William H. Engelleitner hatte den II. Weltkrieg als Teenager in Deutschland erlebt. Etwa 1955 wanderte er in die USA aus, arbeitete in Nordkalifornien für eine deutsche Firma beim Bau eines Spanplattenwerks mit und ließ sich schließlich in Pittsburgh, Pennsylvania, nieder. Dort arbeitete er in verschiedenen Firmen, die sich auf die Pelletierung von Eisenerz oder die Agglomeration von Brennstoffen, Mineralien und Chemikalien spezialisiert hatten. 1969 heiratete er Marilyn Cribbs, die er bei einer Konferenz in San Diego kennengelernt hatte und mit der er schließlich zwei Kinder und drei Enkel haben sollte.
Seine deutsche Heimat hatte Engelleitner aber nie vergessen. Zum einen brachte ihn sein Beruf immer wieder zu Tagungen, Vorträgen und Konferenzen nach Europa. Zum anderen hatte er Freunde hier, unter ihnen Erwin ‚Hot Lips‘ Hippler und seine Frau Margot ‚Blueskick‘ Hippler, genannt Margie. Letztere stand eines Tages, es muss so um 2009 gewesen sein, vor der Tür des Jazzinstituts. Sie wohnte nicht so weit vom Jazzinstitut entfernt und war ab und an bei Freiluftkonzerten auf dem schönen Jagdhof gewesen. Nun brachte sie ein Album vorbei, das Schätze enthielt, die ihre Bill Engelleitner über die Jahre zugeschickt hatte.
Der dünne Ordner ist außen mit einer Karte beklebt, ein Mann mit Brille, unter dem einen Arm eine Trompete, unter dem anderen eine Schallplatte. Auf dem Bild sieht das alles gezeichnet aus, tatsächlich hat, wer immer diese Karte bastelte, einen Knopf als Schallplatte unter den Arm des Mannes geklemmt. Es folgt eine maschine-geschriebene Auflistung der „Autogramme von Jazzmusikern, gesammelt von William H. Engelleitner, 1955 ausgewandert nach U.S.A., Stand vom Januar 1985“.
Allein die Zahl der Autogramme fasziniert: 197 Musikerinnen und Musiker, einige mehrfach um eine Unterschrift gebeten. Die Autogramme der Eddie Condon-Band finden sich auf einem offiziell gefertigten Bandfoto, für das Condons „Hausfotografin“, wie Engelleitner schreibt, die Unterschriften der anwesenden Musiker einholte. Ansonsten finden sich Unterschriften auf dem Papier, das zur Verfügung stand: Alvin Alcorn und Joseph Cornbread Thomas, Sweet Emma, Percy Humphrey und Willie Humphrey unterschrieben auf einem Notizzettel des Hilton Inn, Frank Assunto von den Dukes of Dixieland auf einem der Fluglinie TWA. Henry Red Allens Unterschrift findet sich auf der Rückseite einer Tischkarte aus dem New Yorker Club Jimmy Ryan’s, die Harfenistin Dorothy Ashby unterschrieb auf einem gelben Zettel mit direktem Gruß nach Darmstadt: „Lots of happiness to Erwin“.
Trompeter Shorty Baker unterschrieb auf einem Teil der Pittsburgh Press Tageszeitung, Chet Baker (1958) auf einem braunen Briefumschlag. Der australische Pianist Graeme Bell und der Trompeter Teddy Buckner hatten eigene Autogrammkarten, der Pianist Burt Bales benutzte eine Cocktailservierte mit dem Aufdruck „Jerome’s Cafe, San Francisco“. Ray Bauduc unterschrieb auf der Rückseite einer Postkarte des „Roundtable“ auf der New Yorker Eastside, Sam Donahue unterschreibt in Las Vegas auf der Rückseite eines Schecks aus Engelleitners Scheckbuch.
