop und sein Interesse an lateinamerikanischer Musik. Konkret für sein Basie-Buch sprach Murray Anfang der 1980er Jahre mit dem Posaunisten Dan Minor darüber, wie Basie den Spitznamen “Count” bekam, mit dem Sänger Billy Eckstine über die Birdland-Tourneen, die er mit der Basie-Band unternahm, sowie mit dem Impresario John Hammond über seinen Bezug zur Basie-Band.
Greg Thomas unterhält sich mit Murray über die Position afro-amerikanischer Literatur im Kanon der amerikanischen Literaturgeschichte. In Interviews mit Paul Devlin und Russell Neff äußert sich Murray sowohl über sein Bekenntnis zur Tradition wie auch über seine Neugier an der Avantgarde und darüber, dass der Blues für ihn die beiden verbinde. In einem weiteren Gespräch mit Paul Devlin erklärt Murray, wie stark Regionen, Städte und Landschaften die Musik und ihre Musiker beeinflussten. Es sei immer ein Fehler, argumentiert Murray in einem von Susan Page moderierten Call-In-Radiogespräch, Kunstformen nach Kriterien wie “Fortschritt” zu beurteilen. Mit dem Literaturwissenschaftler Robert H. O’Meally unterhält er sich über den Schriftsteller Ralph Ellison und dessen Bezug zum Jazz. Loren Schoenberg lud Stanley Crouch und Murray 1989 in seine Radioshow, um mit ihnen über die Bedeutung Duke Ellingtons zu diskutieren und zwischendurch Aufnahmen zu spielen, auf die sie sofort reagieren. Schließlich findet sich zum Schluss des Buchs noch Murrays letzter veröffentlichter Aufsatz, “Jazz: Notes toward a Definition”, eine kluge Zusammenfassung Murrays Erklärung, was Jazz bedeutet, als afro-amerikanische, als amerikanische und irgendwie auch als globale Kunstform.
Paul Devlins ausführliches Vorwort ordnet Murrays Bedeutung für die Diskurse der 1980er und 190er Jahre ein, und Greg Thomas schreibt ein Nachwort, in dem er noch einmal herausstellt, wie einflussreich Murrays Verständnis von Blues und Jazz als einem ästhetischen Statement gewesen sei.
“Murray Talks Music” ist also keine Jazzgeschichtsbuch. Auf jeder Seite geht es Murray darum zu hinterfragen oder zu erklären, wovon diese Musik handelt, warum sie so klingt wie sie klingt, und welche Bedeutung sie für die gesellschaftlichen, politischen und ästhetischen Diskurse des 20sten Jahrhunderts hatte. Es ist damit eine Fundgrube für jeden, den die Themen interessieren, mit denen Afro-Amerika sich im ausgehenden 20sten Jahrhundert neu definierte.
Wolfram Knauer (Mai 2018)
Listening to Jazz
von Benjamin Bierman
New York 2016 (Oxford University Press)
374 Seiten, 81,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-997561-7
Benjamin Biermans “Listening to Jazz ist eine Jazzgeschichte, die sich an Lehrerinnen und Lehrer richtet sowie an deren Schülerinnen und Schüler, und die dabei nicht bei den “Geschichten” stehenbleibt, die man sonst oft in “textbooks” liest, wie Schulbücher im Englischen genannt werden, sondern tiefer eindringt in die Materie. Bierman nutzt keine Notenbeispiele, wie dies sonst oft und gern getan wird, sondern sogenannte “listening guides” oder “listening focuses”, also kurze textliche Annäherungen, um die Leser/innen durch das Hören konkreter improvisierter Musik zu führen.
Bierman beginnt mit den Elementen des Jazz, Improvisation, Komposition, die gebräuchlichsten Instrumente, die üblichen Bandbesetzungen. Dann erklärt er chronologisch die unterschiedlichen Phasen der Jazzgeschichte, von Vorformen wie Blues und Ragtime über New Orleans, Chicago, Swing, Cool Jazz, Hardbop bis zu Free Jazz, Fusion und den aktuellsten Ausprägungen. Er streut knapp den biographischen Hintergrund bedeutender Musiker ein; am wichtigsten aber ist ihm das gelenkte Hören der Aufnahmen, die man entweder im Internet findet, über eine Spotify-Playlist ansteuern oder über eine Website des Verlags downloaden kann. Seine Höranalysen bleiben oft an der Oberfläche, beschreiben in solchen Fällen reine Formabläufe, kommen aber auch als eingehende “listening guides” daher, bei denen die Geschehnisse auf den verschiedenen Ebenen näher erläutert werden, Form, Stil, Melodie und Harmonik, Rhythmik und Begleitung. Immer wieder streut Bierman außerdem Themenböcke ein, die zu der besprochenen Zeit auch diskutiert wurden, etwa Rassismus, das wirtschaftliche Überleben von Musikern, die Klangqualität früher Aufnahmen oder das Thema von Frauen im Jazz. Überhaupt achtet er darauf, den Fokus immer wieder auf Musikerinnen zu legen, und das nicht nur, wenn es um Sängerinnen wie Billie Holiday oder Ella Fitzgerald geht. Jedes Kapitel endet mit einer knappen Zusammenfassung der Teilkapitel, mit Begriffen, die in dem Kapitel erklärt wurden, mit den wichtigsten Personen, die darin vorkamen, mit möglichen Gesprächs- und Diskussionsthemen, sowie mit Tipps für weiterführende Literatur.
Biermans Buch ist gut lesbar und stellt eine gelungene Handreichung für Lehrerinnen und Lehrer dar, die mithilfe der Kapitel Beispiele für ihren Unterricht aussuchen können und dabei nicht bei den üblichen “Hits” der Jazzgeschichtsschreibung verharren müssen. Wo sonst wird etwa, wie im Kapitel New York, neben Coleman Hawkins’ “Body and Soul” auch Alberto Socarrás’ “Masabi” untersucht? Wo sonst finden neben Benny Goodman und Count Basie auch die International Sweethearts of Rhythm mit “Blue Lou” Erwähnung? Schon hier zeigt sich, dass das Buch eher am Aufbrechen als am Festschreiben des Repertoirekanons im Jazz interessiert ist. Am erfrischendsten ist dies schließlich dort zu spüren, wo Bierman sich nicht scheut, bis in die jüngste Gegenwart zu gehen, und Aufnahmen etwa von Lionel Loueke, Robert Glasper, Brian Blade und anderen zu beleuchten.
Wenn dem Buch eines fehlt, ist dies herauszustreichen, wie international der Jazz über das Jahrhundert seines Bestehens geworden ist, wie sehr die Sprache des Jazz zu einer globalen geworden ist, und dass diese Tatsache zu ganz eigenen Idiomen außerhalb der USA geführt hat. Aber das wäre dann wahrscheinlich die Fortführung seines Anliegens – quasi für die Oberstufe.
Als “textbook” zum amerikanischen Jazz ist “Listening to Jazz” auf jeden Fall sehr empfehlenswert.
Wolfram Knauer (Februar 2018)
Jazzing. New York City’s Unseen Scene
von Thomas H. Greenland
Urbana/IL 2016 (University of Illinois Press)
247 Seiten, 28 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08160-6
Jazz ist … Musik! Überhaupt ist Musik zuallererst einmal Musik und wenig anderes. Das Publikum erlebt Jazzmusiker in der Regel als Geschöpfe aus einer anderen Welt, als kreative Erfinder, die allabendlich auf der Bühne stehen, um sich jeden Tag auf das Risiko der Improvisation einzulassen, jeden Tag etwas Neues zu spielen. Dass das Musikerdasein sehr viel komplexer ist, dass Musiker in der Regel in eine professionelle genauso wie ehrenamtliche Szene eingebunden sind, zu der die Kollegen genauso gehören wie die Veranstalter, die Kritiker, die Produzenten und das Publikum, darum geht es in Thomas Greenlands Buch “Jazzing. New York City’s Unseen Scene”. Greenland interessieren die Umstände, die das Musikmachen in New York erst ermöglichen, die “Szene”, die den Musikern sowohl Community ist als auch am Diskurs über die musikalische Bedeutung aktueller Projekte mitwirkt.
Tom Greenland basiert sein Buch auf mehr als 100 Interviews, die er mit Musikern, Veranstaltern, Kritikern und Fans zwischen 2002 und 2010 geführt hatte. 2013, erzählt er einleitend, sei er zu einem Gedenkkonzert für einen Jazzfan eingeladen worden und habe sich gefragt, was es bedeutet, dass so viele professionell mit der Musik Befasste den Verstorbenen als einen der ihren begriffen, als Teil der Welt, die sie dazu befähigt, kreativ tätig zu sein. Ausgehend von dieser Erfahrung entwickelt der Autor eine Vorstellung von Jazz, die nicht allein aus dem musikalisch Erklingenden besteht, sondern immer auch nach den Kontexten fragt, all das erst möglich werden lassen. Er beginnt mit einer Reflektion darüber, was genau wir denn eigentlich hören, wenn wir einer Jazz-Performance zuhören, wann wir Musik als “gelungen” oder als “nicht gelungen” empfinden, welchen Einfluss die virtuose Beherrschung eines Instruments auf unser Hören hat, wie wichtig uns Originalität der musikalischen Erfingung und die Erfahrung ist, überrascht zu werden? Und er will wissen, wie stark all solche Faktoren von der Umgebung beeinflusst sind, in der die Musik gemacht wird?
Sein zweites Kapitel ist den Fans gewidmet, die einen wichtigen Teil der Jazz Community ausmachen. Greenland fragt – mit Bezug auf die New Yorker Situation -, wie solche Communities aus Fans entstehen, wie sie sich beispielsweise durch die digitale Revolution der letzten Jahre verändert haben, welche unterschiedlichen Hörgewohnheiten – und eng verbunden damit welche ästhetischen Vorstellungen – es unter ihnen gibt. Greenland überschreibt zwei Teilkapitel dieses Blocks mit “Listening In”, womit er die Hörbildung durch Schallplatten meint, und “Listening Out”, wie er das Bekenntnis zum Livekonzert beschreibt.
Wie sich aus Fan Communities eine Szene bildet umreißt das dritte Kapitel. Greenland beschreibt darin anhand von Interviewexzerpten, wie Fans ihren eigenen Platz innerhalb des regionalen Jazzlebens finden, wie sie sich mit Orten identifizieren und wie diese Identifikation mit einem Ort zugleich Einfluss auf ihre Hörgewohnheiten nimmt. Zugleich geht er der Frage nach, welche Rolle die gesellschaftliche Sanktion dessen spielt, was gerade als “hip” angesehen wird. Im vierten Kapitel beschreibt er das Tagesgeschäft der Clubs und anderer Spielorte in der Stadt, unterscheidet dabei Geschäftsmodelle, die vom konventionellen Jazzclub, also etwa dem Village Vanguard oder dem Sweet Basil, bis zu Veranstaltungen reichen, die von Musikern selbst kuratiert werden. Im Zusammenhang hiermit reflektiert er auch auf den Einfluss der Publikumserwartung auf die Programmgestaltung der jeweiligen Spielorte.
Neben den Clubbetreibern machen aber noch andere Faktoren die “Szene” aus. Im fünften Kapitel beleuchtet Greenland die Karriere etwa der Kritiker Gary Giddins und David Adler, des Plattenladen-Besitzers Bruce Gallanter, von Bildenden Künstlern und Fotografen, fragt, wie sie zum Jazz kamen, welche Zufälle dazu führten, dass aus ihrer Passion ein Beruf wurde, und welche Chancen und Schwierigkeiten mit ihre jeweiligen Tätigkeiten verbunden sind.
Während die ersten fünf Kapitel sich also damit auseinandersetzten, wie eigentlich die Nichtmusiker der Jazzszene Jazz “performen”, geht es im letzten Kapitel um die konkrete Beziehung der Künstler zu ihrem Publikum. Greenland spricht mit Musikern darüber, wie sie eine Beziehung zu ihren Hörern aufbauen, mit Clubbetreibern darüber, wie sie zu einer kommunikativen kreativen Atmosphäre beitragen, und mit Kritikern darüber, wie ihnen manchmal ihre professionelle Brille den Blick auf die Musik verstellt. Er beschreibt, wie die Kommunikation mit einem Livepublikum kreative Energie erzeugen und wie Musik, wenn denn alles richtig zusammenkommt und stimmt, für ein fast schon spirituelles Erlebnis bei allen Beteiligten sorgen kann.
Thomas Greenlands Buch ist gerade wegenb des ungewöhnlichen Blicks auf die Jazzszene ein überaus lesenswertes und kurzweilig geschriebenes Buch, das sich teilweise so spannend liest wie Paul Berliners epochales “Thinking in Jazz” von 1994, das die Musik ähnlich weitsichtig innerhalb ihrer Kontexte darzustellen versuchte.
Wolfram Knauer (August 2017)
Ein schmaler Grat. Die Jazz-Sektion, zeitgenössische Kunst und Musik in der Tschechoslowakei
herausgegeben von Rüdiger Ritter & Martina Winkler
Bremen 2016 (Universität Bremen)
161 Seiten
ISBN: 978-3-00-053959-6
Ausgerechnet der Jazz wurde in der Tschechoslowakei in der 1980er Jahren als staats- und systemgefährdend angesehen, so sehr, dass das Regime 1987 einen Schauprozess anstrengte, der in langjährigen Haftstrafen für die Vorstandmitglieder der Jazz-Sektion endete. 2016 kuratierte der Historiker Rüdiger Ritter eine Ausstellung über die Jazz-Sektion. Das Begleitbuch zur Ausstellung stellt die Aktivitäten dieser Gruppe von Kulturaktivisten in den Kontext der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung der CSSR in jenen Jahren und dokumentiert damit ein faszinierendes Kapitel europäischer Jazz-, nein europäischer Kulturgeschichte.
Die Jazz-Sektion wurde 1971 gegründet und anfangs von allen Seiten als Win-Win-Lösung verstanden, war für die Regierung eine Unterabteilung der Musikergewerkschaft, die eine bessere Kontrolle der Jazzszene ermöglichte, wurde von den Musikern auf der anderen Seite als eine unabhängige Organisation angesehen, die helfen konnte, Konzerte und das Jazzleben noch besser zu organisieren.
In einem ersten Kapitel blickt Ritter auf die Geschichte des tschechoslowakischen Jazz seit den 1920er Jahren, fokussiert dabei schnell auf die Nachkriegszeit und die sich wandelnde Haltung der Kulturpolitik gegenüber dem Jazz. Er beschreibt, wie der Prager Frühling 1968 und der Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen auf der einen Seite die Situation aller kultureller Aktivitäten verschärfte, auf der anderen Seite 1971 zur Gründung der Jazz-Sektion führte. Zugleich beschreibt er, dass die überregionalen Prager Jazz-Tage eine Art Experimentierfeld für Jazz und populäre Musik waren, und dass genau diese stilistische Offenheit und das damit verbundene Interesse jugendlicher Hörer die Organisatoren des Events und die Vertreter der Jazz-Sektion zugleich verdächtig machten, “unterwanderte sie doch den staatlichen Monopolanspruch in der Jugendbildung und Freizeitgestaltung”. Anhand des von der Jazz-Sektion herausgegebenen Bulletins “Jazz” zeigt Ritter, wie sich die ästhetische Haltung der Macher über die Jahre verändert, die dem Blatt ab der 20sten Ausgabe die Unterschrift “Bulletin für zeitgenössische Musik” beigaben. Es war also zuvorderst der Interpretationswandel dessen, was unter Jazz zu subsumieren war, der die staatliche Repression herausforderte. Die zahlreichen Fotos im Buch dokumentieren die Begeisterung der Jazz-Tage unter vor allem jungen Zuhörern, und Ritters Text bietet den Kontext des gesellschaftlichen Diskurses, innerhalb dessen die Jazz-Sektion eine Art “Sammlungsbecken für alternatives Denken in der Kunst” darstellte. Er beschreibt die zermürbenden, teilweise aber auch mit subversivem Spaß betriebenen Scharmützel zwischen Mitgliedern der Jazz-Sektion und der Geheimpolizei. Ende der 1970er Jahre wurde es ernster: die Jazz-Sektion wurde 1980 verboten, die Konzerte der 100. Prager Jazz-Tage fanden aber auch ohne offizielle Erlaubnis in der Illegalität statt. Trotz des Verbots ging es im Untergrund weiter, mit Konzerten und Veröffentlichungen. Ritter beschreibt die Zunahme der Repressionen und die Vorgehensweise der Jazz-Sektion, diese zu umgehen. Am Ende wurde der Vorstand wegen verbotener Geschäfte der Prozess gemacht und die beiden Vorsitzenden am 11. März 1987 zu 9 bzw. 16 Monaten Haft verurteilt. Es folgten Proteste aus aller Welt, auf die die tschechische Regierung nur mit dem Hinweis reagierte, es sei bei dem Prozess “keineswegs um die Verurteilung des Jazz oder die Diffamierung eines Kunstbegriffs gegangen, sondern man habe lediglich Steuersünder bestraft”. Zum Ende seines Aufsatzes betont Ritter, dass es beim Wirken der Jazz-Sektion um weit mehr gegangen sei als um Jazz, dass die Jazz-Sektion über die Jahre eine Art Fürsprecher für die Freiheit der aktuellen Kunst geworden sei und damit zu einer wichtigen Stimme im Versuch einer Veränderung des Systems von innen heraus.
