Destination Unknown:
The future of jazz (blog)

Random thoughts / zufällige Gedanken
zum 18. Darmstädter Jazzforum 2023


20. Juni 2023
(10) Diversity…

… war ja das Thema unseres letzten Darmstädter Jazzforums, aber natürlich spielt der Bereich der Diversität auch eine Rolle, wenn wir über die Zukunft dieser Musik reden. Wir stellen fest: Jazzmusiker:innen in Deutschland sind nach wie vor zu einem großen Prozentsatz männlich, überwiegend weiß („caucasian“ sagt man im Amerikanischen), stammen meist aus eher gebildeten Familien und haben in der Regel auch selbst studiert.

How, for example, did those responsible for the Deutscher Jazzpreis, which was criticized in the first few years for its lack of diversity on the advisory board, jury and among the prize winners (Musicians For), ask themselves, can all this be changed? Concepts have been around for a long time: affirmative action in the U.S., quota regulations over here.

Und ja, es hat sich einiges geändert in den letzten Jahren: Öffentliche Jurys haben in der Regel Geschlechterparität (wenn nicht, ist der Ärger – berechtigt! – vorprogrammiert). Es gibt namhafte Preise und Förderprogramme, die darauf achten abwechselnd Künstlerinnen und Künstler zu bedenken. Die Awareness gerade für die Präsenz von Musikerinnen im Jazz ist auch bei den Musikern selbst angelangt, die entweder aus strategischen Gründen Bands mit Musikerinnenanteil gründen („macht sich gut auf Anträgen“) oder aber (eigentlich immer öfter, und das ist der Fortschritt, den zumindest ich hier sehe) erkennen, dass Bands mit Musikerinnen und Musikern einen ganz anderen kreativen Weg einschlagen können, neue Räume aufmachen, zu einem anderen Aufeinander-Reagieren, Miteinander-Umgehen führen.

I tend, I must emphasize at this point, to be optimistic. I see this last development in numerous young ensembles (i.e. musicians in their 20s, early 30s), for whom gender balance is almost a matter of course, whereas just a few years ago one could argue about it with artists (and really both male and female musicians). So all is well? Not at all!

Der Jazz, behaupten wir gern – übrigens auch im Teaser für die letzten, also das 16. (Jazz and politics) und das 17. Darmstädter Jazzforum (Diversität im Jazz), – bildet idealerweise die Diskurse unserer Gesellschaft ab. Wo aber sind dann die Musiker:innen migrantischen Backgrounds? Wo findet sich die „letzte Generation“ auf der Jazzbühne wieder? Wo kämpfen Instrumentalist:innen für die Rechte marginalisierter Gruppen unserer Gesellschaft?

In any case, all these are topics that will occupy us during the 18th Darmstadt Jazzforum, for example when Evi Filippou talks about her work with elementary school students, when James Banner presents his class-work project, in which he has invited mainly colleagues from a working-class rather than an educational background, when Julia Kadel describes the reasons why the Queer Cheer initiative was started in 2022 (which, by the way, received the special prize of the jury of the German Jazz Award), when Christopher Dell understands improvisation as a model of social coexistence, when Sabina Akiko Ahrendt reports on the connection between music and political activism, when Mariana Bodarenko reflects on the role music plays in times of war.

We cannot foresee the future. We can prepare for it. We can create spaces, secure spaces, in which the future can be experienced. We can work towards ensuring that at some point, when we talk about diversity, it is no longer about quotas and blame, but about the creative power of diversity. In jazz, too. But not just in jazz. In every place we get involved. Awareness. Change in consciousness. Not in others. In ourselves. This is how the future works. (I think...)

Wolfram Knauer (20. Juni 2023)


1. Juni 2023
(9) Ohne Vergangenheit keine Zukunft

Es ist ja eine Binsenweisheit, dass das „Neue um des Neuen willen“ eigentlich ein alter Hut ist. Spätestens seit den 1970er Jahren geht das nicht mehr, diese Forderung, Jazz, Musik, Kunst ganz allgemein habe sich immer weiter zu entwickeln, immer neue Spielformen, Klänge, Approaches zu erfinden, dürfe sich auf keinen Fall wiederholen.

Tatsächlich hält sich diese Denkweise aber bis heute, zumindest bei uns in Deutschland, und sie ist wahrscheinlich auch dem Kulturdiskurs der Nachkriegszeit geschuldet, der in der Entwicklung ja immer die Hoffnung des Sich-Neu-Erfindens sah … verstehen Sie: sich neu erfinden in einer Gesellschaft, die an die zumindest jüngere Vergangenheit am liebsten gar nicht mehr denken wollte.

Die Amerikaner haben weniger Probleme mit dem Verweis auf Tradition, mit dem Nebeneinander-Stehenlassen von stilistischen Richtungen. Naja, stimmt nicht ganz, Wynton Marsalis führte, zumindest in New York (oder in Europa) durchaus zu Diskussionen, als er in den 1990er Jahren eine swing- und harmonie-bezogene Ästhetik des Jazz verteidigte und Fusion-Sounds oder improvisatorische Experimente aus der freieren Ecke als ganz interessant, „aber warum muss man das auch Jazz nennen“ bezeichnete und deshalb seinerseits von der Avantgardeszene des Big Apple (und darüber hinaus) angefeindet wurde. Von Mickymaus-Bands reden wir also gar nicht, wenn wir Tradition meinen, sondern erst einmal von kreativen Versuchen aus der Jazzgeschichte heraus eine eigene Stimme zu gewinnen. Marsalis ist das ja durchaus gelungen: sowohl als Trompeter wie auch als Komponist.

