„Play yourself, man!“ Die Geschichte des Jazz in Deutschland
von Wolfram Knauer
Stuttgart 2019 (Reclam Verlag)
528 Seiten, 36 Euro
ISBN: 978-3-15-011227-4
Vorschau: Reclam
Gut, über eigene Bücher zu schreiben, ist ein wenig schwierig. Die Presse lobt mein neues Buch als als eine „rundum überzeugende Geschichte des Jazz in Deutschland“ (FAZ), als „umfassendste Bestandsaufnahme des Jazz in Deutschland, schlagend aktuell und absolut empfehlenswert“ (NDR), als eine „exemplarischen Kulturgeschichte“ (Frankfurter Rundschau), als „kenntnisreiches und flüssig geschriebenes Buch, das das Zeug zum Standardwerk hat“ (NZZ) und als ein „Standardwerk, das als Lesebuch und zum Nachschlagen gleichermaßen taugt“ (Die Zeit). Die Rückmeldungen von Fans, Journalisten, Musikerinnen und Musikern sind so überaus positiv, dass der Autor sich ob des Lobs leicht „norddeutsch“ eigentlich lieber verschämt hinter dem dicken Buch verstecken möchte.
Statt einer Rezension, die ich, als Autor ja nun wirklich nicht schreiben kann, an dieser Stelle also lieber eine paar Worte zur Erklärung. Mir war es wichtig, bei diesem Buch Zusammenhänge zu klären zwischen deutscher Historie, Kulturgeschichte und der Entwicklung des Jazz über die letzten 100 Jahre. Mir war es wichtig, die ästhetischen Entscheidungen der Musikerinnen und Musiker zu hinterfragen, vor allem aber die Musik einerseits mit meinen Ohren, andererseits auch aus der Zeit heraus zu hören. Mir war es wichtig, aus der Musik die Fragen an die Entwicklung des Jazz in Deutschland herauszufiltern, allerdings auch meine Erklärungen immer wieder anhand der Musik selbst zu überprüfen. Ich habe versucht, von der Vorzeit, dem ausgehenden 19. Jahrhundert also, bis in die Gegenwart, nämlich wirklich bis ins Jahr 2019, diverse Entwicklungslinien zu zeichnen, diese an biographischen Details festzumachen, sie im kulturhistorischen Kontext zu verankern und sie insbesondere anhand der klingenden Musik selbst zu beschreiben. Es geht um den Jazz in mindestens fünf verschiedenen Deutschlands: dem der Weimarer Republik, dem der Zeit des Naziterrors, dem der Deutschen Demokratischen Republik, dem des Wirtschaftswunder-Nachkriegs-Westdeutschlands, sowie dem Deutschland nach der Wiedervereinigung. Es geht um den langen Weg vom Enthusiasmus einzelner Fans über das Nachspielen eines fremden musikalischen Idioms, dessen Aneignung, bis hin zur Entwicklung von Spieltechniken und Klangfarben, die nur hier entstehen konnten, nur aus der Gemengelage unserer Geschichte, unserer Erfahrungen, unserer Einbindung in die globalen Weltenläufte.
Ich habe viel Musik gehört während des Verfassens dieses Buchs. Kein Satz wurde geschrieben, ohne dass ich ihn nicht mit der Musik verglichen hätte, die er letzten Endes näher beleuchten soll. Ich habe enorm viel gelernt, insbesondere wertschätzen gelernt, musikalisches Material beispielsweise, das für mich aus unterschiedlichen Gründen bislang nicht zu sehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Wenn die Leserin, der Leser nur ansatzweise dazu motiviert wird, ihre oder seine „Ohren in die Hand zu nehmen“ und mit Neugier auf die Ursprünge und die so unterschiedlichen Klangspuren zu horchen, die die Auseinandersetzung mit der afro-amerikanischen Musik hierzulande hinterlassen haben, bin ich sehr zufrieden.
Rezensionen beispielsweise von Ulrich Stock (Die Zeit), Johannes Breckner (Darmstädter Echo), Christoph Wagner (Neue Zürcher Zeitung), Hans-Jürgen Linke (Frankfurter Rundschau), Wolfgang Sandner (Frankfurter Allgemeine Zeitung).
Wolfram Knauer (Januar 2020)
Dave Brubeck’s Time Out
von Stephen A. Crist
New York 2019 (Oxford Studies in Recorded Jazz)
272 Seiten, 16,49 Britische Pfund
ISBN: 978-0-19-021772-3
In der Reihe „Oxford Studies in Recorded Jazz“ hat der Verlag Oxford University Press jetzt eine Monographie über Dave Brubecks Album „Time Out“ vorgelegt, das 1959 auf den Markt kam und schnell zu einem der meistverkauften Alben der Jazzgeschichte wurde. Stephen A. Crist verweist im Vorwort seines Buchs auf das andere Album aus dem Jahr 1959, das bis heute gefeiert wird, Miles Davis‘ „Kind of Blue“, über das es mittlerweile jede Menge Literatur gebe, in der die Musik von allen Seiten betrachtet und analysiert werde. Brubecks Albums sei eine solche Wertschätzung leider nie zuteil geworden, klagt er und macht sich dann für seine Recherchen auf in die Brubeck Collection in Stockton, Kalifornien, spricht daneben mit Brubeck selbst (vor seinem Tod natürlich), mit seiner Frau Iola sowie anderen Zeitzeugen, die mit dem Album zu tun hatten.
In einem ersten Kapitel verweist Crist darauf, dass Brubeck bereits zu Beginn seiner Karriere an ungewöhnlichen rhythmischen und metrischen Ansätzen interessiert gewesen sei. Schon 1942 habe er „more polyrhythmic, more polytonal Jazz“ zu spielen versucht, und sein Interesse an diesen Aspekten habe nie nachgelassen (3). Während Brubeck vor allem mit Aufnahmen seines Quartett berühmt wurde, diskutiert Crist zuerst einmal metrische Experimente des Dave Brubeck Octet und Trio. 1954 unterschrieb Brubeck bei Columbia Records. Crist weiß um die Bedeutung des Produzenten George Avakian und des Impresario Joe Glaser für Brubecks Karriere in diesen Jahren, und er verweist auf „Time“-Bezüge in früheren Alben, die aber weniger auf die metrische Dimension des musikalischen Zeitmaßes verwiesen als vielmehr auf den Ruhm, den Brubeck durch die Abbildung auf dem Cover des „Time“-Magazins im Jahr 1954 gemacht hatte.
Brubecks Quartett änderte mehrfach die Besetzung, aber mit Paul Desmond, Eugene Wright und Joe Morello hatte er spätestens 1958 Kollegen gefunden, die seiner musikalischen Ästhetik entsprachen. Crist erläutert, wie der Afro-Amerikaner Wright in dieser Band durchaus zu einer Herausforderung bei Konzerten im nach wie vor rassistisch geprägten US-amerikanischen Süden wurde, und er verfolgt Brubecks Aufnahmegeschichte der späten 1950er Jahre sowie die Reaktion der Kritik auf seinen kommerziellen Erfolg.
Die Stücke des „Time Out“-Albums tauchten etwas ab 1958 im Konzertrepertoire des Quartetts auf. Darius Brubeck, der Sohn des Maestro, beschrieb die Idee hinter der Platte als „experimentell und vollständig auf die Ausarbeitung einer spezifischen musikalischen Idee fokussiert“ (43). Crist liest die Rezensionen eines Konzerts in Oakland im Juni 1959, bei denen das Quartett die meisten der Stücke erstmals öffentlich vorstellte und er beschreibt (mit Hilfe der recording sheets, die ihm vorlagen) die Aufnahmesitzung keine zwei Wochen später. Er berichtet über die Covergestaltung und parallele Pläne etwa für ein Musical („The Real Ambassadors“) oder eine Kooperation mit Leonard Bernstein („Dialogues for Jazz Combo and Orchestra“).
Dann geht’s an die Musik selbst. Crist analysiert „Blue Rondo a la Turk“ und nutzt dafür sowohl Manuskripte aus dem Brubeck-Archiv wie auch eigene Transkriptionen. Er erklärt „Three to Get Ready“, das mit der Gegenüberstellung eher klassischer und einer jazz-gemäßen Spielauffassung spielt. Sowohl hier wie auch in „Kathy’s Waltz“ experimentiert Brubeck mit der Abwechslung von Dreier- und Vierer-Feel. Crist nennt „Strange Meadow Lark“ das vielleicht am leichtesten zugängliche Stück des Albums, und natürlich beschäftigt er sich ausführlich mit „Take Five“, dessen Komposition tatsächlich Paul Desmond und nicht Brubeck zugeschrieben wird. „Pick Up Sticks“ schließlich bezieht seine Inspiration von einer Aufnahme afrikanischer Trommler.
In einem eigenen Kapitel vergleicht Crist verschiedene Aufnahmen derselben Titel; in einem weiteren Kapitel diskutiert er Brubeck als einen Vorreiter, wenn es um die Vermischung von Stilen und musikalischen Traditionen ging. Einige der Stücke wurden über die Jahre textiert, und Crist beleuchtet Aufnahmen etwa von Claude Nougaro, Carmen McRae und Al Jarreau. In drei weiteren Kapiteln untersucht er die Nachwirkungen des Albums, des Experiments mit ungerader Metrik sowie den langanhaltenden Erfolg des Albums.
„Dave Brubeck’s Time Out“ ist eine eingehende Studie, die manchmal ein wenig zu sehr ins Detail geht und dabei schon mal vergisst, die vielen Informationen, die der Autor zusammenträgt, miteinander zu verbinden. So sind sich die Analysen oft genug, stehen eher zusammenhanglos neben den Kapiteln zur Plattengenese oder zur konkreten Aufnahme. Crist beleuchtet auch nicht den Einfluss Brubecks auf die direkt nachfolgende Generation von Musiker:innen – Cecil Taylor beispielsweise äußerte immer seine Bewunderung für Brubeck -, der ganz gewiss in seiner experimentellen Neugier verankert war.
Wie die anderen Bücher dieser Reihe richtet auch dieses sich vor allem an Musiker, Musikwissenschaftler oder Fans, die sich weder vor Notenbeispielen noch vor musikalischer Analyse scheuen. Crist hat genügend Material zusammengetragen, um ein umfassendes Bild des Albums zu geben. Und wenn die eine oder andere Frage offenbleibt, muss das ja gar nicht mal eine scharfe Kritik am Autor sein, denn Crist schafft es mit seiner Arbeit irgendwie ja auch, seiner Leser:innen genau auf diese offenen Fragen zu stoßen.
Wolfram Knauer (Juni 2022)
The Many Faces of Harry Beckett
von John Thurlow
Knaphill, Woking 2019 (Jazz in Britain Ltd.)
267 Seiten, 18 Britische Pfund
ISBN: 978-1-9163206-0-4
Als der Trompeter Harry Beckett im Juli 2010 verstarb, dachten selbst seine Nachruf-Schreiber, er sei 75 Jahre alt gewesen. Nur der Independent fragte genauer nach bei seiner Witwe und erfuhr, dass Beckett bei seinem Tod tatsächlich 87 Jahre alt gewesen war, dass er sich immer ein wenig jünger gemacht hatte, aus Sorge, sonst würden die Veranstalter ihn nicht mehr buchen. Beckett gehört seit den 1960er Jahren zu den wichtigsten Musikern des modernen britischen Jazz, zugleich war er einer der vielleicht vielseitigsten Künstler der Szene, der sich in afrikanische Highlife-Musik genauso einfinden konnte wie in karibische Bands, in den Jazzrock der 1970er genauso wie in die Avantgardeszene der Insel, und der sich bis ins hohe Alter auch nicht zu schade war, bei Dub- und Dance Music-Sessions etwa mit Jah Wobble mitzuwirken.
Eine lange Karriere also, von der John Thurlow in seinem Buch berichtet. Beckett wurde 1923 auf Barbados geboren und sammelte erste musikalische Erfahrungen in der lokalen Heilsarmee-Kapelle. Irgendwann begeisterte er sich für Jazz, Armstrong, Miles, Roy Eldridge, ließ sich Musiktheorie-Bücher aus New York kommen, und zog 1954 nach England, um dort Karriere als Musiker zu machen. Er spielte Standards in den Jazzclubs Londons, daneben in der Band des Yoruba-Gitarristen Ambrose Campbell, mit dem er auch seine ersten Aufnahmen machte, „leichtfüßigen Highlife, vermischt mit Juju, Palm Wine, Merengue, Calypso und Jazz“. Er tourte Europa mit der Band des Sängers Cab Kaye, und er wurde 1961 von keinem geringeren als Charles Mingus für die Filmmusik zu „All Night Long“ engagiert. Der hatte ihn eher zufällig in einem Nightclub gehört und ihm den Rat gegeben: „Spiel nie wie Gillespie, Miles oder sonstwer, spiel einfach nur Harry Beckett!“
Ab Mitte der 1960er Jahre begann Beckett Teil der zeitgenössischen Jazzszene des Vereinigten Königreichs zu werden. Der Bassist und Komponist Graham Collier hatte ihn für eine Plattenaufnahme engagiert, und zwischen 1967 und 2004 wirkte Beckett auf nicht weniger als 14 Alben Colliers mit. Anhand gleich des ersten dieser Alben, „Deep Dark Blue Centre“ geht Thurlow auf Colliers Kompositionsansatz ein … nunja, tatsächlich hält Thurlow sich hier wie sonstwo in seinem Buch mit eigenen Einordnungen und Einschätzungen eher zurück und lässt stattdessen andere sprechen: Autoren von Artikeln aus jenen Jahren, Rezensionen des Albums, den Plattentext einer späterer Wiederveröffentlichung, Konzertrezensionen der Band sowie ein Interview mit Collier selbst. Auf dieselbe Art und Weise würdigt er die weiteren Alben, fügt schließlich noch eine Auflistung von Radiomitschnitten Becketts mit Collier bei.
Für die 1970er Jahre betont Thurlow Becketts Vielseitigkeit, die es ihm erlaubte, in Avantgarde-Projekten des Bassisten Barry Guy genauso mitzuwirken wie in Chris McGregors südafrikanische Elemente betonender Band, in Fusion- und Jazz-Rock-Gruppen genauso wie in Bands, die deutlich seiner karibischen Heimat verbunden waren. Daneben war er mehr und mehr auch auf Alben von Popstars zu hören, ja plädierte sogar dafür, dass mehr Rockbands und Pop-Acts Trompeter wie ihn engagieren sollten. Auch in diesem Kapitel lässt Thurlow andere Autoren über die Musik sprechen; er selbst bleibt lieber der Chronist, der den Überblick über die Aufnahmen und ihre Rezeption behält.
Becketts afrikanischen Ausflügen widmet Thurlow dann noch ein eigenes Kapitel, in dem er Aufnahmen mit Chris McGregor genauso behandelt wie solche mit Johnny Dyani und mit Duku Pukwana, aber auch jene mit Pierre Dørge’s New Jungle Orchestra der 1980er Jahre oder den Jazz Warriors nach der Jahrtausendwende. Ein weiteres Kapitel behandelt Produktionen, auf denen Beckett mit dem Gitarristen Ray Russell zusammenarbeitete, auf immerhin 26 Alben oder aufgenommenen Sessions. Überhaupt hält Thurlow die 1980er Jahre als Becketts vielleicht geschäftigste Periode fest und listet die unterschiedlichsten Projekte. Ein eigenes Kapitel behandelt die siebzehn Alben, die der Trompeter unter eigenem Namen einspielte, ein weiteres seine Zusammenarbeit mit einigen Größen der britischen und europäischen Jazz-Elite. Zum Ende des Buchs werden die Kapitel deutlich kürzer, vielleicht auch, weil die Sekundärquellen dürftiger ausfallen, je jünger die Alben sind.
