[:de]Clark. The Autobiography of Clark Terry
von Clark Terry (& Gwen Terry)
Berkeley 2011 (University of Berkeley Press)
322 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-520-26846-3
Als Clark Terry im Dezember letzten Jahres seinen 94sten Geburtstag feierte, schaute Wynton Marsalis und das komplette Lincoln Center Jazz Orchestra vorbei. Terry ist ein Säulenheiliger des Jazz, einer der ganz wenigen noch lebenden Zeitzeugen der Entwicklung dieser Musik vom Swing über den Bebop bis zu aktuellen Spielformen. Als junger Musiker erhielt er Zuspruch und Ermutigung von älteren Kollegen; später half er selbst jungen Musikern, angefangen von Miles Davis über Quincy Jones bis hin zu unzähligen Workshops und pädagogischen Jazzprojekten, der er mit-initiierte oder bei denen er mitwirkte. Terry kam in der lebendigen, blues-verbundenen Jazzszene von St. Louis zum Jazz, er spielte in den Orchestern von Charlie Barnet, Count Basie und Duke Ellington, er leitete seine eigenen Bands, und er war ein bei allen Kollegen hoch angesehener Stilist und Solist.
In seiner Autobiographie lässt er nun sein Leben Revue passieren. Es ist ein überaus persönliches Buch geworden, in dem Terry freimütig von seinem Groll über den Vater berichtet, aber auch davon, dass es ihm selbst nicht so viel besser gelungen sei, eine gute Beziehung zu seinem Sohn aufzubauen, in dem er von den Schwierigkeiten des Tourneelebens genauso erzählt wie von den wunderbaren Gelegenheiten, bei dem alles klappt und die Musik nur so aus ihm herausfließt. Er erzählt mit Witz und genügend Selbstreflexion, und insbesondere in den Kapiteln über seine Jugend und seine Bigband-Jahre erlaubt er seinen Lesern einen spannenden Blick hinter die Kulissen. Seine Erinnerung ans Great Lakes Naval Training Center, in dem Musiker für die Bands in allen Marinestützpunkten der Vereinigten Staaten ausgebildet wurden, ist ein auch jazzhistorisch interessanter Exkurs, war diese Ausbildung doch der Beginn vieler namhafter Karrieren des modernen Jazz.
Terrys Beschreibungen des Klavierstils von Count Basie oder des Organisationstalents Duke Ellingtons lassen die Musik unmittelbarer werden, geben einem das Gefühl, mehr zu verstehen über die Aufnahmen, die man aus jenen Jahren kennt, als der Trompeter mit dabei war. Seine Erinnerungen daran, wie er zum Flügelhorn kam oder wie er während seiner Zeit in den Fernsehstudios mehr zufällig seinen Gesangsstil des „Mumbling“ erfand, ermuntern einen zum Plattenregal zu laufen, um Beispiele zu hören oder auf YouTube Filme anzuklicken, auf denen man ihn dann genau als den hoch-disziplinierten und professionellen Künstler erlebt, als den er sich auch selbst beschreibt.
Neben den vielen professionellen Erinnerungen lässt Terry aber auch die Probleme des Musikerlebens nicht außer Acht, berichtet, wie der offene Rassismus in den USA das Reisen für schwarze Bands schwierig machte, von Krankheiten und von der mangelnden Zeit, sich um Freunde, Familie und nicht zuletzt auch um sich selbst zu kümmern. Er erzählt, wie er weiterarbeiten musste, als seine Frau an schwer an Krebs erkrankte, um die Arztrechnungen zu bezahlen, und wie er so nicht anwesend war, als sie verstarb. Er berichtet von seinem Verlangen nach Nähe und Geborgenheit, und ist politisch unkorrekt genug, ziemlich genaue Vorstellungen davon zu haben, wofür die Frau im Haus zuständig sei – wobei er mit Gwen, seiner jetzigen Frau, dann aber eine Partnerin suchte und fand, die dazu in der Lage war, ihm auch kräftig Kontra zu geben. Es sind solche Momente, die das Buch besonders lesenswert machen, Momente, in denen man den Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und Musik zu erahnen scheint, in denen man in seinen Worten recht genau erkennt, was er in seiner Musik seit mehr als 70 Jahren sagt.
Die Leichtigkeit der Erzählung lässt höchstens in den letzten Kapiteln nach, in denen Terry mehr und mehr seinen Taschenkalender durchzublättern scheint, darauf bedacht, bloß keinen Namen der noch lebenden Kollegen oder seiner Schüler zu vergessen, möglichst viele Termine aufzuzählen, sich dabei des öfteren wiederholt und auch schon mal dieselbe Erinnerung unterschiedlichen Gegebenheiten zuordnet. Dieser Bruch im Manuskript, vom Erzählerischen zum Aufzählerischen, ist aber auch der einzige Wermutstropfen eines Buchs, das unbedingt zur Lektüre empfohlen sei, weil es so viel über die Wirklichkeit des Musikerdaseins im Amerika der 30er bis 60er Jahre erklärt.
Wolfram Knauer (Februar 2015)
Sophotocated Lady.
Jazzphotographien 1948-1965
von Susanne Schapowalow
Bad Oeynhausen 2011 (jazzprezzo)
200 Seiten, 55 Euro
ISBN: 9-978-3-9810250-9-9
Quincy Jones schreibt ein Geleitwort, weil er sich gern an die junge Frau erinnert, die 1960 einen Monat lang mit ihm und seiner Band durch Europa reiste. Susanne Schapowalow begann ihre Karriere als Fotografin in den Mitt-1940er Jahren, fotografierte bald darauf Trümmergelände und Jazzmusiker. Sie war mit Olaf Hudtwalcker befreundet, der sie immer wieder nach Frankfurt einlud, wo sie 1948 für einen Artikel im Schwäbischen Tagblatt den Jazzkeller des dortigen Hot Club ablichtete. Mitte der 1950er Jahre war die gebürtige Hamburgerin bei allen Konzerten amerikanischer Stars in der Musikhalle zugegen, fotografierte Louis Armstrong, Duke Ellington, Gerry Mulligan, Lee Konitz, aber auch deutsche Musiker wie Klaus Doldinger, Caterina Valente, Paul Kuhn, Wolfgang Schlüter oder Rolf Kühn. Sie reiste zu Festivals in Düsseldorf und Essen, arbeitete für Joachim Ernst Berendt und andere, machte sich einen Namen als eine Fotografin, der es gelang, besondere Situationen festzuhalten: nicht bloß den Blick auf den arbeitenden Musiker auf der Bühne, sondern weit mehr den Menschen, den kreativ Schaffenden. Ihre Bilder waren in den 1950er und frühen 1960er Jahren in vielen Fachzeitschriften zu sehen. Das Hotel Ellington in Berlin stattete das gesamte Haus bei seiner Eröffnung im Jahr 2007 mit ihren Fotos aus, Restaurant, Lobby sowie alle Salons und Gästezimmer. Mitte der 1960er Jahre allerdings hatte sich Schapowalow vom aktiven Fotografieren zurückgezogen und eine erfolgreiche Bildagentur gegründet. Jetzt ist im jazzprezzo-Verlag das erste Buch erschienen, das die eindrucksvollen Bilder in angemessener Umgebung präsentiert. Dem Herausgeber Rainer Placke und dem Grafiker Ingo Wulff ist dabei ein großer Wurf gelungen: Papier, Gestaltung, Bildqualität, die Gruppierung der Fotos, die Beschriftungen, die begleitenden Texte – „Sophotocated Lady“ hat alle Chancen zum Wunsch-Weihnachtsgeschenk für alle Jazzliebhaber zu werden. Unsere Empfehlung soll dabei nicht verschweigen, dass der Autor dieser Zeilen selbst ein Vorwort zum Buch verfasst hat und somit ein wenig befangen ist. Aber sei’s drum: Hätte er kein Belegexemplar erhalten, hätte auch er es sich zu Weihnachten gewünscht! Ein großer Wurf, eine großartige Fotografin, ein gelungenes Buch!
Wolfram Knauer (November 2011)
Carla Bley
von Amy C. Beal
Urbana/IL 2011 (University of Illinois Press)
113 Seiten, 22 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-0818-7
Carla Bley ist sicher eine der wichtigsten Komponistinnen des 20sten Jahrhundert – wobei die Einschränkungen dieses Satzes gleich mehrere sind, die alle so nicht stimmen. Weder hat ihre Kompositionskraft am 31. Dezember 1999 aufgehört, noch ist ihre Bedeutung geschlechterbeschränkt. In ihrem Buch will Amy C. Beal dem Phänomen der Pianistin, Komponistin und Bandleaderin historisch, aber durchaus auch musikalisch gerecht werden
Sie beginnt biographisch mit der Geburt von Lovella May Borg in Oakland, Kalifornien, um dann gleich die frühesten musikalischen Einflüsse aufzuzählen: absolutes Gehör, Ballettmusik von Erik Satie im Radio, Beethoven, Chopin, Grieg, Rachmaninoff am Klavier, protestantische Hymnen in der Kirche ihrer fundamentalistisch-gläubigen Eltern. Mit 17 begann sie in einem Club in Monterey Lounge-Piano zu spielen, besaß aber nur ein begrenztes Repertoire an Standards und konnte kaum improvisieren. Dann entdeckte sie den Jazz für sich, reiste nach New York, hörte Miles Davis und all die anderen Vorbilder. Zusammen mit Paul Bley zog sie 1957 zurück an die Westküste, wo sie mehr und mehr zu komponieren begann. Bley, George Russell, Steve Swallow und andere Musiker waren von ihren Stücken begeistert und spielten sie in diversen Bands, in denen sie arbeiteten.
Beal untersucht einige der frühen Kompositionen Bleys, „Ictus“, „Floater“, Walking Woman“ und erklärt die Faszination dieser Stücke, die dazu führte, das 1962 etwa auf einem Duzend Alben Arrangements und Interpretationen dieser Werke zu finden waren. 1964 fanden sich die Bleys in New York im Zentrum einer Bewegung, die versuchte, die neuen Strömungen in der improvisierten Musik der USA zu kanalisieren. Bill Dixon hatte in einem New Yorker Club eine Konzertreihe ins Leben gerufen, die er „October Revolution in Jazz“ nannte, und zugleich die Jazz Composers Guild gegründet, eine Musikerinitiative, der neben ihm und den Bleys Sun Ray, Roswell Rudd, John Tchicai, Archie Shepp und viele andere angehörten. Bley und Mantler fokussierten diese Initiative in einer Art All-Star Band, dem Jazz Composers Guild Orchestra.
Die Ehe der Bleys scheiterte, und Carla tat sich mit dem aus Österreich stammenden Trompeter Michael Mantler zusammen; aus ihrer 25 Jahre dauernden Beziehung stammt ihre gemeinsame Tochter Karen Mantler. 1967 gingen sie auf eine Europatournee, wo sie erstmals mit der aggressiven Kunst Peter Brötzmanns und Peter Kowalds konfrontiert wurden. Zugleich war sie fasziniert von den Klängen des Beatles-Albums „Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band“, das damals erschien. Sie veränderte ihre Klangsprache, arbeitete mit unterschiedlichen, oft kontrastierenden Klangfarbenschattierungen, wie Beal insbesondere an Bleys Suite „A Genuine Tong Funeral“ zeigt. „Escalator Over the Hill“ von 1972, eine Art Jazz-Opern-Fusion, ist sicher das Hauptwerk der Komponistin. Mit der Veröffentlichung dieses Werks auf Schallplatte begann Bley mit Mantler zugleich ein neues Kapitel ihrer Arbeit, gründete den New Music Distribution Service sowie das Label WATT Records, weitere Versuche von Musikern, ihre Musik auch rechtlich unter Kontrolle zu behalten.
1974 begann Bley mit eigenen, unterschiedlich besetzten Bigbandbesetzungen, und Beal untersucht die Einflüsse auf ihre Arbeit in diesen Jahren, Mingus, Haden, die christliche Tradition ihres Elternhauses, aber vor allem auch all die Musiker, mit denen sie in ihrer Karriere zusammenspielte und deren musikalische Sprache sie immer gern aufnahm. Beal geht auch auf Bleys „Fancy Chamber Music“ ein, Musik also für kleinere Besetzungen einschließlich der engeren Zusammenarbeit mit Steve Swallow, seit langem ihrem musikalischen, daneben aber seit etlichen Jahren auch ihrem Lebenspartner.
Beals Buch ist eine Biographie, die der Persönlichkeit Carla Bley kaum wirklich zu Leibe rückt, zugleich eine Annäherung an die Musik, die ohne analytischen Fokus auskommt. Der Autorin gelingt es, die verschiedenen Einflüsse auf Bleys Werk zu erklären und zugleich ihr musikalisches Vokabular zu fassen. Sie liefert damit eine hervorragende Grundlage für weiterführende Studien – und auf eine Autobiographie der Pianistin und Komponistin würden sich nicht nur ihre Fans freuen.
Wolfram Knauer (August 2014)
Jazz Photography. A Bibliography Spanning 75 Years von Jan J. Mulder Almere/NL 2011 (Names & Numbers) 131 Seiten, 14 Euro (inclusive Porto in Europa) ISBN: 978-90-77260-18-0 Bezugsquelle: Names & Numbers, gehojazz@planet.nl Names & Numbers ist ein kleiner holländischer Verlag, der sich vor allem auf Diskographien spezialisiert hat. Der Sammler und Jazzhistoriker Jan J. Mulder hat sich mit seinem Buch über „Jazz Photography“ einem Thema zugewandt, das mit dem Jazz fast genauso eng verbunden ist wie das der Tonaufzeichnung. Er beschreibt das Phänomen von Foto-Büchern, wie sie seit 1936 die Jazzgeschichte begleiten und dokumentieren. Jazz als lebendige Bühnenkunst bietet sich für Fotobände geradezu an, und jede Menge erstklassiger Fotokünstler, allen voran William Claxton, William Gottlieb oder Herman Leonard, haben durch ihre Sicht auf die Musik selbst Jazzgeschichte geschrieben. Mulders Auflistung ist eine Art kommentierte Bibliographie. Er geht chronologisch vor vom ersten „Foto-Album“ mit 63 Bildern, 1936 herausgegeben von der holländischen Zeitschrift De Jazzwereld bis z Herb Snitzers „Glorious Days and Nights. A Jazz Memoir“ von 2011. Jeder Eintrag enthält Informationen über Umfang, Material, Größe, Anzahl der enthaltenen Bilder, aber auch Beispiele der abgelichteten Künstler. Daneben nennt Mulder Wiederveröffentlichungen oder Veröffentlichungen in anderen Sprachen. Neben Büchern finden sich auch vereinzelte Postkartenserien; neben reinen Fotobüchern auch Bücher, in denen Fotos wenigstens eine größere Rolle spielen. Mulders Buch ist damit sicher vor allem ein Nachschlagewerk für Fotobuchsammler (ja, solche gibt es), daneben aber auch ein überaus hilfreicher nüchterner Überblick über ein über die Jahre immer stärker angewachsenes Verlags-Oeuvre. Wolfram Knauer (November 2013)
Joe Zawinuls Erdzeit. Interviews für ein Portrait von Robert Neumüller Weitra 2011 (Bibliothek der Provinz) 152 Seiten, 22 Euro ISBN: 978-3-85252945-5 Im Mai 2006 begann Robert Neumüller mit den Dreharbeiten für einen Dokumentarfilm über den Pianisten, Keyboarder und Komponisten Joe Zawinul, einen der wenigen Europäer, die im Mutterland des Jazz Karriere machten. Der Film sollte ein Geschenk zu Zawinuls 75sten Geburtstag werden, aber im September 2007 verstarb der österreichische Nationalheld des Jazz. Und so wurde „Joe Zawinuls Erdzeit“ ein filmischer Nachruf auf einen der bedeutenden Musiker des Jazz, einen der Miterfinder der Fusion, einen kreativen genauso wie kritischen Geist. Für die Dokumentation hatte Neumüller etliches an Interviewmaterial gesammelt, und nach Schnitt und Fertigstellung des Films fand er, dass dieses Material auch deshalb eine zusätzliche Verwertung erhalten sollte, weil er im Film nur Ausschnitte daraus hatte verwenden können. Im Buch lesen wir nun die Gespräche mit Zawinul. Es geht um aktuelle Projekte, biographische Stationen, um Österreich und Amerika, um seine Familie, um Friedrich Gulda, Miroslav Vitous, Miles Davis, Wayne Shorter, und die anderen Musiker von Weather Report. Es geht um Rhythmik, HipHop und Sport, um Mozart und Bach, um Improvisation, Konservatorien und vieles mehr. Zwischendrin finden sich aber auch Interviewausschnitte mit seiner (kurz vor ihm verstorbenen) Frau Maxine sowie mit seinen Söhnen und mit Wayne Shorter. Das alles ist nicht chronologisch, sondern so geordnet, wie es entstand, thematisch also. Es liest sich wie ein Film mit immer neuen Schnitten, Szenen, Themen. Am Ende meint man Joe Zawinul tatsächlich ein wenig näher zu kennen, den Menschen genauso wie den Musiker, sein Weltverständnis und sein Verständnis von Musik. Die Fotos zeigen ihn bei der Arbeit, aber auch in Drehsituationen für den Dokumentarfilm. Und so bietet das Buch am Ende sowohl ein interessantes „The Making of“ wie auch eine überaus empfehlenswerte und sehr eigenständige Lektüre. Wolfram Knauer (September 2013)
Arbeitsfeld Schule und Musikschule. Zur künstlerischen Ausbildung von Musikpädagogen. Ein integratives Konzept von Hans-Joachim Heßler Duisburg 2011 (United Directions of Music) 163 Seiten, 18,90 Euro ISBN: 978-3-942677-2-8 Ausgehend von der Feststellung, dass die Studieninhalte für Musikpädagogen für den Bereich der Schule wie auch der Musikschule dringend reformbedürftig sei, entwickelt Hans-Joachim Heßler in seinem Buch ein, wie er es nennt „integratives Konzept“ einer solchen künstlerischen Ausbildung. Er identifiziert Musikpraxis als einen wichtigen allgemein-pädagogischen Ansatz in den Richtlinien für allgemeinbildende Schule und wiederholt Hans Günther Bastians gern zitierte Studie, nach der Musikpraxis bei Schülerinnen und Schülern die soziale Kompetenz besonders fördere. Rock und Pop hätten zwar seit Jahren ihren Platz im Musikunterricht gefunden, doch würde hier nach wie vor am „Traditionsprinzip“ festgehalten, das vor allem die europäische Kunstmusiktradition festschreibe, andere musikalische Ansätze dagegen vernachlässige. Heßlers „integratives Konzept“ will dem Traditionsprinzip eine zweite Säule beistellen, jene nämlich des Jazz, den er als „Weltmusik in einem umfassenden Sinne“ begreift und als Basis der meisten populären Musikformen. Der Jazz sei von allen nicht-traditionellen Ansätzen am weitesten wissenschaftlich erfasst worden und überhaupt erfassbar, meint Heßler (zitiert in diesem Kapitel allerdings nur Nicht-Wissenschaftler); außerdem sei seine Didaktik – und hier bezieht er sich vor allem auf Deutschland – weitgehend ausgefeilt (als Beispiele verweist er allerdings ausgerechnet auf Aebersold-Kassetten). Er identifiziert als Jazzformen, die er für den unterricht für besonders geeignet halte: „a) Free-Jazz, b) Funk-, Rock und Pop-Jazz, c) Latin- und Ethno-Jazz und d) No-Wave“. Man mag über diese Begriffszuordnung streiten: So bezeichnet „No Wave“ üblicherweise eigentlich eher jazz-fremde Musikrichtungen, das, was Heßler allerdings meint, ist irgendwo zwischen jener eklektizistischen, post-modern angehauchten Beliebigkeit der 1980er Jahre und John Zorns New Yorker Downtown-Szene angesiedelt, die vielleicht ganz zu Recht eines eigenen Namens zumindest in der Jazzwelt entbehrte. Dann zitiert der Autor als Begründung dafür, den Jazz als „Überbau“ zu verstehen, Joachim Ernst Berendt: Rock sei nicht zu denken ohne Jazz, Jazz dagegen durchaus ohne Rock. Improvisation habe weithin anerkannte positive Lehr- und Lerneffekte und sei bekanntermaßen Grundmedium des Jazz. Improvisationsunterricht dürfte daher in keiner musikpädagogischen Ausbildung fehlen. In einem eigenen Kapitel fordert Heßler die Zusammenarbeit von Schule und Musikunterricht, durch die insbesondere das Heranführen ans Instrument, ans praktische Musikmachen gefördert werden könne. Er beschreibt die Anforderungen an die Lehrenden in verschiedenen Instrumentengattungen und fordert in seinem Schlusskapitel eine offenere und breitere Ausbildung von Musikpädagogen, ihre Befähigung insbesondere im Bereich auch der Neuen Musik und des Jazz, die ihnen ermöglichten, sich besonders offen auf andere stilistische Formen einzustellen, diverse Arten ethnischer Musikern etwa, Rock, Pop etc. Alles in allem formuliert Heßler ein aus seiner eigenen Praxis heraus verstandenes Konzept, das den Jazz als eine weitere Säule in der Ausbildung von Musikpädagogen festschreiben möchte. Man mag dieser Forderung folgen oder nicht; Heßlers Ausführungen bieten dann für beide Seiten das eine oder andere Argument. Wolfram Knauer (April 2013)
Autobiographie du Jazz von Jacques Réda Paris 2011 (Climats) 360 Seiten, 23 Euro ISBN: 978-2-0812-4880-9 Jacques Réda präsentiert seine eigene Autobiographien des Jazz, ein Buch mit Darstellungen aller ihm besonders wichtig erscheinenden Musiker von den Anfangstagen bis fast in die Gegenwart und kurzen subjektiven Würdigungen. Dabei gibt es wenig Neues zu entdecken, Réda immerhin ist lange genug im Journalismus tätig, um die Einschätzung seiner Lieblinge interessant zu gestalten, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden und in den kurzen Abrissen eine Art musikalische Einordnung der Künstler vorzunehmen, ohne ins biographische oder diskographische Detail gehen zu müssen. Für den Kenner der Materie gibt es dabei wenig Neues zu entdecken, für den Neuling eignet sich das Buch als Nachschlagewerk oder knappe Einführung. Wie meist bei solch fast schon lexikalisch angelegten Büchern ist über die Auswahl der dokumentierten Künstler trefflich zu streiten, und auch die Länge der Artikel lässt mehr Aufschluss auf Rédas Geschmack als über die Bedeutung der Musiker zu. Wolfram Knauer (April 2013)
Tombeau de John Coltrane von Xavier Daverat Marseille 2011 (Parenthèses) 439 Seiten, 19 Euro ISBN: 978-2-86364-654-0 Das „Grabmal“ des John Coltrane, das Xavier Daverat in seinem Buch über den Saxophonisten aufstellt, ist weniger eine biographische Darstellung als vielmehr eine Annäherung an Coltrane als Künstler, dessen Stil auf der musikalischen Sprache des Bebop aufbaute, sie weiterentwickelte und in den Innovationen, die er mitentwickelte, selbst zu einem der einflussreichsten Musiker des Jazz machte. Im ersten Kapitel schreibt Daverat über Coltrane als jungen Parker-Schüler und die Anfänge der Ausbildung eines eigenen Stils. Im zweiten Kapitel beschreibt er den Einfluss, vor allem aber auch die Unterschiede zu Sonny Rollins. Kapitel 3 widmet sich Tranes Zeit bei Miles Davis, verortet den Saxophonisten dann in der Moderne des Jazz zwischen Monk und den jungen Free Jazzern. In weiteren Kapiteln untersucht Daverat das klassische Quartett des Meisters, geht auf dessen freie Phase ein und widmet sich dem spirituellen Spätwerk. Weitere Kapitel beschäftigen sich mit Tranes ästhetischer Haltung sowie der Position des Saxophonisten zur und in der Entwicklung der Avantgarde im Jazz der 1960er Jahre. Ein umfangreicher zweiter Teil des Buchs dann betrachtet (meist) nachfolgende Saxophonisten, alphabetisch geordnet von A wie George Adams bis Z wie Michael Zilber, und fragt nach dem Einfluss Coltranes auf deren Stilistik. Eine Diskographie Coltranes und ein Personenindex schließen das Buch ab. Daverats Buch ist vom Ansatz her eher ein Beitrag zu einem bereits geführten Coltrane-Diskurs in der Jazzforschung und weniger eine biographische Würdigung oder gar eine musikalische Hinleitung zur Musik des Saxophonisten. Insbesondere die zweite Hälfte des Buchs, in der sich der Autor auf die Suche nach „Coltranismen“ im Stil anderer Saxophonisten macht, ist dabei eine hilfreiche Ergänzung zu einem bislang unzureichend bearbeiteten Teil der Coltrane-Forschung: seinem Einfluss nämlich auf andere Musiker, der sich entweder im klanglichen Andeuten oder aber auch in deutlicher Abgrenzung zum Vorbild äußert. Wolfram Knauer (März 2013)
West Meets East. Musik im interkulturellen Dialog herausgegeben von Alenka Barber-Kersovan & Harald Huber & Alfred Smudits Frankfurt 2011 (Peter Lang) 258 Seiten, 46,80 Euro ISBN: 978-3-631-61262-0 „East Meets West“ hieß eine Tagung, die vom Institut für Popularmusik, vom Institut für Musiksoziologie, vom Arbeitskreis Studium Populärer Musik und vom Österreichischen Musikrat 2008 an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien durchgeführt wurde. Der vorliegende Sammelband enthält die Referate, elf an der Zahl, die sich verschiedenen Aspekten interkultureller Einflüsse nähern. Da gibt es generellere und speziellere Ansätze, wird über den „interkulturellen Dialog durch elektronische Musik“ oder über den Einfluss östlicher Popmusik auf den Westen geschrieben, über „experimentellen Sound aus Beirut“, Tendenzen chinesischer Musik und andere Themen. Jazz kommt auch dabei vor, vor allem in zwei Beiträgen. Ekkehard Jost schaut auf „Tendenzen zum interkulturellen Mono- und Dialog im französischen Jazz der Gegenwart“ und betrachtet dabei vor allem Beispiele von Michel Portal, Bernard Lubat und Uzeste Musical. Und Andreas Felber untersucht die manchmal fast biographisch anmutende, dann wieder vor allem strukturelle Integration von Jazz und indischen Musiktraditionen bei New Yorker Musikern und analysiert dabei Stücke von Sunny Jain, Rez Abbasi und Vijay Iyer. Alles in allem: ein Tagungsband mit sehr unterschiedlichen Beiträgen, inhaltlich genauso wie vom Ansatz her oder der analytischen Tiefenschärfe. Wolfram Knauer (März 2013)
David Baker. A Legacy in Music von Monika Herzig Bloomington 2011 (Indiana University Press) 422 Seiten, 29,95 US-Dollar ISBN: 978-0-253-35657-4 David Baker hat mehrere Karrieren gemeistert: als Posaunist, Cellist, Komponist und Pädagoge. Monika Herzig, in Deutschland geborene Pianistin und Musikwissenschaftlerin, die seit 1991 in Bloomington, Indiana, der langjährigen Wirkungsstätte Bakers, lebt, nähert sich in ihrem Buch Bakers Biographie genauso an wie seiner Musik. Der biographische Teil beginnt 1931 mit Bakers Geburt in Indianapolis. Dort ging Baker zur Crispus Attacks High School, die einen Musikschwerpunkt besaß und durch die auch andere namhafte Musiker gegangen waren, unter ihnen etwa J.J. Johnson der dort 1941 seinen Abschluss gemacht hatte, der den jungen Kollegen in Indianapolis, also auch David Baker oder dem jungen Slide Hampton als Role Model diente. In den 1950er Jahren begann Bakers professionelle Karriere als Posaunist, der unter anderem mit Wes Montgomery spielte und 1959 ein Stipendium für die Lenox School of Jazz erhielt. Hier lernte er etliche Musiker kennen, mit denen er auch später noch zusammenarbeiten sollte, unter ihnen etwa George Russell, der Bakers Komposition „Kentucky Oysters“ 1960 auf seinem „Stratusphunk“-Album aufnahm. 1960 saß Baker zudem in der Bigband, mit der Quincy Jones durch Europa tourte. Ein Autounfall zwang Baker 1964 dazu, die Posaune aufzugeben; nach dem Ausprobieren mehrerer Instrumente entschied er sich stattdessen Cello zu spielen. Zugleich schrieb er noch mehr und begann Ende der 1960er Jahre seine Karriere als Jazzpädagoge an der Jazzabteilung der Indiana University, deren Leiter er bald wurde. Herzig beschreibt Bakers pädagogische Konzepte in Bezug auf Gehörbildung, Improvisation, das Lernen eines Repertoires, Jazzgeschichte, Arrangement, Ensembleleitung oder seine Beteiligung an Publikations- und Workshopprojekten Jamey Aebersolds. Ein eigenes Kapitel widmet sie dem Bandkonzept seiner „21st Century Bebop Band“; darin auch untersucht Brent Wallarab Bakers kompositorischen Umgang mit dem Blues. David Ward-Steinman analysiert den Komponisten Baker und beschreibt seine Klaviersolo-, Kammermusik-, Chor- sowie Orchesterkompositionen. John Edward Hasse würdigt Bakers Zusammenarbeit mit den pädagogischen Programmen des Smithsoninan National Museum of American History und seinem Jazz Masterworks Orchestra. Willard Jenkins erläutert das soziale Bewusstsein Bakers, sein Engagement fürs National Endowment for the Arts, den National Council on the Arts, die National Jazz Service Organization und die International Association for Jazz Education. In einer Coda sammelt Herzig Aussagen verschiedener Musiker über ihren Kollegen, den Musiker und Pädagogen David Baker. Ein Anhang enthält zudem ein Werkverzeichnis seiner Kompositionen, weitere Anhänge außerdem eine Liste der Ehrungen und Preise, eine Auflistung der Ensembles in denen er mitwirkte sowie seiner Lehraufträge. Eine Auflistung eigener Veröffentlichungen und eine Diskographie wird schließlich von einer allgemeinen Bibliographie über Baker gefolgt Alles in allem bietet „David Baker. A Legacy in Music“ einen hervorragenden Einblick in Bakers vielfältige Arbeit. Es ist keine Biographie im üblichen Sinn, sondern ein Buch, das verschiedene Ansätze miteinander verbindet, damit aber vielleicht besonders passend das Wirken dieses Musikers und Pädagogen würdigt. Wolfram Knauer (März 2013)
Plattensüchtig. Expeditionen in eine andere Welt. 7 Schallplattensammler im Interview von Jürgen Schmich Frankfurt/Main 2011 (Eigenverlag) 168 Seiten, 22 Euro ISBN: 978-3-00-036732-8 Zu bestellen über www.plattensuechtig.de Neben Briefmarken sind im 20sten Jahrhundert wohl Schallplatten zum begehrtesten Sammelobjekt geworden. Die Intensität des Sammelns aber besitzt eine große Spannbreite. Der eine sammelt, weil er jede Platte mit Erinnerungen verbindet; der andere durchaus auch im Bewusstsein des pekuniären Wertes der von ihm angehäuften Objekte. Während ersterer wahrscheinlich gern in seine Sammlung hineinhorcht, wird letzterer durchaus schon mal darauf achten, einige der wertvollsten Stücke „mint“, also ungespielt zu belassen, damit sie ihren Wert nicht einbüßen. Jürgen Schmich ist in sieben Gesprächen mit Sammlern ihrer Leidenschaft auf die Spur gekommen. Im Vorwort beschreibt er die verschiedenen Facetten des Sammelns, die Formatänderungen auf dem Tonträgermarkt, den Wandel im Sammelverhalten zwischen Plattenladen, Plattenbörse und eBay. Der einzige Jazzsammler des Buchs, Andreas Schmauder, machte irgendwann sein Hobby zum Beruf und eröffnete ein Schellackplattenantiquariat. Sein Sammlungsschwerpunkt liegt auf europäischem Jazz vor 1935. Er erzählt über seinen Weg zum Sammler, über Plattenspieler und Grammophone, darüber, wie es dazu kam, dass kein geringerer als Robert Crumb das Logo seines Ladens zeichnete, über seinen Vollständigkeitsanspruch, den Umgang mit den Platten, über Reinigung, Erfassung, Ordnung im Regal und überhaupt die Besessenheit hinterm Sammeln. 35.000 bis 40.000 Schellackplatten besäße er privat, seine wertvollste sei „Sweet Georgia Brown“ von Kai Julian, die rarsten seien acht Testpressungen von Sam Wooding. Peter Bastine sammelt Picture Discs, also Platten, die ausnahmsweise nicht schwarz, sondern mit Bildern geschmückt sind. Daneben sammelt er auch abspielbare Postkarten. Auch er berichtet über die Quellen und über den Unterschied zwischen Sammler- und Marktwert seiner Schätze. Heinz-Günther Hartig sammelt Rock ’n‘ Roll, insbesondere Buddy Holly, aber auch Elvis. Er lässt auch andere an seine Plattensammlung unter der Voraussetzung, dass sie sie dort wieder einstellen, wo sie sie herausgenommen haben. Der im sächsischen Glauchau lebende Edmund Thielow sammelt vor allem Beatles-Platten. Er erzählt von den Problemen, in der DDR an West-Produktionen zu kommen, vom Versuch, sein Archiv öffentlich zu machen und von einer von ihm selbst gepressten John-Lennon-Gedenkplatte, auf der absolut nichts zu hören war. Der Zürcher Felix Aeppli sammelt die Rolling Stones und veröffentlichte Mitte der 1980er Jahre einen Werkkatalog der Band, der inzwischen im Internet nachschlagbar ist. Hans-Jürgen Finger sammelt deutsche Schlager, Chris Wallner Soul, Funk, House und Techno. Am Ende eines jeden Gesprächs legt Schmich seinen Gesprächspartnern den jeweils selben Fragebogen vor: Wie viele Platten haben Sie zurzeit? Die erste selbst gekaufte Platte? Lieblingsplatte? Die wertvollste? Die rarste? Die originellste? Die peinlichste? usw. Ansonsten lässt er die Sammler erzählen, fragt behutsam nach und nimmt sie dabei in ihrer Leidenschaft ernst, von der sie selbst wissen, dass sie eine nicht jedem vermittelbare Marotte ist, eine Sucht, wie der Buchtitel dies suggeriert. Nicht nur Sammler werden sich in den Gesprächen dieses lesenswerten Buchs wieder finden. Wolfram Knauer (März 2013)
Mr. Trumpet. The Trials, Tribualtions, and Triumph of Bunny Berigan von Michael P. Zirpolo Lanham/MD 2011 (Scarecrow Press) 551 Seiten, 59,95 US-Dollar ISBN: 978-0-8108-8152-5 Bunny Berigan gehört zu jenen Jazzmusikern, deren Legende durch ihr Spiel genauso begründet scheint wie durch ihr tragisches Ende – Berigan starb 1942 mit nur 33 Jahren an den Folgen seines Alkoholismus. Michael P. Zirpolo, Jazzfan und Rechtsanwalt aus Ohio, hat nun ein Buch geschrieben, das in der Sorgfalt seiner Recherche durchaus als definitive Bunny-Berigan-Biographie gelten darf. Zirpolo verfolgt dabei nicht nur die Stationen im Leben und Wirken des Trompeters von seiner Geburt und seiner Jugend in Wisconsin bis zu seinem Tod, sondern er hinterfragt auch die Arbeitsbedingungen – konkret mit Bezug auf Berigan, aber seine Recherche hilft daneben, die Jazzszene der 1930er Jahre ganz allgemein besser zu verstehen. Ende der 1920er Jahre ging Berigan von Wisconsin nach New York, spielte 1930 mit Hal Kemp und wurde 1931 ins CBS Studioorchester engagiert. Er machte sich einen Namen auf der mit Trompetern nicht gerade armen Jazzszene New Yorks und spielte bereits 1931 seine ersten Platten mit Benny Goodman ein. Mit 24 Jahren wurde er 1932 Mitglied des Paul Whiteman Orchesters und saß 1934 als zweiter Trompeter in der Benny Goodman Bigband. Nebenbei spielte er Mitte der 1930er Jahre in vielen der kleineren Clubs Manhattans und nahm auch unter eigenem Namen auf, 1936 etwa zum ersten Mal „I Can’t Get Started“, das aber erst in einer anderen Version aus dem nächsten Jahr ein nationaler Hit werden sollte. Berigan arbeitete immer wieder mit der Sängerin Lee Wiley, wurde aber auch als Solist so gefeiert , dass er Anfang 1937 den Schritt wagte, eine eigene Bigband aufzubauen. Zugleich allerdings wurde sein Alkoholproblem immer deutlicher und selbst in der Musikpresse diskutiert. Zirpolo beschreibt in diesen Kapiteln die Zwänge eines Bandleaders der Swingära, Konkurrenzdruck, gedrängte Tourpläne mit mehr One-Nighters als Wochen-Engagements, benennt die Einkünfte und stellt diesen die Kosten gegenüber, die ein Bandleader wie Berigan als Geschäftsführer seiner „Firma“ hatte. Er erzählt den Werdegang der Berigan Bigband genauso wie er die Auswirkungen des Alkohols auf Berigans Bühnenverhalten beschreibt, nennt Aufnahmesessions und zitiert aus Erinnerungen von Musikern, mit denen Berigan zusammenarbeitete. 1940 gab der Trompeter sein Orchester kurzzeitig auf und wurde Mitglied des Tommy Dorsey Orchestra, tourte im Herbst desselben Jahres aber bereits wieder mit eigener Band. Zeitweise konnte er seine Musiker nicht pünktlich bezahlen und bekam darüber öffentlich verhandelte Probleme mit der mächtigen Musikergewerkschaft. Daneben aber ging es auch gesundheitlich bergab, und im Juni 1942 erlag er inneren Blutungen als Folge seines Alkoholabusus. „Die Legende beginnt“ überschreibt Zirpolo das dem Tod folgende Kapitel, das die kritische Aufarbeitung des frisch Verstorbenen untersucht und diese bis in die Gegenwart verfolgt. Zirpolo bezieht sich für sein Buch ausführlich auf eine Sammlung zu Berigans Leben und Schaffen, die ein anderer Sammler und Privatforscher, nämlich Cedric Kinsley White, zusammengetragen hatte. Diese enthält viele zeitgenössische Presseberichte und macht Zirpolos Buch damit zu einer Biographie voller Verweise. Manchmal gerät das dann schon etwas zu präzise und für den Laien damit schwer lesbar, ist auf der anderen Seite aber genau deshalb eine exzellente Grundlage für jede weitere Auseinandersetzung mit Bunny Berigan. Die Musik selbst hat der Autor dabei allerdings doch etwas stark ausgeklammert: Musikalische Beschreibungen oder gar Wertungen finden sich höchstens in Zitaten anderer Autoren. Statt einer Diskographie verzeichnen Anhänge Berigans Airchecks und Radio Transcriptions; außerdem schließt ein sorgfältiges Register das Buch ab. Wolfram Knauer (März 2013)
Fela Kuti. This Bitch of a Life von Carlos Moore Berlin 2011 (Tolkemitt Verlag; nur erhältlich über Zweitausendeins, www.zweitausendeins.de) 384 Seiten, 19,90 Euro ISBN: 978-3-942048-42-2 Fela Antikulapo Kuti war der Star des Afrobeat, einer der einflussreichsten Musiker Afrikas im 20sten Jahrhundert. Auf dem von Aids gebeutelten Kontinent wandte er sich gegen Geburtenkontrolle, doch sein Tod an den Folgen seiner eigenen Aids-Erkrankung sensibilisierte letzten Endes viele Afrikaner für die Notwendigkeit eines effektiven Schutzes vor dieser Krankheit. Carlos Moore genoss das Vertrauen des Saxophonisten und Komponisten, als er in den frühen 1980er Jahren mit Fela an dem Manuskript arbeitete, das erstmals 1982 als authorisierte Biographie in englischer Sprache erschien. Nun hat er das Buch bis zum Tode Kutis fortgeschrieben und den autobiographischen und Fragen/Antwortteilen des Buchs ein kluges Nachwort beigegeben. Es ist immer noch lesenswert, wie Fela, der Star Afrikas über Politik, Frauen, afrikanische und afro-amerikanische Kultur reflektiert, wie sich Freunde vor allem Freundinnen und etliche seiner Ehefrauen (Fela lebte polygam und heiratete an einem Tag 27 Frauen) ausgesprochen offen zu ihm äußern. Es ist ein Buch über Kunst, Tradition, Macht und Liebe, über Selbstbewusstsein und die Kraft der Musik. Moores Buch erlaubt einen Einblick in die Weltsicht dieses Mannes, offen, ungeschönt, ein wenig Miles-Davis-esk sozusagen, auch nach dreißig Jahren ungemein lesenswert. Wolfram Knauer (Dezember 2012)
Bonanza. Insights and Wisdom from Professional Jazz Trombonists von Julie Gendrich Rottenburg 2011 (advance music) 563 Seiten, 31,95 Euro ISBN: 978-3-89221-113-6 Julie Gendrich wollte eigentlich ein paar Interviews mit Posaunisten führen, die in der Woody Herman Band gespielt hatten, und damit dem Beispiel des Autors Kurt Dietrich folgen, der 1995 im selben Verlag ein Buch über Duke Ellingtons Posaunisten veröffentlicht hatte. Als sie herausfand, dass Herman allein seit 1965 mehr als 100 Posaunisten in der Band hatte, entschied sie sich um und befragte stattdessen 40 Jazzposaunisten eigener Wahl, einige bekannter, andere eher in der zweiten Reihe. Ihre Fragen berühren biographische Details, Informationen über die spezifische Karriere, über Einflüsse und berufliche Erfahrungen, vor allem aber über instrumentalspezifische Dinge, Improvisation und vieles mehr. Die erste Frage des ersten Interviews im Buch ist ein gutes Beispiel für ihren Ansatz. Sie fragt Wayne Andre: „Ich versuche herauszufinden, wie professionelle Posaunisten zu improvisieren lernen, sowie, sofern sie ihren Schülern das Improvisieren beibringen, welche Übungen sie dafür benutzen.“ Aber Jazzmusiker wären nicht Jazzmusiker, wenn nicht auch ihre Antworten improvisatorisch abschweifen würden. Andre antwortet, man müsse viel hören, zuhören, transkribieren, kopieren, und dann seinen eigenen Stil finden. Dann erzählt er, wie er selbst zur Posaune gekommen sei, nennt Lehrer, erzählt über Gigs mit Charlie Spivak, Sauter-Finegan und Woody Herman. Er erklärt, wie wichtig ein gutes Wissen über harmonische Zusammenhänge für einen Posaunisten ist, und zählt einige seiner Lieblingsposaunisten auf (und erklärt warum). Auf ähnliche Art und Weise unterhält sich Julie Gendrich z.B. mit Hal Crook, John Fedchock, Conrad Herwig, Don Lusher, Earl McIntyre, John Mosca, Ed Neumeister, Jim Pugh, Bill Reichenbach, Steve Turre, Mel Wanzo, Chris Washburne, Bill Watrous, Jiggs Whigham oer Phil Wilson, die alle bereitwillig aus der Werkstatt berichten. So richtet sich das Buch vor allem an Posaunisten, denen es jede Menge wertvolle Tipps vermittelt, eine kleine verbale Masterclass quasi bei immerhin 40 erfahrenen Kollegen. Wolfram Knauer (Dezember 2012)
Tiny. The Life and Discography of Tiny Kahn von Malcolm Walker Brighton 2011 (Discographical Forum) 46 Seiten erhältlich durch: Discographical Forum, discoforum@yahoo.com Tiny Kahn umfasst gerade mal acht Jahre, von 1944 bis 1952, und doch erlangte der Schlagzeuger, dessen Name „Tiny“ umgekehrt proportional zu seiner tatsächlichen Körperfülle war und der 1953 im Alter von gerade mal 29 Jahren starb, geradezu Legendenstatus unter Musikern. Zum Leben des Tiny Kahn finden sich in Malcolm Walkers dünner Mobnographie nur rudimentäre Informationen. Immerhin beginnt seine Diskographie beginnt mit der Reproduktion eines legendären Interviews, dass Kahn 1950 dem Magazin Down Beat gab, und in dem er erklärt, was den modernen Schlagzeuger ausmache, der weit mehr sei als ein Zeitgeber, in dem er sich zugleich an seine Zeit in den unterschiedlichsten Bands erinnert, Milt Britton etwa, Henry Jerome, Georgie Auld, Boyd Raeburn, Anita O’Day, Chubby Jackson und anderen. Der Rest des Büchleins ist eine veritable Diskographie, listet vor allem die Aufnahmen und mischt die Angaben mit Interviewauszügen aus Büchern, Zeitschriften und persönlichen Recherchen des Autors. Der Übersichtlichkeit sortiert Walker dabei nach Tonträger-Formaten (also: 78 / EP / LP / CD, wobei man sich zwischenzeitlich vielleicht sogar fragen könnte, ob nicht auch Internet-Ressourcen mit einbezogen werden könnten. Das führt dann gleich zur nächsten Frage: inwieweit nämlich Diskographien heute noch als mehr oder weniger hektographierte Blätter veröffentlicht werden sollten oder nicht vielleicht doch gleich als frei im Netz zugängliche PDF- oder sonstige Dateien. Die Kosten, die solche Recherchen verursachen, bringt der Verkauf des selbstgebundenen Büchleins sicher eh nicht herein. Warum dann nicht einfach den Streukreis breiter aufstellen? (Ein Beispiel einer Web-Diskographie zu Tiny Kahn findet sich hier – und an ihr hat Malcolm Walker übrigens auch mitgearbeitet.) Von solchen grundsätzlichen Fragen abgesehen ist die diskographische Arbeit, die Autoren wie Malcolm Walker oder andere in ihrer diskographischen Forschung machen, enorm wichtig für die Jazzforschung. Walker ist ein Veteran unter den Diskographen, betreibt diese Arbeit bereits seit den späten 1950er Jahren. Für den nicht Eingeweihten mögen Diskographien wie die seine(n) wie Erbsenzählerei wirken, tatsächlich aber sind all diese Aufnahmeverzeichnisse, einschließlich Besetzungen, veröffentlichter und unveröffentlichter Takes, Daten und Orte, Original- und Wiederveröffentlichungs-Nummern die Grundlage für eine eingehendere Beschäftigung mit der Musik. Eine Biographie, wie der Titel des Büchleins erwarten lässt, sollte man allerdings nicht wirklich erwarten. Wolfram Knauer (August 2012)
Pop Song Piracy. Disobedient Music Distribution since 1929 von Barry Kernfeld Chicago 2011 (University of Chicago Press) 273 Seiten, 29 US-Dollar ISBN: 978-0-226-43183-3 Die Diskussion über Piraterie im Musikbereich scheint ein Kapitel aktuellster urheberrechtlicher Diskurse zu sein, ein Kapitel des Internetzeitalters. Tatsächlich aber ist die aktuelle Diskussion nur die zeitgemäße Ausprägung eines Themas, dass die Musikgeschichte des 20sten Jahrhunderts durchzieht, seitdem man von Popmusik sprechen kann, wie Barry Kernfeld in diesem Buch zeigt. Im April 1930, beginnt Kernfeld, habe die Polizei eine 80-jährige Frau vor Gericht gebracht, die beschuldigt wurde, urheberrechtlich geschützte Song-Hits vervielfältigt und für 5 Cents pro Exemplar verkauft zu haben. Der Verkauf illegal reproduzierter Songtexte, impliziert Kernfeld dabei, ist nur eine andere Facette dessen, was wir dieser Tage in Internet-Tauschbörsen sehen, die Verbreitung nämlich eigentlich urheberrechtlich geschützter Werke zu eigenem Nutzen, ob dieser nun kommerzieller oder nicht-kommerzieller Natur ist. Zwischen den beiden Extremen finden sich illegale Schallplattenpressungen, Fakebooks, Fotokopien von Notenmaterial, Piratenradios, illegal kopierte CDs, Bootleg-Konzertmitschnitte. Kernfeld erkennt wiederkehrende Faktoren in den jeweiligen Urheberrechtsbrüchen: Berühmte Musiker und mächtige Musikfirmen wollten alleinige Kontrolle über ihre Songs besitzen und andere daran hindern, diese zu verteilen, ohne dafür zu bezahlen. Andere wollten genau dies tun, sie also benutzen ohne zu zahlen und entwickeln Wege, die die Monopolisten nicht vorhersehen. Aus diesen widerstrebenden Interessen entwickelt sich ein Streit, der unterschiedliche Formen annimmt, aber meist im selben Ergebnis mündet: die Monopolisten müssen klein beigeben. Kernfeld untersucht die Praktiken, die irgendwo zwischen rechtlichem Ungehorsam und Kriminalität angesiedelt sind, für die unterschiedlichen Vertriebswege von Musik. Im ersten Teil beschäftigt er sich mit gedruckter Musik, beschreibt das nahezu perfekte Vertriebssystem der populären Musikindustrie der ausgehenden 1920er Jahre, nennt konkrete Fälle von Noten-Bootlegs und beschreibt die Reaktion der Industrie wie der Gesetzgebung darauf. Vor allem beschreibt er, wie die Musikindustrie irgendwann, als sie merkte, dass sie der Bootlegs nicht Herr wurde, eigene, legale Veröffentlichungen auf den Markt brachte, die den Bedarf der Bootlegs aufnahm und abdeckte. Ein Unterkapitel dieses ersten Teils widmet sich der Fake Books, denen Kernfeld bereits eine frühere Publikation gewidmet hatte. Er beschreibt, wie die ersten Popsong- dann die ersten Jazz-Fakebooks auf den Markt kamen, welchen Einfluss die Einführung des Fotokopierers hatte, wie die Rechtsprechung das Fotokopieren auch im musikpädagogischen Bereich beurteilte, wie es Ende der 1970er Jahre zu einer geradezu moralischen Kampagne gegen Urheberrechtsverletzungen im Musikbereich kam und wie sich trotz teilweise heftiger Verurteilungen das Problem bis heute gehalten habe. Ein zweiter Teil seines Buchs beschäftigt sich mit dem Thema der Radiopiraterie. Hier beschreibt Kernfeld die Piratensender, die sich in den späten 1950er Jahren in Skandinavien etablierten, er untersucht Rundfunkmonopole in verschiedenen Ländern und den Versuch, diese zu durchbrechen, aber auch die rechtliche Reaktion auf Piratensender. Teil Drei seines Buchs widmet sich der Piraterie im Bereich der Schallplatten und Tonaufzeichnung. Auch hier beschreibt Kernfeld die grundsätzliche rechtliche Lage und die unterschiedlichen Methoden der Plattenpiraterie seit den Mitt-1940er Jahren. Anfangs waren es illegale Plattenpressungen; später illegale Bandkopien, Bootleg-Platten, die als „nicht-authorisierte Neuveröffentlichungen“ verkauft wurden, illegale digitale Kopien von CDs, schließlich das Song-Sharing oder File-Sharing jüngster Zeit. Kernfelds Buch erzählt eine überaus spannende Geschichte, in der die Urheberrechtsverletzungen in eine Art Marktkontext gesetzt werden, um aus ihnen durchaus auch ein Instrument der Marktentwicklung abzuleiten – letzten Endes, so zeigt er, führte Musikpiraterie dazu, dass sich die in ihren Vertriebsmethoden träge Musikindustrie bewegen musste, um dem Bedarf der Musikhörer sowohl in ihren Vertriebswegen wie auch bei den Kosten entgegenzukommen. Vor allem zeigt Kernfeld, dass hinter all dem sich wiederholende Muster zeigen, so dass eigentlich niemand in der Musikindustrie sich beklagen dürfte, das hätte man ja nicht ahnen können. Augen und Ohren auf, ist letztlich sein Plädoyer, denn in der Musikpiraterie steckt in der Regel jeweils ein Hinweis auf innovative Produkte oder Vertriebswege, die die Industrie selbst fast verschlafen hätte. Wolfram Knauer (August 2012)
The Wandering Who? A Study of Jewish Identity Politics von Gilad Atzmon Winchester 2011 (zero books) 202 Seiten, 8,99 Britische Pfund ISBN: 978-1-84694-875-6 Gilad Atzmon ist alles, nur nicht maulfaul. Er ist bekannt dafür, seine Meinung zu sagen, keinem Streit aus dem Weg zu gehen. Er ist ein Mann des Wortes, ein glänzender Rhetoriker, den Widerspruch beflügelt, der es liebt, Argumente auszutauschen, seine Diskussionspartner auf logische Fehler in ihren Argumenten hinzuweisen. Er ist kein bequemer Mann. Ein wunderbarer Musiker übrigens, ein Saxophonist, der die musikalischen Lehren Charlie Parkers befolgt und sie mit den Erfahrungen jüdischer wie arabischer Musik seiner israelischen Heimat verbunden hat. Als Künstler aber sieht er sich eben nicht nur als stiller Musiker, sondern legt Wert auf seine Meinung, legt Wert auf seine Herkunft und darauf, sein Heimatland Israel auf seine politischen, ethischen und moralischen Grundsätze hin abzuklopfen und heftigst zu kritisieren. „The Wandering Who?“ ist kein Jazzbuch, sondern eine „Studie jüdischer Identitätspolitik“, wie Gilad Atzmon sein Buch im Untertitel nennt. Sein Vorwort ist dabei das autobiographischste aller Kapitel. Atzmon erzählt von seinem charismatischen ultra-zionistischen Großvater, vom ersten Jazz, den er im Radio hörte, Charlie Parker mit Strings, der ihn dazu brachte, sich ein Saxophon zuzulegen. Er erzählt davon, wie er sich dieser Musik näherte, wie er sie erlernte und wie die Musik für ihn wichtiger wurde als der Wehrdienst, den er während des israelisch-libanesichen Kriegs ausübte. Er beschreibt seine zunehmende Politisierung, die sich erst in Skepsis, dann in Ärger äußerte und schließlich dazu führte, dass er sein Land 1993 verließ, um in London Philosophie zu studieren. Innerhalb einer Woche ergatterte er im Irish Pub Black Lion einen Gig, der den Beginn seiner internationalen Musikkarriere markierte. Atzmon erzählt, wie er in seinen Mitt-Dreißigern die arabische Musik, die er bislang völlig ignoriert hatte, für sich entdeckte. Die komplexen melodischen Linien, die mikrotonalen Verschiebungen in der Musik, meisterte er allerdings erst, als er die Musik so anging, wie man gemeinhin den Jazz angeht: auf sein inneres Ohr horchend. Das war’s dann aber auch mit dem Jazz in diesem Buch. Außer im Vorwort liest man im Hauptteil nicht mehr vom Jazz. Atzmon thematisiert Judaismus, Semitismus, Antisemitismus, Zionismus, sinniert über Erfolg und Misserfolg der amerikanischen Nahostpolitik. Zwischendrin stolpert man etwas unsanft über seine Interpretation des Holocaust als (immerhin auch von ihm in Anführungsstrichen gesetzten) „zionistischen Sieg“, nämlich einer argumentativen Verifikation zionistischer Theorien. Hier wird Atzmon in all seiner Streitlust zum Stammtischphilosophen, der einerseits auf die Komplexität der Zusammenhänge verweist, um sie auf andererseits zugleich in Schwarz und Weiß aufzuteilen. Er schreibt über Glauben und Ideologie, über Identität und Authentizität, über das Verhältnis jüdischer Identität zu ihrer nicht-jüdischen Umgebung. Seine Wortspiele sind geschmacklich fragwürdig, etwa wenn er ein Kapitel über Israels Landanspruch die Überschrift „Swindler’s List“ gibt. Atzmon ist … nun, zumindest ein Verbalaktivist erster Güte. Mit seiner Liebe zur Polarisierung, die auch bei seinem Vortrag beim Darmstädter Jazzforum 2007 zu erleben war, ruft er zumindest bei denen oft genug Empörung hervor, die sich auf seine Art der Diskussion einlassen. Ob es tatsächlich „Mut“ ist, wie er sich auf dem Buchcover attestieren lässt, die Weltpolitik gleichzeitig als komplexes Gebilde und als einfache Gleichung zu interpretieren, soll anderen überlassen bleiben. Atzmons grundsätzliche Überlegungen zur Identität sind insbesondere da interessant, wo sie auch seine musikalische Identität betreffen oder erklären helfen. Hierzu hatte er in seinem Darmstädter Vortrag, abgedruckt in den Darmstädter Beiträgen zur Jazzforschung mit dem Titel „Begegnungen. The World Meets Jazz“ allerdings erheblich mehr gesagt. Aber „The Wandering Who?“ ist auch kein Jazzbuch, sondern eine bewusst polemische Stellungnahme zu allgemeinen weltpolitischen Fragen. Wolfram Knauer (August 2012)