Wo finden wir das hierzulande? Ach ja, Till Brönner, auf jeden Fall, er hat ähnliche Anwürfe auszuhalten aus einer jungen sich als Experiment verstehenden Jazzszene; er ist ähnlich gesettled in seinem Erfolg. Er setzt sich andererseits seit Jahren für ein House of Jazz Berlin ein, auch wenn das nicht seine eigene Klangfarbe widergeben würde. Tills Musik ist … ich wollte schreiben massenkompatibel, aber stapeln wir mal nicht zu hoch, auf jeden Fall aber kompatibel mit vielen musikalisch offenen Menschen, die auch Jazz gern hören, zumindest wenn er melodisch ist, aber „wenn es zu wild wird, ist das nichts mehr für uns“.

Tatsächlich vertritt Brönner genauso den Diskurs um die Zukunft dieser Musik hierzulande wie die in ihrem musikalischen Ansatz sehr unterschiedlichen Künstler:innen, die etwa mit dem diesjährigen Deutschen Jazzpreis ausgezeichnet wurden, genauso wie aber auch die (inzwischen nicht mehr allzu zahlreichen) Trad-Bands, die sich der Musik der 1920er und 1930er Jahre oder Musiker, die sich dem swingenden Mainstream verschrieben haben, sofern sie denn einen eigenen Klang daraus generieren konnten. Letztere Szene ist in diesem Diskurs (also dem um die Zukunft des Jazz) übrigens kaum zu hören, wird, wenn sie erklingt, auch nicht sonderlich wahr- bzw. ernstgenommen, unter anderem, weil ihre Fürsprecher oft gerade nicht die Musiker:innen sind, sondern Fans, die eher ideologisch als musikalisch argumentieren. Wenn man genau hinhört, dann lassen sich durchaus Bands entdecken, denen eine eigene Positionierung auch innerhalb traditioneller Spielarten des Jazz gelungen ist, die Echoes of Swing etwa, sicher Musiker wie Trevor Richards oder Reimer von Essen, Martin Sasse, Thilo Wagner und andere.

Deren Musik macht enorm Spaß. Sie wirkt kein bisschen museal, weil sie im Hier und Jetzt erklingt und eine Energie erzeugt, die sich direkt mitteilt. Und doch wird sie, zumindest in der Jazzszene als rückwärtsgewandt wahrgenommen. Gegenbeispiele sind etwa Uwe Obergs Ellington-Projekt, der Lacy Pool, oder „Transformations and Further Passages“ des Clarinet Trio, ein Projekt, das sich Kompositionen deutscher Jazzmusiker:innen aus den 1950er und 1960er Jahren annimmt.

Was also ist die Zukunft des Jazz? Ganz bestimmt geht es bei ihr nicht nur um das „bislang Un-gehörte“. Es geht um das Bewusstsein, dass Musik Positionen markiert, musikalische, ästhetische, gesellschaftliche, und dass man sich als Musiker:in dieser Positionen klar sein sollte, im Konzert, in der Entscheidung fürs nächste Albumrepertoire, in der Ansprache an sein Publikum. Wenn überhaupt, ist Zukunft nämlich keine Zeit-, sondern eine Ortsbestimmung. Sie bezeichnet ein Ziel, auf das man zusteuert, auf das man aber nur zusteuern kann, wenn man weiß, wo man sich eigentlich befindet. Position beziehen aber lässt sich tatsächlich von jeder stilistischen Warte aus. Es gehört nur der Mut dazu, diese immer wieder neu zu beschreiben und sie in Beziehung zur aktuellen Wirklichkeit zu bringen.

(Wolfram Knauer, 1. Juni 2023)


9. Januar 2023
... left 2 3 4, right 2 3 4, or: Artificial Intelligence and Jazz

Mark Schieritz hat eine französische Website entdeckt, die rein durch „Künstliche Intelligenz“ alle möglichen Begriffe danach verortet, ob sie politisch „links“ oder „rechts“ stehen (https://linksoderrechts.delemazure.fr/). This leads to curious associations such as: rose = left; tulip = right; tomato = left; rye = right; two = left; three = right. As a test, Schieritz lets numerous everyday words pass through the AI filter and then considers (a) how the classification may have come about and (b) how he himself thinks about it. The French computer science student Theo Délemazure, who programmed the aforementioned website, uses the software GPT3 for this purpose, which processes the entered terms in a kind of blunt context search on the Internet.

Schieritz's article is highly amusing (Die Zeit, hinter der Bezahlschranke). Er hat Délemazures KI übrigens auch auf musikalische Begriffe befragt: Georg Friedrich Händel = rechts; Johann Sebastian Bach = links; C-Dur = rechts; D-Dur = links. (Schieritz: „D-Dur klingt nach Revolution, C-Dur nach Restauration. Fragen Sie nicht!“) Was mich neugierig machte. Den Jazz verorten wir ja immer schon Links (richtig!). Laut Délemazure hat er das gemeinsam mit Neuer Musik, mit Rock (aber nicht mit Rechtsrock), mit Barock. Klassik ist links, Klassische Musik dagegen rechts. Lydisch ist links, phrygisch rechts. Count Basie: links; Glenn Miller: rechts. Und dann gibt es auch genügend Widersprüche: Charlie Parker: links, aber Bebop: rechts. Selbst im Jazzinstitut Darmstadt stehen wir nicht alle auf derselben Seite, zumindest, wenn es nach der Erkenntnis der Künstlichen Intelligenz geht.