Und damit sind wir auch schon beim kritischen Fazit. John Thurlow spielt mit offenen Karten, nennt sein Buch ein „Kompendium zeitgenössischer Artikel über Harry Beckett und seine Mitmusiker“. Becketts Musik habe ihn sein Leben lang begeistert, schreibt Thurlow im Vorwort, und als er sich länger mit dem Gitarristen Ray Russell über den Trompeter unterhielt, habe der ihn ermutigt, ein Buch über seinen Helden zu schreiben. Ursprünglich habe er dafür zahlreiche der Musiker interviewen wollen, die über die Jahre mit Beckett zusammenspielten, dann aber habe er sich entschieden, das Kompendium so zu veröffentlichen wie es ist. Tatsächlich ist das Buch sogar der Beginn einer Reihe, die Thurlow in seinem Verlag Jazz in Britain herausgeben will, um damit „das Erbe des britischen Jazz zu sammeln, zu kuratieren und zu feiern“. Es ist also eine umfangreiche Quellensammlung geworden, der aber irgendwie doch die eigene Einschätzung des Autors fehlt. Es beginnt doch so spannend, wenn Thurlow über Becketts Jugend, seine Einflüsse aus Karibik und Bebop erzählt, wenn er seinen Leser:innen die Ankunft Becketts in Großbritannien näherbringt. Aber dann verliert es solche erzählerischen Qualitäten, wenn Thurlow sich von Platte zu Platte und innerhalb dieser von Quellenzitat zu Quellenzitat hangelt, alles gut und richtig ausgesucht, aber nicht wirklich so miteinander verbunden, dass die Kombination großen Mehrwert hätte. Wo das Buch also wie eine Biographie beginnt, wirkt sie spätestens hier über Strecken wie eine etwas ausführlich kommentierte Diskographie. Auch das hat seinen Wert, und ist übrigens insbesondere im Falle Becketts wirklich lobenswert. Aber es hätte ein so viel spannenderes Buch werden können, wenn Thurlow seinen ursprünglichen Plan verfolgt und weitere Interviews mit Zeitgenossen geführt hätte. Irgendwie weiß Thurlow das auch, wenn er im Vorwort lakonisch kommentiert: „Vielleicht nächstes Mal.“
Wolfram Knauer (Juni 2021)
Garage wunderlich. Aus der Nische in die Mitte – 25 Jahre Jazz in E.
herausgegeben von Thomas Melzer
Eberswalde 2019 (Begegnungszentrum Wege zur Gewaltfreiheit e.V.)
168 Seiten
Jedes Jahr nach Himmelfahrt kommt der Jazz nach E., also ins brandenburgische Eberswalde. Das Festival für zeitgenössische Jazz- und Improvisationsmusik entstand nach anfänglichen Konzerten in der Garage des ehemaligen preußischen Zollamts. Erste Konzerte gab es ab 1992, 1993 und 1994 dann den Garagen-Sommer, und ab 1995 das Festival Jazz in Eberswalde, bald nur noch als „Jazz in E.“ abgekürzt. Thomas Melzer dokumentiert in seinem liebevoll gestalteten Buch mehr als 20 Jahre aktiver Veranstaltungsarbeit, die den aktuellen Jazz der immer zentraler werdenden Berliner Jazzszene nach der Wiedervereinigung dokumentiert. Fürs Festival waren die Konzerte schnell in größere Orte umgezogen, der Geist des „Festivals aktueller Musik“, wie es sich im Untertitel nannte, hielt bis in die Gegenwart. Melzers Buch dokumentiert die Reihe bis 2018; 2019 fand die 25. Ausgabe statt, aus deren Anlass dieses Buch entstand; dann war und ist Pause. Sein Buch enthält viele Fotos, die die Atmosphäre gut einfangen, die gesammelten Festivalplakate sowie vereinzelte Rezensionen. Nach Eberswalde, erzählt Ulf Drechsel im Vorwort, sei das Publikum geströmt, ohne zu wissen, was es erwartete. Die Basis war Vertrauen. Das spürt man, auch in der Dokumentation, die wie eine Art Familienalbum einer Szene dient, die froh ist, dass diese Musik nicht nur in der Großstadt passiert, sondern – vielleicht ja gerade – auch auf dem Land Freiräume findet und Kreativität unterstützt.
Wolfram Knauer (Mai 2021)
Rabbit’s Blues. The Life and Music of Johnny Hodges
von Con Chapman
New York 2019 (Oxford University Press)
227 Seiten, 27,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-065390-3
Der Journalist Con Chapman hat sich eine scheinbar unmögliche Aufgabe gestellt, nämlich die Biographie über einen der wortkargsten Musiker der Jazzgeschichte zu verfassen, den Altsaxophonisten Johnny Hodges, über den zumal so viele irreführenden Informationen kursierten, dass einem fast schwindlig wird. Also klärt er auf: Das Rätsel um den Nachnamen, der auch mal ohne des „s“ am Ende erscheint; das Rätsel um den Vornamen, der ursprünglich „Cornelius“, spätestens ab dem dritten Geburtstag aber „John“ lautete; das Rätsel um und die verschiedenen Erklärungen seines Spitznamens „Rabbit“ (sowie die Geschichte hinter anderen Spitznamen, die Hodges über seine Karriere tragen sollte); das Rätsel um die Angabe in der Volkszählung von 1910, dass alle Mitglieder der Familie „weiß“ gewesen seien.
Und dann ordnet er das Biographische. 1907 in Cambridge, Massachusetts, geboren zog die Familie 1922 nach Boston, wo der Vater Arbeit und der Sohn erste Kontakte zur Musikwelt fand. Ein funkelndes Sopransaxophon in einem Schaufenster habe ihn begeistert, begründete Hodges später seine Instrumentenwahl. Er erhielt ein paar Stunden von Jerome Don Pasquall, der auch seine Nachbarn, die Saxophonisten Harry Carney und Charlie Holmes, unterrichtete. Eines seiner Vorbilder war Sidney Bechet, den er bei Auftritten in Boston öfter live hören konnte und dem er eines Abends sogar vorgestellt wurde. Bechet und Louis Armstrong und Frankie Trumbauer seien seine Einflüsse gewesen, sagte er später, und Benny Waters erinnert sich an Hodges als Wunderkind auf seinem Instrument, der bereits mit 13 mehr Jazz gespielt habe als später bei Ellington.
Chapman verfolgt Hodges‘ musikalische Aktivitäten (auf Altsaxophon und Klarinette), beschreibt die Musikszene von Boston in den 1920er Jahren, und verweist auf Unstimmigkeiten in etlichen der Legenden, die den jungen Saxophonisten in der Erinnerung seiner Kindheitsfreunde umwoben. Er beschreibt die Bedeutung, die gerade in diesen frühen Jahren der Sound auf dem Instrument für die Musiker besaß – Technik konnte jeder, aber einen Sound entwickeln, darum ging es wirklich. Für die Technik habe er schnell einige effektvolle Tricks gelernt, verriet Hodges später, die ihm beispielsweise seine beeindruckenden Glissandi ermöglichten.
Ab 1924 fuhr Hodges regelmäßig übers Wochenende von Boston nach New York, hatte Gigs in einer der vielen Tanzschulen und spielte danach bei Jam Sessions, wo er sich schnell einen Namen machte. Mal spielte er mit dem Schlagzeuger Walter Johnson, dann mit Bechet, der ihn ermunterte häufiger das Sopransaxophon zu nutzen und ihm sogar eines seiner Instrumente schenkte. 1926 ist er in der Band des Schlagzeugers Chick Webb zu finden; außerdem hatte Duke Ellington bereits ein Auge auf ihn geworfen. Ein wenig sorgte ihn, dass seine Notenkenntnisse für die ausgefeilten Arrangements des Duke nicht ausreichen könnten, doch weil seine junge Frau ein Kind erwartete und er ein geregeltes Einkommen benötigte, begann 1928 seine Zusammenarbeit mit einem der wichtigsten Jazzkomponisten und-Bandleader des 20sten Jahrhunderts: Edward Kennedy Ellington.
In eingeschobenen Kapiteln vergleicht Chapman Hodges und Benny Carter, der lange Zeit als sein größter Rivale auf dem Altsaxophon galt, oder beleuchtet die Zusammenarbeit des Saxophonisten mit Billy Strayhorn oder mit Ben Webster. Wurden in den 1930er Jahren Hodges, Carter und Willie Smith als die bedeutendsten Altsaxophonisten des Jazz gefeiert, machte ihnen in den 1940ern Charlie Parker diesen Rang streitig. Anfangs gefiel Hodges weder Parkers Tongebung noch sein musikalischer Ansatz, doch wird ihn versöhnt haben, dass das Publikum seinem Sound gegenüber erheblich aufgeschlossener war als dem Parkers. Von 1951 bis 1955 versuchte Hodges eine eigene Karriere außerhalb des Ellington-Orchesters, nahm mehrere Platten mit dem Organisten Wild Bill Davis auf und leitete Band, der zeitweise der junge John Coltrane angehörte. 1955 kehrte er zum Duke zurück und blieb bis zu seinem Tod, ein international gefeierter Solist, der aber auch kleiner besetzte Platten mit dem Duke machte sowie Aufnahmen unter eigenem Namen. Am 11. Mai 1970 verstarb Johnny Hodges nach einem Besuch bei seinem Zahnarzt. Duke Ellington hielt die Trauerrede.
Wer aber war Johnny Hodges, fragt Chapman zum Schluss. Dafür betrachtet er beispielsweise Film- und Fernsehdokumente des Saxophonisten, beschreibt ihn als Zuchtmeister der Ellington-Band, der fest an Regeln glaubte (die aber nicht für ihn galten). In Archiven und den zahlreichen von ihm recherchierten Quellen findet er außerdem etliches über das Privatleben des Saxophonisten, seine Ehen und Kinder, über Hodges als Gourmet und enthusiastischen Koch. Er weiß um einen Affen, den der Saxophonist sich als Haustier hielt, um seine Vorliebe für die New York Yankees und seine Mitgliedschaft bei den Freumaurern. Er weiß um Tourneeroutinen, seinen Platz im Bandbus etwa, sein Talent, sofort die Umgebung der Spielorte auszukundschaften, seine Strategie Krämpfen auf Langstreckenflügen vorzubeugen, seinen Hang erst zu Zigarren, dann zu Zigaretten, seinen Spieltrieb (Tonk, Keno, Lotto), seine Launenhaftigkeit, seine allgemeine Distanziertheit. Diese sei selbst in seinen gefühlvollsten Soli oft wie Emotionslosigkeit rübergekommen, erklärt Chapman und zitiert dann Stanley Dance, der davon sprach, Hodges sei cool gewesen, bevor das Mode wurde.
Die Emotionen, die er aus seinem Instrument holte, seien harte Arbeit gewesen, keine Show. Vielleicht, suggeriert Chapman, lässt sich sein musikalisches Geheimnis am ehesten mit dem Verweis auf den Blues erklären, einer genuin afro-amerikanischen Tradition, die sich in seinem Spiel deutlich ausdrückte. Vielleicht aber, fügt der Rezensent an, wäre „soul“ ein noch passender Begriff, die Seele, die sich in Hodges‘ Balladen genauso findet wie in den Up-Tempo-Soli, die er ja genauso spielte. Tatsächlich nämlich erklärt das Kapitel über Hodges und den Blues dessen Geheimnis genauso wenig wie das Kapitel über Aufnahmen, die der Saxophonist mit Sängerinnen und Sängern machte, die Sanglichkeit in seinem Spiel zu erklären vermag, jene „quality of song“, die ihm von allen Seiten bescheinigt wurde.
Womit wir bei den Stärken und Schwächen des Buchs wären. Chapman zitiert viel, aus zeitgenössischen Quellen und von etablierten Autoren, nennt einzelne Aufnahmen, hält sich aber mit eigenen Einordnungen genauso zurück wie mit musikalischen Details, der Erklärung etwa, wie der Duke Hodges in seinen Arrangements einsetzt, oder für welches Repertoire er zuständig war (und für welches nicht). Er betont das erotische Moment in Hodges‘ Spiel, ohne genauer zu beschreiben, was dieses wirklich ausmacht. Er weiß um viele nette Anekdoten, die leider oft genau dort auftauchen, wo man sich wünschen würde, dass er sich mit ein paar beispielhaften Aufnahmen auseinandersetzen würde.
Con Chapman versammelt in seinem Buch so in etwa alles, was sich an Quellen zu Johnny Hodges finden lässt. Als Quelle für künftige Forschungen ist sein Buch damit gut geeignet (und auch sorgfältig annotiert), und sicher werden auch Ellington- (und Hodges-)Fans auf ihre Kosten kommen. Seine Chronologie allerdings lässt schon mal zu wünschen übrig, was dazu führt, dass man beispielsweise für die 1920er Jahre häufiger zurückblättern muss, um sich zu vergegenwärtigen, wo genau man jetzt ist, wann die eine oder andere Karriereentscheidung wirklich gefallen war, und wer Hodges nun zu was ermuntert hatte. Vor allem aber würde die Musik selbst, die Chapman in seinen Betrachtungen immer wieder ausklammert, noch mehr an Erklärungen geben. Die Ansätze sind ja da: Chapman weiß um die Instrumente, die Hodges spielte, er weiß um die Klangideale und Rabbits‘ Abweichungen davon, er weiß um seine Haltung und seine Bühnenpräsenz. Wie er das alles einsetzte, was er daraus machen konnte und wie Ellington seine Stimme in seinem „Instrument“, dem Orchester einsetzte, darüber erfahren wir allerdings herzlich wenig. Ein paar ausgewählte Beispiele würden ausreichen, an denen sich die Tongebung, die melodische Umspielung, die Entfernung von der Melodie, die improvisatorische Überhöhung zeigen ließen. Doch immer da, wo es an die Musik geht, verlässt Chapman sich lieber auf fremde Quellen, auf Zitate von Mitmusikern oder früheren Autoren als auf seine eigenen Ohren. Das ist schade, denn ansonsten hat er ja alles recherchiert, was aus seinem Buch eine grandiose Darstellung eines der individuellsten Stilisten der Jazzgeschichte machen könnte.
Wolfram Knauer (März 2021)
Free Jazz Communism. Archie Shepp-Bill Dixon Quartet at the 8th World Festival of Youth and Students in Helsinki 1962
herausgegeben von Sezgin Boynik & Taneli Viitahuhta
Helsinki 2019 (Rab-Rab Press)
168 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978-9526938905
Rab-Rab Press
Im Sommer 1962 trat das Archie Shepp-Bill Dixon Quartet bei den 8. Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Helsinki auf, einer vom Weltbund der Demokratischen Jugend ausgerichteten Veranstaltungsreihe, die seit 1947 meist in Staaten des Ostblocks und einzig 1959 mit Wien und 1962 mit Helsinki in nicht Ostblockländern stattfand. Die Weltjugendspiele waren eine politische Veranstaltung – insbesondere 1962, also mitten im Kalten Krieg, und insbesondere in Finnland, das damals eine Art Land zwischen den Systemen war. Sezgin Boynik und Taneli Viitahuhta beleuchten den Auftritt Shepps und Dixons im Quartett mit Don Moore, Bass, und Howard McRae, Schlagzeug, von unterschiedlichen Seiten, wollen dabei die Bedeutung des Konzerts im Rahmen des Festivals, aber auch die Auswirkungen der politischen Bedeutung der Veranstaltung auf den weiteren Lebensweg insbesondere Archie Shepps analysieren.
Zu Beginn erinnert sich der Journalist Pekka Saarnio an jenen Sommer 1962, als er als 17jähriger Folk-Musiker am Festival teilnahm. Zusammen mit Freunden wurde er eingespannt, eine wohl vom CIA finanzierte Anti-Festival-Zeitung zu sabotieren, hörte Jazz in einer Schule, die die französische Delegation beherbergte, und sorgte dafür, dass die Postkarten eines Teilnehmers aus Panama auch dann noch aus Finnland abgeschickt wurden, als der einen Abstecher in die Sowjetunion machte. Saarnio lernte zum ersten Mal in seinem Leben Menschen aus Afrika und Asien kennen, und sieht das Festival im Rückblick als einen Grundpfeiler der sozialistischen und sozialdemokratischen Bewegung in Finnland.