Heidrun Hamersky schildert in ihrem Beitrag zum Buch die allgemeine Vorstellung der sozialistischen Regierung in der Tschechoslowakei davon, was Kunst und Kultur bewirken solle, beschreibt die Zentralisierung des Kulturbetriebs und die Praxis der Zensur, die Veränderungen aufgrund sich wandelnder politischer Haltungen über die Jahre und die Bedeutung der Jazz-Sektion und der Bürgerrechtsbewegung Charta 77 für die stärker werdende Opposition, die schließlich zur samtenen Revolution führte.
Jan Blüml schließlich beschreibt in seinem Beitrag die Funktion des Jazz und die der Jazz-Sektion als wichtigstem Organisationsgremium dieser Szene in der Zeit der sogenannten Normalisierung der 1970er und 1980er Jahre. Er betont, dass die Jazz-Sektion zwar vor allem in Prag aktiv war, ihr Einfluss sowohl im Jazz- und Rockbereich, in der Insistenz auf ihre Unabhängigkeit aber auch in der ganzen Tschechoslowakei zu spüren war.
“Ein schmaler Grat” erschien als Begleitbuch zu einer Ausstellung über die Jazz-Sektion und ist entsprechend reich bebildert mit Faksimiles von Plakaten und Schriftstücken sowie mit vielen Fotos, in denen deutlich wird, welch enormes Feedback die Veranstaltungen zwischen Jazz und Rock insbesondere bei einem jüngeren Publikum fanden. Die Texte sind durchgängig zweisprachig auf Deutsch und Tschechisch gehalten und ungemein informativ. Jede Abbildung wird zudem mit einem kurzen Begleittext kontextualisiert. Rüdiger Ritter, den anderen Ausstellungsmachern und Autoren ist zu danken, diesen zwar durchaus bekannten, in dieser Detailliertheit bislang aber nicht zusammengefassten Aspekt osteuropäischer Jazzgeschichte festgehalten und dokumentiert zu haben. Es ist weit mehr als ein Katalog zu Ausstellung; “Ein schmaler Grat” ist zugleich ein Lehrbuch darüber, dass Kultur und kultureller Diskurs immer auch politisch sind.
Wolfram Knauer (Juni 2017)
Jazz & the City. Jazz in Graz von 1965 bis 2015
von Michael Kahr
Graz 2016 (Leykam)
523 Seiten, 1 beiheftende CD, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-7011-0357-7
Michael Kahr ist Musiker und Musikwissenschaftler und hat in beiden Funktionen die verschiedenen Einrichtungen der Kunstuniversität Granz besucht und benutzt, die sich mit Jazz beschäftigen, das Institut für Jazz also genauso wie das Institut für Jazzforschung. In seinem Buch “Jazz & the City” setzt er sich mit der Grazer Jazzgeschichte der Gegenwart auseinander und skizziert dabei zugleich den Einfluss einer so ausgewiesenen Jazzausbildung auf die Jazzszene einer Stadt.
Am 1. Januar 1965 nahm das Institut für Jazz an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Graz seine Arbeit auf; 1969 wurde die Internationale Gesellschaft für Jazzforschung und 1971 das Institut für Jazzforschung gegründet. Diese Institutionalisierung des Jazz in der Landeshauptstadt der Steiermark ist die Anfangsmarke für Kahrs Untersuchung, die er bis in die Gegenwart reichen lässt. Er stellt dabei keine konkrete Fragestellung vor, sondern skizziert den Jazz als einen wichtigen Teil der Grazer Kulturentwicklung. Seine Herangehensweise ist dabei eine vor allem beschreibende: In einem ersten Kapitel geht es um den Kontext, also die Geschichte des Jazz in Graz nach dem II. Weltkrieg. Ein eigenes Kapitel erhalten die Studien- und Forschungseinrichtungen der Universität für Musik und darstellende Kunst sowie die an ihrer Ausrichtung maßgeblich beteiligten Personen. Ein drittes Kapitel stellt wichtige Musiker der Grazer Jazzszene genauso vor wie Lehrende an der Hochschule und Studierende, die diese Szene über die Jahre mitgeprägt hatten. Und ein viertes Kapitel fokussiert auf die wichtigsten Veranstalter, Konzertreihen und Festivals. In all diesen Kapiteln finden sich unzählige Details, oft biographischer Natur, Hinweise auf Interaktion der Künstler/innen mit der Szene, auf besondere, in der Stadt verankerte oder auch international ausgerichtete Projekte, auf Bands, Ensembles und Orchester zwischen Dixieland, freier Improvisation und Balkan-Jazz. Dabei liefert Kahr eine Art Lexikon der Grazer Jazzszene von 1965 bis heute mit Informationen, die manchmal etwas stark ins Detail gehen mögen (wenn etwa jede Besetzungsänderung einzelner Bands nachvollzogen wird), gibt ab und an auch außermusikalische Informationen (etwa dass Eje Thelin ein ausgezeichneter Koch war), enthält sich in Bezug auf die Musik selbst zugleich jeder ästhetischen Wertung.
Aus dem allen ragt das letzte Kapitel des Buchs heraus, dem Kahr die nüchterne Überschrift gibt: “Künstlerische Forschung zur Grazer Jazzgeschichte”. “Basierend auf dem in der Forschungsarbeit für dieses Buch erworbenen historischen Wissen”, erklärt der Autor, “wurde ein Kompositionsvorhaben initiiert, mit dem Ziel, spezifische Erkenntnisse zu den künstlerischen Prozessen in der Grazer Jazzgeschichte aufzuarbeiten und strukturelle Merkmale in der Musik ausgewählter MusikerInnen und Ensembles zu dokumentieren.” Kahr beschreibt, dass dieser sehr persönliche Zugang zu Jazztheorie oder Jazzreflektion an der Grazer Universität von etlichen Musikern gelehrt wurde, und bietet dann eine eigene Analyse seiner Komposition “Annäherung”, geschrieben in der Ich-Form des Komponisten und in einer Art Kompositionstagebuch. Er beschreibt die Gedankengänge bei der Auswahl musikalischer Ideen, die Beziehung, die er zwischen bestimmten musikalischen Interaktionsformen und Erkenntnissen seiner Recherchen sieht, begründet die Auswahl von Zitaten etwa aus Arbeiten von Dieter Glawischnig und Harald Neuwirth, aber auch aus dem “Erzherzog Johann-Lied”, “das im Ausdruck von kultureller Identität in der Steiermark eine wichtige Rolle einnimmt”. Er erklärt den Prozess der kompositorischen Entscheidungsfindung, warum er also einzelne Einfälle beibehält, andere dagegen verwirft, begründet schon mal, dass sich bestimmte Versionen für ihn als Pianisten “natürlicher” anfühlten. Die drei-sätzige Komposition hängt dem Buch als Audiodatei auf einer Daten-CD bei, die auch eine PDF-Fassung der kompletten Partitur enthält.
Michael Kahr hat mit seinem Buch eine Art Stadtgeschichte des Jazz zwischen 1965 und heute verfasst. Er schildert zugleich den Einfluss der Institutionalisierung und der mit der Einrichtung der diversen Studien- und Forschungszweige für Jazz verbundenen Internationalisierung auf die bereits vorhandenen bzw. sich nach und nach verändernden Strukturen der Grazer Jazzszene. Ein Literaturverzeichnis, ein Block mit Fotos etlicher der behandelten Musiker/innen und Bands sowie ein Personenregister schließen den Band ab.
Wolfram Knauer (Juni 2017)
Flamingos und andere Paradiesvögel. 40 Jahre Leipziger Jazztage
herausgegeben von Stefan Heilig & Benjamin Heine & Laysa Herrlich
Leipzig 2016 (Jazzclub Leipzig)
368 Seiten, 39 Euro
ISBN: 978-3-00-054042-4
10. bis 12. Juni 1976: In Leipzig finden zum ersten Mal die Jazztage statt. Helmut Sachse spielt mit seinem Quartett, Ulrich Gumpert mit Günter Sommer im Duo, Luten Petrowski mit Sextet, Manfred Schulzes Ensemble und Synopsis, das spätere Zentralquartett. Es war ein identitätsstiftendes Festival, für die Musiker, die anfangs vor allem unter Landsleuten blieben, dann erste Kontakte in die “sozialistischen Bruderländer” machten und ab 1978 immer auch Musiker aus dem Westen einluden.
Aus Anlass des 40-jährigen Jubiläums hat der Jazzclub Leipzig im letzten Jahr ein Buch vorgelegt, dass 40 Jahre Leipziger Musikgeschichte, ach was, ostdeutscher, tatsächlich aber gesamtdeutscher Musikgeschichte dokumentiert. Die Plakate, die kompletten Besetzungslisten, Erinnerungen von Musikern, Veranstaltern und Fans im Publikum, Antragsprosa für den Kulturbund der DDR und vieles mehr. Da berichtet Monika Spiller, wie es dazu kam, dass Musiker ab 1980 anstelle Blumen eine Originalgrafik verschiedener Leipziger Künstler erhielten. Immo Fitzsche erinnert sich, wie er dabei half, dass westliche Musiker ihre DDR-Mark, die im Westen ja weit weniger wert waren, während des Aufenthaltes auszugeben. Die Kulturdirektion Leipzig beschwert sich 1986 über die Planung eines Punkabends. Gerhard Schulz weiß noch, wie das Festival 1998 in ein Zirkuszelt verlegt wurde, weil die Kongresshalle wegen baulicher Mängel gesperrt war. Horst-Udo Försterling war dabei, als die ersten Jazztage im vereinten Deutschland abgehalten wurden. Steffen Pohle erinnert sich an ein Gespräch mit Keith Jarrett. Stephan Kämmerer erzählt, dass Stéphane Grappelli zuerst an Johann Sebastian Bachs Grab wollte. Stefan Heilig und Benjamin Heine unterhalten sich mit dem langjährigen künstlerischen Leiter der Jazztage, Bert Noglik, und Ulrich Steinmetzger spricht mit Stefan Heilig, der 2008 die Geschäfte des Jazzclubs und damit auch die Organisation des Festivals übernahm. Zum Schluss kommen dann Joe Sachse, der insgesamt 20 Mal bei den Leipziger Jazztagen auftrat, und zwei der größten Leipziger Jazzsöhne zu Wort, nämlich Rolf und Joachim Kühn.
“Flamingos und andere Paradiesvögel” gelingt es mit vielen Fotos und Dokumenten nicht nur diejenigen Leser anzusprechen, die eine eigene Erinnerung an die Leipziger Jazztage haben, sondern darüber hinaus die Atmosphäre einer Veranstaltung heraufzubeschwören, die von einem mutigen Avantgardefestival zu einem etablierten Großereignis wurde, das die Grundingredienzien des Jazz, als Mut und Risiko, nie außer Acht ließ. Natürlich finden die großen Würfe Erwähnung, die Begegnung von Joachim Kühn mit Ornette Coleman etwa. Mehr noch aber liest man sich in den vielen Anekdoten und Erinnerungen von Machern und Auftretenden fest, die letztlich sowohl die professionelle Arbeit wie auch das ehrenamtliche Engagement feiern, eine Arbeit, die Jazzclubs und -vereine landein, landauf kennen, egal wie groß die Veranstaltungen sind, die sie zu verantworten haben. Das Buch ist damit mehr geworden als eine reine Festivalchronik. Ein würdiges Geburtstagsgeschenk: Zum Blättern mehr als zum Lesen. Zum Entdecken genauso wie zum Erinnern. Und immer wieder eine Anregung zum Hören jedweder Tondokumente, die einem die hier gelisteten Musiker und Bands vergegenwärtigen können.
Wolfram Knauer (Juni 2017)
Sing! Inge, sing! Der zerbrochene Traum der Inge Brandenburg
von Marc Boettcher
Berlin 2016 (parthas berlin)
271 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-86964-113-3
Das Nachwort gehört eigentlich an den Beginn der Geschichte: Wie der Grafiker Thomas Rautenberg auf einem Münchner Flohmarkt ein Fotoalbum einer Sängerin vor unterschiedlichen Bands entdeckte und bei dem Händler weitere 500 Fotos und zahlreiche Tonbänder. Wie er, nachdem er eine Produktion über Bert Kaempfert im Fernsehen sah, den Filmemacher ausfindig machte und anschrieb, ob er sich nicht vorstellen könne, das Leben der Inge Brandenburg zu verfilmen. Dieser Filmemacher war Marc Boettcher, und der war nach kurzem fasziniert von der Sängerin, die zu den ganz Großen im deutschen Jazz zählte, aber weitgehend vergessen schien. Den inzwischen mehrfach preisgekrönten Film produzierte er trotz erheblicher Hürden, und weil das Material, das er für die Dokumentation ausgewertet hatte, so viel mehr hergab, entschloss er sich, ein Buch zu schreiben, das die vergessene Inge Brandenburg zumindest zurück auf die Bühne der Erinnerung holt.
Er erzählt die Geschichte einer traurigen Kindheit in Leipzig, der unglücklichen Ehe der Eltern, des Heimaufenthalts, erst in Dessau, dann in Bernburg. Nach dem Krieg flüchtet Inge Brandenburg nach Augsburg, arbeitete in einer Bäckerei und nahm nebenbei Klavierunterricht. Als sie in der Schwäbischen Landeszeitung eine Annonce liest, in der eine gut aussehende Sängerin gesucht wird, bewirbt sie sich und erhält im November 1949 zum ersten Mal die Gelegenheit vor Publikum aufzutreten. Sie arbeitet mit einer Tanzkapelle, die vor allem durch amerikanische Clubs tingelt, und sie lernt mehr und mehr Jazzmusiker kennen, die sie schätzten, weil sie so deutlich kein Schlagersternchen ist, sondern sich für den aktuellen Jazz der Zeit interessiert. Böttcher hat genügend O-Töne von Brandenburg, um sie von den GI-Clubs erzählen zu lassen, vom Frankfurter Jazzkeller, von einer Tournee nach Nordafrika, von ersten Erfolgen in Skandinavien, wo sie mit den bedeutendsten schwedischen Jazzmusikern zusammenarbeitete. Sie verliebt sich in Charles Hickman, der als Disc Jockey für den AFN in Frankfurt tätig ist, und sie wird mehr und mehr auch von der breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen, als eine Sängerin im Stil amerikanischer Vorbilder, die vom Jazz her kommen, aber sich vor der Popmusik nicht scheuen. Sie tritt beim Wettbewerb des Antibes/Juan-les-Pins-Festivals im Juli 1960 auf, ist dann beim Schlagerwettbewerb in Knokke dabei und gewöhnt sich langsam daran, zwischen den Genres zu agieren, “Schlager contra Jazz”.
Auf Anregung ihrer Plattenfirma singt sie bald auch deutschsprachige Schlager, die sie selbst für “das grausamste für mich” hält. Sie würde lieber nur Jazz singen, aber vom Jazz, lautet eine Schlagzeile jener Jahre über sie, “wird man nicht satt”. Boettcher beschreibt die Wirrungen einer Künstlerkarriere der 1960er Jahre, hier eine Theaterrolle, dort ein Schlagerengagement, zwischendurch mal wieder Jazz; er weiß um Verehrer, Affären und um die Einsamkeit, die ihr steter Begleiter bleibt. Als Gegengewicht zu den Schlagerproduktionen entwickelt Brandenburg ein Programm mit dem Gunter Hampel Quartett und nahm mit ihm die Platte “It’s All Right With Me” auf, die von der Kritik entweder hoch gelobt oder schrecklich verrissen wird. Zugleich bringt sie Beat-Platten heraus, aber auch selbstgetextete Chansons (etwa “Das Riesenrad” oder “Wie ein Strohhalm im Wind” mit Musik von Wolfgang Dauner). Sie nimmt ein paar Rollen für Fernsehfilme und fürs Theater an; ihre finanzielle Lage aber wird immer prekärer. Boettcher zitiert aus Polizeiberichten und Zeugenvernehmungen etwa eines Vorfalls, bei dem Inge Brandenburg nach einem streitvollen Abend in ihrer Stammkneipe einem Taxifahrer, der sie nicht weiterfahren wollte, in den Unterarm biss. Sie streitet – glücklos – mit ihrer Plattenfirma; ihre Auftritte, egal ob vor Publikum oder den Kameras, werden selten. Sie zieht von Frankfurt nach München, macht Fernsehunterhaltung, tritt bei Kirchentagen und Jugendveranstaltungen auf. George Tabori engagiert sie 1971 für sein Stück “Pinkville” in Berlin. Gesundheitliche Probleme, beruflich aktive und ruhigere Zeiten wechseln einander ab, Depressionen und Alkohol bestimmen immer mehr ihren Alltag und behindern sie noch mehr als sonst in der beruflichen Zuverlässigkeit. 1991 veröffentlicht das Label Bear Family Records eine vielbeachtete Compilation früherer Aufnahmen und sorgt so für ein neues Interesse an der Sängerin; nach einer Stimmband-OP nimmt sie bei einer Gesangspädagogin Stimmtraining und wagt im Herbst 1993 mit dem Walter Lang Trio ein Comeback.