Aber vergnügen Sie sich selbst damit: Es macht großen Spaß, die Website „links oder rechts“ nach allen möglichen Begriffen, Namen, Kontexten zu befragen. Und tatsächlich kann man die Zukunft (sprich: die künftigen Ergebnisse) auch beeinflussen, kann also zurückspiegeln, wenn ein Ergebnis einem nicht richtig erscheint.

What does all this have to do with the future of jazz? Well, nothing... or a lot. In fact, quite a lot of research is being done on how artificial intelligence and music can be brought together. Computers are already suitable for analyzing and evaluating music (Jazzomat). Man könnte „neue Musik“ historischer Jazzgrößen generieren lassen, wie kein Geringerer als Kenny G kürzlich vormachte, als er Künstliche Intelligenz mit Samples von Stan Getz’s Saxophonton fütterte und sie dann eine neue Melodie „erfinden“ ließ (AI and Jazz). Or: George E. Lewis, trombonist, composer and musicologist, has for a long time been working on computer software allowing him or others to improvise along the computer (MIT lecture). Interaction, re-creation, analysis - the new technologies can therefore be used for all sorts of things.

But how can all of this be used in a musical practice that is so strongly characterized by individuality, authenticity, uniqueness as jazz? Or, to put it another way: Is this kind of individuality aesthetic, which has shaped jazz discourse right up to the present, something we will have to accept for all future? Couldn't we perhaps talk about it? The discussion that is going on everywhere about the hegemony of a European value aesthetic also concerns the ideas of what is actually good in music, what is considered progressive, how important progressiveness is for the development of an art form. Or whether the alternative model to individuality might be that of community, whether progress does not also include the rediscovery of supposedly old practices. Part of the future of every art form is that we constantly renegotiate the space we give it, how it participates in the social and cultural discourse, how it thereby constantly redefines itself, explores its different contexts, consolidates its position in the association of current arts, contributes its political weight, develops its creative power. In all art forms, and thus also in jazz!

Julia Hülsmann = left; Christopher Dell = right; Till Brönner = left; Angelika Niescier = right????

Ah, artificial intelligence, you still have a lot to learn!

Wolfram Knauer (9. Januar 2023)


3. Januar 2023
(7) Jazz ist die Mutter des HipHop

Unlängst stolperte ich über ein Video des Pianisten Robert Glasper, der 2019 in einem „Jazz-Night in America“-Video erklärte „why Jazz is the mother of HipHop“.  Robert Glasper über Jazz und HipHop

Wenn es nach mir geht, brauche ich diese Erklärung gar nicht. Hört man sich die Samples von DJs wie Africa Bambaataa der frühen HipHop-Ära an, ist für mich evident: Dem HipHop fließt Jazz-DNA in den Adern. Und es ist kein Blick über den Großen Teich oder in die Vergangenheit nötig, um die Verbindung zwischen HipHop und Jazz zu finden. Man braucht sich bloß junge Jazz-Schlagzeuger wie Silvan Strauss anzuhören.  Album „Facing“ von Silvan Strauss

Längst tue ich mich schwer damit, Jazz oder irgendeine andere Musikform als ein abgeschlossenes Genre anzusehen. Die Zuschreibung von unterschiedlicher Musik zu festgelegten Genre ist ein künstliches (kein künstlerisches) Konstrukt.

Die Eingrenzung und Legitimationsversuche des Jazz in Abgrenzung zur populären Musik machen mich regelmäßig stutzig und das Naserümpfen, wenn es um HipHop-Musik geht, wirft für mich einige Fragen auf. Ist es nicht leichter, Jazz und HipHop, sei es historisch oder musikalisch betrachtet, in den Zusammenhang zu stellen, als sie zu unterscheiden? Und wäre es nicht klüger, in der ständigen Debatte um den hohen Altersdurchschnitt bei Jazzfans von einer reaktionären Denke abzusehen?

Denn wirft man einen realistischen und gegenwartsbezogenen Blick auf das Ganze, stellt man fest, dass die jungen Leute Jazzstandards wegen der HipHop-Samples im Ohr haben und sich dessen gar nicht bewusst sind. Worüber sie sich aber bewusst sind, ist, dass MCs und DJs Zukunftsmusik spielen, sich immer wieder selbst überhöhen und gegenseitig steigern und damit das Innovative in der Szene befeuern, den jungen Leuten eine Zugewandtheit zur Zukunft vermitteln. Virtuos batteln sich Rapper:innen während der Cypher; Freestyle bedeutet Improvisation, bedeutet Innovation. Und das kennen wir doch irgendwoher.

Das alles kann man anerkennen, kann den Geist, der durch diese Musik weht, bündeln und das Potenzial, das in der Innovationsfähigkeit von Jazz und HipHop liegt, nutzen, um für das Große und Ganze eine vorteilhafte Zukunft zu gestalten.