Jeff Schwartz blickt von der anderen Seite auf das Festival, erklärt, wie die USA seit 1955 Jazzmusiker zu politischen Zwecken einspannte, wie andererseits in den späten 1960er Jahren der Free Jazz Archie Shepps, Cecil Taylors und der AACM in Europa als kulturelle Parallele zur Black-Panther-Bewegung verstanden wurde. Dann beschreibt er, wie es dazu kam, dass die Organisatoren der Weltjugendfestspiele die Kommunistische Partei in den Vereinigten Staaten kontaktierten, um einen Beitrag zum Kulturprogramm zu erbitten. Die Wahl fiel auf die Cecil Taylor Unit und das Shepp-Dixon Quartett. Die Reisekosten wurden durch Konzerte finanziert, die das On Guard Committee for Freedom im April 1962 in New York durchführte. Taylor sagte kurz vor der Reise ab, angeblich, weil er als Haupt-Act angekündigt werden wollte, Dixon dem aber widersprach. Stattdessen reiste, mehr oder weniger inoffiziell, der Klarinettist Perry Robinson mit, der bei den Auftritten des Quartetts in Helsinki mit einstieg. Dort im Publikum war, wie wir lernen, unter anderem der dänische Saxophonist John Tchicai, der wenige Monate später mit seiner Frau nach New York zog und Teil der dortigen Avantgardeszene wurde. Zeitgleich zu den Weltjugendspielen veranstaltete die US Information Agency ein Young America Presents-Festival, für das Frederick Starr verschiedene Musiker zwischen Dixieland und modernem Jazz programmierte, unter ihnen Jimmy Giuffre, Charles Bell und Herbie Nichols. Zwei Jahre später taten sich Musiker wie Dixon, Cecil Taylor und andere zur Jazz Composers Guild zusammen; Helsinki, argumentiert Schwartz, habe zur Politisierung dieser und anderer Künstler:innen beigetragen.
Die beiden Festivals sorgten für Nachhall in der lokalen Jazzpresse, wie Auszüge aus einer Rezension und diversen Leserbriefen im finnischen Blatt Rytmi sowie eine Konzertbesprechung im schwedischen Orkester Journalen zeigen. Taneli Viitahuhta fragt, welchen Beitrag die Weltjugendspiele wohl auf die Ausbildung einer spezifisch finnischen Jazzästhetik gehabt haben mag. Er beleuchtet die Hintergründe der kritischen Rezeption, suggeriert, dass Giuffre und Shepp wie Antagonisten der beiden Festivals für unterschiedliche politisch-ästhetische Konzepte standen. Es sei ja die Zeit gewesen, erklärt er, in der Musikern in den USA bewusst geworden sei, dass ihr Beitrag zur Musik des 20sten Jahrhunderts zu wenig gewürdigt wurde. George Lewis‘ Kategorisierung einer eurologischen und einer afrologischen Sicht auf die Musik sei aber noch eine weitere Kategorie hinzuzufügen, schreibt Viitahuhta: die „kapitalogische“ nämlich, die Rolle also des Kapitalismus für die Vermarktung der Musik. Eine Folge der beiden Festivals jedenfalls sei die Ausrichtung des Pori Jazz Festivals ab 1966 gewesen, das insbesondere deshalb erfolgreich wurde, weil es (a) weitgehend apolitisch war, (b) sich vor allem an ein Mainstream-Publikum wandte, und (c) auf eine staatliche Förderung zurückgreifen konnte – alles Lehren, die man aus der Diskussion über die Festspiele von 1962 gezogen habe.
Der Auftritt des Quartetts plus Robinson wurde nach der Rückkehr der Musiker sogar im amerikanischen Repräsentantenhaus besprochen, und zwar vor dem einst von McCarthy mit-begründeten Committee on Un-American Activities, wo Shepp-Dixon-Robinson „sehr progressiver Jazz“ zugestanden und vor allem den Folksängern der amerikanischen Delegation antiamerikanische Inhalte vorgeworfen wurden. Erinnerungen an die Reise stammen von Perry Robinson (aus einem Text von 2001) und Archie Shepp , den die Herausgeber des Buchs 2019 in Pori befragten. Shepp erzählt, wie er sich Anfang der 1960er Jahre als Aktivist verstanden habe und von der Kommunistischen Partei der USA unterstützt wurde. Er erinnert sich an Demonstrationen während der Festspiele, und betont, dass es ihm wichtig war in seiner Musik seine politische Haltung auszudrücken. Es sei seine erste Reise nach Europa überhaupt gewesen, erinnert sich Shepp, und weil er Angst vorm Fliegen hatte, war er mit dem Schiff erst nach England und dann weiter nach Finnland gereist. Nach dem Auftritt in Helsinki habe er an Symposien in der Sowjetunion teilgenommen, in denen er argumentierte, schwarze Musik habe nicht etwa wegen, sondern trotz des Kapitalismus in den USA überlebt. Heutzutage, klagt Shepp, sei die meiste Musik nicht mehr politisch. Shepp, wird in diesem Interview klar, war durch seine Reise zu den Weltjugendspielen in seiner Überzeugung bestärkt worden, dass Musik, oder besser: dass seine Musik dazu beitragen könnte die Welt zu verbessern. Seine Politisierung belegen drei von ihm verfasste Texte, zwei, die ursprünglich im Down Beat von 1965 und 1966 erschienen (unter ihnen „An Artist Speaks Bluntly“), sowie einen, den er für eine Konferenz in Finnland im Jahr 1983 verfasst hatte.
Im Schlusskapitel versucht Sezgin Boynik Shepps Musik und Haltung historisch, politisch und ideologisch einzuordnen, geht dabei auf inneramerikanische Diskurse wie die Bürgerrechtsbewegung, Martin Luther Kings friedliche Proteste sowie auf die Idee eines Black Nationalism genauso ein wie auf internationale Konflikte, die sich im Kalten Krieg zwischen den Systemen manifestierten. Shepps Musik sei funktionell, wenn es um politischen Aktionismus ginge, zitiert er einerseits den Saxophonisten, betont daneben aber auch die Notwendigkeit des Subjekts und der politischen Subjektivität, die aus Musik eine Sprache der Revolution und des Bruchs machen können, mit der Hoffnung auf neue Anfänge.
„Free Jazz Communism“ bietet einen willkommen-ungewöhnlichen Blick auf einen wenig dokumentierten Aspekt des amerikanischen Free Jazz der frühen 1960er Jahre und der inhaltlichen – ästhetischen und politischen – Anstöße, die Musiker:innen jener Zeit aus ihrer Begegnung mit gesellschaftlicher Realität außerhalb der USA erhielten. Der Fokus auf den Besuch des Quartetts von Archie Shepp und Bill Dixon macht insbesondere deshalb Sinn, weil Shepp eine der Hauptfiguren im Diskurs über Jazz als politische Musik in den Vereinigten Staaten der kommenden Jahre sein sollte. Helsinki erklärt weder seine Haltung noch seinen Werdegang, aber das Wissen um Helsinki und die Umstände des Festivals gibt zumindest einen Einblick in die Realität des künstlerischen und politischen Diskurses, in dem Shepp und andere Musiker:innen seiner Zeit sich bewegten.
Das Buch hat eine eigene Layout-Ästhetik, zu der beispielsweise großen, grobkörnige Fotos vom Festival, dem Auftritt der Band und dem Publikum gehören. Die Kapitel strahlen ein zumindest für die Sicht dieses Rezensenten oft etwas zu einfaches Verständnis des Politischen in der Kunst aus, eine Sicht auf die weltpolitische Lage der frühen 1960er Jahre, die ideologische, moralische und wertende Aspekte in den Vordergrund stellt, sich dagegen wenig mit der Musik selbst auseinandersetzt. Ein solcher Ansatz muss kein Manko sein, gibt das Buch doch nirgends vor, eine wissenschaftlich objektive Darstellung zu sein. Er macht das Lesen allerdings zumindest in den Kapiteln der Herausgeber etwas mühsam, in denen man von deren Argumenten, den Verweisen auf marxistische und antikapitalistische Haltungen schon etwas überrollt wird.
Wenn man diese Kapitel allerdings als Teil einer Debatte versteht, in der man als Leser:in selbst dazu aufgefordert wird Stellung zu beziehen, lässt sich das Buch als ein Beitrag zu einer anderen Sicht auf die Entwicklung des Free Jazz in den USA und seine Bedeutung innerhalb der gesellschaftspolitischen Diskurse der Zeit lesen. Weniger Augen öffnend vielleicht als Perspektiven verschiebend…
Wolfram Knauer (Oktober 2020)
Stéphane Grappelli and the Hot Club Quintet
von Frank Murphy
Graz 2019 (Adeva)
165 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3-201-02045-9
Stéphane Grappelli gehört zu den großen und einflussreichen Musikern seines Instruments im Jazz – in Europa, aber tatsächlich auch über Europa hinaus. Der australische Musikwissenschaftler Frank Murphy versucht jetzt in einer analytischen Studie seinem Personalstil näher zu kommen und dabei insbesondere seinen Beitrag zum Quintette du Hot Club de France zu beschreiben. Er hat dafür alle ihm zugängliche Literatur gesichtet und diese insbesondere auf Grappellis Zeit im QdHCF ausgewertet, sich sämtliche Aufnahmen des Ensembles zwischen 1934 und 1948 angehört, an denen der Geiger beteiligt war, Grappellis Improvisationen transkribiert, und seine Soli wo immer möglich mit Notenveröffentlichungen der betreffenden Songs verglichen.
Im ersten Kapitel erklärt Murphy seine Herangehensweise. Ziel sei eine Beschreibung des Personalstils, der in bisherigen Veröffentlichungen kaum genauer beleuchtet worden sei. Er will die Beziehung der Improvisationen des Geigers zu den zugrundeliegenden Kompositionen untersuchen und darüber hinaus jene musikalischen Elemente identifizieren, die Grappellis eigene Kunst ausmachen. Unter anderem weil Grappelli stark mit Paraphrasen der Originalmelodie arbeitet, hat Murphy für seine Studie nur solche Aufnahmen herangezogen, für die er auch die entsprechenden Notenveröffentlichungen der zugrundeliegenden Komposition habhaft wurde. Auch hat er all diejenigen Titel ausgelassen, die entweder kein Solo Grappellis enthielten oder auf denen er Klavier statt Geige spielte. Und schließlich hat er sich entschlossen vier Titel mitaufzunehmen, obwohl ihm keine Originalnoten vorlagen oder aber diese sehr stark von der Form der Aufnahme abwichen.
Im zweiten Kapitel erläutert er die Improvisationstechniken, derer sich Grappeli bedient. Insbesondere betrachtet er Grappellis Methode der melodischen Paraphrase, seine Benutzung sich aufeinander beziehender Phrasen, sowie die Verwendung einer längeren Phrase als Ausgangsmaterial für einen ganzen Chorus. Innerhalb dieser drei improvisatorischen Ansätze diskutiert er rhythmische und motivische Besonderheiten des Stils sowie Grappellis Verwendung harmonischer Erweiterungen und Blue Notes, um inneren musikalischen Zusammenhalt zu erzeugen.
Kapitel 3 beleuchtet musikalische Elemente, die Grappellis Stil der 1930er Jahre bestimmen, wobei Murphy beispielsweise auf die formale Struktur, auf Tempi und Rhythmik, auf Tonarten und Tonartenwechsel, auf die Benutzung von Skalen bzw. Skalenläufen in seinem Spiel, auf Arpeggien, wiederkehrende Motivfiguren, Ornamente, harmonische Besonderheiten, Tonumfang, Glissandi, Tremoli und andere Spezialeffekte, sowie auf das Anpeilen und Erreichen melodischer Höhepunkte fokussiert. Insbesondere die Identifizierung konkreter Motive, die Grappelli in Interpretationen teils unterschiedlicher Titel benutzt und die Murphy konkreten harmonischen Situationen zuordnet, bietet dabei einen interessanten Ansatz einer Art Beschreibung des Vokabulars, dessen sich der Geiger in seinen Soli bedient.
Kapitel 4 setzt sich mit denselben Themen auseinander, blickt jetzt aber auf die Aufnahmen nach dem Krieg. Auch hier analysiert Murphy einzig, fragt weder, was zu musikalischen Entscheidungen beigetragen haben könnte, noch wie konkret sich die von ihm beschriebenen Parameter vor und nach dem Krieg unterscheiden. Einen Vergleich wagt er immerhin in Kapitel 5, in dem er Titel untersucht, die in mehreren Aufnahmen vorhanden sind, teils aus verschiedenen Schaffensperioden, teils verschiedene Takes derselben, oder nahe beieinanderliegender Sessions. Beim Vergleich unterschiedlicher Aufnahmejahrzehnte stellt er fest, dass Grappelli die Melodik der Originalstücke vor dem Krieg freier interpretierte, dass allerdings die Technik der Paraphrase recht ähnlich blieb. Bei mehreren Takes stellt er fest, dass Grappelli nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, in späteren Takes freier mit dem Material umgeht als in den früheren, sondern dass alle Aufnahmen eine ähnliche Art der Paraphrase gemäß seines improvisatorischen Ansatzes vorweisen.
In Kapitel 6 fasst Murphy dann recht nüchtern die Ergebnisse seiner Untersuchung zusammen: Grappelli benutze etliche personalstilistische Motive, die er offenbar in den Kriegsjahren komplett überarbeitet habe. Sein Ambitus habe sich deutlich erweitert, das harmonische Vokabular sei allerdings größtenteils gleichgeblieben. In frühen Aufnahmen habe sich der melodische Höhepunkt oft am Ende des Solos befunden, nach dem Krieg seit der dramatische Bogen ausgewogener und über das ganze Stück verteilt. Nach dem Krieg wiederum habe er auf zusätzliche Verzierungstechniken zurückgegriffen, die er gut aus dem Studium klassischer Musik übernommen haben mag.
Eine ausführliche Bibliographie, eine Diskographie der im Buch behandelten Aufnahmen sowie ein Transkriptionsteil schließen sich an.
Frank Murphys Buch ist eine durchwegs rein musikanalytische Arbeit und richtet sich damit vor allem an Musikwissenschaftler. Ästhetische oder historische Fragestellungen lässt der Autor weitestgehend beiseite, was auch bedeutet, dass außer der sehr generellen Fragestellung danach, wie sich Grappellis Personalstil beschreiben lässt, wenig konkrete Fragen oder Antworten zu finden sind. Die Einleitungen und Zusammenfassungen, mit denen er die einzelnen Kapitel beginnt und schließt, wären ein Ort, in dem er auch die sachunkundigeren Leser mitnehmen könnte; diese Chance aber vertut Murphy, der sich selbst in diesen Absätzen nicht aus dem technisch-analytischen Vokabular seines Textes herauswagt.
Das ist schade, weil Arbeiten wie die seine eigentlich wichtige Grundlagenforschung sind, auch sie aber eigentlich das Bewusstsein des Autors für seine eigene Position als Analytiker und für die Bedeutung seiner Analysen für ein allgemeineres Verständnis der behandelten Personen, Aufnahmen oder Stilentwicklungen erfordern. So liest sich das Buch extrem schwerfällig. Selten werden Fragestellungen, auf die analytische Details eine Antwort geben könnten, noch einmal klar hervorgehoben, und auch die Antworten selbst sind oft nur in Nebensätzen zu finden. Dabei wären ja selbst Feststellungen wie die, dass sich die Vor- und Nachkriegsstilistik an dieser oder jener Stelle kaum unterschied, durchaus Ergebnisse, die sich den Lesern vermitteln ließen.
Bei Murphy aber bleibt selbst die Zusammenfassung zum Schluss ein rein beschreibendes Kapitel, das, fast schon abrupt, mit der Feststellung endet, der Autor habe sich nur mit einem Teil Grappellis langer Karriere befasst, der Rest sei noch ein weites und spannendes Feld. Und nun, fragt man sich etwas ratlos und sinniert schnell ganz generell über den Sinn musikimmanenter Veröffentlichungen. Ja, es braucht solch analytischer Arbeiten, und, ja, Murphy hat sich wahrscheinlich eingehender als sonst jemand in die Musik Grappellis vertieft. Warum aber kann nicht wenigstens für die Buchveröffentlichung ein Aufhänger gefunden werden, der seine Erkenntnisse in der musikalischen Entwicklung der Zeit verortet?