Als Inge Brandenburg im Februar 1999 im Alter von 70 Jahren an den Folgen des jahrzehntelangen Raubbaus stirbt, ist es schon lange einsam um sie geworden. Dem Journalist Marcus Woelfle gelingt es, wenigstens Teile des Nachlasses von Inge Brandenburg zu sichern, andere waren bereits vom Entrümpler weggeräumt worden. Und da sind wir wieder am Anfang, dort nämlich, wo Marc Boettcher ins Spiel kommt, der aus den Dokumenten erst einen großartigen Film, jetzt ein detailbesessenes Buch über eine Künstlerin gemacht hat, die zu Recht als Deutschlands größte Jazzsängerin gefeiert wurde, daneben aber am Leben und am Erfolg gescheitert ist.
“Sing, Inge sing!” ist ein oft bedrückendes Buch. Die Wendungen in Inge Brandenburgs Karriere und die Verflechtung privater Ereignisse und musikalischer Entscheidungen bieten Stoff für eine ungemein spannende Lektüre, bebildert mit Fotos und Dokumenten aus einem Leben, dass trotz aller musikalischen Glücksmomente eben auch ein “zerbrochener Traum” war.
Wolfram Knauer (März 2017)
Hobsbawm, Newton und Jazz. Zum Verhältnis von Musik und Geschichtsschreibung
herausgegeben von Andreas Linsenmann & Thorsten Hindrichs
Paderborn 2016 (Ferdinand Schöningh)
208 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-506-78295-3
Jazzfreunde kannten Eric Hobsbawm lange Jahre vor allem unter einem Pseudonym: Als Francis Newton veröffentlichte er 1959 seine Studie “The Jazz Scene”, die den Jazz einmal nicht einzig nach dem gängigen Muster einer klar gegliederten Stilgeschichte beschreibt, sondern daneben Themenfelder wie “Music, Business, People” abdeckt und damit kulturgeschichtliche Ansätze vorlegt, die bis dahin in Bezug auf den Jazz kaum existierten.
Im November 2013 widmete sich eine Tagung an der Johann Gutenberg Universität in Mainz dem – wie es im Untertitel heißt – “Verhältnis von Musik und Geschichtsschreibung” bei “Hobsbawm, Newton und Jazz”. In der Einleitung erzählen die Herausgeber die Publikationsgeschichte des Buchs und unterstreichen, warum sie die Ansätze Hobsbawms insbesondere in “The Jazz Scene” für so wegweisend halten. Der britische Kulturwissenschaftler Peter Burke ordnet “The Jazz Scene” in Hobsbawms unter Klarnamen veröffentlichte Publikationen ein. Anton Pelinka portraitiert ihn als “Intellektuellen der westlichen Gegenkultur” und diskutiert sein Verhältnis zu Marxismus, Kommunismus und den USA.
Wolfram Knauer nimmt Hobsbawms Fokus auch auf das Politische zum Anlass, die Jazzgeschichte von genau dieser Seite zu beleuchten und das sich wandelndes Verhältnis zwischen Jazz und Politik in den USA des 20sten Jahrhunderts zusammenzufassen. Viola Rühse stellt Hobsbawms Ansätze den “Jazzanalysen” Theodor W. Adornos aus den 1950er Jahren gegenüber. Martin Niederauer nimmt die Überlegungen Hobsbawms über die subversiven Aspekte des Jazz zum Anlass für einen Artikel über Herrschaft und Befreiung im Jazz, stellt fest, dass Hobsbawm in seiner Herrschaftskritik auf der politisch-sozialhistorischen Ebene verhaftet geblieben sei, verweist auf die zusätzliche musikalisch-ästhetische Ebene (Stichwort: Improvisation als emanzipatorischer Fortschritt) und resümiert, dass weder der einen noch der anderen Ebene Vorrang einzuräumen sei und wie Jazz dennoch “einen kleinen Beitrag zur Entwicklung einer Idee von Befreiung leisten” könne. Christian Broecking nimmt seine Studien über die US-amerikanische Jazzszene der 1990er und 2000er Jahre zum Anlass danach zu fragen, wie wichtig politische Intentionen für insbesondere afro-amerikanische Künstler in jenen Jahren waren.
Daniel Schläppi schließlich versucht Hobsbawms Ansätze ins 21ste Jahrhundert zu transferieren, identifiziert dafür zuerst zentrale Aspekte in dessen Sicht auf den Jazz, aber auch “Leerstellen und Denkfehler in Hobsbawms Musikverständnis”, etwas sein Festhalten am “sich am Virtuosentum labenden Geniekult”, seine Vorstellung von Herrschafts- (und Kreativitäts-)Verhältnissen in den von ihm favorisierten Bigbands, seine Vernachlässigung der Interaktion in kleineren Ensembles, und sein etwas klischeehaftes Verständnis des Protestpotentials im Jazz und bei seinen Protagonisten. Dann fragt er, inwieweit einige der Voraussetzungen, die Hobsbawm für den Jazz als gegeben setzt, im 21sten Jahrhundert überhaupt noch gelten bzw. welche neue Faktoren für heute zu untersuchen wären. Gilt also Hobsbawms Fokussierung auf “Stellenwert und Funktion des Faktors ‘Rasse'” noch? Ist sein Verständnis von Jazz als einer Art “idiomatische Leitkultur” des 20sten Jahrhunderts noch gültig? Wie müsste man die elementar veränderten Produktions-, Vermarktungs- und Konsumstrategien heute diskutieren oder überhaupt die völlig veränderte Struktur der Jazzszene? Welche Auswirkungen hat zum einen die Professionalisierung, zum anderen die Akademisierung auf Musiker und ihre Musik? Er beschreibt eine gewisse Selbstreferentialität der Jazzszene, die auf der anderen Seite aber schon lange ihren Subkulturstatus verloren habe. Er fragt nach dem Kontrast zwischen lokaler Verankerung und globaler Vernetzung im internationalen Jazz. Und er betont, dass sich eine heutige Jazzforschung auch mit Fragen zu den mehr und mehr prekären Verhältnissen umgehen müsse, in welchen viele Musiker leben, sowie mit dem Zwang und der Tendenz zur Selbstvermarktung. Schläppi beendet das Buch damit mit der Aufforderung an eine interdisziplinäre Jazzforschung, sich an Hobsbawm ein Beispiel zu nehmen und weiter zu forschen, um die Relevanz dieser Musik, ihre künstlerischen wie materiellen Zukunftsperspektiven beschreiben zu können.
“Hobsbawm, Newton und Jazz” ist bei alledem ein spannender Blick auf die weitsichtigen Ansätze des Historikers Eric J. Hobsbawm und ein gelungener Versuch, dessen Fragestellungen auf ihre Aktualität hin zu überprüfen.
Wolfram Knauer (Februar 2017)
Kontrollierter Kontrollverlust. Jazz und Psychoanalyse
herausgegeben von Konrad Heiland
Gießen 2016 (Psychosozial-Verlag)
340 Seiten, 32,90 Euro
ISBN: 978-3-8379-2530-2
Konrad Heiland ist Psychotherapeut, zugleich Autor von Musikfeatures für den Bayerischen Rundfunk. In seinem jüngsten Buch versammelt er Artikel, die sich mit beiden Bereichen seiner Tätigkeit befassen, der Psychotherapie, in der, wie es im Klappentext heißt, “freie Assoziationen fruchtbar gemacht” werden, und dem Jazz, in dem sich “die musikalischen Möglichkeiten gerade durch die Improvisation” entfalten, oder, wie er zusammenfasst: “beide profitieren von kreativer Freiheit innerhalb klarer Strukturen”.
Im Vorwort erklärt Heiland seinen eigenen Weg, zum Jazz genauso wie zur Musiktherapie. Im Eingangskapitel dann zeichnet er die parallele Entwicklung von Jazz und Psychoanalyse im 20sten Jahrhundert nach, thematisiert die stilistische Vielseitigkeit des Jazz und den Mythos der Authentizität, die Affektregulation und das Phänomen des Jazz-Kellers, die Heldenverehrung in der Musik und die “extreme Kurzlebigkeit zahlreicher Jazz-Künstler”. Theo Piegler skizziert in seinem Beitrag die Geschichte der Psychoanalyse von Siegmund Freud bis in die Gegenwart. Antje Niebuhr betrachtet die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen freier Assoziation und Improvisation, fragt, zuerst im Kontext der Psychoanalyse, dann in jenem der musikalischen Improvisation, “frei wovon und frei wofür?”, um zum Schluss ihre eigene Rolle näher zu betrachten, als Psychoanalytikerin, die ebenfalls einem seelischen Prozess unterliege, “der sich im Spannungsfeld zwischen Kontrolle und Kontrollverlust ereignet”. Um Analytiker zu sein, erklärt sie mit musikalischer Parabel, sollte man sich “seiner inneren Musik öffnen, um dann mit dem Patienten improvisieren zu können”.
Heiland spricht mit dem Geiger Uli Bartel über die Freiheiten, die über kontrollierten Kontrollverlust möglich sind, und die innerhalb konkreter Strukturen stattfinden, egal ob sich solche in musikalischer Form manifestieren oder in Spiritualität. Jörg Schaaf fragt danach, was Improvisation in der Interpretation von Mainstream-Jazz so spannend macht und betrachtet dafür nacheinander das Instrument, die Form, die melodische, rhythmische und harmonische Gestaltung. Hannes König macht sich Gedanken zur affektiven Wirkung von Jazz, fragt nach der emotionalen Tiefe, die Musik im Musizierenden genauso wie im Hörer auslösen kann und findet, das die “Atmosphäre der Freiheit” den Jazz besonders dazu befähige emotionale Reaktionen hervorzurufen. Und auch er kommt zum Schluss, dass die Tatsache, dass man bei der Jazzimprovisation auf Kontrolle verzichte, um Kontrolle zu erlangen, dieser Musik ihre ganz besondere Magie verleihe.
Joachim Ernst Berendt war anfangs Journalist und Jazzkritiker, später Produzent, Konzert- und Festivalveranstalter, noch später “geradezu (…) ein Säulenheiliger der Musiktherapie”. Konrad Heiland versucht diese verschiedenen Seiten des “Jazzpapstes” aus seiner Biographie heraus zu erklären und sie zugleich in seiner ästhetischen Haltung zum Jazz zu verorten, die immer eine suchende gewesen sei, eine Art “meditativer Versenkung, die Klangreise in die unerforschten Innenräume hinein” – also durchaus selbst erlebte Musiktherapie. Daniel Martin Feige sieht Jazz als “Artikulation und Exemplifikation von Unverfügbarkeit”. Mit der Pianistin Laia Genc spricht Konrad Heiland schließlich über Improvisation sowie über die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Unterschiede im künstlerischen Ausdruck von Frauen und Männern.
Heiland diskutiert die Musik des Labels ECM als Alternative zur afro-amerikanischen Jazzerfahrung und vergleicht die Ästhetik von ECM mit der von John Zorns Tzadik-Label. Andreas Jacke untersucht Miles’ Davis Musik zum Film “Fahrstuhl zum Schaffott” sowie sein Album “Kind of Blue” bzw. “bestehende Deutungsmuster und eigene Beschreibungen” zu diesen Projekten, die er allerdings nicht überall gebührend hinterfragt, stattdessen teilweise sogar sehr eigenwillig interpretiert (Widerspruch etwa zu seiner Interpretationen von Miles’ Aussage, es gäbe im Jazz keine falschen Töne, von Davis’ Haltung zum Free Jazz, von angeblichen Konstanten in Davis’ Spiel, oder zu seinem knappen Vergleich von Rassismus in den USA und Frankreich).
Sebastian Leikert versucht das von ihm selbst entwickelte Systems der kinestätischen Semantik, mit der sich musikalische Vorgänge psychoanalytisch beschreiben lassen, auf Miles Davis’ “Bitches Brew” anzuwenden. Andreas Jacke portraitiert den Schlagzeuger Robert Wyatt. Konrad Heiland befasst sich mit Charles Mingus und wagt dabei einige philosophisch-psychoanalytische Anmerkungen zum Thema Rassismus. Willem Strank fragt nach der Funktion von Jazz als Soundtrack zu zwei amerikanischen Film Noirs der 1950er Jahre. Christopher Dell plädiert für eine Technologie der Improvisation auch und gerade in der Architektur. Und zum Schluss erzählt Klaus Lumma von seiner persönlichen Beziehung zu New Orleans und wie der Jazz dort zwischen Begräbnisritualen, Karneval und dem Hurricane Katrina immer auch therapeutische Funktion besessen habe.
Alles in allem enthält der Band damit etliche, teils überzeugendere, teils mühsam zu lesende, teils zu Widerspruch ermutigende Beiträge. Der rote Faden ist die Aufgabe, die Heiland allen Autoren stellte, in ihrem gewählten Kapitel nämlich zumindest am Rande die Idee eines kontrollierten Kontrollverlustes in der Improvisation oder in der Psychoanalyse zu thematisieren. Am Ende mag man als Leser vielleicht nicht mit allen Facetten dessen einverstanden ist, was die Autoren da anreißen. Einen Beitrag zum Diskurs aber bieten sie allemal…
Wolfram Knauer (Februar 2017)
Categorizing Sound. Genre and Twentieth-Century Popular Music
von David Brackett
Berkeley/CA 2016 (University of California Press)
368 Seiten, 19,95 US-Dollar
ISBN: 9780520248717
Wenn etwas die Musik des 20sten Jahrhunderts bestimmte, dann die Kategorisierung von Genres. Von Anfang erhielten Schallplatten Empfehlungen dafür, in welcher Abteilung des Plattenladens sie stehen sollten, damit die Kundschaft sie auch gezielt suchen und finden kann. “File under” aber ist eine Schublade, die einbezieht und zugleich ausschließt.
David Brackett beschäftigt sich in seinem Buch “Categorizing Sound” mit ebenden Schubladen, in die populäre Musik im 20sten Jahrhundert gepresst wurde, fragt nach den Gründen solcher Zuordnung, aber auch nach ihren Auswirkungen. Er diskutiert dabei den Genre-Begriff im allgemeinen und die Unterschiede in der Darstellung populärer Musik etwa in Verkaufskatalogen der Plattenfirmen, weiß auch um den Einfluss der Charts, wie sie ab den späten 1930er Jahren zu finden sind, auf die Bedeutung von Genre-Klassifizierungen.
Dann geht er kapitelweise die verschiedenen Klassifizierungen durch, die sich im Bereich der populären Musik finden. Zu Beginn des 20sten Jahrhunderts, stellt er fest, war die wichtigste Kategorie, die Musik als “anders”, als “ungewöhnlich” herausstellte, jene der “foreign music”, unter der die Plattenindustrie in den USA alles zusammenfasste, was ethnische Zugehörigkeitsgefühle in ihrer Kundschaft hervorrufen könnte, die ja in einer Einwanderergesellschaft lebten. Das Kapitel “Forward to the Past” widmet sich frühen Bluesaufnahmen der 1920er Jahre, diskutiert Aufnahmen von Mamie Smith, aber auch solche weißer Bluessängerinnen, und beschreibt den Einfluss der Marketingentscheidung für “race records” auf die Plattenindustrie ganz allgemein.
Im Kapitel “The Newness of Old-Time Music” fragt Brackett nach den Identifikationsstrategien früher Country-Music-Aufnahmen. In “From Jazz to Pop” befasst er sich mit dem Aufstieg des Swing zur populären Musik des Tages. Dafür vergleicht er die musikalischen Vokabeln, die Musik beim Publikum “ankommen” lassen, konkret am Beispiel von “Tuxedo Junction” in der Interpretation durch Erskine Hawkins und durch Glenn Miller, wobei er ein Modell der parallelen Entwicklungen entwirft, in der es Musik gibt, die sich nach wie vor an einen speziellen (schwarzen) Käuferkreis wendet, solche, die er als “crossover race music” bezeichnet und schließlich den “Mainstream, der auf ein breites Publikum abzielt. Das Kapitel “The Corny-ness of the Folk” beschreibt einen ähnlichen Weg von “authentisch” zu breitenwirksam im Bereich der folkloristisch abstammenden Hillbilly- und Countrymusik.
Im Kapitel “The Dictionary of Soul” diskutiert Brackett die Etablierung eigener Rhythm ‘n’ Blues-Charts im Billboard-Magazin und den Aufstieg einer klar schwarz konnotierten Musik auch in die weißen Hitparaden Amerikas. “Crossover Dreams” führt diese Geschichte weiter bis in die 1980er und 1990er Jahre und identifiziert dabei insbesondere sendbare musikalische Radioformate.
Ursprünglich habe er das Buch mit einem Kapitel über Musikvideos in den 1990er Jahren und ihren Einfluss auf Genrewahrnehmung fortsetzen wollten, schreibt Brackett im letzten Kapitel, und erwähnt auch die spannenden Änderungen in den Marketingstrategien, die sich durch die Entwicklung von Music Information Retrieval-Möglichkeiten ergeben hätten, durch die potentiellen Kunden zu ihrem jeweiligen Musikgeschmack passende Genres vorgeschlagen werden.
Brackett versucht in seinem Buch letztlich also weniger eine Geschichte der Kategorisierung selbst denn vielmehr eine Geschichte der Praxis der Kategorisierung. Er fragt nach dem Warum von Genrezuschreibungen und nach den Änderungen, die zum Teil musikalisch, zum Teil durch den Markt erfolgten. Er fragt nach den Diskursen, die die Wahrnehmung von Musikgenres in ihrer Popularität, ihrem künstlerischen Anspruch, ihrem kommerziellen Erfolg beeinflussten. Sein Buch bietet darin ein Beispiel, wie man sich der Komplexität dieser Materie nähern kann, selbst wenn das Aufdröseln aller Beziehungsgeflechte manchmal zu größerer Unübersichtlichkeit führen kann.