Marie Härtling (3. Januar 2023)


20 December 2022
(6) Jazz: the most political of all art forms... really?

Wir machen’s ja auch, zählen auf, wofür der Jazz alles steht: Individualität, Freiheit, Offenheit, Toleranz, Diversität, Experiment, Fortschritt, Zukunft… Aber tun wir der Musik mit diesen Aufladungen wirklich etwas Gutes? Oder entstammen sie nicht tatsächlich unseren politischen Strategien, dem Jazz, also „unserer“ Musik, zu mehr Ansehen und Respekt zu verhelfen, zu mehr Spielräumen, zu mehr Förderung?

Tatsächlich ist Jazz für jede:n von uns ja ganz unterschiedlichste Dinge. Für mich ist Whitney Ballietts Definition des „sound of surprise“ immer noch eine der stimmigsten. Ja, im besten Fall überrascht mich Jazz – mehr als ich das von beinahe jeder anderen Kunstform erwarte… aber Stop! Da geht schon wieder der Jazzer in mir durch, der dem Jazz gleich noch ein „mehr“ an Fähigkeiten zuspricht als der zeitgenössischen Neuen Musik, als avancierten Formen populärer Musik, als der Avantgarde in Bildender Kunst, Tanz, Theater oder Literatur…

Und ähnlich ist es ja mit dem „Repertoire“, also mit den Rückbesinnungen auf die großen Aufnahmen der Jazzgeschichte. Tatsächlich fallen diese oft genug aus unserem Diskurs einer fortschritts-gerichteten Kunstform. Der „Mainstream“ – also der Jazz-Mainstream, was ein anderer Begriff ist als der „Mainstream“ an sich… wieder so ein Thema, wie nämlich Begriffe so oft etwas anderes meinen, wenn man sie in unterschiedlichen Kontexten nutzt… der Mainstream also taucht in der Förderung unserer Musik nicht auf. Er „forscht“ offenbar nicht genug, er verlässt sich aufs „Gefällige“: der Blick in den Rückspiegel kann doch nicht die Zukunft sein! Vom traditionellen Jazz mal ganz abgesehen. Schauen Sie nur auf die Gewinner des Deutschen Jazzpreises.

Ich will das gar nicht kritisieren. Ich glaube, dass es Musik gibt, die der Förderung eher bedarf als andere, und ich glaube, dass wir hierzulande durchaus ein ganz gutes System gefunden haben, „Räume“ für kreative Musik zu schaffen und zu sichern. ABER: Sollten wir uns nicht ehrlich machen, den Jazz als nur eine von zahlreichen Avantgarden identifizieren und vielleicht das wirklich Herausragende in den Vordergrund stellen: dass er nämlich eigentlich gar nicht so in unser europäisch geprägtes Avantgarde-Konzept passt, dass in ihm als einer afro-diasporischen Tradition andere Wertmaßstäbe möglich sind und gelebt werden, dass er uns im Idealfall immer auch mit unseren eigenen Missverständnissen gegenüber dieser Musik konfrontiert?

Admittedly: It's hard for me to do without the superlatives. After all, they work quite well in conversation with jazz lovers as much as with jazz newbies. And for me personally, jazz is about all of those things: individuality, freedom, openness, tolerance, diversity, experiment, progress, the future - more than any other form of music. But that has more to do with my own focus than with the music itself.

Perhaps we should just be aware of this from time to time, of the fact that many arguments in favor of jazz are due more to our love of the music than to an objective view of it. And to the fact that they also close our eyes to what a more unbiased view of jazz could contribute to the general cultural discourse.

Wolfram Knauer (20 December 2022)


31 October 2022
(5) just go ahead ... (women in jazz)

Zukunft ist ja immer auch Gegenwart und Vergangenheit, weil wir sie aus unserer Erfahrung des Erlebten heraus gestalten und weil wir jetzt anfangen müssen, Dinge zu verändern, die wir anders haben wollen. Das geht mir dieser Tage durch den Kopf, wo ich in deutschen und amerikanischen Zeitungen von Terri Lyne Carringtons Veröffentlichung „New Standards. 101 Lead Sheets by Women Composers“ lese (z.B. die tageszeitung). Das Thema „Women in Jazz“ ist ja kein Neues. Zugleich ist es eins, an dem sich die Veränderungen in unserer Szene fast schon beispielhaft nachverfolgen lässt. Bis mindestens in die 1970er Jahre hinein waren Jazzmusikerinnen / Instrumentalistinnen rar – zumindest schien dies so, weil die Presse vor allem über ihre männlichen Kollegen berichtete.

Immer mal wieder gab es Vorstöße in der Jazzpresse, dann in den 1980er Jahren erste Veröffentlichungen, die dokumentieren sollten, dass es da eine eklatante Lücke der Jazzgeschichte gab. Rosetta Reitz’s Plattenreihe „Women in Jazz“ (1980-1981), Sally Placksins Buch „Women in Jazz“ (1982), Linda Dahls „Stormy Weather. The Music and Lives of a Century of Jazzwomen“ (1984) veränderten das Narrativ. Sie dokumentierten, dass es über die gesamte Jazzgeschichte hinweg immer Musikerinnen gegeben hatte, Vokalistinnen genau wie Instrumentalistinnen. Sie veränderten also die Wahrnehmung von Geschichte, nicht so sehr aber die Gegenwart, die nach wie vor geprägt war von einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Musikerinnen in einer männlich geprägten Szene.