Zu Beginn seines Buchs beklagt Murphy ja ganz zu Recht, die meisten bisherigen Veröffentlichungen zu Grappelli seien vor allem biographischer und diskographischer Natur gewesen, hätten aber die Musik außen vor gelassen. Allerdings ist das totale Gegenteil, nämlich eine rein analytische Arbeit, die sich höchstens am Rande biographischer oder ästhetischer Herleitungen bedient, mindestens genauso fragwürdig. Und letztlich vergisst Murphy beim Ansetzen der Lupe an Grappellis Geigenspiel dann sogar noch den Titel seines Buchs: Es geht zwar um Grappellis Aufnahmen mit dem Quintette du Hot Club de France, aber nirgends um das Zusammenspiel mit den anderen Musiker. Grappellis Spiel aber findet weder unabhängig von Django Reinhardts virtuosem Gitarrenspiel noch von dem antreibenden Puls von Rhythmusgitarren und Kontrabass statt. Wenn aber dieses Zusammenspiel an keiner Stelle thematisiert wird, auch nicht ansatzweise als Erklärung etwa für harmonische Entscheidungen, melodisch-motivische Phrasen oder stilistische Veränderungen, dann hinkt halt auch die Analyse auf ganzer Ebene.
Fazit: Die rein musikimmanente Analyse hat auch in der Jazzforschung durchaus ihre Berechtigung. Wenn sie allerdings vergisst, dass solistische Improvisation selten ohne Partner und nie ohne ein ästhetisches Umfeld stattfindet, läuft sie Gefahr, sich nur mit sich selbst zu beschäftigen. Wenn man also auch als wohlwollender Leser am Ende dieses Buchs meint, zu ahnen, dass da jemand ganz viel Ahnung über Grappellis Personalstil hat, ist das ein etwas unbefriedigendes Ergebnis, insbesondere, wenn derselbe Autor nirgends Anstalten macht, dieses Wissen über die Präsentation seiner sezierenden Analysen hinaus auch zu vermitteln. Schade…
Wolfram Knauer (Februar 2020)
Swiss Jazz & Blues Guide 2020
herausgegeben von JazzTime
Wettingen/CH 2019 (JazzTime Verlag)
176 Seiten, 34 Schweizer Franken
https://www.jazztime.swiss/single-post/2019/12/11/TELEJAZZ-Swiss-Jazz-Blues-Guide-2020
Alle paar Jahre legt der Verlag JazzTime, der monatlich einen Veranstaltungsüberblick über das Jazz- und Bluesgeschehen in der Schweiz herausgibt, einen Wegweiser durch die gesamte Schweizer Jazz- und Blueslandschaft vor. Der „Swiss Jazz & Blues Guide“ enthält die Kontaktdaten zu weit etwa 1.200 Musikerinnen und Musikern, etwa 400 Bands, 33 Clubs und Vereine, etwa 80 Vereinen sowie ca. 50 Festivals. Es ist damit eine Art Branchenbuch der Schweizer Szene, ähnlich wie es der Wegweiser Jazz als Buch bis 2009 war und als Internetdatenbank bis heute ist. Die Musiker sind mit Postanschrift, Telefon, Mailadresse und Website gelistet, außerdem in einer eigenen Rubrik nach Instrument sortiert; für die Vereine und Festivals sind die Kontaktpersonen genannt, für die Spielorte oft nur Adresse und URL; die Festivals sind zusätzlich in einer eigenen Rubrik chronologisch geordnet. Ein kurzes Vorwort, ein Porträt der Saxophonistin uns Komponistin Sarah Chaksad sowie ein einseitiges Feature für das Winterhurer Institut für aktuelle Musik runden das Buch ab, das daneben noch eine Anzeige der Hochschule der Künste Bern enthält, aber ansonsten auf keine weiteren Fortbildungsangebote in der Schweiz verweist. Auch in Zeiten des Internet ist ein solches gedrucktes Verzeichnis wertvoll, wenn man sich auch wünschen würde, dass es über kurz oder lang (mit all den Problemen, die der Datenschutz mit sich bringt) in eine gepflegte Online-Datenbank überführt würde.
Wolfram Knauer (Februar 2020)
Jazz in Hannover. Die Ära der 1940er-1960er Jahre. Der Deutsche Swing Club – Der Hot Club Hannover – Der New Jazz Club – Der Jazz Club der Sozialistischen Jugend. Jazz Club Hannover – ein Zeitraffer. Eine Dokumentation
herausgegeben von Gerhard Evertz
Hannover 2019 (Eigenverlag)
336 Seiten
[nur in Kleinstauflage erschienen; zur Zeit nicht mehr erhältlich]
Gerhard Evertz hat bereits 2004 und 2007 zwei Bücher mit zahlreichen Dokumenten zur Jazzgeschichte seiner Heimatstadt vorgelegt. Jetzt konnte er diese in einem weiteren Band um Dokumente aus den 1940er bis 1960er Jahren ergänzen, insbesondere Faksimiles oder Abschriften der diversen Hot-Club-Zeitschriften „Rhythm Echo“, „Rhythm on Record“, „Die Synkope“ und „Yardbird“.
Im Vorwort schreibt Evertz, der 12-jährig kurz nach dem Krieg mit Mutter und Bruder nach Hannover zog und in den 1950er und 1960er Jahren als Amateur-Schlagzeuger in diversen Combos und Bigbands mitwirkte, von der mittlerweile fast 70jährigen Geschichte des organisierten Jazz in Hannover. 1941 oder 1942 nämlich hatte Walter Kwiecinski mehr oder weniger im Untergrund den „Deutschen Swing-Club Hannover“ gegründet, einen privaten Kreis von Jugendlichen, die hinter verschlossenen Türen und Fenstern gemeinsam Platten hörten.
Gleich nach dem Krieg gab Kwiecinski die erste Clubzeitschrift heraus, „Rhythm Echo“, in der – durchaus vergleichbar mit hektographierten Mitteilungsblättern anderer Clubs in Westdeutschland – Informationen über die internationalen Entwicklungen im Jazz genauso zu finden waren wie solche über Aktivitäten in Hannover, Rätsel, Kurzgeschichten, Liedtexte bekannter Jazzstandards u.v.m. Recht früh (in der Ausgabe vom 29. Dezember 1945 nämlich) betont Kwiecinski darin bereits die politische Bedeutung des Jazz während der Nazizeit und erklärt, mit welchen Gefahren sich die Clubmitglieder unter den Nazis konfrontiert sahen. Er erklärt zugleich, dass es Aufgabe des Clubs sei, Swing und Jazz zu größerer Anerkennung zu verhelfen, etwa, indem man zeige, „dass wir nicht wie sie einseitig sind, sondern dass wir über Mozart und Verdi ebenso plaudern können wie über Ellington und Basie“.
Einige der Hefte druckt Gerhard Evertz in seinem Buch als Faksimiles ab, andere, nur schwer lesbare, hat er mühsam abgetippt. Erstaunlich, dass Kwiecinski quasi parallel zum „Rhythm Echo“ auch das Heft „Rhythm on Record“ herausbrachte, von dem Evertz ebenfalls einige Ausgaben präsentiert. In einem Einschub von 1991 erzählt dann Kwiecinski seine jazz-bezogene Lebensgeschichte. 1946 hatte er mit Genehmigung der Britischen Militärregierung den „Deutschen Hot Club Hannover“ gegründet, dem er noch bis 1950 vorstand und der ab 1956 von Dietrich Schulz-Köhn geleitet wurde. Spannend in diesem Zusammenhang insbesondere ein Brief Kwiecinskis an Schulz-Köhn vom Dezember 1955, in dem er auf die finanziellen Bedarfe diverser Räumlichkeiten in Hannover hinweist, nach Gründen für den schlechten Besuch eines Konzerts mit Vera Auer sucht und darüber sinniert, ob die Plattenvorträge, die in den 1940er Jahren so beliebt waren, noch zeitgemäß seien.
In einem Sprung zurück nach 1948 druckt Evertz die ihm zugänglichen Hefte des hch-Blattes „Die Synkope“ ab. Darin geht es etwa um „Toleranz im Jazz“, um stilistische Reinheit, um Kommerz, um den Gehalt von Jam Sessions oder um Negro Spirituals. „Yardbird“ heißt schließlich das Folgeblatt, dessen erste Ausgabe 1958 erschien und dessen Qualität es zulässt, es größtenteils als Faksimile zu drucken. Die durchgängig in Kleinbuchstaben gehaltenen Postille enthält Artikel etwa über Skiffle, Fatty George, Bierjazz und Michael Naura sowie Gedichte oder schriftstellerische Texte.
1956 bildete sich in der Sozialistischen Jugend Hannover erst eine Neigungsgruppe, dann der erste Jazz-Club Hannover, der diverse Konzertreihen durchführte und 1966 in den noch heute bestehenden Jazz-Club Hannover überging. Für diese Aktivitäten druckt Evertz Vortragsinformationen, Konzerteinladungen und –rezensionen ab, aber auch erste Artikel, in denen auch vom Wunsch nach einem eigenen Jazzkeller die Rede ist, der schließlich im Sommer 1960 im Juugendheim Am Lindener Berge 38 eingeweiht wurde. Daneben enthält dieses Kapitel Faksimiles von Verträgen etwa mit dem Albert Mangelsdorff Quintett oder der Band von Michael Naura aus dem Jahr 1960.
Schließlich folgt ein Beitrag von Niels Bolbrinker über den deutschen Nachkriegsjazz, eine Dokumentation über ein Konzert Jutta Hipps im Alten Rathaus Hannover, das als ihr „letztes in Deutschland“ angekündigt wurde, sowie kurze Ausflüge in das Geschehen anderswo in Westdeutschland. Und als Abrundung finden sich noch Dokumente und Fotos aus der Zeit bis ins neue Jahrtausend.
„Jazz in Hannover“ ist vor allem dort spannend, wo Evertz uns an zeitgenössischen Diskursen teilnehmen lässt, wo er unkommentiert Dokumente im Faksimile oder in Abschriften druckt. Sie erlauben einen recht unverfälschten Blick auf die Jazzrezeption jener Jahre, die zwischen Insiderdiskursen und dem Versuch schwankten, der Musik nach außen mehr Ansehen zu verschaffen. Man spürt förmlich die Entwicklung von purem Enthusiasmus hin zu einer gewissen Professionalität im Umgang mit der Musikern, den Behörden, aber auch dem Publikum und der Öffentlichkeit. Und gerade dabei ist es eine dankenswerte Ergänzung zu den bereits früher von Evertz vorgelegten Dokumentationen über die Geschichte des Jazz in Hannover.
Wolfram Knauer (Januar 2020)
Miles Davis. New Research on Miles Davis & His Circle
von Masaya Yamaguchi
New York 2019 [privately published]
682 Seiten, 28,60 US-Dollar
ISBN: 978-0-9998784-4-6
Kindle-Version (über Amazon)
„Sagen Sie niemals: ‚In seiner Autobiographie schrieb Miles Davis…‘ Miles Davis hat nichts davon geschrieben.“ So beginnt Masaya Yamaguchi sein Buch, das …. hmmmm…. nunja, das schwer beschreibbar ist. Es ist nur bedingt ein Buch über Miles Davis; es ist keine Biographie, es ist keine Stilstudie, es ist kein analytisches Werk. Als Ausgangspunkt dient die vom Dichter und Schriftsteller Quincy Troupe verfasste Autobiographie des Trompeters, in der Yamaguchi über zahlreiche Fehler, Missverständnisse, falsche Mythen und ähnliches stolpert und das zum Anlass nimmt weiter zu graben. Er recherchiert in Archiven, vergleicht das Buch mit den Interviews, die Troupe entweder selbst mit Miles führte (und die heute im Archiv des Schomburg Center in New York liegen), oder die anderweitig mit ihm verfügbar sind, studiert die verschiedenen Fassungen von Anekdoten und Erklärungen des Trompeters über die Jahre, und vergleicht behauptete Fakten mit offiziellen Unterlagen, etwa Zensuslisten, Familienregistern oder in Archiven entdeckter Korrespondenz. Sein Buch ist quasi eine recherchekritische Begleitstudie zur Autobiographie, die zugleich das Problem historischer Forschung im Jazzbereich beleuchtet, die oft verschwommene Quellenlage, den Umgang mit apokryphen Geschichten oder unklaren Daten. Es ist eine Studie über Legendenbildung im Jazz.
Das Herangehen Troupes an die Autobiographie war ja ein übliches: Er stellte dem Trompeter ein Mikrophon vor die Nase und sammelte Erinnerungen, Erklärungen, Einschätzungen, Meinungen. Die Tonbänder wurden von einem Schreibdienst transkribiert, die Abschriften von Troupe handschriftlich korrigiert, d.h. Versatzstücke in ganze Sätze umformuliert. Und diese Schnipsel, die er – wie jeder Ghost Writer – des dramatischen Effekts wegen gern ausschmückte, dienten Troupe schließlich als Vorlage für das Buch.
Dabei habe Troupe Davis vielleicht gar nicht immer verstanden und gewiss nicht sorgfältig genug hinterher-recherchiert. Das zumindest impliziert Yamaguchi, wenn er erzählt, dass Quincy Troupe, der Anfang des Jahrtausends zum Poet Laureate des Staates California ernannt worden war, diesen Titel 2002 zurückgeben musste, als herauskam, dass er in seinem Lebenslauf gelogen und einen akademischen Abschluss vorgetäuscht hatte. Troupe habe also offenbar keine Probleme damit, schreibt Yamaguchi, die Wahrheit zu verfälschen. Und Miles selbst habe er zumindest dann schwer verstanden, wenn der über Musik gesprochen habe: Als Davis ihm etwa die harmonischen Neuerungen erklären wollte, die Thelonious Monk in den Jazz einführte, habe Troupe schnell ablenkend eingeworfen: „Das sind aber schöne Schuhe!“
Ganz am Ende seines Textes schreibt Yamaguchi, es gehe ihm gar nicht um ein überkritisches Zerpflücken jener Autobiographie; er verstehe die Notwendigkeiten des Genres und er habe das Buch selbst mit viel Vergnügen gelesen. Die 600 Seiten vor diesem Bekenntnis allerdings lesen sich teils wie eine vernichtende Kritik an Troupes Herangehensweise, teils wie das besserwisserische Detailwissen eines Miles-Davis-Nerds. Wenn Yamaguchi an anderen Stellen seines Buchs zu tief in die Recherche eintaucht, Zensus-Register miteinander vergleicht, Familienzusammenhänge bis ins letzte Glied untersucht, Bilder verschiedener Orte des Geschehens, also Wohnhäuser, Clubs u.a.m. abbildet, mal historisch, mal aktuell, dann bewundert man einerseits seine Detailliebe, sein detektivisches Gespür, sein Nicht-Aufgeben-Wollen, wo immer er auf Information stößt, die ihm nicht eindeutig scheint. Zugleich wird einem schon mal ganz schwindlig bei den laufenden Themenwechseln, die er in seinem Parforceritt durch die Informationsflut über Miles Davis vollzieht.
Beispiel: Im Kapitel über Charlie Parker geht es im einen Moment um Parkers Drogensucht, der (sinnvollerweise) in Miles‘ Umgang mit Drogen übergeht, um unvermittelt zum Ursprung des Wortes „Jazz“ und Miles Ablehnung des Begriffs zu schwenken, woraufhin Yamaguchi einen Aside einpflegt, Miles‘ Mutter habe immer dafür plädiert, er solle doch nebenbei bei der Post arbeiten, von welcher Anekdote er zu der Geschichte kommt, wie Miles seine Mutter geschlagen habe, als diese ihm das Studium ausreden wollte, was wiederum dazu geführt habe, dass sie ihm 1959, als Miles vor dem Birdland von Polizisten zusammengeschlagen wurde, sagte: „Ich weiß, dass du ihn [zuerst] geschlagen hast“… Jedes Detail für sich interessant; die Tiefe, mit der Yamaguchi in die Beweisaufnahme eintritt, bewundernswert, eine Fundgrube spannender Details, zugleich aber ungeordnet wie ein Trödelladen und zusammenhängend kaum lesbar.
Doch ist dieses Buch fürs zusammenhängende Lesen auch nicht gedacht. Stattdessen gibt es Einblick in die Fallstricke der Jazzforschung. Verlässt man sich auf die Erinnerung des Sujets oder bohrt man nach? Überall, aber im Jazz scheinbar besonders, hat man es ja mit dem Herumschleppen von Legenden zu tun: Was da einmal in der Welt ist, wird gern ungeprüft abgeschrieben. In den meisten Fällen ist das auch gar nicht so schlimm, sofern die Autorin oder der Autor genügend kritische Distanz besitzt und ein Gespür dafür, dass Anekdoten manchmal auch ohne Wahrheitsgehalt aussagekräftig sein können, man aber auf jeden Fall darauf hinweisen sollte, für wie verlässlich man selbst sie hält.