Wolfram Knauer (Februar 2017)
Brötzmann. Graphic Works 1959-2016
von Peter Brötzmann
Hofheim 2016 (Wolke Verlag)
368 Seiten, 49 Euro
ISBN: 978-3-95593-075-2
Ein großer schwarzer Klecks über einer dicken geschwungenen Linie. Darunter, rot, wie aufgestempelt auf den dicken packpapierfarbenen Umschlag: der Buchtitel. “Brötzmann. Graphic Works 1959-2016”. Reduktion, Abstraktion, Information; Kriterien also, die einen Rahmen geben und zugleich die Fantasie anregen. Peter Brötzmanns grafisches Werk ist das Thema dieses neuen Buchs, das pro Seite mindestens eine Abbildung enthält und nur von kurzen Texten unterbrochen ist. Im ersten dieser Beiträge stellt David Keenan Bezüge zwischen der grafischen Arbeit des Saxophonisten und seiner Musik her. Jost Gebers erinnert sich an ein Plakat fürs Total Music Meeting 1979 mit einem Foto, das Gebers anfangs absurd fand, das sich später aber als das nachgefragteste Poster des Festivals erwies. John Corbett diskutiert Brötzmanns “Design-Konzept” und reißt die Frage an, inwieweit die Wahrnehmung des Musikers nicht auch durch seine bildnerische Kunst geprägt ist, da Brötzmann viele seiner Cover selbst gestalten konnte. Corbett beschreibt außerdem die Designanweisungen, die in der Regel mit den Entwürfen des Saxophonisten kommen. Und er fragt sich, was Brötzmann wohl von den Kopien seiner Entwürfe hält, die er beispielsweise in Klaus Untiets Design der JazzWerkStatt-Cover erkennt (nebenbei: Untiet ist auch für die Gestaltung dieses Buchs zuständig). Lasse Marhaug betont das Spielerische in Brötzmanns bildnerischen Arbeiten. Und im längsten Textbeitrag zum Buch nähert sich Karl Lippegaus erst der Plattencover-Gestaltung im Jazz seit Einführung der Langspielplatte, und erklärt dann, dass Brötzmanns Entwürfe für Platten und Poster durchaus auch die künstlerische Haltung seiner Musik widerspiegeln.
Der Hauptteil des Buchs aber sind die Bilder. Sie stehen im Vordergrund, mit zurückgenommenen Zusatzinformationen, also bei Postern Jahres- und Größenangabe, bei Covern die Angabe von Jahr, Label und Format, ganz unten in der Fußzeile, direkt neben der Seitenzahl. Den Anfang macht die Typographie – wichtiges Werkzeug für jeder Grafiker, gerade wenn er, wie Brötzmann in den späten 1950er Jahren, in der Werbebranche tätig ist. Es sind diese leicht ausgefransten Buchstaben und Zahlen, die sich immer wieder in seiner Arbeit finden und die, in einigen CD-Veröffentlichungen reduziert auf Material (Hintergrund) und Typographie sofort als “Brötzmannesk” erkennbar sind. Ob er nämlich Fotos oder klar konturierte grafische Elemente benutzt; immer spielt die Typographie eine wichtige Rolle, fasst zusammen, erklärt, vermittelt.
Bei den Abbildungen seiner Poster fällt eine Werbegrafik für PUR-Zigaretten aus dem Rahmen, schon die nächste Seite aber enthält ein Plakat für das Konzert des Charles Mingus Sextet in Wuppertal im Jahr 1964. Immer wieder stehen künstlerisches Original (beispielsweise ein Holzschnitt oder eine mixed-media-Collage) und das daraus resultierende Ergebnis (Foto oder Cover) nebeneinander, lassen dabei auch das Mitdenken der Nutzung des Bildes erkennen. Einige seiner LP-Cover wirken geradezu ikonisch, “Machine Gun” von 1968 insbesondere, aber auch Globe Unity’s “Improvisations” von 1978. Fürs Label FMP entwickelte er verschiedene Linien, die sich teilweise auch in den Postern fürs Total Music Meeting wiederfinden lassen. Einzelfotos oder Fotostrecken stehen für das Dokumentarische dieser Veröffentlichungen, und wenn man sie mit einigen CD-Entwürfen aus den 1990er Jahren vergleicht, erkennt man in letzteren geradezu ein nostalgisch anmutendes Wiederaufgreifen jener früheren Elemente.
Zum Schluss gibt es einige Fotos aus der Werkstatt Brötzmanns, dem kreativen Studio, in dem seine Drucke entstehen (und in dessen Hintergrund man CDs von Coleman Hawkins und Lester Young ausmacht). Womit wir dann endlich bei der Musik wären. Obwohl: Um die geht es in diesem Buch eigentlich nur am Rande, so wie es bei seiner Musik (live) höchstens am Rande um die Gestaltung seiner Platten oder Ankündigungsplakate geht. In der Kunstgeschichte spricht man gern von “künstlerischen Doppelbegabungen”, doch wenn man sich aufmacht, nach Parallelen der Ergebnisse in Bild und Klang zu suchen, wird man weniger fündig als wenn man sich über die Parallelen im künstlerischen Ansatz Gedanken macht. Dazu findet sich etliches in Gérard Rouys 2014 ebenfalls bei Wolke erschienenen Buch ” We Thought We Could Change the World. Conversations with Gérard Rouy” (siehe unsere damalige Rezension).
“Brötzmann. Graphic Works 1959-2016” ist ein Kompendium Brötzmanns grafischer Arbeit (ein Katalog seiner Malerei und weiterer Druckgrafik erschien 2010). In den zahlreichen Abbildungen dokumentiert es auch Jazzgeschichte, präsentiert aber vor allem eine faszinierende weitere Perspektive eines der prägenden Saxophonisten unserer Zeit.
Wolfram Knauer (Januar 2017)
Die Stasi swingt nicht. Ein Jazzfan im Kalten Krieg
von Siegfried Schmidt-Joos
Halle (Saale) 2016 (Mitteldeutscher Verlag)
608 Seiten, 29,95 Euro
ISBN: 978-3-95462-761-5
Es sei keine Autobiographie, insistiert Siegfried Schmidt-Joos, angesprochen auf sein jüngstes Buch, das schließlich nur einen Teil seines Lebens beschreibe, von seiner Geburt, 1936 in Gotha, bis zum Beginn seiner Laufbahn bei der ARD, 1960 bei Radio Bremen. Es ist auch keine Jazzgeschichte Deutschlands – dafür ist der Ausschnitt genauso zu knapp. Und doch stimmt beides: Schmidt-Joos begleitete schließlich die Musik des 20sten Jahrhunderts durch eine Vielzahl and Genres und Stilen, und seine Liebe zur Musik war geprägt von seinen Erfahrungen in zwei (und in der Erinnerung sogar drei) Systemen. Diese Erinnerungen prägten seinen Blick auf den Jazz und die populäre Musik. Sein Buch ist damit eine Standortbestimmung im Rückblick, eine bewusst gewählte subjektive Perspektive auf die Stellung des Jazz und seine Rezeption in der DDR und im Westdeutschland der Nachkriegszeit. Und das ist, um es schon vorweg zu sagen, erhellend und lesenswert wie wenig, was bislang über die deutsche Jazzgeschichte geschrieben wurde.
Schmidt-Joos beginnt sein Buch 1957 und endet nur unwesentlich später, mit der Erfahrung seiner “Republikflucht” also, mit dem Wechsel von Ost nach West. Dazwischen erzählt er von seiner Kindheit in Gotha, vom Unfall, als er beim Spielen im Sommer 1945 eine Panzerfaust fand, die explodierte und ihn seine rechte Hand kostete. Er erzählt vom Entdecken des Jazz und von der subversiven Kraft, die dieser Musik in den Kriegsjahren zugekommen sei, erinnert an die Ressentiments gegen den Jazz im Dritten Reich genauso wie an die Musiker und Fans, die dennoch zu “ihrer” Musik standen. Er lässt seine Leser den Jazzbeginn auch in der sowjetischen Zone miterleben und zeigt, wie die anfängliche Offenheit langsam einer weltanschaulichen Skepsis wich. Und er beschreibt, mit welchen ideologischen Verrenkungen das System den Jazz bald zum Instrument des Klassenfeinds stilisierte.
1950 hörte der Oberschüler Siegfried Schmidt im AFN Frankfurt die Aufnahme “Trouble, Trouble” mit Betty Roché und war gefangen. Er schildert, wie sein immer stärkeres Interesse an der Musik zumindest im Rückblick einherging mit einer kritischeren Auseinandersetzung mit den politischen Zuständen seines eigenen Landes. Bei einem Westbesuch in Heidelberg stieß er auf sein erstes Jazzbuch (Robert Goffins “Jazz – From the Congo to the Metropolitan”) und fing an, seine Liebe zu dieser Musik auch historisch zu untermauern. Er studierte Germanistik, der Jazz blieb ein Hobby, eine Liebhaberei, wie er schreibt, doch in dem großen Ernst, mit dem er diese betrieb, war er nicht allein. Schmidt-Joos erzählt von Reginald Rudorf, dem er im März 1954 zum ersten Mal begegnete, und der ihm erklärte, alle Jazzforscher seien Marxisten. Rudorf hielt Vorträge, leitete Diskussionen, ordnete die verschiedenen Jazzentwicklungen der Zeit ästhetisch ein. Die von ihm gegründete Interessengemeinschaft Jazz Leipzig, die eine Weile eng mit der Arbeitsgemeinschaft Jazz in Halle zusammenarbeitete, wurde nach nur vier Monaten aufgelöst, weil die Mitglieder nicht für die Kasernierte Volkspolizei werben wollten, und weil sie beabsichtigten westliche Musiker und Jazzkenner zu Ehrenmitgliedern zu machen.
Schmidt-Joos ist Zeitzeuge für die Jazzszenen in “beiden Deutschlands” jener Jahre, und er macht nicht den Fehler, diese komplett voneinander zu treffen, sondern stellt nachvollziehbar die Diskurse dar, die sich zum Teil ähnelten und zum Teil völlig auseinandergingen. Dabei versucht er den Spagat, Innenansichten genauso zu liefern wie die historische Einordnung. Oder vielleicht eher andersrum: Das Gerüst der historischen Fakten, die er, später Spiegel-erprobter Journalist, mit Belegen aus zeitgenössischen Quellen oder Fachliteratur belegt, füllt er mit den eigenen Erinnerungen auf, die ihnen die persönliche Perspektive verleihen. “Die Lehrpläne”, schreibt er etwa über die Aktivitäten der (West-)Deutschen Jazz Föderation in den 1950er Jahren, “wie publizistisch und didaktisch mit dem Jazz umzugehen sei, waren in den Jazz-Clubs entwickelt worden”, um dann anhand konkreter Beispiele (Dietrich Schulz-Köhn, Horst Lippmann, Olaf Hudtwalcker) zu erläutern, was das konkret bedeutet. Er beschreibt die ästhetischen Diskussionen, die anhuben, als aus den ehrenamtlich organisierten Hot Clubs festere Institutionen wurden, DJF etwa oder die ersten Jazzredaktionen der ARD-Rundfunkanstalten.
Es sind solche Asides in die Details deutscher Jazzgeschichte, die Schmidt-Joos’ Erinnerungen besonders wertvoll machen: Wie die Deutsche Jazzföderation der Musik zu ihrer ersten bundesdeutschen Lobby verhalf; oder wie Dieter Zimmerle strategisch klug die Zeitschrift Jazz Podium gründete und eng mit den verschiedenen Aktivitäten der Szene verzahnte. Er setzt sich ausführlich mit der “grauen Eminenz” hinter all diesen Diskussionen auseinander, Joachim Ernst Berendt, beleuchtet dessen Debatte mit Theodor W. Adorno über die Relevanz des Jazz, und rückt etliche Legenden über die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Jazzmusikern in jener Zeit zurecht. Berendt habe bei solchen Legendenbildungen eine wichtige Rolle gespielt, argumentiert er, habe immer wieder Zusammenhänge vereinfacht – damit letztendlich aber auch verfälscht.
Seit 1955 konnte Schmidt-Joos diese Diskussionen bei regelmäßigen Westbesuchen auch persönlich mitverfolgen und weiß also um die Parallelen und die Unterschiede zu den Diskussionen, die seine Freunde und Kollegen im Osten Deutschlands zur selben Zeit führten. Schmidt-Joos war auf der einen Seite ein wichtiges Mitglied der Hallenser Jazzszene, wurde zunehmend aber auch zu einem Mittler zwischen den Szenen – Halle, Leipzig, Westdeutschland. Als Reginald Rudorf im Oktober zu einem geheimen Treffen der ihm bekannten Jazzkreise in der DDR einlud, ahnte Schmidt-Joos, dies könne vielleicht der Anfang einer DDR-Jazzföderation sein, in Anlehnung an die DJF im Westen. Tatsächlich handelte es sich um eine Art Konferenz, bei der darüber diskutiert wurde, wie die Jazzliebhaber mit den Reglementierungen durch den Staat umgehen sollten, dass es notwendig sei, den Jazz aus der “Illegalität” zu holen. In der Folge kam man ins Gespräch mit den Staats-Funktionären und publizierte (in einer Auflage von 100 Exemplaren) ein Jazz-Journal, das allerdings nur dreimal erscheinen durfte. Im Zuge der damaligen politischen Tauwetter-Periode wurde Jazz also tatsächlich stärker öffentlich präsentiert und wahrgenommen, etwa in einer Sendung im DDR-Fernsehen Anfang 1956 oder beim ersten DDR-Jazzfestival in Halle im Dezember desselben Jahres.
Dann aber folgte der von Schmidt-Joos nicht weniger eindringlich beschriebene Backlash, etwa als Reginald Rudorfs Film “Vom Lebensweg des Jazz” über die Entstehung und Geschichte des Jazz, 1956 für die DEFA gedreht, von 40 auf 20 Minuten heruntergekürzt wurde. Der Druck auf die Jazz-Aktiven nahm zu. Die Jazzwelt war eben auch eine Welt der Unangepassten und damit den Sicherheitsorganen der DDR suspekt. Die Stasi nahm die Aktivitäten der Wortführer des Jazz mehr und mehr unter Beobachtung, und als die ersten Verhaftungen und Anklagen erfolgten, entschieden sich Schmidt-Joos und sein Freund, der Gitarrist Alfons Zschockelt, die DDR zu verlassen.
Im letzten Viertel seines Buchs dann, Schmidt-Joos ist in Frankfurt gelandet, gelingt ihm eine bemerkenswerte Darstellung der Diskurse im westdeutschen Jazz der zweiten Hälfte der 1950er Jahre. Er berichtet vom Jazzkeller Frankfurt, vom hiesigen Musikhaus Glier als Umschlagplatz für Musiker und Fans, von seiner Zusammenarbeit mit Joachim Ernst Berendt bei der Neuausgabe des Jazzbuchs von 1958, oder mit Fritz Rau im “Konzertreferat Inland” der DJF, der Keimzelle der späteren Konzertagentur Lippmann und Rau. Er schiebt ein Kapitel ein über die Bedeutung der Voice of America und ihres Moderators Willis Conover, schreibt über die Tourneen des amerikanischen State Department, die ausdrücklich als eine kultur-politische Waffe im Kalten Krieg gedacht waren, um dann seine eigene Mitarbeit in der Zeitschrift “schlagzeug” zu thematisieren, herausgegeben vom Äquator-Verlag, dessen Ziel es war, mit Zeitschriften auch im Osten Deutschlands mehr oder weniger unterschwellige propagandistisch zu wirken. Im Januar 1960 erhielt Schmidt-Joos eine Festanstellung als Jazzredakteur bei Radio Bremen. Es ist eine neue Periode seines Lebens und seiner professionellen Auseinandersetzung mit der Musik.
“Die Stasi swingt nicht” ist, wie eingangs gesagt, keine Autobiographie, auf jeden Fall aber ein autobiographisch gefärbter Blick auf eine Epoche. Schmidt-Joos zeigt sich darin als begnadeter Erzähler, dem es insbesondere gelingt, seinen Lesern viele der Macher jener Jahre mit sehr persönlichen Erinnerungen näherzubringen, den schon genannten Reginald Rudorf beispielsweise oder Karlheinz Drechsel, Günter Boas, Werner Wunderlich, Horst H. Lange, Theo Lehmann und viele andere. Seine Entscheidung, die Geschichte des Jazz in beiden Teilen Deutschlands der 1950er Jahre miteinander zu verzahnen, ist bei alledem nicht so sehr eine dramaturgische Entscheidung, sondern vielmehr die notwendige Reaktion auf seine eigene Biographie, in der sich die Erlebnisse im Osten mit den Erfahrungen im Westen immer gegeneinander befeuerten. Eine ungemein kurzweilige Lektüre, die, weit übers Autobiographische hinaus, Zeitgeschichte lebendig werden lässt.
Wolfram Knauer (Dezember 2016)
Jazzistisches
Von Johannes Beringer
Berlin 2016 (Johannes Beringer / books on demand)
206 Seiten, 16,90 Euro
ISBN: 978-3-7412-3669-3
Johannes Beringer ist ein Schweizer Publizist, Herausgeber und Übersetzer. Während er meist über Film schrieb, galt seine Leidenschaft nebenbei auch dem Jazz; im vorliegenden selbst-verlegten Band fasst er seine diesbezüglichen “unbeauftragten aber nicht nebenbei” entstandenen Texte zusammen. In fünf Kapiteln lässt er Eindrücke von Aufnahmen, Konzerten, Erlebnissen mit der Musik Revue passieren, eigene, also durchaus autobiographisch lesbare Erfahrungen, gebrochen durch Autoren, die sein Jazzverständnis mit prägen halfen, durch Filme, die sein Bild der Musik beeinflussten, und durch Anekdoten, die verständlich machen, wie sich sein Jazzgeschmack entwickelte.