At first it was singular, then more and more events, workshops, concerts, festivals that focused on the presence of women in jazz. And there were increasing calls for gender-balanced panels, for programs where the quota of women musicians (or at least bandleaders) was at least as high as that of men. There was an awareness that a desirable future can only be achieved by making changes in the present. Parity within juries is now the norm rather than the exception; festivals or workshops that fail to ensure at least adequate representation of women artists face a well-deserved shitstorm. There is still work to be done in university professorships and in radio big bands, but basically the issue has arrived everywhere. It is an issue not only in jazz, but actually in the whole of society, so it can no longer be pushed aside so easily. At the Darmstadt Jazzforum, we, too, have placed a focus on the topic (e.g., 2015: Gender and Identity in Jazz; 2021: Roots | Heimat: Diversity in Jazz), and yet we, too, must allow ourselves to be reproached for not always having designed our program in an exemplary manner: The lack of gender balance is not only prevalent in jazz, but also in jazz research and jazz journalism.

Jetzt also Terri Lyne Carringtons „New Standards“: ein mindestens doppeldeutiger Titel ihres Buchs, das einerseits nach einem anderen Repertoire sucht, das Musikerinnen sichtbarer (hörbarer) macht, das aber andererseits auch neue Standards im Jazzalltag verlangt – und zwar nicht nur verlangt, sondern dafür gleich das nötige Material zur Verfügung stellt. Damit aber verändert Carrington eben nicht nur die Gegenwart, ihr Buch – genauso wie ihre Arbeit am von ihr 2018 gegründeten Berklee Institute of Jazz and Gender Justice – ist auf die Zukunft des Jazz gerichtet.

The future, it should be noted, never consists of hope alone; it needs activists in the present. However, this is not exactly new to us; after all we are experiencing this everywhere around us at the moment. Thus, when we talk about the future, we must always look at the discourses of the present, not so much in a critically questioning way than with as encouragement. The more opinions are expressed and involved in the discussion, the more people identify with the topic, the better a future can be negotiated in which everyone feels involved.

(Wolfram Knauer, 31 October 2022)


6 Octber 2022
... "infinite vastness"* ...

Theo Croker hat vor kurzem ein Original aufgenommen mit dem Titel „Jazz Is Dead“. Pirmin Bossart überschreibt seinen Artikel im Herbstheft des Schweizer Magazins Jazz ’n‘ More „Jazz ist tot – aber die kreative Musik lebt“ und zitiert Croker, der Genres für veraltet hält und findet, dass das, was einige HipHopper heute machen „mehr Jazz ist als das, was Jazzmusiker machen“.

Da sind wir dann also bei der Frage, die den Jazz schon seit Jahrzehnten begleitet und die in den letzten Jahren – unter veränderten Vorzeichen – wieder laut geworden ist: Behindert das Label „Jazz“ nicht eher die Wahrnehmung  der Musik als eine kreative, die Gegenwart widerspiegelnde Kunst? Trägt das Label nicht viel zu viel Ballast mit sich herum und wäre uns nicht allen geholfen, wenn wir endlich darauf verzichten würden, Musik in Genres einzuteilen?

Meine eigene Meinung: Ich finde „Jazz“ einen Klasse-Begriff, aber auch, weil ich ihn so lange kenne und weil er nun mal für die Musik steht, der ich mich emotional so stark verbunden fühle. Ich finde, dass es Labels braucht, um über etwas zu sprechen – hätte ich keine Genrelabels, müsste ich jedes Mal neu definieren, von was ich gerade rede (natürlich, das kann auch schön sein, ist aber ziemlich mühselig…). Das Problem sind – meiner Meinung nach – nicht die Labels, sondern die Tendenz vieler Rezipientinnen und Rezipienten, diese Labels absolut zu setzen, die Schubladenbeschriftung also mit der Sache selbst zu verwechseln. Das Problem ist immer noch, dass „Jazz“ als ein klar umschreibbares Genre verstanden wird statt als eine musikalische Praxis. Das Problem wurde durch die Tonträgerindustrie noch befördert, die sehr bewusst labelte – „file under jazz / rock / country“ etc. –, um ihre Produkte gezielt an potentielle Käufer:innen vermarkten zu können.

Eigentlich aber ist es egal, wie man es benennt, solange man sich der Offenheit dieser Musik bewusst bleibt. Persönlich habe ich nie ganz verstanden, dass ausgerechnet in der – meiner Meinung nach – offensten Musik, dem Jazz, so starre ästhetische Diskussionen über die Zulässigkeit von stilistischen Entwicklungen möglich waren, wo doch diese Musik – nochmals: meiner Auffassung nach – gerade von In- statt Exklusivität lebt. So verstehe ich dann auch den Satz von Theo Croker. Wenn man „Jazz“ als eine musikalische Praxis erkennt, lässt er sich in allen möglichen musikalischen Projekten ausmachen. Kritiker warnen, das führe zur Beliebigkeit, tatsächlich aber fordert ein solches Verständnis halt einfach zum offeneren und zugleich genaueren Zuhören auf. Und warum sollte man sich nicht ab und zu darüber streiten, ob eine Aufnahme, ob ein Konzert, ob eine musikalische Haltung für einen persönlich noch die Kriterien dessen erfüllt, was „Jazz“ ist?

Insofar as art is creative, it changes continuously, and with it the aesthetic criteria. All of us who are somehow involved with this music, whether professionally or not, have to deal with this change. Whether we accept it or not, who cares! Creativity makes demands not only on the creators themselves, but also on their recipients. That's why art, especially music, is a mirror of society. Particularly in art, experiments often challenge us to question ourselves, because they distruct the thought patterns in which we have actually made ourselves quite comfortable.