Ungeordnet noch ein paar Beispiele aus Yamaguchis Buch: Er beleuchtet Miles‘ früheste Kindheitserinnerung, eine „blaue Flamme“; es geht um seine Trompetenlehrer, insbesondere einen gewissen Joseph „Gustat“, der in den 1920er und 1930er Jahren im St. Louis Symphony Orchestra wirkte, und den Davis selbst mit „Gustav“ Heim verwechselte, der im Jahrzehnt zuvor im selben Klangkörper spielte und der ein Trompetenmundstück entwickelt hatte, das Gustat Miles empfahl. Es geht um eine angebliche Wohngemeinschaft Charlie Parkers und Miles Davis‘ (nicht wahr: sie wohnten aber im selben Gebäude), um den Mädchennamen seiner ersten Frau Irene (und kurz darauf auch um den der ersten Frau John Coltranes), über seine Musikgeschichtslehrerin an der Juilliard School, die den Blues bei den armen Baumwollpflückern verortete, woraufhin Miles ihr entgegnete, er sei Sohn eines Zahnarztes, würde aber dennoch den Blues spielen. Yamaguchi diskutiert verschiedene Begründungen zu Miles‘ Heiserkeit, und er findet in den Archiven einen möglichen Urgroßvater des Trompeters. Er schreibt detailliert über Miles‘ und Coltranes Entwicklung der modalen Spielweise. Er diskutiert Stücke, die von Miles stammten, ihm aber ursprünglich nicht zugesprochen wurden („Donna Lee“), und andere, bei denen er als Komponist angegeben wurde, obwohl ihr Urheber tatsächlich anderen waren („Tune Up“, „Four“ von Eddie ‚Cleanhead‘ Vinson). Natürlich erwähnt er auch den bekanntesten Fall einer solchen Falschzuordnung: „Solar“, dessen Liedanfang auf Miles‘ Grabstein zu finden ist, das ursprünglich vom Gitarristen Chuck Wayne komponiert, vom Label Prestige aber 17 Jahre nach der ersten Aufnahme 1963 auf den Namen Miles Davis registriert wurde.
Auf Miles‘ gespaltenes Verhältnis zu Frauen wolle er lieber nicht weiter eingehen, schreibt Yamaguchi, tut dies dann aber doch. Er wechsele alle sechs/sieben Jahre die Freundin, gab Miles in Interviews an, erzählte später davon, er habe vier Jahre lang keinen Orgasmus mehr gehabt – was Troupe dann nicht ins Buch aufnahm, vielleicht, mutmaßt Yamaguchi, weil diese Geschichte nicht zur sexuell aggressiven Note passte, die er lieber vermitteln wollte. Yamaguchi diskutiert die Gerüchte, Miles habe AIDS gehabt („Ohne Zugang zu seinen medizinischen Unterlagen werden wir das wohl niemals herausfinden.“), beleuchtet seine Leidenschaft fürs Boxen, für teure Autos, für Pferde, fürs Kochen, und seine Beziehung zu Cicely Tyson. Und er analysiert Miles‘ Mode, z.B. anhand unveröffentlichter Fotos aus Ronald Reagans Weißem Haus.
Miles‘ Interesse an elektronischen Instrumenten belegt er mit Kopien von Keyboard-Bestellungen, die Teo Macero 1968 für Davis tätigte. Auch in diesem Kapitel springt Yamaguchi, diesmal erst zu Miles‘ Haltung über Ehe und Familie („interessiert mich nicht“), dann zur Beziehung zu seinen Kindern, kommt zurück zu den Keyboards, zitiert Keith Jarrett, leitet dann über zu Miles‘ Faszination mit Fats Navarro, schreibt über die Klangwirkung (insbesondere in Balladen) von Pianisten wie Red Garland und Ahmad Jamal, über den Verleger Charles Colin, der Miles einen Buchvertrag angeboten habe, um schließlich beim Album „Miles in the Sky“ anzulangen, bei George Benson und bei Miles‘ Begeisterung (neben Charlie Christian) für den Gitarristen Jimi Hendrix.
Es ist diese Sprunghaftigkeit, die die Lektüre so mühsam macht, und doch ist man an jeder Stelle fasziniert von den sorgfältig in Faksimiles der Zensusunterlagen, Korrespondenz, Interviewexzerpte dokumentierten Funde Yamaguchis. Masaya Yamaguchis „New Research on Miles Davis & His Circle“ ist, das dürfte aus dem Vorhergesagten deutlich geworden sein, eine Fleißarbeit. Der Autor weist künftigen Miles-Forschern den Weg in die Archive; er zeigt zugleich, wie vorsichtig man mit Ausgangsmaterialien umgehen muss, egal ob sie aus Interviews stammen, aus früher Veröffentlichtem oder gar aus staatlichen Sammlungen (wie der amerikanischen Copyright-Behörde). Auf beinahe jeder Seite möchte man Yamaguchi danken für seine beckmesserisch wirkenden Hinweise auf all die Fallstricke, die Jazzforschung mit sich bringen kann. Dann aber wünscht man sich doch auch zugleich, er hätte selbst mit einem kritischen Herausgeber zusammengearbeitet, der die vielen wichtigen Versatzstücke seines Buchs besser geordnet, auf eine zusammenhängendere Struktur des Textes, auf bessere Kapiteleinleitungen und regelmäßige Fazits gedrungen hätte. Als Fall- (besser Fallstrick-) Sammlung taugt das Buch auch so; und die Tatsache, dass es nur digital erhältlich ist erleichtert die Suche nach Details erheblich.
Wolfram Knauer (Januar 2020)
111 Gründe, Jazz zu lieben
von Ralf Dombrowski
Berlin 2019 (Schwarzkopf & Schwarzkopf)
264 Seiten, 14,99 Euro
ISBN: 978-3-86265-804-6
Warum ausgerechnet Jazz? Wer kennt sie nicht, diese Frage, die uns Jazzaffinen immer mal wieder von Außenseitern gestellt wird, ein wenig ungläubig, dass wir in den virtuosen Soli der Jazzgrößen so viel Spannendes zu entdecken scheinen, dass uns die Komplexität freier Improvisation nicht abschreckt, dass wir keine Texte benötigen, aber offenbar Instrumentalisten bereits nach einem Ton erkennen…
Meine persönliche Antwort ist: „Ich habe mich verliebt!“, weil genau das es für mich am besten fasst, was mich einst zum Jazz brachte und was mich immer noch an dieser Musik fasziniert. Doch geht es natürlich noch genauer, wenn man auf die unzähligen Besonderheiten dieses vielfältigen Musikgenres blickt. Der Journalist und Fotograf Ralf Dombrowski also beleuchtet die wahrscheinlichsten genauso wie abgelegene Begründungen für die Jazzliebe, und wie es bei Antworten auf die Frage nach dem eigenen Geschmack so ist, fällt die Wahl der Begründungen höchst persönlich aus.
Ihn begeistern, um seine Kapiteleinteilung zu benutzen, „Alte Zeiten“ genauso wie „Mythen und Helden“. Er findet die Improvisation genauso spannend wie die politische, philosophische und ästhetische Kraft dieser Musik. Für ihn sind Jazzmusiker Experten in „Theorie und Praxis“, daneben aber beflügelt der Jazz eben auch Literaten, Journalisten und „Schlaumeier“. Natürlich faszinieren ihn die Bilder, die der Jazz ermöglicht hat, ob von Fotografen, Plattencover-Gestaltern oder Filmemachern; daneben findet er es großartig, wie offen diese Musik die globale Gegenwart genauso wie die Querbezüge zu Rock, Pop oder Klassik darstellt. Ihn begeistert, dass John Coltrane eine eigene Kirche hat, und schließlich findet er, dass der Jazz immer die Zukunft erkundet.
Es sind Schnipsel der Reflexion, mal nachdenklich, mal witzig, mal staunenswert, mal altbekannt. Das Ergebnis ist eine Liebeserklärung, die zum Schmökern einlädt, wie Dombrowski im Vorwort selbst vorschlägt. Keine Jazzgeschichte also, sondern eine sehr persönliche Sicht auf Facetten, die mit Jazz zu tun haben und diese Musik liebenswert machen. Für uns sowieso, die wir uns schon vor langer Zeit in den Jazz verliebt haben. Aber vielleicht auch für andere, die zum Weiterhören, zum Nachdenken über die eigene Beziehung zu dieser (oder anderer kreativer Musik) eingeladen werden.
Wolfram Knauer (Januar 2020)
111 Jazz-Alben, die man gehört haben muss
von Roland Spiegel & Rainer Wittkamp
Köln 2019 (Emons Verlag)
240 Seiten, 16,95 Euro
ISBN: 978-3-7408-0574-6
Also gleich mal vorneweg: Und wo ist Earl Hines? Oder Mary Lou Williams? Warum keine Jutta Hipp? Wie kann man Derek Bailey vergessen? Jan Garbarek kommt nicht vor, echt? Ella sings Cole Porter…? wo ihr Album mit Ellis Larkins doch viel besser ist! Klaus Doldinger fehlt! Ein Michael Wollny-Album außerhalb seines Duos mit Heinz Sauer hätte aber schon dabei sein können!
So oder anders könnte die Reaktion auf das Buch des BR-Jazzredakteurs Roland Spiegel und des Schriftstellers Rainer Wittkamp aussehen, die in ihren Plattensammlungen wühlten und sich genau 111 Scheiben heraussuchten, nicht für die einsame Insel, sondern als Hörempfehlung für andere. Dass solch ein Sammelband höchst subjektiv bleiben muss, ist klar. Was er aber doch vermittelt, ist die stilistische Vielfalt, für die der Jazz bis heute steht. Von King Oliver jedenfalls bis Avishai Cohen reicht das Spektrum, das die beiden hier aufdecken und mit dem sie alle wichtigen Strömungen der Jazzgeschichte anreißen. Für jedes Album zwei Buchseiten: rechts Coverabbildung und diskographische Verweise, links ein allgemeiner Text, der ganz knapp die Künstler vorstellt, ihre Bedeutung für die Musik ihrer Zeit und dann auf einen oder zwei Höhepunkte der ausgewählten Platte eingeht. Das alles in einem lockeren Ton, der aufs Hören neugierig macht; jedoch: der Jazzkenner kennt all dies wahrscheinlich bereits – für ihn oder sie wären wahrscheinlich ein Folgeband interessanter: „111 Jazz-Alben, von denen kaum jemand je gehört hat“.
Für jeden Jazzfreund aber, der das große Fachwissen noch nicht besitzt und Inspiration zum Weiterhören, zum Kaufen und Sammeln braucht, bietet sich dieses Buch geradezu an: Mit dem Kauf einer jeden LP / CD, die Spiegel und Wittkamp hier vorstellen, kann man aber auch gar nichts falsch machen.
Oh, und zumindest ein Album war auch für diesen Vielhörer eine Neuheit: Camille Bertauld nämlich hatte ich bislang nicht auf dem Schirm.
Wolfram Knauer (Januar 2020)
Das Wollny Alphabet. Michael Wollny im Gespräch
herausgegeben von Rainer Placke
Bad Oeynhausen 2019 (jazzprezzo)
136 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978-3-9819538-1-7
Der zweite Band in Rainer Plackes neuer Buchreihe heißt „Das Wollny Alphabet“. Das Procedere gleicht dem ersten Band über den Posaunisten Nils Landgren: Placke bringt 26 Karten mit, auf denen für jeden Buchstaben des Alphabets fünf Begriffe stehen, und bittet den Pianisten Michael Wollny zu mindestens zwei davon etwas zu sagen. Wollny durfte Stichworte streichen, eigene hinzufügen, ansonsten freie Hand. Das Spiel der Assoziationen ist also wie eine Art gelenkte Improvisation mit jeweils – dem Umfang des Ganzen geschuldet – kurzen Reflexionen, die dem Leser ganz unterschiedliche Facetten im Denken des Pianisten vermitteln.
Da erzählt er über das Touren als eine Reihe an Abschieden, über die Angst (nicht das Lampenfieber), die beispielsweise in Filmmusik gesteuert werden kann, über den Anschlag und das Kennenlernen eines jeden neuen Instruments, auf dem er spielt. Er erzählt von seinem Lehrer Chris Beier, über seine Faszination mit Björk, seine Erfahrungen im Bundesjazzorchester, über Phil Collins, das Cembalo und die Notwendigkeit Chaos aushalten zu können.
Er erinnert sich an eine Begebenheit mit Christopher Dell und erklärt, warum er Dreiklänge liebt, erzählt, wie das Trio [em] entstanden ist, betont die Bedeutung von Fehlern und verrät, dass er seinen Studenten und sich selbst gern Fingerübungen von Clare Fischer verordnet. Sein zweites Instrument sei die Geige gewesen sei und für die Musik von Hindemith habe er sich seit dem Studium interessiert. Unter dem Buchstaben „I“ finden sich Reflexionen über Improvisation und die Wechselwirkung zwischen Inspiration und Individualität.
Er erinnert sich an seine ersten Begegnungen mit der Musik von Keith Jarrett und Joachim Kühn, und missversteht das Stichwort Kraftwerk nicht als die Band, sondern als die Energie, die er aus seinem eigenen Instrument holen kann. Er erzählt, was ihm zu Siggi Loch und seinem Label ACT führte, erklärt seine aktuelle Faszination mit György Ligeti und war höchst erstaunt, als bei der Wohnungssuche in Leipzig in den Grundrissen vieler Altbauwohnungen ein Musikzimmer mit Flügel eingezeichnet war.
Er erzählt, was ihn an der Musik Messiaens berührt, nennt Noten die Buchstaben oder Wörter der Musiksprache und versucht nicht über seine eigene Originalität nachzudenken. Neben der Musik ist Wollny ein großer Filmfreak (was beispielsweise unter den Stichworten Cinematographie, Horror, David Lynch und anderen zu erfahren ist), interessiert sich aber auch für Philosophie und Punk.
Will Quadflieg und Walter Quintus stehen fürs „Q“, dann folgen erwartbare Stichworte wie Risiko oder Romantik. Natürlich hat Wollny einiges über Heinz Sauer zu sagen, genauso aber auch zu Eric Schaefer, Esbjörn Svensson und Franz Schubert. Bezeichnenderweise will er sowohl über John Taylor sprechen, der ihm beibrachte, dass es ab und an notwendig sei einen Fehler zu machen, wie auch über Cecil Taylor, den er als „wahrscheinlich einen der größten Pianisten die je gelebt haben“ bezeichnet.
Beim Buchstaben „U“ gehts langsam aufs Ende zu, was man daran erkennt, dass er sowohl Unerwartet wir auch Urlaub überaus knapp abhakt, dann aber beim Stichwort Vater noch einmal aus sich herauskommt und erklärt, wie wichtig Vertrauen in seinem Beruf sei, künstlerisch genauso wie privat.
Es sei ganz gut gewesen in Würzburg und nicht in einer großen Metropole studiert zu haben, blickt Wollny zurück, erklärt, warum er eines seiner Projekte XXL Wunderkammer nannte, bekennt, dass er kein Yoga praktiziere und sinniert noch kurz über Ziele. Als Joker – also ein Stichwort, das auf keiner der Karten stand – wählt Wollny zum Schluss noch seinen Kollegen Nils Landgren, der als ein musikalisches Prinzip, wie Wollny das – „und das meine ich jetzt absolut positiv“ – feststellt die Vereinfachung der Dinge verfolge und dabei zum Miteinander-Musizieren motiviere.
All diese und viele weitere Gedankenschnipsel zu anderen Stichworten erlauben einen gerade nicht zusammenhängenden und vielleicht gerade deshalb besonders spannenden Blick auf Wollnys Verständnis von Musik und Leben, einen Einblick in seine nachdenkliche und hinterfragende Persönlichkeit. Joachim Kühn, den er seit Studientagen verehrte, Eric Schaefer, mit dem er seit so langer Zeit zusammenspielt, und sein Schüler Philipp Frischkorn erzählen in kurzen Einschüben über den Michael Wollny, den sie kennen, und geben Wollnys vielen Facetten damit noch weitere bei.