Creative License. The Law and Culture of Digital Sampling von Kembrew McLeod & Peter DiCola Durham 2011 (Duke University Press) 326 Seiten, 15,99 US-Dolalr ISBN: 978-0-8223-4875-7 Wenn man es mit dem Geld, auch dem anderer Leute, nicht ganz so genau nimmt, nennt man das im Englischen schon mal euphemistisch „creative banking“. Das Buch „Creative License“ spielt zumindest auf die Problematik zwischen kreativer Freiheit und urheberrechtlichem Schutz an, der durch Samplingprojekte der letzten 20 Jahre immer wieder in den Mittelpunkt der Diskussion gestellt wird. Kembrew McLeod und Peter DiCola beginnen ihr Buch mit dem Beispiel der Band Girl Talk und ihres Albums „Feed the Animals“ von 2008, für das Remixer Gregg Gillis sich über dreihundert Schnipsel aus der auf Tonträger aufgenommenen Musikgeschichte bediente. Jeder einzelne Schnipsel sei so kurz gewesen, dass er selbst das als Zitat unter Bedingungen der Fair-Use-Regeln angesehen habe. Wie also funktioniert Sampling? Welche Kontroversen kann es auslösen? Lassen sich Samples selbst urheberrechtlich schützen? Schränkt das Copyright die künstlerische Freiheit ein? All dies sind Fragen, mit denen sich McLeod und DiCola ausführlich beschäftigen. Ihr erstes Kapitel nähert sich dem „golden age of sampling“, den 1980er Jahren also, in denen Bands wie die Beastie Boys oder Public Enemy für ihre Sampling-Hits bewundert wurden. Als Ende der 1980er Jahre HipHop zu einem großen Geschäft wurde, wurde die Technik des Sampling erstmals ethisch in Frage gestellt. Im zweiten Kapitel blättern die Autoren eine rechtliche wie kulturelle Geschichte der Soundcollage auf und berücksichtigen dabei nicht nur die Popmusik, sondern auch die Avantgarde, also Komponisten wie John Cage, Pierre Schaeffer oder Karlheinz Stockhausen. Schon Brahms hätte sich bei Beethoven bedient, führen sie die Idee des musikalischen Zitats in die Diskussion ein, und Stravinski habe Anleihen bei traditioneller Volksmusik gemacht. Jazz, Blues und HipHop seien kulturelle Praktiken gewesen, die Einflüsse aus allen möglichen Richtungen in sich aufnahmen. Sie beschreiben die Anfänge des digitalen Sampling, die Disco-Ära und die Mode des Remixes. Und sie gehen auf die neuen technologischen Möglichkeiten ein, die zuvor als selbstverständlich angesehene Kreativitätskonzepte in Frage stellten. „Pop Eats Itself“, fassen sie zusammen und kommen damit in Kapitel drei zu den einander widerstreitenden Interessen in der Lizensierung von Samples. Sie erklären die Rechtslage, fragen, wohin Urheberrechtshonorare fließen und geben einige konkrete Beispiele. Sampling, schreiben sie in einem Unterkapitel, rege durchaus auch den Dialog zwischen den musikalischen Generationen an. Das Thema außereuropäischer Musik wird genauso gestreift, hier am Beispiel von Brian Enos und David Byrnes Benutzung diverser „exotischer „Sängerinnen und Sänger. Die Autoren beschreiben Streitfälle und die Skepsis von Urhebern, ob es sich wohl lohnen würde zu klagen. Sie zitieren schließlich auch betroffene Musiker und geben deren Haltung wieder. Kapitel 4 widmet sich Gerichtsverfahren, die sich mit Samplingfällen auseinanderzusetzen hatten und den Auswirkungen von Urteilen auf die Samplingpraxis. Wie also soll man es richtig machen, welche Wege zum korrekten Umgang mit Samples gibt es, fragen die Autoren in Kapitel 5 und stellen sogenannte „sampling clerarance houses“ vor, erklären auch den Vorteil einer solchen rechtlichen Abklärung. Ihr sechstes Kapitel beschäftigt sich mit den Konsequenzen eines ordentlichen Sampling-Clearance-Verfahrens für den kreativen Prozess, zeigt Auswege auf, wenn eine Clearance nicht geklappt hat (Transformieren oder Verfremden) und nennt Zahlen: die nämlich der Kosten für eine regelgerechte Sampling Clearance. Im letzten Kapitel schließlich skizzieren McLeod und DiCola eine mögliche Reform der Rechtslage, die allen Seiten gerecht werden solle, den Autoren auf der einen Seite nicht ihre Rechte streitig machen, den kreativen Samplern auf der anderen Seite nicht ihre Kreativität beschneiden solle. Jazz spielt in „Creative License“ nur am Rande eine Rolle – bekannte Fälle aus dem Jazzbereich, etwa James Newton oder Herbie Hancock, werden nicht angeführt. Dennoch systematisiert das Buch eine allgegenwärtige musikalische Technik, die seit langem auch von Jazzmusikern oder von Musikern zwischen den Stilen genutzt wird. Das alles ist höchst anschaulich geschrieben und für denjenigen, der mit offenen Ohren etwas über Probleme aktueller Musik wissen will, eine überaus sinnvolle Lektüre. Wolfram Knauer (August 2012)
Brazilian Popular Music and Citizenship herausgegeben von Idelber Avelar & Christopher Dunn Durham 2011 (Duke University Press) 364 Seiten, 16,99 US-Dollar ISBN: 978-0-8223-4906-8 Brasiliens Musikgeschichte blickt auf ähnlich komplexe kulturelle Verbindungen zurück wie der Jazz. Europäische und afrikanische Einflüsse, politische und soziale Bedeutungen von Musik sind spannende musikwissenschaftliche Studienfelder, denen dieses Buch sich widmet. Es schlägt dabei den Bogen von der politischen Funktion des Samba in den 1930er Jahren über den Status der Música Popular Brasileira in den 1960er und 1970er Jahren, Rock in den 1980ern, die schwarze musikalische Identität in Salvador da Bahia, HipHop in São Paulo und Funk in Rio de Janeiro. Die meisten der Autoren sind Anthropologen, Soziologen, Literaturwissenschaftler, was den Gesamtansatz des Buchs prägt: Eine analytische Herangehensweise findet sich nur in wenigen Kapiteln. Das Grundthema des Buchs ist dabei der Anspruch auf Bürgerrechte, den sich die Menschen in Brasilien mithilfe der Musik einforderten. Schwarze und gemischte Brasilianer wurden dank der Musik erstmals in der öffentlichen Aufmerksamkeit sichtbar; Musik kodierte Hoffnungen und Ängste während der Militärdiktatur der 1960er und 1970er Jahre; Musik half bei der Rekonstruktion eines demokratischen, selbstbewussten Brasiliens. Wir erfahren vom brasilianischen Bildungssystem und Heitor Villa-Lobos’s Massenchören, von der Auseinandersetzung des Gitarristen und Sängers Tom Zé mit brasilianischer Bürgerschaft, von der sozialen Funktion des HipHop in den Straßen von São Paulo, von der Re-Afrikanisierung brasilianischer Kultur in Salvador da Bahia und vielem mehr. „Brazilian Popular Music and Citizenship“ will dabei keine umfassende Darstellung brasilianischer Musikkultur sein, sondern einen wissenschaftlich fundierten Einblick bieten in musikalische und gesellschaftliche Aspekte. Wolfram Knauer (August 2012)
Birds of Fire. Jazz, Rock, Funk, and the Creation of Fusion von Kevin Fellesz Durham 2011 (Duke University Press) 300 Seiten, 16,99 US-Dollar ISBN: 978-0-8223-5047-7 1969, beginnt Kevin Fellesz sein Buch, engagierte George Wein zum ersten mal Rockbands beim Newport Jazz Festival, um dadurch mehr junge Leute anzuziehen. Der Plan ging auf – zu gut allerdings, denn es kamen so viele Fans von Jethro Tull, Led Zeppelin, Sly and the Family Stone, dass die Tickets ausgingen und die Fans einfach die Zäune überrannten. Im Jahr darauf verpflichtete Wein mit den Allman Brothers eine zur Zeit der Buchung noch relativ unbekannte Band, die aber die Hitparaden rechtzeitig vor dem Festival stürmte und zu noch tumulthafteren Szenen führte. Die Stadtverwaltung von Newport war es leid und sagte das Festival 1971 daraufhin ab. Waren Rock und Jazz also zwei nicht nur in der Publikumserwartung, sondern auch in der Musik selbst so grundverschiedene Genres, dass sie beim besten Willen nicht zusammenzubringen waren? Die Musiker scherten sich nicht um stilistische Einordnungen und experimentierten einfach. Dabei stellten sie die Regeln ihres jeweiligen Genres durchaus in Frage und betonten ihre Unabhängigkeit von solchen Einengungen. Fusionmusiker passen weder ins Raster der Jazz- noch der Rockgeschichtsschreibung. Sie saßen zwischen den Stühlen. Im ersten Kapitel seines Buchs fragt Fellesz nach dem Begriff der Fusion selbst und nach den Konnotationen dieses Begriffs. Wofür also steht „Fusion“? Was wird hier miteinander verschmolzen? Welchen unterschiedlichen ästhetischen Regeln gehorchen die Elemente, die in diese Musikrichtung einfließen? Im zweiten Kapitel beschreibt er die Entwicklung der Fusionmusik in den 1970er Jahren und benennt die wichtigsten Bands und Musiker des Genres. Sein drittes Kapitel widmet sich den Beweggründen jener Musiker, die es in den späten 1960er Jahren als wichtig erachteten, eine solche Fusion zu generieren. In den vier nächsten Kapiteln beschäftigt sich Fellesz dann mit je einem konkreten Beispiel: Tony Williams in seinen Aufnahmen mit der Gruppe Lifetime, John McLaughlin zwischen Mahavishnu Orchestra und Shakti, Joni Mitchell sowie Herbie Hancock, um unterschiedliche musikalische wie ästhetische Ansätze aufzuzeigen sowie Nähe oder Entfernung vom Jazz zu bezeichnen. Fellesz benennt dabei Praktiken aus Jazz und Rock, diskutiert ihre ästhetischen wie rezeptionsspezifischen Implikationen, fragt nach Öffnungen, die weit über die direkt beteiligten Genres hinausgehen (also über Jazz und Rock eben auch weltmusikalische Einflüsse mit einbezogen) und diskutiert die Faszination, die einzelne Musiker aus der Rock- und Popmusiker zum Jazz hatten und die sie dazu bewogen, Jazzmusiker in ihre Projekte einzubeziehen. Am Beispiel Hancock geht er auch auf dessen umstrittene Verwendung von Pygmäenmusik und urheberrechtliche Aspekte in Bezug auf Fusionen mit ethnischer Musik ein. Im abschließenden Kapitel diskutiert er Hancocks „The Joni Letters“ und fragt dabei, welche Konsequenzen die Fusion der 1970er Jahre für die Entwicklung der heutigen populären Musik hat. Felleszs Buch analysiert die Fusion aus dem Blickwinkel des interdisziplinären Musikwissenschaftlers – das Buch geht auf seine 2004 fertig gestellte Doktorarbeit an der University of California zurück. Das macht es für den Laien stellenweise zu einer mühsamen Lektüre – etwa, wenn Fellesz einen Begriff wie „Genre“ diskutiert oder wenn er dann doch reichlich akademische Schattenkämpfe mit anderen Autoren ausficht. Liest man über diese dissertationsspezifischen Stilfragen hinweg, bleibt allerdings eine ausgewogene Annäherung an eine letzten Endes genau deshalb wichtige Periode der Jazzgeschichte, weil sie nicht nur auf das eigene Genre bezogen und auch deshalb außerhalb des Genres von Einfluss war. Wolfram Knauer (Juli 2012)
Jazz und Literatur in der DDR. Eine Untersuchung ausgewählter Beispiele von Michael Dörfel München 2011 (AVM) 118 Seiten, 34,90 Euro ISBN: 978-3-86924-013-8 Jazz- und Literaturprojekte hatten in den 1950er Jahren in Westdeutschland, bald aber auch in der DDR Konjunktur, vielleicht ja, wie der Rezensent ins einem Beitrag zum 11. Darmstädter Jazzforum mutmaßt, weil die Dichtung ein probater Ersatz für das war, was andernorts mit folkloristischen musikalischen Vokabeln versucht wurde: eine Aneignung des afro-amerikanischen Jazz durch Einbeziehung eigener kultureller Versatzstücke. Michael Dörfel stellt sich in seinem Buch die Frage, wie die Jazz-und-Literatur-Projekte in der DDR funktionierten. Konkret untersucht Dörfel im ersten Kapitel Jazz- und Lyrik-Projekten wie: „Negerlyrik – Negermusik“ von 1962, Übersetzungen und Nachdichtungen afrikanischer und afro-amerikanischer Texte von Janheinz Jahn und Stephan Hermlin mit Musik der Jazz-Optimisten; „Ströme. Negerlyrik aus zwei Kontinenten“ von 1984 mit Texten zwischen Senghor und Langston Hughes und Musik einer Studioband unter Leitung von Michael Fuchs; die LPs „Jazz und Lyrik“ / „Lyrik – Jazz – Prosa“ von 1964/1965 mit internationalen Texten zwischen Tucholsky und Biermann und Musik der Jazz-Optimisten; sowie Jens Gerlachs „Jazz. Gedichte“ von 1966/1968 mit Originalaufnahmen amerikanischer Jazz- und Blueskünstler. Dabei beschränkt er sich weitgehend auf eine Beschreibung der Texte und ihren Bezug zur verwandten Musik, ohne eine eingehende, den Kontext einbeziehende Analyse vorzunehmen. Ein weiteres Kapitel widmet sich solchen Romanen, die den Jazz zumindest als Teilthema nutzen. Hier fragt eine Annäherung danach, welche – insbesondere auch außermusikalische – Bedeutung dem Jazz in den Texten zugemessen wird. Untersuchungsobjekte sind Ulrich Plenzdorffs „Die neuen Leiden des jungen W.“ (1972), Günter Kunerts „Der andere Planet. Ansichten von Amerika“ (1974), Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand“ (1974/1998) sowie Fritz Rudolf Fries‘ „Der Weg nach Oobliadooh“ (1966). Zusammenfassend stellt Dörfel fest, dass Jazz in literarischer Verwendung meist einen oppositionellen Standpunkt signalisiert, eine individuelle, private Nische, Manifestation von Phantasie und Kreativität. Nichts grundlegend Neues also, und im Fokus auf die Literatur vielleicht ein etwas einseitiger Ansatz. Der Leser wird auf jeden Fall neugierig insbesondere auf die Jazz-und-Lyrik-Aufnahmen, die der Autor im Anhang auch diskographisch dokumentiert. Ebenfalls im Anhang: ein aufschlussreiches Faksimile einer Aktennotiz des Ministeriums für Kultur, das den hilflosen Umgang des Staates mit der Einbeziehung des Gedichts „Ballade vom Briefträger William L. Moore aus Baltimore“ von Wolf Biermann auf der Platte „Jazz und Lyrik“ dokumentiert. Wolfram Knauer (Jul 2012)
Musical Echoes. South African Women Thinking in Jazz von Carol Ann Muller & Sathima Bea Benjamin Durham/NC 2011 (Duke University Press) 348 Seiten, 16,99 Britische Pfund ISBN: 978-0-8223-4914-3 Seit dem Erfolg Dollar Brands weiß die Jazzwelt, dass Südafrika dieser Musik einen ganz eigenen Zungenschlag beizugeben hat. Die Sängerin Sathima Bea Benjamin verließ zusammen mit Dollar Brand 1962 ihr Heimatland, um der Apartheid zu entkommen und in Europa zu leben. In ihrer Biographie schildern Benjamin und Carol Ann Muller die Situation als Musiker in Südafrika, ihren Weg zum und im Jazz. Muller stammt wie Benjamin aus Südafrika und ging wie Benjamin nach New York – während Benjamin dies auf Anraten Duke Ellingtons tat, der meinte, dort könnten sie und Brand mit der Musik, die sie machten, am besten überleben, ging Muller zum Studium in den Big Apple. Als Muller Benjamin in den frühen 1990er Jahren kennenlernte, war sie von der Geschichte der älteren Freundin fasziniert und schlug ihr vor, an einem gemeinsamen Buch zu arbeiten. Es dauerte noch 15 Jahre, bis das Buch fertig wurde, das die Lektüre lohnt als eine faszinierende Mischung aus Autobiographie und sozialgeschichtlicher Reflexion der autobiographischen Erfahrungen. Die 1936 geborene Sathima Bea Benjamin erzählt über ihre Kindheit und Jugend in Kapstadt, ihre Familie, erste Kontakte mit Musik, Klassik, leichtem Jazz, über Musik in der Missionsschule, im Radio, im Kino. Muller setzt ihre Erinnerungen dabei immer wieder in den Kontext der starren Gesellschaftsnormen Südafrikas, fragt nach den besonderen Konnotationen von Jazz im Apartheidregime. Wo man weit später einen deutlichen südafrikanischen Jazzstil konstatiert, da war sich in den 1950er Jahren niemand eines solchen lokalen Musikdialektes bewusst, schreibt Muller. Sie beschreibt die verschiedenen Szenen, in denen sich Benjamin bewegte, Szenen, die vor allem durch Klassen- und Hautfarbenunterschiede markiert waren. Muller nennt Bands und beschreibt Benjamins erste Engagements, etwa in einer „Coloured Jazz and Variety“-Show. Anfangs arbeitete die Sängerin außerdem als Lehrerin, um Geld zu verdienen, mehr und mehr nahmen dann die Auftritte den Hauptteil ihrer Arbeit ein. Ende der 1950er Jahre traf Benjamin auf den Pianisten Dollar Brand, der sie begleitete, sich bald auch in sie verliebte. Benjamin gab ihm Geld, um die Dollar Brand School of Music zu starten. Anfang der 1960er Jahren spielten die beiden regelmäßig in den Clubs von Kapstadt und Johannesburg, doch nach Unruhen verbot die Regierung im Jahr 1962 Aufführungen gemischter Ensembles, was insbesondere Jazzmusiker traf und auch für Brand und Benjamin die Arbeitsmöglichkeiten stark einschränkte. Als die beiden 1962 die Möglichkeit erhielten in die Schweiz zu reisen, ergriffen sie die Chance und gingen ins Exil, wie in derselben Zeit auch Miriam Makeba, Hugh Masekela und andere Musiker. In Europa trafen sie Duke Ellington, der sie unter seine Fittiche nahm, Brand mit einem von ihm protegierten Album zu seinem internationalen Durchbruch verhalf und die Karriere der beiden auch sonst anschob und den Brand als „wie mein wirklicher Großvater“ beschreibt, als „den Dorfweisen“. Ein Exkurs des Buchs befasst sich mit der Rezeption Ellingtons in Südafrika, ein weiterer mit dem Einfluss Billie Holidays auf den Stil der Sängerin Sathima Bea Benjamin. Ellington hatte auch ein Album mit Benjamin produziert, dass allerdings erst drei Jahrzehnte später veröffentlicht wurde. Das Buch beschreibt die Umstände der Session und enthält eine Transkription der Studiogespräche zwischen Benjamin und Ellington. Brand und Benjamin bereisten Europa mit anderen südafrikanischen Exilmusikern und reisten 1965 in die USA, wo sie beim Newport Jazz Festival auftraten und dann – auf Anraten Ellingtons – in New York blieben. Für die Geburt ihres ersten Kinds reiste Benjamin dann aber nach Swaziland, weil sie ihr Kind unbedingt auf afrikanischem Boden zur Welt bringen wollte. Das ausführliche Kapitel über Migration endet mit verschiedenen Aspekten der Exil-Erfahrung für südafrikanische Musiker. Ein eigenes Kapitel ist den New Yorker Erfahrungen der Sängerin gewidmet. Mit einem Empfehlungsschreiben von Ruth Ellington ausgestattet zogen Brand und Benjamin ins legendäre Hotel Chelsea. Sie gründeten ihr eigenes Plattenlabel, Ekapa Records, und unterstützten offen die südafrikanische Befreiungsbewegung. Benjamin reflektiert über ihre Beziehung zur Stadt New York und vergleicht das Leben dort mit dem Leben in Kapstadt, Zürich und London. Muller diskutiert in diesem Kapitel außerdem anhand Benjamins eigener Erfahrungen Gender-Aspekte im Jazz. Ein weiteres Kapitel ist mit „Returning Home“ überschrieben und behandelt Benjamins Album „Cape Town Love“, das sie 1999 in ihrer Heimatstadt aufgenommen hatte. Die letzten beiden Kapitel bringen uns in die Gegenwart sowohl Benjamins wie auch Mullers und fassen noch einmal die Schlussfolgerungen aus den Lebenserfahrungen der Sängerin und den Forschungserfahrungen der Co-Autorin zusammen. „Musical Echos“ beschreitet einen für Autobiographien eher ungewöhnlichen Weg: Es erzählt auf der einen Seite die Geschichte der Sängerin Sathima Bea Benjamin, reflektiert dabei auf der anderen Seite aber laufend auf den Kontext sowohl der Erlebnisse der Protagonistin als auch aktueller Forschungsdiskurse. Es ist damit neben einer Biographie auch ein ernst zu nehmender Beitrag zur Forschung des Jazz und seiner weltweiten Rezeption. Wolfram Knauer (Juli 2012)
grubenklang.reloaded herausgegeben von Georg Graewe Berlin 2011 (Random Acoustics) 116 Seiten, beigelegte DVD, 45 Euro Aus Anlass des Festivals Ruhr.2010 wurde der Pianist und Komponist Georg Graewe eingeladen, sein GrubenKlangOrchester wiederaufleben zu lassen, das 16 Jahre zuvor eigentlich aufgelöst worden war. Da ihm nicht danach war, nur in der Vergangenheit zu schwelgen, formierte er das Ensemble einfach neu, um „den aktuellen Stand meines Komponierens“ widerzuspiegeln. Außerdem lud er Kollegen aus Musik, Literatur und anderen kreativen Genres ein, das Jahr mitzugestalten. Heraus kam eine Veranstaltungsreihe an unterschiedlichsten Orten des Ruhrgebiets, von denen viele Konzerte als Audio- und Videodokumente mitgeschnitten wurden. Die insgesamt 27 Konzerte umfassten Auftritte Graewes als Soloist, mit Kollegen oder dem GrubenKlangOrchester, aber auch etwa eine Klaviersolo-Konzertreihe. Das vorliegende Buch dokumentiert die Idee des Festivals sowie auf der CD Ausschnitte aus den das ganze Jahr über stattgefundenen Konzerten. In den Texten, größtenteils zweisprachig auf Deutsch und Englisch, finden sich Annäherungen sowohl an die Idee des GrubenKlangOrchesters wie auch an die Neuformation der Band, etwa in Brian Mortons Auslassung über das „Workshop“-hafte des Konzepts oder im Gespräch, das Johannes Fischer mit Graewe, der Dichterin Anja Utler und der Sängerin Almut Kühne über ihr gemeinsames Projekt führt. Morton macht sich in einem weiteren Kapitel Gedanken über die Idee des Klavierspiels, seines Klangs und seiner Behandlung im 21sten Jahrhundert. Kai Stefan Lothwesen nähert sich in einem kurzen Text der Position des Komponisten Georg Graewe an, indem er dessen Arbeit auf die Begriffe „sonic fiction“, „frictions“ und „dictions“ abklopft. Musikerkollege Steve Beresford wird einem Blindfoldtest unterzogen, bei dem er Stücke aus der beiliegenden DVD kommentiert. Und Morton kommt noch ein drittes Mal zu Wort mit einem Artikel über die Erzählkraft in Graewes Arbeit. Daneben gibt es jede Menge an Fotos, Gedichten, Zeichnungen, Partiturseiten und anderen Dokumenten, die Graewes kreatives Schaffen für Ruhr.2010 dokumentieren. Die DVD schließlich enthält Videos des GrubenKlangOrchesters (mit drei Titeln), eines Solorecitals Graewes, seines Duos mit der Sängerin Almut Kühne, seines ersten Streichquartetts (2. Satz), vorgetragen vom Koehne Quartet, sowie seiner Komposition „Alle kennen meine Visage“ nach Tagebucheintragungen Albert Einsteins. In den Audiotracks finden sich Ausschnitte aus den Konzerten, radiogerecht zusammengeschnitten sowie von kommentiert von Nina Schröder (über „Piano Today mit Soloaufnahmen von Keith Tippett, Fred van Hove, Denman Maroney, Michael Wilhelmi, Christian Rieger, Sarah Nicholls, Craig Taborn, Marilyn Crispell, Oskar Aichinger und Johanna Borchert), Julia Neupert (über Graewes „new generation“-Projekt), Susanna Oldham (über „Ruhrkampf“ mit Aufnahmen unter anderem von Daniel Erdmans Band „Das Kapital“) sowie diverse Mitschnitte der Literatur/Musik-Abende aus der Buchhandlung Napp in Bochum. Alle vier Audiofeatures (durchaus passend „Audio-Magazin“ benannt) haben eine Länge von zwischen 35 Minuten und über anderthalb Stunden und bieten im Bildbereich eine Übersetzung des gelesenen Textes ins Englische bzw. Deutsche. Alles in allem ist „grubenklang.reloaded“ ein beeindruckendes Dokument eines vollen Jahres im kreativen Schaffen des Georg Graewe, das in dieser Präsentation sowohl sinnlich erfassbar wie auch intellektuell durchdringbar wird und dem Leser/Hörer/Betrachter bei alledem trotzdem genügend Freiraum zu eigenen Erfahrungen bietet. Wolfram Knauer (Juli 2012)
Boom’s Blues. Muziek, journalistiek en vriendschap in oorlogstijd von Wim Verbei Haarlem/Netherlands 2011 (In de Knipscheer) 283 Seiten, 1 beiheftende CD, 34,50 Euro ISBN: 978-90-6265-667-7 Frans Boom war ein holländischer Sammler und Jazzfan, der Mitte der 1930er Jahre seine Liebe zur afro-amerikanischen Musik entdeckte. Er las De Jazzwereld, die holländische Jazzzeitschrift, die seit 1931 erschien, reiste 1939 zu Duke Ellingtons Konzert im Utrechter Tivoli, freundete sich mit dem Kritiker und Amateur-Musikwissenschaftler Will Gilbert an, der als Redakteur für De Jazzwereld wirkte und 1939 zusammen mit Constantin Poustochkine das Buch Jazzmuziek veröffentlichte. Zugleich sammelte Boom Platten des frühen Jazz und Blues. 1943, also inmitten der deutschen Besatzung der Niederlande, schrieb Boom sein eigenes Buch, das sich mit dem Blues befasste und diesen als satirische Liedform untersuchte. In „Boom’s Blues“ erzählt Wim Verbei im ersten Teil die Geschichte des Musikwissenschafts-Autodidakten Frans Boom, seiner Liebe zu Jazz und Blues und der wechselvollen Geschichte seines Manuskripts. Im zweiten Teil des Buchs ist dann die komplette Untersuchung Booms aus dem Jahr 1943/1945 zu lesen. Die biographischen Kapitel werfen zugleich einen Blick auf die Faszination, die afro-amerikanische Musik in jenen Jahren auf Westeuropa und auch auf die holländische Jazzszene der 1930er und frühen 1940er Jahre ausübte. Der ländliche Blues allerdings, berichtet Verbei, sei in De Jazzwereld kaum vorgekommen. Gilberts Buch Jazzmuziek und seine Korrespondenz mit dem älteren Autoren und Mentor beeinflusste Boom dahin, sich vom Allgemeineren aufs Speziellere zu stürzen und den Blues näher zu untersuchen. Verbei zitiert immer wieder aus der Korrespondenz der beiden Freunde und Kollegen, etwa über Sprache und Slang in afro-amerikanischer Kultur, über idiomatische Wendungen und Sprachbilder in Bluestexten. Auffällig an den Briefen, schreibt Verbei, sei, dass darin nirgends von der deutschen Besatzung die Rede sei, die doch eigentlich das Leben im Land bestimmte. Verbei bringt den Leser kurz auf den Stand der Geschichte, erzählt, wie die Nazis nach kurzem Kampf das Land besetzten und bald sowohl die Politik als auch das Kulturleben bestimmten. Im November 1940 erschien die letzte Ausgabe von De Jazzwereld, in der sich Gilbert bereits gegen den Kunstwert des Jazz stellte. So ganz erklären ließe sich der Wandel in Gilberts Einstellung nicht, meint Verbei und betont noch einmal, dass es in seinen Briefen an Boom nie auch nur die Andeutung nationalsozialistischen Gedankenguts gegeben habe. Gilbert arbeitete in Folge für die Niederländische Musikkammer und formulierte die restriktiven Stilvorschriften für Unterhaltungsorchester, die in einem „Verbot negroider Elemente in Tanz- und Unterhaltungsmusik“ führten (und ihn auch nach dem Krieg zu einer umstrittenen Person unter Jazzfreunden machte). Umso erstaunlicher also, dass Gilbert auch in diesen Jahren mit Boom über einen möglichen Aufsatz zum Blues korrespondierte, über das „profane Negerlied und seine Rituale in Afrika und den Vereinigten Staaten“. Aus dieser Korrespondenz heraus jedenfalls entstand Frans Booms Studie über den Blues. Es gab einzelne Vorbilder und Beispiele, aus denen er sich bedienen konnte, die Anthologie Slave Songs of the United States von 1867 etwa, W.C. Handys Blues – An Anthology von 1926, Winthrop Sargeants Jazz. Hot and Hybrid von 1938 sowie Frederic Ramsey Jr. und Charles Edward Smiths Jazzmen von 1939. Verbei beleuchtet die Diskussionen zwischen Gilbert und Boom, immer vor dem Hintergrund der zur selben Zeit herrschenden deutschen Besatzung der Niederlande. Von daher ist sein Buch auch ein Blick in die Beziehungen zwischen Forschung und System in jenen Jahren. Verbei verfolgt die Entstehung einzelner Argumentationslinien des Buchs aus der Korrespondenz der beiden Autoren heraus, insbesondere die semantischen Erklärungen sexueller Anspielungen in Bluestexten, aber auch die von Boom angestrengte Statistik zur Blues-Form. Ende 1943 war das Manuskript fertig, hätte aber im besetzten Holland nie gedruckt werden können. Verbei verfolgt die beiden Hauptprotagonisten bis zum Kriegsende und in die Nachkriegszeit. Inzwischen waren andere analytische Werke erschienen, etwa Rudi Bleshs Shining Trumpets, und auch Gilberts Jazzmuziek wurde 1947 in zweiter Auflage veröffentlicht. Boom ging Anfang der 1950er Jahre in den diplomatischen Dienst, erst nach Paris, dann nach Jakarta. Dort erkrankte er auf einer entlegenen Insel an Polyomyelitis und verstarb im Juli 1953. Sein Blues-Manuskript landete in den Händen des Jazzkenners Hans Rookmaaker. Während 1955 noch die Mitautorenschaft des umstrittenen Gilberts den Druck des Buchs verhinderte, sollte es 1971 auf Vermittlung des britischen Bluesforscher Paul Oliver nur unter Booms Namen (anglisiert als Frank Boom) im englischen Verlag November Books unter dem Titel Laughing to Keep from Crying erscheinen, was dann aber nie geschah. Das „Making of“, das Verbei in Boom’s Blues erzählt, enthält Verweise auf Landes- genauso wie Zeitgeschichte, und ist vor allem deshalb spannend zu lesen, weil man sich laufend die Gespaltenheit aller Beteiligten vor Augen halten muss, mit der diese ein von ihnen als wichtig empfundenes Thema bearbeiteten, obwohl alle politischen Gegebenheiten dagegen standen. Und so ist die Publikation des im Original auf Niederländisch verfassten Manuskripts eine willkommene und insbesondere nach dem Wissen um seine Entstehungsgeschichte hoch willkommene Ergänzung dieses Buchs, das auch sonst reich und aussagekräftig bebildert ist und auf der beiheftenden CD 24 Titel bereithält, die Boom in seinem Manuskript bespricht, sowie einen Ausschnitt aus einer Rundfunksendung von 1947, in der Boom „über Humor und Satire im Jazz“ sinniert. Wolfram Knauer (Juni 2012)
Im Swing gegen den Gleichschritt. Die Jugend, der Jazz und die Nazis von Wolfgang Beyer & Monica Ladurner Salzburg 2011 (Residenz Verlag) 241 Seiten, 21,90 Euro ISBN: 978-3-7017-3218-0 Wolfgang Beyer und Monica Ladurner produzierten 2007 einen Film über Jugendliche, die sich den Regeln der Nazi-Diktatur nicht beugen wollten. Nach Erscheinen des preisgekrönten Films war es ihnen wichtig, ihre Quellen auch schriftlich zu dokumentieren, was sie im vorliegenden Buch taten. Das erste Kapitel ihres Buchs beschäftigt sich mit den österreichischen „Schlurfs“, beschreibt Aussehen und Mode der Jugendlichen, für die der Plattenspieler mit Jazzplatten nur ein Teil ihrer Jugendkultur war. Sie stellen die Örtlichkeiten vor, an denen vor dem und im Krieg in Wien Jazz gemacht wurde. Und sie sprechen mit Günther Schifter, der nicht so sehr Schlurf war als vielmehr Swing-Kid – die Unterscheidungen ließen sich an Modedetails genauso erkennen wie an der Ernsthaftigkeit ihrer Jazzliebe. Das zweite Kapitel betrachtet die swingende Jugendbewegung vor dem Hintergrund der staatlich verordneten Hitlerjugend. Im dritten Kapitel wird die nationalsozialistische Sicht auf den Jazz anhand etlicher zeitgenössischer Quellen dargestellt. Kapitel vier betrachtet die Tanzaspekte der Swingmusik und die Reaktion des Regimes darauf. Im nächsten Kapitel geht es um Sex, die Tatsache also, dass die Jugend, von der hier die Rede ist, gerade im besten Pubertätsalter sich befindet. Ein weiteres Kapitel handelt von den deutschen Swing Kids oder Swing Boys. Die Autoren sprechen mit Wolfgang Sauer, Coco Schumann und Günter Discher und reisen durch das Land: Berlin, Frankfurt und Hamburg. Weiter geht es zur Jazzjugend in der benachbarten Tschechoslowakei; hier sprechen die Autoren unter anderem mit dem bedeutenden Jazzkritiker Lubomir Doruzka. Ein weiteres Kapitel schließlich blickt nach Frankreich, wo die Zazous oder die Petits Swings aktiv waren. Die Nazis wetterten gegen den Jazz, aber die Swingfans schauten sich die ihre Musik diffamierenden Propagandafilme gerade wegen der Musik an, die da schlecht gemacht wurde, genauso wie andere in die Ausstellung „Entartete Kunst“ gingen, um die Kunst zu sehen, die offiziell verboten war. Irgendwann wurde es den Nazis zu bunt und sie schritt gegen die swingenden Jugendbewegungen ein. Anhand von Quellen und Zeitzeugenberichten zeigen die Autoren, welche Maßnahmen ergriffen wurden und wie die Jazzer darauf reagierten. Zum Schluss gibt es einige Beispiele von Jugendlichen, die nicht nur durch ihren Musikgeschmack, sondern auch in ganz konkreten Aktionen Widerstand gegen das System leisteten. „Im Swing gegen den Gleichschritt“ ist ein flüssiges Lesebuch über jene dunkle Seite deutscher Geschichte – und daneben eben auch österreichischer, tschechischer und französischer Geschichte. Es ist keine wissenschaftliche Studie, sondern will Stimmungen und Atmosphären vermitteln, sowohl aus der Faszination der Jugendlichen heraus als auch aus der Sicht eines Systems, das nicht zulassen wollte, dass Jugendliche mehr nach Freiheit streben als nach dem staatlich verordneten Gleichschritt. Wolfram Knauer (Mai 2012)
Basis-Diskothek Jazz von Ralf Dombrowski Stuttgart 4/2011 (Reclam Sachbuch) 272 Seiten, 6,40 Euro ISBN: 978-3-15-018657-2 Ralf Dombrowskis Basis“-Diskothek Jazz“ ist mittlerweile in der vierten Auflage erschienen. Die Sammlung wichtiger Aufnahmen der Jazzgeschichte erweist sich als sehr brauchbarer Leitfaden für Jazzfreunde und solche, die es werden wollen. Dombrowski diskutiert die Platten, die er vorstellt, sowohl aus der Situation der Musiker heraus wie auch ihre Bedeutung für die Jazzgeschichte und erklärt nebenbei, warum er selbst sie für die Aufnahme in sein Büchlein ausgewählt hat. Natürlich hätte er leicht die doppelte Menge an Aufnahmen aussuchen können, schreibt Dombrowski im Vorwort, aber es sollte ja doch ein handliches Buch sein. Über seine Entscheidungen kann man jedenfalls nicht meckern. Sicher wird dem einen oder anderen das eigene Lieblingsalbum fehlen; sicher würde man den einen oder anderen Plattentipp gegen einen anderen austauschen – aber das ist dann meist eher Geschmackssache. Im Großen und Ganzen liegt Dombrowski völlig richtig, und er hat für die vierte Auflage des Buches sogar noch fünf CDs hinzugenommen: Ornette Colemans Pulitzer-ausgezeichnetes „Sound Grammar“, Herbie Hancocks „The River, Joshua Redmans „Compass“, Esbjörn Svenssons „Leucocyte“ sowie Heinz Sauers und Michael Wollnys „Melancolia“. Man ahnt, was bei der 5. oder 6. Auflage mit dabei sein könnte: Wollnys eigenes Trio [em] etwa oder Vijay Iyer zum Beispiel. Wer auch nur einen Teil der hier versammelten Alben im eigenen Plattenschrank hat, der hat jedenfalls einen guten Überblick über die Vielfalt der ersten hundert Jahre Jazzgeschichte. Wolfram Knauer (April 2012)
Sündiges Berlin. Die Zwanziger Jahre. Sex, Rausch, Untergang von Mel Gordon Wittlich 2011 (Index Verlag) 279 Seiten, 1 beiheftende CD, 39,99 Euro ISBN: 978-393687822-6 Die frühe Jazzgeschichte Deutschlands wirkt fast zugedeckt durch die dunkle Ära des Dritten Reichs, in dem der Jazz verfemt und seine Anhänger verfolgt wurden. In den 20er Jahren aber war Deutschland genauso vom Fieber des Jazz gepackt wie alle anderen Länder des westlichen Europas. Und da Jazz vor allem eine Großstadtmusik war, wirkte er in den Metropolen am weitestreichenden, in Paris, London und Berlin. Da Jazz in jenen Jahren zugleich eine Musik zwischen den Stühlen war, in der die Körperlichkeit musikalischer Rhythmen und tanzender Menschen fast ein Synonym war für ungezügelte Sexualität (ob positiv oder negativ bewertet), ist es neben allem Wissen um musikalische Berührungen, um Einflüsse und Aufnahmen auch wichtig zu wissen, in welchen Kreisen der Jazz rezipiert und gehört wurde. Die Welt, die sich der Jazzmode in den 1920er Jahren hingab, war eben nicht nur die von Kennern und Musikern, sondern genauso die der Demimonde, die sich in Bordellen, schummrigen Kaschemmen, schwulen Bars oder in Untergrundzirkeln zwischen Freikörperkultur, Fetischklüngeln, Erotik und Verbrechen bewegte. Von diesen meist verschwiegenen Szenen berichtet das Buch „Sündiges Berlin“ des amerikanischen Theaterwissenschaftlers Mel Gordon, der 1994 ein Theaterstück für Nina Hagen mit dem Titel „Die sieben Süchte und fünf Berufe der Anita Berber“ plante, eine Schau um Musik von Weill und Hollaender, erotische Zeichnungen und pornographische Tänzen. Die Recherche dafür erwies sich als schwieriger als gedacht. Gordons Jagdeifer jedoch war geweckt, er nutzte private Kontakte in Europa und hatte innerhalb von vier Monaten jede Menge an bizarrem Material zusammen, das ein ganzes Buch füllen könnte. Was er dann auch tat… Prüde sollte man also nicht sein, wenn man in diesem Buch blättert, das im Coffeetable-Format daherkommt und in dem nackte Brüste und erigierte Penisse noch eher die harmloseren Abbildungen sind. Das Foto einer Selbststrangulierung ist da zu sehen, eine „therapeutische Zeichnung eines inhaftierten Vergewaltigers“, eine Selbstbefriedigungsmaschine für Frauen, die Zeichnung einer mit Eisendornen gespickten Klobrille, genannt „Der Sklaventhron“, Bilder von Flagellanten und Haarfetischisten und vielen anderen lustvollen oder brutalen „Vergnügen“. Gordon versucht das Exzentrische, das Perverse und das Unfassbare aus der Geschichte Berlins heraus zu erklären. Er beginnt mit den Mythen der Weimarer Republik, wie sie im „Blauen Engel“ oder später im Film „Cabaret“ wachgehalten wurden, zeigt Publikationen, die sich schon in den 1920er Jahren als „Führer durch das lasterhafte Berlin“ anboten. Der Selbstsicht als Hauptstadt des Vergnügens entsprach die (zu Zeiten des I. Weltkriegs) feindliche Fremdsicht als „degeneriertes Deutschland“. In den Erfahrungen der Soldaten im Krieg sieht Gordon einen Grund für SM- und Fetischneigungen, die er als eine Art „Nebenwirkung von Kriegsneurosen“ beschreibt. Aber auch das Wirtschaftschaos der Nachkriegszeit, die Unsicherheit darüber, was werden sollte, trug dazu bei, es nun „erst recht“ knallen zu lassen. Nachlokale boomten, in denen die aktuelle Musik getanzt wurde – und das war in den 1920er Jahren meist Jazz in den seltsamsten Besetzungen. Die Hyperinflation ließ alle wirtschaftlichen Werte wertlos erscheinen und zugleich neue Wirtschaftszweige erstarken, oft eine ganz private Schattenwirtschaft in Hinter- und Schlafzimmern. Die Kapitel des Buchs handeln diese Schattenwirtschaft systematisch ab, die der Stadt Berlin bald ihren ganz eigenen Ruf einbringt. Das Kapitel „Stadt der Huren“ beschreibt den Beruf der Prostitution und enthält auch ein Glossar, das die verschiedenen Angebote beschreibt, sowie eine Topographie des Rotlichts, Friedrichstraße, Nollendorfplatz und anderswo. Das Nachtleben war vital, und in einem eigenen Kapitel nimmt Gordon seine Leser mit auf eine abendliche Entdeckungsreise durch Kneipen, Bars, erotische Revuen und Tanzkaschemmen. „Berlin bedeutet Burschen“ ist ein weiteres Kapitel überschrieben, das die schwule Kultur der Stadt beleuchtet, aber auch die Verfolgung von Homosexualität durch den Paragraphen 175. „Warme Schwestern“ erklärt, dass auch die lesbische Subkultur in Berlin blühte und zählt Clubs und Vereine auf. „Grenzgänger“ heißt ein Kapitel über Transvestiten und die Cross-Gender-Szene der Stadt. Unter „Strahlende Nacktheit“ berichtet Gordon über das „unschuldigere“ Nachtsein, die Freikörperkultur der 1920er Jahre, über Nudisten und Lebensreformer und ihre Ideen. Magnus Hirschfeld und sein Institut für Sexualwissenschaft erhalten ein eigenes Kapitel, in dem auch „sexuelle Triebstörungen“, reich bebildert, abgehandelt werden. Im Kapitel „Lustschmerz“ liest man über SM-Praktiken und die versteckte Szene, in der diese gepflegt wurden. „Sexualmagie und Okkultismus“ betrachtet erotische Kulte jener Jahre und ihre Gurus. „Verbrechen an der Spree“ schließlich wendet sich insbesondere den Gewaltverbrechen zu, Lustmorden insbesondere, aber auch Verbrecherringen, in denen sich Banden zusammenschlossen. Die scheinbare Dekadenz der 1920er Jahre wurde vom Nazismus der 1930er abgelöst, der sich als eine auch moralische Bewegung verstand und der erotischen Unterwelt Berlins ein Ende bereiten wollte. Kurz geht Gordon auf die Verlogenheit nazistischer Propaganda in Bezug auf die Sexualität ein, beschreibt die Entwicklung zum stromlinienförmigen Einheitsdeutschen als Geschichtsrevisionismus und den Versuch vor allem die Kultur der Weimarer Republik zu zerstören. Zum Schluss finden sich eine Stadtkarte, in der die verschiedenen Etablissements und Szenen verzeichnet sind, sowie eine ausführliche Beschreibung von Treffpunkten, Bars, Tanzsälen und ihrem Publikum. Von Jazz ist, soviel sollte aus dieser Beschreibung des Inhalts klar sein, eher wenig zu lesen, und doch mag man zwischen den Zeilen den Eindruck einer Zwischenwelt erhalten, in der Jazz durchaus eine wichtige Rolle spielte. Die beiheftende CD bedient sich vor allem den gewagten Kabarettstimmen der 1920er, Claire Waldoff, Marlene Dietrich und Otto Reutter. Das Orchester Lajos Béla ist mit „Einen großen Nazi hat sie“ zu hören und das Haarmann-Lied „Warte, warte nur ein Weilchen“ in einer Interpretation von Hawe Schneider aus dem Jahr 1961. „Sündiges Berlin“ ist bei alledem weder eine kritische noch eine wissenschaftliche Studie. Es ist ein unterhaltsames Buch, das für den Moment des Blätterns den voyeuristischen Trieb im Leser befriedigen mag. Eine durchwegs vergnügliche Lektüre also, mit flüssigen Texten und jeder Menge zeitgenössischer Fotos, Zeichnungen, Bilder und Dokumente. Man schaudert ein wenig, weiß aber, dass „Sex, Rausch und Untergang“ für den Leser aller Voraussicht nach ohne jede schlimme Nachwirkung bleiben wird. Sündiges Berlin – wie schön! Wolfram Knauer (April 2012)
Black & White. The Jazz Piano von Peter Bölke Hamburg 2011 (Edel ear books) 156 Seiten, 4 beiheftende CDs, 39,95 Euro ISBN: 978-3-940004-96-3 In seiner Reihe opulenter Coffeebook-Bände mit beiheftenden CDs legt der dem Vertrieb Edel zugehörige Verlag earbooks einen in Größe und Dicke an eine alte LP-Box erinnernden Bildband zum Thema „Jazz Piano“ vor. Die vier im Deckel heftenden CDs geben das Thema vor: „Blues & Boogie-Woogie“ lässt die großen Boogie-Heroen erklingen, Meade Lux Lewis, Pinetop Smith, Cow Cow Davenport, Albert Ammons und andere, aber auch Jelly Roll Morton und James P. Johnson, die eigentlich ins Thema der zweiten CD gehören, überschrieben „Nobilty at the Keyboard“. Hier sind Earl (Hines), Count (Basie) und Duke (Ellington) den Namensgeber, außer ihnen hört man Teddy Wilson, Hank Jones, Bud Powell und Thelonious Monk. Auf „Small Group, Great Sound“ ist genau das präsent: die Trios etwa von Nat King Cole, Oscar Peterson und Erroll Garner, das Modern Jazz Quartet und das Dave Brubeck Quartet sowie George Shearing mit seinem Quintett. „A Funky Kind of Blues“ schließlich präsentiert Aufnahmen des Hardbop zwischen Miles Davis und John Coltrane mit einer einzigen kleinen Ausnahmen, „Marionette“, gespielt vom Lennie Tristano Sextet. Das Buch zu den CDs ist hervorragend bebildert mit einer bunten Mischung aus Musikerportraits und stimmungsvollen Aufnahmen der diversen Zeiten und Örtlichkeiten, aus denen die Musik stammt. Peter Bölke fasst in seinem Text die Entwicklung des Jazzklavierspiels sowie die Biographien der auf den CDs dokumentierten Musiker und Bands zusammen. Wie bei anderen CD-/Buch-Alben des earbook-Verlags hört die Auswahl Anfang der 1960er Jahre auf, also vor gedweden musikalischen Freiheitsbewegungen oder Fusion-Experimenten. Diese Auswahl mag dem ernsthaften Jazzkenner einen Kritikpunkt wert sein, der dabei aber verkennt, an wen sich die Edition vor allem richtet: an den interessierten Jazz-Sympathisanten, der den Schritt zum Sammler und Vollständigkeitsfanatiker noch nicht gemacht hat. Hier findet er (oder sie) jede Menge Hörstoff und Information. Wolfram Knauer (April 2012)
Music Makes Me. Fred Astaire and Jazz von Todd Decker Berkeley 2011 (University of California Press) 375 Seiten, 29,95 US-Dollar ISBN: 978-0-520-26890-6 Jazz und Tanz sind enger miteinander verbunden als man in jüngsten Ausprägungen improvisierter Musik meinen möchte. Der Jazz begann als Tanzmusik, er war ein ständiger Begleiter der populären Bühnenkunst, und Tänzer in amerikanischen Ballsälen tanzten durchaus schon mal Soli, die denen von Jazzsolisten vergleichbar sein konnten. Todd Decker betrachtet in seinem Buch den vielleicht populärsten Tänzer des 20sten Jahrhunderts, Fred Astaire, aus der Sicht des Jazz, analysiert Filmclips und Tonaufnahmen auf rhythmische, melodische, formale und interaktive Aspekte. Das Ergebnis ist eine Studie, die Astaire als das Phänomen ernst nimmt, das er tatsächlich darstellt: ein Künstler, der sein Instrument (Beine und Füße) so beherrschte wie die Jazzer, mit denen er immer wieder zusammenarbeitete ihr Saxophon, ihre Trompete, ihr Piano. Decker stützt sich in seiner Arbeit vor allem auf filmische Dokumente, angefangen mit dem Titel, der zugleich dem Buch seinen Namen gab, „Musik Makes Me“ aus dem Film „Flying Down to Rio“ von 1933. Im ersten Teil seines Buchs ordnet der Autor Astaire ins amerikanische Showbusiness ein, wobei er neben seinen künstlerischen Qualitäten auch den sozialen, ästhetischen, gesellschaftlichen Kontext berücksichtigt, der Astaire besondere Möglichkeiten geboten habe. Er beschreibt die Unterschiede zu seinen Wettbewerbern und das Produkt, das Astaire auf dem populären Unterhaltungsmarkt so erfolgreich anbot. Er geht auch auf den afro-amerikanischen Einfluss ein, auf die Tatsache, dass etliche der frühen Stepptänzer schwarz waren und somit im hautfarben-bewussten Hollywood keine Chance auf eine Hauptrolle hatten. Schließlich betrachtet er Astaires Verhältnis zu Komponisten und Textdichtern, die ihm zum Teil Stücke direkt auf den Leib schrieben und stellt dabei fest, dass es Astaire in seiner Karriere immer wichtiger gewesen sei, musikalische Stücke zu interpretieren als musikalische Filme zu machen. Im zweiten Teil seines Buchs untersucht Decker die konkreten Produktionsbedingungen in Hollywood, wühlt in Archiven, um in den Drehbuchmanuskripten Notizen zu finden, die darauf hinweisen, wie Hollywood auf populäre Trends reagierte und wie die Drehbuchautoren ihrerseits musikalische Moden interpretierten. Generell ist Decker hier auch an der Überschneidung der beiden großen populären Industriebereiche interessiert, der Musik- und der Filmindustrie. Im dritten Teil fokussiert sich Dekker auf konkrete Ansätze in Astaires Tanz: auf die Interaktion mit seinen Tanzpartnern etwa, auf die Benutzung der Bluesform, auf stilistische Unsicherheiten der ausgehenden 1940er Jahren, in denen Swing noch nicht tot und Rock ’n‘ Roll noch nicht in waren, und schließlich auf Astaires Arbeit mit afro-amerikanischen Musikern. Astaire studierte seine Tanzszenen zwar bekanntlich haargenau ein, war aber zugleich, wie man spätestens durch seine Aufnahmen mit Jazz at the Philharmonic weiß, ein exzellenter Improvisator. Decker geht dabei durchaus ins Detail, erklärt Bewegungsabläufe, verfolgt Choreographien, lauscht darauf, welche Sounds die Tanzbewegungen hervorrufen. Er untersucht Astaire und die Körperlichkeit des Tanzes als Beispiel für jene so schwer zu definierende Qualität des „swing“. Und er beschreibt Filmszenen, die man glücklicherweise großteils auf YouTube nachsehen kann. Dabei landet man dann unweigerlich auch bei Astaires Fernsehauftritt mit der Count Basie Band („Sweet Georgia Brown“), einem Auftritt, in dem Astaire eindeutig der Solist vor der Bigband ist, ein Solist, der genau dasselbe tut wie die Jazzsolisten, die ihn hier mit ihren Riffs begleiten: mit seinen Mitteln eine Geschichte erzählen. „Musik Makes Me“ ist ein ungewöhnliches Jazzbuch, das einmal mehr deutlich macht, wie sehr „Jazz“ die populäre Kultur des 20sten Jahrhunderts geprägt hat, als Musik, als Ausdrucks- und als Lebenshaltung. Wolfram Knauer (April 2012)
Rifftide. The Life and Opinions of Papa Jo Jones von Albert Murray & Paul Devlin Minneapolis 2011 (University of Minnesota Press) 173 Seiten, 18,95 US-$ ISBN: 978-0-8166-7301-8 Albert Murray, der große afro-amerikanische Jazzphilosoph und einflussreiche Schriftsteller, interviewte den Schlagzeuger Jo Jones zwischen 1977 und 1985 im Rahmen von Background-Recherchen zur Autobiographie von Count Basie, für die er als Coautor fungierte. Er legte die Bänder dann beiseite, bis er sie 2005 seinem ehemaligen Studenten Paul Devlin gab, um sie abzuschreiben. Das resultierende Buch, das erst jetzt erschien, ist eine ungewöhnliche und dennoch vorbildliche Autobiographie, die aus dem Hauptteil besteht, nämlich der selbst erzählten Lebensgeschichte Jo Jones‘, aus einer einrahmenden Einleitung, in der Devlin die Entstehungsgeschichte des Projekts beschreibt, und aus einem Nachwort von Phil Schaap, das den Schlagzeuger in seinen späten Jahren näherbringt und auch dessen schon mal leicht gereizten Charakter erläutert, erklärt, warum Jones als Musiker beliebt, als Mensch schon mal gefürchtet war und was seinen Zorn in der Regel auslösen konnte. Jones eigene Geschichte aber ist fast selbst schon Literatur. Devlin hat einen Aufsatz Murrays sehr ernst genommen, in dem dieser beklagt, dass viele sogenannte „Autobiographien“ durch zu viel Edieren die Authentizität genommen worden sei. Auch Devlin musste zusammenklauben und das Erzählte thematisch sortieren. Er behielt Jones‘ Grammatik, und er behielt den erzählerischen, schon mal abschweifenden Duktus; er behielt ebenfalls die Verweise auf beiden Gesprächspartnern bekannte Personen, deren Identität dem nicht so eingeweihten Leser in einem umfangenden Apparat erklärt wird. Jo Jones‘ Lebensgeschichte ist so keine fest chronologische Abhandlung von Ereignissen, sondern behält das Erzählerisch-Erinnernde, das sehr persönlich Beurteilende, manchmal auch eine gewisse Verbitterung über Missverständnisse der Geschichte oder die Überbewertung von Kollegen. Gangster in Kansas City; die eigene Vorbereitung auf Studiositzungen mit den Stars des Jazz – „Wenn du mit Ella Fitzgerald aufnimmst, hörst du dir vorher zwei Stunden lang nichts anderes als Ella Fitzgerald an, wenn du dann ins Studio kommst, denkst du nur noch Ella Fitzgerald“ – , über das schwarze Showbusiness, über Rassismus, über Puerto Rico und Frankreich… Die Basie-Band, sagt Jones, sei eine richtige Institution gewesen, und jeder, der in der Band spielte, habe vom musikalischen Ethos des Orchesters genauso gelernt wie fürs Leben. Er erzählt, wie er in den Mitt-1930er Jahren Mitglied der Band wurde, erklärt, wie die legendäre All American Rhythm Section mit ihm, Basie, Freddie Green und Walter Page funktionierte, die kein Mikrophon gebraucht hätte, weil der Swing ihre Stärke war, unüberhörbar, so leise sie auch spielte. Jones erzählt über seine Erlebnisse im US-amerikanischen Süden, aber auch von seiner lebenslangen Neugier, seiner Liebe zu Büchern und Literatur, seiner Bewunderung für Autoren wie James Baldwin, Ralph Ellison, Langston Hughes und Albert Murray. Ein eigenes Kapitel ist Kollegen gewidmet, mit denen er „auch“ zu tun hatte: Duke Ellington, Bill ‚Bojangles‘ Robinson, Stepin Fetchit, Tommy Dorsey, Claude ‚Fiddler‘ Williams, Jackie Robinson, Louis Armstrong, Joe Glaser, John Hammond und anderen. Und Jones, der „sharp dresser“ erzählt, wie wichtig es ihm zeitlebens gewesen sei, klasse angezogen zu sein. Wie gesagt, dies Buch ist keine klassische Autobiographie. Als Gesprächspartner auf gleicher Augenhöhe gelingt es Albert Murray Jo Jones zum Erzählen zu bringen, und Paul Devlin schafft es, die erzählerische Stimmung beizubehalten, durchaus auch das Exkursorische in Jones‘ Narrativ, das von einer Erinnerung in eine andere übergleitet, auch schon mal, ohne die angefangene Geschichte wirklich zu beenden. Er bringt damit eine Stimmung rüber, die einem den Musiker als Menschen nahebringt, der quasi überquillt vor Geschichten und Überzeugungen, vor Erlebnissen und festen Meinungen. Der 26-seitige Anmerkungsapparat ist da dringend nötig, um dem Leser die Verweise zu erklären, Anekdoten ins rechte Licht zu rücken oder auch schon mal Erinnerungen richtig zu stellen. Doch ist eine Autobiographie kein Geschichtsbuch, sondern höchstens eine Annäherung an die Erinnerungen von selbst Erlebtem. „Rifftide“ kommt der komplexen Persönlichkeit des Papa Jo Jones weit näher als alles, was zuvor über ihn veröffentlicht wurde. 26 Jahre nach seinem Tod ist hier ein Buch erschienen, dass Jones als den kraftvollen, vorwärtstreibenden Menschen erleben lässt, der er auch als Schlagzeuger immer war. Wolfram Knauer (März 2012)
Kenny Ball’s and John Bennett’s Musical Skylarks. A Medley of Memories von Kenny Ball & John Bennett Clacton on Sea 2011 (Apex Publishing Ltd.) 203 Seiten, 12,99 Britische Pfund ISBN: 978-1-906358-98-3 Die Generation der britischen Trad-Jazzer kommt in die Jahre, ja teilweise stirbt sie bereits fort. Viele der Protagonisten dieses Stils sind sich vielleicht gar nicht bewusst, dass sie da in ihrem Streben danach, ihre amerikanischen Helden nachzuahmen, einen durchaus eigenständigen europäischen Stil kreierten, der für sich erheblichen Einfluss auf eine Generation von Musikern und Musikhörern hatte. Nun ja, rückwärtsgewandt bleibt diese Art des Musikmachens dennoch, und in einer Ästhetik, die vor allem nach vorne blickt, ist das wahrscheinlich das am meisten vernichtende Urteil. Da helfen zum Verständnis Bücher, die die Wirklichkeit des Musikmachens ein wenig beleuchten. Trompeter Kenny Ball und Posaunist John Bennett spielen bereits seit 1958 zusammen. In ihrer Doppelbiographie erzählen sie, wie sie zum Jazz kamen und welche Erlebnisse sie durch und mit dieser Musik hatten. Beide wurden in den 1930er Jahren geboren (Ball 1930, Bennett 1936), für beide gehört der Krieg zu ihren Jugenderinnerungen. Ball hörte seinen ersten Jazz 1940 von Platte, Artie Shaws „Begin the Beguine“; Bennett ließ sich 1943 von Tommy Dorseys „Boogie Woogie“ begeistern. Nach dem Krieg arbeitete Ball als Klavierverkäufer in London. Er hatte sich 1943 seine erste Trompete gekauft und nach einem Lehrbuch geübt. Bennett war vom Spiel Kid Orys begeistert und lernte das Instrument im Schulorchester. Beide spielten in verschiedenen Bands, bevor sich ihre Wege kreuzten, als sie beide in der Terry Lightfoot Band waren. Im Oktober 1958 verließen sie diese Band gemeinsam und gründeten Kenny Ball’s Dixielanders, eine Band, mit der sie Musik wie die von Bobby Hackett, Jack Teagarden oder Eddie Condon spielen wollten. Die Band erhielt gute Kritiken und war in Jazzclubs in und um London zu hören, reiste bald aber auch durch ganz England und trat selbst in Deutschland auf. Ball und Bennett erzählen von solchen Konzertreisen, von Hits wie „Samantha“, von überaus aktiven Jahrzehnten insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren. Eine Tournee der Band durch die DDR im Jahr 1966 und eine Reise in die Sowjetunion im Jahr 1984 nimmt ein eigenes Kapitel des Buchs ein; in anderen Erinnerungen begleitet der Leser sie auf Reisen nach New Orleans, Australien oder Neuseeland. Hier zitieren die beiden Autoren ausgiebig aus ihren Tourneetagebüchern, weniger chronologisch als vielmehr thematisch sortiert, oder besser vielleicht: an den Anekdoten entlang. Es ist das alles eine kurzweilige Lektüre, die einen direkten Erfahrungsbericht zweier über ein halbes Jahrhundert im britischen Trad-Jazz aktiver Musiker bietet. Ein Register fehlt, im Fotobereich finden sich zur Hälfte offizielle Bandfotos. Der Untertitel „A Medley of Memories“ ist Programm und das Buch damit sicher vor allem für Trad-Jazz-Fans interessant. Wolfram Knauer (März 2012)