Also, zurück zum Darmstädter Jazzforum. Das haben wir mit einem Sun Ra-Zitat überschrieben:  Destination unknown: Die Zukunft des Jazz. Die Ungewissheit des Ziels, sie ist uns ja allen irgendwie bekannt: Wir wissen in der Regel, woher wir kommen, wir wissen, in welchen Strukturen wir leben. Aber wie wir die Zukunft gestalten, wie diese Zukunft unser eigenes Leben und Denken beeinflussen wird, das wissen wir eben nicht. Das Unbekannte, das Unbestimmte ist allerdings nicht nur furchteinflößend, es beschreibt zugleich die Hoffnung auf eine „bessere“, „gerechtere“ Welt.

Development, at any rate, is actually always a step ... forward.

*"Space: infinite vastness" [Der Weltraum: unendliche Weiten] would be the introduction to the TV series "Star Track" in its dubbed German version where the original has: "Space: The final frontier".

(Wolfram Knauer, 6 October 2022)


4 October 2022
(3) If you have visions...

Ich hab’s ja schon zweimal angekündigt. Heute also „Visionen“. Und, nein, man muss nicht zum Arzt gehen, wenn man Visionen hat, wie Helmut Schmidt das einst so schön geraten hat. Es reicht, die Visionen regelmäßig mit der Wirklichkeit abzugleichen, sich also bewusst zu bleiben, dass die Vision eventuell ein Fernziel ist, auf das man hinarbeiten kann, das sich dabei allerdings einerseits selbst immer wieder verändert, das andererseits aber schon allein im Denken die eigene Wirklichkeitswahrnehmung und in der Arbeit am Weg oder im Sprechen über ihn auch tatsächlich die Realität beeinflusst.

What, then, are visions? In our context, we could speculate about the musical vision, the idea, for example, of creating a constellation of sounds that is unheard of, at least for oneself, or the idea of an intercultural improvisation in which all participating artists follow the conventions to which improvisation is subject in their respective cultures. A vision could be limited only to one's own instrument, to technical details, to the mastery of it, or to mechanical changes that simplify intended musical processes. Wouldn't it be great, could be another vision to work towards, if our society was completely represented in the field of jazz and improvised music, in all its diversity?

Visions are really just that, the idea of an ideal goal. However, they usually have very practical effects, often already on one's own very current actions. The moment I have something in mind that seems desirable to me, I will already check my current actions to see whether they help or hinder the way to get there. And thus, every vision influences my actions. At the same time, my actions influence the vision as well. The vision has the advantage of blocking out reality. When working on its realization one then recognizes what is really possible, better perhaps: what seems possible to oneself, and automatically one adapts one's own vision. With each step, the vision becomes more of a goal, more of a compromise between vision and reality. So that's the third concept here: Vision - Reality - Compromise. But the compromise is not a slimmed down vision, it is what is feasible in reality (for oneself).

Jazz, Jazz Jazz…. Für mich war der Jazz immer eine visionäre Musik. Über die einzelnen Visionen der Musiker kann ich nur spekulieren; selbst wenn sie drüber gesprochen haben, sind „ausgeprochene“ Visionen ja etwas anderes als die Idee an sich. Für mich hatte Duke Ellington die Vision, dass Musik die Realität der afro-amerikanischen Erfahrung fassen und damit das Verständnis für die Missstände in der US-amerikanischen Gesellschaft verstärken könne. Für mich hatte Charlie Parker die Vision einer musikalischen Sprache, bei der das Zusammenkommen melodischer, harmonischer, rhythmischer Aspekte mit dem Moment der Komplexität, das insbesondere durch die technische Beherrschung seines Instruments mit hineinkam, neue klangliche Welten hervorbringen konnte. Miles Davis und seine Vision des Klangs – seiner Trompete genauso wie seiner Band und seiner Produktionen. Peter Brötzmann und die / eine Vision des freien Zusammenspiels. Die Vision national oder regional verbundener Klänge (Garbarek, Stanko). Die Vision einer nicht zuordbaren Folklore (Louis Sclavis, Erika Stucky, ARFI). Die Vision des Jazz als eines Beispiels für Demokratie (Willis Conover oder das US-amerikanische State Department der 1950er und 1960er Jahre) oder als Beispiel für eine gerechte Gesellschaft (John Lewis, Billy Taylor, Gunter Hampel). Die Vision von Geschlechtergerechtigkeit – auch im Jazz (Terri Lyne Carrington). Die Vision des Jazz als politische und gesellschaftliche Positionierung (Abbey Lincoln, Charles Mingus, Archie Shepp, Sebastian Gramss). Man muss die Visionen nicht kennen, die den Musikern vorschwebten, um ihre Musik genießen zu können, aber wenn man um sie weiß, gibt das den Aufnahmen und Konzerten noch zusätzliche Informationen.

The examples show: Sometimes it is really about visions, sometimes the musicians - who, I hope you are aware, are only mentioned as examples - have already set out on the path, sometimes you can follow the comparison of vision with reality almost simultaneously. What they all have in common and what the 18th Darmstadt Jazzforum will also be about is: Jazz is a music that is directed towards the future. Musicians want to create something new together with others. They want to generate new sounds, new constellations, new experiences, and ones that reflect their respective present, that - like perhaps every kind of avant-garde - contribute something to the current cultural discourse. But in order to have the freedom to develop artistic visions at all, structures are needed that at least promote them. Such structures can be artists' collectives as well as educational institutions, funding programs as well as state institutions. Visions without the possibility to realize them remain - mostly - visions.