Wie das Vorgängerbuch versteht sich auch „Das Wollny-Alphabet“ nicht als Biographie des Pianisten. Anregungen zum Nachdenken über Inspirationen Wollnys bietet es allerdings genug und fürs Nachhören eine Diskographie seiner Aufnahmen zwischen 1999 und 2018. Nicht zuletzt müssen noch die Fotos von Oliver Krato erwähnt werden, die er während des Gesprächs machte und die viele der Dinge einfangen, die man auch zwischen den Zeilen liest: Wollnys Neugier, seine Wachheit, eine durchaus verspielte Grundhaltung, das intelligente und immer ein wenig spitzbübisch dreinblickende Hinterfragen. Eine empfehlenswerte Lektüre, die nicht erklärend, sondern quasi subkutan einiges über Michael Wollnys künstlerische Persönlichkeit verrät.
Wolfram Knauer (Juli 2019)
Das Bilderlexikon der deutschen Schellack-Schallplatten
herausgegeben von Rainer Lotz (mit Michael Gunrem und Stephan Puille)
Holste 2019 (Bear Family)
5 Bände, 512 Seiten, 512 Seiten, 464 Seiten, 416 Seiten, 384 Seiten, 398 Euro
ISBN: 978-3-89916-707-8
Fast 10 Kilo Gewicht, insgesamt 2.288 Seiten, das sind 17cm Regalfläche, 5 schwere Hardcover-gebundene Bände mit Lesebändchen, über 13.000 farbigen Abbildungen, vor allem aber allumfassendste Information über einen abgeschlossenen Teil deutscher Mediengeschichte. Im „Bilderlexikon der deutschen Schellack-Schallplatten“ hat Rainer Lotz zusammen mit seinen beiden Mitstreitern Michael Gunrem und Stephan Puille ein Kompendium vorgelegt, das bereits jetzt als Standardwerk gelten muss.
So sperrig der Name, so kurzweilig das Durchblättern. Es beginnt mit einer „Kurzgeschichte der deutschen phonographischen Industrie“, die von der Erfindung der Tonaufzeichnung im 19. Jahrhundert über die klassische Schellackära bis hin zu Barbie-Puppen oder dem Lachsack der 1980er Jahre reicht, in denen tatsächlich ebenfalls Schallplatten zu finden waren. Es folgen kurze Einordnungen der verschiedenen Umdrehungsgeschwindigkeiten, Rillenformate, des Rohmaterials, der Pressungen, der Lizenzmarken, Etiketten und der Schutzrechte.
Das war’s dann aber auch schon mit trockenen Erläuterungen. Ab jetzt geht es um Konkretes. Um „anonyme“ Platten beispielsweise, also solche, deren Label sie keinem spezifischen Hersteller zuordnen lassen. Um das Label der Aachener Bausparkasse, auf dem 1939 der „Tonbild-Vortrag“ „Dein Eigenheim“ erschien, oder das Label AAFA, auf dem 1933 Lieder aus dem Film „Die Sonne geht auf“ herausgebracht wurden. Wir lesen vom Label Abeidsbond voor vultuur der Komunistischen Partei der Niederlande, dessen Platten vom VEB Lied der Zeit in Ostberlin hergestellt wurden. Über das ACME-Label erfahren wir, das auf ihm zwischen 1923 und 1925 meist amerikanische Tanzmusik erschien. Die Firma war Tochter des in Berlin ansässigen Musik-Verlags Roehr, der seine Platten durch den eigenen Verlag vertrieb, bis die Firma von Hermann Eisner erworben und in Brandenburgische Sprechmaschinen A.G. umbenannt wurde.
Zu jedem Labeleintrag finden sich Hinweise auf Eigentümer und Hersteller, eine exakte Beschreibung der Labels und des Repertoires, die Datierung der Produktion, sowie eine kurze Firmengeschichte, darüber hinaus Abbildungen der verschiedenen Etiketten, Auszüge aus dem Handelsregister, Papierhüllen und vieles mehr. Der alphabetischen Erfassung gemäß stehen Labels, die in den 1920er Jahren aktiv waren, neben solchen, auf denen beispielsweise in den 1950er Jahren musikalische Werbung für Mallorcareisen erklang, und mit Hakenkreuz verzierten Aufnahmen aus der Nazizeit.
Für das DDR-Label Amiga weisen die Autoren auf die unterschiedlichen roten, violetten und blauen Etiketten hin, die zugleich eine bessere Datierung der Veröffentlichungen ermöglichen. Für Anker Records verzeichnen sie die akribisch verschiedenen Produktlinien und Eigentümer über die Jahrzehnte, bilden kurz darauf aber auch eine Bildpostkarte von 1930/31 ab, die ganzflächig mit einer durchsichtigen Tonfolie beschichtet war und für Zigarren warb. Zu den Exoten mag auch das Label Baidaphon zählen, dessen Platten bei Carl Lindström in Berlin hergestellt und dann in den Libanon und den Nahen Osten exportiert wurden.
Es gibt das Label „Bayreuth“, das Aufnahmen der Festspiele von 1936 veröffentlichte sowie das Label „Bayreuther Festspiele 1951“ mit Aufnahmen aus ebenjenem Jahr. Es gibt die Großen , etwa zahlreiche Versionen des Labels Beka, das auch für den asiatischen Markt produzierte. Der Artikel über „E. Berliner’s Gramophone“ enthält einen Rückblick auf die Tätigkeit eines der Erfinders der kommerziellen Tonaufzeichnung und dann Hinweise auf Aufnahmen aus den 1890er Jahren. Von Berliner stammen u.a. Gedenkplatten etwa zum 200jährigen Jubiläum des Königreichs Preussen (1901), in dessen Mitte Kaiser Wilhelm II. zu sehen war und in das daher kein Spindelloch gebohrt wurde. Zum Abspielen wurden eigens angefertigte Unterlagen aus Metall mitgeliefert. Dasselbe gilt für Gedenkplatten etwa zum Tod von Queen Victoria oder zur Hochzeit von Königin Wilhelmina aus demselben Jahr, zur Krönung Eduard VII von 1902 oder zum Tod von Papst Leo XII aus dem Jahr 1903.
Es sind solche aus heutiger Sicht skurrilen Informationen, die anhand eines so abgegrenzten Bereichs wie der Schellackplatte Kulturgeschichte erzählen, in der nüchternen Präsentation fast noch direkter als wenn man die Tondokumente hören würde. Bierwerbung, die Abbildung eines Art-Déco-Saxophontrios, nüchterne Information neben dem Firmenlogo der Meierei C. Bolle (die „ein besseres Jahr 1931“ wünscht), Platten des „Bund der Elsaß-Lothringer im Reich“ von 1936 oder der Bundesverkehrswacht von 1955 („Fahrdammgeflüster…“. Ihr Verkehrsteilnehmer alle auf der Straße: Die Bundesverkehrswacht spricht zu Euch in Wort und Ton“).
Das amerikanische Capitol-Label, das in Deutschland von der Telefunken gepresst und verkauft wurde, ein Label der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschiffahrts-Gesellschaft, das Mitte der 1930er Jahre Platten der Bordkapelle als Souvenirs vertrieb, Platten der Continental-Gummiwerke, der Firma Dalli Seife, der Deutschen Buch-Gemeinschaft.
Und neben den Schellackplatten, die der Buchtitel anspricht, werden auch Kunststoffmaterialien wie die Decelith-Platte gelistet, oder jene bereits erwähnten kleinformatigen Vinyl- oder Kunststoffplatten, die in den 1950er Jahren in Puppen Verwendung fanden.
Das alles sind Beispiele einzig aus dem ersten von fünf Bänden. Lotz und seine Mitstreiter bieten dabei keine stilistische Auswahl, keine qualitative Wertung. Opernrepertoire neben Tanzmusik neben Wortbeiträgen neben Werbung. Fakten neben Fakten neben Fakten. Man möchte sagen: Rainer Lotz eben, denn der Sammler und Kenner der deutschen Tanz- und Populärmusik ist genau dafür bekannt: dass er sein unbegrenzt scheinendes Wissen gern teilt, dass er seine über Jahrzehnte gesammelten Erfahrungen allen Interessierten genauso zur Verfügung stellt: als Wissensmaterial mehr denn als Interpretation. Genau diese Nüchternheit der Präsentation macht auch den Wert dieses Projekts aus: ein grandioses Panoptikum deutscher Geschichte von Kaiserreich über Weimarer Republik, Nazidiktatur bis hin zum Wirtschaftswunder-West- und Deutschen Demokratischen Ostdeutschland. Ein Lexikon zum Blättern, zum Staunen, zum dauernden Nachdenken darüber, wie sich Geschichte im Medium der Tonaufzeichnung und ihrer Präsentation spiegelt. Sicher kein ganz preiswertes Werk, aber eins, in das man auch als Nicht-Sammler gern schaut.
Wolfram Knauer (Januar 2020)
The Musical World of Paul Winter
von Bob Gluck
Albany/NY 2019 (Intelligent Arts)
95 Seiten, 7,76 US-Dollar (Kindle-Edition)
ISBN: 978-1-7322305-1-4
Bob Gluck ist Pianist und Autor zweier Bücher über Herbie Hancocks Mwandishi Band und Miles Davis‘ „lost quartets“. Jetzt hat er ein weiteres vorgelegt, das mit vielen O-Tönen beteiligter Musiker und Kollegen das Leben des Saxophonisten Paul Winter dokumentiert.
Gluck beschreibt Winters Weg zum Jazz in den späten 1950er Jahren, als er Miles mit Coltrane, Horace Silver, Gerry Mulligan, Stan Getz und andere in Chicago hörte. Bereits im College stellte er sein erstes Sextett zusammen, das über eine namhafte Rhythmusgruppe verfügte: den Pianisten Warren Bernhardt, Sun Ras ehemaligen Bassisten Richard Evans sowie den Schlagzeuger Harold Jones, der bereits mit Count Basie und Sarah Vaughan gespielt hatte und mit denen die Band Arrangements etwa aus der Feder Jimmy Heaths spielte. Bei einem Wettbewerb erhielt die Band 1961 den ersten Preis, einen Plattenvertrag bei Columbia Records. Gluck hält fest, wie der Saxophonist mit einer glücklichen Naivität, Immer noch im College, aber mit namhaften Sidemen, im Sommer 1961 eine Tournee fürs State Departments durch Lateinamerika an Land zieht, wie er an Präsident John F. Kennedy schreibt und prompt eine Einladung erhält, im Weißen Haus zu spielen, wie er schließlich nach einer Brasilien-Reise einen Sound entwickelte, der sanfter war als der Jazz, den er bis dahin gekannt hatte.
Winter, der 1963 vor allem Sopransaxophon spielte, ab und an aber weiterhin das Altsaxophon, ritt eine Weile auf der Bossa-Nova-Welle mit, und gründete 1968 sein erstes Consort, eine Bandbezeichnung, die er von den elisabethanischen Consorts aus Shakespeares Zeiten nahm. Saxophon, Cello, Kontrabass, Englisch Horn, Flöte und Perkussion gaben der Band eine klar von anderen Projekten der Zeit unterscheidbare Klangfarbe; die Musik selbst blieb bei aller Virtuosität sanglich. Zu den Musikern des Consort gehörten bald Ralph Towner, Glen Moore und Collin Walcott, noch bevor diese mit Oregon ihre eigene Band gründen sollten, außerdem der Bassist Dave Darling. Mit ihnen allen spricht Gluck, vor allem aber lässt er Winter selbst den Prozess erklären, den er als „spontane Komposition“ beschreibt, und bei dem es ihm mehr darauf ankam, den persönlichen Ausdruck eines jeden Mitmusikers zu unterstützen, als sie alle auf eine stilistische Linie zu bringen.
Winter beschäftigte sich mehr und mehr mit Alltags- und Naturklängen und begann etwa um 1977 den Töne der Wale in der Baja California zu lauschen. Er organisierte Workshops, für die ausdrücklich „keine musikalische Erfahrung“ nötig war und die in spirituellen Zentren entlang der Pazifikküste abgehalten wurden, einmal sogar auf Jane Fondas Farm. Er setzte sich für Umweltbelange ein, was sich bis in die Titel seiner Stücke hinein verfolgen lässt. Neben den Walen hatten es Winters besonders die wilden Wölfe angetan. Ein kollektives menschliches „Howl’elujah“ wurde so zu einem regelmäßigen Programmpunkt der Consort-Konzerte, bei dem es Winter nicht so sehr um die Erfahrung des Gesangs an sich als vielmehr die gleichzeitige Erfahrung des Singens und Hörens ging. In den 1980er Jahren wandte sich Winter aber auch anderen spirituellen Welten zu, trat etwa mit „Winter Solstice“, zu der neben der Musik auch eine Lichtperformance gehörte, insbesondere in Kirchenräumen auf.
Bob Glucks Biographie begleitet Paul Winter mit viel Wohlwollen durch seine Lebensgeschichte und erklärt Beweggründe für seine ästhetischen, musikalischen und spirituellen Erfahrungen vor allem das Zitieren von Interviewpassagen. Eine Kontextualisierung, etwa zu den allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Zeit, ein kritisches Hinterfragen der spirituellen Diskursen, innerhalb derer Winters Musik in den 1960er Jahren sich in Kalifornien entwickelte, finden sich genauso wenig wie eine Beschreibung oder gar Einordnung der musikalischen Zeugnisse selbst, der Aufnahmen aus immerhin fast 60 Jahren. Und so liest sich das Buch etwas zu dankbar, scheint mit etwas zu wenig Distanz verfasst und bleibt dabei ein wenig hinter den Erwartungen zurück. Ein Ausgangspunkt für weiterführende Fragen über die Musik und ihren Kontext immerhin findet sich überall auf diesen Seiten.
Wolfram Knauer (Oktober 2019)
Gebannte Freiheit? Die Curricula von praxisorientierten Jazz- und Popmusik-Studiengängen in Deutschland
von Nico Thom
Hamburg 2019 (Verlag Dr. Kovac)
145 Seiten, 76,80 Euro
ISBN: 978-3-339-10896-8
Der Musikwissenschaftler Nico Thom ist seit 2012 im Netzwerk der Musikhochschulen für Qualitätsmanagement und Lehrentwicklung tätig und hat aus dieser Arbeit sowie aus zwei Masterarbeiten über Lehrpläne von künstlerischen und künstlerisch-pädagogischen Studiengängen zu Jazz und Popmusik eine empirische Studie vorgelegt. Darin analysiert er 49 künstlerische sowie 24 künstlerisch-pädagogische Studiengänge nach ihrem Angebot, dem Bewusstsein der Ersteller für die Bedarfe der Studierenden und bietet Empfehlungen für eine Weiterentwicklung der betreffenden Curricula an.
Er fragt, was an deutschen Hochschulen gegenwärtig in Sachen Jazz und Pop vermittelt wird, wie diese Vermittlung gestaltet ist, diskutiert good practice-Beispiele und gibt schließlich Handlungsempfehlungen. Konkret betrachtet er – jeweils im Bachelor- und Master-Bereich – die Vermittlung von praktischen bzw. künstlerischen, von musikpädagogischen, von musikwissenschaftlichen bzw. theoretischen Inhalten, von Ansätzen an Professionalisierung, Berufspraxis und Berufskunde, von musikwirtschaftlichen, musikrechtlichen, musikmedizinischen, musikmedialen sowie musikpolitischen Inhalten. Seine Handlungsempfehlungen gelten zum einen der Lehrplangestaltung und orientieren sich dabei an generellen Curricula-Diskussionen, hinterfragen zum zweiten, inwieweit inhaltliche Schwerpunktsetzungen in diesem Bereich Sinn machen, die dann vielleicht dazu führen, dass das Fach nicht in der ganzen Breite vermittelt wird, dafür aber in den ausgewählten Bereichen eine größere Lehrtiefe erlauben. Insbesondere verweist er auf die Möglichkeit, einen Masterstudiengang nicht einzig als künstlerisches Exzellenzangebot zu betrachten, sondern auch andere Spezialisierungen ins Auge zu fassen, die beispielsweise darauf abzielen, Studierende zu Produzenten, Studiobetreibern, Festivalorganisatoren, Agenturbetreibern, Musiktherapeuten, Musikjournalisten oder Instrumentallehrern zu machen.