Jazz Icons von Peter Bölke Hamburg 2011 (Edel earbooks) 156 Seiten, 8 beiheftende CDs, 49,95 Euro ISBN: 978-3-940004-86-4 Die earbooks des Hamburger CD- und Buchverlags Edel sind eigentlich um ein Vielfaches „aufgeplusterte“ CD-Begleitbooklets. Schallplattengröße, viele Fotos, Hardcover mit sorgsam in den Umschlag eingelassenen CDs; die Produktion des Buchs lässt es an nichts mangeln. „Jazz Icons“ stellt die ganz Großen der Jazzgeschichte in Compilations vor. Die Auswahl der acht Künstler und ihrer Aufnahmen ist sicher repräsentativ – man hätte auch andere Namen wählen können, aber so ist es schon recht. Louis Armstrong ist mit Einspielungen zwischen 1947 und 1956 vertreten, darunter das großartige „Skookian“. Bei Coleman Hawkins fehlt weder „Body and Soul“ noch das unbegleitete „Picasso“ aus dem Jahr 1948. Billie Holidays Aufnahmen reichen von 1933 bis 1958 und decken damit ihre gesamte Karriere ab. Dizzy Gillespie wird mit Bebop und afrokubanischen Nummern aus den 1940er und 1950er Jahren repräsentiert. Bei Sonny Rollins fehlen weder „St. Thomas“ noch „Blue Seven“. Miles Davis ist mit Charlie Parker zu hören, mit seinem Capital Nonett, seinen All Stars mit Milt Jackson und Thelonious Monk sowie mit seinem Quintett mit John Coltrane. Dave Brubeck ist im Trio und Quartett vertreten, mit Standards und ungeraden Rhythmen. Und John Coltrane spielt mit Miles, ist aber auch mit Aufnahmen aus seiner blues-lastigen Hardbop-Phase und mit seinem legendären „My Favorite Things“ zu hören. Keine Fehler also; eine durchaus brauchbare Wahl der Aufnahmen, die auch in den jeweiligen Kapiteln des Buchs kurz erwähnt werden. Der Jazzfan kennt das alles, für ihn bieten auch die von Peter Bölke flott geschriebenen Biographien der Musiker (zweisprachig auf Deutsch und Englisch), die dabei auch auf die einzelnen Titel der beiliegenden CDs verweisen, nichts wirklich Neues. Die Fotos sind allesamt sehenswert; der Band enthält neben bekannten Aufnahmen durchaus auch viele Bilder, die so selten zu sehen waren. Leider werden die Namen der Fotografen an keiner Stelle genannt – bei einem Buch, das so auf die visuelle Komponente setzt, ein ernstes Versäumnis. Ansonsten gewiss ein passendes Geschenk für Jazzneulinge oder für Jazzfans, denen es nichts ausmacht, dass Compilations das, was man bereits in der Sammlung hat, gerne verdoppeln. Allemal blätterns- und hörenswert. Wolfram Knauer (März 2012)
Picture Infinity. Marshall Allen & The Sun Ra Arkestra von Sibylle Zerr Edingen-Neckarhausen 2011 (Sibylle Zerr) 152 Seiten, 25 Euro ISBN: 978-3-00-035497-7 www.sibylle-zerr.de 1993 traf die Journalistin und Fotografin Sibylle Zerr Marshall Allen zum ersten Mal. Ein Clubbetreiber bat sie, ein Foto von Allen und ihm zu machen, wie er dem Saxophonisten zu seinem 80sten Geburtstag eine Whiskyflasche in die Hand drückte. Später fand Zerr heraus, dass Allen gar nicht Geburtstag hatte und dass er außerdem keinen Alkohol trank. Allen machte das alles nichts aus. Er, schreibt sie, nahm einfach die gute Stimmung des Publikums, das ihn feiern wollte, und transformierte diese mit dem Sun Ra Arkestra in pure Schönheit. Das Buch, das Zerr jetzt im Selbstverlag herausbrachte, ist eine Mischung aus Foto- und Sachbuch, in dem die Autorin und Fotografin in Bild und Text die Atmosphäre einfangen will, die Ras Musik bis heute umgibt. In kurzen, englischsprachigen Kapiteln beschreibt sie die Magie auf der Bühne und die Magie im Publikum sowie das Verschwimmen der Grenzen zwischen den beiden in jedem Konzert des Arkestra. Mehr als 80 Bilder, schwarzweiß wie Farbe, zeigen die Musiker auf der Bühne, in Interaktion mit dem Publikum, zwischen Koffern auf dem Bahnsteig. Zerr beschreibt, was nach dem Tod Sun Ras geschah, wie es Allen eine Weile verboten wurde, den Namen des Pianisten und seines Arkestra zu benutzen. Sie erzählt die Geschichte des Altsaxophonisten, der nach dem II. Weltkrieg in Europa stationiert war und zwei Jahre lang in Paris blieb, wo er mit James Moody auftrat und das Konservatorium besuchte. Sein ganzes Leben lang aber spielte er im Arkestra, und so macht es Sinn, dass er das Arkestra ins 21ste Jahrhundert führte. Sibylle Zerr erklärt das Kultische des Arkestra, die Freiheit der Musik. Sun Ra, sagt Marshall Allen, sei ein geborener Leader gewesen; er dagegen sei in der Band einer unter Gleichen, lerne von den anderen genau so viel wie die von ihm. Zerr beschreibt Sun Ras Konzept hinter „Strange Strings“, einer Aufnahmesitzung von 1966, bei der der Pianist seine Musiker ins Studio schickte, auf Instrumenten zu spielen, die sie noch nie zuvor gespielt hatten, um zu sehen, was passiert, um „unschuldig“ spielen zu können. „Wir werden spielen, was Ihr nicht wisst. Und was Ihr nicht kennt, ist groß!“ Sie beleuchtet all die jungen Musiker, die Sun Ra selbst nie erlebt hatten, jetzt aber im Arkestra dessen Tradition fortschreiben, wenn sie nicht sogar im legendären Haus in Philadelphia leben. Sun Ras Arkestra muss man eigentlich erleben. Man muss es hören und sehen und riechen – die Schminke, die exotisch-bunte Kleidung, die Instrumente. Zwischen zwei Buchdeckeln kommt Sibylle Zerr diesen Erlebnissen so nahe, wie es denn irgend geht: mit Bildern, die einen überaus lebendigen Eindruck von dem wiedergeben, was ein Sun-Ra-Konzert ausmacht – ein Erlebnis fürwahr, an dem keiner unbeteiligt bleibt –, und mit Texten, die sich von ganz unterschiedlichen Seiten dem Zauber der Musik und der Realität des Bandlebens und -tourens nähert. Lesenswert! Wolfram Knauer (März 2012)
Brötzmann. Arbeiten 1959-2010 herausgegeben von der Galerie Epikur Wuppertal 2011 (Galerie Epikur) 95 Seiten, 32 Euro ISBN: 978-3-925489-90-7 In den letzten Jahren ist Saxophonist Peter Brötzmann immer wieder auch als Bildender Künstler gewürdigt worden. Erst 2010 wurde seine grafische Kunst in der Gallerie The Narrows im australischen The Narrows ausgestellt. Die Wuppertaler Galerie Epikur hat diese Seite Brötzmanns kreativer Kunst nun mit einer Ausstellung und einem Bildband gewürdigt, eingeleitet von einem fachkundigen Aufsatz von Susanne Buckesfelder sowie zwei persönlichen Würdigungen von John Corbett und Mike Pearson. Als Refugium seines überaktiven Musikerlebens beschreibt Buckesfeld Brötzmanns Künstleratelier, und zeichnet dann die entwicklung ins einer Bildsprache nach. Musikbezüge gibt es genauso wie erotische Sujets, Ölgemälde, Aquarelle, Rrady-Mades und Holzschnitte. Das Durchblättern des wunderbaren Bildbandes macht auf jeden Fall eine weitere Seite Brötzmanns erlebbar. Wolfram Knauer (März 2012)
Populäre Musik und kulturelles Gedächtnis. Geschichtsschreibung – Archiv – Internet herausgegeben von Martin Pfleiderer Köln 2011 (Böhlau) 173 Seiten, 24,90 Euro ISBN: 978-3-412-20773-1 Die Zahl der Forschungseinrichtungen nimmt zu, in denen populäre Musik und/oder Jazz dokumentiert und für die Nachwelt aufbewahrt wird. Bei einer Tagung im Herbst 2010 versammelte das Eisenacher Lippmann+Rau-Musikarchiv Kollegen vor allem aus den diversen deutschen Archiven sowie Forscher, die sich mit der Thematik der Musikbewahrung beschäftigen, ein, um über Notwendigkeiten, Möglichkeiten, Wünsche und Pläne der Kartierung und Archivierung populärer Musik zu sprechen. Dabei geht es um Archivierungstechniken, die grundlegende Aufgabe von Archiven, Beispiele konkreter Archivleistungen und immer wieder um das Paradoxon, dass Archive eine Musik speichern helfen, die eigentlich aus dem Liveerlebnis, aus Erfahrungen und Gefühlen bestehen. Die Tagung von 2010 war da sicher nur ein erster Schritt – hier sind auf lange Sicht länderübergreifende Kooperationen vonnöten, um, wie es hier so schön heißt, „immaterielles Kulturerbe“ zu erhalten und zu archivieren. Neben Beiträgen des Herausgebers und von Nico Thom (Lippmann+Rau-Musikarchive Eisenach) finden sich in dem Buch etwa Artikel von Ulrich Duve und Peter Schulze (Klaus-Kuhnke-Archiv Bremen), von Wolfram Knauer und Doris Schröder (Jazzinstitut Darmstadt), von Nils Grosch (Volksliedarchiv Freiburg), von Siegfried Schmidt-Joos, Wolfgang Ernst, Tiago de Oliveira Pinto, Johannes Theurer und Holger Großmann. Wolfram Knauer (Februar 2012)
Five Perspectives on „Body and Soul“ And Other Contributions to Music Performance Studies herausgegeben von Claudia Emmenegger & Olivier Senn Zürich 2011 (Chronos) 197 Seiten, 31 Euro ISBN: 978-3-0340-1048-1 Das vorliegende Buch hat zwei sehr voneinander unterschiedliche Teile: einen ersten, der die im Titel benannten fünf Perspektiven auf den Jazzstandard „Body and Soul“ wirft, sowie einen zweiten, der sich mit allgemeinen und eher nicht jazzbezogenen Themen der Musikaufführung befasst. Im letzteren Teil ist der Beitrag über das Messen von Mikrotiming auch für Jazzforscher interessant, außerdem Elena Alessandris kurzer Ausflug in die Welt der Diskographie. „Body and Soul“ ist ohne Zweifel einer der bedeutendsten Standards der Jazzgeschichte. Eine Beschäftigung mit diesem Titel beinhaltet dabei immer zwei Referenzpunkte: zum einen die Interpretation der Komposition von Johnny Green, zum zweiten die bewusste oder unbewusste Bezugnahme auf die legendäre Aufnahme von Coleman Hawkins aus dem Jahr 1939. José Antonio Bowen setzt sich in seinem Beitrag ganz allgemein mit der Aufnahmegeschichte des Titels auseinander und untersucht Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den vielen verschiedenen Versionen, instrumentalen genauso wie vokalen Interpretationen. Martin Pfleiderer analysiert das Stück als Meisterprüfung für Tenorsaxophonisten und betrachtet eingehender die Aufnahmen von Hawkins, Chu Berry, Lester Young, Ben Webster, Don Byas, Stan Getz und John Coltrane, wobei ihn neben der melodischen und harmonischen Interpretation vor allem auch die persönliche Soundgestalt der Tenoristen interessiert – und so finden sich in seinem Beitrag neben Transkriptionen auch Spektogramme, die etwa Websters luft-gefüllten Ton beleuchten helfen. Cynthia Folio und Alexander Brinkman hören sich Dexter Gordons Aufnahme des Standards von 1978 an und analysieren ihn in Hinblick auf motivische Bausteine, Beispiele von Polyrhythmik, Gordons ausführliche Schlusskadenz sowie seine immer wieder eingestreuten Zitate. John Gunther betrachtet drei jüngere Interpretationen des Stücks von Bill Frisell, Cassandra Wilson und Keith Jarrett. Olivier Senn schließlich hört sich Thelonious Monks Version vom Oktober 1962 an und untersucht in seiner Analyse den Abstraktionsgrad und die Abstraktionsmethoden, die Monk anwendet, um das Stück quasi musikalisch-analytisch auseinanderzunehmen und wiederzusammenzusetzen. Alle Beiträge entstanden als Referate zweier Symposien während einer Tagung, die 2009 in Luzern abgehalten wurde. Sie präsentieren eine musikwissenschaftliche Auseinandersetzung damit, wie man mit dem Mittel der Analyse auch improvisierter Musik nahekommen kann und bieten dank des vergleichbaren Themas tatsächlich unterschiedliche Perspektiven. Das Buch ist in englischer Sprache gehalten, im Anhang findet sich neben den Biographien der Autoren auch ein Namensindex der im Text erwähnten Personen. Wolfram Knauer (Februar 2012)
The Poconos In B Flat. The Incredible Jazz Legacy of the Pocono Mountains of Pennsylvania von Debbie Burke East Stroudsburg 2011 (Xlibris) 117 Seiten, 19,99 US-Dollar ISBN: 978-1-46913-459-8 Ein Buch über die unglaubliche Jazzszene der holsteinischen Schweiz? So in etwa kam es dem Rezensenten vor, als er Debbie Burkes Buch über die Jazzszene der Ponono Mountains in Pennsylvania auf den Schreibtisch erhielt. Die Poconos sind eine Urlaubs- und Freizeitregion im Nordosten Pennsylvanias, etwa anderthalb Autostunden von Manhattan entfernt. Eine größere Universität in East Stroudsburg ist in der Nähe, und ein Jazz Festival findet jährlich am Delaware Water Gap statt, der Wasserscheide in der bergigen Region. Ein paar namhafte Musiker haben sich hier niedergelassen, allen voran der Altsaxophonist Phil Woods, der seit kurz nach seiner Rückkehr aus Europa im Jahr 1972 hier lebt, der Pianist und Sänger Bob Dorough, der bereits seit den 1960er Jahren ein Haus in der Region besitzt, und der Sopransaxophonist David Liebman, der in die Poconas zog, weil sie nahe an New York waren und doch abgeschieden genug, um Rückzugsmöglichkeiten zu bieten. Neben ihnen befragt Burke aber auch Musiker wie den Pianisten John Coates, der eine Art Identifikationsfigur für die regionale Szene darstellt, den Schlagzeuger Bill Goodwin und den Pianisten Dave Frishberg. Der Bandleader und Arrangeur Fred Waring ist einer der wenigen nicht mehr lebenden Personen, die in ihrem Buch beleuchtet werden; ansonsten portraitiert sie auch außerhalb der Region eher weniger bekannte Künstler wie den Pianisten Bobby Avey, den Trompeter Danny Cahn, den Dirigenten Ralph Harrison, den Saxophonisten Bob Keller, den Bassisten Davey Lantz, die Saxophonistin Jay Rattman und andere. Die Kapitel sind kurzweilig geschriebene persönliche Schlaglichter, alphabetisch nach Künstlern sortiert, aber alles andere als enzyklopädische Artikel mit Daten und Fakten über die Karrieren der Beschriebenen. Meist geht es stattdessen um Einflüsse, um ästhetische Grundhaltungen, um die Entscheidung, in die Poconos zu ziehen und um die kreative Kraft, die die Gegend den Musikern gibt. Und irgendwie ahnt man am Ende des Buches, dass an alledem wohl etwas dran sein mag, dass die Ruhe und Friedlichkeit einer Landschaft den künstlerischen Ausdruck beeinflussen, verstärken, fokussieren kann. Wolfram Knauer (Februar 2012) A book about the incredible jazz scene of the Holsteinische Schweiz [a hilly region in Northern Germany]? Something like this went through the mind of the reviewer when he leafed through Debbie Burke’s book on the jazz scene of the Pocono Mountains. The Poconos are a holiday and leisure region in northeastern Pennsylvania, about a half hour drive from Manhattan. A major university is near in East Stroudsburg, and a jazz festival takes place annually at the Delaware Water Gap, the watershed in the mountainous region. A few well-known musicians have settled here, first and foremost the alto saxophonist Phil Woods, who has been living here since shortly after his return from Europe in 1972, the pianist and vocalist Bob Dorough, who owns a house in the region since the 1960s, and the soprano saxophonist David Liebman, who moved to the Poconos because they were close to New York and yet secluded enough to offer refuge. Apart from these Burke interviewed other musicians such as the pianist John Coates, who serves as a role model for the local scene, the drummer Bill Goodwin and the pianist Dave Frishberg. The bandleader and arranger Fred Waring is one of the few musicians in her book who is no longer alive; other artists she mentions are far less well-known outside the region, among them the pianist Bobby Avey, the trumpeter Danny Cahn, the conductor Ralph Harrison, the saxophonist Bob Keller, the bassist Davey Lantz, the saxophonist Jay Rattman and others. The chapters provide very personal spotlights written in an entertaining style, sorted alphabetically by artist, yet not providing too encyclopedic information about the careers of the described. She talks about influences, basic aesthetic attitudes, about why they decided to move to the Poconos and about the creative force the area provides to the musicians. And somehow at the end of the book one suspects that there may well be some truth to all of this, that the peace and tranquility of a landscape can affect, amplify and focus artistic expression. Wolfram Knauer (Februar 2012)
Wycliffe Gordon. Sing It First. Wycliffe Gordon’s Unique Approach to Trombone Playing Herausgegeben von Alan Raph Delevan/NY 2011 (Kendor Music) 38 Seiten, 17,95 US-Dollar Wycliffe Gordon ist einer der jüngeren Traditionalisten des Jazz. Er spielte in der Band von Wynton Marsalis, im Lincoln Center Jazz Orchestra und hat sich auch mit seinen eigenen Projekten den virtuos gespielten swingenden Jazz verschrieben. In diesem Heft, einer Art Schule für Posaunisten, gibt er einige Tipps weiter, die dem Posaunisten ermöglichen sollen auf seinem Instrument wie mit eigener Stimme zu spielen. Gordons Hauptregel wurde zum Titel des Büchleins: „Sing it first!“ – Sing es erstmal, bevor Du es spielst! Und so gehöre jetzt zu seinen täglichen Übungen auch das Singen von allen möglichen Etüden. Das Buch wendet sich dabei an Musiker auf einem mittleren bis fortgeschrittenen Level. Ein erstes Kapitel rekapituliert Grundlagen des Akkordaufbaus. Gleich als nächstes geht’s ans Singen. „Man braucht keine gute Stimme um zu singen. Versuch die Tonhöhe genau zu treffen und arbeite später an der Artikulation.“ Es kommt ein Kapitel über „Basics“ auf der Posaune, dann Tipps und ein paar Übungen zum Aufwärmen, zum Finden eines Lehrers, zu Stil, Ansatz, Artikulation, Schnelligkeit, Ausdauer, hohen Noten, absolutem oder relativem Gehör, Rhythmik, dem Plunger. Die meisten der Tipps eignen sich vor allem für Posaunisten, wenn auch Gordons Grundregel eigentlich für jeden Musiker gelten sollte: Wenn Du es singen kannst, kannst Du es auch spielen! Wolfram Knauer (Februar 2012)
theoral no. 3 / Paul Lovens herausgegeben von Philipp Schmickl Nickelsdorf, November 2011 72 Seiten direkt zu beziehen über www.theoral.org „theoral“ ist eine Heftreihe herausgegeben von Philipp Schmickl (Texte) und Karin Weinhandl (Grafik), in der Künstler aus dem Bereich der improvisierten kreativen Musik zu Worte kommen. Der Name der Reihe leitet sich von „oral history“ ab, Schmickl ist vor allem Stichwortgeber und lässt sein Gegenüber reden. Heft Nr. 3 widmet sich dem Schlagzeuger Paul Lovens, der ausführlich von seinen Einflüssen und seiner musikalischen Ästhetik berichtet. Schmickl ediert möglichst wenig, lässt Lovens reden, abschweifen, zurückkommen zum Thema. Lovens erzählt aus Aachen, von seiner frühen Faszination mit dem Jazz, Dixielandsozialisation und davon, wie er mit 17 oder 18 Jahren einen Set lang bei Dexter Gordon eingestiegen sei, „eine Lektion in timing“. Er erzählt offen, etwa davon, dass ein Konzert für ihn eigentlich beginnt, wenn er sich den Termin in den Kalender notiert, oder davon, dass man als Musiker gut daran tut, andere nicht zu beneiden. Er erzählt von seiner Wohnung in Aachen, in der sich Schallplatten und Bücher stapelten: „Es gibt Wege, die man nutzen kann, mit o einer Wendemöglichkeit, aber viele der Wege sind nur rückwärts wieder zu gehen, auf zentrale Punkte wie Küchenherd, Toilette, Fernsehsessel, Bett, dazwischen gibt’s Pfade.“ Die Wohnung als Hirn, der Kopf als Archiv. Schlippenbach, Evan Parker, und wieder zurück nach Aachen, in den Jazzclub, für den er einen Schlüssel besaß. Eine Biographie aus Zufällen, „Es lief alles so, nicht viel drüber nachgedacht“… Jazzkurse Remscheid, Manfred Schoof lädt ihn ein in sein Quintett zu kommen, wo er Schlippenbach kennenlernte… Lovens philosophiert darüber, ob es unter Musikern Freundschaften geben könne oder vor allem Kollegialität; er erzählt davon, wie er mit dem Tod von Kollegen umgeht, Buschi Niebergall, Peter Kowald. Eine verrückte US-Tournee mit Eugene Chadbourne ist Thema genauso wie seine Zusammenarbeit mit Cecil Taylor oder „die drei Bassisten“, nämlich Niebergall, Maarten van Regteren Altena und Kowald, und immer wieder Brötzmann und Steve Lacy. Lovens redet übers Musikhören, darüber, wie er musikalische Entscheidungen träfe beim Spielen, über Lieblingsräume zum Musikhören und Lieblingsräume zum Spielen. Das alles liest sich nach nur wenigen Sätzen so, als würde Paul Lovens vor einem sitzen, die Augen aufblitzend bei Erinnerungen oder bei neuen Ideen, die er sich gleich in ein Notizbuch schreibt, ein wenig melancholisch, wenn er an alte Zeiten denkt, den Schalk durchaus im Nacken, die Selbstbetrachtung mit genügend Ironie, um über die Vergangenheit genauso lachen zu können wie über seine Gegenwart. Man liest sich fest, und dann ist’s schon ausgelesen, das kleine Büchlein, das doch so viel an Stoff fürs Nachdenken liefert und zugleich die Musizierfreude weitergibt, die man Paul Lovens auch auf der Bühne immer anmerkt, ein authentisches Portrait eines mehr als authentischen Musikers. Wolfram Knauer (Februar 2012)
L’art du jazz herausgegeben von Francis Hofstein Paris 2011 (éditions du Félin) 445 Seiten, 45 Euro ISBN: 978-2-86645-762-4 Kunst und Jazz – die Thematik der gegenseitigen Befruchtung, nun ja, vor allem des eindimensionalen Einflusses von der Musik auf die Bildende Kunst, ist in den letzten Jahren, beflügelt durch einige große Ausstellungen, von vielen Seiten betrachtet worden. Francis Hofstein hat mit dem von ihm herausgegebenen Buch L’art du jazz der Lektüre ein dickes, wunderbar bebildertes Opus hinzugefügt. Neben allgemeinen Artikeln über Jazz und Bildende Kunst oder das Image des Jazz als Vehikel der Werbung finden sich darin auch Gedichte oder Erinnerungen an Literaten und Musiker. Es sei ihm um die Interdisziplinarität des Jazz gegangen, erklärt Hofstein in seinem kurzen Vorwort, um das Verhältnis, das der Jazz immer wieder mit seiner Umgebung eingeht, der realen genauso wie der artifiziellen. Zu den Autoren der 40 Beiträge zählen Kritiker wie John McDonough (mit einem Artikel über Jazzmusiker als Werbeträger), Jean Szlamowicz (über die Anziehungskraft des Begriffs Jazz auf Käufer und Vermarkter) oder Greg Tate (über den afro-amerikanischen Maler Thornton Dial und seine Einflüsse aus dem Jazz), Musiker wie Barry Guy und Leo Smith (jeweils sehr lesenswert über ihre graphischen Partituren), Ellery Eskelin, Andrea Parkins und Jim Black (über Stimme und Bewegung), Nasheet Waits, Chad Taylor, Mike Reed, Gerald Cleaver und Tyshawn Sorey (über das Schlagzeug) und viele andere Autoren, die eine vom Herausgeber offenbar bewusst geförderte Vielfalt an Ansätzen vertreten, wie sich Jazz und andere Künste verbinden. Bebildert ist das alles mit Ausrissen aus Zeitschriften, Plakaten und Plattencovers, aber auch mit den Abbildungen von kleinen Jazz-Figurinen aus der Sammlung Hofsteins. Hofsteins Ansatz versammelt die Texte dabei wie eine Art Improvisation über ein Thema, bei dem jedes Solo etwas zu sagen hat, und man doch vom nächsten total überrascht wird. Das ist ein kurzweiliges Vergnügen, bei dem man jenes Thema mal besser erkennt, mal ein wenig suchen muss. Da widmet sich Clare Moss etwa der „schwarzen amerikanischen Stimme“ als Klangideal; da betrachtet Alan Govenar J.J. Phillips Roman „Mojo Hand“ von 1966, der durch die Begegnung des Autors mit dem Bluesmusiker Lightnin‘ Hopkins geprägt war; da swingen Gedichte von Langston Hughes (in französischer Übersetzung); da stellt Hofstein selbst den Plattencover-Designer Jack Lonshein und die von ihm entworfenen Albumtitel vor; da widmet sich Bruce Dick dem Schriftsteller Richard Wright und der Tradition des Blues; da schreibt Saxophonist Nathan Davis über das Leben als exilamerikanischer Jazzmusiker im Paris der 1960er Jahre; da schaut Sonia Dellong sich Disney-Filme an, in denen Jazz eine wichtige Rolle spielt und fragt nach dem Image, die hier übergebracht wurde. Das Buch eignet sich zum Blättern und Sich-Fest-Lesen, es ist zugleich ein schönes Bilderbuch, dessen einziges Manko vielleicht ist, dass man sich Erklärungen der vielen Porzellanfigurinen und sonstigen jazzbezogenen Abbildungen wünschte, die übrigens nicht immer mit dem Inhalt der ihnen zugeordneten Artikel korrespondieren. Kurze Biographien der Autoren und ein Register stünden dem Buch ebenfalls gut zu Gesicht – ansonsten aber vermittelt die Lektüre die Freude am Spielen, die den Jazz doch eigentlich ausmacht. Chapeau! Wolfram Knauer (Januar 2012)
Kunst als Brücke zwischen den Kulturen. Afro-amerikanische Musik im Licht der schwarzen Bürgerrechtsbewegung von Jürg Martin Meili Bielefeld 2011 (transcript) 316 Seiten, 32,80 Euro ISBN: 978-3-8376-1732-0 Nicht erst in den letzten Jahren wird Kunst als Brücke zwischen Kulturen im Zeitalter der Globalisierung erkannt. Schon immer waren Kunst und Kultur eine Möglichkeit, kulturelle Spannungen zu überbrücken. Jürg Martin Meilis Studie, die aus einer Dissertation an der Universität Zürich entstanden ist, betrachtet diesen Prozess der Brückenbildung aus unterschiedlichen Sichtweisen. Den Fokus seiner Untersuchung richtet er dabei auf afro-amerikanische Musik zwischen Spiritual und HipHop. Er beginnt mit Herkunft und Entwicklung der afro-amerikanischen Musik und schließt ein Kapitel über die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre an. Im dritten Kapitel interpretiert er ausgewählte Liedtexte im Kontext der afro-amerikanischen Erfahrung, beschreibt im vierten Kapitel die Rolle des Musikers als sozialer und politischer Mittler und vergleicht in Kapitel 5 den HipHop in seiner Funktion mit den „slave narratives“ des 19sten Jahrhunderts. Etwas abrupt muss der Leser gleich darauf von Tupac Shakur zu Platon springen, wird quasi vom HipHop in die Antike gestürzt, für die der Autor sich Gedanken über die Bedeutung der Kunst macht, um abschließend – und damit auch wieder auf das afro-amerikanische Kernthema seines Buchs eingehend – auf Identität und Solidarität stiftende Aspekte von Kunst hinzuweisen. Meili findet bei alledem nichts wirklich Neues heraus; seine Verweise auf Sekundärliteratur zu afro-amerikanischer Musik lassen Lücken erkennen, zumal im bereich der jüngsten Literatur, die sich im Jazzbereich den von ihm beschriebenen Phänomenen bereits durchaus theoriekritisch angenommen hat. Vor allem aber kommt eines zu kurz: nämlich der Bezug auf die Musik selbst. Meilis Ansatz ist ein rein historischer oder textkritischer, der aber die Musik als … nunja, als Musik eben, fast vollständig außer Acht lässt. Doch erst, wenn man definiert, welche Funktion Musik als Musik besitzt, kann man auch ihre anderen Funktionen sinnvoll untersuchen. Wolfram Knauer (Januar 2012)
Thema Nr. 1. Sex und populäre Musik herausgegeben von Dietrich Helms & Thomas Phleps Bielefeld 2011 (transcript) 231 Seiten, 21,80 Euro ISBN: 978-3-8376-1571-5 Bei der 20sten Arbeitstagung des Arbeitskreises Studium populärer Musik (ASPM) ging es 2009 in Halle um … Sex! Die zwölf Autoren der vorliegenden Tagungsdokumentation beleuchten dieses Thema von recht unterschiedlichen Seiten. Es geht um allgemeine Überlegungen zum Thema „Erotik und Musik „(Dietrich Helms), um sexualisierte Metaphorik in Vorkriegs-Bluestexten (Thomas Phleps), um Männerbilder im Heavy Metal (Dietmar Elflein), oder über Ideen von Weiblichkeit bei Madonna, der Riot Grrrl-Bewegung und Lady Ray Bitch (Erika Funk-Hennigs). Corinna Jean Timmermann hat Frankfurter DJanes befragt; Hans-Joachim Erwe reflektiert über „Je t’aime“ und andere Stöhnsongs; und Paul Carr untersucht die Rolle des Sex in Frank Zappas Musik. Merle Mulder sowie Martin Pfleiderer blicken auf die Repräsentation oder Anfeindung von Schwulen im popkulturellen Umfeld und konkret in Poptexten. Thomas Burkhalter blickt auf die auf die sich wandelnde Frauenrolle in der arabischen Welt vor dem Hintergrund ihrer Präsenz in der Popkultur. Michael Ahlers und Christoph Jacke schließlich haben sich unters Volk gemischt und gefragt: Was hört ihr, wenn…? Der Jazz kommt in all diesen Themen eher am Rande vor. Die bunte Sicht auf Musik als Soundtrack erotischer Aktivität bzw. als selbst einflussnehmender Partner bei intimster Zweisamkeit allerdings macht neugierig, welche Wirkung wohl der Jazz hätte. Oder ist Jazz eher das romantische Vorspielt? Wolfram Knauer (Januar 2012)
Instant Composers Pool Orchestra. You have to see it von Ton Mijs (Fotos) & Kevin Whitehead (Text) Rotterdam 2011 (Mijs Cartografie & Vormgeving) 64 Seiten, 15 Euro ISBN: 978-908-1686211 (www.tonmijs.nl) Nein, man muss es auch gehört haben! Aber eben auch gesehen… Der Jazz ist und bleibt Livemusik, und das holländische Instant Composers Pool Orchestra um Misha Mengelberg und Han Bennink ist ein Ensemble, das man besser im Konzert erlebt haben sollte, um zu wissen, welche Spannung aus den Gegensätzen zwischen Ordnung und Chaos in seiner Musik möglich ist. Der Fotograf Ton Mijs und der in Amsterdam lebende amerikanische Journalist haben mit diesem Büchlein dem ICP eine Liebeserklärung gemacht, die den so gar nicht musikorientierten Untertitel des Buchs erklärt und rechtfertigt. Es sind seltsam erklärende Bilder dabei: Etwa das Trommelfell auf dem Boden (oder ist es ein weißes Tablett?) mit einem Kamm darauf, während daneben, sorgfältig aufgereiht diverse Besen liegen. Oder Misha Mengelberg im Gespräch mit Tristan Honsinger und Ernst Glerum, die ihn ein wenig ungläubig anschauen, während Han Bennink sein Becken festschraubt. Mijs Fotos begleiten die Band bei einem Konzert im Amsterdamer Bimhuis im September 2009. Er fängt ein, wie sich Michael Moore einspielt, wie Honsinger sein Cello auspackt, wie Thomas Heberer die Noten sortiert, Pfeife und Feuerzeug quer zu den Stöcken auf der Tom liegen (Hennink scheint in Bildern zu leben), Mengelbergs Plastiktüte, ein Becher Kaffee und Chips auf dem Flügel, ein Soundcheck, der zugleich neue Absprachen enthält, aber irgendwie auch Ablenkung, auf dass bloß nicht alles ganz sicher läuft am Abend. Die Bühne ist leer, das Publikum da. Ansage und kurzes Gespräch mit Mengelberg. Bennink trommelt auf dem Boden, die Band spielt, hört zu, spielt weiter, lässt sich von Honsinger dirigieren, Conduction, Solo, Alle, Verbeugung, Schluss. Eine leere Bühne, ein paar Notenblätter liegen auf dem Boden, leere Stühle, der Flügel zugeklappt. Man ahnt, was da geschah an diesem Abend, und dann meint man doch, dass das Sehen nicht ausreicht: Man muss es schon hören. Aber wenn man es gehört hat, dann ist das Sehen zusätzlicher Gewinn. Ein wunderbares Fotobuch, dem der Text von Kevin Whitehead den Inhalt beigibt, eine einfühlsame Beschreibung des Konzerts. Und tatsächlich schaue ich auf die Rückseite des Buchs, ob nicht doch noch eine CD beiheftet. Leider nicht. Also sollte ich möglichst bald das ICP live hören. Oder mir eine CD aus dem Regal suchen… Wolfram Knauer (Januar 2012)
Respekt! Die Geschichte der Fire Music von Christian Broecking
Berlin 2011 (Verbrecher Verlag)
475 Seiten,
18 Euro
ISBN: 978-3-940426-67-3
Kaum jemand kennt die amerikanische Jazzszene der letzten dreißig, vierzig Jahren so gut wie Christian Broecking, der mit vielen der Protagonisten insbesondere des afro-amerikanischen Jazz gesprochen und sie in Interviews für Tageszeitungen und Fachzeitschriften portraitiert hat.
Der neue, fast 500 Seiten starke Wälzer enthält drei bereits früher beim selben Verlag erschienene Bücher mit Aktualisierungen in den Kommentaren zu den Interviews: „Respekt!“ von 2004, „Black Codes“ von 2005 sowie „Jeder Ton eine Rettungsstation“ von 2007.
Die Interviews, die letzten Endes (in nicht edierter Form) auch Basis von Broeckings jüngst erschienener Dissertation zum Selbstverständnis des afro-amerikanischen Jazz der letzten 20 Jahre ist, beleuchten ganz subjektiv die Sicht der Protagonisten zum Umfeld in den USA, zu gesellschaftlichen und ästhetischen Entwicklungen, zu Freiheit oder Tradition, zur politischen Verantwortung von Künstlern und vielem mehr.
Es sind gerade in der Sammlung wichtige Versatzstücke für das Verständnis einer Szene, die vom Wandel geprägt und doch der Tradition verpflichtet ist. Broecking ist in diesen Interviews zurückhaltender Chronist, neugierig und nachhakend, wobei sich Themen wie Politik, Verantwortung, Tradition oder Rassismus wie rote Fäden durch die Gespräche ziehen.
Alles in allem: Kurzweilig, lesenswert und in der klugen Weitsicht vieler der Gesprächspartner eine durchaus optimistische Fundgrube für jeden, der Angst um die Zukunft des Jazz hat.
Wolfram Knauer (Dezember 2011)
10 Jahre unerhört!. Zum Jubiläum des Zürcher unerhört!-Festivals
herausgegeben von Michael Stötzel
Zürich 2011 (Verein unerhört!)
122 Seiten
Das unerhört!-Festival in Zürich fand 2011 zum zehnten Mal statt, und die vorliegende Publikation würdigt die unterschiedlichen Seiten der Veranstaltung: Programmgestaltung, Einbeziehung der regionalen wie internationalen Szene, Veranstaltungsorganisation, Werbung und grafische Gestaltung der Werbemittel, Partner wie Club, Altenheim oder Museum, Kontakte zur Jazzausbildung im Land, aber auch Finanzierung und Catering für die auftretenden Musiker.
Das Ganze ist ein begeistertes und doch auch ehrliches Feiern, bei dem vor allem die Macher selbst von ihrer Arbeit berichten, quasi einen Blick in die Werkstatt der Festivalgestalter erlauben, in ihre Zweifel, in den Umgang mit Problemen, aber eben auch in die Freude über den Erfolg und die Ermutigung zum Risiko.
Es ist eine Festschrift, jubiläums-würdig und Lust machend auf mehr. Und ein wenig ermutigt es gerade in den Zeiten schwerer Finanzen, wie das gemeinsame Wollen aus einer klein-budgetierten Avantgarde-Veranstaltung ein kaum mehr aus der Landschaft der europäischen Festivals wegzudenkendes Event werden ließ, das durch Programmierung und Ermutigung der Musiker und ihrer Projekte schließlich selbst Einfluss auf die Entwicklung der präsentierten Musik genommen hat. Zum Schluss gibt es etliche Farbaufnahmen der Fotografin Francesca Pfeffer von Konzerten des Festivals, die allerdings vor allem die Bühnensituation, kaum die Atmosphäre der Veranstaltung dokumentiert.
Auch wir gratulieren jedenfalls: Bleibt weiter unerhört!
Wolfram Knauer (Dezember 2011)
Der Marsalis-Komplex. Studien zur gesellschaftlichen Relevanz des afroamerikanischen Jazz zwischen 1992 und 2007
Christian Broecking
Berlin 2011 (Broecking Verlag)
216 Seiten, 49,90 Euro
ISBN: 978-3-938763-32-2
Christian Broecking ist vielleicht der profundeste Kenner der gegenwärtigen afro-amerikanischen Jazzszene und ihrer ästhetischen Diskurse. Sein 1995 erschienenes Buch „Der Marsalis-Faktor“ beschäftigte sich recht früh mit dem Phänomen des New Orleanser Trompeters Wynton Marsalis und seiner ästhetischen Entourage von Musikern, Kritikern und afro-amerikanischen Kulturphilosophen. Seither sammelte Broecking in seiner täglichen Arbeit weitere Zeugnisse über die Entwicklung eines afro-amerikanischen Bewusstseins für ästhetische Entwicklungen und fasste immer wieder die Erkenntnisse seiner journalistischen Feldforschung in Aufsätzen und Aufsatzsammlungen zusammen. Für seine musikwissenschaftliche Dissertation an der Technischen Universität Berlin hat Broecking seine eigenen jahrelangen Recherchen jetzt zur Grundlage einer systematischen Inhaltsanalyse gemacht und in einen größeren amerikanischen Ästhetikdiskurs eingeordnet.
Im „Marsalis-Komplex“ geht es um „die Auseinandersetzung um die politische Relevanz, den gesellschaftlichen Nutzen und eine Re-Definition des (afro)amerikanischen Jazz“, die sich vor allem an der musikalischen Haltung von Wynton Marsalis festmachte. In einem ersten Kapitel zeichnet Broecking dabei die „Geschichte der Diskurse“ nach, verweist auf die Prägung vieler Musiker durch den soziokulturellen Wandel der Bürgerrechtsbewegung und die im Jahrzehnt darauf eintretende Frustration durch die Realität. Er konstatiert eine Tendenz afro-amerikanischer Musiker, „mangelnde Anerkennung im eigenen Land durch den Bezug zur schwarzen Herkunftskultur zu kompensieren“.
Sein zweites Kapitel portraitiert die Interviewpartner und ihre jeweilige ästhetische Position. Es handelt sich dabei um Musiker und Theoretiker/Schriftsteller, konkret um: Albert Murray, Bill Dixon, Ornette Coleman, Betty Carter, Amiri Baraka, Eddie Harris, Archie Shepp, Lester Bowie, Stanley Crouch, David Murray, Steve Coleman, Don Byron, Greg Osby, Branford Marsalis, Wynton Marsalis and Terence Blanchard. Broecking weist in diesen Kurzportraits auch auf die Interviewsituation hin, Ort, Zeit und Stimmung während des Interviews.
Im dritten Kapitel skizziert Broecking sein methodisches Vorgehen, bevor er im vierten Kapitel zur Inhaltsanalyse kommt. Hierfür identifiziert er Themenbereiche wie „Marktzugang“, „Gesellschaftlicher Kontext“, „Identität“, „Rezeption“, „Spannungsfelder“, „Politische Intention“, „Transkulturalität“ und hinterfragt diese Komplexe mithilfe von Zitaten aus seinen Interviews. Ein Ergebnis dieser Analyse ist dabei, dass „die Befragten in ihren Äußerungen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen ein heterogenes Meinungsgefüge“ vermitteln, „das nicht mit der Rezeption einer als homogen empfundenen schwarzen Kultur korreliert“.
In einem Schlusskapitel überprüft Broecking die Aussagen aus den Interviews, die er zumeist in den 1990er Jahren geführt hatte, anhand der Entwicklungen seither, konzentriert sich dabei auf die Auswirkungen der gesellschaftlichen Akzeptanz eines Konzerthauses wie Jazz at Lincoln Center, auf Veränderungen der schwarzen Perspektive, auf politische Optionen der Musiker, die sich aus dem Kreis der Young Lions rekrutieren, auf den Themenkomplex Ästhetik und Kommerz, auf die sozialen und politischen Auswirkungen von Katrina und die mangelhaften Bewältigung der Folgen des Hurricane durch die amerikanische Regierung, sowie auf Veränderungen der Wahrnehmung afro-amerikanischer Musik in Europa, ausgelöst durch europäische Widerstände gegen die amerikanische Politik der letzten zwei Jahrzehnte.
Alles in allem zeichnet Christian Broecking ein überaus spannendes Bild des ästhetischen Diskurses im afro-amerikanischen Jazz der 1990er bis 2010er Jahre, einer Zeit, die politisch ja durchaus turbulent war, überschattet von zwei Irakkriegen, 9/11, Katrina und anderen Verunsicherungen des sozialen und gesellschaftlichen Gefüges in den USA. Er betrachtet die Sichtweise afro-amerikanischer Musiker ein wenig wie ein Außenseiter, nüchtern-analytisch aus ihren eigenen Argumenten heraus erklärend statt richtig stellend, und er vermag damit vielleicht gerade die Missverständnisse deutlich zu machen, die auf allen Seiten zu Lagerbildungen führten, welche die Positionen nach außen viel einheitlicher wirken lassen als sie es tatsächlich sind. Zugleich zeigt er, wie Quellenmaterial, sprich Interviews, systematisch und quellenkritisch genutzt werden können, um aktuelle Diskurse nachzuzeichnen. Viele der von ihm geführten Interviews sind anderswo nachzulesen – allerdings nur in edierter, nicht der original transkribierten Form. Hinzuweisen wäre übrigens beispielsweise auf Broeckings fast zeitlich mit dieser Dissertation erschienenes Buch „Respekt! Die Geschichte der Fire Music“ (Verbrecher Verlag, Berlin 2011).
Wolfram Knauer (November 2011)
Norman Granz. The Man Who Used Jazz for Justice
Von Tad Herschorn
Berkeley 2011 (University of California Press)
470 Seiten, 34,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-520-26782-4
Er gehört zu den Nichtmusikern, die Jazzgeschichte geschrieben haben: der Impresario, Plattenfirmengründer und -boss Norman Granz. Nicht nur haben ihm viele Musiker wenigstens einen Teil ihrer Karriere zu verdanken; er hat Europa in den 1950er Jahren mit Jazz überschwemmt, und er hat quasi mitgeholfen einen eigenen Stil zu kreieren: jenen swing-orientierten intim besetzten Mainstream-Jazz der 1950er Jahre, in dem die (von ihm ebenfalls begründeten) Jazz-at-the-Philharmonic-Orgien ruhigere Ergebnisse einfuhren. Die Namen der Stars schmücken seinen Weg: Ella und Oscar (Peterson schrieb auch das Vorwort zum Buch), Prez und Lady Day, Basie und Ellington, Bird und King Cole … und sie alle haben ihren Platz in einer neuen Biographie, vorgelegt von Tad Hershorn, seines Zeichens einer der Mitarbeiter des Institute of Jazz Studies an der Rutgers University und somit an der Quelle jeder Menge Archivmaterials zur Jazzgeschichte.
Hershorn beginnt sein Buch mit der Anekdote, wie Granz und die Musiker seiner JATP-Tournee 1947 in Jackson, Michigan, an einem leeren Restaurant anhielten, dessen Besitzer sich weigerte die Musiker wegen ihrer Hautfarbe zu bedienen. Sie saßen dann drei Stunden hungrig lang am Tresen des Restaurants und begannen ihr Konzert entsprechend eine Stunde zu spät. Granz stellte sicher, das Konzert wie immer mit der amerikanischen Nationalhymne beginnen zu lassen, ging dann ans Mikrophon, erklärte die Verspätung und nannte auch den Namen des Restaurants. Nach dem Konzert rief er seine Anwälte an und ließ den Besitzer verklagen.
Diese Geschichte ist es, die Tad Hershorn erzählen will: die Geschichte eines jüdischen Sohns russischer Immigranten, der sich alles selbst beigebracht hatte: die Geschäftstüchtigkeit genauso wie den Sinn für die schönen Dinge des Lebens. Als er 21 Jahre alt war, erzählt Granz, hörte er Coleman Hawkins‘ Aufnahme von „Body and Soul“ und war gefangen. Er ging in die Clubs von Los Angeles, reiste nach New York und besuchte Minton’s und die anderen Spielorte in Harlem, in denen er nicht nur authentischen Jazz hörte, sondern auch die Entwicklungen mitbekam, die in jenen Jahren den Bebop entstehen ließen, freundete sich mit Musikern wie Roy Eldridge oder Billie Holiday an und hatte wohl auch eine schwarze Freundin.
Hershorn erzählt, wie Granz 1944 das erste Jazz at the Philharmonic-Konzert organisierte, nachdem er zuvor bereits Jam Sessions veranstaltet hatte. Es war ein Benefizkonzert zur Unterstützung der Verteidigung in einem Jugendgerichtsfall, der damals Los Angeles aufwühlte und für den auch bekannte Schauspieler sich mit ihrem Namen einsetzten. Das Konzert fand im Philharmonic Auditorium statt, und der Name blieb, später abgekürzt zu JATP, Markenzeichen und stilistische Beschreibung in einem. Der Armed Forces Radio Service durfte das Programm mitschneiden und gab ihm im Gegenzug die Masterbänder. Die begeisterten Granz so sehr, dass er sich entschloss, sie auf Platte herauszubringen – die ersten kommerziell veröffentlichen Live-Mitschnitte.
In den folgenden Jahren wurde JATP zum großen Publikumserfolg: ein ganz neues Genre der Jazzpräsentation, nicht zum Tanz, sondern zum Hören und Miterleben von virtuosen instrumentalen Wettstreiten. Das gefiel nicht jedem, aber für die Beteiligten – die Musiker genauso wie für Granz – war es ein gutes Geschäft. Nebenher produzierte er mit Gijon Mili den Kurzfilm „Jammin‘ the Blues“, engagierte sich für Bürgerrechte, indem er die NAACP unterstützte, und gründete sein erstes Jazzlabel, Clef Records. Hershon erzählt von den Problemen, die granz mit Veranstaltern hatte, die weder die Ästhetik der JATP-Gruppen verstanden (viel Soli, wenig Arrangements) noch sich mit seinen Integrationsbemühungen abfinden konnten. Als er Ende der 40er Jahre Ella Fitzgerald und Oscar Peterson in seine Tourgruppe aufnahm, erhielt das Ensemble umso mehr an Popularität. 1951 brachte er JATP erstmals nach Europa. Er gründete ein zweites Label, Norgran, und schließlich jenes Label, das einem am ersten in den Sinn kommt, wenn man seinen Namen hört – auch weil es immer noch eine Marke ist: Verve. Granz’s große LP-Projekte in den 50er Jahren waren etwa Alben mit Fred Astaire, Solo- und Small-Group-Sessions mit Art Tatum, seine Charlie-Parker-Einspielungen mit Band, Orchester oder Streichern, die Songbooks von Ella Fitzgerald, Aufnahmen mit Billie Holiday und und und…
Hershorn listet all diese Aktivitäten auf und würzt sie mit Interviewausschnitten mit Musikern, Kollegen, Veranstaltern. So zitiert er beispielsweise aus unveröffentlichten Briefen, in denen Granz sich gegenüber dem New York Times-Kritiker John S. Wilson etwa über das unkollegiale Bühnenverhalten Frank Sinatras beklagt, der auf der Bühne rassistische Witze reiße und Ella und Basie in ihre eh viel zu kurz bemessenen Auftritte hineinregiere. Er beleuchtet Granz’s Verhältnis zu Journalisten, seine geschäftlichen Bandagen, die durchaus hart sein konnten, immer wieder sein vehementes Eintreten für Bürgerrechte, seine Freundschaft zu Pablo Picasso und seine Sammelleidenschaft für moderne Kunst. Eigentlich hatte Granz sich 1960 aus dem Plattengeschäft zurückgezogen. Als er 1973 ein JATP-Konzerte in Santa Monica mitschneiden ließ, interessierte sich die Polygram in Hamburg dafür und bot ihm an ihn zu unterstützen, wenn er ein neues Label gründen würde. Granz überlegte ein wenig, realisierte dann, dass seine legendären Aufnahmen mit Tatum aus den 1950er Jahren schon lange nicht mehr auf dem Markt waren, dass es eine Sünde sei, dass jemand wie Sarah Vaughan seit fünf Jahren nicht mehr ins Plattenstudio gegangen sei und entschied sich mit Pablo Records ein neues, nicht minder erfolgreiches und stilbildendes Label ins Leben zu rufen.
Bis zum Ende blieb Granz ein eigensinniger, in seinem Geschmack und seinen Qualitätsvorstellungen sehr klarer, politisch aktiver Mensch. Hershorns Buch erzählt diese Geschichte aus der Praxis des Musiklebens faktenreich und dennoch unterhaltsam und spannend zu lesen. Sorgfältig recherchiert ist „Norman Granz. The Man Who Used Jazz for Justice“ ein wunderbares Buch, durch das man einmal mehr versteht, dass es manchmal einfach eines starken Menschen bedarf, um Impulse zu setzen, um Träume wahr werden zu lassen, um aus Ideen Erfolge zu machen.
Wolfram Knauer (November 2011)
Let’s Play Jazz. Einführung ins Jazzspiel für Klavier. Spielstücke in verschiedenen Jazz-Stilen und Improvisationsanleitungen
von Andreas Hertel
Wien 2011 (Doblinger)
51 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 979-0-012-200314
Andreas Hertels versteht „Let’s Play Jazz“ als „Spielbuch für die Mittelstufe oder auch als Einstieg ins Leadsheet-Spiel und in die Improvisation“. Das Buch enthält 15 einfache Arrangements etwa über den Blues, Swingthemen, Rhythm-Changes, Balladen, über Bebop und ungerade Rhythmen bis Soul-Jazz und Bossa Nova. Jedem Arrangement folgen – auf Deutsch wie Englisch – Erläuterungen, Übungen und Improvisationstipps. Von einzelnen Stücken gibt es zusätzlich „vereinfachte“ Fassungen des Arrangements. Hertel gibt Hinweise auf harmonische, melodische und rhythmische Besonderheiten. Eine beiheftende CD gibt zusätzlich einen Klangeindruck des im Heft Enthaltenen.
Wolfram Knauer (November 2011)
Louis Armstrong’s Hot Five and Hot Seven Recordings
von Brian Harker
New York 2011 (Oxford University Press)
186 Seiten, 16,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-538840-4
Brian Harker promovierte 1997 mit einer musikwissenschaftlichen Arbeit über Louis Armstrongs frühe musikalische Entwicklung. Für die neue Reihe des Verlags Oxford University Press mit Monographien zu bedeutenden Aufnahmen oder Aufnahme-Bündeln hat Harker jetzt ein Buch über Louis Armstrongs Hot Five und Hot Seven vorgelegt, das zweifellos als analytisches Standardwerk zur Musik Armstrongs bezeichnet werden darf.
Harker geht es nicht darum, die in der Jazzgeschichtsschreibung fast schon tot getrampelten Komplimente des Trompeters als ersten großen Solisten, als Erfinder und Innovator zu wiederholen, sondern er sieht ihn zugleich als einen Verdichter jazz- und popmusikalischer Entwicklungen seiner Zeit. Die Auswahl der von ihm analysierten Stücke soll unterschiedliche Aspekte in Armstrongs Werk aufzeigen helfen. In „Cornet Chop Suey“ etwa stellt er die Virtuosität des Trompeters heraus und ordnet diese zugleich in Armstrongs Lebenswirklichkeit als auf Effekt achtender Bühnenkünstler ein. In „Big Butter and Egg Man“ konzentriert er sich auf Armstrongs Art der Melodiebildung, auf motivische Beziehungen der Phrasen, die sein Solo zusammenhalten. Im „Potato Head Blues“ zeigt er, wie Armstrong harmonie-basierte Soli angeht und über ihnen lange, zusammenhängende Linien erfindet. Der „S.O.L. Blues“ sowie der „Gully Low Blues“ zeigen Armstrong als Spezialisten für hohe Töne. Im „Savoy Blues“ steht der Blues im Vordergrund der analytischen Betrachtung, den Armstrong mit farbigen Harmonisierungen ausschmückte. Der „West End Blues“ schließlich ist die wohl klassischste aller klassischen Aufnahmen Satchmos, dessen Solo ein jeder Trompeter – und nicht nur Trompeter – über Jahrzehnte auswendig spielen konnten. Hier geht es Harker um die strukturelle Einheit, die Armstrong erreicht, obwohl er sich im Verlauf des Stücks einer ganzen Menge sehr unterschiedlicher stilistischer Vokabeln bedient.
Harker gelingt es in seinen Analysen, das Ohr des Lesers immer wieder auf konkrete klangliche Ereignisse zu lenken, innezuhalten und zu fragen, woher bestimmte musikalische Entscheidungen stammen, in welchem – auch kulturellen – Kontext sie zu hören sein könnten. Die musikalische Analyse und die Notenbeispiele, die Harker seinem Buch beifügt, sind dabei auch für den musikwissenschaftlichen Laien verdaubar, da der Autor immer klarmacht, wieso er sich ins Analysieren begibt und wie sich die Ergebnisse ins Gesamtbild seiner Argumentation einpassen.
Armstrong, schreibt Harker, war sich der Entwicklung des Jazz durchaus bewusst, nicht nur der Fähigkeit dieser Musik, Neues einzubeziehen, sondern auch der Notwendigkeit, die Stilistik dem Zeitgeist anzupassen. Wer auch immer die Hot Five- und Hot-Seven-Aufnahmen als „reinen Jazz“ verstünde, authentisch und kommerziell unverfälscht, der höre nicht genau hin – und genau auf diese Momente der Entwicklung und der Reaktion Armstrongs auf musikalische Zeitgeschichte und Markt weist Harker in seinem Buch hin. Armstrong selbst seien seine Hot-Five-Aufnahmen bei weitem nicht so wichtig gewesen wie andere, kommerziell populärere Projekte. Selbst in seiner Karriere in den 20er Jahren hätten diese Aufnahmen nur einen kleinen Teil seiner Arbeit ausgemacht. Dennoch bieten sie vielleicht gerade deswegen, weil sie nicht als „Meisterwerke“ angelegt waren, den Blick in die Werkstatt des Künstlers, in sein improvisatorisches Denken und sein ästhetisches Selbstverständnis.
Wolfram Knauer (Oktober 2011)
New Atlantis. Musicians Battle for the Survival of New Orleans
von John Swenson
New York 2011 (Oxford University Press)
284 Seiten, 27,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-975452-6
Als Ende August 2005 der Hurricane Katrina die Golfküste der Vereinigten Staaten erreichte, war dies eine der größten und nachhaltigsten Naturkatastrophen des Landes. Aber die Natur war nicht der einzig Schuldige an den Auswirkungen des Sturms. Die behördlichen Fehlleistungen in der Vorbereitung auf das Ereignis, während des Sturms und bei der Aufarbeitung der Schäden hatten mindestens genauso große Auswirkungen, sowohl ganz direkt auf das Leben und die Befindlichkeit der Betroffenen als auch indirekt am Verlust an Vertrauen in den Staat und seine Fähigkeit, den eigenen Bürgern zu helfen.