Bei einem London-Besuch ergattert Engelleitner die Unterschrift Acker Bilks (dies scheint zugleich das späteste Autogramm der Sammlung zu sein, es datiert von Ostern 1985). Paul Chambers und Jimmy Cobb unterschreiben bei einem Auftritt Miles Davis‘ wiederum auf der Rückseite eines Schecks. Wir lesen die Namen Cozy Cole und Al Cohn, finden auf einer Seite zwei Autogramme von Wilbur de Paris, und Barbara Dane grüßt Margot Hippler mit einem „To Margie – Blues lovers are everywhere“ – wiederum auf einer Cocktailservierte, diesmal aus Tsang’s Ricksha in San Francisco.
Art Hodes unterschrieb auf der Rückseite einer Programmkarte aus Chicago, Bert Dahlander auf dem Boarding-Pass der Northeast Airlines, Sidney de Paris auf der Hälfte einer Tischkarte aus dem New Yorker Metropole Cafe. Die einzige deutsche Karte stammt aus dem Frankfurter Storyville, in dem 1960 Armand Gordons Band signierte, unter ihnen der wahrscheinlich einzige Musiker der Sammlung, der noch lebt: Schlagzeuger Peter Giger.
Unter Erroll Garners Autogramm schreibt Engelleitner: „soll Erroll Garny heißen“, Coleman Hawkins und Buster Bailey unterzeichnen auf einem Zettel aus dem Hotel Commodore. Chubby Jackson unterzeichnet mit seinem gesamten Oktett, und Jackson ergänzt das alles mit einer Nachricht an die Hipplers. Illinois Jacquet signiert Engelleitners eigene Visitenkarte; Franz Jacksons Band eine Postkarte aus dem Chicagoer Sherman Hotel. Rolf Kühn, der in den 1950ern in New York lebte, grüßt „Fr. Margot“ auf einer Postkarte aus Berlin.
Gene Krupa signiert die Tischkarte des Eddie Condon’s Club, wo er im Dezember 1961 bei der Band von Max Kaminski einstieg, George Lewis und seine Band erwischte Engelleitner 1966 in der Preservation Hall in New Orleans. 1969 hörte er die Thad Jones / Mel Lewis Band im Village Vanguard (Autogramm vom Lewis), holt sich aber auch die Unterschrift vom Bluesmusiker Brownie McGhee. Gerry Mulligan, Jimmy McPartland, Phil Napoleon, unterschreiben auf Zetteln und Zeitungsausrissen, Kid Ory („to Erwin and Margie“) auf der Rückseite eines Telegramms.
Jimmy Rushing schickt „best wishes“ als „Jimmi Rushing“ (!), weitere Grüße stammen von Muggsy Spanier, Ralph Sutton, Charlie Shavers, Zutty Singleton und Hal Singer. In den Bohemian Caverns in Washington, DC, hört Engelleitner Horace Silver, Blue Mitchell und Junior Cook, holt daneben einen Gruß an „Erwin and Marhie“ von Jess Stacy. Jack Teagarden unterschreibt auf einem Zettel aus dem Cherry Hill Inn in New Jersey.
Bud Freeman unterhielt sich in der Pause eine Weile mit Engelleitner und verabschiedete sich mit „Auf Wiedersehen“, beim selben Konzert war dann auch noch Rex Stewart zugegen. Clark Terry zeichnet die Weinkarte des Half Note in New York, Sarah Vaughan („To Margie“) eine Karte aus dem Sherman Hotel in Chicago, und Joe Venuti schreibt: „Hope I see you in Heidelberg“. Ben Webster und nochmal „Jimmi“ Rushing sowie Teddy Wilson beschließen die Autogrammsammlung.
Margot Hipplers Autogrammsammlung ist eine der vielen rührenden Geschichten, die sich in unserem Archiv finden. Wir stellen uns vor, wie die Hipplers über Jahre die Brieffreundschaft zu Willie Engelleitner aufrecht erhielten und wie viel Freude es diesem offensichtlich machte, die Darmstädter Freunde immer wieder mit neuen Autogrammen zu überraschen. Die begleitenden und sicher eher persönlichen Briefe sind übrigens nicht bei uns gelandet, aber der Blick in das Album nimmt uns auf sehr lebendige Weise mit in die amerikanische Mainstream-Jazzszene der späten 1950er und 1960er Jahre.
Wolfram Knauer (Juli 2023)