Jazzstudiengänge haben über die Jahre ihre eigenen Lehrpläne und Inhalte entwickelt, oft genug unabhängig voneinander. Die Bologna-Reform zwang die Hochschulen ihre Studiengänge zu modularisieren und dabei eine (arbeitsmarktrelevante) Vergleichbarkeit der Studiengänge zu schaffen. Nico Thoms Studie nun erlaubt den Vergleich verschiedener Ansätze dieser Entwicklung, nicht mit dem Ziel, sie zu vereinheitlichen, sondern sowohl ihre jeweiligen Stärken als auch ihre Mängel aufzuzeigen. Sie bietet damit eine Grundlage etwa dafür, wenn Fachvertreter/innen künftig einmal über eine mögliche Koordination der Angebote von Jazzstudiengängen nachdenken sollten.
Wolfram Knauer (September 2019)
Jazz & Blues Encyclopedia. New & Expanded Edition
herausgegeben von Howard Mandel
London 2/2019 (Flame Tree Publishing)
384 Seiten, 20 Pfund
ISBN: 978-1-78755-279-1
Man mag sich fragen, ob es überhaupt noch Sinn macht, in Zeiten von Wikipedia und anderen Online-Resourcen ein Jazzlexikon herauszubringen, das in knapp gefasster Form den Musikern, den Stilen und der ästhetischen Einordnung der Musik gerecht werden will. In der neuen Ausgabe der „Jazz & Blues Encyclopedia“ hat der renommierte Journalist Howard Mandel die Aufgabe übernommen, das alles zu koordinieren, von Kid Ory für „The Early Years“ bis Miguel Zénon for „The Twenty-First Century“. Mandel hat sich dabei für eine Zehnjahresgliederung entschieden, beginnt jedes Jahrzehnt mit einer allgemeinen Übersicht, behandelt dann vier bis sechs wichtige Künstler etwas ausführlicher, bevor kurze biographische Artikel nur noch Grunddaten liefern: Geburts- und gegebenenfalls Todesjahr, Einflüsse, wichtige Karrierestation, höchstens ein Satz zur stilistischen Einordnung. In diesen Teilen reicht es selten zu mehr als einem kurzen Absatz, in dem im besten Fall die Neugier geweckt wird, meist allerdings nur rudimentäre Fakten festgehalten sind.
Die Auswahl der Einträge hat einen klaren Schwerpunkt auf den USA. Europäische Musikerinnen oder Musiker werden höchstens dort erwähnt, wo die Autoren einen Einfluss über ihren Wirkungsbereich (sprich: über Europa) hinaus erahnen. Und doch: Enrico Rava, ja, Tomasz Stanko, nein, Volker Kriegel, aber nicht Albert Mangelsdorff…? So wenig einen die Auswahl wirklich stören sollte (dafür bleiben die Informationen ja eh zu knapp), so irritiert war zumindest dieser Leser von ihr.
Weit mehr an Information bieten sowohl die Jahrzehntekapitel, in denen auf insgesamt 135 Seiten (inklusive der ausführlicheren Würdigungen der „key artists“) ästhetische Entwicklungen nachgezeichnet und in den künstlerischen genauso wie gesellschaftlichen Kontext eingeordnet werden, als auch die Stil-Kapitel, die auf noch einmal 48 Seiten erst für den Jazz, dann für den Blues die stilistischen Charakteristika beschreiben und dabei schon mal auf die eine oder andere Aufnahme oder Platte verweisen.
Eine Grundsatzentscheidung war, das Buch sowohl für Jazz wie auch Blues anzulegen, und beide Genres im lexikalischen Teil gemischt zu belassen. Das macht Sinn, sind doch die Übergänge und gegenseitigen Einflüsse fließend, dafür fehlt dann eben der Platz für ausführlichere Einträge. Nun gibt es zur Vertiefung des Wissens ja Wikipedia, womit wir wieder beim Beginn dieser Rezension sind und der Frage nach dem Sinn eines Lexikons in Zeiten des Internet.
Eine Antwort könnte sein, dass die Einträge dieses Buchs höchstens Teaser sein sollen, zur knappsten Information über einzelne Künstler. Den Herausgebern ist offenbar selbst bewusst, wie viele Künstlerinnen und Künstler sie nicht nennen, und so ergänzen sie das alles um eine 62-seitige Auflistung bedeutender Musiker/innen, die dann nur noch Name, Instrument, stilistische Einordnung, Wirkungszeit und Stilistik listet. Das sind dann nicht mehr als zwei Zeilen je Eintrag, nicht befriedigender als die auf dem Schutzumschlag beworbene Auflistung „klassischer Aufnahmen jeder Ära und aller wichtigen Künstler“, die gerade mal aus einem kleinen Kästchen besteht, in dem sich außer den Titeln keinerlei Diskussion der Aufnahmen findet. Ob man solche Beigaben wie auch die bereits beschriebene 2-Zeilen-pro-Künstler-Auflistung, ein knappstes Glossar sowie eine nur nach Autoren sortierten Bibliographie dann noch als „extensive reference section“ bewerben muss, wie auf dem Buchumschlag zu lesen, bleibt fraglich.
Zur schnellsten Information taugt diese „Jazz & Blues Encyclopedia“ sicher, und die Übersichts- und Kontextkapitel sind – anders ist das bei den beteiligten 15 Autoren und der einen Autorin auch nicht zu erwarten – gut geschrieben. Aber ob man wirklich zu diesem Buch greift im Zeitalter des Internet, oder nicht eher auf Online-Ressourcen, die im Idealfall sogar den Link zur erklingenden Musik mitliefern, muss sich der Verlag schon fragen lassen. Eine Frage übrigens, die Howard Mandel selbst in seiner Einleitung erstaunlicherweise nicht stellt.
Wolfram Knauer (September 2019)
Auf der Suche nach dem Ungehörten. Improvisation und Interpretation in der musikalischen Praxis der Gegenwart
herausgegeben von Anke Steinbeck
Köln 2019 (Verlag Dohr)
216 Seiten, 24,80 Euro
ISBN: 978-3-86846-142-8
Nach „Fantasieren nach Beethoven“ (2017) legt Anke Steinbeck jetzt ein zweites Buch vor, das in Reflexionen und Interviews dem Geheimnis der musikalischen Improvisation auf die Spur kommen will. Improvisation, merkt sie im Vorwort an, gehörte ja bis vor rund 150 Jahren wie selbstverständlich zur europäischen Musikgeschichte, sei allerdings in der klassischen Musik heute vor allem noch im Spiel freier Kadenzen oder in Improvisation fordernden Beispielen aus dem Bereich der Neuen Musik vorhanden. Tatsächlich aber hat natürlich selbst die Interpretation eines festen Notentextes improvisatorischen Gehalt und ist Improvisation schon lange nicht mehr Alleinstellungsmerkmal des Jazz. Also ist der Jazz zwar Ausgangspunkt all ihrer Betrachtungen, beschränkt sich Steinbeck allerdings bei ihren Gesprächspartnern keineswegs auf Jazzmusiker oder -musikerinnen.
So stammt bereits das Vorwort vom klassischen Pianisten Rudolf Buchbinder, der über die Kunst der Kadenz berichtet und von seiner Überzeugung, dass jede Kadenz etwas „Eigenes“ des jeweiligen Interpreten bleiben sollte. Mit dem Sänger Andreas Schaerer unterhält sich Steinbeck über Improvisationsstrategien, Kommunikation mit dem Publikum und den Mut, den es braucht, um Freiheit zu wagen. Mit dem Hornisten Juri de Marco und der Sängerin und Oboistin Laura Totenhagen spricht sie über ihr Projekt Stegreif.orchester, über Werktreue bei der Interpretation klassischer Musik und darüber, wann Tradition zum Problem werden kann. Die klassische Geigerin Anne-Sophie Mutter bewundert am Jazz „den Herzschlag, dieses agogische Umgehen mit der Zeit, spricht außerdem über falsche Töne und die Intimität des Raums.
In einem Exkurs geht der Pianist und Komponist Sebastian Sternal der Basis der Jazzimprovisation auf den Grund, fragt, wie sie funktioniert, was ein Lead Sheet ist, auf welches musikalische Material man sich bezieht und welche Rolle die Kommunikation spielt. Selbst Sternal, der gewiss zu den großen Improvisatoren des deutschen Jazz gehört, hört nach Konzerten immer wieder die Frage „Sagen Sie mal: Haben Sie eigentlich heute Abend auch improvisiert?“ Mit dem Pianisten Michel Wollny unterhält sich Anke Steinbeck über die Balance zwischen Vertrautem und Unbekanntem in der Musik, über die Bedeutung von Effizienz im künstlerischen Handeln und über den Einfluss der Improvisation auf seine Kompositionen. Die klassische Organistin Iveta Apkalna spricht über den Groove einer Fuge von Johann Sebastian Bach, über die Orgel der Elbphilharmonie und den Umgang mit Nachhall. Franco Ambrosetti vergleicht den Klassik- und den Jazz-Betrieb, spricht über Friedrich Gulda und die Erlernbarkeit von Fantasie und Kreativität.
In einem zweiten Exkurs beleuchtet der Musikwissenschaftler Julian Caskel die Möglichkeiten und Freiheiten der (klassischen) Interpretation. Die Saxophonistin Angelika Niescier versteht den Jazz als forschende Musik, spricht über ihr musikalisches Vokabular sowie über den fragwürdigen Begriff der Virtuosität. Der Geiger Gregor Hübner betont, wie wichtig das klassische Repertoire ist, um sein Instrument technisch zu beherrschen, erklärt, dass in den USA seine Musik eher unter den Oberbegriff „contemporary music“ als unter den des Jazz falle, und wünscht sich eine Kompositionsresidenz (am besten in Venedig). Der Jazzschlagzeuger und klassische Pianist Frank Dupree sieht im Jazz die „Freiheit der Töne“, spricht außerdem über den Wechsel zwischen klassischem Repertoire und Jazzimprovisation sowie über das Problem der stilistischen Schublade, die nicht nur in seinem Fall selten passt.
In einem dritten Exkurs widmet sich der Philosoph Daniel Martin Feige der Gestaltung der Rhythmik sowie der „ästhetischen Zeitlichkeit“ im Jazz. Der Cellist Steven Walter denkt nicht in Begriffen wie Jazz und Klassik und berichtet über das genreübergreifende Festival Podium Esslingen. Der Trompeter Sebastian Studnitzky findet, man solle Musik am besten über die Stimmung definieren, die sie erzeugt, erläutert den Unterschied zwischen Spielen und Üben und kritisiert die immer noch erlebbare Spaltung der Jazzszene in scheinbar kommerzielle und nicht-kommerzielle Projekte. Der Intendant der Kölner Philharmonie Louwrens Langevoort erklärt, wie man ein Publikum an Neues heranführen kann und erläutert, warum Jazzkonzerte in einem so großen Saal nicht immer Sinn machen. Zum Abschluss des Buchs findet sich schließlich noch ein Gespräch mit der Neurowissenschaftlerin Daniela Sammler über eine Studie, in der sie die unterschiedlichen Prozesse im Gehirn bei Jazz- und Klassikpianisten untersuchte und mutmaßt, dass Beethoven, seiner Hirnaktivität nach, wahrscheinlich eher ein Jazzer war.
Anke Steinbecks Buch ist eine kurzweilige Lektüre. Ihre Gespräche mit Musiker/innen aus unterschiedlichen Bereichen sorgen für genügend verschiedene Perspektiven auf das Thema, und es ist allein schon interessant zu sehen, wohin die Gespräche, die jeweils mit der stereotypen Frage „Was ist Jazz für Sie?“ beginnen, führen. Ja, es ist eine spezifische Art improvisierter Musik, die in ihrem Buch behandelt wird und die klar an die Gesprächspartner gekoppelt ist. Ihr Buch ist allerdings erst das zweite in einer Reihe, so dass man auf eine Fortsetzung gespannt sein darf. Insgesamt erfahren wir aus dem gemeinsamen Nachdenken der Beteiligten über Improvisation zwar einiges über die Geheimnisse hinter dieser Praxis, letzten Endes aber bleibt auch genügend unerklärt, weil Improvisation – in Jazz oder anderswo – eben immer eher das Ziel des Entdeckens neuen Terrains hat als die abschließende Erklärung.
Wolfram Knauer (Juli 2019)
Jazz Libre et la révolution québécoise. Musique-action, 1967-1975
von Eric Fillion
Saint-Joseph-du-Lac 2019 (M Éditeur)
200 Seiten, 19,95 Kanadische Dollar
ISBN: 978-2-924924-06-8
„In den Jahren um 1970“, beginnt Ekkehard Jost sein Buch Europas Jazz, 1960-80, „innerhalb einer relativ kurzen Phase des historischen Prozesses, fand Europas Jazz zu sich selbst.“ Ähnlich könnte auch Eric Fillion sein Buch beginnen, das ein spezielles Kapitel freier Musik in Quebec in den Jahren 1967 bis 1975 behandelt. „1968“ gab es ja überall zumindest in der westlichen Welt: die mal friedlichen, zunehmend militanten Aktivitäten der Bürgerrechtsbewegung in den USA, die Studentenunruhen in ganz Europa, die Freiheitsbestrebungen in den offeneren Staaten des damaligen Ostblocks, all das schien sich in den utopistischen Klängen des Free Jazz jener Jahre zu spiegeln. Eric Fillion, seines Zeichens Historiker und Musiker, widmet jetzt eine Studio genau diesen Verbindungen zwischen Jazz und Politik in Kanada am Beispiel der Gruppe Jazz Libre, die sich selbst im Quebec jener Jahre innerhalb der Autonomiebewegung verortete. Anhand der politisch-musikalischen Aktionen ihrer Mitglieder verdeutlicht er die verschiedenen Ausprägungen der Autonomiediskussionen in jenen Jahren zwischen der sogenannten „Stillen Revolution“ und den militanteren Aktivitäten der Front de Libération du Québec.
1967 gründete sich das New Canadian Free Jazz Quartet, das in der Besetzung mit Trompete (Yves Charbonneau), Saxophon (Jean Prefontaine), Kontrabass (Maurice Richard) und Schlagzeug (Jean G. Poirer, später Guy Thouin) genauso wie in der musikalischen Herangehensweise deutlich an Ornette Colemans swingende Auffassung des Free Jazz erinnert. In seinem ersten Kapitel beschreibt Fillion die Entstehungsgeschichte dieser Band. Der Free Jazz wurde damals oft genug als eine politische, wenn nicht gar revolutionäre Musik wahrgenommen. Die Musiker des bald als Jazz Libre auftretenden Ensembles jedenfalls waren von den gesellschaftspolitischen Bezügen fasziniert, die der Theoretiker Patrick Straram für den Jazz formulierte, den er als „Kollektive Kunst und Kunst des Individuums“ beschrieb und dabei immer auch als eine Art von Provokation begriff. 1968 taten sich die Künstler des Quartetts mit dem populären Sänger Robert Charlebois zusammen, um das improvisatorische Theaterprojekt „L’Osstidcho“ auf die Bühne zu bringen. 1969 nannte Charlebois die Band entsprechend seiner Rock-Happenings in Rock Libre um; separat von ihm trat sie aber auch unter dem alten Namen weiterhin auf.