Beringer, 1941 in Winterthur geboren, schaute 1963 im Zürcher Club “Africana” vorbei, wo Dollar Brand ein Engagement hatte und Irène Schweizer Einflüsse der südafrikanischen Energie aufschnappte und in ihre Musik übertrug. Später zog er nach Berlin, wo er noch heute lebt. Sein Buch greift auf Erlebnisse in beiden Ländern zurück, wechselt dabei wie eine Improvisation von Thema zu Thema, angestoßen mal durch Musikernamen, dann durch spezielle Aufnahmen, durch die Erinnerung an ein Konzert, durch die Reflexion über ein Instrument und ähnliches mehr. Da geht es im zweiten Kapitel in fast elliptischer Form etwa von der Unmittelbarkeit der Musik zu einer Reflexion über schwarze und weiße Bassisten, zu Charles Mingus’ “Scenes in the City”, zu einem Auftritt des Mingus Quintett im Quartier Latin 1976, zu Bill Evans, Paul Bley und Keith Jarrett, zu Steve Lacy, Ornette Coleman und Jimmy Giuffre, um schließlich bei der Frage zu landen, ob all diese (und andere) Musik Trost oder Besänftigung erzeugt, ob sie Seelenmusik oder Seelenmassage sei. Kapitel 3 widmet sich Joe Hendersons “Recorda me”, dem Thema der Jazz-Zeitschriften, der Verbindung von Ekstase und Technik in der Musik von Joachim Kühn, um mit der Erinnerung an ein Konzert von Lee Konitz zu enden. Kapitel 4 beginnt mit der Überlegung, welche Musik wohl vom ’68er Lebensgefühl tangiert sei, fragt nach dem gesellschaftlichen Bewusstsein von Jazzmusikern, blickt auf Jazzstandards und freie Improvisation. In Kapitel 5 schließlich nimmt Beringer Jacques Rédas Einlassungen zur “einzigen Farbe” (nämlich der blauen) zum Ausgangspunkt, erinnert daran, wie der Jazz nach Europa gelangte, hört Aufnahmen von Chet Baker (1955) und macht sich Gedanken zur Gestik von Miles Davis, lauscht Andrew Hill und Steve Kuhn, liest Martin Williams, Whitney Balliett und Nat Hentoff, und versichert, dass es nie falsch sei, eine Platte zu kaufen, auf der Paul Motian mitspiele.
Johannes Beringers Buch ist also wie eine ausgedehnte Improvisation – man muss sich schon drauf einlassen, den Gedankenspiralen des Autors zu folgen, die selten chronologisch angelegt sind und auch thematische Blöcke immer wieder sprengen. Das macht die gezielte Lektüre, die es insbesondere einem Rezensenten einfacher macht, etwas schwierig, weil es immer leichter ist, einen Faden zu verfolgen als immer neu sich formierenden Themensträngen. Also sollte man das Buch gerade nicht als Rezensent lesen, sondern es eher als eine Art Gesprächsangebot verstehen, bei dem man sich festquatscht und die Themen wechselt, die eine oder andere Aufnahme gemeinsam hört, um dann in besonders eindrucksvollen Erinnerungen zu schwelgen. Johannes Beringers Buch handelt vom Jazz. Es ist kein Jazz, aber etwas “Jazzistisches” hat es in dieser Grundhaltung allemal.
Wolfram Knauer (Oktober 2016)
Jazz im Film, 1927-1965
von Klaus Huckert & Edgar Huckert
Saarbrücken 2016 (35 MM. Das Retro-Film-Magazin. Sonderausgabe)
76 Seiten, 6 Euro
Web: 35MM Retrofilmmagazin
“Jazz im Film”, das ist eine ganz eigene Thematik. Es gibt Filme, die das Thema “Jazz” behandeln, Filmbiographien realer oder fiktiver Musiker, Filme, in denen Jazz eine dramaturgische Rolle spielt, oder Filme, die sich vor allem durch ihre Soundtrack als Jazzfilme definieren. Klaus Huckert und Edgar Huckert, die seit langem die Website Jazz im Film betreiben, haben ihr Wissen für eine Sonderausgabe des Filmmagazins “35MM” zusammengefasst.
Sie beginnen ihren Überblick im Jahr 1927 und mit dem Film “The Jazz Singer”, der als einer der ersten Tonfilme des Genres gilt, dessen Titel aber, wie die Autoren schreiben, irreführend ist, weil es sich bei der von Al Jolson dargestellten Figur eher um einen Minstrelsänger handelt.
Sie behandeln Kurzfilme wie “St. Louis Blues” mit Bessie Smith oder “Black and Tan” mit Duke Ellington, und Cartoons der 1930er Jahre, in denen Jazz immer wieder eine Rolle spielte. Ein umfassendes Kapitel ist den Filmen der 1930er Jahre gewidmet, bei denen es sich oft um Revuefilme handelte, aber auch Kurzfilmen, in denen Swingorchester der Zeit im Mittelpunkt standen. Neben Hollywood findet dabei auch das französische und deutsche Kino Erwähnung. Für die 1940er Jahre fügen die Autoren “Spielfilme mit Bezug zur Geschichte des Jazz” hinzu, also etwa Victor Schertzingers “Birth of the Blues” oder Arthur Lubins “New Orleans”, außerdem die ersten Biopics über die Dorsey Brothers, Bojangles Robinson und Bix Beiderbecke. Für die 1950er Jahre kommen Anmerkungen über Kriminalfilme und Streifen aus dem Umkreis der Nouvelle Vague hinzu, aber auch wichtige deutsche Filme wie “Liebe, Jazz und Übermut” mit Peter Alexander oder “Das Brot der frühen Jahre” mit Musik von Attila Zoller. Ein eigenes Kapitel erhält die “Jazz im Film”-Literatur. Geraldine Monika Stratemann erzählt von der Leidenschaft ihres verstorbenen Mannes, des Zahnarztes und Jazz-Filmografen Klaus Stratemann, dessen Bücher etwa zu Duke Ellington und Louis Armstrong zu den Standardwerken der Jazzfilm-Literatur gehören. Die Gegenwart (was hier die Zeit von 1966 bis 2018 (!) bedeutet) wird in einem zweiten Band behandelt, auf den die Autoren zum Schluss ihrer Abhandlung verweisen. Eine Filmografie der wichtigsten Streifen von 1921 bis 1965 beschließt die Publikation.
“Jazz im Film 1927-1965” gibt einen schnellen Überblick über die verschiedenen Aspekte des Themas. Es ist leicht lesbar und richtet sich dabei an Film- und Jazzfans gleichermaßen. Es enthält vereinzelte Wertungen, die dem Leser aber durchaus die eigene Meinung freistellen. Am meisten haben diesen Rezensenten die etwas schablonenhaften musikalischen Stilbeschreibungen irritiert, die dem Jazzlaien Begriffe wie New Orleans-Jazz, Dixieland, Swing oder Bebop näherbringen wollen, sich dabei aber stark in Klischees genügen. Tatsächlich wäre statt solche Beschreibungen vielleicht eine Einordnung der Atmosphäre hilfreicher gewesen, für die Jazz in jenen Jahren stand. Und schließlich fehlt in dem Büchlein ein Kapitel über die Rezeption der beschriebenen Filme und dessen, wofür sie standen – in den USA genauso wie zumindest in Deutschland.
Doch mag solche Kritik zu viel verlangen von einem Büchlein, das vor allem einen komprimierten Überblick zum Ziel hat und schließlich in seinem Literaturüberblick auf genügend Veröffentlichungen hinweist, die genau solche Kontextualisierungen zum Thema haben. “Jazz im Film 1927-1965” ist im Din-A-4-Format mit vielen farbigen Abbildungen von Filmplakaten oder Szenenfotos allemal eine lobenswerte Publikation, die neugierig macht auf einige Streifen, die man bereits kennt, und auf viele, die man immer schon mal sehen und hören wollte.
Wolfram Knauer (August 2016)
Dieses unbändige Gefühl der Freiheit. Irène Schweizer – Jazz, Avantgarde, Politik
von Christian Broecking
Berlin 2016 (Broecking Verlag)
479 Seiten, 34,99 Euro
ISBN: 978-3-938763-43-8
This Uncontainable Feeling of Freedom. Irène Schweizer – European Jazz and the Politics of Improvisation
by Christian Broecking (translation: Jeb Bishop)
Berlin 2021
471 Seiten, 19,99 (E-Book)
ISBN: 978-3-75411-017-1
Im Februar 2013 fuhr Christian Broecking erstmals nach Zürich, um sich mit Irène Schweizer zu unterhalten. Die Pianistin zeigt sich eher wortkarg; da gäbe es doch ein paar schöne Artikel, sagt sie und gibt Broecking einige Zeitungsausschnitte, mehr bräuchte es doch nicht. Überhaupt, über sie zu erzählen, das könnten andere doch viel besser als sie. In den folgenden Jahren ist Broecking immer wieder bei ihr, und nach und nach öffnet sich Schweizer, erzählt von ihrem langen Musikerleben, daneben aber auch von ihren politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen. Zwischendurch trifft sich der Autor mit vielen ihrer Kolleg/innen über die Jahre, fragt sie nach der Pianistin aus, konfrontiert Schweizer dann mit diesen Erinnerungen und gelangt schließlich zu einer umfassenden Biographie, die tatsächlich viel mehr ist: nämlich eine Geschichte des europäischen Jazz seit den 1960er Jahren, erzählt aus der Perspektive eine seiner wichtigsten Protagonistinnen.
Broecking wählt den Ansatz der Oral History, unterhält sich mit Weggefährt/innen, mit der Schwester, mit Veranstaltern und Produzenten, vor allem aber mit Musikerkolleg/innen. Wir erfahren von der Kindheit Schweizers in der Gastwirtschaft der Familie in Schaffhausen und dem Klavier im Festsaal, von der ersten Begegnung mit dem Jazz und der ersten Band, den Crazy Stokers, die bereits ganz ohne stilistische Einschränkungen traditionellen und modernen Jazz mischten.
Ende der 1950er Jahre nahm Irène mit den Modern Jazz Preachers, die Art Blakeys Jazz Messengers nacheiferten, mehrfach am Amateur-Jazz-Festival Zürich teil. Mit ihrem eigenem Trio trat sie ab 1963 auf, wurde bald von der südafrikanischen Exil-Musiker-Szene in Zürich beeinflusst, und wechselte nach und nach vom Amateur- ins Profilager. Schweizer traf auf Peter Brötzmann und Peter Kowald, und sie hörte Cecil Taylor, der sie erst in eine Krise stürzte, letzten Endes aber zur Neubesinnung des eigenen Stils brachte. Sie wurde Teil einer europäischen Free-Music-Szene, wirkte im Kreis um das Label Free Music Production (FMP) mit, spielte auf den großen Festivals von Berlin oder Willisau. 1976 begann sie neben der Ensemblearbeit ihre “Solo-Karriere”, wirkte daneben in Bands und bei Veranstaltungen mit, die der Frauenbewegung nahestanden, etwa der Feminist Improvising Group FIG.
Neben der Musik war Irène Schweizer dabei immer eine politische Frau, interessierte sich für gesellschaftliche Diskurse der Zeit, arbeite – selbst eine bekennende Lesbe – in der Homosexuellen Frauengruppe Zürich mit. Irgendwann fand die Selbstorganisation auch in der Szene statt: beim Festival Fabrikjazz etwa oder beim Label Intakt Records. Schweizer engagierte sich, auch musikalisch, in der Anti-Apartheid-Bewegung, und sie wurde vom Schweizer Geheimdienst überwacht.
1991 fand das erste Konzert des Trios Les Diaboliques mit Maggie Nicols und Joëlle Léandre statt, im selben Jahr erhielt Schweizer den Kunstpreis der Stadt Zürich. Sie wurde mehr und mehr zur Grande Dame des Schweizer Jazz, und Christian Broecking dokumentiert ausführlich ihre Reisen, Konzerte, Begegnungen, die ästhetischen Diskurse, in denen sie mitmischte und zu denen sie durchaus eine Meinung hat.
Eine kurze Einschätzung ihrer Musik und eine Transkription der “Jungle Beats II” von Olivier Senn und Toni Bechtold beschließen das Buch, das außerdem eine Diskographie, einen umfangreiches Fotokapitel sowie ein akribisches Register enthält.
Dass Broecking selbst, aber auch so viele andere, Irène Schweizer als eher wortkarg schildern, mag man am Ende der lebendigen Lektüre gar nicht glauben. Tatsächlich erfährt man am meisten von Schweizers Freundinnen und Freunden, von den Kolleginnen und Kollegen, die sie zum Teil seit langem kennen, die freimütig über ihre Marotten, ihre Stärken wie Schwächen berichten und dabei eine Künstlerin präsentieren, die einen eigenen und doch recht klaren Lebensweg gegangen ist. “Christian Broecking”, heißt es im Covertext des Buchs “hat eine der ungewöhnlichsten Musikerinnenbiografien der europäischen Nachkriegszeit rekonstruiert.” Dass ihm dies mit sorgfältigen Hintergrundrecherchen und Zeitzeugeninterviews so ungemein lebendig gelungen ist, ist ein Verdienst an sich. Sein Buch handelt von Irène Schweizer, tatsächlich aber beschreibt es eine ganz spezifische Perspektive der Entwicklung improvisierter Musik in Europa seit den 1960er Jahren. Und ist damit weit mehr als eine Biographie…
Wolfram Knauer (Juli 2016)
Nachtrag Mai 2021:
Es waren einige der letzten Telefonate, die wir mit Christian Broecking führten, in denen er eine englischsprachige Ausgabe seines Buchs visionierte. Die Suche nach einem adäquaten Übersetzer führte ihn zu Jeb Bishop, den Chicagoer Posaunisten und professionellen Übersetzer. Das Erscheinen dieser englischsprachigen Ausgabe seines Buchs hat Broecking nicht mehr erlebt – er verstarb Anfang 2021 in Berlin.
Für Augen & Ohren. Schallplatte und Kunst – Edition Longplay
von Rainer Haarmann
Schülp 2016 (Edition Longplay)
152 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3-00-051925-3
Rainer Haarmann ist ein Überzeugungstäter. Er gründete und leitete über lange Jahre das Festival Jazz Baltica, mit dem er jedes Jahr die verschlafene schleswig-holsteinische Provinz für ein paar Tage zum Zentrum des internationalen Jazzlebens machte. Nachdem Haarmann Im Sommer 2011 sein letztes Festival leitete, überlegte er, wie es nun weiter gehen könnte. Der Zufall kam ihm zu Hilfe, aber eigentlich war es gar kein Zufall, sondern eher das lange überfällige Zusammenfallen der unterschiedlichen Interessen, die ihn immer schon umtrieben: die Musik, die Bildende Kunst und die Leidenschaft für das Medium der Langspielplatte. Im Herbst 2011 also traf Haarmann zusammen mit der Pianistin Clara Haberkamp bei einer Kunstmesse in Berlin die Malerin Rosilene Ludovico, die ihn auf die Idee brachte, Kunst, Musik und Schallplatte miteinander zu verbinden. Er machte sich mit dem Procedere der Vinyl-Plattenherstellung vertraut und produzierte im Frühjahr 2012 die erste LP der neuen Edition Longplay: “Don Friedman Plays Don Friedman”, aufgenommen bei der letzten von Haarmann verantworteten Jazz Baltica. Es folgen 14 weitere Platten, und ein Ende ist nicht in Sicht.
Jetzt hat Rainer Haarmann ein Buch herausgegeben, in dem er die Genese seines Plattenlabels beschreibt. Er beginnt mit einem allgemeinen Kapitel über die Geschichte der Schallplatte von Schellack bis Download, an das sich ein zweites anschließt, das – vor allem anhand von Fotos – die Vielfalt der Covergestaltung in der Jazzgeschichte dokumentiert. Die meisten dieser Albumcover stammen – wie anhand der zahlreichen Autogramme unschwer zu erkennen ist – aus der eigenen Sammlung des Autors. Haarmann schildert die Idee zur ungewöhnlichen Vinyl-Reihe, in der er Musiker und Bildende Künstler paarte, und Wolfgang Sandner nobilitiert das Ganze mit einem Essay, der betont, wie sich Musik und Bildende Kunst auf vielfältige Art und Weise ergänzen können, der aber auch auf die konkreten Beispiele der Edition Longplay eingeht. Den größten Teil des Buchs macht dann ein Durchgang durch alle 15 Alben aus, jeweils eingeleitet mit der Abbildung des Covers, mit Interviewausschnitten oder kurzen Texten zu den Künstlern (also den Musikern sowie den Malern), mit Fotos aus beiden Bereichen und weiteren Abbildungen des künstlerischen Schaffens der Maler. Die meisten dieser Texte entstammen fremden Quellen, Plattenrezensionen etwa, Kunstkatalogen, Redemanuskripten, ab und an aber auch eigens für das Buch verfassten Texten der Künstler. Zu finden sind dabei Kapitel über: Don Friedman & Rolf Rose; Clara Haberkamp & Rosilene Ludovico; Martin Wind & Max Neumann; Hank Jones, Don Friedman & Dietrich Rünger; Kate McGarry, Keith Ganz & Theo Bleckmann; Jonathan Kreisberg & Gabriele Worgitzki; Edmar Castaneda, Joe Locke & Christine Streuli; Rainer Böhm, Johannes Enders & Julia Schmidt; Martin Wind & Max Neumann; Katja Riemann, Christopher Dell & Etel Adnan; Alan Broadbent & Martina Geist; Charlotte Greve, Keisuke Matsuno & Julia Schmidt; Axel Schlosser & Martina Geist.