John Swenson dokumentiert in seinem Buch, wie Kultur und insbesondere die Musik im Zuge des größten Durcheinanders, der größten Unsicherheit, den Einwohnern von New Orleans Halt bot, wie New-Orleans-Musik, die schon immer stark in die Bürgergemeinschaft verankert war, auch jetzt wieder eine konkrete Funktion erhielt, die nämlich, das Überleben der Stadt zu sichern, den Menschen Hoffnung zu geben und die durch Sturm und Verwaltung verletzte Identität der Einwohner wiederherzustellen.
Swensons Ansatz ist zuallererst das Gespräch, die persönliche Betroffenheit. Er unterhält sich mit den Bürgern der Stadt, fragt sie nach ihren Erfahrungen, ihren Sorgen, nach Strategien, die sie nach Katrina entwickelten, um selbst und mit ihren Familien überleben zu können. Vor allem spricht er mit Musikern, Glen David, James und Troy Andrews etwa, Dr. John, Leroy Jones, Irvin Mayfield, Dr. Michael White und anderen. Es geht nur selten um den Sturm an sich, vor allem stattdessen um die durch Sturm und Nachwirkungen entstandenen Schäden materieller genauso wie physischer oder psychischer Natur. Wo die Behörden nicht halfen, musste man sich selbst helfen, das war allen Bürgern der Stadt am Mississippi bald deutlich. Die Arabi Wrecking Krewe etwa war ein Zusammenschluss von Musikern und Freunden, die sich gegenseitig bei Reparaturarbeiten oder dem Wiederaufbau ihrer Häuser halfen.
Die Stadt wieder bewohnbar machen war eine Sache, Spielorte wieder bespielbar machen eine andere. Wobei es bei letzteren erst einmal gar nicht ums Geldverdienen ging, sondern einfach ums Wohlfühlen, ums Erhalten der kulturellen Identität einer Stadt, die von aller Welt als dem Untergang geweiht gesehen wurde.
Swensons Buch ist keine Sozialstudie, sondern der Versuch, die Stimmung zwischen Enttäuschung und Zuversicht, zwischen Verlassensein und Selbsthilfe einzufangen und dabei die Rolle der Musik besonders zu betrachten. Er schildert die Frustration, die Unterbrechung des armen aber glücklichen Alltags, die Ängste, die Realitätschecks, denen ein jeder sich unterziehen musste, um zu entscheiden, ob die untergegangene Stadt es Wert sei, für sie zu kämpfen. Vor allem zeichnet er die Kreativität nach, die in dieser Stadt selbst in Zeiten größter Not steckt. Er benennt auch Kriminalität und die Gewalt, die die Straßen von New Orleans in den Post-Katrina-Jahren prägten und der Musiker wie die Andrews-Familie ganz bewusst Positives entgegensetzen wollten.
Neben der Schilderung der Einbindung von Musik ins soziale Gewissen der zu reparierenden Stadt ist vielleicht Swensons Vorstellung einer „post-Katrina music“ die faszinierendste Erkenntnis seines Buchs. Hier spürt man gleichsam, wie etwas zuvorderst Nicht-Musikalisches zu musikalischem Neuland wird, das aber – man ist schließlich in New Orleans –an jeder Stelle die Verbindung zur Tradition behält. Swenson’s case-in-point sind etwa Trombone Shorty oder Leroy Jones. „New Atlantis“ ist die Geschichte einer kurzzeitig unterbrochenen Beziehung zwischen Musikern und ihrer Stadt, die sie sich zurückeroberten, indem sie musikalisch in sie investierten. Und als der Autor gerade bei der Hoffnung auf eine bessere Zukunft angekommen ist, beendet Swenson sein Buch mit der Deepwater-Hiorizon-Tragödie vom April 2010, die zeigt, das Kämpfen allein nicht weiterhilft: Man muss weiter-kämpfen!
Wolfram Knauer (Oktober 2011)
Begegnungen. Wie der Jazz unsere Herzen gewann
herausgegeben von Klaus Neumeister & Lutz Eikelmann
Norderstedt 2011 (Sonrrie)
414 Seiten, 28,50 Euro
ISBN: 978-3-936968-19-4
Jazz ist immer noch eine Musik der Passion – sowohl die Musiker wie auch die Fans haben ihre eigene, oft sehr persönliche Beziehung zu dieser Musik aufgebaut. Von diesen Beziehungen handelt das Buch, das Klaus Neumeister und Lutz Eikelmann zusammengestellt haben und in dem Musiker genauso wie Jazzfans zu Worte kommen. Die Frage „Wie kamst Du zum Jazz“ ist dabei für viele der Ausgangspunkt, daneben aber wird auch von einschneidenden Begegnungen mit großen Musikern erzählt, von besonderen Konzerterlebnissen, von einflussreichen Plattenaufnahmen.
Neben gestandenen Jazzmusikern wie Reimer von Essen, Ladi Geisler, Abbi Hübner, Peter ‚Banjo‘ Meier, Hawe Schneider, Gerhard Vohwinkel oder Thorsten Zwingenberger finden sich so der Entertainer Götz Alsmann, der Filmemacher Marc Boettcher, der Betreiber des Berliner Yorkschlösschens, Olaf Dähmlow oder der Manager Hans-Olaf Henkel; weitere Erinnerungen stammen von Fans dieser Musik, von fleißigen Konzertgängern, von Sammlern – 66 Autoren insgesamt, die das dicke Buch zu einer Art Erinnerungsalbum des Jazz in Deutschland machen. Nun ja, man muss diesen Satz vielleicht ein wenig einschränken: Die meisten der Autoren sind vor allem mit dem Jazz zwischen New Orleans und Swing vertraut und diesem verbunden, etliche gehören zur Hamburger Szene, die lange Zeit bis heute als Hochburg des traditionellen Jazz in Deutschland gilt. Abbi Hübner beschreibt die Verbundenheit der Hamburger Musiker mit der Musik aus jener anderen Hafenstadt, New Orleans, sehr schön in verschiedenen seiner Kapitel in diesem Buch. Und verschiedene recht ausführliche Kapitel über Ken Colyer machen den Einfluss der britischen Trad-Scene auf viele der Bands im Norden Deutschlands verständlich.
Es geht hier also nicht um den modernen Jazz, der natürlich genauso die Herzen vieler Jazzfreunde erobert hat. Diese stilistische Beschränkung aber macht durchaus Sinn, handelt es sich bei dieser Sammlung von Erinnerungen doch auch um die Beschreibung einer recht klar umgrenzten „Szene“, die sich durch die vielen kreuzenden Wege und Erfahrungen, durch Erinnerungen daran, was einen denn persönlich zuerst am Jazz faszinierte, noch besser fassen und definieren lässt. Doch ist das Buch weit entfernt davon, eine nüchterne und systematische Szenebeschreibung zu sein. Es liefert Material zum „Gefühl“ einer Szene, es versucht die Atmosphäre zu umreißen, die so viele junge Menschen faszinierte. Und es lässt ein wenig Wehmut aufkommen, dass diese Faszination denn doch oft in der Vergangenheit liegt.
Auch diesem Thema aber widmen sich die Autoren zum Schluss des Buchs, wenn Reimer von Essen etwa darum wirbt, junge Menschen sowohl fürs Ausüben als auch für den Genuss des alten Jazz zu begeistern, wenn Lutz Eikelmann auf junge Musiker und Bandleader hinweist, die in den 50er, 60er und 70er Jahren geboren wurden, und wenn Klaus Neumeister wohlwollend kritisch auf den traditionellen Jazz zwischen Amateurstatus und Professionalismus schaut.
Ein sehr persönliches, in den unterschiedlichen Ansätzen sehr abwechslungsreiches und allein schon deswegen lesenswertes Buch.
PS: Der Vollständigkeit halber sollte erwähnt werden, dass auch der Autor dieser Zeilen mit einem kurzen Bericht über seinen ersten Besuch in New York und seine Jazzeindrücke des Big Apple im Buch vertreten ist.
Wolfram Knauer (Oktober 2011)
Traditional New Orleans Jazz. Conversations With the Men Who Make the Music
von Thomas W. Jacobsen
Baton Rouge 2011 (Louisiana State University Press)
244 Seiten, 9,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8071-3779-6
New Orleans lebte immer davon, dass Musik in dieser Stadt mehr war als nur eine schöne Nebensächlichkeit. Bis heute hat Musik in New Orleans klare Funktionen innerhalb der Bürgergemeinschaft, bis heute ist Musik für die Bürger der Stadt identitätsstiftend. Und bis heute gibt es in New Orleans keinen Mangel (a) an Publikum und (b) an Musikernachwuchs, wobei die meisten der jungen Musiker sehr bewusst Bezug auf die lange Tradition des Jazz in ihrer Stadt nehmen.
Thomas W. Jacobsen stellt in seinem Buch neunzehn Musiker vor, die für die traditionelle Jazzszene in New Orleans um die Jahrtausendwende stehen. Die meisten seiner Interviews wurden ursprünglich in der Zeitschrift „The Mississippi Rag“ veröffentlicht; Jacobsen hat sie für das Buch um knappe Vorworte ergänzt, in denen er die Aktivitäten der betreffenden Musiker seit der Veröffentlichung seiner Interviews referiert.
Durchwegs alle der Gespräche sind überaus lesenswert, egal ob Jacobsen sich mit Veteranen unterhält wie Lionel Ferbos oder Jack Maheu oder mit den jungen Wilden des Stils, Irvin Mayfield etwa, Evan Christopher oder Duke Heitker. Höhepunkte sind etwa das lebendige Gespräch mit Mayfield, der zum Zeitpunkt des Interviews gerade mal 18 Jahre alt war, allerdings bereits recht klare Vorstellungen davon hat, welches professionelle Ethos er als Jazzmusiker verfolgen muss, oder die Interviews mit Lucien Barbarin, Leroy Jones, Herlin Riley, Gregg Stafford, Joe Torregano und Dr. Michael White, deren musikalische Lebensgeschichten sich in ihrer Jugend alle in der Fairview Baptist Church Christian Band kreuzten, in der Danny Barker den Jugendlichen Lust auf die musikalischen Traditionen ihrer Heimatstadt machte und sie ermunterte, innerhalb dieser Traditionen ihren eigenen Weg zu finden.
Was am meisten fasziniert bei der Lektüre ist die Ernsthaftigkeit, mit der die Protagonisten ihre künstlerische Ästhetik verfolgen, eine Ästhetik, die manchmal dem Erfolg des Kommerzes untergeordnet werden muss (der in den meisten Fällen den Namen „Dukes of Dixieland“ trägt), aber immer im Hintergrund des künstlerischen Anspruchs mitschwingt. Die Identifizierung dieser künstlerischen Ästhetik des New Orleans Jazz um die Jahrtausendwende ist das Verdienst der so einfühlsam geführten Gespräche, die, im Buch zusammengefasst, einen ganzen Stil umreißen, von der Spielhaltung über technische Details bis hin zur Situation der Szene in den 1990er, frühem 2000er Jahren. Katrina spielt in den Vor- und Nachworte Jacobsens eine Rolle, in denen er nicht versäumt zu erwähnen, wie der Hurrikane im Jahr 2005 die einzelnen portraitierten Musiker betroffen hat. Und neben den amerikanischen Vertretern des Stils kommen mit Clive Wilson, Brian Ogilvie und Trevor Richards auch Nicht-Amerikaner zu Worte, die sich zumindest für eine Zeitlang in New Orleans niederließen. Trevor Richards Zusammenfassung des Einflusses von Schlagzeuggrößen wie Zutty Singleton, Cozy Cole, Big Sid Catlett oder Chauncey Morehouse ist dabei besonders lesenswert.
Eine kurzweilige, überaus lehrreiche Lektüre über eine lokal-regionale Szene, die bis heute nichts an ihrer Lebendigkeit und ihrer Bedeutung für die Jazzentwicklung verloren hat.
Wolfram Knauer (September 2011)
Music In My Soul
von Noah Howard
Köln 2011 (buddy’s knife)
148 Seiten, 18 Euro
ISBN: 978-3-00-034401-5
Der Saxophonist Noah Howard verstarb im September 2010 im Alter von 67 Jahren in Südfrankreich. Wenige Tage vor seinem Tod schrieb er die letzten Worte seines autobiographischen Manuskripts, das Renata Da Rin jetzt in ihrer Buchreihe buddy’s knife herausgebracht hat.
Howard beginnt seine Erinnerungen mit den kulturellen Einflüssen seiner Heimatstadt New Orleans und der frühen Faszination, die er für Kultur und Musik aus aller Welt empfunden habe. Er war ein wissensdurstiges Kind und wollte die Welt entdecken, und seine Eltern, die nie weit über die Stadtgrenzen hinausgekommen waren, unterstützten seine Neugier. In New Orleans hörte er natürlich viel Musik, erinnert sich an R&B-Bands wie die von Fats Domino (die sein Cousin managte) und an Louis Armstrongs Besuch, als er zum King of Zulus gekürt wurde. Howard ging aber auch zu allen großen Konzerten der Stadt und hörte Live-Übertragungen im Radio. Und er begann Trompete zu spielen.
In seiner Jugend habe er eigentlich keine Diskriminierung gespürt, schreibt Howard, als aber in den späten 1950er Jahren die Bürgerrechtsbewegung Fahrt aufnahm, sorgten sich seine Eltern um ihn und ermutigten ihn, zum Militär zu gehen. In Kalifornien nahm aber die Trompete wieder auf, entschied sich aber irgendwann, sie gegen ein Altsaxophon einzutauschen. Er hörte John Coltrane und Ornette Coleman und erhielt eines Tages das Angebot, mit Rashied Ali zu spielen. Howard zog nach New York und beschreibt anschaulich die lebendige kulturelle und politische Szene dieser Stadt in den 1960er Jahren. Er erzählt von Konzerten mit Sun Ra, von seiner Freundschaft mit Charles Mingus und Albert Ayler und von seiner Zusammenarbeit mit Frank Wright.
1969 reiste Howard zum ersten Mal nach Europa, spielte auf verschiedenen Festivals und nahm Platten für das französische BYG-Label auf. Er wurde Teil der Expatriate-Szene zeitgenössischer schwarzer Musiker, die sich in jenen Jahren in Paris niederließen, und er erzählt, wie er im täglichen Engagement im Club Le Chat Qui Pêche sein eigenes Repertoire entwickeln und seinen eigenen Ton finden konnte. Erroll Garner sei einmal in den Club gekommen, habe zugehört und ihn ermutigt: Bleib dran, spiel die Phrasen und Stücke immer wieder, irgendwann werden die’s verstehen! Howard erzählt von Reisen und Konzerten in den 1970er Jahren und von der Reaktion des Publikums in verschiedenen europäischen Ländern. 1982 zog es ihn nach Kenia, wo er seine zukünftige Frau kennenlernte. Mit ihr zog er schließlich nach Antwerpen. Seite Ende der 1990er Jahre spielte er wieder öfter in den Vereinigten Staaten, nach der Jahrhundertwende reiste er auch in den Nahen Osten und nach Indien. Bei all seinen reisen besuchte er auch seine Heimatstadt New Orleans, und die Wüt über die Untätigkeit der Behörden bei der Rekonstruktion der Stadt nach Hurricane Katrina ist in seinen Zeilen greifbar.
Das Schlusskapitel ist überschrieben „Musikalische Reflektionen“ und beschäftigt sich mit der Ästhetik des Jazz, mit Komposition und Improvisation, mit seinen Einflüssen und mit von ihm als herausragend gesehenen Platten. Es schließt mit den Worten „The End … for Now“. Nicht einmal zwei Wochen später starb Noah Howard, völlig unerwartet, an einer Hirnblutung. Seine Witwe ergänzt ihre Erfahrungen dieser letzten Tage in ihrem bewegenden Nachwort.
Noah Howards Autobiographie ist seine Lebensgeschichte, aber sie erklärt auch manches über die afro-amerikanische „Free-Jazz-Szene“, die Ende der 1960er Jahre in Europa Fuß fasste. Die Herausgeberin Renata Da Rin hat Howards Worte um Erinnerungen von Kollegen und Freunden des Saxophonisten ergänzt. Eine Diskographie schließt das Buch ab, das außerdem etliche seltene und private Fotos enthält. Noah Howard gelingt es in seiner Autobiographie einen sehr persönlichen Einblick in die Entwicklung und die ästhetischen Entscheidungen eines Musikers zu geben, der selbst mitmischte bei der Ausbildung experimenteller Spielformen im freien Jazz und der bis zuletzt neugierig und musikalisch offen blieb.
Wolfram Knauer (September 2011)
The Album Cover Art of Studio One Records
herausgegeben von Steve Barrow & Stuart Baker
London 2011 (Soul Jazz Books)
197 Seiten, 30 Britische Pfund
ISBN: 978-0-9554-817-7-2
Das von von Clement Dodd gegründete Label Studio One war eines der wichtigsten Plattenlabels für jamaikanische Musik der Nachkriegszeit. Dodd war in den 1950er Jahren zu den wichtigsten Musikproduzenten Jamaikas geworden. Nach der Unabhängigkeit des Landes gründete er das Label Studio One Records. Das vorliegende Buch erzählt in einem lesenswerten Aufsatz die Geschichte des Labels zwischen Jazz, R&B und Reggae, um dann vor allem – es handelt sich um ein großformatiges Fotobuch – die Plattencover abzubilden, die zum Teil exotisch wirken, zum Teil nostalgisch und zum Teil hochmodern.
Ein wenig scheint in den Fotos und grafischen Zusammenstellungen, in der Farbgebung und natürlich in der Mode der abgebildeten Künstler ein Selbstverständnis durch, das irgendwo zwischen Selbstbewusstsein und Hipness liegt. Einige der Alben wirken fast schon militant (das Silkscreen-Cover des „Best of Bob Marley“-Albums etwa), andere strahlen die Atmosphäre von Partymusik aus. Tanzende Schattenmenschen sind auf einem Cover für „Ska-au Go-Go“ zu sehen, die Schatten von Palmen vor einem Vollmond auf „Carib Soul“. Einige der Coverfotos wirken wie Passbilder (Freddie McKay), andere wie gestellte Fashion-Shots (The Cables). Gestellte Aufnahmen am Seerosenteich in Multicolor (Winston Francis) stehen neben körnigen Schwarzweißfotos von Konzerten (The Gladiators), ein freier Männeroberkörper (Devon Russell) neben einem Minirock (Jerry Jones). Die Dub-Alben des Labels haben ihre ganz eigene, eher grafisch ausgerichtete Ästhetik mit Cartoons und kaligraphischen Spielereien. Die Calypso-Alben strahlen auch visuell gute Laune aus, die Gospel-Alben dagegen Ruhe und manchmal eine seltsame Heiligkeit (Sri Chinmoy). Die thematischen Showcase-Alben schließlich mischen die Elemente, bringen die Atmosphäre von Tanzclubs in Kingston rüber („Partytime in Jamaica“) oder an die Simpsons erinnernde Karikaturen, allerdings aus dem Jahr 1963 („Dance Hall ’63“).
Natürlich kriegt man beim Durchblättern Lust auf die Musik (eine Auswahl derer das Soul Jazz Label parallel veröffentlicht hat), und noch mehr sehnt man sich nach Secondhand-Plattenläden, in denen solche und ähnliche LPs, etwas abgegriffen in den Regalen stehen, in denen man wühlt und aus den bunten Plattenhüllen die Lust auf das Entdecken neuer Musik gewinnt.
Ach, was ist uns verloren gegangen, seufzt man, an die LP-Ära zurückdenkend und berührt dann mit der linken Hand den Bildschirm des drahtlos mit der Stereoanlage verbundenen iPhones, um im Shuffle-Modus zum nächsten Stück zu gelangen, in eine andere Vergangenheit oder in eine andere Gegenwart.
Wolfram Knauer (September 2011)
Jazz i Danmark, 1950-2010
herausgegeben von Olav Harsløf & Finn Slumtrup
Kopenhagen 2011 (Politikens Forlag)
624 Seiten, 450 Dänische Kronen
ISBN: 978-87-567-9565-4
Der dänische Kritiker Erik Wiedemann legte 1982 seine ausführliche Studie über die Frühzeit des Jazz in Dänemark vor, die etwa Ende der 1940er Jahre schloss. Wiedemanns Buch war aus seiner musikwissenschaftlichen Dissertation heraus entstanden und wandte sich damit durchaus auch an ein Spezialpublikum. Olav Harsløfs und Finn Slumptrups imposantes Opus über 60 Jahre dänischer Musikgeschichte von 1950 bis 2010 will den Bogen von Wiedemanns früherer Arbeit bis ins Jetzt schlagen.
Das Buch ist zugleich Lexikon und Geschichtsschreibung, betrachtet die Entwicklung des Jazz in Dänemark aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln. Biographische Kapitel, Notizen über wichtige Aufnahmen, Portraits von Clubs oder Festivals, ein Blick in die Studios oder hinter die Kulissen der Plattenfirmen, der dänische Rundfunk mit Programm und Bigband, die vielen Amerikaner, die sich in Kopenhagen niederließen und ihren Einfluss hinterließen, Traditionalisten und Avantgardisten, alter Heroen und junge Wilde – ihnen allen wird in diesem Buch Tribut gezollt; sie alle werden in die dänische Jazzgeschichte(n) einsortiert. Das wirkt manchmal etwas unübersichtlich und macht das Lesen durchaus schon mal mühselig, aber dann ist dieses sechshundertseitige Werk vielleicht auch nicht wirklich ein Buch zum Schnell-Mal-Durchlesen als vielmehr ein Buch zum Nachschlagen. Und so tun die Autoren gut daran, ihre Kapitel kurz zu halten und in vielen Unterkapiteln zu sortieren, die es dem Leser erlauben, sich Informationen, Geschichten, Geschichte so herauszuklauben, wie er es gerade möchte. Papa Bue? John Tchicai? Pierre Dørge? Niels-Henning Ørsted Pedersen? Svend Asmussen? Wer auch immer auf der dänischen Jazzszene der letzten 60 Jahre seine Spuren hinterließ, wird irgendwo und irgendwie erwähnt. Es findet sich unglaublich viel an Detailinformationen in den Seiten, auch zu Facetten, an die man zuerst vielleicht gar nicht denkt: die Behandlung des Jazz in der tagesaktuellen Presse etwa, Jazzzeitschriften, die Jazzpädagogik oder ganz allgemein die Jazzwirtschaft des Landes. Beim Querlesen fehlt wenn überhaupt vielleicht eine Darstellung der öffentlichen Förderung von jazz in Dänemark – eine für Dänen, für die dieses Buch vor allem verfasst wurde, vielleicht selbstverständliche Information, die aber vor allem für Nicht-Dänen interessant wäre. Die allerdings, das sei gleich zugegeben, werden wahrscheinlich eh nicht genügend dänische Sprachkenntnisse haben.
Die einzelnen Kapitel wurden von verschiedenen Autoren verfasst – und diese Unterschiedlichkeit merkt man sowohl im Stil als auch im Ansatz an ihr Thema. Tore Mortensen und Ole Izard Hoyer nehmen sich die 1950er Jahre vor, Kjelt Frandsen die 1960er, Jens Jørn Gjedsted die 1970er, Christian Munch-Hansen die 1980er und Ole Mathiessen die 1990er Jahre. Für die Jahre nach der Jahrtausendwende ist der historische Abstand zu gering, und so entschieden die Herausgeber hier zu einer Art Kolloquium aller mitwirkenden Autoren. Am Schluss ergänzt Erik Raben das ganze mit einer Diskographie wichtiger dänischer Aufnahmen. Und wie es sich für ein solches Übersichtswerk gehört, erschließt ein umfangreicher Namensindex das Buch für all diejenigen, die in den über 600 Seiten nach detaillierter Information suchen.
Eine wichtige Ergänzung zur Dokumentation der europäischen Geschichte des Jazz.
Eine ausführliche Diskographie zum dänischen Jazz verfasst vom namhaften dänischen Diskographen Erik Raben findet sich als Ergänzung zum Buch auf der Website www.jazzdiscography.dk.
Wolfram Knauer (September 2011)
Zwischen den Strömungen. Mein Leben mit dem Jazz
von Karlheinz Drechsel (herausgegeben von Ulf Drechsel)
Rudolstadt 2011 (Greifenverlag)
352 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-86939-005-5
Geschichte entsteht aus Erinnerungen, und so bedarf jede Art von Geschichtsschreibung der Sammlung von Erinnerungen. Wie wir aus der leidvollen Vergangenheit unseres Landes wissen, wird die Sammlung von offenen Erinnerungen aber oft genug durch politische Bedingungen begrenzt, und es dauert eine Weile, bis das, was anderswo den gesellschaftlichen und kulturellen Prozess begleitet, auch publizistisch nachgeholt wird. Es ist ja nicht so, dass die Erinnerungen nicht da wären oder dass die Erinnerungen innerhalb der jeweiligen Gruppen nicht ausgetauscht würden. Nur sind sie für Außenstehende noch Jahre post-faktum scheinbar reines Insiderwissen und werden, wenn sie endlich gesammelt und veröffentlicht werden, mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Der Jazz in der DDR ist so ein Geheimthema, das bislang vor allem entweder total nüchtern, Ereignisse aufzählend, oder aber völlig emotional, die Wut und die Hoffnungen benennend. aufgearbeitet wurde, selten aber autobiographisch offen, mit dem Wissen oder wenigstens dem Ahnen um die Eingebundenheit des eigenen Seins ins System, in die alles bestimmende Gesellschaft.
Karlheinz Drechsel versucht in seinem Buch, das er im Dialog mit seinem Sohn, dem Jazzredakteur Ulf Drechsel verfasst hat, genau das: eine Bestandsaufnahme seines Lebens vor dem Hintergrund zweier totalitärer Regime, die ihn nicht davon abhielten, seine ganze Energie der von ihm so geliebten Musik zu widmen, die in beiden Regimen eher schlecht gelitten war. Er berichtet, wie er im Dresden der 1930er Jahre groß wurde, mit Freunden Swing-Platten hörte und Schlagzeug spielte. Er erzählt von den unterschiedlichen politischen Ansichten in der eigenen Familie, die ihm zumindest früh bewusst machten, dass es zu jeder Meinung auch eine Gegenmeinung gab. Er erzählt von den Bombenangriffen auf Dresden, vom Sich-Neu-Finden im von den Sowjets besetzen Gebiet, aber vor allem davon, wie ihn bei alledem der Jazz begleitet hatte. Selbst in seiner Abiturprüfung hielt er vor versammelter Klasse einen Vortrag zum Thema Jazz.
Er erzählt von ersten Live-Jazz-Erlebnissen, 1943 mit Ernst van’t Hoff, 1948 mit Bully Buhlan und dem RBT-Orchester. Vor allem erzählt er davon, wie er selbst die kulturpolitischen Beschränkungen der DDR-Führung wahrnahm, und wie er auch wegen seines Jazzinteresses ständig irgendwo zwischen den Welten pendelte, bereits als er beim Ostberliner Deutschlandsender (der damals noch im Haus des Rundfunks in Westberlin untergebracht war) ein Volontariat ableistete und abends in der Westberliner Badewanne Jazz hörte. Für den Sender produzierte er Anfang 1952 seine ersten eigenen Sendungen, zehnminütige Features über „Jazz des Volkes“ – in der DDR wurde zu jener Zeit sehr genau darauf geachtet, ob die Musik ideologisch vertretbar war. Beim Sender wurde er kurz darauf gekündigt – wie er später aus seiner Stasi-Akte erfuhr, auch wegen seiner „Westkontakte“.
Zurück in Dresden bekleidete Drechsel eine Weile die Stelle eines Redakteurs für den Stadtfunk in Radebeul, der ähnlich wie in der Sowjetunion öffentliche Straßenbeschallung auf wichtigen Straßen, Plätzen, Haltestellen etc. vornahm. Er hielt Vorträge beim Dresdner Kulturbund, schrieb Kritiken, war als Nachrichtensprecher aktiv – wobei er mindestens zwei seiner Rundfunkjobs damals durch eigene Unachtsamkeit wieder loswurde, etwa durch einen Aprilscherz, den die Rundfunkleitung überhaupt nicht lustig fand.
1956 gehörte Drechsel zu den Mitbegründern der IG Jazz bei der FDJ in Dresden. Er spricht über den Streit mit Reginald Rudorf und über die hinter diesem Streit steckenden unterschiedlichen Ansichten über musikalische und gesellschaftliche Aspekte des Jazz. Hier wie auch anderswo gibt Drechsel freimütigen (und oft durchaus auch selbstkritischen) Einblick in die Zwänge und die Möglichkeiten, die es im „real existierenden Sozialismus“gab, erstens seiner Liebe, dem Jazz zu fröhnen, und zweitens irgendwo zwischen Radio, Jazz und ewigen Auseinandersetzungen mit der restriktiven politischen Führung sein eigenes Auskommen zu finden.
1958 zog Drechsel nach Ostberlin, wo er eine Anstellung als Regieassistent beim Rundfunk erhielt. Er spricht über Mauerbau und die erste Tournee des Albert Mangelsdorff-Quintetts durch die DDR (1964), über seine Kontakte zu Horst Lippmann, dessen American Folk Blues Festival er im selben Jahr in den Osten brachte, und über eine geplante Vortragsreise nach Westdeutschland, die von der einladenden Deutschen Jazz Föderation dann aber abgesagt wurde. Er beleuchtet, mit welchen Problemen man zu tun hatte, wenn man im Osten neue Schallplatten kommen wollte, spricht ausführlich über seine Rundfunkerfahrungen, die sich ja über Jahrzehnte erstreckt, über die Präsentation und Unterstützung ostdeutscher Festivals durch den Rundfunks der DDR, über eigene Veranstaltungen und über die Struktur der Kulturveranstalter, die in der DDR Jazz präsentierten. Und natürlich berichtet er über das Dixieland-Festival in Dresden, das er von Anfang an begleitete.
Ein eigenes Kapitel erhält der Besuch Louis Armstrongs, der 1965 eine Tournee durch die DDR machte, und Drechsels Erinnerungen bringen Satchmo vor allem als Privatmann näher, dem auf dieser Reise zum ersten Mal die Situation der nach Westen völlig abgeschlossenen DDR wirklich bewusst wurde und der Parallelen zur Geschichte des Rassismus in seinem eigenen Land sah. Drechsel wurde ein beliebter Moderator, sagte etwa das Konzert von Ella Fitzgerald im Friedrichsstadtpalast an, tourte mit britischen Trad Bands durchs Land, trat aber auch als Moderator von Veranstaltungen in Erscheinung, die wenig mit Jazz zu tun hatten, etwa beim Schlagerfestival der Ostseestaaten, und sogar bei einer Europameisterschaft im Gewichtheben und einem Hunderennen.
Drechsel war immer ein Mann des ganzen Jazz. Als Moderator war er bei Dixielandfreunden genauso angesehen wie bei Anhängern der freieren Musik. In einem eigenen Kapitel arbeitet er die Besonderheit des DDR-Jazz der 1970er Jahre heraus und diskutiert die musikalische Radikalisierung und Abkapselung auf beiden Seiten des musikalischen Spektrums, eine stilistische Einseitigkeit, die nie seine Sache gewesen sei. Er spricht von Uli Gumpert, Ernst-Ludwig Petrowsky, Günther Fischer, Hannes Zerbe, Manfred Schulze, Friwi Sternberg und anderen. Die Wolf-Biermann-Ausbürgerung ist Thema und ihre Auswirkung auf die Jazzszene, die damals als nonverbale Kunst weniger misstrauisch beäugt wurde als die Rockszene. 1970 fuhr Drechsel Oliver Nelson in einer Art Geheimaktion nach Leipzig, um ihm das Bach-Museum zu zeigen und ihn außerdem auf der Orgel der Thomaskirche spielen zu lassen. Drechsel selbst durfte immer mal wieder zu besonderen Veranstaltungen, etwa zu den Jazztagen, nach Westberlin. Erst 1983 gelangte er als Begleiter der Dixieland All Stars zum ersten Mal in die USA, das Geburtsland des Jazz – fünf Tage Sacramento und fünf Tage New York.
1989 fiel die Mauer, und Drechsel fand sich nicht nur im bald wiedervereinigten Deutschland, sondern auch in einem Land wieder, in dem er unter Journalisten plötzlich als Konkurrenz empfunden wurde.
Er erzählt von seiner schriftstellerischen Arbeit, den Büchern „Faszination Jazz“ und „Jazz objektiv“ und seiner Diplomarbeit, mit der er 1975 ein Fernstudium abschloss und die den Titel trug: „Studie über die kulturpolitische und künstlerische Spezifik des Jazz – seine historische Entstehung und Entwicklung – seine internationale Verbreitung und sein Stellenwert im Ensemble der Künste der DDR“. Er berichtet von der Sektion Jazz im Komitee für Unterhaltungskunst der DDR und von der Abhängigkeit der Künstler von der Politik, aber auch von den Verbesserung der Lebensbedingungen von Musikern in den letztem acht bis zehn Jahren der DDR.
Und er erzählt davon, wie er nach der Wende Akteneinsicht bei der Gauck-Behörde nahm. Anlass seien Gerüchte gewesen, er selbst habe sei als Stasi-Spitzel aktiv gewesen. Er sei erschüttert gewesen, sagt er, als ihm der Behördenmitarbeiter gleich zahlreiche Leitz-Ordner zur Einsicht vorlegte. Post- und Telefonüberwachung, Berichte von IM’s aus allen möglichen Arbeitszusammenhängen. In diesem Kapitel liest man vor allem von schweren Enttäuschungen darüber, dass selbst langjährige vermeintliche Freunde Berichte an die Stasi lieferten und ihn bei anderen Jazzfreunden diskreditierten. Wie nebenbei erinnert sich Sohn Ulf daran, dass, wenn Gäste aus Westberlin oder aus dem Bundesgebiet bei ihnen zu Hause waren, „eigentlich immer ein Kissen auf das Telefon gelegt“ wurde.
Karlheinz Drechsels Lebenserinnerungen sind ein ungemein persönliches Buch geworden, das weit mehr erzählt als seine Jazzgeschichte. Es ist die Geschichte eines Mannes mit einer Passion, die er gegen alle Widrigkeiten verfolgte und der er bis heute treu blieb. Ulf Drechsel hat das Buch im Interviewstil belassen, mal chronologisch, mal thematisch geordnet. Es liest sich leicht, wie erzählt, und hinterlässt zugleich tiefe Eindrücke. Bezogen auf den Jazz, sagt Drechsel zum Schluss, würde er heute nichts anders machen. Sein schwerster Fehler sei gewesen, „zu glauben, in einer Parteidiktatur als Genosse einen Einzelkampf für den Jazz bestehen zu können“. Es relativiert sich einiges bei der Lektüre dieses Buchs, das von der Bedeutung des Jazz handelt, von der Kraft der Musik, von menschlicher Leidenschaft. Karlheinz Drechsel hat mit seinen Erinnerungen an sein Jazzleben einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der deutschen Jazzgeschichte geliefert.
Wolfram Knauer (August 2011)
Nachtrag, Dezember 2011: Nachdem der Greifenverlag kurz nach der Veröffentlichung des Buchs Insolvenz anmelden musste, war dieses Buch eine Weile nicht mehr zu beziehen. Nun hat die Jazzwerkstatt eine Neuauflage vorgelegt, der aus Bonus eine CD mit historischen Aufnahmen der „DDR All Stars“ aus dem Deutschen Hygienemuseum Dresden beiheftet. Neben Günter Hörig und seinen Dresdner Tanzsinfonikern ist etwa das Joachim Kühn Trio mit Ernst-Ludwig Petrowsky zu hören sowie Bands um Friedhelm Schönfeld, Joachim Graswurm, Reinhard Walter und andere.
Woodstock am Karpfenteich. Die Jazzwerkstatt Peitz
Herausgegeben von Ulli Blobel
Berlin 2011 (jazzwerkstatt)
207 Seiten, 1 beigeheftete CD, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-00-034405-3
Der Jazz in der DDR war für viele ein spannendes Thema: Musik der Freiheit – in einem totalitären System schien so etwas viel besser, aber auch viel romantischer greifbar als in den westlichen Demokratien, in dem der Jazz seine politische Funktion immer mehr zu verlieren drohte. Jazz aber war auch in Ostdeutschland eine überaus persönliche Angelegenheit, begleitete diverse sehr persönliche Wege der politischen, kulturellen und ästhetischen Bewusstwerdung, und von ihnen handelt dieses Buch. Nach einigen Gesamtdarstellungen zur Geschichte des Jazz in der DDR ist es dabei wohl auch an der Zeit, dass der Blick auf einzelne Personen bzw. wichtige, weil einflussreiche Events gerichtet wird. Die Jazzwerkstatt in Peitz in der Niederlausitz hatte in der Szene des zeitgenössischen freien Jazz bald einen Namen, der weit über die Größe der kleinen, noch heute weniger als 5.000 Einwohner zählenden Stadt hinausreichte: als Treffpunkt der frei improvisierenden Szene Europas und darüber hinaus, als im so abgeschlossenen Kulturleben der DDR eigentlich nicht vorstellbares Exotikum, das scheinbar gegen alle Regeln und Gesetze des real existierenden Sozialismus und seiner glänzend funktionierenden Bürokratie verstieß und dennoch elf Jahre lang ein Publikum aus dem ganzen Land anzog, für die jene Tage in Peitz identitätsstiftend waren, denen Peitz kreative Anregung genauso wie Trost bot, eine Art individualistisches Antidot zum sozialistischen Alltag.
Von dieser Stimmung berichtet das vorliegende Buch, herausgegeben von Ulli Blobel, zusammen mit Peter ‚Jimi‘ Metag dem Gründer der Jazzwerkstatt Peitz, der dabei in Ansätzen auch seine eigene Geschichte vor Peitz und seither erzählt. Auch alle anderen Autoren nähern sich dem Thema von der persönlichen Warte: Für sie alle war das Abenteuer der Reise in die Niederlausitz offenbar genauso prägend wie die musikalischen Erlebnisse, die sie an den Nachmittagen und Abenden in Peitz erfuhren. Bert Noglik etwa bekennt, dass die Begegnungen in Peitz ihm dabei halfen, für sich „einen Beruf zu definieren, der damals in der DDR nicht vorgesehen war: Jazzpublizist“. Günter Baby Sommer berichtet von musikalischen Begegnungen, die nachhaltig blieben, insbesondere seinem Trio mit dem amerikanischen Trompeter Leo Smith und dem Wuppertaler Kontrabassisten Peter Kowald. Christoph Dieckmann erzählt, wie schwierig es war, im Osten an Platten zu kommen und welchen Wert Jazzplatten unter den Fans dort besaßen. Ulrich Steinmetzger und Wolf Kampmann erzählen von ihren Reisen nach Peitz, von den prägenden Erfahrungen, der Bewusstseinsveränderung über West und Ost, die mit dem Hören der freien Musik einherging. René Theska erzählt, wie Peitz ihn und weitere Jazzfreunde aus Ilmenau dazu anregte, mit Hilfe der AG Jazz Ilmenau selbst Konzerte zu organisieren. Steffen Wolle gibt Beispiele sowohl für den Umgang der Staatsmacht mit der suspekten Jazzszene wie auch für die kreativen Strategien, mit denen diese Szene die Staatsbürokratie immer wieder austrickste, austricksen musste. Am Schluss findet sich ein 50seitiger Anhang mit allen Besetzungen, die bei der Jazzwerkstatt Peitz zwischen 1973 und 1983 zu hören waren. Dazwischen viele Fotos, die die Atmosphäre einfangen, die Konzentration, die Erwartungshaltung, die oft wie eine Art Aufbruchsstimmung wirkt, nur, dass der tatsächliche Aufbruch erst sechs Jahre nach dem letzten Konzert in Peitz stattfinden sollte.
Die beiheftende CD schließlich enthält Mitschnitte von der Jazzwerkstatt 1981, ein Quintett mit Ulrich Humpert, Peter Brötzmann, Johannes Bauer, Harry Miller und Willi Kellers, das Conrad Bauer Bäserquintett, einen Solotitel Uwe Kropinskis sowie das Trio Leo Smith / Peter Kowald / Günter Baby Sommer.
„Woodstock am Karpfenteich“ bietet einen Einblick in eine kreative Bewusstwerdungsphase, ist weder rein historische Dokumentation, noch musikologische Erklärung etwa des DDR-Jazz. Wenn überhaupt, dann ist dieses Buch die Sammlung von sehr persönlichen Erinnerungen an ein dreizehn Jahre lang gegen alle Wahrscheinlichkeit funktionierendes Experiment freier Improvisation. Es regt zum Nachdenken an, nicht nur für die, die dabei waren, sondern ganz allgemein, darüber, was wir mit Musik verbinden, egal, wo wir sie hören, welche Prägungen wir durch Musik erhielten und wie musikalische Erinnerungen Biographien verschränken können, die sonst kaum etwas miteinander zu tun haben.
Lebenswert!
Wolfram Knauer (Juli 2011)
John Coltrane. A Love Supreme
von Karl Lippegaus
Hamburg 2011 (edel:vita)
317 Seiten, 29,95 Euro
ISBN: 978-3-8419-0069-2
Karl Lippegaus beginnt sein Buch mit einer wenig verhüllten Liebeserklärung an John Coltrane, einer Erinnerung daran, wie er eines Morgens in Südfrankreich seine verkratzte LP „Live at the Village Vanguard“ auflegte und ein Hahn mit Pharoah Sanders um die Wette krähte. Dann wird er sachlich, wie es sich für einen Biographen gehört. Er erzählt Coltranes Leben von der Kindheit in North Carolina über die Granoff School of Music in Philadelphia bis zu den ersten Gehversuchen in Bands wie der von Cleanhead Vinson. Er nennt Einflüsse, den Sound von Johnny Hodges etwa oder den großen Charlie Parker, seinen Freund Jimmy Heath oder Igor Strawinsky. Er nennt die großen Tenoristen an dessen Ideal Coltrane sich messen lassen musste und er versucht zu ergründen, was Trane etwa bei Dizzy Gillespie lernte, in dessen Bigband er Ende der 1940er Jahre spielte. Lippegaus begleitet den Saxophonisten in die Band von Miles Davis und Thelonious Monk, erkundet Coltranes Lektüre auf Reisen, seine philosophischen und spirituellen Entwicklungen jener Jahre. Er nähert sich der Musik dabei eher die Atmosphäre als die Musik selbst beschreibend. er lässt Musiker und Zeitzeugen zu Worte kommen, imaginiert sich die Stimmung, die wohl im Studio oder im Club geherrscht haben muss, in dem einige der Coltrane-Klassiker entstanden, stellt sich vor welchen Eindruck diese Stimmung und all die von ihm beschriebenen Einflüsse auf den Saxophonisten haben mussten und wie daraus das entstand, was wir bis heute auf Platte hören können. Seine Kapitelgliederung ist angenehm kleingliedrig, erlaubt das Zurseitelegen des Buchs – vielleicht um weiterzudenken oder aber die genannten Stücke zu hören. Immer wieder verweist er auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in den USA der Bürgerrechtsbewegung, in deren Kontext auch die musikalische Entwicklung Coltranes ihm zufolge unbedingt zu sehen ist.
Lippegaus beschreibt die Musik nicht so sehr als Produkt und fertiges Statement, sondern vielmehr als Prozess, als Entwicklung, und so gelingt es ihm, dem Leser (und Hörer) den Entwicklungswillen näher zu bringen, der Coltranes Musik von Anfang bis Ende prägte. In dieser Verbindung schafft Lippegaus dann auch, was vielleicht nur offenohrigen Autoren möglich ist: die allseits bekannten Daten und Fakten geben auch dieser Biographie die Struktur, aber er füllt sie außerdem mit dem Wollen und Denken, mit seiner Annäherung an die Visionen, aus denen sich Coltranes Kunst näherte. Ein überaus gelungenes Buch, geschmackvoll gesetzt, mit Fotos der verschiedenen Schaffenszeiten bebildert … lesenswert!
Wolfram Knauer (August 2011)
Jelly Roll Morton, The „Old Quadrille“ and „Tiger Rag“. A Historiographic Revision
von Vincenzo Caporaletti
Lucca (Italien) 2011 (Libreria Musicale Italiana)
104 Seiten (Text auf Italienisch und Englisch), 25 Euro
ISBN: 978-88-7096-627-5
Alan Lomax holte den Pianisten und Komponisten Jelly Roll Morton 1938 ins Studio, um für die Library of Congress eine Dokumentation über sein Leben und die Entstehung des Jazz aufzuzeichnen, wahrscheinlich das erste Oral-History-Projekt der Jazzgeschichte. Morton saß am Flügel des Coolidge Auditoriums, eine Flasche Whisky nahebei, und Lomax gab ihm die Themen vor, ermunterte ihn dazu, Geschichten zu erzählen über New Orleans um die Jahrhundertwende, über berühmte und weniger berühmte Kollegen, über musikalische Einflüsse und seine eigene berufliche Entwicklung. Morton war zeitlebens ein Großsprecher und Angeber, jedenfalls hatte er keine Probleme damit, seine Leistungen auch gebührend in den Vordergrund zu rücken und die eine oder andere Tatsache der Jazzgeschichte zu seinen Gunsten zurechtzurücken. Am bekanntesten ist sein Satz „Ich erfand Jazz im Jahr 1902“, der sich in einem Down Beat-Artikel aus demselben Jahr der Aufnahmen fand.
Beim Interview mit Lomax, das Basis der später erschienenen Morton’schen Autobiographie „Mister Jelly Lord“ sein sollte und mittlerweile vollständig als Tondokument erhältlich ist, übernahm Morton Autorenschaft für jede Menge unterschiedlicher Ereignisse. Musikhistorische vielleicht am interessantesten war seine Behauptung Urheber des „Tiger Rag“ gewesen zu sein, den er tatsächlich aus unterschiedlichen Teilen einer alten Quadrille abgewandelt habe. Die Jazzgeschichtsschreibung berichtet anderes, schreibt den „Tiger Rag“ Nick La Rocca zu und weiß außerdem, dass gerade dieses Stück auf der ersten Schallplatte der Jazzgeschichte zu hören war, eingespielt im Jahr 1917 von LaRoccas Original Dixieland Jazz Band. Die heutige Forschung will wissen, dass weder Morton noch LaRocca die tatsächlichen Urheber des „Tiger Rag“ sind, wie Bruce Boyd Raeburn in seinem Vorwort zum vorliegenden Buch schreibt, sondern das LaRoccas Version tatsächlich ein Zusammenstückeln unterschiedlichster Versatzstücke ist, die Jack Stewart in einer Transkriptions-Edition identifiziert hat.
Vincenco Caporaletti, italienischer Musikwissenschaftler und Autor mehrerer analytischer Bücher zum Jazz, nimmt Mortons Performance der Evolution des „Tiger Rag“ aus einer alten französischen Quadrille zum Anlass, Mortons Behauptung selbst zu hinterfragen, er selbst sei der wahre Komponist des Stücks, nicht Nick LaRocca. Die Legende, dass der „Tiger Rag“ auf eine Quadrille zurückginge, habe in Musikerkreisen in New Orleans schon länger kursiert, erklärt Caporelletti und zitiert verschiedene Quellen. Mortons Inanspruchnahme der Autorenschaft allerdings sei wohl auch der Tatsache zu verdanken, dass er sich durch die Musikgeschichte der 1930er Jahre weitgehend vergessen gefühlt und vor den Mikrophonen der Library of Congress die Gelegenheit gesehen habe, die Geschichte zurechtzurücken, Tatsachen hin oder her. Caporaletti zeigt, wie Morton einem erstaunten Lomax fünf Teile der ursprünglichen Quadrille vorführt, auch um zu erklären, dass die Umwandlung in den „Tiger Rag“ seine ureigene Leistung gewesen sei. Er vergleicht die formale und harmonische Struktur beider Stücke, stellt Ähnlichkeiten zwischen Mortons Library-of-Congress-Fassung und der Aufnahme der ODJB aus dem Jahr 1917 fest und verweist darüber hinaus auf Mortons eigene erste Aufnahme des Stücks aus dem Jahr 1924, das in der Form (und bis in die Klarinetten-Breaks hinein) der ODJB-Fassung folgt. Mit analytischen Feingespür schlussfolgert er, dass Mortons Herleitung aus der Quadrille tatsächlich eher belegt, dass dieser selbst den „Tiger Rag“ vor allem durch die Aufnahme der ODJB kennengelernt habe.
Caporalettis Analyse kommt so der Wirklichkeit Morton’scher Aufschneiderei auf die Spur, macht uns allerdings zugleich darauf aufmerksam, dass in Mortons Geschichte mehr als ein Körnchen Wahrheit steckt: Wenn Morton auch nicht als Komponist des Stücks angesehen werden kann, so ist doch seine Herleitung aus der Quadrille ein hervorragendes Beispiel für die Aneignung traditionellen Materials durch den Jazz.
Der Anhang des Buchs enthält eine komplette Transkription des Interviews mit Morton sowie eines einer exakten Notation der fünf Quadrille-Sätze und des daraus resultieren „Tiger Rag“ in Mortons Fassung. Die analytischen Teile des Buchs finden sich in einer italienischen und einer englischen Fassung, daneben druckt Caporaletti seine komplette Transkription der Aufnahme ab. Er schließt, alles in allem eine überaus interessante Lücke der Morton-Forschung und stößt zugleich genügend neue Türen auf, in die Musik hineinzuhorchen und dabei ästhetischen Entscheidungen auf die Schliche zu kommen.
Wolfram Knauer (August 2011)
Barney Wilen. Blue Monday
von Yves Buin
Bègles/Frankreich 2011 (Castor Music)
126 Seiten, 12 Euro
ISBN: 978-2-85920-862-2
Es ist durchaus interessant zu sehen, in welcher Gesellschaft das neue Buch über den französischen Saxophonisten Barney Wilen steht. Andere Bände der Biographienreihe befassen sich etwa mit Prince, Jimi Hendrix, Rory Gallagher, Bob Dylan, Bob Marley und anderen Größen aus Rock und Pop. Wilen wurde spätestens, nachdem er mit Miles Davis die Filmmusik zu „Fahrstuhl zum Schaffott“ einspielte, als einer der wenigen europäischen Saxophonisten gehandelt, der den Amerikanern ebenbürtig seien.
Yves Buin begleitet den Musiker von seiner Geburt in Nizza im Jahr 1937 bis zu seinem Tod durch ein Krebsleiden im Jahr 1996. Wilen war von früher Jugend an begeistert vom Jazz, hörte die amerikanischen Musiker, die an der Côte d’Azur Station machten. Mit 17 ging er nach Paris, spielte mit französischen Freunden und mit Amerikanern, die sich in der Stadt niedergelassen hatten, Roy Haynes etwa oder Jimmy Gourley. 1956 war er bei einer Plattensession des Pianisten John Lewis mit von der Partie, und mit 20 nahm er seine erste Platte unter eigenem Namen auf. Buin verfolgt das Plattenschaffen des Saxophonisten zwischen Einfluss Charlie Parkers, Cool Jazz und Hardbop jener Jahre. Er beschreibt die Aufnahmesitzung mit Miles, die Pariser Jazzszene, die teilweise wie ein Exil-Amerika gewirkt haben mag, seine Filmmusikern etwa für Édouard Milonaro oder Roger Vadim, Free-Jazz-Experimente („Dear Professor Leary“), die Band Jazz Hip, sein Comeback in den 1980er Jahren sowie die letzten Jahre seines Lebens, in denen er mit vielen jungen Musikern zusammenwirkte, die noch heute auf der französischen und internationalen Jazzszene aktiv sind.
Buin hangelt sich dabei von Album zu Album, beschreibt die Musik, weniger die Lebensentscheidungen und gibt auch nicht vor, alle ästhetischen Entscheidungen Wilens erklären zu können. Als Anhang präsentiert er Ausschnitte aus drei Interviews des Saxophonisten, die dieser dem französischen Jazz Magazine 1961, 1966 und 1972 gegeben hatte. So erhält Wilen dann doch noch eine Stimme und man kann über die beschriebenen Alben hinaus über Einflüsse, nationales Selbstverständnis oder den Einfluss afrikanischer Musik lesen. Ein willkommenes kleines Büchlein über einen weithin vergessenen Experimentator der europäischen Jazzszene.
Wolfram Knauer (August 2011)
The Studio Recordings of the Miles Davis Quintet, 1965-68
Oxford Studies in Recorded Jazz
Von Keith Waters
New York 2011 (Oxford University Press)
302 Seiten
ISBN: 978-0-19-539384-2
Ashley Kahn begann vor einigen Jahren mit Monografien, die sich nicht etwa der Biographie eines Künstlers, sondern einem einzelnen Werk, konkret: einer Schallplatte widmeten, etwa Miles Davis „Kind of Blue“ oder John Coltranes „A Love Supreme“. Oxford University Press geht ähnlich, wenn auch gänzlich anders vor in seiner neuen Buchreihe mit dem Titel „Oxford Studies in Recorded Jazz“, in der jetzt die ersten Bände erschienen sind. Es ist eine musikwissenschaftliche Reihe, also stehen biographische oder sonstige historische Details eher im Hintergrund, spielen nur dann eine Rolle, wenn sie den musikalischen Ablauf oder musikalische Entscheidungen erklären helfen.
Der Musikwissenschaftler Keith Waters beginnt seinen Band über das berühmte zweite Miles Davis Quintet der 1960er Jahre mit einer allgemeinen stilistischen Darstellung des Quintetts, beschreibt, wo die einzelnen Musiker herkommen, aber auch die damals üblichen Studioabläufe (und begründet dabei, warum er die Liveaufnahmen des Quintetts bei seinen Beobachtungen außen vor lässt), die zum auf Platte veröffentlichten Klangergebnis führen. In Abrissen über die Personalstilistik der fünf Mitstreiter Miles Davis, Wayne Shorter, Herbie Hancock, Ron Carter und Tony Williams geht er kurz auch auf frühere Aufnahmen ein, um ihre Entwicklung zu beschreiben, zu erklären, wo die Musiker herkommen und wie sie zu dem Stil gelangt sind, den sie auf den Quintettaufnahmen der 1960er Jahre spielen. Ein zweites Kapitel erklärt analytische Ansätze, diskutiert dabei die Entwicklung und Bedeutung der modalen Spielweise, die Begründung für motivische Analysewege, diskutiert die Interaktion innerhalb der Gruppe, Zirkularkompositionen, das Moment der Form in Improvisation sowie Davis als Avantgardist.
Der Hauptteil des Buches widmet sich dann dein Platten des zweiten Miles Davis Quintet: „E.S.P.“, „Miles Smiles“, „Sorcerer“, „Nefertiti“, „Miles in the Sky“ und „Filles de Kilimanjaro“. Waters arbeitet mit Transkriptionen, harmonischen, rhythmischen und formalen Analysen, beschreibt innermusikalische Beziehungen, Entwicklungen, Reaktionen, harmonische Spannungen und Auflösungen, dramaturgische Bögen und vieles mehr. Er enthält sich dabei größtenteils einer ästhetischen Wertung, spricht höchstens von „neuen Lösungen“, der „mühelosen Bewältigung technischer Hürden“, verweist aber durchaus auch etwa auf die „kontrollierte Freiheit“, mit der insbesondere Hancock Ideen des Freejazz Ornette-Coleman’scher Prägung in die Musik des Quintetts einbrachte. Immer wieder fragt er nach den Wurzeln im Hardbop und der langsamen Entfernung von hardbop-typischen musikalischen Vokabeln hin zu einer Spielweise, die letzten Endes eine glatte Entwicklung hin zur Davis’schen Fusion der späten 1960er Jahre darstellt. Eine Zusammenfassung fragt nach dem Erbe dieser Aufnahmen und stellt fest, dass sowohl das Repertoire als auch die Spielweise der Musiker bald Teil der Jazztradition wurden, die von jüngeren Musikern als Musterbeispiel empfunden wurden, auf die sie ihre eigenen weiteren Entdeckungsreisen aufbauen konnten.
Das Buch ist sicher keine leichte Kost – wer keine Noten lesen kann, von Harmonik wenig versteht und sich eh auf solch eine Abstraktionsebene über Musik nicht einlassen möchte, wird voraussichtlich wenig Spaß bei der Lektüre haben. Als Beispiel einer tiefgehenden Beschäftigung mit einem Teil-OEuvre der Musik Miles Davis und als Auftakt einer Reihe mit musikwissenschaftlich kompromisslosen Analysen wichtiger Aufnahmen des Jazz hat Oxford auf jeden Fall kraftvoll einen Ball ins Spiel geworfen, dem man wünscht, dass er von anderen aufgegriffen wird und zum intensiveren Diskurs über die Musik beitragen kann.
Wolfram Knauer (August 2011)
Alex Steinweiss. The Inventor of the Modern Album Cover
von Kevin Reagan & Kevin Heller
Köln 2011 (Taschen)
420 Seiten (Großformat), 49,99 Euro
ISBN: 978-3-8365-2771-2
[alle Texte in Englisch, Deutsch und Französisch]
Der Kölner Taschen-Verlag ist weltweit bekannt für seine opulenten Kunst- und Fotobücher. Ab und an kreuzen sich seine Wege dabei mit dem Jazz. Vor einigen Jahren etwa brachte Taschen (mit Hilfe des Jazzinstituts) das legendäre, ursprünglich bei Burda erschienene Buch „Jazz Life“ von Joachim Ernst Berendt und William Claxton in einer um viele Bilder ergänzten Neuauflage heraus. Jetzt sammelt Kevin Reagan die Plattencover des Alex Steinweiss.
Wie es bei Covern so ist, sollte man auch hier mit dem Äußeren beginnen. Das Buch ist in einen festen Pappband gebunden, mit Lederrücken und Rückeneinkerbung, damit man es leicht aufblättern kann, ohne dass die Seiten brechen. Doch, nein, tatsächlich erinnert diese Aufmachung natürlich ganz bewusst an die ersten Schellackalben, die Anfang der 1940er Jahre bis zu fünf oder sechs Schellackplatten zusammenfassten und innen drin nichts als diese Platten hatten, in feste Papierumschläge gehüllt, die in das Cover eingebunden waren. Davor waren Schellackplatten meist einfach in Papiertüten verkauft worden, auf denen höchstens eine ganz generelle Werbung für die Plattenfirma abgedruckt war, aber weder Information zur auf der Platte enthaltenen Musik noch eine großartig künstlerische Covergestaltung.