So what is needed to encourage musicians, organizers, journalists, music curators to tackle their visions? We hope to be able to discuss concrete proposals, especially in the panels of the Darmstadt Jazzforum, not about what we don't like in the present, but about how we imagine a better future.

(Wolfram Knauer, 4 October 2022)


28 September 2022
Soothsaying

Ted Gioia hat sich unsere 18. Darmstädter Jazzforum heute zum Thema seines Blogeintrags gemacht – naja, nicht wirklich, aber sein Beitrag über „20 Predictions for the Music Business in 10 Years“ (The Honest Broker) lässt einen zumindest darüber nachdenken, was sich überhaupt über die Zukunft aussagen lässt. Gioia sagt augenzwinkernd voraus, dass die Musik der Zukunft wieder stärker auf das Musikalische fokussiert sein wird, zumindest will uns das Marketing so etwas weismachen wollen. Physische Tonträger werden keine Rolle mehr für die Karriere von Künstler:innen spielen. Diese entwickeln Strategien, beim Vermarkten ihrer Musik im Internet immerhin 80-90 Prozent der Einnahmen für sich behalten zu können. Der größte Hit auf den Billboard-Charts wird von Künstlicher Intelligenz erzeugt worden sein. Die einzelnen Tracks eines neuen Albums (von großen Stars) werden vor Veröffentlichung als NFTs versteigert. Gestreamte Musik wird mehr Umsatz bringen als Livekonzerte (ist das nicht schon heute so?). Es wird weiterhin Plattenfirmen geben, die allerdings vor allem ihren Backkatalog vermarkten und sich um das Auslaufen des Urheberrechtsschutzes für ihre Produkte sorgen. Die neuen Hubs der Musikindustrie werden in Seoul, Kinshasa und Jakarta liegen.  Gioia sagt außerdem noch voraus, dass in zehn Jahren Posaunen zum großen neuen Ding werden, weil es einen groß gehypten Celebrity-Skandal gab, bei dem das Instrument eine zentrale Rolle spielte.

Hmmm, hopefully we will all see. For our topic, at least, one important aspect is emerging: music seems to have been inescapably linked to the development of the recording industry since the 1920s - so much so that technological developments automatically have an impact on musicians' lives, incomes and art. This is true for the entire music industry, but perhaps even more so for jazz because, as improvised music, it has always sold NFTs, non-fungible tokens. Every recording, every performance by jazz musicians is unique. There were and are artists who actually record as much as possible, partly for their own archive (e.g. Duke Ellington in the 1960s), partly to make them accessible to an audience that knows about the singularity of each performance (e.g. Gunter Hampel). Duke Ellington in den 1960ern), teils, um sie zu pressen und einem Publikum zugänglich zu machen, dass um die Singularität eines jeden Auftritts weiß (z.B. Gunter Hampel).

Die Dystopie einer zukünftigen Musik wäre vielleicht tatsächlich die Vorstellung, dass durch Artificial Intelligence erzeugte Kunst ähnliche emotionale Wirkung haben könnte wie von Menschen gemachte. Ich bin da relativ relaxt: Klar wird es möglich sein, Musik zu generieren, die klingt „wie“ etwas anderes, Musik also, die auf Klangklischees der Vergangenheit Bezug nimmt, Parker, Coltrane, Miles, diese aber neu mischt. Bestimmt kann AI irgendwann auch Musik erzeugen, die klingt „wie ein Experiment“, wie das also, was wir an aktueller improvisierter Musik spannend finden. Kann aber eine Maschine Risiken eingehen? Improvisatorische Risiken, wenn Musiker:innen sich auf die Reaktion anderer Kolleg:innen einlassen, auf die sie wiederum selbst reagieren; ästhetische Risiken des Gelingens eines vorher vorgestellten Konzepts, bei dessen Ausarbeitung man in improvisierter Musik allerdings eben nie bis zum Ende plant, sondern ganz bewusst aufs Risiko setzt? Es gibt diesbezüglich ja durchaus schon Versuchsanordnungen (George Lewis‘ Voyager; Dan Tepfers „Natural Machines“-Projekt).

Ich mag die Vergleiche zwischen Musik und Sport nicht, aber doch: Klar kann eine Maschine schneller laufen als ein Mensch. Aber wird sie schwitzen? Wird man die Aufregung riechen? Wird man die emotionale Verausgabung spüren und die Freude oder Enttäuschung über das Ergebnis? Musik kann man auch „riechen“. Sie entsteht im gemeinsamen Agieren von Musiker:innen, die zu immer neuen musikalischen Aggregatzuständen führen, zu neuen klanglichen Verbindungen, zu unerwarteten oder aber auch erwartbaren Reaktionen, zu Freude, einsetzender Langeweile, Nervenkitzel oder diesem unbeschreibbaren Selbst-Teil-des-kreativen-Prozesses-Werden.

The future of the music industry, and the involvement of musicians in it: certainly an important topic for the Darmstadt Jazzforum. Actually, it has been an important topic in jazz for a long time, at the latest since Charles Mingus and Max Roach wanted to take the marketing of their recordings into their own hands with the Debut record label. What is possible, what is desirable, what is inevitable, what should be prevented at all costs? Or shouldn't we rely on the creativity of our field, which can generate something exciting out of every situation, because it ideally reacts to the present and explores future possibilities instead of regurgitating the past?