“Für Augen & Ohren” ist eine Ermutigung, beide zu öffnen, Augen wie Ohren, auch wenn bei der Lektüre das Hören zu kurz kommt, da die Musik diesem Buch nun mal nicht beiliegt. Doch das Konzept, das sich Rainer Haarmann für sein Label vorgestellt hat, kommt deutlich rüber und überzeugt gerade auch in der Dokumentation dieses Buchs. Stellenweise weiß man dabei nicht genau, was man gerade vor sich hat: Mal liest es sich wie eine Reflexion über Kunst und Musik, mal wie ein etwas ausführlich geratener Labelprospekt einschießlich Rezensionsauszügen, mal wie eine Hommage an die Künstler, dann aber auch wieder wie eine stolze Selbsterklärung des Autors. Vielleicht ist es tatsächlich von allem ein bisschen. Textlich mag man sich an ein paar zu vielen Wiederholungen stören, vielleicht auch an den dauernden Ich-Bezügen (“mein Festival”, “mein Label”, “meine Neugierde”, “mein Bemühen”). Statt der Katalog- und Zeitungsausrisse mag man sich mehr Texte wie den von Wolfgang Sandner wünschen, dem es auf nur vier Seiten gelingt einen Gedankenkosmos über die Durchlässigkeit der Gattungsgrenzen (Malerei, Skulptur, Musik, Tanz) auszubreiten. Und schließlich hätte dem Buch ein ordentliches Lektorat gut getan, um ärgerliche Fehler insbesondere bei Namen zu verhindern (“Scott Joblin”, “Kid Oliver”, “Marry Records”, “Jobst Gebers”, “Johnathan Blake” [OOPS, und da erwischen Sie den Rezensenten bei einem “ärgerlichen Fehler”, denn dieser Name (Johnathan) ist völlig korrekt geschrieben, was nur beweist, das Fehler überall passieren, auch in Rezensionen], oder gar den LP-Titel “One Hundret Dreams”, in dem die Orthographie sogar bei einer Edition Longplay-eigenen Produktion versagt hat). Davon abgesehen aber macht “Für Ohren & Augen” neugierig, darauf nämlich beide aufzusperren, egal, ob man eine LP des Haarmann’schen Labels sieht oder hört, oder aber sich andere Cover und ihren Inhalt vornimmt, die oft genug in Beziehung zueinander stehen.
Wolfram Knauer (Juni 2016)
Essener Beiträge. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen, Band 128
herausgegeben von (Schriftleitung): Thomas Dupke
Essen 2015 (Historischer Verein für Stadt und Stift Essen e.V.)
341 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978-3-8375-1347-9
Die Jazzgeschichte Deutschlands wurde über lange Jahre vor allem von Sammlern und Jazzfans erzählt. Das hat viel für sich, waren doch gerade die Sammler lange Jahre die wirklichen Experten für dieses Thema. Horst H. Lange erstmals 1966 erschienenes Buch “Jazz in Deutschland” war insofern ein Pionierwerk. Wo diese Privatforscher anfangs vor allem auf ihre eigene Sammlung sowie auf Dokumente von Sammlerfreunden zurückgriffen, entwickelte sich über die Jahre und meist in sehr speziellen Sammlergazetten (die britische Zeitschrift “Storyville” ist dafür wahrscheinlich das beste Beispiel) ein weniger persönlicher und dafür historisch-nüchternerer Zugang zur Jazzgeschichte, für den neben den Anekdoten und den diskographischen Angaben auch die Quellenforschung immer wichtiger wurde.
Inzwischen ist die Jazzgeschichte in der etablierten Geschichtswissenschaft angekommen. Immer noch gibt es von Fans geschriebene Rückblicke etwa auf die Clubgeschichte einzelner Regionen, oft liebevoll, aber ziemlich distanzlose Publikationen, die höchstens wegen der sehr individuellen Perspektive der Autoren und vielleicht noch wegen des Abdrucks historischer Dokumente (am besten mit Quellenangabe) interessant sind. Daneben aber sehen es immer mehr Stadt- und Landesarchive als ihre Pflicht an, die lokale Jazzszene zu dokumentieren, und auch historische Vereine haben ein offenes Ohr etwa für Jazz-, Rock-, Folk- oder Popgeschichte ihrer Region. Stück für Stück kommt durch solche lupenhaften Blicke auf einzelne Szenen eine Art Überblick über den Jazz in Deutschland zustande, der vielleicht nicht den großen Bogen, dafür aber auf jeden Fall den kleinen wagt.
Ralf Jörg Rabers Beitrag in der vom Historischen Verein für Stadt und Stift Essen herausgegebenen Schriftenreihe “Essener Beiträge” ist ein guter case in point. Überschrieben “Als der Jazz nach Essen kam” behandelt Raber auf 50 Seiten die Frühgeschichte dieser Musik von Anfang der 1920er Jahre bis zum Beginn des Nationalsozialismus.
Er erzählt, wie bereits vor 1920 afro-amerikanische Künstler und solche aus den deutschen Kolonien vor allem in Varieté- oder Zirkusshows auftraten. Mit dem Ende der Tanzverbote der Kriegsjahre dann, schreibt Raber, “schossen auch in Essen Tanzlokale wie Pilze aus dem Boden”. Die neue Musik aus Amerika, das, was bald unter dem Begriff “Jazz” zusammengefasst wurde, stand anfangs vor allem noch für die Beschreibung verschiedener Tanzarten; spätestens ab 1921 aber, als im Weinlokal Fürstenhof “Gottys (Excentric) original-American-Jazz-Band” angekündigt wurde, nahm die Öffentlichkeit “Jazz” offenbar auch als Musik wahr. Raber hat die Essener Allgemeine Zeitung der Jahre genauso durchgeackert wie die städtischen Akten, in denen sich etwa ein Antrag des Besitzers des Lokals für Musikdarbietungen findet. Wenig ist bekannt über diese oder ähnliche Bands, die höchstens in Werbeanzeigen präsent waren, von denen es aber weder Bilder noch gar Tonaufnahmen gibt. Wahrscheinlich, schlussfolgert Raber nicht ganz zu Unrecht, waren die ersten Jazzbands in Essen wohl eher Salonkapellen mit leicht verändertem Outfit, um der neuen Mode Rechnung zu tragen.
Bald waren, schreibt Raber, auch amerikanische Schallplattenaufnahmen in Deutschland erhältlich, obwohl, wie er Horst H. Lange zitiert, mehr als die Hälfte der für das Plattenlabel Odeon gepressten Jazzplatten ins Ausland exportiert wurden. Ab 1924 findet er in den Tageszeitungen vermehrt Hinweise auf Jazzprogramme, die entweder zum Tanz erklangen oder als Rahmenprogramm etwa für die Diseuse Claire Waldorf. Raber zählt die unterschiedlichen Ensembles auf und nennt die wichtigsten Auftrittsorte, insbesondere das Arkadia (ab 1924) und die Casanova (ab 1928). Außer den Annoncen allerdings findet sich in der zeitgenössischen Tagespresse kaum etwas über die Bands, ihr Repertoire oder gar die Qualität ihrer Musik. Vom November 1925 stammt der erste ausführliche Artikel des Essener Anzeigers über Jazz als Soundtrack der modernen Großstadt. Und im September 1926 wurde ein Ensemble, nämlich Onkel Heinrich und sein Viel harmonisches Orchester, näher vorgestellt, wobei der Rezensent allerdings die Band allerdings eher als abschreckendes Beispiel sieht und klagt, “der Leidtragende ist der moderne Jazz”.
Ein kurzes Unterkapitel widmet Raber dem Rundfunk, in dem eigentlich erst ab 1930 regelmäßig Aufnahmen deutscher oder auch ausländischer Bands zu hören waren. Etwa zur selben Zeit war der Jazz auch im Tourneeprogramm der Ballsäle und Varietébühnen angelangt. Im Arkadia, in der Casanova oder der Scala traten Heinz Wehner, die Weintraub Syncopators oder Ben Berlin auf, letzterer mit einer verjazzten “Carmen”-Suite. Mit den Bon-John Girls und den 12 Musical Ladies waren 1929 und 1931 erstmals US-amerikanische Kapellen zu hören, beides übrigens Frauenbands, was uns einiges über die Rolle von Musikerinnen im frühen Jazz sagt und die verfälschende Wahrnehmung durch die Jazzgeschichtsschreibung.
Sam Woodings Band war seit 1925 in Europa unterwegs; in Essen spielten der Pianist und sein Ensemble erstmals im März 1931. Der Lokalreporter überschlägt sich: “Natürlich macht das Negerorchester Negermusik. Kultivierte Negermusik, aber Negermusik”, um dann zu empfehlen, “Wer sich darüber aufklären lassen möchte, was Jazz ist und Negermusik, der besuche in diesen Tagen die Casanova.” Derselbe Reporter lässt uns auch an seinem eigenen Erstaunen teilhaben, darüber nämlich, dass die Musik der Wooding Band so völlig anders klingt als die von Paul Whiteman oder Jack Hylton, die demgegenüber “beinahe klassische Musik” machten.
Zum Abschluss seines Essays vergleicht Raber die Präsenz des Jazz in Essen mit der in anderen Städten. Verglichen mit Berlin sei Essen sicher Provinz gewesen, urteilt er, den Vergleich mit umliegenden Großstädten brauche die Stadt allerdings nicht zu scheuen; auch in Köln, Dortmund oder Wuppertal sei authentischer Jazz schließlich frühestens Anfang der 1930er Jahre zu hören gewesen. Er bedauert die mangelnden Bildzeugnisse über die Szene und begründet die mangelnde Quellenlage auch aus seiner Erfahrung heraus, dass er in seinen Recherchen immer wieder auf die Meinung gestoßen sei, vor 1945 habe es in Deutschland ja gar keinen “richtigen Jazz” gegeben.
Rabers Fazit: (1.) Eine tiefere Untersuchung zum Phänomen von Jazz und als Jazz annoncierter Musik in den 1920er Jahren ist dringend notwendig. (2.) Es ist überraschend und in der Jazzgeschichtsschreibung kaum dokumentiert, wie viele Frauenkapellen in jenen Jahren aufgetreten sind. Und (3.) Rassistische Ausfälle habe er zumindest aus seiner Sichtung der Lokalpresse heraus kaum feststellen können.
Ich habe Ralf Jörg Rabers Essay in den “Essener Beiträgen” insbesondere als Ermutigung für Historiker auch anderer Städte gelesen, die Dokumente in ihren örtlichen Stadt- und Zeitungsarchiven auf Quellen zu durchforsten, in welchen Kontexten in jenen Jahren annonciert und wahrgenommen wurde. Dabei kommt es eben gerade nicht auf die Sicht von heute an, die weiß, wohin der Jazz sich entwickeln sollte, sondern auf die Darstellung jener ersten Begegnung mit einem Phänomen, das irgendwo zwischen Staunen und Ergriffenheit, zwischen Unterhaltung und “vielleicht doch Kunst” angelegt wurde.
Wolfram Knauer (Juni 2016)
A Listener’s Guide to Free Improvisation
von John Corbett
Chicago 2016 (University of Chicago Press)
172 Seiten, 15 US-Dollar
ISBN: 978-0-226-35380-7
Großartig! Anders kann man dieses Büchlein nicht preisen. John Corbett schreibt ein Buch nicht etwa über Free Jazz oder freie improvisierte Musik, sondern eine aufmerksame, selbstironische und dabei ungemein nützliche Anleitung, wie man selbst ohne weitere Vorkenntnisse freier Improvisation näher kommen kann. Und seine Anleitung allein öffnet die Ohren und macht neugierig, nicht nur auf die Musik, sondern – eigentlich vor allem – auf das eigene Hören und Hörvermögen, auf die vielen Experimente, die er vorschlägt, um sich des Hörsinns neu zu versichern und sich von den Routinen des gewohnt strukturellen Hörens zu befreien. Und damit ist sein “Listener’s Guide to Free Improvisation” eigentlich viel mehr: nämlich eine Anleitung zum Hören – ganz allgemein!
Aber der Reihe nach: Der Jazz und insbesondere die Szene der improvisierten Musik ziehe schon gern mal Cliquenzirkel an, schreibt Corbett, deren vermeintliches Fachwissen, dass sie in einem Patois wiedergeben, das ihn an das eines Comic-Book-Salesman erinnert, deren vermeintliches Fachwissen also die Tatsache überdeckt, dass es tatsächlich keinerlei Vorwissens bedarf, um freie Improvisation zu hören. Gerade diese Nicht-Erwartungshaltung grenze freie Improvisation schließlich sowohl von den Hörtraditionen der klassischen Musik wie auch von denen des Jazz ab. Und dabei sei jede Hörfähigkeit willkommen: Menschen mit einem guten Langzeitgedächtnis werden bestimmte Aspekte der Performance hören, während andere ihren Spaß daran haben, sich im Moment zu verlieren.
Aber bloß keine Angst, beruhigt Corbett: Mit dem Hören improvisierter Musik sei es ein wenig wie mit dem Beobachten wilder Vögel: Jeder kann es tun, und eigentlich gibt es keine Fehler dabei. Mit der Zeit stelle sich das Fachwissen quasi automatisch ein: Je mehr man hört, desto mehr will man wissen, je mehr man weiß, desto mehr will man hören.
Und dann beginnt er bei Null. Nichts mitbringen solle man zum Konzert, empfiehlt er, außer einem freien Kopf, höchstens einem Notizbuch, einem Stift und einer Uhr. Er erklärt grob den Unterschied zwischen freier Improvisation, strukturierter Improvisation (Zettel auf dem Notenpult), Free Jazz (optionale runde Sonnenbrillen), Noise Music und Improv. Letzteres sei ja eigentlich ein Theater- und Comedy-Genre, bei dem die Beteiligten angehalten sind, nie mit “Nein” zu reagieren, sondern immer mit “Ja, und…”, um den Flow nicht zu unterbrechen. In der Musik allerdings, schreibt Corbett augenzwinkernd, sei ein “Nein” oft schon ganz hilfreich, weil es sonst keine Spannung gäbe und man in die Gefahr gerät, dass sich alles wie New Age Music anhöre – und hier folgt dann sein eigenes erschrockenes “NEIN!!!”
Wie also kann man als ungeübter Hörer auf die Tatsache reagieren, dass freie Improvisation üblicherweise ohne Puls auskommt, ohne klare rhythmische Strukturen, die einem wie gewohnt Halt geben. Es sei sicher eine Sache des Trainings, meint Corbett, aber wenn man sich drauf einlässt – und er gibt Tipps, wie man das am besten tut –, dann öffneten sich einem tiefere Ebenen des musikalischen Geschehens. Auf keinen Fall solle man sich vor der Dauer eines Konzerts fürchten – es wird schon nicht ewig sein, beruhigt Corbett, außerdem stünde es jedem frei einfach zu gehen.
In der Ornithologie genauso wie beim Musikhören gäbe es drei Herangehensweisen, schreibt er: Beobachtung, Vergleich und Analyse, die aber nur in exakt dieser Reihenfolge funktionierten. Er ermutigt seine Leser, den sogenannten Cocktail-Party-Effekt auszunutzen, der es uns erlaubt, uns auf einzelne Spieler zu konzentrieren, um unterscheiden zu lernen und dadurch zu einem differenzierteren Gesamteindruck zu gelangen. Er empfiehlt Notizen zu machen, um ein Gefühl für den Verlauf des improvisatorischen Zusammenspiels zu erhalten – wobei es nicht wirklich auf die Notizen selbst ankomme, sondern vor allem um den Konzentrationsprozess, der damit verbunden ist. Verfolge die Interaktion, fordert er seine Leser auf, um bewusst auf die verschiedenen Zusammenstellungen zu horchen: Dialog, unabhängige simultane Aktion, Imitation, Konsens und Streit, Unterstützung und Herausstellen, Raum lassen und zurückhaltend sein, Kontrapunkt.
Die Improvisation “im Hier und Jetzt” (die Momentform, wie Stockhausen sie nennt) sei für die meisten Improvisatoren genauso schwierig zu spielen wie es für die Hörer sei, diese zu verfolgen, weil beiden meist die Erinnerung dazwischenfunkt. Mit etwas Übung aber könne man seinen eigenen Weg finden, Strukturen zu erkennen und persönliche Vokabeln zu identifizieren.
Corbett weiß, dass solch eine Musik live besser zu erleben ist als auf Tonträger, gibt dennoch Plattentipps für Beispiele freie Improvisation, darunter Aufnahmen von Derek Bailey, Cecil Taylor, Irène Schweizer, Peter Brötzmann, Anthony Braxton, Barry Guy, dem Schlippenbach Trio, Evan Parker und anderen. Er erklärt, worauf man in unterschiedlichen Zusammenstellungen achten könne, im Solospiel etwa, im Duo, Trio, Quartett oder größeren Besetzungen. Er weist auf die Extreme hin, also die Situation auf der einen Seite, in der alles improvisiert ist, und jene, in der nichts improvisiert ist, und er diskutiert das trügerische Konzept von “Freiheit”, bei der man ja immer fragen müsse, “frei wovon…?” und “frei wofür…?”.