Erst mit den Schellackalben änderte sich das, und wenn man gleich auf der Umschlaginnenseite einige dieser Alben sieht, weiß man auch, woher dieser Begriff „Album“ stammt, den man heute für jede Einzel-LP oder -CD benutzt, der aber ursprünglich genau das bezeichnete: Eine Zusammenfassung mehrerer thematisch irgendwie zusammenhängender Einzelplatten, eingebunden in einen Hardcoverumschlag mit künstlerischer Gestaltung durch … und damit sind wir beim Thema, denn Alex Steinweiss war tatsächlich einer der ersten, der hier tätig wurde und kann mit Fug und Recht als „Erfinder des modernen Albumcovers“ genannt werden, wie der Untertitel des Buchs suggeriert.
Steinweiss, der im Juli 2011 im Alter von 94 Jahren verstarb und somit die Veröffentlichung dieses Buchs noch miterleben konnte, erzählt im Gespräch mit Reagan seine Lebensgeschichte, vor allem aber über seine künstlerischen Vorstellungen, seine Einfälle, Konflikte mit den Auftraggebern, Lösungen. Steinweiss illustrierte sein erstes Album 1940 und erfand quasi 1948 die Papphülle für 30-cm-Schallplatten. Steven Heller ordnet seine Arbeit sowohl in die Verpackungs- wie auch die Kunstgeschichte des 20sten Jahrhunderts ein, benennt Vorbilder aus der Bildenden Kunst genauso wie dem Notendruck, Bauhaus und Klassizismus und berichtet über Werbestrategien der Plattenfirma Columbia, bei der Steinweiss in jenen frühen Jahren angestellt war.
Steinweiss erzählt von der Parsons School in New York und der Lehre beim österreichischen Plakatmaler Joseph Binder, über sein kleines Studio, in dem er die „Kompositionen“ seiner Hüllendesigns entwarf, den Produktionsprozess, die Betriebsstruktur bei Columbia Records, seine Arbeit für die US-Navy für die er Poster und grafische Anleitungen zeichnete. Eine Seite zeigt die zuvor üblichen Alben-Cover und was Steinweiss daraus machte, von grau nach bunt, fantasievoll und voll Leben. Zwischendrin sieht man aber auch Logos und Briefköpfe, die er etwa für einen Friseur entwarf. Für seine Covers entwickelte Steinweiss darüber hinaus ein eigenes handgeschriebes Alphabet, das sich auf vielen seiner Hüllen wieder findet. Nebenbei entwarf er Werbebroschüren etwa für ein Schmerzmittel, die amerikanische Krebsgesellschaft und anderes.
Immer wieder ist man aber davon überrascht, welche Vielfalt Steinweiss mit deutlich wiedererkennbaren Mitteln in seiner Kunst ausdrücken konnte, die Gebrauchskunst war, aber gerade deshalb Dinge wagen konnte, die in der „freien“ Kunst vielleicht gar nicht möglich gewesen wären. Magazine, Buchillustrationen, weitere Platten.
Nach Columbia arbeitete Steinweiss ab Mitte der 1950er Jahre für die Label Decca und London, baute nun immer mehr auch die Fotografie in seine Gestaltung ein. Und auch im Film war er ein gefragter Mann, entwarf Filmtitel etwa für Gary Grant und Audrey Hepburn, aber auch für „James Bond“-Filme. Als er sich 1974 zur Ruhe setzte, begann er Bilder zur Musik zu malen, bunt und märchenhaft. Das Buch zeigt Hunderte seiner Entwürfe, meist in der Originalgröße der kleineren 25-cm-Schallplatten. Man mag mit dem Blättern gar nicht aufhören, entdeckt Querverbindungen zwischen frühen und späten Entwürfen wundert sich über den Mut und die Direktheit, mit der Steinweiss seine Arbeit von Anfang an verfolgte. Persönliche Fotos eines langen, reichhaltigen und offenbar durchaus gutgelaunten Lebens schließen das Buch ab, das als Coffeetable-Buch dedacht ist und auf diesem coffee table garantiert jeder Kaffeestunde genügend schmunzelnden Gesprächsstoff bietet.
Wolfram Knauer (Juli 2011)
Joëlle Léandre Solo. Conversations
von Franck Médioni
Jerusalem 2011 (Kadima Collective)
161 Seiten, 1 CD, 1 DVD, 39 US-Dollar
ISBN: 8-85767-51020-3
Seit den frühen 1970er Jahren gehört die Kontrabassistin Joëlle Léandre zu den führenden Musikerinnen der europäischen improvisierten Musik – zusammen mit Irène Schweizer eine der wenigen Frauen in diesem Metier. Im Gespräch mit dem Journalisten Franck Médioni erzählt sie, wie sie zur Musik und zu ihrem Instrument gekommen ist. Sie habe sich hin- und hergezogen gefühlt zwischen der zeitgenössischen Klassik und dem Jazz, den sie als afro-amerikanische Musik eigentlich erst 1971 entdeckte, als sie auf einem Flohmarkt ein Album von Slam Stewart erstand, durch das ihr bewusst wurde, dass sich die klassischen Techniken durchaus mit denen des Jazz vermengen ließen. Sie hörte sich durch die großen Kontrabassisten des Jazz und entdeckte den Free Jazz und die freie Improvisation als eine Spielweise, in der sie eigene Ideen entwickeln konnte.
Im zweiten Kapitel benennt Léandre konkrete Einflüsse: die Komponisten John Cage und Giacinto Scelsi, welch letzteren sie 1978 in Rom traf, George Lewis, Derek Bailey und andere Musiker aus der frei improvisierenden Szene. Das dritte Kapitel widmet sie ihrem Instrument, spricht über ihr Verhältnis zum Kontrabass, die Körperlichkeit des Instruments und die Instrumentenhaftigkeit ihres eigenen Körpers. Sie spricht über technische Schwierigkeiten und Strategien, die sie entwickelte, diese zu überkommen, über die Erweiterung des Klangs durch Perkussion auf dem Basscorpus oder durch ihre eigene Stimme.
Kapitel 4 gehört dem Verhältnis von Improvisation und Komposition. Sie reflektiert über die Schwierigkeit der Klassifizierung ihrer Musik, die nicht wirklich Jazz, auf keinen Fall Klassik, natürlich kein Pop ist, vielleicht am ehesten eine Art Musik, wie sie ein jeder in sich habe… Kapitel 5 widmet Léandre der Lebenswirklichkeit einer reisenden Musikerin und überschreibt es mit „Nomad / Monad“. Sie spricht darin auch über die Probleme, sich als Frau in einer von Männern dominierten Welt durchzuboxen. Kapitel 6 beschäftigt sich mit der Bedeutung von Aufnahmen – live oder im Studio; Kapitel 7 mit Business- und politischen Aspekten ihrer Arbeit.
Über die ganze Strecke lässt Médioni Léandre einfach reden, und sie erzählt freimütig von einem Nomadenleben zwischen den stilistischen Stühlen, von einer so intensiven musikalischen Suche, dass sie selbst oft nicht mehr weiß, wie sie anderen erläutern kann, wohin diese Suche sie verschlagen hat. Das schafft dann vielleicht doch am ehesten die Musik selbst, und so ist es nur passend, dass das Buch musikalisch von zwei im Deckel eingebundenen Tonträgern gerahmt ist: der CD eines Soloauftrittes von 2005 sowie der DVD einer Soloperformance von 2009.
Wolfram Knauer (Juli 2011)
The 4th Quarter of the Triad. Tony Oxley. Fünf Jahrzehnte improvisierter Musik
von Uli Kurth
Hofheim 2011
256 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-936000-48-1
Zusammen mit Derek Bailey, Evan Parker und wenigen anderen gehört Tony Oxley zu den wichtigsten Musikern der „freien Szene“ Englands. Uli Kurth begleitet Oxley auf eine Erinnerungsreise von Mainstream- und Tanzkapellen der späten 1950er Jahre über Hardbop-Ensembles der 1960er in die freie Improvisation, die Oxley zusammen mit seinen diversen Mitstreitern zu einer Art performativen Musiziersprache entwickelte, einer Improvisation, wie Kurth schreibt, „die allein auf Grund ihrer Ereignisdichte und vieler Seitenpfade nicht komponiert werden kann“. Kurth hat sich für das Buch über Monate mit Oxley in dessen Wohnung in Viersen getroffen, die unterschiedlichsten Themen angeschnitten und Oxley erzählen lassen: über Mitmusiker, die Londoner Szene der 1960er Jahre, musikalische Konzepte, Jazz oder Nicht-Jazz, grafische Notation, Elektronik. Zwischendrin analysiert Kurth einzelne, wegweisende Aufnahmen Oxleys, etwa „The Baptised Traveler“ von 1969, „Ichnos“ von 1971, Aufnahmen mit Cecil Taylor oder mit seinem eigenen Quartett. Diese analytischen Anmerkungen gehen tief, aber nicht auf vordergründig musikwissenschaftliche Art und Weise, sondern eng verzahnt mit der Schilderung der Aufnahme- und Spielsituation sowie mit Interviewausschnitten Oxleys zu den betreffenden Stücken. Oxley erzählt über seine Malerei, seinen Ausflug in die DDR, seine langjährige Zusammenarbeit mit Cecil Taylor und vieles andere. Kurth gelingt bei alledem ein fliegender Wechsel von nüchterner Biographie, erklärender Sozial- und Musikgeschichte, autobiographischen Einblicken und musikanalytischen Details. Oxleys Musik gehört sicher nicht zu den eingängigsten – das vorliegende Buch erlaubt einen sehr persönlichen Zugang.
Wolfram Knauer (Juli 2011)
Spirits Rejoice!. Albert Ayler und seine Botschaft
von Peter Niklas Wilson
Hofheim 2011 (2te Auflage; 1. Auflage 1996)
191 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-3-936000-87-0
Am 25. November 1970 wurde Albert Ayler aus dem East River gezogen. Die Umstände seines Todes wurden nie vollständig aufgeklärt. Dies versucht auch Peter Niklas Wilson nicht in der ersten Monographie, die überhaupt über diesen Saxophonisten erschien. Doch Wilsons Buch ist ein Beleg dafür, daß Recherchen noch mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Tod eines Musikers neue Erkenntnisse hervorbringen können. Wilson ist dafür sozusagen in die Vergangenheit gereist, hat Zeitzeugen ausfindig gemacht, die bislang von niemandem zum Leben Albert Aylers befragt worden waren, hat das Bild, das er so von der Person Aylers gewann, anhand der existierenden Interviews und Zeitschriftenberichte überprüft und all dies mit den Tondokumenten des Aylerschen Musikschaffens verbunden. Herausgekommen ist ein überaus lesenswertes Sachbuch mit Daten, Fakten, Anekdoten, musikalischen Analysen und einer Kurzbeschreibung der von Ayler veröffentlichten LPs.
Der 1936 im schwarzen Clevelander Stadtteil Mount Pleasant geborene Albert Ayler machte eine jazztypische Entwicklung durch. Mit sieben Jahren erhielt er seinen ersten Musikunterricht vom Vater, später in einer örtlichen Musikschule. Mit fünfzehn spielte er in lokalen Bands — eine Musik, die sich eher am Rhythm and Blues als am modernen Jazz der Zeit orientierte. Mit siebzehn wurde Ayler zum Profi-Musiker, ging mit dem Blues-Harmonika-Spieler Little Walter auf Tournee. Doch er spielte nicht nur R&B, sondern auch Bebop — in Cleveland nannte man ihn damals „Little Bird“. Von 1958 bis 1961 ging Ayler durch eine wichtige Schule: die der US-Armeekapellen. Viel der Repertoire-Besonderheiten des späteren Saxophonisten erklären sich aus seinen biographisch-musikalischen Begegnungen: der Rhythm and Blues in Cleveland, die Märsche und Tanzmusik der Armeekapellen. Bald wurde Ayler ins französische Orléans versetzt, machte Konzerttourneen durch ganz Europa. Zurück in Cleveland erfuhr Ayler eine zweite musikalische Initiation: die des Avantgardisten. Man hielt ihn entweder für einen Scharlatan oder für leicht verrückt. 1962 machte sich Ayler nach Schweden auf, wo er ein Interesse an seiner Musik erfahren hatte, das ihm in Cleveland nicht entgegengebracht wurde. Auch in Schweden aber mußte Ayler sich mit Tanzmusik durchschlagen; lernte allerdings auch einige Musiker kennen, die genau wie er dem „New Thing“ anhingen: John Tchicai beispielsweise oder die Musiker des Cecil Taylor Trios. 1963 kam es in Schweden zu den ersten dokumentierten Aufnahmen: ein Repertoire üblicher Hardbop-Standards mit freien Improvisationen des Saxophonisten. Zurück in den USA zog es Ayler im Sommer 1963 nach New York, wo er ab und zu mit der Cecil Taylor Unit auftrat. 1964 folgte die erste Studioeinspielung „Spirits“, dann Aufnahmen für das Avantgarde-Label ESP, die ihn endlich zu einem musikalisch wahrgenommenen Phänomen der amerikanischen Jazzszene machten.
Mitte der 60er Jahre lag im schwarzen Amerika die Revolution in der Luft. Bürgerrechtsproteste, die Black-Power-Bewegung, frühe Zusammenschlüsse der Black Panthers und zornige Äußerungen der schwarzen Wortführer bestimmten das Klima. LeRoi Jones sah damals in der Musik des New Thing, und besonders in der Musik Albert Aylers den Aufruf zum Protest, zur Revolte. Ayler selbst allerdings äußerte sich nie dezidiert zu einer etwaigen politischen Funktion seiner Musik. „Musik und Politik — sie können auf gewisse Weise verknüpft sein, aber Musik ist Musik und Politik ist Politik“, zitiert Wilson den Saxophonisten.
Wilson betrachtet sowohl die Musik als auch die Ästhetik Aylers dabei durchaus kritisch. Den spirituellen Äußerungen Aylers, deren Resultate sich durchaus in seiner Musik wiederfinden lassen, stellt er da beispielsweise einen oft zornigen Kleinbürger mit Macho-Attitüden gegenüber, den er in den Äußerungen von Ayler-Freunden wie Michel Samson, Sunny Murray und anderen entdeckt. 1967 lernte Ayler Mary Parks (alias Mary Maria) kennen, die sein privates Leben und seine musikalische Karriere nachhaltend beeinflußte. John Coltrane vermittelte Ayler einen Plattenvertrag mit dem Label Impulse. Dessen Produzent Bob Thiele wollte den Saxophonisten einem weiteren Publikum bekannt machen — heraus kam „New Grass“, eine Platte mit Bläsersätzen und Background-Chören und einer offenen spirituellen Botschaft. Wilson argumentiert gegen etliche Kritiker, daß diese Entwicklung nicht einzig auf Thieles Drängen stattgefunden habe, sondern durch und durch dem musikalischen Willen Aylers und dem Einfluß seiner Lebensgefährtin Mary Parks entsprach. Aylers Tod im November 1970 ließ Spekulationen über Selbstmord aufkeimen, Spekulationen, die ihren Grund auch in depressiven Stimmungen hatten, denen Ayler in den letzten Jahren seines Lebens unterlag.
Dem biographischen Teil des Buchs folgt eine ausführliche analytische (dabei übrigens überaus lesbare) Würdigung der musikalischen Seite Albert Aylers. Wilson untersucht die unterschiedlichen Traditionsstränge, die sich in der Musik des Saxophonisten finden: die Musik der schwarzen Kirche, Rhythm ’n‘ Blues, Jazztradition, Märsche. Er gliedert die Entwicklung Aylers in vier Phasen, die des „Free Bop“ (ca. bis 1964), die der „Shapes — From Notes to Sounds“ (1964), die der „Universal Music“ (1965-1967) und die der „Verbalisierung der Botschaft — From Sounds to Words“ (ab 1968).
Peter Niklas Wilsons Buch ist nicht nur deshalb als ein Standardwerk zu Albert Aylers Leben und Schaffen einzustufen, weil es bislang [1997] die einzige Monographie über den Saxophonisten darstellt. Wilson ist es gelungen, ein umfassendes Bild des Menschen Ayler und seiner Musik zu geben, ein Bild, in dem die Biographie, die spirituelle und die musikalische Entwicklung gegenübergestellt und ihre vielfältigen Einflüsse aufeinander sinnvoll dargestellt werden.
Wolfram Knauer (Januar 1997)
„To make a lady out of jazz.“ Die Jazzrezeption im Werk Erwin Schulhoffs
von Miriam Weiss
Neumünster 2011 (von Bockel Verlag)
458 Seiten, 48 Euro
ISBN: 978-3-932696-81-7
Der Jazz überrannte Europa in den 1920er Jahren in vielfacher Weise: als Tanz, als Musik, als Mode, als Lebensart. Es müssen also all die nicht-musikalischen Konnotationen immer mitgedacht werden, wenn man über die Jazzrezeption jener Jahre spricht. Jazz faszinierte Künstler aller Bereiche, Literaten, Maler, Bildhauer, Fotografen, Tanzmusiker genauso wie klassische Komponisten. Über die Jazzrezeption in der klassischen Musik Europas ist viel geschrieben worden. Miriam Weiss konzentriert sich auf einen Komponisten, keinen der „ganz Großen“, dafür einen, der weit mehr als andere den Jazz nicht nur für einzelne Werke, sondern über weite Strecken seines Schaffens als Inspiration nutzte.
Weiss ist sich der Konnotationen bewusst, die der Jazz für viele Künstler in der Zeit der Weimarer Republik bot; sie nennt Jazz in einem Kapitel klar als „Projektionsfläche für Klischees“. Sie beschreibt darin etliche der Missverständnisse, die mit dem Jazz verbunden waren und die letztlich zum weithin zitierten Diktion Theodor W. Adornos führte, der Jazz als eigenständige Kunst gar nicht wahrhaben wollte und ihn stattdessen vor allem als Teil der Kulturindustrie betrachtete. Sie beleuchtet Schulhoffs Kontakte zu den Dadaisten, vergleicht sein Verständnis von jazz mit dem etwa des Malers George Grosz und analysiert vor diesem Hintergrund Schulhoffs „Fünf Pittoresken für Klavier“ von 1919.mit Sätzen wie „Foxtrott“, „Ragtime“, „One-Step“ und „Maxixe“. Auch in der „Suite für Kammerorchester“ findet sich ein „Ragtime“ betitelter Satz, ein „Valse Boston“ und als letzter ein mit „Jazz“ überschriebener Satz („Allegro con fuoco“). Während Schulhoff in Werken wie diesen rhythmische und klangliche Assoziationen an das versuchte, was ihm und etlichen anderen Komponisten als „Jazz“ vorschwebte (kaum einer von ihnen hatte zu dieser Zeit selbst realen afro-amerikanischen Jazz gehört), greift er vor allem in seinen Klavierkompositionen der 1920er Jahre auf leichter zugängliches Material zurück, insbesondere die virtuose, stark vom Ragtime beeinflusste Novelty-Tradition, in deren Folge Kompositionen etwa von Zez Confrey auch auf europäischen Bühnen gespielt wurden. Die Genreklarheit ist auch hier nicht überall gegeben, ob Jazz oder Blues, Ragtime oder Tango – wichtig war vor allem die Anbindung an aktuell populäre Musikformen; ein tatsächliches Bewusstsein für Jazz als eine vorrangig mit Improvisation funktionierende afro-amerikanische Musik war bei europäischen Komponisten und auch bei Schulhoff kaum vorhanden. Erst in seiner „Hot-Sonate“ für Altsaxophon und Klavier von 1930 nahm er in den Melodielinien scheinbar Bezug auf improvisatorische Vorbilder, aber auch auf die jazzspezifische Klangbildung mit Verschleifungen, dirty tones etc.
Die Jazzrezeption in der klassischen Musik des 20sten Jahrhunderts aber sollte auch nirgends als Übernahme von Jazz in ein anderes Genre missverstanden werden. Interessant sind vor allem die Inspirationen; interessant ist, wie die „andere“ Sprache des Jazz Komponisten Möglichkeiten im Klanglichen, Rhythmischen, Harmonischen öffnet, weil sie mit technischen Mitteln neben den üblichen konventionellen Traditionen auf weitere aus der populären Musik verweisen können, Verweise, die letztlich sowohl Struktur bildend wie auch Ästhetik erweiternd wirken. Für Schulhoff wurde die Auseinandersetzung mit den Einflüssen aus dem Jazz jedenfalls stilbildend, nicht nur in den kammermusikalischen Werken seines OEuvres, sondern auch in größeren Gattungen, Ballett, Sinfonie und Oper. Weiss verfolgt die Jazzelemente in all diesen Kompositionen sorgfältig, analysiert rhythmische und melodische Details und erklärt so die spezifische Klangfarbe, die der Jazz seiner Musik beizugeben vermag.
Das Buch entsprang einer musikwissenschaftlichen Dissertation, und etliche der analytischen Details richten sich so vor allem an einen fachinternen Diskurs. Für den musikwissenschaftlichen Laien ist vor allem die genreübergreifende Beschäftigung vieler Künstler der 1920er Jahre mit dem Thema Jazz interessant, die Weiss insbesondere im Kapitel Dada ausführlich erörtert. Wie so oft in Büchern über die Jazzrezeption scheint dem Rezensenten auch hier ein Aspekt nicht deutlich genug erklärt: jener nämlich des produktiven Missverständnisses, dem sich so viele Künstler in jenen Jahren ausgesetzt waren, die mit Jazz ganz verschiedene Dinge konnotierten und zum Teil noch nicht einmal unter sich einig waren, was unter diesem Phänomen wohl zu verstehen sei. Das „Jazz“ in diesem Sinne nichts mit dem zu tun hat, was man im Nachhinein als die Ursprünge einer afro-amerikanischen Kunstform definiert, also mit Oliver, Morton, Armstrong, Ellington, wird schnell klar, aber für welche unterschiedliche Konzepte „Jazz“ genutzt werden konnte oder, wie Weiss schreibt, für welche Klischees der Jazz (und vor allem: welcher Jazz?) als Projektionsfläche dienen konnte, das ist bisher kaum strukturell überzeugend nachzulesen. Miriam Weiss nähert bei dieser Aufgabe wenigstens einem Teilkapitel: welche Funktion Jazz nämlich für die kompositorische wie ästhetische Arbeit im Schaffen Erwin Schulhoffs hatte. Der, schreibt sie, „erkannte die emotionale Wirkung und das brisante, weil provozierende Potential des Jazz“. Dieser habe sich bei Schulhoff im Verlauf der 1920er Jahre von der „aufmüpfigen Göre“ zur „wohlerzogenen Lady“ gewandelt, ein Prozess, der in seiner Musik nachvollziehen allemal spannend genug ist, ihm eine eigene Monographie zu widmen.
Flying High. A Jazz Life and Beyond
von Peter King
London 2011 (Northway Publications)
338 Seiten, 20 Englische Pfund
ISBN: 978-0-9550908-9-9
Peter King mag nicht zu den großen Namen der europäischen Jazzgeschichte gehören. Ein Altsaxophonist, der sein Spiel zeitlebens am großen Charlie Parker orientierte, dabei seine eigene Stimme fand, die aber nie zu weit ab war vom amerikanischen Modern Mainstream seiner Tage, ein Musiker, der von amerikanischen Kollegen auf Europatourneen wegen seiner stilistischen Verlässlichkeit gern engagiert wurde, zugleich aber auch wegen seiner persönlichen Probleme – insbesondere mit Drogen– schwierigste Zeiten durchmachte… ein musicians‘ musician vor allem unter britischen Kollegen, der nichtsdestotrotz eine spannende Geschichte zu erzählen hat.
Spannend ist sie auch deshalb, weil sein Buch nicht einfach nur Musikerbegegnungen aneinanderreiht, wie man das leider sonst so häufig in Biographien und Autobiographien findet, sondern weil King recht offenherzig versucht, den Entscheidungen seines Lebens auf die Spur zu kommen, ob sie nun zu guten oder zu weniger guten Resultaten führten.
Eigentlich hatte er Aeronautiker werden wollen, schreibt er, doch Willis Conovers legendäre Radiosendung „Jazz Hour“ änderte seinen Berufswunsch: Nun wollte er Jazzklarinettist werden. In jugendlichem Enthusiasmus versuchte er selbst eine Klarinette zu bauen, bis seine Eltern Mitleid mit ihm hatten und ihm ein preiswertes Instrument schenkten. Im Gymnasium stolperte er über Charlie Parker und entschied sich zusätzlich Altsaxophon zu lernen. Er tat sich mit anderen Jazzenthusiasten zusammen, die regelmäßig in einer Bäckerei spielten, die sich abendlich in eine Art Jazzclub verwandelte. Musik wurde mehr und mehr zu seiner Hauptbeschäftigung, und nach und nach traf er professionelle Musiker wie Gordon Beck, Kathy Stobart und Ronnie Scott, der ihn bat, im Oktober 1959 bei der Eröffnung seines ersten Clubs zu spielen. Von da ab spielte King (nicht zu verwechseln mit Pete King, dem langjährigen Manager Ronnie Scott’s) regelmäßig im Club, mit eigener Band genauso wie mit durchreisenden amerikanischen Musikern.
In seinem Buch erzählt der Saxophonist Geschichten über Tourneen etwa mit der John Dankworth Bigband, über seine Begegnung mit Bud Powell, über Ben Webster, Sonny Stitt, Tubby Hayes, Dave Holland (der mit ihm spielte, noch bevor Miles Davis ihn engagierte), Annie Ross, Dakota Staton und vielen andere. Europäischer Jazz, schreibt King, habe durch Plattenfirmen wie ECM durchaus einen spezifisch europäischen Sound erhalten, er selbst aber sei halt vor allem von den afro-amerikanischen Wurzeln des Jazz begeistert gewesen.
1962 heiratete King die Sängerin Joy Marshall, eine ungleiche und bald auch unglückliche Ehe, die schließlich in Chaos und Scheidung endete. King erzählt genauso offen wie von anderen persönlichen Entwicklungen seines Lebens von seinem Drogenmissbrauch: Kokain, Heroin, Zeug, für das er den größten Teil seiner Gage ausgab. Er erzählt, wie er mit Hilfe einer bekannten Londoner Ärztin, der auch Stan Getz und Bill Evans wegen ihrer Drogensucht behandelte, versuchte, von dem Stoff wegzukommmen. Später nahm er Methedrin und andere Ersatzdrogen, und in der neu erworbenen Freiheit begann King sich mit klassischer Musik und Literatur auseinanderzusetzen, aber auch die Malerei aufzugreifen. Seine zweite Frau akzeptierte die Tatsache mit einem Süchtigen zusammenzusein und gab ihm in ihrer Akzeptanz Halt.
King berichtet von Auftritten Plattensessions mit Philly Joe Jones, Hal Singer, Jimmy Witherspoon, über Tourneen mit Ray Charles, James Brown, Sacha Distel und Charlie Watts. … Die Geschichten nehmen kein Ende, werden aber auch nie langweilig, weil man eine Ehrlichkeit hinter ihnen spürt, die nicht der Selbstdarstellung geschuldet ist, sondern einer gewissen Selbsterkenntnis. King schreibt mit einer Offenheit, die selten ist in der Jazzwelt, beschreibt die Zwänge seiner Drogensucht, aber auch in welchen Zwängen sich viele der anderen Musiker befanden, mit denen er zusammenarbeitete und die unter ähnlichen Problemen zu leiden hatten. Das alles tut er nicht Mitleid heischend oder voll Vorwürfe, sondern nüchtern, mit einem distanzierten Augenzwinkern und dem Wissen, dass nicht alles okay war, was er oder andere gemacht haben, dass sie alle aber Menschen sind und dass auch eine Biographie aus dem Menschen keinen Heiligen machen sollte.
Zum Schluss erzählt er von seinen kompositorischen Ambitionen, einem Opernprojekt namens „Zyklon“ über den Erfinder von Zyklon B, dem Gift, mit dem die Nazis Hunderttausende Menschen ermordeten. Und er gibt einen kurzen Einblick in sein anderes Hobby, das seinem ersten Berufswunsch geschuldet ist: dem Modell-Flugzeugbau, ein Gebiet, in dem er sich ebenfalls einen Namen machte.
Neben all den Einsichten in das tägliche Leben eines Jazzmusikers also ist dies vor allem ein ehrliches, manchmal überraschendes und damit ungemein lesenswertes Buch.
Wolfram Knauer (Juli 2011)
I Feel So Good. The Life and Times of Big Bill Broonzy
von Bob Riesman
Chicago 2011 (University of Chicago Press)
324 Seiten, 27,50 US-Dollar
ISBN: 978-0-226-71745-6
Bei der enormen Flut an Veröffentlichungen im Bereich von Jazz, Blues und Rhythm ’n‘ Blues ist man doch immer wieder erstaunt, wenn es einem Autoren gelingt, so weit unter die Oberfläche zu gelangen, wie dies Bob Riesman mit seiner neuen Biographie des Gitarristen und Sängers Big Bill Broonzy gelungen ist.
Riesman ist ein Kenner der Chicagoer Folk- und Blueszene, und im Vorwort seines Buchs erzählt er vom Verschleierungskünstler Broonzy, der Daten und sonstige Informationen nach Belieben veränderte und den Biographen so des öfteren in die Leere laufen ließ. In Amsterdam traf Riesman eine Frau, die ein Kind von Broonzy hatte und ihm einen Schuhkarton mit Briefen des Gitarristen in die Hand drückte. Er traf Verwandte in Arkansas, wühlte in Archiven und stückelte so die Lebensgeschichte weit über das hinaus zusammen, was Broonzy selbst 1955 in seiner von Yannick Bruynoghe edierten Autobiographie erzählt hat. Vor allem hinterfragt er viele der Geschichte, die Big Bill ähnlich ausschmückte wie er den Blues sang: mit Lyrik und dramatischem Geschick. Riesman geht Broonzys eigener Namensgebung auf den Grund (eigentlich hieß er (wahrscheinlich) Lee Conley Bradley. Er betrachtet das Arkansas im frühen 20sten Jahrhundert und vergleicht immer wieder die verschiedenen Versionen von Geschichten, die Broonzy über wichtige Ereignisse seines Lebens erzählte. Broonzy begann auf der Fiddle, und Riesman betrachtet die unterschiedlichen musikalischen Einflüsse, denen er als Junge augesetzt war. Er verfolgt den Aufstieg des Gitarristen und Sängers, der nach dem I. Weltkrieg nach Chicago ging und dort bald zu einem der führenden Bluesmusiker der Stadt wurde. 1938 sang er in der Carnegie Hall, und nach dem Krieg war sein Einfluss auf das Folk-Revival um Pete Seger und Studs Terkel nicht zu unterschätzen. In den 1950er Jahren bereiste Broonzy Europa und machte dort enormen Eindruck auf junge Rockmusiker, die in den 1960er Jahren aufbauend auf seinem Stil und dem anderer Bluesmusiker seiner Generation eine eigene populäre Musik schaffen sollten. Nebenbei gräbt Riesman viele biographische Details aus, über Broonzy als Ehemann dreier Frauen etwa und Vater eines Kindes auf dem Alten Kontinent. Zum Schluss des Buchs berichtet Riesman davon, wie Broonzy durch den Krebs erst seine Stimme, dann sein Leben verlor, just zu dem Zeitpunkt, als seine internationale Karriere einem neuen Höhepunkt zustrebte.
Bob Riesmans Buch ist vordergründig eine chronologisch erzählte Biographie und greift fast wie nebenbei viele Stränge der Popmusikkultur des 20sten Jahrhunderts auf. Das Buch ist akribisch recherchiert und dennoch flüssig zu lesen. Etliche seltene Fotos runden ein durch und durch gelungenes Werk ab. Die Geschichte des Blues und Broonzys Rolle darin wird durch das Buch nicht neu geschrieben. Viele Zusammenhänge aber werden klarer, weil persönlicher. Lesenswert!
Wolfram Knauer (Juni 2011)
Klaus Doldinger
von Rainer Thieme
Altenburg 2011 (Kamprad)
127 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-930550-81-4
Klaus Doldinger ist einer der namhaftesten deutschen Jazzmusiker, und seine Karriere hat viele Facetten: Begonnen hatte er mit den Feetwarmers, einer Düsseldorfer Dixieland-Band, um sich dann in den frühen 1960er Jahren moderneren Stilarten des Jazz zuzuwenden. Er experimentierte mit Latin Jazz, ging aber nie den Weg zum Free Jazz, hatte stattdessen ein Pseudonym, Paul Nero, unter dem er zwischen 1964 und 1970 elf Langspielplatten mit Tanzmusik einspielte. Seine Band Passport wurde zur führenden deutschen Fusion-Group seit den 1970er Jahren, und mit seiner Titelmelodie zum „Tatort“ und der Filmmusik zu „Das Boot“ verewigte der Saxophonist sich in der Film- und Fernsehmusikgeschichte.
Rainer Thiemes Buch ist vor allem eine Diskographie mit etwa 100 Seiten Auflistung von Plattensessions, Besetzungen, Reproduktion von LP- und CD-Covers, einer Liste der von Doldinger geschriebenen Filmmusiken und einem Titelindex mit Verweis auf die Platten, auf denen die Titel enthalten sind. Die Biographie des Saxophonisten nimmt dagegen gerade mal jeweils 12 Seiten (deutsch/englisch) ein. Sie ist eher eine nüchterne Zusammenfassung der Karrierestationen. Die Diskographie ist thematisch geordnet: Feetwarmers; Doldinger Quartett; Doldinger’s Motherhood; Doldinger’s Passport; Soloprohekte; Paul Nero; Soundtracks. Alle Platten sind mit Coverabbildungen, Titel- und Besetzungsliste, wo möglich Angaben zum Produzenten und zu Wiederveröffentlichungen dokumentiert. Da die Kapitelüberschriften in der Diskographie etwas zu unauffällig geraten sind, muss man im Buch ein wenig suchen, um die unterschiedlichen Abschnitte voneinander unterscheiden zu können. Davon abgesehen aber ist das Büchlein gewiss ein unverzichtbares Nachschlagewerk für jeden Doldinger-Fan und quasi ein Bestandskatalog für jeden Doldinger-Sammler.
Wolfram Knauer (April 2011)
Die Ernst Höllerhagen Story. Ein Jazzmusiker zwischen Nationalsozialismus und Wirtschaftswunder
von Heiner Bontrup & E. Dieter Fränzel
Wuppertal 2011 (NordPark)
184 Seiten, 15 Euro
ISBN_ 978-3-935421-42-3
Vor fünf Jahren erschien der opulente Band „Sounds like Whoopataal“, eine Lokal- und Regionalgeschichte des Jazz in Wuppertal von den 1920er Jahren über die Free-Jazz-Szene um Brötzmann, Kowald und Co. bis heute. Darin gab es ein ausführliches Kapitel über Ernst Höllerhagen, den Wuppertaler Klarinettisten, der zwischen 1934 und 1955 insgesamt 550 Titel mit verschiedenen Orchestern und unter eigenem Namen eingespielt hatte. Für dieses Kapitel recherchierten E. Dieter Fränzel und Heiner Bontrup in diversen Archiven, sprachen mit Angehörigen, Kollegen und Zeitzeugen und sammelten so viel spannende Information sowohl über seine musikalische Karriere als auch über sein persönliches Schicksal, dass sie sich entschlossen, ihm eine eigene Biographie zu widmen.
„Die Ernst Höllerhagen Story“ beginnt dabei tragisch: mit dem Selbstmord des Klarinettisten, der am 11. Juli 1956 nicht zu einer Probe der Band Hazy Osterwalds erschienen war, und den man bald darauf erhängt in der Toilette fand. Freitod aus Einsamkeit, mutmaßen die beiden Autoren und begeben sich auf die Suche nach einem Leben „zwischen Nationalsozialismus und Wirtschaftswunder“. Höllerhagens Schwester Martha Blockhaus erzählt von der Kindheit und Jugend ihres Bruders, von der Familie, von der Zeit in Wuppertal. In den 1920er Jahren, geht die Legende, habe Höllerhagen mit dem amerikanischen Pianisten Sam Wooding gespielt, und Bontrup und Fränzel klopfen sie auf ihre Wahrscheinlichkeit ab, finden aber auch keine definitiven Belege.
1932 jedenfalls begann Höllerhagen seine professionelle Musikerkarriere in der Band von Jack Alban. In den Jahren darauf trifft er holländische genauso wie Schweizer Kollegen und knüpft Netzwerke, die ihm später hilfreich sein sollten. Er spielt in diversen Bands in den Niederlanden, etwa der des Pianisten Mike Weersma, hat danach ein paar Gigs in der Schweiz, dann wieder in Holland und Belgien, um schließlich auf der Berliner Szene Fuß zu fassen. Es ist ein Leben mit vielen Stationen: Bald ist Höllerhagen zurück in der Schweiz, spielt dort mit den „Berries“, die unter anderem den Tenorsaxophonisten Coleman Hawkins bei Plattenaufnahmen begleiten. Er wirkte in Teddy Stauffers Band, parlierte, Stauffers Biographie zufolge, einen „Heil Hitler“-Gruß schon mal mit „Heil Goodman“ und blieb 1939 mit Stauffer in der Schweiz. Dort machte er Aufnahmen unter eigenem Namen, spielte mit dem Amerikaner Willie Lewis und freundete sich mit Hazy Osterwald an. Mit dessen Sextett trat Höllerhagen 1949 beim Paris Jazz Festival auf, und auf einem Foto im Buch ist Höllerhagen am Tisch neben Max Roach und Kenny Dorham zu sehen. In den 1950er Jahren wurde Osterwalds Band mit Höllerhagen immer wieder für deutsche Spielfilme verpflichtet, die mit leichter Kost von den Zerstörungen des Krieges ablenken sollten. Die Osterwald-Band spielte Jazz und Tanzmusik, und Höllerhagens Spiel wurde von Kritikern wie Kollegen gern mit dem Benny Goodmans verglichen – der Pianist Joe Turner schrieb auf ein Foto gar die Widmung: „To the biggest threat to Benny Goodman“.
Ein aufregendes Musikerleben also – woher, fragen die Autoren, stammen dann die Depressionen, die Höllerhagen offenbar immer mehr einholten? 1943 heiratete er die Jugendliebe Hazy Osterwalds, bekam noch im selben Jahr ein Kind. 10 Jahre später lässt seine Frau sich von ihm scheiden, zieht mit der Tochter in die USA und lehnt jeden weiteren Kontakt zu ihm ab. Kurze Zeit vor seinem Selbstmord erlitt er eine Nervenentzündung im Lippenbereich, so dass er wochenlang nicht spielen konnte. Auch hatte er eine „Herzattacke“, und sah die Gefahr, irgendwann nicht mehr als Musiker arbeiten zu können. Diese Faktoren mögen Gründe für seinen Freitod gewesen sein.
Das letzte Drittel des Buchs nimmt eine ausführliche Diskographie der Titel ein, die Höllerhagen zwischen 1934 und 1955 mit diversen Bands einspielte. Bontrup und Fränzel haben mit der „Ernst Höllerhagen Story“ ein interessantes Kapitel deutscher und europäischer Musikgeschichte dokumentiert. Neben dem Schicksal des Klarinettisten wird dabei vor allem die Beweglichkeit deutlich, die Musiker im Jazz- und Tanzmusikbereich jener Jahre haben mussten, weil die Engagements sie nun mal in unterschiedliche Regionen verschlagen konnten.
Wolfram Knauer (April 2011)[:en]Clark. The Autobiography of Clark Terry
von Clark Terry (& Gwen Terry)
Berkeley 2011 (University of Berkeley Press)
322 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-520-26846-3
Als Clark Terry im Dezember letzten Jahres seinen 94sten Geburtstag feierte, schaute Wynton Marsalis und das komplette Lincoln Center Jazz Orchestra vorbei. Terry ist ein Säulenheiliger des Jazz, einer der ganz wenigen noch lebenden Zeitzeugen der Entwicklung dieser Musik vom Swing über den Bebop bis zu aktuellen Spielformen. Als junger Musiker erhielt er Zuspruch und Ermutigung von älteren Kollegen; später half er selbst jungen Musikern, angefangen von Miles Davis über Quincy Jones bis hin zu unzähligen Workshops und pädagogischen Jazzprojekten, der er mit-initiierte oder bei denen er mitwirkte. Terry kam in der lebendigen, blues-verbundenen Jazzszene von St. Louis zum Jazz, er spielte in den Orchestern von Charlie Barnet, Count Basie und Duke Ellington, er leitete seine eigenen Bands, und er war ein bei allen Kollegen hoch angesehener Stilist und Solist.
In seiner Autobiographie lässt er nun sein Leben Revue passieren. Es ist ein überaus persönliches Buch geworden, in dem Terry freimütig von seinem Groll über den Vater berichtet, aber auch davon, dass es ihm selbst nicht so viel besser gelungen sei, eine gute Beziehung zu seinem Sohn aufzubauen, in dem er von den Schwierigkeiten des Tourneelebens genauso erzählt wie von den wunderbaren Gelegenheiten, bei dem alles klappt und die Musik nur so aus ihm herausfließt. Er erzählt mit Witz und genügend Selbstreflexion, und insbesondere in den Kapiteln über seine Jugend und seine Bigband-Jahre erlaubt er seinen Lesern einen spannenden Blick hinter die Kulissen. Seine Erinnerung ans Great Lakes Naval Training Center, in dem Musiker für die Bands in allen Marinestützpunkten der Vereinigten Staaten ausgebildet wurden, ist ein auch jazzhistorisch interessanter Exkurs, war diese Ausbildung doch der Beginn vieler namhafter Karrieren des modernen Jazz.
Terrys Beschreibungen des Klavierstils von Count Basie oder des Organisationstalents Duke Ellingtons lassen die Musik unmittelbarer werden, geben einem das Gefühl, mehr zu verstehen über die Aufnahmen, die man aus jenen Jahren kennt, als der Trompeter mit dabei war. Seine Erinnerungen daran, wie er zum Flügelhorn kam oder wie er während seiner Zeit in den Fernsehstudios mehr zufällig seinen Gesangsstil des „Mumbling“ erfand, ermuntern einen zum Plattenregal zu laufen, um Beispiele zu hören oder auf YouTube Filme anzuklicken, auf denen man ihn dann genau als den hoch-disziplinierten und professionellen Künstler erlebt, als den er sich auch selbst beschreibt.
Neben den vielen professionellen Erinnerungen lässt Terry aber auch die Probleme des Musikerlebens nicht außer Acht, berichtet, wie der offene Rassismus in den USA das Reisen für schwarze Bands schwierig machte, von Krankheiten und von der mangelnden Zeit, sich um Freunde, Familie und nicht zuletzt auch um sich selbst zu kümmern. Er erzählt, wie er weiterarbeiten musste, als seine Frau an schwer an Krebs erkrankte, um die Arztrechnungen zu bezahlen, und wie er so nicht anwesend war, als sie verstarb. Er berichtet von seinem Verlangen nach Nähe und Geborgenheit, und ist politisch unkorrekt genug, ziemlich genaue Vorstellungen davon zu haben, wofür die Frau im Haus zuständig sei – wobei er mit Gwen, seiner jetzigen Frau, dann aber eine Partnerin suchte und fand, die dazu in der Lage war, ihm auch kräftig Kontra zu geben. Es sind solche Momente, die das Buch besonders lesenswert machen, Momente, in denen man den Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und Musik zu erahnen scheint, in denen man in seinen Worten recht genau erkennt, was er in seiner Musik seit mehr als 70 Jahren sagt.
Die Leichtigkeit der Erzählung lässt höchstens in den letzten Kapiteln nach, in denen Terry mehr und mehr seinen Taschenkalender durchzublättern scheint, darauf bedacht, bloß keinen Namen der noch lebenden Kollegen oder seiner Schüler zu vergessen, möglichst viele Termine aufzuzählen, sich dabei des öfteren wiederholt und auch schon mal dieselbe Erinnerung unterschiedlichen Gegebenheiten zuordnet. Dieser Bruch im Manuskript, vom Erzählerischen zum Aufzählerischen, ist aber auch der einzige Wermutstropfen eines Buchs, das unbedingt zur Lektüre empfohlen sei, weil es so viel über die Wirklichkeit des Musikerdaseins im Amerika der 30er bis 60er Jahre erklärt.
Wolfram Knauer (Februar 2015)
Sophotocated Lady.
Jazzphotographien 1948-1965
von Susanne Schapowalow
Bad Oeynhausen 2011 (jazzprezzo)
200 Seiten, 55 Euro
ISBN: 9-978-3-9810250-9-9
Quincy Jones schreibt ein Geleitwort, weil er sich gern an die junge Frau erinnert, die 1960 einen Monat lang mit ihm und seiner Band durch Europa reiste. Susanne Schapowalow begann ihre Karriere als Fotografin in den Mitt-1940er Jahren, fotografierte bald darauf Trümmergelände und Jazzmusiker. Sie war mit Olaf Hudtwalcker befreundet, der sie immer wieder nach Frankfurt einlud, wo sie 1948 für einen Artikel im Schwäbischen Tagblatt den Jazzkeller des dortigen Hot Club ablichtete. Mitte der 1950er Jahre war die gebürtige Hamburgerin bei allen Konzerten amerikanischer Stars in der Musikhalle zugegen, fotografierte Louis Armstrong, Duke Ellington, Gerry Mulligan, Lee Konitz, aber auch deutsche Musiker wie Klaus Doldinger, Caterina Valente, Paul Kuhn, Wolfgang Schlüter oder Rolf Kühn. Sie reiste zu Festivals in Düsseldorf und Essen, arbeitete für Joachim Ernst Berendt und andere, machte sich einen Namen als eine Fotografin, der es gelang, besondere Situationen festzuhalten: nicht bloß den Blick auf den arbeitenden Musiker auf der Bühne, sondern weit mehr den Menschen, den kreativ Schaffenden. Ihre Bilder waren in den 1950er und frühen 1960er Jahren in vielen Fachzeitschriften zu sehen. Das Hotel Ellington in Berlin stattete das gesamte Haus bei seiner Eröffnung im Jahr 2007 mit ihren Fotos aus, Restaurant, Lobby sowie alle Salons und Gästezimmer. Mitte der 1960er Jahre allerdings hatte sich Schapowalow vom aktiven Fotografieren zurückgezogen und eine erfolgreiche Bildagentur gegründet. Jetzt ist im jazzprezzo-Verlag das erste Buch erschienen, das die eindrucksvollen Bilder in angemessener Umgebung präsentiert. Dem Herausgeber Rainer Placke und dem Grafiker Ingo Wulff ist dabei ein großer Wurf gelungen: Papier, Gestaltung, Bildqualität, die Gruppierung der Fotos, die Beschriftungen, die begleitenden Texte – „Sophotocated Lady“ hat alle Chancen zum Wunsch-Weihnachtsgeschenk für alle Jazzliebhaber zu werden. Unsere Empfehlung soll dabei nicht verschweigen, dass der Autor dieser Zeilen selbst ein Vorwort zum Buch verfasst hat und somit ein wenig befangen ist. Aber sei’s drum: Hätte er kein Belegexemplar erhalten, hätte auch er es sich zu Weihnachten gewünscht! Ein großer Wurf, eine großartige Fotografin, ein gelungenes Buch!
Wolfram Knauer (November 2011)
Carla Bley
von Amy C. Beal
Urbana/IL 2011 (University of Illinois Press)
113 Seiten, 22 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-0818-7
Carla Bley ist sicher eine der wichtigsten Komponistinnen des 20sten Jahrhundert – wobei die Einschränkungen dieses Satzes gleich mehrere sind, die alle so nicht stimmen. Weder hat ihre Kompositionskraft am 31. Dezember 1999 aufgehört, noch ist ihre Bedeutung geschlechterbeschränkt. In ihrem Buch will Amy C. Beal dem Phänomen der Pianistin, Komponistin und Bandleaderin historisch, aber durchaus auch musikalisch gerecht werden
Sie beginnt biographisch mit der Geburt von Lovella May Borg in Oakland, Kalifornien, um dann gleich die frühesten musikalischen Einflüsse aufzuzählen: absolutes Gehör, Ballettmusik von Erik Satie im Radio, Beethoven, Chopin, Grieg, Rachmaninoff am Klavier, protestantische Hymnen in der Kirche ihrer fundamentalistisch-gläubigen Eltern. Mit 17 begann sie in einem Club in Monterey Lounge-Piano zu spielen, besaß aber nur ein begrenztes Repertoire an Standards und konnte kaum improvisieren. Dann entdeckte sie den Jazz für sich, reiste nach New York, hörte Miles Davis und all die anderen Vorbilder. Zusammen mit Paul Bley zog sie 1957 zurück an die Westküste, wo sie mehr und mehr zu komponieren begann. Bley, George Russell, Steve Swallow und andere Musiker waren von ihren Stücken begeistert und spielten sie in diversen Bands, in denen sie arbeiteten.
Beal untersucht einige der frühen Kompositionen Bleys, „Ictus“, „Floater“, Walking Woman“ und erklärt die Faszination dieser Stücke, die dazu führte, das 1962 etwa auf einem Duzend Alben Arrangements und Interpretationen dieser Werke zu finden waren. 1964 fanden sich die Bleys in New York im Zentrum einer Bewegung, die versuchte, die neuen Strömungen in der improvisierten Musik der USA zu kanalisieren. Bill Dixon hatte in einem New Yorker Club eine Konzertreihe ins Leben gerufen, die er „October Revolution in Jazz“ nannte, und zugleich die Jazz Composers Guild gegründet, eine Musikerinitiative, der neben ihm und den Bleys Sun Ray, Roswell Rudd, John Tchicai, Archie Shepp und viele andere angehörten. Bley und Mantler fokussierten diese Initiative in einer Art All-Star Band, dem Jazz Composers Guild Orchestra.
Die Ehe der Bleys scheiterte, und Carla tat sich mit dem aus Österreich stammenden Trompeter Michael Mantler zusammen; aus ihrer 25 Jahre dauernden Beziehung stammt ihre gemeinsame Tochter Karen Mantler. 1967 gingen sie auf eine Europatournee, wo sie erstmals mit der aggressiven Kunst Peter Brötzmanns und Peter Kowalds konfrontiert wurden. Zugleich war sie fasziniert von den Klängen des Beatles-Albums „Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band“, das damals erschien. Sie veränderte ihre Klangsprache, arbeitete mit unterschiedlichen, oft kontrastierenden Klangfarbenschattierungen, wie Beal insbesondere an Bleys Suite „A Genuine Tong Funeral“ zeigt. „Escalator Over the Hill“ von 1972, eine Art Jazz-Opern-Fusion, ist sicher das Hauptwerk der Komponistin. Mit der Veröffentlichung dieses Werks auf Schallplatte begann Bley mit Mantler zugleich ein neues Kapitel ihrer Arbeit, gründete den New Music Distribution Service sowie das Label WATT Records, weitere Versuche von Musikern, ihre Musik auch rechtlich unter Kontrolle zu behalten.
1974 begann Bley mit eigenen, unterschiedlich besetzten Bigbandbesetzungen, und Beal untersucht die Einflüsse auf ihre Arbeit in diesen Jahren, Mingus, Haden, die christliche Tradition ihres Elternhauses, aber vor allem auch all die Musiker, mit denen sie in ihrer Karriere zusammenspielte und deren musikalische Sprache sie immer gern aufnahm. Beal geht auch auf Bleys „Fancy Chamber Music“ ein, Musik also für kleinere Besetzungen einschließlich der engeren Zusammenarbeit mit Steve Swallow, seit langem ihrem musikalischen, daneben aber seit etlichen Jahren auch ihrem Lebenspartner.
Beals Buch ist eine Biographie, die der Persönlichkeit Carla Bley kaum wirklich zu Leibe rückt, zugleich eine Annäherung an die Musik, die ohne analytischen Fokus auskommt. Der Autorin gelingt es, die verschiedenen Einflüsse auf Bleys Werk zu erklären und zugleich ihr musikalisches Vokabular zu fassen. Sie liefert damit eine hervorragende Grundlage für weiterführende Studien – und auf eine Autobiographie der Pianistin und Komponistin würden sich nicht nur ihre Fans freuen.