1970 gründeten die vier Musiker die „Künstlerkolonie Val-David“, eine dreimonatige Kunstaktion, bei der Jugendlichen die Möglichkeit gegeben werden sollte sich mit aktuellen Formen der Kunst auseinanderzusetzen sowie avancierte Rock- und Jazzkonzerte zu hören. Zugleich entwickelten sie nach dem finanziellen Fiasko von Woodstock die Idee für ein „anti-kapitalistisches Popfestival“. Vor allem aber ermutigten ihre musikalischen Erfahrungen und ihre Überzeugung, dass die sinnvolle Verbindung von Gruppe und Individuum sich durchaus auch auf die Gesellschaft übertragen ließen, sie zur Gründung von „P’tit Québec libre“. Dabei handelte es sich um eine linke ländlichen Kommune, die alternative Formen des Zusammenlebens ausprobieren und eine neue aktivistisch motivierte politische Kultur vorleben wollte. Ihre politischen Vorstellungen schlossen an bereits existierende Bestrebungen für die Unabhängigkeit Québecs an, für die sie sich mit gleichgesinnten alternativen Gruppen und linken Aktionsbündnissen aus der Region vernetzten. Der Zuspruch von außen, auch die Besucherzahlen bei öffentlichen Veranstaltungen, war überschaubar, doch störte das Charbonneau und Préfontaine nicht in ihrer Überzeugung, dass ihre Form von musikalisch-politischer Praxis ein Mittel gegen die aktuellen Entwicklungen in Politik und Kultur waren.
Jazz Libre definierte ihre Musik als die „wahre Musik des Volkes“ und versuchte bis in den Lebensalltag hinein ihre Vorstellungen einer besseren Gesellschaft vorzuleben. Die Utopie einer Kunst, die gesellschaftliches Zusammenleben vordenken kann, ist weder neu noch gänzlich irrational. Meist kommen den Künstlern dann die Pflichten des Alltags dazwischen, also der Zwang mit seiner Musik Geld verdienen zu müssen. Tatsächlich aber sind kompromisslose Entscheidungen, wie sie Eric Fillion am Beispiel von Jazz Libre vorführt, immer auch politische Aktionen mit Einfluss: In Quebec griffen sie, wie Fillion im abschließenden Kapitel seines Buchs darstellt, in den Diskurs über Politik und Kultur und damit das Verständnis davon ein, was Kunst leisten könne. Der Free Jazz jener Jahre, erkannte man später, war ja keineswegs eine Musik des Volkes. Auch durch die Aktivitäten von Jazz Libre jedenfalls, meint Fillion, habe man gelernt, dass musikalische Improvisation aktive politische Arbeit ist, die Dialog, Vertrauen, Zusammenarbeit, freies Denken, Eigeninitiative, die Fähigkeit zur Selbstkritik, Risikobewusstsein und einen kreativen Geist voraussetzt. Inwieweit solche Qualitäten mit ähnlichen, aber gesellschaftsbezogenen, vergleichbar sind, ist eine Frage, der sich heute etwa das International Institute for Critical Studies in Improvisation widmet, ein Projekt, das vom kanadischen Wissenschaftsrat für Sozial- und Geisteswissenschaften gefördert wird und das dabei irgendwie die Fragen weiter stellt, die Jazz Libre in ihren Aktionen einst aufgeworfen hatte.
Eric Fillions Buch ist eine spannende Detailstudie über ein hierzulande eher unbekanntes Ensemble. Eine LP der Band ist auf YouTube zu hören (https://youtu.be/6pOTTg3n3Z8) und von „L’Osstidcho“ sind zwei Audiomitschnitte auf der Website der Bibliothèque et Archives nationales Québec veröffentlicht (http://www.banq.qc.ca/collections/collection_numerique/losstidcho/index.html). Man sollte in diese Aufnahmen hineinhorchen, um zu erahnen, von wo die jungen Musiker ihre künstlerischen und ästhetischen Anregungen erhielten, und um zu beurteilen, wie sie diese in gesellschaftliche Realität zu übersetzen versuchten. Auf die Musik übrigens geht Fillion leider kaum ein, aber sein Thema ist eben auch eher ein musik-gesellschaftshistorisches. Dem Rezensenten jedenfalls hat seine Darstellung eine gar nicht so kleine Perspektivverschiebung im Blick auf die Jazzrezeption in Kanada gebracht – und das ist ja fürwahr keine kleine Leistung.
Wolfram Knauer (Mai 2019)
Analysis of Jazz. A Comprehensive Approach
von Laurent Cugny
Jackson/MS 2019(University Press of Michigan)
384 Seiten, 35 US-Dollar
ISBN: 978-1-4968-2189-8
Knapp vorneweg: Dies ist sicher nicht das am leichtesten lesbare Buch über den Jazz. Laurent Cugny, Jazzfreunden bekannt als Pianist, der u.a. mit Gil Evans zusammengearbeitet hat. Zugleich ist er Musikwissenschaftler; seine vorliegendes Buch basiert auf seiner Dissertation zum selben Thema von 2001 und einem Buch in französischer Sprache von 2009. Da diese Veröffentlichung eine Übersetzung des 2009 bei Outre Mesure erschienenen Buchs ist, verweisen wir auf unsere Rezension vom Februar 2010, die auch für die englische Fassung gilt:
Laurent Cugny ist Pianist, Arrangeur und Musikwissenschaftler und hat mit seinem Buch “Analyser le Jazz” ein Werk vorgelegt, in dem er versucht, die musikwissenschaftliche Herangehensweise an den Jazz zu strukturieren. Was ist überhaupt Jazz, fragt er zu Beginn, wie ist er zu definieren und wie kann man seine verschiedenen Komponenten analysieren. Wie lassen sich die Wandlungen der Jazzgeschichte analytisch beschreiben, welche Begriffe sind angemessen, welche müssen einer spezifischen Definition unterworfen werden? Wie geht man mit analytischen Begriffen um, die bereits von der konventionellen Musikwissenschaft belegt sind, etwa Komposition, Improvisation, Form, Struktur etc. In welcher Beziehung steht die Oralität der Überlieferung in afro-amerikanischer Musik zur Schriftlichkeit einer jeden analytischen Herangehensweise?
Cugnys Ziel ist es eine Art Fahrplan zur analytischen Herangehensweise an Jazz zu geben. Weder die Methoden der klassischen Musikwissenschaft noch die der Musikethnologie, meint er, seien dem Jazz als einer improvisierten Musik wirklich angemessen. Um Jazz zu analysieren, reiche es nicht aus, bloß auf musikalische Strukturen oder motivische Beziehungen zu schauen; man müsse daneben jede Menge weiterer expressiver Techniken berücksichtigen.
In einem ersten Großkapitel untersucht Cugny das Jazz-Œuvre, wie man also Musik als “Text” behandeln kann, wie sich komponierte Strukturen, die Bedeutung von Improvisation und analytische Strukturen beschreiben lassen. Er unterscheidet zwischen der Analyse vorausbestimmter Faktoren (“moment avant”), etwa der Herkunft und Geschichte der zugrunde liegenden Komposition und ihrer formalen und harmonischen Struktur, sowie der Analyse progressiver Faktoren (“moment après”), unter denen er die Entwicklung einer Interpretation und/oder Improvisation versteht. In einem zweiten Großkapitel betrachtet Cugny dann die verschiedenen Parameter, die sich analysieren lassen: Harmonik, Rhythmik, Melodik, Form und Sound. Im dritten Teil schließlich beschäftigt sich Cugny mit der Geschichte der Jazzanalyse. Er unterscheidet rein harmonische, melodische, rhythmische oder formale Analysen, Analysen, die sich auf einzelne Soli beschränken, vergleichende Analysen und so weiter, und gibt dem Leser einen Leitfaden an die Hand, wie er unterschiedliche analytischen Werkzeuge für seine eigenen Zwecke verwenden kann. Er beschreibt die Möglichkeiten und Probleme der Transkription für die musikalische Analyse und gibt Beispiele für stilistische, semiotische und beschreibende Analysen.
Cugnys Buch ist keine leichte Lektüre, sondern eher eine trockene Studie, für die wenigsten Leser in einem Stück zu konsumieren. Man kann darüber streiten, ob eine Strukturierung analytischer Ansätze, wie er sie anbietet, überhaupt sinnvoll ist oder ob es nicht viel mehr Sinn macht, auf die zu analysierende Musik von Fall zu Fall zu reagieren und dabei auf diejenigen konkreten Dinge Bezug zu nehmen, die die Fragestellung hergibt, mit der man an das jeweilige Stück Musik herangeht. Hier scheint Cugnys Methodik eher ein Leitfaden für angehende Jazzanalytiker zu sein, der diese aber schnell auf die falsche Fährte bringen kann, wenn sie vor lauter Analyse nämlich die Notwendigkeit der Fragestellung außer Acht lassen.
Im Vergleich zur französischen Originalfassung des Buchs verweist Cugny in der englischen Fassung auf erheblich mehr an Literatur , lässt aber auch hier gerade jene Ansätze so gut wie außer Acht, die mit konkreten Fragestellungen an die Musik herangehen. Immer noch fehlt eine Diskussion der unterschiedlichen Möglichkeiten klassischer musikwissenschaftlicher und musikethnologischer Werkzeuge, gewiss auch eine Darstellung der Diskussionen, die aus der afro-amerikanischen Literaturwissenschaft einen geänderten Blick auf den Jazz entwickelten. Schließlich bekommt man schnell den Eindruck, als zöge Cugny die musikimmanente Analyse auf jeden Fall einer der Einbeziehung außermusikalischer Komponenten in die Diskussion vor – was mir auch im Jahre 2019 eine eher erstaunliche Sicht der Dinge scheint.
Wolfram Knauer (Mai 2019; Rezension der Originalfassung: Februar 2010)
So wie ich. Autobiografie
von Uschi Brüning
Berlin 2019 (Ullstein)
272 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-3-550-05020-6
Eine Karriere zwischen Schlager und Free Jazz: Kaum eine Sängerin hat ein so breites stilistisches Spektrum vorzuweisen wie Uschi Brüning. Den einen ist sie für ihre langjährige Zusammenarbeit mit dem Saxophonisten und ihrem Ehemann Ernst-Ludwig Petrowsky bekannt, den anderen für populäre Hits wie „Dein Name“. In den letzten Jahren seiner Karriere stand sie oft mit dem Schauspieler und Sänger Manfred Krug auf der Bühne, ist daneben bei Free-Jazz-Events wie in Peitz genauso zuhause wie in Fernsehshows, in denen sie vor allem als Schlager- und Rockstar gefeiert wird.
Jetzt hat Uschi Brüning ihre Autobiographie vorgelegt, eine sehr persönliche Erinnerung an ein Leben und eine Karriere zwischen DDR, Selbstzweifeln, Erfolgen, Wiedervereinigung, Vertrauen ins eigene Können, Bewunderung von Kollegen, Reglementierungen und Optimismus selbst in schwersten Zeiten. Es ist die Geschichte eines keineswegs geradlinigen Weges, auf dem sie immer wieder von ihrer Begeisterung für die Musik angetrieben wurde, die ihr so viel Freude bereitete, dass sie dafür ihren bürgerlichen Beruf aufgab und sich auf das Risiko einer Künstlerexistenz einließ.
Uschi Brüning kam 1947 als zweites Kind einer schnell auseinanderbrechenden Familie in Leipzig zur Welt. Als ihre alleinerziehende Mutter sie im Alter von fünf Jahren für zwei Jahre in ein katholisches Kinderheim gab, merkte sie, dass ihre einzige Freude in all dem Unglück, das sie dort verspürte, das Singen war. Sie liebte Musik, sie hörte Schlagersendungen im Radio, und sie schrieb sich selbst die ihr damals noch unverständlichen englischen Texte phonetisch ab, um sie möglichst authentisch nachsingen zu können. Sie sang in einer lokal recht erfolgreichen Amateurband, machte aber zugleich eine Ausbildung zur Gerichtssekretärin. Irgendwann hörte sie der Trompeter Klaus Lenz, einer wichtigsten Bandleadern der 1960er Jahre in der DDR, der sie zum Vorsingen einlud. In der Folge gab sie ihre Karriere bei Gericht auf, zog nach Berlin und wurde Teil der ostdeutschen Jazzszene. Sie sang Soul- und Jazzstandards, orientierte sich an Ella Fitzgerald und Aretha Franklin, behauptete sich in der männerdominierten Welt des Jazz, erhielt den in der DDR obligatorischen Berufsausweis und wurde sogar vom Schriftsteller Ulrich Plenzdorf in seinem Roman „Die neuen Leiden des jungen W.“ gefeiert. Anfang der 1970er Jahre stand sie zum ersten Mal mit Manfred Krug auf der Bühne, vor allem aber lernte sie Luten Petrowsky kennen, der ihren musikalischen Horizont erweiterte und den sie Anfang der 1980er Jahre heiratete.
Parallel zu ihren Jazz- und Solexperimenten begann sie mit deutschsprachigen Schlagern ein größeres Publikum zu erreichen. In ihrem Buch erzählt Brüning vom Auf und Ab des Musikerlebens, das nicht nur durch künstlerische Erfolge und Krisen geprägt ist, sondern genauso vom Argwohn des Systems vor den Bühnenkünstlern, deren Ansagen und Einfluss auf das Publikum es unter Kontrolle zu halten galt. Sie arbeitete mit dem Komponisten und Arrangeur Günther Fischer zusammen, mit dem sie 1972 auch ihre erste Westtournee nach Skandinavien unternahm, war parallel zu all diesen Aktivitäten aber auch der Jazzszene, etwa dem legendären Festival in Peitz eng verbunden. Immer stärker kommen in ihrer Erinnerung auch die Zweifel zum Vorschein, den sie als freie Künstlerin in einem unfreien Land empfand. Brüning recherchierte im Stasi-Archiv und zitiert immer wieder aus Berichten inoffizieller Mitarbeiter (von denen sie einige identifizieren kann), teilweise irritiert von den Interpretationen ihrer Handlungen durch die Stasi, teilweise – und mit viel Ironie – dankbar dafür, dass diese Berichte ihre Erinnerungen aufzufrischen vermögen.
Neben ihrer eigenen Geschichte erzählt Uschi Brüning dabei aber auch von den Ereignissen in der DDR, die insbesondere die Künstlerszene verunsicherten. Insbesondere Wolf Biermanns Ausbürgerung im November 1976 führte erst zu Protesten, dann bei immer mehr Kolleginnen und Kollegen zur Überlegung das Land zu verlassen. Sie selbst, schreibt sie, habe das nie wirklich in Betracht gezogen. Sie habe ihre Mutter nicht allein zurücklassen wollen, erklärt sie, daneben aber habe die DDR auf ihr Selbstbewusstsein abgefärbt und Zweifel daran genährt, ob sie in der Konkurrenz des Westens bestehen könne.
Nach 1978 gehörte erhielt Brüning den Status „Reisekader“, der es ihr erlaubte, mit ihrem Reisepass auch ins westliche Ausland zu fahren. Zusammen mit Luten Petrowsky besuchte sie Konzerte in Westberlin, kam zum ersten Mal nach Paris, bereiste Indien. Dann fiel die Mauer, und alle mussten sich neu aufstellen. Petrowsky und seine Kollegen vom Zentralquartett hatten da noch den Vorteil, dass ihr Ruf weit über die DDR ausgestrahlt hatte. Uschi Brüning begann neben dem Duett mit ihrem Mann wieder öfter mit Manfred Krug zu singen, der neben seinem Erfolg als Schauspieler seine Gesangskarriere wieder aufgenommen hatte. Ihr Weg war nicht einfach, und zwischen den Zeilen erkennt man schon mal auch den Frust darüber, dass Uschi Brüning als Sängerin aus dem Osten im Westen weit weniger bekannt war. Neben solchen Momenten aber überwiegt der Optimismus in ihren Erinnerungen, selbst in den wehmütigen Passagen, in denen sie realisieren muss, das Luten, der sie immer so beflügelt hatte, heute nicht mehr auftreten kann.
„So wie ich“ ist eine ungemein persönliche Lebenserinnerung geworden, ein Blick hinter die Kulissen des gerade im Westen doch eher fremden DDR-Musikgeschäfts, ein sehr offener Blick aber auch auf Verletzlichkeit und Selbstzweifel einer großartigen Künstlerin. Dass solche Selbstzweifel zugleich aus einer enormen Kraft kommen, ist nicht zuletzt in ihrer doppelten Karriere zu erkennen, in der sie das Risiko der freien Improvisation genauso verfolgt wie die emotionale Kraft eines ehrlichen Chansons, die Intensität von Soul und Jazz genauso wie den populären Erfolg des Schlagers. Niemandem sonst gelang dieser Brückenschlag so grandios wie Uschi Brüning, und ihr Buch erklärt zumindest ein bisschen, wie sie ihn bewerkstelligen konnte.
Wolfram Knauer (März 2019)