Er erklärt Haltungen von Musikern, die sich der totalen Improvisation verschrieben haben (“hermetic free”) und von jenen, die, wie Steve Lacy dies nannte, “poly-free” spielen, sich also die Freiheit nehmen, alles zu machen, was ihnen in den Sinn kommt, und sich nicht durch den Zwang zur totalen Improvisation einengen zu lassen. Auch für diese Spielhaltung gibt er Plattenempfehlungen, nennt etwa Sun Ra, Muhal Richard Abrams, ICP, Anthony Braxton, Wadada Leo Smith, Henry Threadgill, Anthony Davis, John Zorn, William Parker, Tim Berne, Tobias Delius, die Vandermark 5 und andere.
Zum Schluss hält Corbett noch ein schönes und von fleißigen Konzertgängern zu bestätigendes Plädoyer dafür, dass man beim Eindösen besonders gut aufnahmebereit sei. Das könne einem im Konzert als mangelnder Respekt ausgelegt werden, außerdem solle man vorsichtig sein, wenn man zum Schnarchen neige. Last not least aber bekräftigt Corbett, dass man sich nicht einreden lassen solle, improvisierte Musik sei besser als irgendeine andere Form an Musik. Die besten Hörer, fasst er zusammen, sind letzten Endes auch hier solche, die neugierig sind und die neugierig bleiben.
John Corbetts “Listener’s Guide to Free Improvisation” ist eine flüssig lesbare Einführung ins Musikhören, die dem interessierten “Anfänger” genauso hilfreich sein kann wie dem erfahrenden “Profihörer”. Letzterer mag sich wünschen, so etwas zu Anfang seiner eigenen Hörerfahrung zur Hand gehabt zu haben. Dass Corbett bei allen Tipps immer wieder den ganz individuellen Zugang betont, kann nicht hoch genug bewertet werden. Corbett ist eben kein Oberlehrer, sondern jemand, der aus eigener Erfahrung berichtet und dabei ziemlich gut abbildet, welche unterschiedlichen Haltungen man beim Hören entwickeln kann.
Eine schnelle, höchst vergnügliche und anregende Lektüre also, Tipps, die man am liebsten gleich morgen bei einem Konzert mit freier Improvisation ausprobieren möchte.
Wolfram Knauer (Juni 2016)
Berlin, 1920-1950. Sounds of an Era
von Marco Paysan
Hamburg 2016 (Edel earBook)
348 Seiten, 3 CDs, 49,95 Euro
ISBN: 978-3-943573-17-6
Marco Paysan ist Historiker, Plattensammler und Autor etlicher Aufsätze über die Frühzeit von Jazz und Tanzmusik in Deutschland. Jetzt hat er ein umfassendes Kompendium über Berlin zwischen den Jahren 1920 und 1950 vorgelegt. Das LP-große, durchgängig zweisprachig (deutsch und englisch) gehaltene Buch mit seinen beiheftenden drei CDs will nichts weniger als eine historische Einordnung jener Epoche, in der Jazz noch als Tanzmusik fungierte.
Im ersten Kapitel seines Buchs beschreibt Paysan Berlin als Medienhauptstadt, als kulturelle Mitte Europas, als eine “Metropole zwischen den politischen Welten”. Es folgt eine lange Bildstrecke mit Fotos, Postkarten und Zeitschriftenausrissen, die Berlin als Reisemetropole dokumentieren (Bahnhöfe, Züge, Hotels) und das reichhaltige und sich wandelnde Nachtleben der Weimarer Republik zeigen (Bars, Revuetheater, Tanzsäle, aber auch Kaufhäuser und Prominenz). Etwa 60 Seiten des Buchs machen die Liner Notes zu den drei beiheftenden CDs aus, die “sachkundige Kommentare zur Musik” sowie Gründe für die Auswahl der betreffenden Titel geben und darüber hinaus “auf künstlerische, medien- und sozialhistorische Zusammenhänge” hinweisen. Die Auswahl der Musik umfasst die Größen der Szene, Efim Schachmeister, Eric Borchard, Dajos Béla, Julian Fuhs, die Weintraub Syncopators, Barbabas von Géczy, Hans Bund, James Kok, Ilja Livschakoff, Berhard Etté, Albert Vossen, Kurt Hohenberger, Teddy Stauffer, Heinz Wehner, Erhard Bauschke, Willy Berking, Teddy Kleindin, Benny de Weille, Horst Winter und andere, sowie schließlich das Radio-Berlin-Tanzorchester, Kurt Widmann und Werner Müller für die direkte Nachkriegszeit. “Krise, Umgestaltung und Untergang” lautet die Überschrift über eine Fotostrecke, die das Dritte Reich dokumentiert, “Trümmer, Tatkraft und Teilung” schließlich jenes weit kürzere Kapitel, in dem Paysan dokumentiert, wie die Menschen sich auch im zerstörten Nachkriegs-Berlin noch an das Lebensgefühl der Jahre zuvor erinnerten.
“Berlin 1920-1950. Sounds of an Era” ist ein Dokument dafür, dass die großen Metropolen dieser Welt immer auch einen eigenen Soundtrack haben. Die Musik führt uns in die klingenden Träume, denen sich die Berliner und ihre Besucher in jenen Jahren hingeben konnten; die mehr als 250 Schwarz-weiß- und Farbabbildungen machen deutlich, was diese Musik die Stadt beschallte. Die Fotos wirken mal nostalgisch, scheinen eine vergangene Welt heraufzubeschwören, lassen daneben aber auch die Begeisterung für die Musik verstehen machen, die selbst von den Nazis nicht zum Verstummen gebracht werden konnte. Paysan will den “Mythos Berlin” analysieren, indem er seine Symbole für sich stehen lässt. Er weiß, dass dieser Mythos sich nicht allein aus der Hochkultur erschuf, sondern seine hauptsächlichen Wurzeln in der populären Kultur der Zeit hatte. Seine Erfahrung, dass nämlich die “Programmhefte von Luxus-Bars oder Ballhäusern oder alte Werbe- und Kundenzeitschriften von Schallplattenfirmen” lange nicht als bewahrungswürdig galten, waren einer der Beweggründe für dieses Buch, in dem er einen großen Teil seiner privaten Sammlung angezapft hat. Im Vorwort zur Diskographie der auf den CDs enthaltenen Titel weist Paysan zu Recht darauf hin, wie wichtig für die Absicherung der Besetzungsangaben seine eigenen Interviews mit Musikern jener Zeit waren.
Die Aufgabe, die Sammler wie Paysan, zumal, wenn sie so akribisch an das Thema herangehen, wahrnehmen, ist dabei nicht überzubewerten. Dass dem Historiker Paysan insbesondere in seinen Linernotes, deren musikalische Beschreibungen schon mal irgendwo zwischen poetisch überhöht und Sammlerjargon changieren, der Enthusiasmus anzumerken ist, mit dem er selbst diese Musik hört, tut dem dokumentarischen Anspruch des Werks keinen Abbruch. Schließlich handelt es sich hier weder eine Geschichte des frühen Jazz in Deutschland, noch überhaupt um den Versuch, sich konkret auf die Musik zu fokussieren. Paysan ist die Kontextualisierung eines Lebensgefühls wichtig, jenes “Mythos Berlin” eben, der sich aus dem Zusammenspiel von Musik, Architektur, Mode, Kunst, gesellschaftlichem Leben und anderem mehr ergibt und in diesem Buch auch für die Leser deutlich erahnen lässt.
Wolfram Knauer (Mai 2016)
Hans Dulfer. The Story of My Life, Young & Foolish. Part I
von Nathalie Lans
Schiedam/Niederlande 2016 (Scriptum)
400 Seiten, 49,90 Euro
ISBN: 978-90-5094-988-5
Dulfer… Dulfer…. Candy Dulfer? – in Deutschland kennt man seine Tochter besser als ihren Vater. Hans Dulfer aber ist ein in den Niederlanden überaus beliebter und einflussreicher Saxophonist, ein Musiker, der die offenen Ohren unserer holländischen Nachbarn in seiner Musik und in Projekten verkörpert, in denen er seine ursprüngliche Liebe, den Jazz, mit Rock, Soul oder gar Punk verbindet. Nun ist ein schwergewichtiges Buch erschienen, das seine Tochter im Vorwort schlicht “das große Hans Dulfer Buch” nennt, und das ist es fürwahr. 400 schwere Seiten im LP-Format, mehr als 4 cm dick das Ganze, Hochglanzfotos.
Der Inhalt folgt chronologisch seinem Leben, ab 1955 tatsächlich jährlich, und stellt dabei Bilder aus dem Familienalbum solchen wichtiger Ereignisse oder Platten gegenüber. Da finden sich Bilder von Hans als Fußballspieler und solche, die ihn als Leichtmatrosen zeigen. Dulfer selbst bekennt, dass er zum Jazz vor allem gefunden habe, um sich von anderen zu unterscheiden. Ende der 1950er Jahre hatten er und seine Freunde genügend Gelegenheit, die großen amerikanischen Vorbilder live im Konzert in Amsterdam zu hören, Chet Baker, Gerry Mulligan, Quincy Jones und andere. 1960 wird Dulfer sogar Fotomodell, zündet sich für eine Zeitungswerbung eine Winfield-Zigarette an, Saxophon auf den Knien.
Wehrdienst, Hochzeit und der Schock, Albert Ayler live zu hören. 1965 tut Dulfer sich mit Willem Breuker und anderen Musikern zu einer Band zusammen, die vielleicht die erste Free-Jazz-Besetzung des Landes war. Er gründet mit Heavy Soul Music ein eigenes Plattenlabel und die Konzertreihe Jazz in Parasdiso, in dem neben Dulfers eigenen Besetzungen auch Ben Webster, Dexter Gordon oder Don Byas vorbeischauen. Seine Band Ritmo-Natural verbindet Jazz, Rock, und kubanische Rhythmen. Mit Boy Edgar reist er nach New York, 1972 spielt er als einer der ersten Musiker im neu eröffneten Bimhuis. Er erhält Preise und tourt mit Roswell Rudd, spielt auf internationalen Festivals und engagiert sich für politische Ziele. Er bereist die Welt und steht mit Legenden aus Jazz und Blues auf der Bühne.
Dulfers Art von Jazz sorgt dabei durchaus auch für Unmut unter Kollegen, die entscheiden, der “starke Pop-Charakter” seiner Musik rechtfertige keine öffentliche Förderung. Er macht tatsächlich immer weniger Unterschiede, tritt mit Jazzkollegen genauso auf wie mit Rock- oder Popsängern oder Musikern aus der Punkszene. Seine Tochter Candy wird erwachsen und fängt an, sich selbst einen Namen als Musikerin zu machen. Prince und Madonna werden auf sie aufmerksam, und aus der Jazzlegende Hans Dulfer wird mehr und mehr der “Vater von Candy Dulfer”. Dennoch: Auch in den folgenden Jahren tourt er durch die Welt, spielt in Japan, den USA, in Kanada und vor Präsident Bill Clinton, als dieser die Niederlande besucht.
Das dicke Buch “Hans Dulfer. The Story of My Life, Young & Foolish” hält all dies minutiös fest. Hunderte Fotos, schwarzweiß und farbig dokumentieren ein reiches Musikerleben. Die verbindenden Texte (auf Niederländisch) sind knapp gehalten, das Layout aber macht selbst diese eher kurzen Texte äußerst schwer lesbar. Was nutzt eine riesige Schriftgröße, wenn der verantwortliche Grafiker alle paar Seiten Zitate in Großbuchstaben einblendet, oft genug noch verschiedenfarbig gesetzt oder unterlegt?!?
Es ist also tatsächlich ein reichhaltiges Buch, bei dem man sich fragen mag, ob hier nicht weniger mehr gewesen wäre. Eine sorgfältigere Auswahl der Fotos (die nun wirklich nicht alle qualitativ gut oder auch nur dokumentarisch notwendig sind), ein leichter lesbarer Text, eine weniger unkritische Haltung der Autorin, vielleicht etwas mehr O-Töne von Dulfer selbst (der in der holländischen Zeitschrift Jazzism eine überaus lesenswerte Kolumne hat) oder seinen Mitstreitern. Aber dann muss man das Buch wohl als das nehmen was es ist: eben keine kritische Biographie, sondern ein Dokument, das Dulfer zu seinem 75sten Geburtstag vor allem feiern will.
Wolfram Knauer (Mai 2016)
Gender and Identity in Jazz
Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 14
herausgegeben von Wolfram Knauer
Hofheim 2016 (Wolke Verlag)
320 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3-95593-014-1
www.wolke-verlag.de/knauer_14.html
Full disclosure vorneweg: Dies ist natürlich keine Buchbesprechung, sondern parteiische Werbung. Wir sind stolz auf die jüngste Publikation in der vom Jazzinstitut herausgegebenen Reihe “Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung”, die wie immer das letzte Darmstädter Jazzforum dokumentiert. Als Thema hatten wir uns im Oktober 2015 “Gender und Identität im Jazz” vorgenommen und dazu Referent/innen eingeladen, um das Thema von möglichst unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten.
Es ging um die Wahrnehmung von Instrumentalistinnen, um “männlichen” oder “weiblichen” Sound, um Homosexualität, Körperlichkeit und die Verleugnung des erotischen Moments in der Musik, um Jutta Hipp, Ivy Benson, Clare Fischer, Sun Ra und andere. Die Teilnehmer der Konferenz reflektierten über Jazzgeschichte und schauten selbstbewusst auf die Gegenwart. Sie diskutierten Wege, wie sich Vorurteile überwinden lassen und wie man den Gender-Diskurs des 21sten Jahrhunderts im Jazz angemessen beschreiben kann. Dass der Blick auf den Jazz verfälscht wird, wenn man seine Protagonisten auf einzelne Teile ihrer vielfältigen Identität reduziert, ist klar. Diese jedoch in Jazzgeschichte und -gegenwart völlig außer Acht zu lassen, ist ein genauso großes Versäumnis. In diesem Buch wollen wir somit einen Diskurs fortführen, der auch in unserer bereits erheblich veränderten Welt wichtig bleibt.
Wir finden: Es ist gut gelungen. Nichts wurde ausdiskutiert, aber viele Themen wurden angerissen. Viele der Teilnehmer/innen der Konferenz spiegelten uns zurück, wie angenehm der offene und inspirierte Austausch war. Ein wenig davon spürt man auch in der Schriftform, nicht nur in den 17 Essays selbst, sondern auch in den Fotos, die einen Teil der Lebendigkeit der Veranstaltung ausstrahlen.
Wir sind also stolz. Lassen Sie uns wissen, was Sie meinen!
Wolfram Knauer (Mai 2016)
Conversations in Jazz. The Ralph J. Gleason Interviews
von Ralph J. Gleason
herausgegeben von Ted Gioia
New Haven 2016 [book: Yale University Press]
276 Seiten, 20 Britische Pfund
ISBN: 978-0-300-21452-9
Ralph Gleason gehört zu den Legenden der amerikanischen Jazzkritik. Früh entdeckte er, dass die neuen Medien, also Rundfunk und Fernsehen, zu mehr taugten als die Musik “nur” zu spielen. In der inzwischen auf DVD wiederveröffentlichten Fernsehserie “Jazz Casual” bittet er die Musiker zwischendrin zum Gespräch, um mit ihnen über ihre Erfahrungen, aber auch die Besonderheit ihres eigenen Stils zu sprechen. In diesem Buch versammelt Ted Gioia aus dem Nachlass Gleasons vierzehn Interviews, die dieser in erster Linie aus persönlichem Interesse führte, die meisten in seinem Haus in Berkeley bei San Francisco. Alle Interviews stammen aus den Jahren 1959 bis 1961, einer Zeit also, in welcher der Jazz sich im Wandel befand. Gioia versieht jedes der Interviews mit einer kurzen Einleitung, die das folgende Gespräch kontextualisiert.
Und dann folgen mal bekannte, mal neue, mal wichtige, mal nebensächliche Informationen. John Coltrane etwa erzählt, dass er seinen Sound auf dem Altsaxophon überhaupt nicht möge und wie er dazu kam, “My Favorite Things” aufzunehmen. Quincy Jones fragt sich, warum eine Bigband auf Platte nicht so klingt wie eine Bigband live und zeigt sein frühes Bewusstsein dafür, was sich auf dem Markt verkauft und was nicht. Dizzy Gillespie erzählt von seinen Anfängen im Jazz und dass er versuche, möglichst an nichts zu denken, wenn er spiele.
John Lewis spricht über seine Einflüsse und die Genese des Modern Jazz Quartet. Milt Jackson verrät, dass sein aufregendstes Erlebnis die Arbeit mit Dizzy Gillespie und Charlie Parker 1945 gewesen sei. Percy Heath erinnert sich an die Jazzszene in Philadelphia und beschreibt die Jazzbegeisterung in Europa. Connie Kay erinnert sich an seine Zeit mit Lester Young und erklärt, dass die Disziplin im Modern Jazz Quartet ihn in keiner Weise einschränke. Sonny Rollins spricht über Coleman Hawkins und über das tägliche Üben.