Wolfram Knauer (August 2014)
Jazz Photography. A Bibliography Spanning 75 Years von Jan J. Mulder Almere/NL 2011 (Names & Numbers) 131 Seiten, 14 Euro (inclusive Porto in Europa) ISBN: 978-90-77260-18-0 Bezugsquelle: Names & Numbers, gehojazz@planet.nl Names & Numbers ist ein kleiner holländischer Verlag, der sich vor allem auf Diskographien spezialisiert hat. Der Sammler und Jazzhistoriker Jan J. Mulder hat sich mit seinem Buch über „Jazz Photography“ einem Thema zugewandt, das mit dem Jazz fast genauso eng verbunden ist wie das der Tonaufzeichnung. Er beschreibt das Phänomen von Foto-Büchern, wie sie seit 1936 die Jazzgeschichte begleiten und dokumentieren. Jazz als lebendige Bühnenkunst bietet sich für Fotobände geradezu an, und jede Menge erstklassiger Fotokünstler, allen voran William Claxton, William Gottlieb oder Herman Leonard, haben durch ihre Sicht auf die Musik selbst Jazzgeschichte geschrieben. Mulders Auflistung ist eine Art kommentierte Bibliographie. Er geht chronologisch vor vom ersten „Foto-Album“ mit 63 Bildern, 1936 herausgegeben von der holländischen Zeitschrift De Jazzwereld bis z Herb Snitzers „Glorious Days and Nights. A Jazz Memoir“ von 2011. Jeder Eintrag enthält Informationen über Umfang, Material, Größe, Anzahl der enthaltenen Bilder, aber auch Beispiele der abgelichteten Künstler. Daneben nennt Mulder Wiederveröffentlichungen oder Veröffentlichungen in anderen Sprachen. Neben Büchern finden sich auch vereinzelte Postkartenserien; neben reinen Fotobüchern auch Bücher, in denen Fotos wenigstens eine größere Rolle spielen. Mulders Buch ist damit sicher vor allem ein Nachschlagewerk für Fotobuchsammler (ja, solche gibt es), daneben aber auch ein überaus hilfreicher nüchterner Überblick über ein über die Jahre immer stärker angewachsenes Verlags-Oeuvre. Wolfram Knauer (November 2013)
Joe Zawinuls Erdzeit. Interviews für ein Portrait von Robert Neumüller Weitra 2011 (Bibliothek der Provinz) 152 Seiten, 22 Euro ISBN: 978-3-85252945-5 Im Mai 2006 begann Robert Neumüller mit den Dreharbeiten für einen Dokumentarfilm über den Pianisten, Keyboarder und Komponisten Joe Zawinul, einen der wenigen Europäer, die im Mutterland des Jazz Karriere machten. Der Film sollte ein Geschenk zu Zawinuls 75sten Geburtstag werden, aber im September 2007 verstarb der österreichische Nationalheld des Jazz. Und so wurde „Joe Zawinuls Erdzeit“ ein filmischer Nachruf auf einen der bedeutenden Musiker des Jazz, einen der Miterfinder der Fusion, einen kreativen genauso wie kritischen Geist. Für die Dokumentation hatte Neumüller etliches an Interviewmaterial gesammelt, und nach Schnitt und Fertigstellung des Films fand er, dass dieses Material auch deshalb eine zusätzliche Verwertung erhalten sollte, weil er im Film nur Ausschnitte daraus hatte verwenden können. Im Buch lesen wir nun die Gespräche mit Zawinul. Es geht um aktuelle Projekte, biographische Stationen, um Österreich und Amerika, um seine Familie, um Friedrich Gulda, Miroslav Vitous, Miles Davis, Wayne Shorter, und die anderen Musiker von Weather Report. Es geht um Rhythmik, HipHop und Sport, um Mozart und Bach, um Improvisation, Konservatorien und vieles mehr. Zwischendrin finden sich aber auch Interviewausschnitte mit seiner (kurz vor ihm verstorbenen) Frau Maxine sowie mit seinen Söhnen und mit Wayne Shorter. Das alles ist nicht chronologisch, sondern so geordnet, wie es entstand, thematisch also. Es liest sich wie ein Film mit immer neuen Schnitten, Szenen, Themen. Am Ende meint man Joe Zawinul tatsächlich ein wenig näher zu kennen, den Menschen genauso wie den Musiker, sein Weltverständnis und sein Verständnis von Musik. Die Fotos zeigen ihn bei der Arbeit, aber auch in Drehsituationen für den Dokumentarfilm. Und so bietet das Buch am Ende sowohl ein interessantes „The Making of“ wie auch eine überaus empfehlenswerte und sehr eigenständige Lektüre. Wolfram Knauer (September 2013)
Arbeitsfeld Schule und Musikschule. Zur künstlerischen Ausbildung von Musikpädagogen. Ein integratives Konzept von Hans-Joachim Heßler Duisburg 2011 (United Directions of Music) 163 Seiten, 18,90 Euro ISBN: 978-3-942677-2-8 Ausgehend von der Feststellung, dass die Studieninhalte für Musikpädagogen für den Bereich der Schule wie auch der Musikschule dringend reformbedürftig sei, entwickelt Hans-Joachim Heßler in seinem Buch ein, wie er es nennt „integratives Konzept“ einer solchen künstlerischen Ausbildung. Er identifiziert Musikpraxis als einen wichtigen allgemein-pädagogischen Ansatz in den Richtlinien für allgemeinbildende Schule und wiederholt Hans Günther Bastians gern zitierte Studie, nach der Musikpraxis bei Schülerinnen und Schülern die soziale Kompetenz besonders fördere. Rock und Pop hätten zwar seit Jahren ihren Platz im Musikunterricht gefunden, doch würde hier nach wie vor am „Traditionsprinzip“ festgehalten, das vor allem die europäische Kunstmusiktradition festschreibe, andere musikalische Ansätze dagegen vernachlässige. Heßlers „integratives Konzept“ will dem Traditionsprinzip eine zweite Säule beistellen, jene nämlich des Jazz, den er als „Weltmusik in einem umfassenden Sinne“ begreift und als Basis der meisten populären Musikformen. Der Jazz sei von allen nicht-traditionellen Ansätzen am weitesten wissenschaftlich erfasst worden und überhaupt erfassbar, meint Heßler (zitiert in diesem Kapitel allerdings nur Nicht-Wissenschaftler); außerdem sei seine Didaktik – und hier bezieht er sich vor allem auf Deutschland – weitgehend ausgefeilt (als Beispiele verweist er allerdings ausgerechnet auf Aebersold-Kassetten). Er identifiziert als Jazzformen, die er für den unterricht für besonders geeignet halte: „a) Free-Jazz, b) Funk-, Rock und Pop-Jazz, c) Latin- und Ethno-Jazz und d) No-Wave“. Man mag über diese Begriffszuordnung streiten: So bezeichnet „No Wave“ üblicherweise eigentlich eher jazz-fremde Musikrichtungen, das, was Heßler allerdings meint, ist irgendwo zwischen jener eklektizistischen, post-modern angehauchten Beliebigkeit der 1980er Jahre und John Zorns New Yorker Downtown-Szene angesiedelt, die vielleicht ganz zu Recht eines eigenen Namens zumindest in der Jazzwelt entbehrte. Dann zitiert der Autor als Begründung dafür, den Jazz als „Überbau“ zu verstehen, Joachim Ernst Berendt: Rock sei nicht zu denken ohne Jazz, Jazz dagegen durchaus ohne Rock. Improvisation habe weithin anerkannte positive Lehr- und Lerneffekte und sei bekanntermaßen Grundmedium des Jazz. Improvisationsunterricht dürfte daher in keiner musikpädagogischen Ausbildung fehlen. In einem eigenen Kapitel fordert Heßler die Zusammenarbeit von Schule und Musikunterricht, durch die insbesondere das Heranführen ans Instrument, ans praktische Musikmachen gefördert werden könne. Er beschreibt die Anforderungen an die Lehrenden in verschiedenen Instrumentengattungen und fordert in seinem Schlusskapitel eine offenere und breitere Ausbildung von Musikpädagogen, ihre Befähigung insbesondere im Bereich auch der Neuen Musik und des Jazz, die ihnen ermöglichten, sich besonders offen auf andere stilistische Formen einzustellen, diverse Arten ethnischer Musikern etwa, Rock, Pop etc. Alles in allem formuliert Heßler ein aus seiner eigenen Praxis heraus verstandenes Konzept, das den Jazz als eine weitere Säule in der Ausbildung von Musikpädagogen festschreiben möchte. Man mag dieser Forderung folgen oder nicht; Heßlers Ausführungen bieten dann für beide Seiten das eine oder andere Argument. Wolfram Knauer (April 2013)
Autobiographie du Jazz von Jacques Réda Paris 2011 (Climats) 360 Seiten, 23 Euro ISBN: 978-2-0812-4880-9 Jacques Réda präsentiert seine eigene Autobiographien des Jazz, ein Buch mit Darstellungen aller ihm besonders wichtig erscheinenden Musiker von den Anfangstagen bis fast in die Gegenwart und kurzen subjektiven Würdigungen. Dabei gibt es wenig Neues zu entdecken, Réda immerhin ist lange genug im Journalismus tätig, um die Einschätzung seiner Lieblinge interessant zu gestalten, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden und in den kurzen Abrissen eine Art musikalische Einordnung der Künstler vorzunehmen, ohne ins biographische oder diskographische Detail gehen zu müssen. Für den Kenner der Materie gibt es dabei wenig Neues zu entdecken, für den Neuling eignet sich das Buch als Nachschlagewerk oder knappe Einführung. Wie meist bei solch fast schon lexikalisch angelegten Büchern ist über die Auswahl der dokumentierten Künstler trefflich zu streiten, und auch die Länge der Artikel lässt mehr Aufschluss auf Rédas Geschmack als über die Bedeutung der Musiker zu. Wolfram Knauer (April 2013)
Tombeau de John Coltrane von Xavier Daverat Marseille 2011 (Parenthèses) 439 Seiten, 19 Euro ISBN: 978-2-86364-654-0 Das „Grabmal“ des John Coltrane, das Xavier Daverat in seinem Buch über den Saxophonisten aufstellt, ist weniger eine biographische Darstellung als vielmehr eine Annäherung an Coltrane als Künstler, dessen Stil auf der musikalischen Sprache des Bebop aufbaute, sie weiterentwickelte und in den Innovationen, die er mitentwickelte, selbst zu einem der einflussreichsten Musiker des Jazz machte. Im ersten Kapitel schreibt Daverat über Coltrane als jungen Parker-Schüler und die Anfänge der Ausbildung eines eigenen Stils. Im zweiten Kapitel beschreibt er den Einfluss, vor allem aber auch die Unterschiede zu Sonny Rollins. Kapitel 3 widmet sich Tranes Zeit bei Miles Davis, verortet den Saxophonisten dann in der Moderne des Jazz zwischen Monk und den jungen Free Jazzern. In weiteren Kapiteln untersucht Daverat das klassische Quartett des Meisters, geht auf dessen freie Phase ein und widmet sich dem spirituellen Spätwerk. Weitere Kapitel beschäftigen sich mit Tranes ästhetischer Haltung sowie der Position des Saxophonisten zur und in der Entwicklung der Avantgarde im Jazz der 1960er Jahre. Ein umfangreicher zweiter Teil des Buchs dann betrachtet (meist) nachfolgende Saxophonisten, alphabetisch geordnet von A wie George Adams bis Z wie Michael Zilber, und fragt nach dem Einfluss Coltranes auf deren Stilistik. Eine Diskographie Coltranes und ein Personenindex schließen das Buch ab. Daverats Buch ist vom Ansatz her eher ein Beitrag zu einem bereits geführten Coltrane-Diskurs in der Jazzforschung und weniger eine biographische Würdigung oder gar eine musikalische Hinleitung zur Musik des Saxophonisten. Insbesondere die zweite Hälfte des Buchs, in der sich der Autor auf die Suche nach „Coltranismen“ im Stil anderer Saxophonisten macht, ist dabei eine hilfreiche Ergänzung zu einem bislang unzureichend bearbeiteten Teil der Coltrane-Forschung: seinem Einfluss nämlich auf andere Musiker, der sich entweder im klanglichen Andeuten oder aber auch in deutlicher Abgrenzung zum Vorbild äußert. Wolfram Knauer (März 2013)
West Meets East. Musik im interkulturellen Dialog herausgegeben von Alenka Barber-Kersovan & Harald Huber & Alfred Smudits Frankfurt 2011 (Peter Lang) 258 Seiten, 46,80 Euro ISBN: 978-3-631-61262-0 „East Meets West“ hieß eine Tagung, die vom Institut für Popularmusik, vom Institut für Musiksoziologie, vom Arbeitskreis Studium Populärer Musik und vom Österreichischen Musikrat 2008 an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien durchgeführt wurde. Der vorliegende Sammelband enthält die Referate, elf an der Zahl, die sich verschiedenen Aspekten interkultureller Einflüsse nähern. Da gibt es generellere und speziellere Ansätze, wird über den „interkulturellen Dialog durch elektronische Musik“ oder über den Einfluss östlicher Popmusik auf den Westen geschrieben, über „experimentellen Sound aus Beirut“, Tendenzen chinesischer Musik und andere Themen. Jazz kommt auch dabei vor, vor allem in zwei Beiträgen. Ekkehard Jost schaut auf „Tendenzen zum interkulturellen Mono- und Dialog im französischen Jazz der Gegenwart“ und betrachtet dabei vor allem Beispiele von Michel Portal, Bernard Lubat und Uzeste Musical. Und Andreas Felber untersucht die manchmal fast biographisch anmutende, dann wieder vor allem strukturelle Integration von Jazz und indischen Musiktraditionen bei New Yorker Musikern und analysiert dabei Stücke von Sunny Jain, Rez Abbasi und Vijay Iyer. Alles in allem: ein Tagungsband mit sehr unterschiedlichen Beiträgen, inhaltlich genauso wie vom Ansatz her oder der analytischen Tiefenschärfe. Wolfram Knauer (März 2013)
David Baker. A Legacy in Music von Monika Herzig Bloomington 2011 (Indiana University Press) 422 Seiten, 29,95 US-Dollar ISBN: 978-0-253-35657-4 David Baker hat mehrere Karrieren gemeistert: als Posaunist, Cellist, Komponist und Pädagoge. Monika Herzig, in Deutschland geborene Pianistin und Musikwissenschaftlerin, die seit 1991 in Bloomington, Indiana, der langjährigen Wirkungsstätte Bakers, lebt, nähert sich in ihrem Buch Bakers Biographie genauso an wie seiner Musik. Der biographische Teil beginnt 1931 mit Bakers Geburt in Indianapolis. Dort ging Baker zur Crispus Attacks High School, die einen Musikschwerpunkt besaß und durch die auch andere namhafte Musiker gegangen waren, unter ihnen etwa J.J. Johnson der dort 1941 seinen Abschluss gemacht hatte, der den jungen Kollegen in Indianapolis, also auch David Baker oder dem jungen Slide Hampton als Role Model diente. In den 1950er Jahren begann Bakers professionelle Karriere als Posaunist, der unter anderem mit Wes Montgomery spielte und 1959 ein Stipendium für die Lenox School of Jazz erhielt. Hier lernte er etliche Musiker kennen, mit denen er auch später noch zusammenarbeiten sollte, unter ihnen etwa George Russell, der Bakers Komposition „Kentucky Oysters“ 1960 auf seinem „Stratusphunk“-Album aufnahm. 1960 saß Baker zudem in der Bigband, mit der Quincy Jones durch Europa tourte. Ein Autounfall zwang Baker 1964 dazu, die Posaune aufzugeben; nach dem Ausprobieren mehrerer Instrumente entschied er sich stattdessen Cello zu spielen. Zugleich schrieb er noch mehr und begann Ende der 1960er Jahre seine Karriere als Jazzpädagoge an der Jazzabteilung der Indiana University, deren Leiter er bald wurde. Herzig beschreibt Bakers pädagogische Konzepte in Bezug auf Gehörbildung, Improvisation, das Lernen eines Repertoires, Jazzgeschichte, Arrangement, Ensembleleitung oder seine Beteiligung an Publikations- und Workshopprojekten Jamey Aebersolds. Ein eigenes Kapitel widmet sie dem Bandkonzept seiner „21st Century Bebop Band“; darin auch untersucht Brent Wallarab Bakers kompositorischen Umgang mit dem Blues. David Ward-Steinman analysiert den Komponisten Baker und beschreibt seine Klaviersolo-, Kammermusik-, Chor- sowie Orchesterkompositionen. John Edward Hasse würdigt Bakers Zusammenarbeit mit den pädagogischen Programmen des Smithsoninan National Museum of American History und seinem Jazz Masterworks Orchestra. Willard Jenkins erläutert das soziale Bewusstsein Bakers, sein Engagement fürs National Endowment for the Arts, den National Council on the Arts, die National Jazz Service Organization und die International Association for Jazz Education. In einer Coda sammelt Herzig Aussagen verschiedener Musiker über ihren Kollegen, den Musiker und Pädagogen David Baker. Ein Anhang enthält zudem ein Werkverzeichnis seiner Kompositionen, weitere Anhänge außerdem eine Liste der Ehrungen und Preise, eine Auflistung der Ensembles in denen er mitwirkte sowie seiner Lehraufträge. Eine Auflistung eigener Veröffentlichungen und eine Diskographie wird schließlich von einer allgemeinen Bibliographie über Baker gefolgt Alles in allem bietet „David Baker. A Legacy in Music“ einen hervorragenden Einblick in Bakers vielfältige Arbeit. Es ist keine Biographie im üblichen Sinn, sondern ein Buch, das verschiedene Ansätze miteinander verbindet, damit aber vielleicht besonders passend das Wirken dieses Musikers und Pädagogen würdigt. Wolfram Knauer (März 2013)
Plattensüchtig. Expeditionen in eine andere Welt. 7 Schallplattensammler im Interview von Jürgen Schmich Frankfurt/Main 2011 (Eigenverlag) 168 Seiten, 22 Euro ISBN: 978-3-00-036732-8 Zu bestellen über www.plattensuechtig.de Neben Briefmarken sind im 20sten Jahrhundert wohl Schallplatten zum begehrtesten Sammelobjekt geworden. Die Intensität des Sammelns aber besitzt eine große Spannbreite. Der eine sammelt, weil er jede Platte mit Erinnerungen verbindet; der andere durchaus auch im Bewusstsein des pekuniären Wertes der von ihm angehäuften Objekte. Während ersterer wahrscheinlich gern in seine Sammlung hineinhorcht, wird letzterer durchaus schon mal darauf achten, einige der wertvollsten Stücke „mint“, also ungespielt zu belassen, damit sie ihren Wert nicht einbüßen. Jürgen Schmich ist in sieben Gesprächen mit Sammlern ihrer Leidenschaft auf die Spur gekommen. Im Vorwort beschreibt er die verschiedenen Facetten des Sammelns, die Formatänderungen auf dem Tonträgermarkt, den Wandel im Sammelverhalten zwischen Plattenladen, Plattenbörse und eBay. Der einzige Jazzsammler des Buchs, Andreas Schmauder, machte irgendwann sein Hobby zum Beruf und eröffnete ein Schellackplattenantiquariat. Sein Sammlungsschwerpunkt liegt auf europäischem Jazz vor 1935. Er erzählt über seinen Weg zum Sammler, über Plattenspieler und Grammophone, darüber, wie es dazu kam, dass kein geringerer als Robert Crumb das Logo seines Ladens zeichnete, über seinen Vollständigkeitsanspruch, den Umgang mit den Platten, über Reinigung, Erfassung, Ordnung im Regal und überhaupt die Besessenheit hinterm Sammeln. 35.000 bis 40.000 Schellackplatten besäße er privat, seine wertvollste sei „Sweet Georgia Brown“ von Kai Julian, die rarsten seien acht Testpressungen von Sam Wooding. Peter Bastine sammelt Picture Discs, also Platten, die ausnahmsweise nicht schwarz, sondern mit Bildern geschmückt sind. Daneben sammelt er auch abspielbare Postkarten. Auch er berichtet über die Quellen und über den Unterschied zwischen Sammler- und Marktwert seiner Schätze. Heinz-Günther Hartig sammelt Rock ’n‘ Roll, insbesondere Buddy Holly, aber auch Elvis. Er lässt auch andere an seine Plattensammlung unter der Voraussetzung, dass sie sie dort wieder einstellen, wo sie sie herausgenommen haben. Der im sächsischen Glauchau lebende Edmund Thielow sammelt vor allem Beatles-Platten. Er erzählt von den Problemen, in der DDR an West-Produktionen zu kommen, vom Versuch, sein Archiv öffentlich zu machen und von einer von ihm selbst gepressten John-Lennon-Gedenkplatte, auf der absolut nichts zu hören war. Der Zürcher Felix Aeppli sammelt die Rolling Stones und veröffentlichte Mitte der 1980er Jahre einen Werkkatalog der Band, der inzwischen im Internet nachschlagbar ist. Hans-Jürgen Finger sammelt deutsche Schlager, Chris Wallner Soul, Funk, House und Techno. Am Ende eines jeden Gesprächs legt Schmich seinen Gesprächspartnern den jeweils selben Fragebogen vor: Wie viele Platten haben Sie zurzeit? Die erste selbst gekaufte Platte? Lieblingsplatte? Die wertvollste? Die rarste? Die originellste? Die peinlichste? usw. Ansonsten lässt er die Sammler erzählen, fragt behutsam nach und nimmt sie dabei in ihrer Leidenschaft ernst, von der sie selbst wissen, dass sie eine nicht jedem vermittelbare Marotte ist, eine Sucht, wie der Buchtitel dies suggeriert. Nicht nur Sammler werden sich in den Gesprächen dieses lesenswerten Buchs wieder finden. Wolfram Knauer (März 2013)
Mr. Trumpet. The Trials, Tribualtions, and Triumph of Bunny Berigan von Michael P. Zirpolo Lanham/MD 2011 (Scarecrow Press) 551 Seiten, 59,95 US-Dollar ISBN: 978-0-8108-8152-5 Bunny Berigan gehört zu jenen Jazzmusikern, deren Legende durch ihr Spiel genauso begründet scheint wie durch ihr tragisches Ende – Berigan starb 1942 mit nur 33 Jahren an den Folgen seines Alkoholismus. Michael P. Zirpolo, Jazzfan und Rechtsanwalt aus Ohio, hat nun ein Buch geschrieben, das in der Sorgfalt seiner Recherche durchaus als definitive Bunny-Berigan-Biographie gelten darf. Zirpolo verfolgt dabei nicht nur die Stationen im Leben und Wirken des Trompeters von seiner Geburt und seiner Jugend in Wisconsin bis zu seinem Tod, sondern er hinterfragt auch die Arbeitsbedingungen – konkret mit Bezug auf Berigan, aber seine Recherche hilft daneben, die Jazzszene der 1930er Jahre ganz allgemein besser zu verstehen. Ende der 1920er Jahre ging Berigan von Wisconsin nach New York, spielte 1930 mit Hal Kemp und wurde 1931 ins CBS Studioorchester engagiert. Er machte sich einen Namen auf der mit Trompetern nicht gerade armen Jazzszene New Yorks und spielte bereits 1931 seine ersten Platten mit Benny Goodman ein. Mit 24 Jahren wurde er 1932 Mitglied des Paul Whiteman Orchesters und saß 1934 als zweiter Trompeter in der Benny Goodman Bigband. Nebenbei spielte er Mitte der 1930er Jahre in vielen der kleineren Clubs Manhattans und nahm auch unter eigenem Namen auf, 1936 etwa zum ersten Mal „I Can’t Get Started“, das aber erst in einer anderen Version aus dem nächsten Jahr ein nationaler Hit werden sollte. Berigan arbeitete immer wieder mit der Sängerin Lee Wiley, wurde aber auch als Solist so gefeiert , dass er Anfang 1937 den Schritt wagte, eine eigene Bigband aufzubauen. Zugleich allerdings wurde sein Alkoholproblem immer deutlicher und selbst in der Musikpresse diskutiert. Zirpolo beschreibt in diesen Kapiteln die Zwänge eines Bandleaders der Swingära, Konkurrenzdruck, gedrängte Tourpläne mit mehr One-Nighters als Wochen-Engagements, benennt die Einkünfte und stellt diesen die Kosten gegenüber, die ein Bandleader wie Berigan als Geschäftsführer seiner „Firma“ hatte. Er erzählt den Werdegang der Berigan Bigband genauso wie er die Auswirkungen des Alkohols auf Berigans Bühnenverhalten beschreibt, nennt Aufnahmesessions und zitiert aus Erinnerungen von Musikern, mit denen Berigan zusammenarbeitete. 1940 gab der Trompeter sein Orchester kurzzeitig auf und wurde Mitglied des Tommy Dorsey Orchestra, tourte im Herbst desselben Jahres aber bereits wieder mit eigener Band. Zeitweise konnte er seine Musiker nicht pünktlich bezahlen und bekam darüber öffentlich verhandelte Probleme mit der mächtigen Musikergewerkschaft. Daneben aber ging es auch gesundheitlich bergab, und im Juni 1942 erlag er inneren Blutungen als Folge seines Alkoholabusus. „Die Legende beginnt“ überschreibt Zirpolo das dem Tod folgende Kapitel, das die kritische Aufarbeitung des frisch Verstorbenen untersucht und diese bis in die Gegenwart verfolgt. Zirpolo bezieht sich für sein Buch ausführlich auf eine Sammlung zu Berigans Leben und Schaffen, die ein anderer Sammler und Privatforscher, nämlich Cedric Kinsley White, zusammengetragen hatte. Diese enthält viele zeitgenössische Presseberichte und macht Zirpolos Buch damit zu einer Biographie voller Verweise. Manchmal gerät das dann schon etwas zu präzise und für den Laien damit schwer lesbar, ist auf der anderen Seite aber genau deshalb eine exzellente Grundlage für jede weitere Auseinandersetzung mit Bunny Berigan. Die Musik selbst hat der Autor dabei allerdings doch etwas stark ausgeklammert: Musikalische Beschreibungen oder gar Wertungen finden sich höchstens in Zitaten anderer Autoren. Statt einer Diskographie verzeichnen Anhänge Berigans Airchecks und Radio Transcriptions; außerdem schließt ein sorgfältiges Register das Buch ab. Wolfram Knauer (März 2013)
Fela Kuti. This Bitch of a Life von Carlos Moore Berlin 2011 (Tolkemitt Verlag; nur erhältlich über Zweitausendeins, www.zweitausendeins.de) 384 Seiten, 19,90 Euro ISBN: 978-3-942048-42-2 Fela Antikulapo Kuti war der Star des Afrobeat, einer der einflussreichsten Musiker Afrikas im 20sten Jahrhundert. Auf dem von Aids gebeutelten Kontinent wandte er sich gegen Geburtenkontrolle, doch sein Tod an den Folgen seiner eigenen Aids-Erkrankung sensibilisierte letzten Endes viele Afrikaner für die Notwendigkeit eines effektiven Schutzes vor dieser Krankheit. Carlos Moore genoss das Vertrauen des Saxophonisten und Komponisten, als er in den frühen 1980er Jahren mit Fela an dem Manuskript arbeitete, das erstmals 1982 als authorisierte Biographie in englischer Sprache erschien. Nun hat er das Buch bis zum Tode Kutis fortgeschrieben und den autobiographischen und Fragen/Antwortteilen des Buchs ein kluges Nachwort beigegeben. Es ist immer noch lesenswert, wie Fela, der Star Afrikas über Politik, Frauen, afrikanische und afro-amerikanische Kultur reflektiert, wie sich Freunde vor allem Freundinnen und etliche seiner Ehefrauen (Fela lebte polygam und heiratete an einem Tag 27 Frauen) ausgesprochen offen zu ihm äußern. Es ist ein Buch über Kunst, Tradition, Macht und Liebe, über Selbstbewusstsein und die Kraft der Musik. Moores Buch erlaubt einen Einblick in die Weltsicht dieses Mannes, offen, ungeschönt, ein wenig Miles-Davis-esk sozusagen, auch nach dreißig Jahren ungemein lesenswert. Wolfram Knauer (Dezember 2012)
Bonanza. Insights and Wisdom from Professional Jazz Trombonists von Julie Gendrich Rottenburg 2011 (advance music) 563 Seiten, 31,95 Euro ISBN: 978-3-89221-113-6 Julie Gendrich wollte eigentlich ein paar Interviews mit Posaunisten führen, die in der Woody Herman Band gespielt hatten, und damit dem Beispiel des Autors Kurt Dietrich folgen, der 1995 im selben Verlag ein Buch über Duke Ellingtons Posaunisten veröffentlicht hatte. Als sie herausfand, dass Herman allein seit 1965 mehr als 100 Posaunisten in der Band hatte, entschied sie sich um und befragte stattdessen 40 Jazzposaunisten eigener Wahl, einige bekannter, andere eher in der zweiten Reihe. Ihre Fragen berühren biographische Details, Informationen über die spezifische Karriere, über Einflüsse und berufliche Erfahrungen, vor allem aber über instrumentalspezifische Dinge, Improvisation und vieles mehr. Die erste Frage des ersten Interviews im Buch ist ein gutes Beispiel für ihren Ansatz. Sie fragt Wayne Andre: „Ich versuche herauszufinden, wie professionelle Posaunisten zu improvisieren lernen, sowie, sofern sie ihren Schülern das Improvisieren beibringen, welche Übungen sie dafür benutzen.“ Aber Jazzmusiker wären nicht Jazzmusiker, wenn nicht auch ihre Antworten improvisatorisch abschweifen würden. Andre antwortet, man müsse viel hören, zuhören, transkribieren, kopieren, und dann seinen eigenen Stil finden. Dann erzählt er, wie er selbst zur Posaune gekommen sei, nennt Lehrer, erzählt über Gigs mit Charlie Spivak, Sauter-Finegan und Woody Herman. Er erklärt, wie wichtig ein gutes Wissen über harmonische Zusammenhänge für einen Posaunisten ist, und zählt einige seiner Lieblingsposaunisten auf (und erklärt warum). Auf ähnliche Art und Weise unterhält sich Julie Gendrich z.B. mit Hal Crook, John Fedchock, Conrad Herwig, Don Lusher, Earl McIntyre, John Mosca, Ed Neumeister, Jim Pugh, Bill Reichenbach, Steve Turre, Mel Wanzo, Chris Washburne, Bill Watrous, Jiggs Whigham oer Phil Wilson, die alle bereitwillig aus der Werkstatt berichten. So richtet sich das Buch vor allem an Posaunisten, denen es jede Menge wertvolle Tipps vermittelt, eine kleine verbale Masterclass quasi bei immerhin 40 erfahrenen Kollegen. Wolfram Knauer (Dezember 2012)
Tiny. The Life and Discography of Tiny Kahn von Malcolm Walker Brighton 2011 (Discographical Forum) 46 Seiten erhältlich durch: Discographical Forum, discoforum@yahoo.com Tiny Kahn umfasst gerade mal acht Jahre, von 1944 bis 1952, und doch erlangte der Schlagzeuger, dessen Name „Tiny“ umgekehrt proportional zu seiner tatsächlichen Körperfülle war und der 1953 im Alter von gerade mal 29 Jahren starb, geradezu Legendenstatus unter Musikern. Zum Leben des Tiny Kahn finden sich in Malcolm Walkers dünner Mobnographie nur rudimentäre Informationen. Immerhin beginnt seine Diskographie beginnt mit der Reproduktion eines legendären Interviews, dass Kahn 1950 dem Magazin Down Beat gab, und in dem er erklärt, was den modernen Schlagzeuger ausmache, der weit mehr sei als ein Zeitgeber, in dem er sich zugleich an seine Zeit in den unterschiedlichsten Bands erinnert, Milt Britton etwa, Henry Jerome, Georgie Auld, Boyd Raeburn, Anita O’Day, Chubby Jackson und anderen. Der Rest des Büchleins ist eine veritable Diskographie, listet vor allem die Aufnahmen und mischt die Angaben mit Interviewauszügen aus Büchern, Zeitschriften und persönlichen Recherchen des Autors. Der Übersichtlichkeit sortiert Walker dabei nach Tonträger-Formaten (also: 78 / EP / LP / CD, wobei man sich zwischenzeitlich vielleicht sogar fragen könnte, ob nicht auch Internet-Ressourcen mit einbezogen werden könnten. Das führt dann gleich zur nächsten Frage: inwieweit nämlich Diskographien heute noch als mehr oder weniger hektographierte Blätter veröffentlicht werden sollten oder nicht vielleicht doch gleich als frei im Netz zugängliche PDF- oder sonstige Dateien. Die Kosten, die solche Recherchen verursachen, bringt der Verkauf des selbstgebundenen Büchleins sicher eh nicht herein. Warum dann nicht einfach den Streukreis breiter aufstellen? (Ein Beispiel einer Web-Diskographie zu Tiny Kahn findet sich hier – und an ihr hat Malcolm Walker übrigens auch mitgearbeitet.) Von solchen grundsätzlichen Fragen abgesehen ist die diskographische Arbeit, die Autoren wie Malcolm Walker oder andere in ihrer diskographischen Forschung machen, enorm wichtig für die Jazzforschung. Walker ist ein Veteran unter den Diskographen, betreibt diese Arbeit bereits seit den späten 1950er Jahren. Für den nicht Eingeweihten mögen Diskographien wie die seine(n) wie Erbsenzählerei wirken, tatsächlich aber sind all diese Aufnahmeverzeichnisse, einschließlich Besetzungen, veröffentlichter und unveröffentlichter Takes, Daten und Orte, Original- und Wiederveröffentlichungs-Nummern die Grundlage für eine eingehendere Beschäftigung mit der Musik. Eine Biographie, wie der Titel des Büchleins erwarten lässt, sollte man allerdings nicht wirklich erwarten. Wolfram Knauer (August 2012)
Pop Song Piracy. Disobedient Music Distribution since 1929 von Barry Kernfeld Chicago 2011 (University of Chicago Press) 273 Seiten, 29 US-Dollar ISBN: 978-0-226-43183-3 Die Diskussion über Piraterie im Musikbereich scheint ein Kapitel aktuellster urheberrechtlicher Diskurse zu sein, ein Kapitel des Internetzeitalters. Tatsächlich aber ist die aktuelle Diskussion nur die zeitgemäße Ausprägung eines Themas, dass die Musikgeschichte des 20sten Jahrhunderts durchzieht, seitdem man von Popmusik sprechen kann, wie Barry Kernfeld in diesem Buch zeigt. Im April 1930, beginnt Kernfeld, habe die Polizei eine 80-jährige Frau vor Gericht gebracht, die beschuldigt wurde, urheberrechtlich geschützte Song-Hits vervielfältigt und für 5 Cents pro Exemplar verkauft zu haben. Der Verkauf illegal reproduzierter Songtexte, impliziert Kernfeld dabei, ist nur eine andere Facette dessen, was wir dieser Tage in Internet-Tauschbörsen sehen, die Verbreitung nämlich eigentlich urheberrechtlich geschützter Werke zu eigenem Nutzen, ob dieser nun kommerzieller oder nicht-kommerzieller Natur ist. Zwischen den beiden Extremen finden sich illegale Schallplattenpressungen, Fakebooks, Fotokopien von Notenmaterial, Piratenradios, illegal kopierte CDs, Bootleg-Konzertmitschnitte. Kernfeld erkennt wiederkehrende Faktoren in den jeweiligen Urheberrechtsbrüchen: Berühmte Musiker und mächtige Musikfirmen wollten alleinige Kontrolle über ihre Songs besitzen und andere daran hindern, diese zu verteilen, ohne dafür zu bezahlen. Andere wollten genau dies tun, sie also benutzen ohne zu zahlen und entwickeln Wege, die die Monopolisten nicht vorhersehen. Aus diesen widerstrebenden Interessen entwickelt sich ein Streit, der unterschiedliche Formen annimmt, aber meist im selben Ergebnis mündet: die Monopolisten müssen klein beigeben. Kernfeld untersucht die Praktiken, die irgendwo zwischen rechtlichem Ungehorsam und Kriminalität angesiedelt sind, für die unterschiedlichen Vertriebswege von Musik. Im ersten Teil beschäftigt er sich mit gedruckter Musik, beschreibt das nahezu perfekte Vertriebssystem der populären Musikindustrie der ausgehenden 1920er Jahre, nennt konkrete Fälle von Noten-Bootlegs und beschreibt die Reaktion der Industrie wie der Gesetzgebung darauf. Vor allem beschreibt er, wie die Musikindustrie irgendwann, als sie merkte, dass sie der Bootlegs nicht Herr wurde, eigene, legale Veröffentlichungen auf den Markt brachte, die den Bedarf der Bootlegs aufnahm und abdeckte. Ein Unterkapitel dieses ersten Teils widmet sich der Fake Books, denen Kernfeld bereits eine frühere Publikation gewidmet hatte. Er beschreibt, wie die ersten Popsong- dann die ersten Jazz-Fakebooks auf den Markt kamen, welchen Einfluss die Einführung des Fotokopierers hatte, wie die Rechtsprechung das Fotokopieren auch im musikpädagogischen Bereich beurteilte, wie es Ende der 1970er Jahre zu einer geradezu moralischen Kampagne gegen Urheberrechtsverletzungen im Musikbereich kam und wie sich trotz teilweise heftiger Verurteilungen das Problem bis heute gehalten habe. Ein zweiter Teil seines Buchs beschäftigt sich mit dem Thema der Radiopiraterie. Hier beschreibt Kernfeld die Piratensender, die sich in den späten 1950er Jahren in Skandinavien etablierten, er untersucht Rundfunkmonopole in verschiedenen Ländern und den Versuch, diese zu durchbrechen, aber auch die rechtliche Reaktion auf Piratensender. Teil Drei seines Buchs widmet sich der Piraterie im Bereich der Schallplatten und Tonaufzeichnung. Auch hier beschreibt Kernfeld die grundsätzliche rechtliche Lage und die unterschiedlichen Methoden der Plattenpiraterie seit den Mitt-1940er Jahren. Anfangs waren es illegale Plattenpressungen; später illegale Bandkopien, Bootleg-Platten, die als „nicht-authorisierte Neuveröffentlichungen“ verkauft wurden, illegale digitale Kopien von CDs, schließlich das Song-Sharing oder File-Sharing jüngster Zeit. Kernfelds Buch erzählt eine überaus spannende Geschichte, in der die Urheberrechtsverletzungen in eine Art Marktkontext gesetzt werden, um aus ihnen durchaus auch ein Instrument der Marktentwicklung abzuleiten – letzten Endes, so zeigt er, führte Musikpiraterie dazu, dass sich die in ihren Vertriebsmethoden träge Musikindustrie bewegen musste, um dem Bedarf der Musikhörer sowohl in ihren Vertriebswegen wie auch bei den Kosten entgegenzukommen. Vor allem zeigt Kernfeld, dass hinter all dem sich wiederholende Muster zeigen, so dass eigentlich niemand in der Musikindustrie sich beklagen dürfte, das hätte man ja nicht ahnen können. Augen und Ohren auf, ist letztlich sein Plädoyer, denn in der Musikpiraterie steckt in der Regel jeweils ein Hinweis auf innovative Produkte oder Vertriebswege, die die Industrie selbst fast verschlafen hätte. Wolfram Knauer (August 2012)
The Wandering Who? A Study of Jewish Identity Politics von Gilad Atzmon Winchester 2011 (zero books) 202 Seiten, 8,99 Britische Pfund ISBN: 978-1-84694-875-6 Gilad Atzmon ist alles, nur nicht maulfaul. Er ist bekannt dafür, seine Meinung zu sagen, keinem Streit aus dem Weg zu gehen. Er ist ein Mann des Wortes, ein glänzender Rhetoriker, den Widerspruch beflügelt, der es liebt, Argumente auszutauschen, seine Diskussionspartner auf logische Fehler in ihren Argumenten hinzuweisen. Er ist kein bequemer Mann. Ein wunderbarer Musiker übrigens, ein Saxophonist, der die musikalischen Lehren Charlie Parkers befolgt und sie mit den Erfahrungen jüdischer wie arabischer Musik seiner israelischen Heimat verbunden hat. Als Künstler aber sieht er sich eben nicht nur als stiller Musiker, sondern legt Wert auf seine Meinung, legt Wert auf seine Herkunft und darauf, sein Heimatland Israel auf seine politischen, ethischen und moralischen Grundsätze hin abzuklopfen und heftigst zu kritisieren. „The Wandering Who?“ ist kein Jazzbuch, sondern eine „Studie jüdischer Identitätspolitik“, wie Gilad Atzmon sein Buch im Untertitel nennt. Sein Vorwort ist dabei das autobiographischste aller Kapitel. Atzmon erzählt von seinem charismatischen ultra-zionistischen Großvater, vom ersten Jazz, den er im Radio hörte, Charlie Parker mit Strings, der ihn dazu brachte, sich ein Saxophon zuzulegen. Er erzählt davon, wie er sich dieser Musik näherte, wie er sie erlernte und wie die Musik für ihn wichtiger wurde als der Wehrdienst, den er während des israelisch-libanesichen Kriegs ausübte. Er beschreibt seine zunehmende Politisierung, die sich erst in Skepsis, dann in Ärger äußerte und schließlich dazu führte, dass er sein Land 1993 verließ, um in London Philosophie zu studieren. Innerhalb einer Woche ergatterte er im Irish Pub Black Lion einen Gig, der den Beginn seiner internationalen Musikkarriere markierte. Atzmon erzählt, wie er in seinen Mitt-Dreißigern die arabische Musik, die er bislang völlig ignoriert hatte, für sich entdeckte. Die komplexen melodischen Linien, die mikrotonalen Verschiebungen in der Musik, meisterte er allerdings erst, als er die Musik so anging, wie man gemeinhin den Jazz angeht: auf sein inneres Ohr horchend. Das war’s dann aber auch mit dem Jazz in diesem Buch. Außer im Vorwort liest man im Hauptteil nicht mehr vom Jazz. Atzmon thematisiert Judaismus, Semitismus, Antisemitismus, Zionismus, sinniert über Erfolg und Misserfolg der amerikanischen Nahostpolitik. Zwischendrin stolpert man etwas unsanft über seine Interpretation des Holocaust als (immerhin auch von ihm in Anführungsstrichen gesetzten) „zionistischen Sieg“, nämlich einer argumentativen Verifikation zionistischer Theorien. Hier wird Atzmon in all seiner Streitlust zum Stammtischphilosophen, der einerseits auf die Komplexität der Zusammenhänge verweist, um sie auf andererseits zugleich in Schwarz und Weiß aufzuteilen. Er schreibt über Glauben und Ideologie, über Identität und Authentizität, über das Verhältnis jüdischer Identität zu ihrer nicht-jüdischen Umgebung. Seine Wortspiele sind geschmacklich fragwürdig, etwa wenn er ein Kapitel über Israels Landanspruch die Überschrift „Swindler’s List“ gibt. Atzmon ist … nun, zumindest ein Verbalaktivist erster Güte. Mit seiner Liebe zur Polarisierung, die auch bei seinem Vortrag beim Darmstädter Jazzforum 2007 zu erleben war, ruft er zumindest bei denen oft genug Empörung hervor, die sich auf seine Art der Diskussion einlassen. Ob es tatsächlich „Mut“ ist, wie er sich auf dem Buchcover attestieren lässt, die Weltpolitik gleichzeitig als komplexes Gebilde und als einfache Gleichung zu interpretieren, soll anderen überlassen bleiben. Atzmons grundsätzliche Überlegungen zur Identität sind insbesondere da interessant, wo sie auch seine musikalische Identität betreffen oder erklären helfen. Hierzu hatte er in seinem Darmstädter Vortrag, abgedruckt in den Darmstädter Beiträgen zur Jazzforschung mit dem Titel „Begegnungen. The World Meets Jazz“ allerdings erheblich mehr gesagt. Aber „The Wandering Who?“ ist auch kein Jazzbuch, sondern eine bewusst polemische Stellungnahme zu allgemeinen weltpolitischen Fragen. Wolfram Knauer (August 2012)
Creative License. The Law and Culture of Digital Sampling von Kembrew McLeod & Peter DiCola Durham 2011 (Duke University Press) 326 Seiten, 15,99 US-Dolalr ISBN: 978-0-8223-4875-7 Wenn man es mit dem Geld, auch dem anderer Leute, nicht ganz so genau nimmt, nennt man das im Englischen schon mal euphemistisch „creative banking“. Das Buch „Creative License“ spielt zumindest auf die Problematik zwischen kreativer Freiheit und urheberrechtlichem Schutz an, der durch Samplingprojekte der letzten 20 Jahre immer wieder in den Mittelpunkt der Diskussion gestellt wird. Kembrew McLeod und Peter DiCola beginnen ihr Buch mit dem Beispiel der Band Girl Talk und ihres Albums „Feed the Animals“ von 2008, für das Remixer Gregg Gillis sich über dreihundert Schnipsel aus der auf Tonträger aufgenommenen Musikgeschichte bediente. Jeder einzelne Schnipsel sei so kurz gewesen, dass er selbst das als Zitat unter Bedingungen der Fair-Use-Regeln angesehen habe. Wie also funktioniert Sampling? Welche Kontroversen kann es auslösen? Lassen sich Samples selbst urheberrechtlich schützen? Schränkt das Copyright die künstlerische Freiheit ein? All dies sind Fragen, mit denen sich McLeod und DiCola ausführlich beschäftigen. Ihr erstes Kapitel nähert sich dem „golden age of sampling“, den 1980er Jahren also, in denen Bands wie die Beastie Boys oder Public Enemy für ihre Sampling-Hits bewundert wurden. Als Ende der 1980er Jahre HipHop zu einem großen Geschäft wurde, wurde die Technik des Sampling erstmals ethisch in Frage gestellt. Im zweiten Kapitel blättern die Autoren eine rechtliche wie kulturelle Geschichte der Soundcollage auf und berücksichtigen dabei nicht nur die Popmusik, sondern auch die Avantgarde, also Komponisten wie John Cage, Pierre Schaeffer oder Karlheinz Stockhausen. Schon Brahms hätte sich bei Beethoven bedient, führen sie die Idee des musikalischen Zitats in die Diskussion ein, und Stravinski habe Anleihen bei traditioneller Volksmusik gemacht. Jazz, Blues und HipHop seien kulturelle Praktiken gewesen, die Einflüsse aus allen möglichen Richtungen in sich aufnahmen. Sie beschreiben die Anfänge des digitalen Sampling, die Disco-Ära und die Mode des Remixes. Und sie gehen auf die neuen technologischen Möglichkeiten ein, die zuvor als selbstverständlich angesehene Kreativitätskonzepte in Frage stellten. „Pop Eats Itself“, fassen sie zusammen und kommen damit in Kapitel drei zu den einander widerstreitenden Interessen in der Lizensierung von Samples. Sie erklären die Rechtslage, fragen, wohin Urheberrechtshonorare fließen und geben einige konkrete Beispiele. Sampling, schreiben sie in einem Unterkapitel, rege durchaus auch den Dialog zwischen den musikalischen Generationen an. Das Thema außereuropäischer Musik wird genauso gestreift, hier am Beispiel von Brian Enos und David Byrnes Benutzung diverser „exotischer „Sängerinnen und Sänger. Die Autoren beschreiben Streitfälle und die Skepsis von Urhebern, ob es sich wohl lohnen würde zu klagen. Sie zitieren schließlich auch betroffene Musiker und geben deren Haltung wieder. Kapitel 4 widmet sich Gerichtsverfahren, die sich mit Samplingfällen auseinanderzusetzen hatten und den Auswirkungen von Urteilen auf die Samplingpraxis. Wie also soll man es richtig machen, welche Wege zum korrekten Umgang mit Samples gibt es, fragen die Autoren in Kapitel 5 und stellen sogenannte „sampling clerarance houses“ vor, erklären auch den Vorteil einer solchen rechtlichen Abklärung. Ihr sechstes Kapitel beschäftigt sich mit den Konsequenzen eines ordentlichen Sampling-Clearance-Verfahrens für den kreativen Prozess, zeigt Auswege auf, wenn eine Clearance nicht geklappt hat (Transformieren oder Verfremden) und nennt Zahlen: die nämlich der Kosten für eine regelgerechte Sampling Clearance. Im letzten Kapitel schließlich skizzieren McLeod und DiCola eine mögliche Reform der Rechtslage, die allen Seiten gerecht werden solle, den Autoren auf der einen Seite nicht ihre Rechte streitig machen, den kreativen Samplern auf der anderen Seite nicht ihre Kreativität beschneiden solle. Jazz spielt in „Creative License“ nur am Rande eine Rolle – bekannte Fälle aus dem Jazzbereich, etwa James Newton oder Herbie Hancock, werden nicht angeführt. Dennoch systematisiert das Buch eine allgegenwärtige musikalische Technik, die seit langem auch von Jazzmusikern oder von Musikern zwischen den Stilen genutzt wird. Das alles ist höchst anschaulich geschrieben und für denjenigen, der mit offenen Ohren etwas über Probleme aktueller Musik wissen will, eine überaus sinnvolle Lektüre. Wolfram Knauer (August 2012)
Brazilian Popular Music and Citizenship herausgegeben von Idelber Avelar & Christopher Dunn Durham 2011 (Duke University Press) 364 Seiten, 16,99 US-Dollar ISBN: 978-0-8223-4906-8 Brasiliens Musikgeschichte blickt auf ähnlich komplexe kulturelle Verbindungen zurück wie der Jazz. Europäische und afrikanische Einflüsse, politische und soziale Bedeutungen von Musik sind spannende musikwissenschaftliche Studienfelder, denen dieses Buch sich widmet. Es schlägt dabei den Bogen von der politischen Funktion des Samba in den 1930er Jahren über den Status der Música Popular Brasileira in den 1960er und 1970er Jahren, Rock in den 1980ern, die schwarze musikalische Identität in Salvador da Bahia, HipHop in São Paulo und Funk in Rio de Janeiro. Die meisten der Autoren sind Anthropologen, Soziologen, Literaturwissenschaftler, was den Gesamtansatz des Buchs prägt: Eine analytische Herangehensweise findet sich nur in wenigen Kapiteln. Das Grundthema des Buchs ist dabei der Anspruch auf Bürgerrechte, den sich die Menschen in Brasilien mithilfe der Musik einforderten. Schwarze und gemischte Brasilianer wurden dank der Musik erstmals in der öffentlichen Aufmerksamkeit sichtbar; Musik kodierte Hoffnungen und Ängste während der Militärdiktatur der 1960er und 1970er Jahre; Musik half bei der Rekonstruktion eines demokratischen, selbstbewussten Brasiliens. Wir erfahren vom brasilianischen Bildungssystem und Heitor Villa-Lobos’s Massenchören, von der Auseinandersetzung des Gitarristen und Sängers Tom Zé mit brasilianischer Bürgerschaft, von der sozialen Funktion des HipHop in den Straßen von São Paulo, von der Re-Afrikanisierung brasilianischer Kultur in Salvador da Bahia und vielem mehr. „Brazilian Popular Music and Citizenship“ will dabei keine umfassende Darstellung brasilianischer Musikkultur sein, sondern einen wissenschaftlich fundierten Einblick bieten in musikalische und gesellschaftliche Aspekte. Wolfram Knauer (August 2012)
Birds of Fire. Jazz, Rock, Funk, and the Creation of Fusion von Kevin Fellesz Durham 2011 (Duke University Press) 300 Seiten, 16,99 US-Dollar ISBN: 978-0-8223-5047-7 1969, beginnt Kevin Fellesz sein Buch, engagierte George Wein zum ersten mal Rockbands beim Newport Jazz Festival, um dadurch mehr junge Leute anzuziehen. Der Plan ging auf – zu gut allerdings, denn es kamen so viele Fans von Jethro Tull, Led Zeppelin, Sly and the Family Stone, dass die Tickets ausgingen und die Fans einfach die Zäune überrannten. Im Jahr darauf verpflichtete Wein mit den Allman Brothers eine zur Zeit der Buchung noch relativ unbekannte Band, die aber die Hitparaden rechtzeitig vor dem Festival stürmte und zu noch tumulthafteren Szenen führte. Die Stadtverwaltung von Newport war es leid und sagte das Festival 1971 daraufhin ab. Waren Rock und Jazz also zwei nicht nur in der Publikumserwartung, sondern auch in der Musik selbst so grundverschiedene Genres, dass sie beim besten Willen nicht zusammenzubringen waren? Die Musiker scherten sich nicht um stilistische Einordnungen und experimentierten einfach. Dabei stellten sie die Regeln ihres jeweiligen Genres durchaus in Frage und betonten ihre Unabhängigkeit von solchen Einengungen. Fusionmusiker passen weder ins Raster der Jazz- noch der Rockgeschichtsschreibung. Sie saßen zwischen den Stühlen. Im ersten Kapitel seines Buchs fragt Fellesz nach dem Begriff der Fusion selbst und nach den Konnotationen dieses Begriffs. Wofür also steht „Fusion“? Was wird hier miteinander verschmolzen? Welchen unterschiedlichen ästhetischen Regeln gehorchen die Elemente, die in diese Musikrichtung einfließen? Im zweiten Kapitel beschreibt er die Entwicklung der Fusionmusik in den 1970er Jahren und benennt die wichtigsten Bands und Musiker des Genres. Sein drittes Kapitel widmet sich den Beweggründen jener Musiker, die es in den späten 1960er Jahren als wichtig erachteten, eine solche Fusion zu generieren. In den vier nächsten Kapiteln beschäftigt sich Fellesz dann mit je einem konkreten Beispiel: Tony Williams in seinen Aufnahmen mit der Gruppe Lifetime, John McLaughlin zwischen Mahavishnu Orchestra und Shakti, Joni Mitchell sowie Herbie Hancock, um unterschiedliche musikalische wie ästhetische Ansätze aufzuzeigen sowie Nähe oder Entfernung vom Jazz zu bezeichnen. Fellesz benennt dabei Praktiken aus Jazz und Rock, diskutiert ihre ästhetischen wie rezeptionsspezifischen Implikationen, fragt nach Öffnungen, die weit über die direkt beteiligten Genres hinausgehen (also über Jazz und Rock eben auch weltmusikalische Einflüsse mit einbezogen) und diskutiert die Faszination, die einzelne Musiker aus der Rock- und Popmusiker zum Jazz hatten und die sie dazu bewogen, Jazzmusiker in ihre Projekte einzubeziehen. Am Beispiel Hancock geht er auch auf dessen umstrittene Verwendung von Pygmäenmusik und urheberrechtliche Aspekte in Bezug auf Fusionen mit ethnischer Musik ein. Im abschließenden Kapitel diskutiert er Hancocks „The Joni Letters“ und fragt dabei, welche Konsequenzen die Fusion der 1970er Jahre für die Entwicklung der heutigen populären Musik hat. Felleszs Buch analysiert die Fusion aus dem Blickwinkel des interdisziplinären Musikwissenschaftlers – das Buch geht auf seine 2004 fertig gestellte Doktorarbeit an der University of California zurück. Das macht es für den Laien stellenweise zu einer mühsamen Lektüre – etwa, wenn Fellesz einen Begriff wie „Genre“ diskutiert oder wenn er dann doch reichlich akademische Schattenkämpfe mit anderen Autoren ausficht. Liest man über diese dissertationsspezifischen Stilfragen hinweg, bleibt allerdings eine ausgewogene Annäherung an eine letzten Endes genau deshalb wichtige Periode der Jazzgeschichte, weil sie nicht nur auf das eigene Genre bezogen und auch deshalb außerhalb des Genres von Einfluss war. Wolfram Knauer (Juli 2012)
Jazz und Literatur in der DDR. Eine Untersuchung ausgewählter Beispiele von Michael Dörfel München 2011 (AVM) 118 Seiten, 34,90 Euro ISBN: 978-3-86924-013-8 Jazz- und Literaturprojekte hatten in den 1950er Jahren in Westdeutschland, bald aber auch in der DDR Konjunktur, vielleicht ja, wie der Rezensent ins einem Beitrag zum 11. Darmstädter Jazzforum mutmaßt, weil die Dichtung ein probater Ersatz für das war, was andernorts mit folkloristischen musikalischen Vokabeln versucht wurde: eine Aneignung des afro-amerikanischen Jazz durch Einbeziehung eigener kultureller Versatzstücke. Michael Dörfel stellt sich in seinem Buch die Frage, wie die Jazz-und-Literatur-Projekte in der DDR funktionierten. Konkret untersucht Dörfel im ersten Kapitel Jazz- und Lyrik-Projekten wie: „Negerlyrik – Negermusik“ von 1962, Übersetzungen und Nachdichtungen afrikanischer und afro-amerikanischer Texte von Janheinz Jahn und Stephan Hermlin mit Musik der Jazz-Optimisten; „Ströme. Negerlyrik aus zwei Kontinenten“ von 1984 mit Texten zwischen Senghor und Langston Hughes und Musik einer Studioband unter Leitung von Michael Fuchs; die LPs „Jazz und Lyrik“ / „Lyrik – Jazz – Prosa“ von 1964/1965 mit internationalen Texten zwischen Tucholsky und Biermann und Musik der Jazz-Optimisten; sowie Jens Gerlachs „Jazz. Gedichte“ von 1966/1968 mit Originalaufnahmen amerikanischer Jazz- und Blueskünstler. Dabei beschränkt er sich weitgehend auf eine Beschreibung der Texte und ihren Bezug zur verwandten Musik, ohne eine eingehende, den Kontext einbeziehende Analyse vorzunehmen. Ein weiteres Kapitel widmet sich solchen Romanen, die den Jazz zumindest als Teilthema nutzen. Hier fragt eine Annäherung danach, welche – insbesondere auch außermusikalische – Bedeutung dem Jazz in den Texten zugemessen wird. Untersuchungsobjekte sind Ulrich Plenzdorffs „Die neuen Leiden des jungen W.“ (1972), Günter Kunerts „Der andere Planet. Ansichten von Amerika“ (1974), Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand“ (1974/1998) sowie Fritz Rudolf Fries‘ „Der Weg nach Oobliadooh“ (1966). Zusammenfassend stellt Dörfel fest, dass Jazz in literarischer Verwendung meist einen oppositionellen Standpunkt signalisiert, eine individuelle, private Nische, Manifestation von Phantasie und Kreativität. Nichts grundlegend Neues also, und im Fokus auf die Literatur vielleicht ein etwas einseitiger Ansatz. Der Leser wird auf jeden Fall neugierig insbesondere auf die Jazz-und-Lyrik-Aufnahmen, die der Autor im Anhang auch diskographisch dokumentiert. Ebenfalls im Anhang: ein aufschlussreiches Faksimile einer Aktennotiz des Ministeriums für Kultur, das den hilflosen Umgang des Staates mit der Einbeziehung des Gedichts „Ballade vom Briefträger William L. Moore aus Baltimore“ von Wolf Biermann auf der Platte „Jazz und Lyrik“ dokumentiert. Wolfram Knauer (Jul 2012)