Ah, eigentlich hatte ich über „Vision und Wirklichkeit“ schreiben wollen, jetzt hat mich Ted Gioia aber erst mal auf ein anderes Pferd gehoben. Next time also…

(Wolfram Knauer, 28 September 2022)


26 September 2022
(1) The devil You (don’t) know…

Foreseeing cultural developments has never really worked out. We are far too stuck in the thought structures that shape our cultural present for that, but we would not only have to foresee artistic discourses, but also alternative spaces in which such discourses can be conducted, topics that we perhaps do not consider that important at the moment, a changed (self-)conception of art. We would have to think about institutions and their changes (cf. e.g. the demands made at the Darmstadt Jazzforum 17 regarding diversity in institutions), political sensitivities (cf. e.g. the discussions about Documenta 15 and the control obligations of curators as well as politics), changes in the perception and recognition of artists and their creative work in society. And of course we would have to think about the artistic statement itself, the creative process and its result, in the case of music the concert, the studio production, the connection with the audience.

Wie sähe das alles im Jazz aus? Wir haben uns da ja auf – wenn auch unterschiedlich bewertete – Identifikatoren „unserer“ Musik geeinigt. Zum Beispiel: improvisatorisch, forschend, die Intensität neu ausdeutend, die bislang entweder durch „swing“ oder „energy play“ oder andere Arten der Verzahnung rhythmischer, melodischer und harmonischer Impulse gekennzeichnet war. Ein Bezug auf die afro-amerikanische Herkunft der Musik und all die damit verbundenen Konnotationen, insbesondere jene der Community: dass also Jazz eine Musik ist, die Gemeinschaft braucht, die Reaktion des Publikums. Ein solcher Bezug kann ganz direkt passieren (melodisches, harmonisches oder Sound-Zitat), aber genauso auch indirekt („mit dem Bewusstsein von…“). Zurzeit wird dieser Respekt vor der afro-amerikanischen Herkunft und Erfahrung des Jazz auch hierzulande vermehrt eingefordert, zum Beispiel in Bezug auf ethnische Diversität bei Konzert- und Festivalprogrammen.

Wird das aber in zehn Jahren auch noch der Fall sein oder werden wird die aktuelle Tendenz zum aktiven Ausgleich sozialer und kultureller Ungerechtigkeiten bis dahin nicht mehr als so wichtig erachtet werden und stattdessen vielleicht stärker darauf geachtet, was improvisierte Musik uns „heute“, also 2032, sagen kann? Wird das House of Jazz in Berlin realisiert sein und werden ähnliche  Konzerträume auch anderswo in der Republik zur Verfügung stehen, entweder hochsubventioniert durch die öffentliche Hand oder aber privat finanziert durch kommerzielle Geldgeber, die erkannt haben, das künstlerische Forschung auch für ihr Gebiet nicht weniger wichtig ist als jene im analogen oder virtuellen Labor? Werden wir nach wie vor Clubkonzerte vor Livepublikum haben, oder ermöglichen die Entwicklungen der virtuellen Realität uns entsprechende gemeinsame Erlebnisse auf andere Weise? Wird das Musiker:innenleben nach wie vor vor allem aus Reisen, Forschen und Unterrichten bestehen oder werden sie ihrer kreativen Arbeit co2-neutral mehr und mehr von Zuhause aus nachgehen können?

Arrghhh… Ich bin nicht gut in Science Fiction. Vielleicht bin ich zu sehr Realist, vielleicht zu furchtsam, vielleicht einfach zu wenig Künstler… Jedenfalls folgen jedem „Warum nicht!“ in meinem Kopf jede Menge an Fragezeichen. Man neigt ja leicht dazu, die Sicherheit der aktuellen Realität der Unsicherheit des Experiments vorzuziehen: „the devil you know is better than the devil you don’t know…“ Ich belasse es mal dabei und ahne: genauso wenig, wie ich die Zukunft des Jazz ausmalen kann, kann ich mir wirklich die Diskussionen ausmalen, die wir im September 2023 beim Darmstädter Jazzforum über sie haben könnten. Was mich dabei versöhnlich stimmt: dass ich weiß, es mit kreativen Künstler:innen zu tun zu haben, die sich nicht scheuen, einen Gedanken zu nehmen und ihn einfach mal weiterzuspinnen, egal wieviel Anpassungen des Kontextes dabei nötig sind. Das ist schließlich eine der Stärken des Jazz (wie auch anderer künstlerischer Avantgarden): dass er dazu in der Lage ist, sich auf einzelne Motive zu fokussieren, auf rhythmische Strukturen, auf emotionale Ahnungen, diese jeweils zu sezieren und dabei quasi nebenbei Neues zu erschaffen.

Was mich allerdings gleich wieder darüber sinnieren lässt, ob Zukunft immer, nun, zumindest „auch“ Zufall ist? Aber das wäre das Thema eines weiteren Blogeintrags – übrigens genauso wie das Thema „Vision meets Wirklichkeit“, über das ich mir beim nächsten Mal Gedanken machen möchte…

Wolfram Knauer (26 September 2022)


All photos on this blog page come from the Sun Ra Archive of the Hartmut Geerken collection at the Jazzinstitut Darmstadt.

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