Philly Joe Jones verrät, dass er eigentlich lieber mit einer Bigband spiele. Bill Evans nennt Earl Hines als einen wichtigen Einfluss und findet die Publikumsresonanz auf sein Spiel unglaublich wichtig. Horace Silver erklärt seine Herangehensweise an eine Komposition und erklärt, dass eine akute Sehnenscheidenentzündung ihm eine Weile zu schaffen gemacht habe. Les McCann windet sich um eine Beschreibung für seine Art von Musik herum und findet das Wort “Soul” sei etwas zu überfrachtet.
Jon Hendricks erzählt, dass Art Tatum nur fünf Häuser von seinem Elternhaus entfernt wohnte und über seinen Ansatz beim Vocalese. Und Duke Ellington findet im einzigen Interview, das nicht bei Gleason zuhause, sondern vor den Kameras von “Jazz Casual” entstand, dass sich das amerikanische Publikum ziemlich weit entwickelt habe, was ihm Dinge ermögliche, die er 20 Jahre zuvor nicht erfolgreich hätte aufführen können
Die meisten dieser Interviews sind Erstveröffentlichungen, und auf jeden Fall lesenswert. Gleason war einer der einfühlsamsten und kenntnisreichsten Journalisten seiner Zeit, und man merkt, dass seine Interviewpartner sich bei ihm in ihrem ästhetischen Anspruch an ihre Kunst ernst genommen fühlten.
Wolfram Knauer (Mai 2016)
American Jazz Heroes, Volume 2. Besuche bei 50 Jazz-Legenden
von Arne Reimer
Köln 2016 (Jazz Thing Verlag)
240 Seiten, 55 Euro
ISBN: 978-3-9815858-1-0
Der vor drei Jahren erschienene erste Band von “American Jazz Heroes” war bereits ein großer Wurf: Einer der renommiertesten deutschen Jazzfotografen fährt zu Musikerlegenden in die USA, um sie in ihrem heimischen Umfeld abzulichten und zu interviewen. Die begeisterten Rezensionen animierten Arne Reimer dazu, ein zweites Buch nachzuschieben. Wieder machte er sich auf in die USA, reiste von der Ost- bis zur Westküste, vom hohen Norden bis in den tiefen Süden und bringt seinen Lesern eine Sammlung der wohl menschlichsten Einblicke in die Welt all dieser Jazzlegenden mit, wie sie in der Jazzliteratur so bislang nirgends zu finden ist. Die Portraits der Musiker in ihrer vertrauten Umgebung stehen im Vordergrund, daneben aber gibt es reichlich atmosphärische Eindrücke, von Haus oder Wohnung, von Musikecken, Plattensammlungen, von Menschen, für die Musik zwar im Mittelpunkt ihres Wirkens steht, die darüber hinaus aber ein Leben wie jeder andere führen, die in ihrer Karriere mal mehr, mal weniger erfolgreich waren, sich ganz unterschiedliche Lebensstandards erarbeiten konnten, die mal optimistisch, mal frustriert auf die komplexe Gegenwart reagieren.
Da erwähnt etwa Eddie Henderson, dass er einst einer der besten Eiskunstläufer im Land und später als Arzt gearbeitet habe. Sonny Rollins betont die politische Bedeutung seines Irokesenschnitts, mit dem er auf das Schicksal der amerikanischen Ureinwohner aufmerksam machen wollte. Charles Lloyd macht klar, dass er eigentlich nicht gern rede, weil er mit seiner Musik alles doch so viel besser sagen könne, um dann zu erzählen, wie sehr die Kompromisslosigkeit Ornette Colemans ihn ermutigt habe. Auch Al Foster gibt sich erst wortkarg, um dann angeregt zu berichten, wie Miles Davis ihm Selbstvertrauen geschenkt habe. Ahmad Jamal lässt sich ungern ohne Sonnenbrille fotografieren, weil er auf einem Auge schielt. Man spürt gleichsam, wie er im langen Gespräch nach und nach Vertrauen zum Fotografen gewinnt, dem er am Ende einen seiner Pullover bringt, weil es draußen kalt geworden ist.
Es sind solche menschlichen Momente, die sich durch alle der Interviews ziehen. Freddie Redds Bescheidenheit meint man in den Portraits förmlich zu sehen. Horace Parlan lebt in einem Pflegeheim und erzählt, dass seine Entscheidung, nach Dänemark zu ziehen, vielleicht sein Leben gerettet habe. In Paris trifft Reimer auf Sunny Murray, der das französische Sozialsystem lobt, das ihm wenigstens die Miete, Krankenversicherung und kostenfreie Medikamente zahlt. Auch Kirk Lightsey erzählt von den Vorzügen in Paris zu leben. Billy Cobham holt Arne Reimer am Bahnhof in Bern ab und fährt mit ihm aufs Dorf, wo er im Keller eines Holzfabrikanten zwei Lagerräume für seine Schlagzeuge angemietet hat.
In Philadelphia trifft Arne Reiner auf Odean Pope, der einen persönlichen Sound jeder technischen Meisterschaft vorzieht. Mickey Roker erzählt von der Eifersucht zwischen Stanley Turrentine und Shirley Scott. Und Marshall Allen bittet den Fotografen in sein Haus, das wie ein Museum wirkt, und in dem auch Sun Ra in den 1970er Jahre lebte, um ihm dann seine Philosophie zu erklären: “Wenn du eine bessere Welt willst, musst du bessere Musik spielen. So einfach ist das!”
Zurück in New York betont Amina Claudine Myers die Vielseitigkeit des Blues. Muhal Richard Abrams erklärt die Idee hinter der von ihm mit-gegründeten AACM. Roscoe Mitchell verrät, dass er während seiner Army-Zeit Unterricht bei einem Klarinettisten der Heidelberger Symphoniker nahm. Oliver Lake betont die Bedeutung von Musikernetzwerken wie der Black Artist Group.
Hubert Laws wohnt in einem Haus mit Swimmingpool und Tennisplatz in Hollywood und lädt Reimer zu einem Hauskonzert mit Freunden ein. Bobby Hutcherson erinnert sich, wie Marilyn Monroe einmal in den Club in L.A. kam, in dem er gerade spielte. Ernie Watts erklärt wieso er 1981 mit den Rolling Stones auftrat. Billy Harper telefoniert erst einmal mit seinem Anwalt, weil er sich mit seiner Ex-Frau um ein Apartment streitet, und erzählt dann, dass er dabei war, als Lee Morgan von seiner Frau erschossen wurde. Kenny Barron ist sich sicher, dass er von Saxophonisten genauso stark beeinflusst worden sei wie von Pianisten. Kenny Burrell verrät das Geheimnis hinter dem Sound der Blue-Note-Produktionen. Roy Haynes hat zwar sein Kurzzeitgedächtnis verloren, weiß aber, dass er “old school with a hip attitude” ist.
Curtis Fuller trifft Reimer im Altenheim, Ben Riley gar in einem Zimmer im Pflegeheim, das er sich mit einem Zimmergenossen teilt. Die Bilder eines eingeschweißten Käsebrots und einer Nährlösungsdose mit Strohhalm sprechen Bände. Mike Mainieri erzählt von seiner Krebserkrankung seiner Frau, und Billy Hart bittet Reimer erst einmal, ihm mit den Augentropfen zu helfen. Die Fotos von Les McCann, der nach einem Schlaganfall vor drei Jahren nicht mehr laufen kann und sich auf seinem Bett ablichten lässt, wirken voyeuristisch, würde der Pianist nicht selbstbewusst in die Kamera lächeln. Noch verstörender sind die Fotos von Charli Persip. Da gibt es ein Bild, das Armut und Trostlosigkeit ausstrahlt wie wenige sonst in diesem Buch. Der Schlagzeuger sitzt, nur mit kurzer Hose und Sandalen bekleidet, auf einem kaputten Drehstuhl, der Teppichboden unter seinen Füßen übersäht mit Dreck. “Wenn ich mir meinen Kontostand ansehe”, zitiert Reimer ihn, “fühle ich mich nicht wie eine Legende.”
Bunky Green holt den Fotografen am Flughafen von Jacksonville ab. Jack DeJohnette kommt mit seinem weißen Audi A5. Sonny Simmons erzählt von den Problemen, die seine Ehe mit der weißen Trompeterin Barbara Donald mit sich brachten. Steve Swallow und Carla Bley verraten das Geheimnis einer erfolgreichen Musikerbeziehung – “Wir komponieren nie zusammen, aber wir sprechen drüber” – und geben Reimer eine Tüte mit selbstgezüchteten Tomaten mit auf die Rückreise im Bus. Junior Mance beschwört, wie wichtig es sei, in seiner Musik auch für aktuelle Einflüsse offen zu bleiben. Randy Brecker erzählt über die nie enden wollende Suche nach dem perfekten Mundstück. Archie Shepp erklärt die Tradition eleganter Kleidung im amerikanischen Musikgeschäft. Jon Hendricks erinnert sich, wie Charlie Parker ihn ermutigte Jazzsänger zu werden. Lee Konitz berichtet von der Herausforderung auch vielfach gespielte Stücke neu klingen zu lassen. Gary Burton erzählt von seinem Coming-Out als Schwuler. James Blood Ulmer erinnert sich daran, wie es war, mit Ornette Coleman zu spielen. Diesen, also Ornette Coleman selbst, besuchte Reimer gleich mehrere Male, und sein Artikel über ihn liest sich wie ein warmer Nachruf auf einen entfernten und doch sehr nahen Freund.
Dr. Lonnie Smith lädt Arne Reimer ein, im Gästezimmer zu übernachten. George Coleman sieht während des Interviews aus den Augenwinkeln ein Baseball-Spiel im Fernseher. Gunther Schuller erlaubt Reimer ausdrücklich zu fotografieren, was immer er wolle: “Hier gibt es keine Geheimnisse”. Bob Dorough nimmt den Fotografen mit in sein Anwesen in Mount Bethel in Pennsylvania. Richard Davis lebt, mit Gehhilfe und Treppenlift, in Madison, Wisconsin. Roy Ayers freut sich, dass HipHop-Musiker Samples seiner Musik benutzen, weil das ein bisschen Geld in die Kasse bringe. Eugene Wright schließlich erinnert sich an Buddy DeFranco und Dave Brubeck und freut sich über Reimers Besuch, da sonst nur selten jemand vorbeischaut.
Kein Vorwort des Fotografen und Autors, ganz hinten eine kurze Biographie. Tatsächlich aber ist Arne Reimer in diesen Portraits in jeder Zeile präsent, weil er es ist, der die Musiker besucht, und weil die Geschichten von der Begegnung zwischen ihm und seinen Gastgebern leben. Man ahnt, dass die Reisen großer Vorbereitung bedurften, und in seinen Berichten über die Hausbesuche erfährt man weit mehr als in üblichen Musikerinterviews. Arne Reimer gelingt es sowohl fotografisch wie auch sprachlich, die Atmosphäre seiner Verabredungen mit den Jazzlegenden rüberzubringen. Er beschreibt, mal in Worten, mal in Bildern, wie freundlich, wie verschlossen, wie fröhlich oder wie einsam die meist älteren Herren sind (mit Amina Claudine Myers und Carla Bley sind tatsächlich nur zwei Frauen unter den Gesprächspartnern). Und fast nebenbei erfährt Reimer dabei mehr über Jazzgeschichte, als man gemeinhin liest.
Das ist vielleicht der besondere Wert dieses Buchs: Arne Reimer hat das Auge eines guten Fotografen und die Geduld, sich auf sein Gegenüber einzulassen. Er lässt seine Gesprächspartner erzählen, holt sie bei den Themen an, die ihnen wichtig sind, sei es ihre Jugend, seien es Begegnungen mit großen Kollegen, seien es die Beschwernisse des Alltags, Medizin und Augentropfen einbegriffen. Es gelingt ihm dabei auf tief berührende Weile, der Seele dieser Musiker nahe zu kommen. Er erzählt die wahre Geschichte der Menschen hinter der Musik, eine Geschichte, die von ästhetischen Selbstzweifeln genauso handelt wie von der Notwendigkeit zu überleben.
“American Jazz Heroes, Vol. 2” ist damit weit mehr als ein gutes Fotobuch mit atmosphärischen Beschreibungen. In seinen Texten genauso wie in seinen Bildern erzählt Arne Reimer von genau dem, was im Jazz am wichtigsten ist: von der Individualität, von der Konsequenz des Musikmachens, aber auch vom Alltag alternder Künstler im Amerika des 21sten Jahrhunderts. Absolut empfehlenswert!
Wolfram Knauer (Mai 2016)
Saxofone. Ein Kompendium
von Uwe Ladwig
4. Auflage, Wahlwies 2016(Buchwerft)
292 Seiten, 74 Euro
Zu bestellen über www.ladwig-oldtime-saxophone.de
Uwe Ladwig hat die 4. Auflage seines Saxophon-Kompendiums veröffentlicht. Im Vergleich zur ersten Auflage wurden alle Artikel überarbeitet und zum Teil neu angeordnet. Insbesondere die Geschichte einzelner Saxophonbauer wurde ergänzt; neu sind zusätzliche Kapitel zum Saxophonbau in Rumänien und den Niederlanden. Außerdem enthält die neue Auflage eine CD mit Klangbeispielen vom Sopranino bis zum Subkontrabasssaxophon, vom Couenophone in C und dem Slide-Saxophon.
Ansonsten gilt die Empfehlung, die wir im Juli 2012 für die erste Ausgabe des Kompendiums machten:
Alles, aber auch wirklich alles, was man über das Saxophon wissen will, kann man aus Uwe Ladwigs umfangreichen, sehr schön gestalteten und mit über 350 [in der neuen Auflage über 460] teils farbigen Fotos reich bebilderten Buch erfahren. Anders als in Ralf Dombrowskis „Portrait Saxofon“ geht es dem Autor dabei allerdings nicht um die Interpreten, die hier nur eine kleine Nebenrolle spielen, sondern einzig um das Instrument selbst, in allen üblichen und unüblichen Bauarten und Varianten, vom Sopran- bis zum Basssaxophon.
Ladwig beginnt – wie sollte es anders sein – mit Adolphe Sax, der das Instrument 1846 zum Patent einreichte (bereits vier Jahre zuvor hatte Hector Berlioz das Instrument in einem Zeitungsartikel erwähnt). Neben der Skizze zum Patentantrag und einer Diskussion zu Bohrungsvarianten finden sich detaillierte Ansichten eines frühen Instruments und Instrumentenkoffers.
Der Hauptteil des Buchs dekliniert dann die verschiedenen Hersteller durch. Ladwig beginnt in den USA mit Conn, Buescher, Martin etc. und benennt genauso ausführlich Firmen aus Europa, Asien und Südamerika. Neben kurzen Firmengeschichten klassifiziert er dabei die produzierten Instrumente und liefert zugleich einen Seriennummernkatalog, anhand dessen sich Instrumente datieren lassen. Neben den großen Firmen finden sich kleine, neben alteingesessenen neue Hersteller, jeweils mit detaillierten Beschreibungen und, wo immer möglich, Abbildungen.
Ladwig diskutiert Erfindungen und zusätzliche Patente zu Klappen oder Klappenverbindungen, zeigt Fabrikräume etwa der Firma Keilwerth, aber auch viele aussagekräftige Werbeseiten der Hersteller über die Jahrzehnte. In einem Appendix werden Sonderformen des Saxophons besprochen, etwa Kunststoffinstrumente (man denke an Charlie Parkers Massey-Hall-Konzert oder an Ornette Colemans Auftritte – beide spielten übrigens ein Instrument der Firma Grafton) und Saxophone aus Holz. Ladwig listet sogenannte „Stencils“ auf, also Produktionen einer eingesessenen Firma für andere, oft kleinere Hersteller, und er beschreibt Werkzeuge und übliche Arbeitsvorgänge in der Saxophonwerkstatt, von der Instrumenten-Instandhaltung bis zur Koffer-Restaurierung. Zum Schluss gibt er noch Tipps zur Mikrophonierung von Saxophonen.
Ein ausführliches Register beschließt das Buch, das ohne Übertreibung als ein Standardbuch für Saxophonsammler und -bauer beschrieben werden kann. Neben all dem Wissen, das Ladwig in die Seiten packt, liest man sich dabei immer wieder an kuriosen Aspekten von Firmen- oder Baugeschichten fest.
Wolfram Knauer (Mai 2016)
Sweet Home Chicago | Calendar 2016
Rare Vintage Photographs by Martin Feldmann
Attendorn 2016 (Pixelbolide)
15,95 Euro
zu bestellen über www.blueskalender.de
In den 1980er Jahren war Martin Feldmann immer wieder in den USA unterwegs. seit einigen Jahren stellt er aus den Blues-Erkundungen seiner Reisen Fotokalender zusammen, die den Blues als eine Musik des schwarzen Amerikas dokumentieren. Der vierte Kalender dieser Art zeigt für 2016 zwölf Fotos von der Maxwell Street sowie vor Blues-Clubs in der South und der West Side Chicagos. der exzentrische Tänzer und Sänger Muck Muck Man ist dabei, J.B. Hutto, Andrew Odom , Jimmy Davis, Little Pat Rushing, John Hendry Davis Jr. sowie weitere, unbekannte Musiker und wichtige Sites der so bedeutenden Chicagoer Bluesszene.
(Wolfram Knauer, Dezember 2015)