Musical Echoes. South African Women Thinking in Jazz von Carol Ann Muller & Sathima Bea Benjamin Durham/NC 2011 (Duke University Press) 348 Seiten, 16,99 Britische Pfund ISBN: 978-0-8223-4914-3 Seit dem Erfolg Dollar Brands weiß die Jazzwelt, dass Südafrika dieser Musik einen ganz eigenen Zungenschlag beizugeben hat. Die Sängerin Sathima Bea Benjamin verließ zusammen mit Dollar Brand 1962 ihr Heimatland, um der Apartheid zu entkommen und in Europa zu leben. In ihrer Biographie schildern Benjamin und Carol Ann Muller die Situation als Musiker in Südafrika, ihren Weg zum und im Jazz. Muller stammt wie Benjamin aus Südafrika und ging wie Benjamin nach New York – während Benjamin dies auf Anraten Duke Ellingtons tat, der meinte, dort könnten sie und Brand mit der Musik, die sie machten, am besten überleben, ging Muller zum Studium in den Big Apple. Als Muller Benjamin in den frühen 1990er Jahren kennenlernte, war sie von der Geschichte der älteren Freundin fasziniert und schlug ihr vor, an einem gemeinsamen Buch zu arbeiten. Es dauerte noch 15 Jahre, bis das Buch fertig wurde, das die Lektüre lohnt als eine faszinierende Mischung aus Autobiographie und sozialgeschichtlicher Reflexion der autobiographischen Erfahrungen. Die 1936 geborene Sathima Bea Benjamin erzählt über ihre Kindheit und Jugend in Kapstadt, ihre Familie, erste Kontakte mit Musik, Klassik, leichtem Jazz, über Musik in der Missionsschule, im Radio, im Kino. Muller setzt ihre Erinnerungen dabei immer wieder in den Kontext der starren Gesellschaftsnormen Südafrikas, fragt nach den besonderen Konnotationen von Jazz im Apartheidregime. Wo man weit später einen deutlichen südafrikanischen Jazzstil konstatiert, da war sich in den 1950er Jahren niemand eines solchen lokalen Musikdialektes bewusst, schreibt Muller. Sie beschreibt die verschiedenen Szenen, in denen sich Benjamin bewegte, Szenen, die vor allem durch Klassen- und Hautfarbenunterschiede markiert waren. Muller nennt Bands und beschreibt Benjamins erste Engagements, etwa in einer „Coloured Jazz and Variety“-Show. Anfangs arbeitete die Sängerin außerdem als Lehrerin, um Geld zu verdienen, mehr und mehr nahmen dann die Auftritte den Hauptteil ihrer Arbeit ein. Ende der 1950er Jahre traf Benjamin auf den Pianisten Dollar Brand, der sie begleitete, sich bald auch in sie verliebte. Benjamin gab ihm Geld, um die Dollar Brand School of Music zu starten. Anfang der 1960er Jahren spielten die beiden regelmäßig in den Clubs von Kapstadt und Johannesburg, doch nach Unruhen verbot die Regierung im Jahr 1962 Aufführungen gemischter Ensembles, was insbesondere Jazzmusiker traf und auch für Brand und Benjamin die Arbeitsmöglichkeiten stark einschränkte. Als die beiden 1962 die Möglichkeit erhielten in die Schweiz zu reisen, ergriffen sie die Chance und gingen ins Exil, wie in derselben Zeit auch Miriam Makeba, Hugh Masekela und andere Musiker. In Europa trafen sie Duke Ellington, der sie unter seine Fittiche nahm, Brand mit einem von ihm protegierten Album zu seinem internationalen Durchbruch verhalf und die Karriere der beiden auch sonst anschob und den Brand als „wie mein wirklicher Großvater“ beschreibt, als „den Dorfweisen“. Ein Exkurs des Buchs befasst sich mit der Rezeption Ellingtons in Südafrika, ein weiterer mit dem Einfluss Billie Holidays auf den Stil der Sängerin Sathima Bea Benjamin. Ellington hatte auch ein Album mit Benjamin produziert, dass allerdings erst drei Jahrzehnte später veröffentlicht wurde. Das Buch beschreibt die Umstände der Session und enthält eine Transkription der Studiogespräche zwischen Benjamin und Ellington. Brand und Benjamin bereisten Europa mit anderen südafrikanischen Exilmusikern und reisten 1965 in die USA, wo sie beim Newport Jazz Festival auftraten und dann – auf Anraten Ellingtons – in New York blieben. Für die Geburt ihres ersten Kinds reiste Benjamin dann aber nach Swaziland, weil sie ihr Kind unbedingt auf afrikanischem Boden zur Welt bringen wollte. Das ausführliche Kapitel über Migration endet mit verschiedenen Aspekten der Exil-Erfahrung für südafrikanische Musiker. Ein eigenes Kapitel ist den New Yorker Erfahrungen der Sängerin gewidmet. Mit einem Empfehlungsschreiben von Ruth Ellington ausgestattet zogen Brand und Benjamin ins legendäre Hotel Chelsea. Sie gründeten ihr eigenes Plattenlabel, Ekapa Records, und unterstützten offen die südafrikanische Befreiungsbewegung. Benjamin reflektiert über ihre Beziehung zur Stadt New York und vergleicht das Leben dort mit dem Leben in Kapstadt, Zürich und London. Muller diskutiert in diesem Kapitel außerdem anhand Benjamins eigener Erfahrungen Gender-Aspekte im Jazz. Ein weiteres Kapitel ist mit „Returning Home“ überschrieben und behandelt Benjamins Album „Cape Town Love“, das sie 1999 in ihrer Heimatstadt aufgenommen hatte. Die letzten beiden Kapitel bringen uns in die Gegenwart sowohl Benjamins wie auch Mullers und fassen noch einmal die Schlussfolgerungen aus den Lebenserfahrungen der Sängerin und den Forschungserfahrungen der Co-Autorin zusammen. „Musical Echos“ beschreitet einen für Autobiographien eher ungewöhnlichen Weg: Es erzählt auf der einen Seite die Geschichte der Sängerin Sathima Bea Benjamin, reflektiert dabei auf der anderen Seite aber laufend auf den Kontext sowohl der Erlebnisse der Protagonistin als auch aktueller Forschungsdiskurse. Es ist damit neben einer Biographie auch ein ernst zu nehmender Beitrag zur Forschung des Jazz und seiner weltweiten Rezeption. Wolfram Knauer (Juli 2012)
grubenklang.reloaded herausgegeben von Georg Graewe Berlin 2011 (Random Acoustics) 116 Seiten, beigelegte DVD, 45 Euro Aus Anlass des Festivals Ruhr.2010 wurde der Pianist und Komponist Georg Graewe eingeladen, sein GrubenKlangOrchester wiederaufleben zu lassen, das 16 Jahre zuvor eigentlich aufgelöst worden war. Da ihm nicht danach war, nur in der Vergangenheit zu schwelgen, formierte er das Ensemble einfach neu, um „den aktuellen Stand meines Komponierens“ widerzuspiegeln. Außerdem lud er Kollegen aus Musik, Literatur und anderen kreativen Genres ein, das Jahr mitzugestalten. Heraus kam eine Veranstaltungsreihe an unterschiedlichsten Orten des Ruhrgebiets, von denen viele Konzerte als Audio- und Videodokumente mitgeschnitten wurden. Die insgesamt 27 Konzerte umfassten Auftritte Graewes als Soloist, mit Kollegen oder dem GrubenKlangOrchester, aber auch etwa eine Klaviersolo-Konzertreihe. Das vorliegende Buch dokumentiert die Idee des Festivals sowie auf der CD Ausschnitte aus den das ganze Jahr über stattgefundenen Konzerten. In den Texten, größtenteils zweisprachig auf Deutsch und Englisch, finden sich Annäherungen sowohl an die Idee des GrubenKlangOrchesters wie auch an die Neuformation der Band, etwa in Brian Mortons Auslassung über das „Workshop“-hafte des Konzepts oder im Gespräch, das Johannes Fischer mit Graewe, der Dichterin Anja Utler und der Sängerin Almut Kühne über ihr gemeinsames Projekt führt. Morton macht sich in einem weiteren Kapitel Gedanken über die Idee des Klavierspiels, seines Klangs und seiner Behandlung im 21sten Jahrhundert. Kai Stefan Lothwesen nähert sich in einem kurzen Text der Position des Komponisten Georg Graewe an, indem er dessen Arbeit auf die Begriffe „sonic fiction“, „frictions“ und „dictions“ abklopft. Musikerkollege Steve Beresford wird einem Blindfoldtest unterzogen, bei dem er Stücke aus der beiliegenden DVD kommentiert. Und Morton kommt noch ein drittes Mal zu Wort mit einem Artikel über die Erzählkraft in Graewes Arbeit. Daneben gibt es jede Menge an Fotos, Gedichten, Zeichnungen, Partiturseiten und anderen Dokumenten, die Graewes kreatives Schaffen für Ruhr.2010 dokumentieren. Die DVD schließlich enthält Videos des GrubenKlangOrchesters (mit drei Titeln), eines Solorecitals Graewes, seines Duos mit der Sängerin Almut Kühne, seines ersten Streichquartetts (2. Satz), vorgetragen vom Koehne Quartet, sowie seiner Komposition „Alle kennen meine Visage“ nach Tagebucheintragungen Albert Einsteins. In den Audiotracks finden sich Ausschnitte aus den Konzerten, radiogerecht zusammengeschnitten sowie von kommentiert von Nina Schröder (über „Piano Today mit Soloaufnahmen von Keith Tippett, Fred van Hove, Denman Maroney, Michael Wilhelmi, Christian Rieger, Sarah Nicholls, Craig Taborn, Marilyn Crispell, Oskar Aichinger und Johanna Borchert), Julia Neupert (über Graewes „new generation“-Projekt), Susanna Oldham (über „Ruhrkampf“ mit Aufnahmen unter anderem von Daniel Erdmans Band „Das Kapital“) sowie diverse Mitschnitte der Literatur/Musik-Abende aus der Buchhandlung Napp in Bochum. Alle vier Audiofeatures (durchaus passend „Audio-Magazin“ benannt) haben eine Länge von zwischen 35 Minuten und über anderthalb Stunden und bieten im Bildbereich eine Übersetzung des gelesenen Textes ins Englische bzw. Deutsche. Alles in allem ist „grubenklang.reloaded“ ein beeindruckendes Dokument eines vollen Jahres im kreativen Schaffen des Georg Graewe, das in dieser Präsentation sowohl sinnlich erfassbar wie auch intellektuell durchdringbar wird und dem Leser/Hörer/Betrachter bei alledem trotzdem genügend Freiraum zu eigenen Erfahrungen bietet. Wolfram Knauer (Juli 2012)
Boom’s Blues. Muziek, journalistiek en vriendschap in oorlogstijd von Wim Verbei Haarlem/Netherlands 2011 (In de Knipscheer) 283 Seiten, 1 beiheftende CD, 34,50 Euro ISBN: 978-90-6265-667-7 Frans Boom war ein holländischer Sammler und Jazzfan, der Mitte der 1930er Jahre seine Liebe zur afro-amerikanischen Musik entdeckte. Er las De Jazzwereld, die holländische Jazzzeitschrift, die seit 1931 erschien, reiste 1939 zu Duke Ellingtons Konzert im Utrechter Tivoli, freundete sich mit dem Kritiker und Amateur-Musikwissenschaftler Will Gilbert an, der als Redakteur für De Jazzwereld wirkte und 1939 zusammen mit Constantin Poustochkine das Buch Jazzmuziek veröffentlichte. Zugleich sammelte Boom Platten des frühen Jazz und Blues. 1943, also inmitten der deutschen Besatzung der Niederlande, schrieb Boom sein eigenes Buch, das sich mit dem Blues befasste und diesen als satirische Liedform untersuchte. In „Boom’s Blues“ erzählt Wim Verbei im ersten Teil die Geschichte des Musikwissenschafts-Autodidakten Frans Boom, seiner Liebe zu Jazz und Blues und der wechselvollen Geschichte seines Manuskripts. Im zweiten Teil des Buchs ist dann die komplette Untersuchung Booms aus dem Jahr 1943/1945 zu lesen. Die biographischen Kapitel werfen zugleich einen Blick auf die Faszination, die afro-amerikanische Musik in jenen Jahren auf Westeuropa und auch auf die holländische Jazzszene der 1930er und frühen 1940er Jahre ausübte. Der ländliche Blues allerdings, berichtet Verbei, sei in De Jazzwereld kaum vorgekommen. Gilberts Buch Jazzmuziek und seine Korrespondenz mit dem älteren Autoren und Mentor beeinflusste Boom dahin, sich vom Allgemeineren aufs Speziellere zu stürzen und den Blues näher zu untersuchen. Verbei zitiert immer wieder aus der Korrespondenz der beiden Freunde und Kollegen, etwa über Sprache und Slang in afro-amerikanischer Kultur, über idiomatische Wendungen und Sprachbilder in Bluestexten. Auffällig an den Briefen, schreibt Verbei, sei, dass darin nirgends von der deutschen Besatzung die Rede sei, die doch eigentlich das Leben im Land bestimmte. Verbei bringt den Leser kurz auf den Stand der Geschichte, erzählt, wie die Nazis nach kurzem Kampf das Land besetzten und bald sowohl die Politik als auch das Kulturleben bestimmten. Im November 1940 erschien die letzte Ausgabe von De Jazzwereld, in der sich Gilbert bereits gegen den Kunstwert des Jazz stellte. So ganz erklären ließe sich der Wandel in Gilberts Einstellung nicht, meint Verbei und betont noch einmal, dass es in seinen Briefen an Boom nie auch nur die Andeutung nationalsozialistischen Gedankenguts gegeben habe. Gilbert arbeitete in Folge für die Niederländische Musikkammer und formulierte die restriktiven Stilvorschriften für Unterhaltungsorchester, die in einem „Verbot negroider Elemente in Tanz- und Unterhaltungsmusik“ führten (und ihn auch nach dem Krieg zu einer umstrittenen Person unter Jazzfreunden machte). Umso erstaunlicher also, dass Gilbert auch in diesen Jahren mit Boom über einen möglichen Aufsatz zum Blues korrespondierte, über das „profane Negerlied und seine Rituale in Afrika und den Vereinigten Staaten“. Aus dieser Korrespondenz heraus jedenfalls entstand Frans Booms Studie über den Blues. Es gab einzelne Vorbilder und Beispiele, aus denen er sich bedienen konnte, die Anthologie Slave Songs of the United States von 1867 etwa, W.C. Handys Blues – An Anthology von 1926, Winthrop Sargeants Jazz. Hot and Hybrid von 1938 sowie Frederic Ramsey Jr. und Charles Edward Smiths Jazzmen von 1939. Verbei beleuchtet die Diskussionen zwischen Gilbert und Boom, immer vor dem Hintergrund der zur selben Zeit herrschenden deutschen Besatzung der Niederlande. Von daher ist sein Buch auch ein Blick in die Beziehungen zwischen Forschung und System in jenen Jahren. Verbei verfolgt die Entstehung einzelner Argumentationslinien des Buchs aus der Korrespondenz der beiden Autoren heraus, insbesondere die semantischen Erklärungen sexueller Anspielungen in Bluestexten, aber auch die von Boom angestrengte Statistik zur Blues-Form. Ende 1943 war das Manuskript fertig, hätte aber im besetzten Holland nie gedruckt werden können. Verbei verfolgt die beiden Hauptprotagonisten bis zum Kriegsende und in die Nachkriegszeit. Inzwischen waren andere analytische Werke erschienen, etwa Rudi Bleshs Shining Trumpets, und auch Gilberts Jazzmuziek wurde 1947 in zweiter Auflage veröffentlicht. Boom ging Anfang der 1950er Jahre in den diplomatischen Dienst, erst nach Paris, dann nach Jakarta. Dort erkrankte er auf einer entlegenen Insel an Polyomyelitis und verstarb im Juli 1953. Sein Blues-Manuskript landete in den Händen des Jazzkenners Hans Rookmaaker. Während 1955 noch die Mitautorenschaft des umstrittenen Gilberts den Druck des Buchs verhinderte, sollte es 1971 auf Vermittlung des britischen Bluesforscher Paul Oliver nur unter Booms Namen (anglisiert als Frank Boom) im englischen Verlag November Books unter dem Titel Laughing to Keep from Crying erscheinen, was dann aber nie geschah. Das „Making of“, das Verbei in Boom’s Blues erzählt, enthält Verweise auf Landes- genauso wie Zeitgeschichte, und ist vor allem deshalb spannend zu lesen, weil man sich laufend die Gespaltenheit aller Beteiligten vor Augen halten muss, mit der diese ein von ihnen als wichtig empfundenes Thema bearbeiteten, obwohl alle politischen Gegebenheiten dagegen standen. Und so ist die Publikation des im Original auf Niederländisch verfassten Manuskripts eine willkommene und insbesondere nach dem Wissen um seine Entstehungsgeschichte hoch willkommene Ergänzung dieses Buchs, das auch sonst reich und aussagekräftig bebildert ist und auf der beiheftenden CD 24 Titel bereithält, die Boom in seinem Manuskript bespricht, sowie einen Ausschnitt aus einer Rundfunksendung von 1947, in der Boom „über Humor und Satire im Jazz“ sinniert. Wolfram Knauer (Juni 2012)
Im Swing gegen den Gleichschritt. Die Jugend, der Jazz und die Nazis von Wolfgang Beyer & Monica Ladurner Salzburg 2011 (Residenz Verlag) 241 Seiten, 21,90 Euro ISBN: 978-3-7017-3218-0 Wolfgang Beyer und Monica Ladurner produzierten 2007 einen Film über Jugendliche, die sich den Regeln der Nazi-Diktatur nicht beugen wollten. Nach Erscheinen des preisgekrönten Films war es ihnen wichtig, ihre Quellen auch schriftlich zu dokumentieren, was sie im vorliegenden Buch taten. Das erste Kapitel ihres Buchs beschäftigt sich mit den österreichischen „Schlurfs“, beschreibt Aussehen und Mode der Jugendlichen, für die der Plattenspieler mit Jazzplatten nur ein Teil ihrer Jugendkultur war. Sie stellen die Örtlichkeiten vor, an denen vor dem und im Krieg in Wien Jazz gemacht wurde. Und sie sprechen mit Günther Schifter, der nicht so sehr Schlurf war als vielmehr Swing-Kid – die Unterscheidungen ließen sich an Modedetails genauso erkennen wie an der Ernsthaftigkeit ihrer Jazzliebe. Das zweite Kapitel betrachtet die swingende Jugendbewegung vor dem Hintergrund der staatlich verordneten Hitlerjugend. Im dritten Kapitel wird die nationalsozialistische Sicht auf den Jazz anhand etlicher zeitgenössischer Quellen dargestellt. Kapitel vier betrachtet die Tanzaspekte der Swingmusik und die Reaktion des Regimes darauf. Im nächsten Kapitel geht es um Sex, die Tatsache also, dass die Jugend, von der hier die Rede ist, gerade im besten Pubertätsalter sich befindet. Ein weiteres Kapitel handelt von den deutschen Swing Kids oder Swing Boys. Die Autoren sprechen mit Wolfgang Sauer, Coco Schumann und Günter Discher und reisen durch das Land: Berlin, Frankfurt und Hamburg. Weiter geht es zur Jazzjugend in der benachbarten Tschechoslowakei; hier sprechen die Autoren unter anderem mit dem bedeutenden Jazzkritiker Lubomir Doruzka. Ein weiteres Kapitel schließlich blickt nach Frankreich, wo die Zazous oder die Petits Swings aktiv waren. Die Nazis wetterten gegen den Jazz, aber die Swingfans schauten sich die ihre Musik diffamierenden Propagandafilme gerade wegen der Musik an, die da schlecht gemacht wurde, genauso wie andere in die Ausstellung „Entartete Kunst“ gingen, um die Kunst zu sehen, die offiziell verboten war. Irgendwann wurde es den Nazis zu bunt und sie schritt gegen die swingenden Jugendbewegungen ein. Anhand von Quellen und Zeitzeugenberichten zeigen die Autoren, welche Maßnahmen ergriffen wurden und wie die Jazzer darauf reagierten. Zum Schluss gibt es einige Beispiele von Jugendlichen, die nicht nur durch ihren Musikgeschmack, sondern auch in ganz konkreten Aktionen Widerstand gegen das System leisteten. „Im Swing gegen den Gleichschritt“ ist ein flüssiges Lesebuch über jene dunkle Seite deutscher Geschichte – und daneben eben auch österreichischer, tschechischer und französischer Geschichte. Es ist keine wissenschaftliche Studie, sondern will Stimmungen und Atmosphären vermitteln, sowohl aus der Faszination der Jugendlichen heraus als auch aus der Sicht eines Systems, das nicht zulassen wollte, dass Jugendliche mehr nach Freiheit streben als nach dem staatlich verordneten Gleichschritt. Wolfram Knauer (Mai 2012)
Basis-Diskothek Jazz von Ralf Dombrowski Stuttgart 4/2011 (Reclam Sachbuch) 272 Seiten, 6,40 Euro ISBN: 978-3-15-018657-2 Ralf Dombrowskis Basis“-Diskothek Jazz“ ist mittlerweile in der vierten Auflage erschienen. Die Sammlung wichtiger Aufnahmen der Jazzgeschichte erweist sich als sehr brauchbarer Leitfaden für Jazzfreunde und solche, die es werden wollen. Dombrowski diskutiert die Platten, die er vorstellt, sowohl aus der Situation der Musiker heraus wie auch ihre Bedeutung für die Jazzgeschichte und erklärt nebenbei, warum er selbst sie für die Aufnahme in sein Büchlein ausgewählt hat. Natürlich hätte er leicht die doppelte Menge an Aufnahmen aussuchen können, schreibt Dombrowski im Vorwort, aber es sollte ja doch ein handliches Buch sein. Über seine Entscheidungen kann man jedenfalls nicht meckern. Sicher wird dem einen oder anderen das eigene Lieblingsalbum fehlen; sicher würde man den einen oder anderen Plattentipp gegen einen anderen austauschen – aber das ist dann meist eher Geschmackssache. Im Großen und Ganzen liegt Dombrowski völlig richtig, und er hat für die vierte Auflage des Buches sogar noch fünf CDs hinzugenommen: Ornette Colemans Pulitzer-ausgezeichnetes „Sound Grammar“, Herbie Hancocks „The River, Joshua Redmans „Compass“, Esbjörn Svenssons „Leucocyte“ sowie Heinz Sauers und Michael Wollnys „Melancolia“. Man ahnt, was bei der 5. oder 6. Auflage mit dabei sein könnte: Wollnys eigenes Trio [em] etwa oder Vijay Iyer zum Beispiel. Wer auch nur einen Teil der hier versammelten Alben im eigenen Plattenschrank hat, der hat jedenfalls einen guten Überblick über die Vielfalt der ersten hundert Jahre Jazzgeschichte. Wolfram Knauer (April 2012)
Sündiges Berlin. Die Zwanziger Jahre. Sex, Rausch, Untergang von Mel Gordon Wittlich 2011 (Index Verlag) 279 Seiten, 1 beiheftende CD, 39,99 Euro ISBN: 978-393687822-6 Die frühe Jazzgeschichte Deutschlands wirkt fast zugedeckt durch die dunkle Ära des Dritten Reichs, in dem der Jazz verfemt und seine Anhänger verfolgt wurden. In den 20er Jahren aber war Deutschland genauso vom Fieber des Jazz gepackt wie alle anderen Länder des westlichen Europas. Und da Jazz vor allem eine Großstadtmusik war, wirkte er in den Metropolen am weitestreichenden, in Paris, London und Berlin. Da Jazz in jenen Jahren zugleich eine Musik zwischen den Stühlen war, in der die Körperlichkeit musikalischer Rhythmen und tanzender Menschen fast ein Synonym war für ungezügelte Sexualität (ob positiv oder negativ bewertet), ist es neben allem Wissen um musikalische Berührungen, um Einflüsse und Aufnahmen auch wichtig zu wissen, in welchen Kreisen der Jazz rezipiert und gehört wurde. Die Welt, die sich der Jazzmode in den 1920er Jahren hingab, war eben nicht nur die von Kennern und Musikern, sondern genauso die der Demimonde, die sich in Bordellen, schummrigen Kaschemmen, schwulen Bars oder in Untergrundzirkeln zwischen Freikörperkultur, Fetischklüngeln, Erotik und Verbrechen bewegte. Von diesen meist verschwiegenen Szenen berichtet das Buch „Sündiges Berlin“ des amerikanischen Theaterwissenschaftlers Mel Gordon, der 1994 ein Theaterstück für Nina Hagen mit dem Titel „Die sieben Süchte und fünf Berufe der Anita Berber“ plante, eine Schau um Musik von Weill und Hollaender, erotische Zeichnungen und pornographische Tänzen. Die Recherche dafür erwies sich als schwieriger als gedacht. Gordons Jagdeifer jedoch war geweckt, er nutzte private Kontakte in Europa und hatte innerhalb von vier Monaten jede Menge an bizarrem Material zusammen, das ein ganzes Buch füllen könnte. Was er dann auch tat… Prüde sollte man also nicht sein, wenn man in diesem Buch blättert, das im Coffeetable-Format daherkommt und in dem nackte Brüste und erigierte Penisse noch eher die harmloseren Abbildungen sind. Das Foto einer Selbststrangulierung ist da zu sehen, eine „therapeutische Zeichnung eines inhaftierten Vergewaltigers“, eine Selbstbefriedigungsmaschine für Frauen, die Zeichnung einer mit Eisendornen gespickten Klobrille, genannt „Der Sklaventhron“, Bilder von Flagellanten und Haarfetischisten und vielen anderen lustvollen oder brutalen „Vergnügen“. Gordon versucht das Exzentrische, das Perverse und das Unfassbare aus der Geschichte Berlins heraus zu erklären. Er beginnt mit den Mythen der Weimarer Republik, wie sie im „Blauen Engel“ oder später im Film „Cabaret“ wachgehalten wurden, zeigt Publikationen, die sich schon in den 1920er Jahren als „Führer durch das lasterhafte Berlin“ anboten. Der Selbstsicht als Hauptstadt des Vergnügens entsprach die (zu Zeiten des I. Weltkriegs) feindliche Fremdsicht als „degeneriertes Deutschland“. In den Erfahrungen der Soldaten im Krieg sieht Gordon einen Grund für SM- und Fetischneigungen, die er als eine Art „Nebenwirkung von Kriegsneurosen“ beschreibt. Aber auch das Wirtschaftschaos der Nachkriegszeit, die Unsicherheit darüber, was werden sollte, trug dazu bei, es nun „erst recht“ knallen zu lassen. Nachlokale boomten, in denen die aktuelle Musik getanzt wurde – und das war in den 1920er Jahren meist Jazz in den seltsamsten Besetzungen. Die Hyperinflation ließ alle wirtschaftlichen Werte wertlos erscheinen und zugleich neue Wirtschaftszweige erstarken, oft eine ganz private Schattenwirtschaft in Hinter- und Schlafzimmern. Die Kapitel des Buchs handeln diese Schattenwirtschaft systematisch ab, die der Stadt Berlin bald ihren ganz eigenen Ruf einbringt. Das Kapitel „Stadt der Huren“ beschreibt den Beruf der Prostitution und enthält auch ein Glossar, das die verschiedenen Angebote beschreibt, sowie eine Topographie des Rotlichts, Friedrichstraße, Nollendorfplatz und anderswo. Das Nachtleben war vital, und in einem eigenen Kapitel nimmt Gordon seine Leser mit auf eine abendliche Entdeckungsreise durch Kneipen, Bars, erotische Revuen und Tanzkaschemmen. „Berlin bedeutet Burschen“ ist ein weiteres Kapitel überschrieben, das die schwule Kultur der Stadt beleuchtet, aber auch die Verfolgung von Homosexualität durch den Paragraphen 175. „Warme Schwestern“ erklärt, dass auch die lesbische Subkultur in Berlin blühte und zählt Clubs und Vereine auf. „Grenzgänger“ heißt ein Kapitel über Transvestiten und die Cross-Gender-Szene der Stadt. Unter „Strahlende Nacktheit“ berichtet Gordon über das „unschuldigere“ Nachtsein, die Freikörperkultur der 1920er Jahre, über Nudisten und Lebensreformer und ihre Ideen. Magnus Hirschfeld und sein Institut für Sexualwissenschaft erhalten ein eigenes Kapitel, in dem auch „sexuelle Triebstörungen“, reich bebildert, abgehandelt werden. Im Kapitel „Lustschmerz“ liest man über SM-Praktiken und die versteckte Szene, in der diese gepflegt wurden. „Sexualmagie und Okkultismus“ betrachtet erotische Kulte jener Jahre und ihre Gurus. „Verbrechen an der Spree“ schließlich wendet sich insbesondere den Gewaltverbrechen zu, Lustmorden insbesondere, aber auch Verbrecherringen, in denen sich Banden zusammenschlossen. Die scheinbare Dekadenz der 1920er Jahre wurde vom Nazismus der 1930er abgelöst, der sich als eine auch moralische Bewegung verstand und der erotischen Unterwelt Berlins ein Ende bereiten wollte. Kurz geht Gordon auf die Verlogenheit nazistischer Propaganda in Bezug auf die Sexualität ein, beschreibt die Entwicklung zum stromlinienförmigen Einheitsdeutschen als Geschichtsrevisionismus und den Versuch vor allem die Kultur der Weimarer Republik zu zerstören. Zum Schluss finden sich eine Stadtkarte, in der die verschiedenen Etablissements und Szenen verzeichnet sind, sowie eine ausführliche Beschreibung von Treffpunkten, Bars, Tanzsälen und ihrem Publikum. Von Jazz ist, soviel sollte aus dieser Beschreibung des Inhalts klar sein, eher wenig zu lesen, und doch mag man zwischen den Zeilen den Eindruck einer Zwischenwelt erhalten, in der Jazz durchaus eine wichtige Rolle spielte. Die beiheftende CD bedient sich vor allem den gewagten Kabarettstimmen der 1920er, Claire Waldoff, Marlene Dietrich und Otto Reutter. Das Orchester Lajos Béla ist mit „Einen großen Nazi hat sie“ zu hören und das Haarmann-Lied „Warte, warte nur ein Weilchen“ in einer Interpretation von Hawe Schneider aus dem Jahr 1961. „Sündiges Berlin“ ist bei alledem weder eine kritische noch eine wissenschaftliche Studie. Es ist ein unterhaltsames Buch, das für den Moment des Blätterns den voyeuristischen Trieb im Leser befriedigen mag. Eine durchwegs vergnügliche Lektüre also, mit flüssigen Texten und jeder Menge zeitgenössischer Fotos, Zeichnungen, Bilder und Dokumente. Man schaudert ein wenig, weiß aber, dass „Sex, Rausch und Untergang“ für den Leser aller Voraussicht nach ohne jede schlimme Nachwirkung bleiben wird. Sündiges Berlin – wie schön! Wolfram Knauer (April 2012)
Black & White. The Jazz Piano von Peter Bölke Hamburg 2011 (Edel ear books) 156 Seiten, 4 beiheftende CDs, 39,95 Euro ISBN: 978-3-940004-96-3 In seiner Reihe opulenter Coffeebook-Bände mit beiheftenden CDs legt der dem Vertrieb Edel zugehörige Verlag earbooks einen in Größe und Dicke an eine alte LP-Box erinnernden Bildband zum Thema „Jazz Piano“ vor. Die vier im Deckel heftenden CDs geben das Thema vor: „Blues & Boogie-Woogie“ lässt die großen Boogie-Heroen erklingen, Meade Lux Lewis, Pinetop Smith, Cow Cow Davenport, Albert Ammons und andere, aber auch Jelly Roll Morton und James P. Johnson, die eigentlich ins Thema der zweiten CD gehören, überschrieben „Nobilty at the Keyboard“. Hier sind Earl (Hines), Count (Basie) und Duke (Ellington) den Namensgeber, außer ihnen hört man Teddy Wilson, Hank Jones, Bud Powell und Thelonious Monk. Auf „Small Group, Great Sound“ ist genau das präsent: die Trios etwa von Nat King Cole, Oscar Peterson und Erroll Garner, das Modern Jazz Quartet und das Dave Brubeck Quartet sowie George Shearing mit seinem Quintett. „A Funky Kind of Blues“ schließlich präsentiert Aufnahmen des Hardbop zwischen Miles Davis und John Coltrane mit einer einzigen kleinen Ausnahmen, „Marionette“, gespielt vom Lennie Tristano Sextet. Das Buch zu den CDs ist hervorragend bebildert mit einer bunten Mischung aus Musikerportraits und stimmungsvollen Aufnahmen der diversen Zeiten und Örtlichkeiten, aus denen die Musik stammt. Peter Bölke fasst in seinem Text die Entwicklung des Jazzklavierspiels sowie die Biographien der auf den CDs dokumentierten Musiker und Bands zusammen. Wie bei anderen CD-/Buch-Alben des earbook-Verlags hört die Auswahl Anfang der 1960er Jahre auf, also vor gedweden musikalischen Freiheitsbewegungen oder Fusion-Experimenten. Diese Auswahl mag dem ernsthaften Jazzkenner einen Kritikpunkt wert sein, der dabei aber verkennt, an wen sich die Edition vor allem richtet: an den interessierten Jazz-Sympathisanten, der den Schritt zum Sammler und Vollständigkeitsfanatiker noch nicht gemacht hat. Hier findet er (oder sie) jede Menge Hörstoff und Information. Wolfram Knauer (April 2012)
Music Makes Me. Fred Astaire and Jazz von Todd Decker Berkeley 2011 (University of California Press) 375 Seiten, 29,95 US-Dollar ISBN: 978-0-520-26890-6 Jazz und Tanz sind enger miteinander verbunden als man in jüngsten Ausprägungen improvisierter Musik meinen möchte. Der Jazz begann als Tanzmusik, er war ein ständiger Begleiter der populären Bühnenkunst, und Tänzer in amerikanischen Ballsälen tanzten durchaus schon mal Soli, die denen von Jazzsolisten vergleichbar sein konnten. Todd Decker betrachtet in seinem Buch den vielleicht populärsten Tänzer des 20sten Jahrhunderts, Fred Astaire, aus der Sicht des Jazz, analysiert Filmclips und Tonaufnahmen auf rhythmische, melodische, formale und interaktive Aspekte. Das Ergebnis ist eine Studie, die Astaire als das Phänomen ernst nimmt, das er tatsächlich darstellt: ein Künstler, der sein Instrument (Beine und Füße) so beherrschte wie die Jazzer, mit denen er immer wieder zusammenarbeitete ihr Saxophon, ihre Trompete, ihr Piano. Decker stützt sich in seiner Arbeit vor allem auf filmische Dokumente, angefangen mit dem Titel, der zugleich dem Buch seinen Namen gab, „Musik Makes Me“ aus dem Film „Flying Down to Rio“ von 1933. Im ersten Teil seines Buchs ordnet der Autor Astaire ins amerikanische Showbusiness ein, wobei er neben seinen künstlerischen Qualitäten auch den sozialen, ästhetischen, gesellschaftlichen Kontext berücksichtigt, der Astaire besondere Möglichkeiten geboten habe. Er beschreibt die Unterschiede zu seinen Wettbewerbern und das Produkt, das Astaire auf dem populären Unterhaltungsmarkt so erfolgreich anbot. Er geht auch auf den afro-amerikanischen Einfluss ein, auf die Tatsache, dass etliche der frühen Stepptänzer schwarz waren und somit im hautfarben-bewussten Hollywood keine Chance auf eine Hauptrolle hatten. Schließlich betrachtet er Astaires Verhältnis zu Komponisten und Textdichtern, die ihm zum Teil Stücke direkt auf den Leib schrieben und stellt dabei fest, dass es Astaire in seiner Karriere immer wichtiger gewesen sei, musikalische Stücke zu interpretieren als musikalische Filme zu machen. Im zweiten Teil seines Buchs untersucht Decker die konkreten Produktionsbedingungen in Hollywood, wühlt in Archiven, um in den Drehbuchmanuskripten Notizen zu finden, die darauf hinweisen, wie Hollywood auf populäre Trends reagierte und wie die Drehbuchautoren ihrerseits musikalische Moden interpretierten. Generell ist Decker hier auch an der Überschneidung der beiden großen populären Industriebereiche interessiert, der Musik- und der Filmindustrie. Im dritten Teil fokussiert sich Dekker auf konkrete Ansätze in Astaires Tanz: auf die Interaktion mit seinen Tanzpartnern etwa, auf die Benutzung der Bluesform, auf stilistische Unsicherheiten der ausgehenden 1940er Jahren, in denen Swing noch nicht tot und Rock ’n‘ Roll noch nicht in waren, und schließlich auf Astaires Arbeit mit afro-amerikanischen Musikern. Astaire studierte seine Tanzszenen zwar bekanntlich haargenau ein, war aber zugleich, wie man spätestens durch seine Aufnahmen mit Jazz at the Philharmonic weiß, ein exzellenter Improvisator. Decker geht dabei durchaus ins Detail, erklärt Bewegungsabläufe, verfolgt Choreographien, lauscht darauf, welche Sounds die Tanzbewegungen hervorrufen. Er untersucht Astaire und die Körperlichkeit des Tanzes als Beispiel für jene so schwer zu definierende Qualität des „swing“. Und er beschreibt Filmszenen, die man glücklicherweise großteils auf YouTube nachsehen kann. Dabei landet man dann unweigerlich auch bei Astaires Fernsehauftritt mit der Count Basie Band („Sweet Georgia Brown“), einem Auftritt, in dem Astaire eindeutig der Solist vor der Bigband ist, ein Solist, der genau dasselbe tut wie die Jazzsolisten, die ihn hier mit ihren Riffs begleiten: mit seinen Mitteln eine Geschichte erzählen. „Musik Makes Me“ ist ein ungewöhnliches Jazzbuch, das einmal mehr deutlich macht, wie sehr „Jazz“ die populäre Kultur des 20sten Jahrhunderts geprägt hat, als Musik, als Ausdrucks- und als Lebenshaltung. Wolfram Knauer (April 2012)
Rifftide. The Life and Opinions of Papa Jo Jones von Albert Murray & Paul Devlin Minneapolis 2011 (University of Minnesota Press) 173 Seiten, 18,95 US-$ ISBN: 978-0-8166-7301-8 Albert Murray, der große afro-amerikanische Jazzphilosoph und einflussreiche Schriftsteller, interviewte den Schlagzeuger Jo Jones zwischen 1977 und 1985 im Rahmen von Background-Recherchen zur Autobiographie von Count Basie, für die er als Coautor fungierte. Er legte die Bänder dann beiseite, bis er sie 2005 seinem ehemaligen Studenten Paul Devlin gab, um sie abzuschreiben. Das resultierende Buch, das erst jetzt erschien, ist eine ungewöhnliche und dennoch vorbildliche Autobiographie, die aus dem Hauptteil besteht, nämlich der selbst erzählten Lebensgeschichte Jo Jones‘, aus einer einrahmenden Einleitung, in der Devlin die Entstehungsgeschichte des Projekts beschreibt, und aus einem Nachwort von Phil Schaap, das den Schlagzeuger in seinen späten Jahren näherbringt und auch dessen schon mal leicht gereizten Charakter erläutert, erklärt, warum Jones als Musiker beliebt, als Mensch schon mal gefürchtet war und was seinen Zorn in der Regel auslösen konnte. Jones eigene Geschichte aber ist fast selbst schon Literatur. Devlin hat einen Aufsatz Murrays sehr ernst genommen, in dem dieser beklagt, dass viele sogenannte „Autobiographien“ durch zu viel Edieren die Authentizität genommen worden sei. Auch Devlin musste zusammenklauben und das Erzählte thematisch sortieren. Er behielt Jones‘ Grammatik, und er behielt den erzählerischen, schon mal abschweifenden Duktus; er behielt ebenfalls die Verweise auf beiden Gesprächspartnern bekannte Personen, deren Identität dem nicht so eingeweihten Leser in einem umfangenden Apparat erklärt wird. Jo Jones‘ Lebensgeschichte ist so keine fest chronologische Abhandlung von Ereignissen, sondern behält das Erzählerisch-Erinnernde, das sehr persönlich Beurteilende, manchmal auch eine gewisse Verbitterung über Missverständnisse der Geschichte oder die Überbewertung von Kollegen. Gangster in Kansas City; die eigene Vorbereitung auf Studiositzungen mit den Stars des Jazz – „Wenn du mit Ella Fitzgerald aufnimmst, hörst du dir vorher zwei Stunden lang nichts anderes als Ella Fitzgerald an, wenn du dann ins Studio kommst, denkst du nur noch Ella Fitzgerald“ – , über das schwarze Showbusiness, über Rassismus, über Puerto Rico und Frankreich… Die Basie-Band, sagt Jones, sei eine richtige Institution gewesen, und jeder, der in der Band spielte, habe vom musikalischen Ethos des Orchesters genauso gelernt wie fürs Leben. Er erzählt, wie er in den Mitt-1930er Jahren Mitglied der Band wurde, erklärt, wie die legendäre All American Rhythm Section mit ihm, Basie, Freddie Green und Walter Page funktionierte, die kein Mikrophon gebraucht hätte, weil der Swing ihre Stärke war, unüberhörbar, so leise sie auch spielte. Jones erzählt über seine Erlebnisse im US-amerikanischen Süden, aber auch von seiner lebenslangen Neugier, seiner Liebe zu Büchern und Literatur, seiner Bewunderung für Autoren wie James Baldwin, Ralph Ellison, Langston Hughes und Albert Murray. Ein eigenes Kapitel ist Kollegen gewidmet, mit denen er „auch“ zu tun hatte: Duke Ellington, Bill ‚Bojangles‘ Robinson, Stepin Fetchit, Tommy Dorsey, Claude ‚Fiddler‘ Williams, Jackie Robinson, Louis Armstrong, Joe Glaser, John Hammond und anderen. Und Jones, der „sharp dresser“ erzählt, wie wichtig es ihm zeitlebens gewesen sei, klasse angezogen zu sein. Wie gesagt, dies Buch ist keine klassische Autobiographie. Als Gesprächspartner auf gleicher Augenhöhe gelingt es Albert Murray Jo Jones zum Erzählen zu bringen, und Paul Devlin schafft es, die erzählerische Stimmung beizubehalten, durchaus auch das Exkursorische in Jones‘ Narrativ, das von einer Erinnerung in eine andere übergleitet, auch schon mal, ohne die angefangene Geschichte wirklich zu beenden. Er bringt damit eine Stimmung rüber, die einem den Musiker als Menschen nahebringt, der quasi überquillt vor Geschichten und Überzeugungen, vor Erlebnissen und festen Meinungen. Der 26-seitige Anmerkungsapparat ist da dringend nötig, um dem Leser die Verweise zu erklären, Anekdoten ins rechte Licht zu rücken oder auch schon mal Erinnerungen richtig zu stellen. Doch ist eine Autobiographie kein Geschichtsbuch, sondern höchstens eine Annäherung an die Erinnerungen von selbst Erlebtem. „Rifftide“ kommt der komplexen Persönlichkeit des Papa Jo Jones weit näher als alles, was zuvor über ihn veröffentlicht wurde. 26 Jahre nach seinem Tod ist hier ein Buch erschienen, dass Jones als den kraftvollen, vorwärtstreibenden Menschen erleben lässt, der er auch als Schlagzeuger immer war. Wolfram Knauer (März 2012)
Kenny Ball’s and John Bennett’s Musical Skylarks. A Medley of Memories von Kenny Ball & John Bennett Clacton on Sea 2011 (Apex Publishing Ltd.) 203 Seiten, 12,99 Britische Pfund ISBN: 978-1-906358-98-3 Die Generation der britischen Trad-Jazzer kommt in die Jahre, ja teilweise stirbt sie bereits fort. Viele der Protagonisten dieses Stils sind sich vielleicht gar nicht bewusst, dass sie da in ihrem Streben danach, ihre amerikanischen Helden nachzuahmen, einen durchaus eigenständigen europäischen Stil kreierten, der für sich erheblichen Einfluss auf eine Generation von Musikern und Musikhörern hatte. Nun ja, rückwärtsgewandt bleibt diese Art des Musikmachens dennoch, und in einer Ästhetik, die vor allem nach vorne blickt, ist das wahrscheinlich das am meisten vernichtende Urteil. Da helfen zum Verständnis Bücher, die die Wirklichkeit des Musikmachens ein wenig beleuchten. Trompeter Kenny Ball und Posaunist John Bennett spielen bereits seit 1958 zusammen. In ihrer Doppelbiographie erzählen sie, wie sie zum Jazz kamen und welche Erlebnisse sie durch und mit dieser Musik hatten. Beide wurden in den 1930er Jahren geboren (Ball 1930, Bennett 1936), für beide gehört der Krieg zu ihren Jugenderinnerungen. Ball hörte seinen ersten Jazz 1940 von Platte, Artie Shaws „Begin the Beguine“; Bennett ließ sich 1943 von Tommy Dorseys „Boogie Woogie“ begeistern. Nach dem Krieg arbeitete Ball als Klavierverkäufer in London. Er hatte sich 1943 seine erste Trompete gekauft und nach einem Lehrbuch geübt. Bennett war vom Spiel Kid Orys begeistert und lernte das Instrument im Schulorchester. Beide spielten in verschiedenen Bands, bevor sich ihre Wege kreuzten, als sie beide in der Terry Lightfoot Band waren. Im Oktober 1958 verließen sie diese Band gemeinsam und gründeten Kenny Ball’s Dixielanders, eine Band, mit der sie Musik wie die von Bobby Hackett, Jack Teagarden oder Eddie Condon spielen wollten. Die Band erhielt gute Kritiken und war in Jazzclubs in und um London zu hören, reiste bald aber auch durch ganz England und trat selbst in Deutschland auf. Ball und Bennett erzählen von solchen Konzertreisen, von Hits wie „Samantha“, von überaus aktiven Jahrzehnten insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren. Eine Tournee der Band durch die DDR im Jahr 1966 und eine Reise in die Sowjetunion im Jahr 1984 nimmt ein eigenes Kapitel des Buchs ein; in anderen Erinnerungen begleitet der Leser sie auf Reisen nach New Orleans, Australien oder Neuseeland. Hier zitieren die beiden Autoren ausgiebig aus ihren Tourneetagebüchern, weniger chronologisch als vielmehr thematisch sortiert, oder besser vielleicht: an den Anekdoten entlang. Es ist das alles eine kurzweilige Lektüre, die einen direkten Erfahrungsbericht zweier über ein halbes Jahrhundert im britischen Trad-Jazz aktiver Musiker bietet. Ein Register fehlt, im Fotobereich finden sich zur Hälfte offizielle Bandfotos. Der Untertitel „A Medley of Memories“ ist Programm und das Buch damit sicher vor allem für Trad-Jazz-Fans interessant. Wolfram Knauer (März 2012)
Jazz Icons von Peter Bölke Hamburg 2011 (Edel earbooks) 156 Seiten, 8 beiheftende CDs, 49,95 Euro ISBN: 978-3-940004-86-4 Die earbooks des Hamburger CD- und Buchverlags Edel sind eigentlich um ein Vielfaches „aufgeplusterte“ CD-Begleitbooklets. Schallplattengröße, viele Fotos, Hardcover mit sorgsam in den Umschlag eingelassenen CDs; die Produktion des Buchs lässt es an nichts mangeln. „Jazz Icons“ stellt die ganz Großen der Jazzgeschichte in Compilations vor. Die Auswahl der acht Künstler und ihrer Aufnahmen ist sicher repräsentativ – man hätte auch andere Namen wählen können, aber so ist es schon recht. Louis Armstrong ist mit Einspielungen zwischen 1947 und 1956 vertreten, darunter das großartige „Skookian“. Bei Coleman Hawkins fehlt weder „Body and Soul“ noch das unbegleitete „Picasso“ aus dem Jahr 1948. Billie Holidays Aufnahmen reichen von 1933 bis 1958 und decken damit ihre gesamte Karriere ab. Dizzy Gillespie wird mit Bebop und afrokubanischen Nummern aus den 1940er und 1950er Jahren repräsentiert. Bei Sonny Rollins fehlen weder „St. Thomas“ noch „Blue Seven“. Miles Davis ist mit Charlie Parker zu hören, mit seinem Capital Nonett, seinen All Stars mit Milt Jackson und Thelonious Monk sowie mit seinem Quintett mit John Coltrane. Dave Brubeck ist im Trio und Quartett vertreten, mit Standards und ungeraden Rhythmen. Und John Coltrane spielt mit Miles, ist aber auch mit Aufnahmen aus seiner blues-lastigen Hardbop-Phase und mit seinem legendären „My Favorite Things“ zu hören. Keine Fehler also; eine durchaus brauchbare Wahl der Aufnahmen, die auch in den jeweiligen Kapiteln des Buchs kurz erwähnt werden. Der Jazzfan kennt das alles, für ihn bieten auch die von Peter Bölke flott geschriebenen Biographien der Musiker (zweisprachig auf Deutsch und Englisch), die dabei auch auf die einzelnen Titel der beiliegenden CDs verweisen, nichts wirklich Neues. Die Fotos sind allesamt sehenswert; der Band enthält neben bekannten Aufnahmen durchaus auch viele Bilder, die so selten zu sehen waren. Leider werden die Namen der Fotografen an keiner Stelle genannt – bei einem Buch, das so auf die visuelle Komponente setzt, ein ernstes Versäumnis. Ansonsten gewiss ein passendes Geschenk für Jazzneulinge oder für Jazzfans, denen es nichts ausmacht, dass Compilations das, was man bereits in der Sammlung hat, gerne verdoppeln. Allemal blätterns- und hörenswert. Wolfram Knauer (März 2012)
Picture Infinity. Marshall Allen & The Sun Ra Arkestra von Sibylle Zerr Edingen-Neckarhausen 2011 (Sibylle Zerr) 152 Seiten, 25 Euro ISBN: 978-3-00-035497-7 www.sibylle-zerr.de 1993 traf die Journalistin und Fotografin Sibylle Zerr Marshall Allen zum ersten Mal. Ein Clubbetreiber bat sie, ein Foto von Allen und ihm zu machen, wie er dem Saxophonisten zu seinem 80sten Geburtstag eine Whiskyflasche in die Hand drückte. Später fand Zerr heraus, dass Allen gar nicht Geburtstag hatte und dass er außerdem keinen Alkohol trank. Allen machte das alles nichts aus. Er, schreibt sie, nahm einfach die gute Stimmung des Publikums, das ihn feiern wollte, und transformierte diese mit dem Sun Ra Arkestra in pure Schönheit. Das Buch, das Zerr jetzt im Selbstverlag herausbrachte, ist eine Mischung aus Foto- und Sachbuch, in dem die Autorin und Fotografin in Bild und Text die Atmosphäre einfangen will, die Ras Musik bis heute umgibt. In kurzen, englischsprachigen Kapiteln beschreibt sie die Magie auf der Bühne und die Magie im Publikum sowie das Verschwimmen der Grenzen zwischen den beiden in jedem Konzert des Arkestra. Mehr als 80 Bilder, schwarzweiß wie Farbe, zeigen die Musiker auf der Bühne, in Interaktion mit dem Publikum, zwischen Koffern auf dem Bahnsteig. Zerr beschreibt, was nach dem Tod Sun Ras geschah, wie es Allen eine Weile verboten wurde, den Namen des Pianisten und seines Arkestra zu benutzen. Sie erzählt die Geschichte des Altsaxophonisten, der nach dem II. Weltkrieg in Europa stationiert war und zwei Jahre lang in Paris blieb, wo er mit James Moody auftrat und das Konservatorium besuchte. Sein ganzes Leben lang aber spielte er im Arkestra, und so macht es Sinn, dass er das Arkestra ins 21ste Jahrhundert führte. Sibylle Zerr erklärt das Kultische des Arkestra, die Freiheit der Musik. Sun Ra, sagt Marshall Allen, sei ein geborener Leader gewesen; er dagegen sei in der Band einer unter Gleichen, lerne von den anderen genau so viel wie die von ihm. Zerr beschreibt Sun Ras Konzept hinter „Strange Strings“, einer Aufnahmesitzung von 1966, bei der der Pianist seine Musiker ins Studio schickte, auf Instrumenten zu spielen, die sie noch nie zuvor gespielt hatten, um zu sehen, was passiert, um „unschuldig“ spielen zu können. „Wir werden spielen, was Ihr nicht wisst. Und was Ihr nicht kennt, ist groß!“ Sie beleuchtet all die jungen Musiker, die Sun Ra selbst nie erlebt hatten, jetzt aber im Arkestra dessen Tradition fortschreiben, wenn sie nicht sogar im legendären Haus in Philadelphia leben. Sun Ras Arkestra muss man eigentlich erleben. Man muss es hören und sehen und riechen – die Schminke, die exotisch-bunte Kleidung, die Instrumente. Zwischen zwei Buchdeckeln kommt Sibylle Zerr diesen Erlebnissen so nahe, wie es denn irgend geht: mit Bildern, die einen überaus lebendigen Eindruck von dem wiedergeben, was ein Sun-Ra-Konzert ausmacht – ein Erlebnis fürwahr, an dem keiner unbeteiligt bleibt –, und mit Texten, die sich von ganz unterschiedlichen Seiten dem Zauber der Musik und der Realität des Bandlebens und -tourens nähert. Lesenswert! Wolfram Knauer (März 2012)
Brötzmann. Arbeiten 1959-2010 herausgegeben von der Galerie Epikur Wuppertal 2011 (Galerie Epikur) 95 Seiten, 32 Euro ISBN: 978-3-925489-90-7 In den letzten Jahren ist Saxophonist Peter Brötzmann immer wieder auch als Bildender Künstler gewürdigt worden. Erst 2010 wurde seine grafische Kunst in der Gallerie The Narrows im australischen The Narrows ausgestellt. Die Wuppertaler Galerie Epikur hat diese Seite Brötzmanns kreativer Kunst nun mit einer Ausstellung und einem Bildband gewürdigt, eingeleitet von einem fachkundigen Aufsatz von Susanne Buckesfelder sowie zwei persönlichen Würdigungen von John Corbett und Mike Pearson. Als Refugium seines überaktiven Musikerlebens beschreibt Buckesfeld Brötzmanns Künstleratelier, und zeichnet dann die entwicklung ins einer Bildsprache nach. Musikbezüge gibt es genauso wie erotische Sujets, Ölgemälde, Aquarelle, Rrady-Mades und Holzschnitte. Das Durchblättern des wunderbaren Bildbandes macht auf jeden Fall eine weitere Seite Brötzmanns erlebbar. Wolfram Knauer (März 2012)
Populäre Musik und kulturelles Gedächtnis. Geschichtsschreibung – Archiv – Internet herausgegeben von Martin Pfleiderer Köln 2011 (Böhlau) 173 Seiten, 24,90 Euro ISBN: 978-3-412-20773-1 Die Zahl der Forschungseinrichtungen nimmt zu, in denen populäre Musik und/oder Jazz dokumentiert und für die Nachwelt aufbewahrt wird. Bei einer Tagung im Herbst 2010 versammelte das Eisenacher Lippmann+Rau-Musikarchiv Kollegen vor allem aus den diversen deutschen Archiven sowie Forscher, die sich mit der Thematik der Musikbewahrung beschäftigen, ein, um über Notwendigkeiten, Möglichkeiten, Wünsche und Pläne der Kartierung und Archivierung populärer Musik zu sprechen. Dabei geht es um Archivierungstechniken, die grundlegende Aufgabe von Archiven, Beispiele konkreter Archivleistungen und immer wieder um das Paradoxon, dass Archive eine Musik speichern helfen, die eigentlich aus dem Liveerlebnis, aus Erfahrungen und Gefühlen bestehen. Die Tagung von 2010 war da sicher nur ein erster Schritt – hier sind auf lange Sicht länderübergreifende Kooperationen vonnöten, um, wie es hier so schön heißt, „immaterielles Kulturerbe“ zu erhalten und zu archivieren. Neben Beiträgen des Herausgebers und von Nico Thom (Lippmann+Rau-Musikarchive Eisenach) finden sich in dem Buch etwa Artikel von Ulrich Duve und Peter Schulze (Klaus-Kuhnke-Archiv Bremen), von Wolfram Knauer und Doris Schröder (Jazzinstitut Darmstadt), von Nils Grosch (Volksliedarchiv Freiburg), von Siegfried Schmidt-Joos, Wolfgang Ernst, Tiago de Oliveira Pinto, Johannes Theurer und Holger Großmann. Wolfram Knauer (Februar 2012)
Five Perspectives on „Body and Soul“ And Other Contributions to Music Performance Studies herausgegeben von Claudia Emmenegger & Olivier Senn Zürich 2011 (Chronos) 197 Seiten, 31 Euro ISBN: 978-3-0340-1048-1 Das vorliegende Buch hat zwei sehr voneinander unterschiedliche Teile: einen ersten, der die im Titel benannten fünf Perspektiven auf den Jazzstandard „Body and Soul“ wirft, sowie einen zweiten, der sich mit allgemeinen und eher nicht jazzbezogenen Themen der Musikaufführung befasst. Im letzteren Teil ist der Beitrag über das Messen von Mikrotiming auch für Jazzforscher interessant, außerdem Elena Alessandris kurzer Ausflug in die Welt der Diskographie. „Body and Soul“ ist ohne Zweifel einer der bedeutendsten Standards der Jazzgeschichte. Eine Beschäftigung mit diesem Titel beinhaltet dabei immer zwei Referenzpunkte: zum einen die Interpretation der Komposition von Johnny Green, zum zweiten die bewusste oder unbewusste Bezugnahme auf die legendäre Aufnahme von Coleman Hawkins aus dem Jahr 1939. José Antonio Bowen setzt sich in seinem Beitrag ganz allgemein mit der Aufnahmegeschichte des Titels auseinander und untersucht Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den vielen verschiedenen Versionen, instrumentalen genauso wie vokalen Interpretationen. Martin Pfleiderer analysiert das Stück als Meisterprüfung für Tenorsaxophonisten und betrachtet eingehender die Aufnahmen von Hawkins, Chu Berry, Lester Young, Ben Webster, Don Byas, Stan Getz und John Coltrane, wobei ihn neben der melodischen und harmonischen Interpretation vor allem auch die persönliche Soundgestalt der Tenoristen interessiert – und so finden sich in seinem Beitrag neben Transkriptionen auch Spektogramme, die etwa Websters luft-gefüllten Ton beleuchten helfen. Cynthia Folio und Alexander Brinkman hören sich Dexter Gordons Aufnahme des Standards von 1978 an und analysieren ihn in Hinblick auf motivische Bausteine, Beispiele von Polyrhythmik, Gordons ausführliche Schlusskadenz sowie seine immer wieder eingestreuten Zitate. John Gunther betrachtet drei jüngere Interpretationen des Stücks von Bill Frisell, Cassandra Wilson und Keith Jarrett. Olivier Senn schließlich hört sich Thelonious Monks Version vom Oktober 1962 an und untersucht in seiner Analyse den Abstraktionsgrad und die Abstraktionsmethoden, die Monk anwendet, um das Stück quasi musikalisch-analytisch auseinanderzunehmen und wiederzusammenzusetzen. Alle Beiträge entstanden als Referate zweier Symposien während einer Tagung, die 2009 in Luzern abgehalten wurde. Sie präsentieren eine musikwissenschaftliche Auseinandersetzung damit, wie man mit dem Mittel der Analyse auch improvisierter Musik nahekommen kann und bieten dank des vergleichbaren Themas tatsächlich unterschiedliche Perspektiven. Das Buch ist in englischer Sprache gehalten, im Anhang findet sich neben den Biographien der Autoren auch ein Namensindex der im Text erwähnten Personen. Wolfram Knauer (Februar 2012)
The Poconos In B Flat. The Incredible Jazz Legacy of the Pocono Mountains of Pennsylvania von Debbie Burke East Stroudsburg 2011 (Xlibris) 117 Seiten, 19,99 US-Dollar ISBN: 978-1-46913-459-8 Ein Buch über die unglaubliche Jazzszene der holsteinischen Schweiz? So in etwa kam es dem Rezensenten vor, als er Debbie Burkes Buch über die Jazzszene der Ponono Mountains in Pennsylvania auf den Schreibtisch erhielt. Die Poconos sind eine Urlaubs- und Freizeitregion im Nordosten Pennsylvanias, etwa anderthalb Autostunden von Manhattan entfernt. Eine größere Universität in East Stroudsburg ist in der Nähe, und ein Jazz Festival findet jährlich am Delaware Water Gap statt, der Wasserscheide in der bergigen Region. Ein paar namhafte Musiker haben sich hier niedergelassen, allen voran der Altsaxophonist Phil Woods, der seit kurz nach seiner Rückkehr aus Europa im Jahr 1972 hier lebt, der Pianist und Sänger Bob Dorough, der bereits seit den 1960er Jahren ein Haus in der Region besitzt, und der Sopransaxophonist David Liebman, der in die Poconas zog, weil sie nahe an New York waren und doch abgeschieden genug, um Rückzugsmöglichkeiten zu bieten. Neben ihnen befragt Burke aber auch Musiker wie den Pianisten John Coates, der eine Art Identifikationsfigur für die regionale Szene darstellt, den Schlagzeuger Bill Goodwin und den Pianisten Dave Frishberg. Der Bandleader und Arrangeur Fred Waring ist einer der wenigen nicht mehr lebenden Personen, die in ihrem Buch beleuchtet werden; ansonsten portraitiert sie auch außerhalb der Region eher weniger bekannte Künstler wie den Pianisten Bobby Avey, den Trompeter Danny Cahn, den Dirigenten Ralph Harrison, den Saxophonisten Bob Keller, den Bassisten Davey Lantz, die Saxophonistin Jay Rattman und andere. Die Kapitel sind kurzweilig geschriebene persönliche Schlaglichter, alphabetisch nach Künstlern sortiert, aber alles andere als enzyklopädische Artikel mit Daten und Fakten über die Karrieren der Beschriebenen. Meist geht es stattdessen um Einflüsse, um ästhetische Grundhaltungen, um die Entscheidung, in die Poconos zu ziehen und um die kreative Kraft, die die Gegend den Musikern gibt. Und irgendwie ahnt man am Ende des Buches, dass an alledem wohl etwas dran sein mag, dass die Ruhe und Friedlichkeit einer Landschaft den künstlerischen Ausdruck beeinflussen, verstärken, fokussieren kann. Wolfram Knauer (Februar 2012) A book about the incredible jazz scene of the Holsteinische Schweiz [a hilly region in Northern Germany]? Something like this went through the mind of the reviewer when he leafed through Debbie Burke’s book on the jazz scene of the Pocono Mountains. The Poconos are a holiday and leisure region in northeastern Pennsylvania, about a half hour drive from Manhattan. A major university is near in East Stroudsburg, and a jazz festival takes place annually at the Delaware Water Gap, the watershed in the mountainous region. A few well-known musicians have settled here, first and foremost the alto saxophonist Phil Woods, who has been living here since shortly after his return from Europe in 1972, the pianist and vocalist Bob Dorough, who owns a house in the region since the 1960s, and the soprano saxophonist David Liebman, who moved to the Poconos because they were close to New York and yet secluded enough to offer refuge. Apart from these Burke interviewed other musicians such as the pianist John Coates, who serves as a role model for the local scene, the drummer Bill Goodwin and the pianist Dave Frishberg. The bandleader and arranger Fred Waring is one of the few musicians in her book who is no longer alive; other artists she mentions are far less well-known outside the region, among them the pianist Bobby Avey, the trumpeter Danny Cahn, the conductor Ralph Harrison, the saxophonist Bob Keller, the bassist Davey Lantz, the saxophonist Jay Rattman and others. The chapters provide very personal spotlights written in an entertaining style, sorted alphabetically by artist, yet not providing too encyclopedic information about the careers of the described. She talks about influences, basic aesthetic attitudes, about why they decided to move to the Poconos and about the creative force the area provides to the musicians. And somehow at the end of the book one suspects that there may well be some truth to all of this, that the peace and tranquility of a landscape can affect, amplify and focus artistic expression. Wolfram Knauer (Februar 2012)
Wycliffe Gordon. Sing It First. Wycliffe Gordon’s Unique Approach to Trombone Playing Herausgegeben von Alan Raph Delevan/NY 2011 (Kendor Music) 38 Seiten, 17,95 US-Dollar Wycliffe Gordon ist einer der jüngeren Traditionalisten des Jazz. Er spielte in der Band von Wynton Marsalis, im Lincoln Center Jazz Orchestra und hat sich auch mit seinen eigenen Projekten den virtuos gespielten swingenden Jazz verschrieben. In diesem Heft, einer Art Schule für Posaunisten, gibt er einige Tipps weiter, die dem Posaunisten ermöglichen sollen auf seinem Instrument wie mit eigener Stimme zu spielen. Gordons Hauptregel wurde zum Titel des Büchleins: „Sing it first!“ – Sing es erstmal, bevor Du es spielst! Und so gehöre jetzt zu seinen täglichen Übungen auch das Singen von allen möglichen Etüden. Das Buch wendet sich dabei an Musiker auf einem mittleren bis fortgeschrittenen Level. Ein erstes Kapitel rekapituliert Grundlagen des Akkordaufbaus. Gleich als nächstes geht’s ans Singen. „Man braucht keine gute Stimme um zu singen. Versuch die Tonhöhe genau zu treffen und arbeite später an der Artikulation.“ Es kommt ein Kapitel über „Basics“ auf der Posaune, dann Tipps und ein paar Übungen zum Aufwärmen, zum Finden eines Lehrers, zu Stil, Ansatz, Artikulation, Schnelligkeit, Ausdauer, hohen Noten, absolutem oder relativem Gehör, Rhythmik, dem Plunger. Die meisten der Tipps eignen sich vor allem für Posaunisten, wenn auch Gordons Grundregel eigentlich für jeden Musiker gelten sollte: Wenn Du es singen kannst, kannst Du es auch spielen! Wolfram Knauer (Februar 2012)
theoral no. 3 / Paul Lovens herausgegeben von Philipp Schmickl Nickelsdorf, November 2011 72 Seiten direkt zu beziehen über www.theoral.org „theoral“ ist eine Heftreihe herausgegeben von Philipp Schmickl (Texte) und Karin Weinhandl (Grafik), in der Künstler aus dem Bereich der improvisierten kreativen Musik zu Worte kommen. Der Name der Reihe leitet sich von „oral history“ ab, Schmickl ist vor allem Stichwortgeber und lässt sein Gegenüber reden. Heft Nr. 3 widmet sich dem Schlagzeuger Paul Lovens, der ausführlich von seinen Einflüssen und seiner musikalischen Ästhetik berichtet. Schmickl ediert möglichst wenig, lässt Lovens reden, abschweifen, zurückkommen zum Thema. Lovens erzählt aus Aachen, von seiner frühen Faszination mit dem Jazz, Dixielandsozialisation und davon, wie er mit 17 oder 18 Jahren einen Set lang bei Dexter Gordon eingestiegen sei, „eine Lektion in timing“. Er erzählt offen, etwa davon, dass ein Konzert für ihn eigentlich beginnt, wenn er sich den Termin in den Kalender notiert, oder davon, dass man als Musiker gut daran tut, andere nicht zu beneiden. Er erzählt von seiner Wohnung in Aachen, in der sich Schallplatten und Bücher stapelten: „Es gibt Wege, die man nutzen kann, mit o einer Wendemöglichkeit, aber viele der Wege sind nur rückwärts wieder zu gehen, auf zentrale Punkte wie Küchenherd, Toilette, Fernsehsessel, Bett, dazwischen gibt’s Pfade.“ Die Wohnung als Hirn, der Kopf als Archiv. Schlippenbach, Evan Parker, und wieder zurück nach Aachen, in den Jazzclub, für den er einen Schlüssel besaß. Eine Biographie aus Zufällen, „Es lief alles so, nicht viel drüber nachgedacht“… Jazzkurse Remscheid, Manfred Schoof lädt ihn ein in sein Quintett zu kommen, wo er Schlippenbach kennenlernte… Lovens philosophiert darüber, ob es unter Musikern Freundschaften geben könne oder vor allem Kollegialität; er erzählt davon, wie er mit dem Tod von Kollegen umgeht, Buschi Niebergall, Peter Kowald. Eine verrückte US-Tournee mit Eugene Chadbourne ist Thema genauso wie seine Zusammenarbeit mit Cecil Taylor oder „die drei Bassisten“, nämlich Niebergall, Maarten van Regteren Altena und Kowald, und immer wieder Brötzmann und Steve Lacy. Lovens redet übers Musikhören, darüber, wie er musikalische Entscheidungen träfe beim Spielen, über Lieblingsräume zum Musikhören und Lieblingsräume zum Spielen. Das alles liest sich nach nur wenigen Sätzen so, als würde Paul Lovens vor einem sitzen, die Augen aufblitzend bei Erinnerungen oder bei neuen Ideen, die er sich gleich in ein Notizbuch schreibt, ein wenig melancholisch, wenn er an alte Zeiten denkt, den Schalk durchaus im Nacken, die Selbstbetrachtung mit genügend Ironie, um über die Vergangenheit genauso lachen zu können wie über seine Gegenwart. Man liest sich fest, und dann ist’s schon ausgelesen, das kleine Büchlein, das doch so viel an Stoff fürs Nachdenken liefert und zugleich die Musizierfreude weitergibt, die man Paul Lovens auch auf der Bühne immer anmerkt, ein authentisches Portrait eines mehr als authentischen Musikers. Wolfram Knauer (Februar 2012)
L’art du jazz herausgegeben von Francis Hofstein Paris 2011 (éditions du Félin) 445 Seiten, 45 Euro ISBN: 978-2-86645-762-4 Kunst und Jazz – die Thematik der gegenseitigen Befruchtung, nun ja, vor allem des eindimensionalen Einflusses von der Musik auf die Bildende Kunst, ist in den letzten Jahren, beflügelt durch einige große Ausstellungen, von vielen Seiten betrachtet worden. Francis Hofstein hat mit dem von ihm herausgegebenen Buch L’art du jazz der Lektüre ein dickes, wunderbar bebildertes Opus hinzugefügt. Neben allgemeinen Artikeln über Jazz und Bildende Kunst oder das Image des Jazz als Vehikel der Werbung finden sich darin auch Gedichte oder Erinnerungen an Literaten und Musiker. Es sei ihm um die Interdisziplinarität des Jazz gegangen, erklärt Hofstein in seinem kurzen Vorwort, um das Verhältnis, das der Jazz immer wieder mit seiner Umgebung eingeht, der realen genauso wie der artifiziellen. Zu den Autoren der 40 Beiträge zählen Kritiker wie John McDonough (mit einem Artikel über Jazzmusiker als Werbeträger), Jean Szlamowicz (über die Anziehungskraft des Begriffs Jazz auf Käufer und Vermarkter) oder Greg Tate (über den afro-amerikanischen Maler Thornton Dial und seine Einflüsse aus dem Jazz), Musiker wie Barry Guy und Leo Smith (jeweils sehr lesenswert über ihre graphischen Partituren), Ellery Eskelin, Andrea Parkins und Jim Black (über Stimme und Bewegung), Nasheet Waits, Chad Taylor, Mike Reed, Gerald Cleaver und Tyshawn Sorey (über das Schlagzeug) und viele andere Autoren, die eine vom Herausgeber offenbar bewusst geförderte Vielfalt an Ansätzen vertreten, wie sich Jazz und andere Künste verbinden. Bebildert ist das alles mit Ausrissen aus Zeitschriften, Plakaten und Plattencovers, aber auch mit den Abbildungen von kleinen Jazz-Figurinen aus der Sammlung Hofsteins. Hofsteins Ansatz versammelt die Texte dabei wie eine Art Improvisation über ein Thema, bei dem jedes Solo etwas zu sagen hat, und man doch vom nächsten total überrascht wird. Das ist ein kurzweiliges Vergnügen, bei dem man jenes Thema mal besser erkennt, mal ein wenig suchen muss. Da widmet sich Clare Moss etwa der „schwarzen amerikanischen Stimme“ als Klangideal; da betrachtet Alan Govenar J.J. Phillips Roman „Mojo Hand“ von 1966, der durch die Begegnung des Autors mit dem Bluesmusiker Lightnin‘ Hopkins geprägt war; da swingen Gedichte von Langston Hughes (in französischer Übersetzung); da stellt Hofstein selbst den Plattencover-Designer Jack Lonshein und die von ihm entworfenen Albumtitel vor; da widmet sich Bruce Dick dem Schriftsteller Richard Wright und der Tradition des Blues; da schreibt Saxophonist Nathan Davis über das Leben als exilamerikanischer Jazzmusiker im Paris der 1960er Jahre; da schaut Sonia Dellong sich Disney-Filme an, in denen Jazz eine wichtige Rolle spielt und fragt nach dem Image, die hier übergebracht wurde. Das Buch eignet sich zum Blättern und Sich-Fest-Lesen, es ist zugleich ein schönes Bilderbuch, dessen einziges Manko vielleicht ist, dass man sich Erklärungen der vielen Porzellanfigurinen und sonstigen jazzbezogenen Abbildungen wünschte, die übrigens nicht immer mit dem Inhalt der ihnen zugeordneten Artikel korrespondieren. Kurze Biographien der Autoren und ein Register stünden dem Buch ebenfalls gut zu Gesicht – ansonsten aber vermittelt die Lektüre die Freude am Spielen, die den Jazz doch eigentlich ausmacht. Chapeau! Wolfram Knauer (Januar 2012)
Kunst als Brücke zwischen den Kulturen. Afro-amerikanische Musik im Licht der schwarzen Bürgerrechtsbewegung von Jürg Martin Meili Bielefeld 2011 (transcript) 316 Seiten, 32,80 Euro ISBN: 978-3-8376-1732-0 Nicht erst in den letzten Jahren wird Kunst als Brücke zwischen Kulturen im Zeitalter der Globalisierung erkannt. Schon immer waren Kunst und Kultur eine Möglichkeit, kulturelle Spannungen zu überbrücken. Jürg Martin Meilis Studie, die aus einer Dissertation an der Universität Zürich entstanden ist, betrachtet diesen Prozess der Brückenbildung aus unterschiedlichen Sichtweisen. Den Fokus seiner Untersuchung richtet er dabei auf afro-amerikanische Musik zwischen Spiritual und HipHop. Er beginnt mit Herkunft und Entwicklung der afro-amerikanischen Musik und schließt ein Kapitel über die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre an. Im dritten Kapitel interpretiert er ausgewählte Liedtexte im Kontext der afro-amerikanischen Erfahrung, beschreibt im vierten Kapitel die Rolle des Musikers als sozialer und politischer Mittler und vergleicht in Kapitel 5 den HipHop in seiner Funktion mit den „slave narratives“ des 19sten Jahrhunderts. Etwas abrupt muss der Leser gleich darauf von Tupac Shakur zu Platon springen, wird quasi vom HipHop in die Antike gestürzt, für die der Autor sich Gedanken über die Bedeutung der Kunst macht, um abschließend – und damit auch wieder auf das afro-amerikanische Kernthema seines Buchs eingehend – auf Identität und Solidarität stiftende Aspekte von Kunst hinzuweisen. Meili findet bei alledem nichts wirklich Neues heraus; seine Verweise auf Sekundärliteratur zu afro-amerikanischer Musik lassen Lücken erkennen, zumal im bereich der jüngsten Literatur, die sich im Jazzbereich den von ihm beschriebenen Phänomenen bereits durchaus theoriekritisch angenommen hat. Vor allem aber kommt eines zu kurz: nämlich der Bezug auf die Musik selbst. Meilis Ansatz ist ein rein historischer oder textkritischer, der aber die Musik als … nunja, als Musik eben, fast vollständig außer Acht lässt. Doch erst, wenn man definiert, welche Funktion Musik als Musik besitzt, kann man auch ihre anderen Funktionen sinnvoll untersuchen. Wolfram Knauer (Januar 2012)
Thema Nr. 1. Sex und populäre Musik herausgegeben von Dietrich Helms & Thomas Phleps Bielefeld 2011 (transcript) 231 Seiten, 21,80 Euro ISBN: 978-3-8376-1571-5 Bei der 20sten Arbeitstagung des Arbeitskreises Studium populärer Musik (ASPM) ging es 2009 in Halle um … Sex! Die zwölf Autoren der vorliegenden Tagungsdokumentation beleuchten dieses Thema von recht unterschiedlichen Seiten. Es geht um allgemeine Überlegungen zum Thema „Erotik und Musik „(Dietrich Helms), um sexualisierte Metaphorik in Vorkriegs-Bluestexten (Thomas Phleps), um Männerbilder im Heavy Metal (Dietmar Elflein), oder über Ideen von Weiblichkeit bei Madonna, der Riot Grrrl-Bewegung und Lady Ray Bitch (Erika Funk-Hennigs). Corinna Jean Timmermann hat Frankfurter DJanes befragt; Hans-Joachim Erwe reflektiert über „Je t’aime“ und andere Stöhnsongs; und Paul Carr untersucht die Rolle des Sex in Frank Zappas Musik. Merle Mulder sowie Martin Pfleiderer blicken auf die Repräsentation oder Anfeindung von Schwulen im popkulturellen Umfeld und konkret in Poptexten. Thomas Burkhalter blickt auf die auf die sich wandelnde Frauenrolle in der arabischen Welt vor dem Hintergrund ihrer Präsenz in der Popkultur. Michael Ahlers und Christoph Jacke schließlich haben sich unters Volk gemischt und gefragt: Was hört ihr, wenn…? Der Jazz kommt in all diesen Themen eher am Rande vor. Die bunte Sicht auf Musik als Soundtrack erotischer Aktivität bzw. als selbst einflussnehmender Partner bei intimster Zweisamkeit allerdings macht neugierig, welche Wirkung wohl der Jazz hätte. Oder ist Jazz eher das romantische Vorspielt? Wolfram Knauer (Januar 2012)
Instant Composers Pool Orchestra. You have to see it von Ton Mijs (Fotos) & Kevin Whitehead (Text) Rotterdam 2011 (Mijs Cartografie & Vormgeving) 64 Seiten, 15 Euro ISBN: 978-908-1686211 (www.tonmijs.nl) Nein, man muss es auch gehört haben! Aber eben auch gesehen… Der Jazz ist und bleibt Livemusik, und das holländische Instant Composers Pool Orchestra um Misha Mengelberg und Han Bennink ist ein Ensemble, das man besser im Konzert erlebt haben sollte, um zu wissen, welche Spannung aus den Gegensätzen zwischen Ordnung und Chaos in seiner Musik möglich ist. Der Fotograf Ton Mijs und der in Amsterdam lebende amerikanische Journalist haben mit diesem Büchlein dem ICP eine Liebeserklärung gemacht, die den so gar nicht musikorientierten Untertitel des Buchs erklärt und rechtfertigt. Es sind seltsam erklärende Bilder dabei: Etwa das Trommelfell auf dem Boden (oder ist es ein weißes Tablett?) mit einem Kamm darauf, während daneben, sorgfältig aufgereiht diverse Besen liegen. Oder Misha Mengelberg im Gespräch mit Tristan Honsinger und Ernst Glerum, die ihn ein wenig ungläubig anschauen, während Han Bennink sein Becken festschraubt. Mijs Fotos begleiten die Band bei einem Konzert im Amsterdamer Bimhuis im September 2009. Er fängt ein, wie sich Michael Moore einspielt, wie Honsinger sein Cello auspackt, wie Thomas Heberer die Noten sortiert, Pfeife und Feuerzeug quer zu den Stöcken auf der Tom liegen (Hennink scheint in Bildern zu leben), Mengelbergs Plastiktüte, ein Becher Kaffee und Chips auf dem Flügel, ein Soundcheck, der zugleich neue Absprachen enthält, aber irgendwie auch Ablenkung, auf dass bloß nicht alles ganz sicher läuft am Abend. Die Bühne ist leer, das Publikum da. Ansage und kurzes Gespräch mit Mengelberg. Bennink trommelt auf dem Boden, die Band spielt, hört zu, spielt weiter, lässt sich von Honsinger dirigieren, Conduction, Solo, Alle, Verbeugung, Schluss. Eine leere Bühne, ein paar Notenblätter liegen auf dem Boden, leere Stühle, der Flügel zugeklappt. Man ahnt, was da geschah an diesem Abend, und dann meint man doch, dass das Sehen nicht ausreicht: Man muss es schon hören. Aber wenn man es gehört hat, dann ist das Sehen zusätzlicher Gewinn. Ein wunderbares Fotobuch, dem der Text von Kevin Whitehead den Inhalt beigibt, eine einfühlsame Beschreibung des Konzerts. Und tatsächlich schaue ich auf die Rückseite des Buchs, ob nicht doch noch eine CD beiheftet. Leider nicht. Also sollte ich möglichst bald das ICP live hören. Oder mir eine CD aus dem Regal suchen… Wolfram Knauer (Januar 2012)
Respekt! Die Geschichte der Fire Music von Christian Broecking
Berlin 2011 (Verbrecher Verlag)
475 Seiten,
18 Euro
ISBN: 978-3-940426-67-3
Kaum jemand kennt die amerikanische Jazzszene der letzten dreißig, vierzig Jahren so gut wie Christian Broecking, der mit vielen der Protagonisten insbesondere des afro-amerikanischen Jazz gesprochen und sie in Interviews für Tageszeitungen und Fachzeitschriften portraitiert hat.
Der neue, fast 500 Seiten starke Wälzer enthält drei bereits früher beim selben Verlag erschienene Bücher mit Aktualisierungen in den Kommentaren zu den Interviews: „Respekt!“ von 2004, „Black Codes“ von 2005 sowie „Jeder Ton eine Rettungsstation“ von 2007.
Die Interviews, die letzten Endes (in nicht edierter Form) auch Basis von Broeckings jüngst erschienener Dissertation zum Selbstverständnis des afro-amerikanischen Jazz der letzten 20 Jahre ist, beleuchten ganz subjektiv die Sicht der Protagonisten zum Umfeld in den USA, zu gesellschaftlichen und ästhetischen Entwicklungen, zu Freiheit oder Tradition, zur politischen Verantwortung von Künstlern und vielem mehr.
Es sind gerade in der Sammlung wichtige Versatzstücke für das Verständnis einer Szene, die vom Wandel geprägt und doch der Tradition verpflichtet ist. Broecking ist in diesen Interviews zurückhaltender Chronist, neugierig und nachhakend, wobei sich Themen wie Politik, Verantwortung, Tradition oder Rassismus wie rote Fäden durch die Gespräche ziehen.
Alles in allem: Kurzweilig, lesenswert und in der klugen Weitsicht vieler der Gesprächspartner eine durchaus optimistische Fundgrube für jeden, der Angst um die Zukunft des Jazz hat.
Wolfram Knauer (Dezember 2011)
10 Jahre unerhört!. Zum Jubiläum des Zürcher unerhört!-Festivals
herausgegeben von Michael Stötzel
Zürich 2011 (Verein unerhört!)
122 Seiten
Das unerhört!-Festival in Zürich fand 2011 zum zehnten Mal statt, und die vorliegende Publikation würdigt die unterschiedlichen Seiten der Veranstaltung: Programmgestaltung, Einbeziehung der regionalen wie internationalen Szene, Veranstaltungsorganisation, Werbung und grafische Gestaltung der Werbemittel, Partner wie Club, Altenheim oder Museum, Kontakte zur Jazzausbildung im Land, aber auch Finanzierung und Catering für die auftretenden Musiker.
Das Ganze ist ein begeistertes und doch auch ehrliches Feiern, bei dem vor allem die Macher selbst von ihrer Arbeit berichten, quasi einen Blick in die Werkstatt der Festivalgestalter erlauben, in ihre Zweifel, in den Umgang mit Problemen, aber eben auch in die Freude über den Erfolg und die Ermutigung zum Risiko.
Es ist eine Festschrift, jubiläums-würdig und Lust machend auf mehr. Und ein wenig ermutigt es gerade in den Zeiten schwerer Finanzen, wie das gemeinsame Wollen aus einer klein-budgetierten Avantgarde-Veranstaltung ein kaum mehr aus der Landschaft der europäischen Festivals wegzudenkendes Event werden ließ, das durch Programmierung und Ermutigung der Musiker und ihrer Projekte schließlich selbst Einfluss auf die Entwicklung der präsentierten Musik genommen hat. Zum Schluss gibt es etliche Farbaufnahmen der Fotografin Francesca Pfeffer von Konzerten des Festivals, die allerdings vor allem die Bühnensituation, kaum die Atmosphäre der Veranstaltung dokumentiert.
Auch wir gratulieren jedenfalls: Bleibt weiter unerhört!
Wolfram Knauer (Dezember 2011)
Der Marsalis-Komplex. Studien zur gesellschaftlichen Relevanz des afroamerikanischen Jazz zwischen 1992 und 2007
Christian Broecking
Berlin 2011 (Broecking Verlag)
216 Seiten, 49,90 Euro
ISBN: 978-3-938763-32-2
Christian Broecking ist vielleicht der profundeste Kenner der gegenwärtigen afro-amerikanischen Jazzszene und ihrer ästhetischen Diskurse. Sein 1995 erschienenes Buch „Der Marsalis-Faktor“ beschäftigte sich recht früh mit dem Phänomen des New Orleanser Trompeters Wynton Marsalis und seiner ästhetischen Entourage von Musikern, Kritikern und afro-amerikanischen Kulturphilosophen. Seither sammelte Broecking in seiner täglichen Arbeit weitere Zeugnisse über die Entwicklung eines afro-amerikanischen Bewusstseins für ästhetische Entwicklungen und fasste immer wieder die Erkenntnisse seiner journalistischen Feldforschung in Aufsätzen und Aufsatzsammlungen zusammen. Für seine musikwissenschaftliche Dissertation an der Technischen Universität Berlin hat Broecking seine eigenen jahrelangen Recherchen jetzt zur Grundlage einer systematischen Inhaltsanalyse gemacht und in einen größeren amerikanischen Ästhetikdiskurs eingeordnet.
Im „Marsalis-Komplex“ geht es um „die Auseinandersetzung um die politische Relevanz, den gesellschaftlichen Nutzen und eine Re-Definition des (afro)amerikanischen Jazz“, die sich vor allem an der musikalischen Haltung von Wynton Marsalis festmachte. In einem ersten Kapitel zeichnet Broecking dabei die „Geschichte der Diskurse“ nach, verweist auf die Prägung vieler Musiker durch den soziokulturellen Wandel der Bürgerrechtsbewegung und die im Jahrzehnt darauf eintretende Frustration durch die Realität. Er konstatiert eine Tendenz afro-amerikanischer Musiker, „mangelnde Anerkennung im eigenen Land durch den Bezug zur schwarzen Herkunftskultur zu kompensieren“.
Sein zweites Kapitel portraitiert die Interviewpartner und ihre jeweilige ästhetische Position. Es handelt sich dabei um Musiker und Theoretiker/Schriftsteller, konkret um: Albert Murray, Bill Dixon, Ornette Coleman, Betty Carter, Amiri Baraka, Eddie Harris, Archie Shepp, Lester Bowie, Stanley Crouch, David Murray, Steve Coleman, Don Byron, Greg Osby, Branford Marsalis, Wynton Marsalis and Terence Blanchard. Broecking weist in diesen Kurzportraits auch auf die Interviewsituation hin, Ort, Zeit und Stimmung während des Interviews.
Im dritten Kapitel skizziert Broecking sein methodisches Vorgehen, bevor er im vierten Kapitel zur Inhaltsanalyse kommt. Hierfür identifiziert er Themenbereiche wie „Marktzugang“, „Gesellschaftlicher Kontext“, „Identität“, „Rezeption“, „Spannungsfelder“, „Politische Intention“, „Transkulturalität“ und hinterfragt diese Komplexe mithilfe von Zitaten aus seinen Interviews. Ein Ergebnis dieser Analyse ist dabei, dass „die Befragten in ihren Äußerungen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen ein heterogenes Meinungsgefüge“ vermitteln, „das nicht mit der Rezeption einer als homogen empfundenen schwarzen Kultur korreliert“.
In einem Schlusskapitel überprüft Broecking die Aussagen aus den Interviews, die er zumeist in den 1990er Jahren geführt hatte, anhand der Entwicklungen seither, konzentriert sich dabei auf die Auswirkungen der gesellschaftlichen Akzeptanz eines Konzerthauses wie Jazz at Lincoln Center, auf Veränderungen der schwarzen Perspektive, auf politische Optionen der Musiker, die sich aus dem Kreis der Young Lions rekrutieren, auf den Themenkomplex Ästhetik und Kommerz, auf die sozialen und politischen Auswirkungen von Katrina und die mangelhaften Bewältigung der Folgen des Hurricane durch die amerikanische Regierung, sowie auf Veränderungen der Wahrnehmung afro-amerikanischer Musik in Europa, ausgelöst durch europäische Widerstände gegen die amerikanische Politik der letzten zwei Jahrzehnte.
Alles in allem zeichnet Christian Broecking ein überaus spannendes Bild des ästhetischen Diskurses im afro-amerikanischen Jazz der 1990er bis 2010er Jahre, einer Zeit, die politisch ja durchaus turbulent war, überschattet von zwei Irakkriegen, 9/11, Katrina und anderen Verunsicherungen des sozialen und gesellschaftlichen Gefüges in den USA. Er betrachtet die Sichtweise afro-amerikanischer Musiker ein wenig wie ein Außenseiter, nüchtern-analytisch aus ihren eigenen Argumenten heraus erklärend statt richtig stellend, und er vermag damit vielleicht gerade die Missverständnisse deutlich zu machen, die auf allen Seiten zu Lagerbildungen führten, welche die Positionen nach außen viel einheitlicher wirken lassen als sie es tatsächlich sind. Zugleich zeigt er, wie Quellenmaterial, sprich Interviews, systematisch und quellenkritisch genutzt werden können, um aktuelle Diskurse nachzuzeichnen. Viele der von ihm geführten Interviews sind anderswo nachzulesen – allerdings nur in edierter, nicht der original transkribierten Form. Hinzuweisen wäre übrigens beispielsweise auf Broeckings fast zeitlich mit dieser Dissertation erschienenes Buch „Respekt! Die Geschichte der Fire Music“ (Verbrecher Verlag, Berlin 2011).
Wolfram Knauer (November 2011)
Norman Granz. The Man Who Used Jazz for Justice
Von Tad Herschorn
Berkeley 2011 (University of California Press)
470 Seiten, 34,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-520-26782-4
Er gehört zu den Nichtmusikern, die Jazzgeschichte geschrieben haben: der Impresario, Plattenfirmengründer und -boss Norman Granz. Nicht nur haben ihm viele Musiker wenigstens einen Teil ihrer Karriere zu verdanken; er hat Europa in den 1950er Jahren mit Jazz überschwemmt, und er hat quasi mitgeholfen einen eigenen Stil zu kreieren: jenen swing-orientierten intim besetzten Mainstream-Jazz der 1950er Jahre, in dem die (von ihm ebenfalls begründeten) Jazz-at-the-Philharmonic-Orgien ruhigere Ergebnisse einfuhren. Die Namen der Stars schmücken seinen Weg: Ella und Oscar (Peterson schrieb auch das Vorwort zum Buch), Prez und Lady Day, Basie und Ellington, Bird und King Cole … und sie alle haben ihren Platz in einer neuen Biographie, vorgelegt von Tad Hershorn, seines Zeichens einer der Mitarbeiter des Institute of Jazz Studies an der Rutgers University und somit an der Quelle jeder Menge Archivmaterials zur Jazzgeschichte.
Hershorn beginnt sein Buch mit der Anekdote, wie Granz und die Musiker seiner JATP-Tournee 1947 in Jackson, Michigan, an einem leeren Restaurant anhielten, dessen Besitzer sich weigerte die Musiker wegen ihrer Hautfarbe zu bedienen. Sie saßen dann drei Stunden hungrig lang am Tresen des Restaurants und begannen ihr Konzert entsprechend eine Stunde zu spät. Granz stellte sicher, das Konzert wie immer mit der amerikanischen Nationalhymne beginnen zu lassen, ging dann ans Mikrophon, erklärte die Verspätung und nannte auch den Namen des Restaurants. Nach dem Konzert rief er seine Anwälte an und ließ den Besitzer verklagen.
Diese Geschichte ist es, die Tad Hershorn erzählen will: die Geschichte eines jüdischen Sohns russischer Immigranten, der sich alles selbst beigebracht hatte: die Geschäftstüchtigkeit genauso wie den Sinn für die schönen Dinge des Lebens. Als er 21 Jahre alt war, erzählt Granz, hörte er Coleman Hawkins‘ Aufnahme von „Body and Soul“ und war gefangen. Er ging in die Clubs von Los Angeles, reiste nach New York und besuchte Minton’s und die anderen Spielorte in Harlem, in denen er nicht nur authentischen Jazz hörte, sondern auch die Entwicklungen mitbekam, die in jenen Jahren den Bebop entstehen ließen, freundete sich mit Musikern wie Roy Eldridge oder Billie Holiday an und hatte wohl auch eine schwarze Freundin.
Hershorn erzählt, wie Granz 1944 das erste Jazz at the Philharmonic-Konzert organisierte, nachdem er zuvor bereits Jam Sessions veranstaltet hatte. Es war ein Benefizkonzert zur Unterstützung der Verteidigung in einem Jugendgerichtsfall, der damals Los Angeles aufwühlte und für den auch bekannte Schauspieler sich mit ihrem Namen einsetzten. Das Konzert fand im Philharmonic Auditorium statt, und der Name blieb, später abgekürzt zu JATP, Markenzeichen und stilistische Beschreibung in einem. Der Armed Forces Radio Service durfte das Programm mitschneiden und gab ihm im Gegenzug die Masterbänder. Die begeisterten Granz so sehr, dass er sich entschloss, sie auf Platte herauszubringen – die ersten kommerziell veröffentlichen Live-Mitschnitte.
In den folgenden Jahren wurde JATP zum großen Publikumserfolg: ein ganz neues Genre der Jazzpräsentation, nicht zum Tanz, sondern zum Hören und Miterleben von virtuosen instrumentalen Wettstreiten. Das gefiel nicht jedem, aber für die Beteiligten – die Musiker genauso wie für Granz – war es ein gutes Geschäft. Nebenher produzierte er mit Gijon Mili den Kurzfilm „Jammin‘ the Blues“, engagierte sich für Bürgerrechte, indem er die NAACP unterstützte, und gründete sein erstes Jazzlabel, Clef Records. Hershon erzählt von den Problemen, die granz mit Veranstaltern hatte, die weder die Ästhetik der JATP-Gruppen verstanden (viel Soli, wenig Arrangements) noch sich mit seinen Integrationsbemühungen abfinden konnten. Als er Ende der 40er Jahre Ella Fitzgerald und Oscar Peterson in seine Tourgruppe aufnahm, erhielt das Ensemble umso mehr an Popularität. 1951 brachte er JATP erstmals nach Europa. Er gründete ein zweites Label, Norgran, und schließlich jenes Label, das einem am ersten in den Sinn kommt, wenn man seinen Namen hört – auch weil es immer noch eine Marke ist: Verve. Granz’s große LP-Projekte in den 50er Jahren waren etwa Alben mit Fred Astaire, Solo- und Small-Group-Sessions mit Art Tatum, seine Charlie-Parker-Einspielungen mit Band, Orchester oder Streichern, die Songbooks von Ella Fitzgerald, Aufnahmen mit Billie Holiday und und und…
Hershorn listet all diese Aktivitäten auf und würzt sie mit Interviewausschnitten mit Musikern, Kollegen, Veranstaltern. So zitiert er beispielsweise aus unveröffentlichten Briefen, in denen Granz sich gegenüber dem New York Times-Kritiker John S. Wilson etwa über das unkollegiale Bühnenverhalten Frank Sinatras beklagt, der auf der Bühne rassistische Witze reiße und Ella und Basie in ihre eh viel zu kurz bemessenen Auftritte hineinregiere. Er beleuchtet Granz’s Verhältnis zu Journalisten, seine geschäftlichen Bandagen, die durchaus hart sein konnten, immer wieder sein vehementes Eintreten für Bürgerrechte, seine Freundschaft zu Pablo Picasso und seine Sammelleidenschaft für moderne Kunst. Eigentlich hatte Granz sich 1960 aus dem Plattengeschäft zurückgezogen. Als er 1973 ein JATP-Konzerte in Santa Monica mitschneiden ließ, interessierte sich die Polygram in Hamburg dafür und bot ihm an ihn zu unterstützen, wenn er ein neues Label gründen würde. Granz überlegte ein wenig, realisierte dann, dass seine legendären Aufnahmen mit Tatum aus den 1950er Jahren schon lange nicht mehr auf dem Markt waren, dass es eine Sünde sei, dass jemand wie Sarah Vaughan seit fünf Jahren nicht mehr ins Plattenstudio gegangen sei und entschied sich mit Pablo Records ein neues, nicht minder erfolgreiches und stilbildendes Label ins Leben zu rufen.
Bis zum Ende blieb Granz ein eigensinniger, in seinem Geschmack und seinen Qualitätsvorstellungen sehr klarer, politisch aktiver Mensch. Hershorns Buch erzählt diese Geschichte aus der Praxis des Musiklebens faktenreich und dennoch unterhaltsam und spannend zu lesen. Sorgfältig recherchiert ist „Norman Granz. The Man Who Used Jazz for Justice“ ein wunderbares Buch, durch das man einmal mehr versteht, dass es manchmal einfach eines starken Menschen bedarf, um Impulse zu setzen, um Träume wahr werden zu lassen, um aus Ideen Erfolge zu machen.
Wolfram Knauer (November 2011)
Let’s Play Jazz. Einführung ins Jazzspiel für Klavier. Spielstücke in verschiedenen Jazz-Stilen und Improvisationsanleitungen
von Andreas Hertel
Wien 2011 (Doblinger)
51 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 979-0-012-200314
Andreas Hertels versteht „Let’s Play Jazz“ als „Spielbuch für die Mittelstufe oder auch als Einstieg ins Leadsheet-Spiel und in die Improvisation“. Das Buch enthält 15 einfache Arrangements etwa über den Blues, Swingthemen, Rhythm-Changes, Balladen, über Bebop und ungerade Rhythmen bis Soul-Jazz und Bossa Nova. Jedem Arrangement folgen – auf Deutsch wie Englisch – Erläuterungen, Übungen und Improvisationstipps. Von einzelnen Stücken gibt es zusätzlich „vereinfachte“ Fassungen des Arrangements. Hertel gibt Hinweise auf harmonische, melodische und rhythmische Besonderheiten. Eine beiheftende CD gibt zusätzlich einen Klangeindruck des im Heft Enthaltenen.
Wolfram Knauer (November 2011)
Louis Armstrong’s Hot Five and Hot Seven Recordings
von Brian Harker
New York 2011 (Oxford University Press)
186 Seiten, 16,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-538840-4
Brian Harker promovierte 1997 mit einer musikwissenschaftlichen Arbeit über Louis Armstrongs frühe musikalische Entwicklung. Für die neue Reihe des Verlags Oxford University Press mit Monographien zu bedeutenden Aufnahmen oder Aufnahme-Bündeln hat Harker jetzt ein Buch über Louis Armstrongs Hot Five und Hot Seven vorgelegt, das zweifellos als analytisches Standardwerk zur Musik Armstrongs bezeichnet werden darf.
Harker geht es nicht darum, die in der Jazzgeschichtsschreibung fast schon tot getrampelten Komplimente des Trompeters als ersten großen Solisten, als Erfinder und Innovator zu wiederholen, sondern er sieht ihn zugleich als einen Verdichter jazz- und popmusikalischer Entwicklungen seiner Zeit. Die Auswahl der von ihm analysierten Stücke soll unterschiedliche Aspekte in Armstrongs Werk aufzeigen helfen. In „Cornet Chop Suey“ etwa stellt er die Virtuosität des Trompeters heraus und ordnet diese zugleich in Armstrongs Lebenswirklichkeit als auf Effekt achtender Bühnenkünstler ein. In „Big Butter and Egg Man“ konzentriert er sich auf Armstrongs Art der Melodiebildung, auf motivische Beziehungen der Phrasen, die sein Solo zusammenhalten. Im „Potato Head Blues“ zeigt er, wie Armstrong harmonie-basierte Soli angeht und über ihnen lange, zusammenhängende Linien erfindet. Der „S.O.L. Blues“ sowie der „Gully Low Blues“ zeigen Armstrong als Spezialisten für hohe Töne. Im „Savoy Blues“ steht der Blues im Vordergrund der analytischen Betrachtung, den Armstrong mit farbigen Harmonisierungen ausschmückte. Der „West End Blues“ schließlich ist die wohl klassischste aller klassischen Aufnahmen Satchmos, dessen Solo ein jeder Trompeter – und nicht nur Trompeter – über Jahrzehnte auswendig spielen konnten. Hier geht es Harker um die strukturelle Einheit, die Armstrong erreicht, obwohl er sich im Verlauf des Stücks einer ganzen Menge sehr unterschiedlicher stilistischer Vokabeln bedient.
Harker gelingt es in seinen Analysen, das Ohr des Lesers immer wieder auf konkrete klangliche Ereignisse zu lenken, innezuhalten und zu fragen, woher bestimmte musikalische Entscheidungen stammen, in welchem – auch kulturellen – Kontext sie zu hören sein könnten. Die musikalische Analyse und die Notenbeispiele, die Harker seinem Buch beifügt, sind dabei auch für den musikwissenschaftlichen Laien verdaubar, da der Autor immer klarmacht, wieso er sich ins Analysieren begibt und wie sich die Ergebnisse ins Gesamtbild seiner Argumentation einpassen.
Armstrong, schreibt Harker, war sich der Entwicklung des Jazz durchaus bewusst, nicht nur der Fähigkeit dieser Musik, Neues einzubeziehen, sondern auch der Notwendigkeit, die Stilistik dem Zeitgeist anzupassen. Wer auch immer die Hot Five- und Hot-Seven-Aufnahmen als „reinen Jazz“ verstünde, authentisch und kommerziell unverfälscht, der höre nicht genau hin – und genau auf diese Momente der Entwicklung und der Reaktion Armstrongs auf musikalische Zeitgeschichte und Markt weist Harker in seinem Buch hin. Armstrong selbst seien seine Hot-Five-Aufnahmen bei weitem nicht so wichtig gewesen wie andere, kommerziell populärere Projekte. Selbst in seiner Karriere in den 20er Jahren hätten diese Aufnahmen nur einen kleinen Teil seiner Arbeit ausgemacht. Dennoch bieten sie vielleicht gerade deswegen, weil sie nicht als „Meisterwerke“ angelegt waren, den Blick in die Werkstatt des Künstlers, in sein improvisatorisches Denken und sein ästhetisches Selbstverständnis.
Wolfram Knauer (Oktober 2011)
New Atlantis. Musicians Battle for the Survival of New Orleans
von John Swenson
New York 2011 (Oxford University Press)
284 Seiten, 27,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-975452-6
Als Ende August 2005 der Hurricane Katrina die Golfküste der Vereinigten Staaten erreichte, war dies eine der größten und nachhaltigsten Naturkatastrophen des Landes. Aber die Natur war nicht der einzig Schuldige an den Auswirkungen des Sturms. Die behördlichen Fehlleistungen in der Vorbereitung auf das Ereignis, während des Sturms und bei der Aufarbeitung der Schäden hatten mindestens genauso große Auswirkungen, sowohl ganz direkt auf das Leben und die Befindlichkeit der Betroffenen als auch indirekt am Verlust an Vertrauen in den Staat und seine Fähigkeit, den eigenen Bürgern zu helfen.
John Swenson dokumentiert in seinem Buch, wie Kultur und insbesondere die Musik im Zuge des größten Durcheinanders, der größten Unsicherheit, den Einwohnern von New Orleans Halt bot, wie New-Orleans-Musik, die schon immer stark in die Bürgergemeinschaft verankert war, auch jetzt wieder eine konkrete Funktion erhielt, die nämlich, das Überleben der Stadt zu sichern, den Menschen Hoffnung zu geben und die durch Sturm und Verwaltung verletzte Identität der Einwohner wiederherzustellen.
Swensons Ansatz ist zuallererst das Gespräch, die persönliche Betroffenheit. Er unterhält sich mit den Bürgern der Stadt, fragt sie nach ihren Erfahrungen, ihren Sorgen, nach Strategien, die sie nach Katrina entwickelten, um selbst und mit ihren Familien überleben zu können. Vor allem spricht er mit Musikern, Glen David, James und Troy Andrews etwa, Dr. John, Leroy Jones, Irvin Mayfield, Dr. Michael White und anderen. Es geht nur selten um den Sturm an sich, vor allem stattdessen um die durch Sturm und Nachwirkungen entstandenen Schäden materieller genauso wie physischer oder psychischer Natur. Wo die Behörden nicht halfen, musste man sich selbst helfen, das war allen Bürgern der Stadt am Mississippi bald deutlich. Die Arabi Wrecking Krewe etwa war ein Zusammenschluss von Musikern und Freunden, die sich gegenseitig bei Reparaturarbeiten oder dem Wiederaufbau ihrer Häuser halfen.
Die Stadt wieder bewohnbar machen war eine Sache, Spielorte wieder bespielbar machen eine andere. Wobei es bei letzteren erst einmal gar nicht ums Geldverdienen ging, sondern einfach ums Wohlfühlen, ums Erhalten der kulturellen Identität einer Stadt, die von aller Welt als dem Untergang geweiht gesehen wurde.
Swensons Buch ist keine Sozialstudie, sondern der Versuch, die Stimmung zwischen Enttäuschung und Zuversicht, zwischen Verlassensein und Selbsthilfe einzufangen und dabei die Rolle der Musik besonders zu betrachten. Er schildert die Frustration, die Unterbrechung des armen aber glücklichen Alltags, die Ängste, die Realitätschecks, denen ein jeder sich unterziehen musste, um zu entscheiden, ob die untergegangene Stadt es Wert sei, für sie zu kämpfen. Vor allem zeichnet er die Kreativität nach, die in dieser Stadt selbst in Zeiten größter Not steckt. Er benennt auch Kriminalität und die Gewalt, die die Straßen von New Orleans in den Post-Katrina-Jahren prägten und der Musiker wie die Andrews-Familie ganz bewusst Positives entgegensetzen wollten.
Neben der Schilderung der Einbindung von Musik ins soziale Gewissen der zu reparierenden Stadt ist vielleicht Swensons Vorstellung einer „post-Katrina music“ die faszinierendste Erkenntnis seines Buchs. Hier spürt man gleichsam, wie etwas zuvorderst Nicht-Musikalisches zu musikalischem Neuland wird, das aber – man ist schließlich in New Orleans –an jeder Stelle die Verbindung zur Tradition behält. Swenson’s case-in-point sind etwa Trombone Shorty oder Leroy Jones. „New Atlantis“ ist die Geschichte einer kurzzeitig unterbrochenen Beziehung zwischen Musikern und ihrer Stadt, die sie sich zurückeroberten, indem sie musikalisch in sie investierten. Und als der Autor gerade bei der Hoffnung auf eine bessere Zukunft angekommen ist, beendet Swenson sein Buch mit der Deepwater-Hiorizon-Tragödie vom April 2010, die zeigt, das Kämpfen allein nicht weiterhilft: Man muss weiter-kämpfen!
Wolfram Knauer (Oktober 2011)
Begegnungen. Wie der Jazz unsere Herzen gewann
herausgegeben von Klaus Neumeister & Lutz Eikelmann
Norderstedt 2011 (Sonrrie)
414 Seiten, 28,50 Euro
ISBN: 978-3-936968-19-4
Jazz ist immer noch eine Musik der Passion – sowohl die Musiker wie auch die Fans haben ihre eigene, oft sehr persönliche Beziehung zu dieser Musik aufgebaut. Von diesen Beziehungen handelt das Buch, das Klaus Neumeister und Lutz Eikelmann zusammengestellt haben und in dem Musiker genauso wie Jazzfans zu Worte kommen. Die Frage „Wie kamst Du zum Jazz“ ist dabei für viele der Ausgangspunkt, daneben aber wird auch von einschneidenden Begegnungen mit großen Musikern erzählt, von besonderen Konzerterlebnissen, von einflussreichen Plattenaufnahmen.
Neben gestandenen Jazzmusikern wie Reimer von Essen, Ladi Geisler, Abbi Hübner, Peter ‚Banjo‘ Meier, Hawe Schneider, Gerhard Vohwinkel oder Thorsten Zwingenberger finden sich so der Entertainer Götz Alsmann, der Filmemacher Marc Boettcher, der Betreiber des Berliner Yorkschlösschens, Olaf Dähmlow oder der Manager Hans-Olaf Henkel; weitere Erinnerungen stammen von Fans dieser Musik, von fleißigen Konzertgängern, von Sammlern – 66 Autoren insgesamt, die das dicke Buch zu einer Art Erinnerungsalbum des Jazz in Deutschland machen. Nun ja, man muss diesen Satz vielleicht ein wenig einschränken: Die meisten der Autoren sind vor allem mit dem Jazz zwischen New Orleans und Swing vertraut und diesem verbunden, etliche gehören zur Hamburger Szene, die lange Zeit bis heute als Hochburg des traditionellen Jazz in Deutschland gilt. Abbi Hübner beschreibt die Verbundenheit der Hamburger Musiker mit der Musik aus jener anderen Hafenstadt, New Orleans, sehr schön in verschiedenen seiner Kapitel in diesem Buch. Und verschiedene recht ausführliche Kapitel über Ken Colyer machen den Einfluss der britischen Trad-Scene auf viele der Bands im Norden Deutschlands verständlich.
Es geht hier also nicht um den modernen Jazz, der natürlich genauso die Herzen vieler Jazzfreunde erobert hat. Diese stilistische Beschränkung aber macht durchaus Sinn, handelt es sich bei dieser Sammlung von Erinnerungen doch auch um die Beschreibung einer recht klar umgrenzten „Szene“, die sich durch die vielen kreuzenden Wege und Erfahrungen, durch Erinnerungen daran, was einen denn persönlich zuerst am Jazz faszinierte, noch besser fassen und definieren lässt. Doch ist das Buch weit entfernt davon, eine nüchterne und systematische Szenebeschreibung zu sein. Es liefert Material zum „Gefühl“ einer Szene, es versucht die Atmosphäre zu umreißen, die so viele junge Menschen faszinierte. Und es lässt ein wenig Wehmut aufkommen, dass diese Faszination denn doch oft in der Vergangenheit liegt.
Auch diesem Thema aber widmen sich die Autoren zum Schluss des Buchs, wenn Reimer von Essen etwa darum wirbt, junge Menschen sowohl fürs Ausüben als auch für den Genuss des alten Jazz zu begeistern, wenn Lutz Eikelmann auf junge Musiker und Bandleader hinweist, die in den 50er, 60er und 70er Jahren geboren wurden, und wenn Klaus Neumeister wohlwollend kritisch auf den traditionellen Jazz zwischen Amateurstatus und Professionalismus schaut.
Ein sehr persönliches, in den unterschiedlichen Ansätzen sehr abwechslungsreiches und allein schon deswegen lesenswertes Buch.
PS: Der Vollständigkeit halber sollte erwähnt werden, dass auch der Autor dieser Zeilen mit einem kurzen Bericht über seinen ersten Besuch in New York und seine Jazzeindrücke des Big Apple im Buch vertreten ist.
Wolfram Knauer (Oktober 2011)
Traditional New Orleans Jazz. Conversations With the Men Who Make the Music
von Thomas W. Jacobsen
Baton Rouge 2011 (Louisiana State University Press)
244 Seiten, 9,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8071-3779-6
New Orleans lebte immer davon, dass Musik in dieser Stadt mehr war als nur eine schöne Nebensächlichkeit. Bis heute hat Musik in New Orleans klare Funktionen innerhalb der Bürgergemeinschaft, bis heute ist Musik für die Bürger der Stadt identitätsstiftend. Und bis heute gibt es in New Orleans keinen Mangel (a) an Publikum und (b) an Musikernachwuchs, wobei die meisten der jungen Musiker sehr bewusst Bezug auf die lange Tradition des Jazz in ihrer Stadt nehmen.
Thomas W. Jacobsen stellt in seinem Buch neunzehn Musiker vor, die für die traditionelle Jazzszene in New Orleans um die Jahrtausendwende stehen. Die meisten seiner Interviews wurden ursprünglich in der Zeitschrift „The Mississippi Rag“ veröffentlicht; Jacobsen hat sie für das Buch um knappe Vorworte ergänzt, in denen er die Aktivitäten der betreffenden Musiker seit der Veröffentlichung seiner Interviews referiert.
Durchwegs alle der Gespräche sind überaus lesenswert, egal ob Jacobsen sich mit Veteranen unterhält wie Lionel Ferbos oder Jack Maheu oder mit den jungen Wilden des Stils, Irvin Mayfield etwa, Evan Christopher oder Duke Heitker. Höhepunkte sind etwa das lebendige Gespräch mit Mayfield, der zum Zeitpunkt des Interviews gerade mal 18 Jahre alt war, allerdings bereits recht klare Vorstellungen davon hat, welches professionelle Ethos er als Jazzmusiker verfolgen muss, oder die Interviews mit Lucien Barbarin, Leroy Jones, Herlin Riley, Gregg Stafford, Joe Torregano und Dr. Michael White, deren musikalische Lebensgeschichten sich in ihrer Jugend alle in der Fairview Baptist Church Christian Band kreuzten, in der Danny Barker den Jugendlichen Lust auf die musikalischen Traditionen ihrer Heimatstadt machte und sie ermunterte, innerhalb dieser Traditionen ihren eigenen Weg zu finden.
Was am meisten fasziniert bei der Lektüre ist die Ernsthaftigkeit, mit der die Protagonisten ihre künstlerische Ästhetik verfolgen, eine Ästhetik, die manchmal dem Erfolg des Kommerzes untergeordnet werden muss (der in den meisten Fällen den Namen „Dukes of Dixieland“ trägt), aber immer im Hintergrund des künstlerischen Anspruchs mitschwingt. Die Identifizierung dieser künstlerischen Ästhetik des New Orleans Jazz um die Jahrtausendwende ist das Verdienst der so einfühlsam geführten Gespräche, die, im Buch zusammengefasst, einen ganzen Stil umreißen, von der Spielhaltung über technische Details bis hin zur Situation der Szene in den 1990er, frühem 2000er Jahren. Katrina spielt in den Vor- und Nachworte Jacobsens eine Rolle, in denen er nicht versäumt zu erwähnen, wie der Hurrikane im Jahr 2005 die einzelnen portraitierten Musiker betroffen hat. Und neben den amerikanischen Vertretern des Stils kommen mit Clive Wilson, Brian Ogilvie und Trevor Richards auch Nicht-Amerikaner zu Worte, die sich zumindest für eine Zeitlang in New Orleans niederließen. Trevor Richards Zusammenfassung des Einflusses von Schlagzeuggrößen wie Zutty Singleton, Cozy Cole, Big Sid Catlett oder Chauncey Morehouse ist dabei besonders lesenswert.
Eine kurzweilige, überaus lehrreiche Lektüre über eine lokal-regionale Szene, die bis heute nichts an ihrer Lebendigkeit und ihrer Bedeutung für die Jazzentwicklung verloren hat.
Wolfram Knauer (September 2011)
Music In My Soul
von Noah Howard
Köln 2011 (buddy’s knife)
148 Seiten, 18 Euro
ISBN: 978-3-00-034401-5
Der Saxophonist Noah Howard verstarb im September 2010 im Alter von 67 Jahren in Südfrankreich. Wenige Tage vor seinem Tod schrieb er die letzten Worte seines autobiographischen Manuskripts, das Renata Da Rin jetzt in ihrer Buchreihe buddy’s knife herausgebracht hat.
Howard beginnt seine Erinnerungen mit den kulturellen Einflüssen seiner Heimatstadt New Orleans und der frühen Faszination, die er für Kultur und Musik aus aller Welt empfunden habe. Er war ein wissensdurstiges Kind und wollte die Welt entdecken, und seine Eltern, die nie weit über die Stadtgrenzen hinausgekommen waren, unterstützten seine Neugier. In New Orleans hörte er natürlich viel Musik, erinnert sich an R&B-Bands wie die von Fats Domino (die sein Cousin managte) und an Louis Armstrongs Besuch, als er zum King of Zulus gekürt wurde. Howard ging aber auch zu allen großen Konzerten der Stadt und hörte Live-Übertragungen im Radio. Und er begann Trompete zu spielen.
In seiner Jugend habe er eigentlich keine Diskriminierung gespürt, schreibt Howard, als aber in den späten 1950er Jahren die Bürgerrechtsbewegung Fahrt aufnahm, sorgten sich seine Eltern um ihn und ermutigten ihn, zum Militär zu gehen. In Kalifornien nahm aber die Trompete wieder auf, entschied sich aber irgendwann, sie gegen ein Altsaxophon einzutauschen. Er hörte John Coltrane und Ornette Coleman und erhielt eines Tages das Angebot, mit Rashied Ali zu spielen. Howard zog nach New York und beschreibt anschaulich die lebendige kulturelle und politische Szene dieser Stadt in den 1960er Jahren. Er erzählt von Konzerten mit Sun Ra, von seiner Freundschaft mit Charles Mingus und Albert Ayler und von seiner Zusammenarbeit mit Frank Wright.
1969 reiste Howard zum ersten Mal nach Europa, spielte auf verschiedenen Festivals und nahm Platten für das französische BYG-Label auf. Er wurde Teil der Expatriate-Szene zeitgenössischer schwarzer Musiker, die sich in jenen Jahren in Paris niederließen, und er erzählt, wie er im täglichen Engagement im Club Le Chat Qui Pêche sein eigenes Repertoire entwickeln und seinen eigenen Ton finden konnte. Erroll Garner sei einmal in den Club gekommen, habe zugehört und ihn ermutigt: Bleib dran, spiel die Phrasen und Stücke immer wieder, irgendwann werden die’s verstehen! Howard erzählt von Reisen und Konzerten in den 1970er Jahren und von der Reaktion des Publikums in verschiedenen europäischen Ländern. 1982 zog es ihn nach Kenia, wo er seine zukünftige Frau kennenlernte. Mit ihr zog er schließlich nach Antwerpen. Seite Ende der 1990er Jahre spielte er wieder öfter in den Vereinigten Staaten, nach der Jahrhundertwende reiste er auch in den Nahen Osten und nach Indien. Bei all seinen reisen besuchte er auch seine Heimatstadt New Orleans, und die Wüt über die Untätigkeit der Behörden bei der Rekonstruktion der Stadt nach Hurricane Katrina ist in seinen Zeilen greifbar.
Das Schlusskapitel ist überschrieben „Musikalische Reflektionen“ und beschäftigt sich mit der Ästhetik des Jazz, mit Komposition und Improvisation, mit seinen Einflüssen und mit von ihm als herausragend gesehenen Platten. Es schließt mit den Worten „The End … for Now“. Nicht einmal zwei Wochen später starb Noah Howard, völlig unerwartet, an einer Hirnblutung. Seine Witwe ergänzt ihre Erfahrungen dieser letzten Tage in ihrem bewegenden Nachwort.
Noah Howards Autobiographie ist seine Lebensgeschichte, aber sie erklärt auch manches über die afro-amerikanische „Free-Jazz-Szene“, die Ende der 1960er Jahre in Europa Fuß fasste. Die Herausgeberin Renata Da Rin hat Howards Worte um Erinnerungen von Kollegen und Freunden des Saxophonisten ergänzt. Eine Diskographie schließt das Buch ab, das außerdem etliche seltene und private Fotos enthält. Noah Howard gelingt es in seiner Autobiographie einen sehr persönlichen Einblick in die Entwicklung und die ästhetischen Entscheidungen eines Musikers zu geben, der selbst mitmischte bei der Ausbildung experimenteller Spielformen im freien Jazz und der bis zuletzt neugierig und musikalisch offen blieb.
Wolfram Knauer (September 2011)
The Album Cover Art of Studio One Records
herausgegeben von Steve Barrow & Stuart Baker
London 2011 (Soul Jazz Books)
197 Seiten, 30 Britische Pfund
ISBN: 978-0-9554-817-7-2
Das von von Clement Dodd gegründete Label Studio One war eines der wichtigsten Plattenlabels für jamaikanische Musik der Nachkriegszeit. Dodd war in den 1950er Jahren zu den wichtigsten Musikproduzenten Jamaikas geworden. Nach der Unabhängigkeit des Landes gründete er das Label Studio One Records. Das vorliegende Buch erzählt in einem lesenswerten Aufsatz die Geschichte des Labels zwischen Jazz, R&B und Reggae, um dann vor allem – es handelt sich um ein großformatiges Fotobuch – die Plattencover abzubilden, die zum Teil exotisch wirken, zum Teil nostalgisch und zum Teil hochmodern.
Ein wenig scheint in den Fotos und grafischen Zusammenstellungen, in der Farbgebung und natürlich in der Mode der abgebildeten Künstler ein Selbstverständnis durch, das irgendwo zwischen Selbstbewusstsein und Hipness liegt. Einige der Alben wirken fast schon militant (das Silkscreen-Cover des „Best of Bob Marley“-Albums etwa), andere strahlen die Atmosphäre von Partymusik aus. Tanzende Schattenmenschen sind auf einem Cover für „Ska-au Go-Go“ zu sehen, die Schatten von Palmen vor einem Vollmond auf „Carib Soul“. Einige der Coverfotos wirken wie Passbilder (Freddie McKay), andere wie gestellte Fashion-Shots (The Cables). Gestellte Aufnahmen am Seerosenteich in Multicolor (Winston Francis) stehen neben körnigen Schwarzweißfotos von Konzerten (The Gladiators), ein freier Männeroberkörper (Devon Russell) neben einem Minirock (Jerry Jones). Die Dub-Alben des Labels haben ihre ganz eigene, eher grafisch ausgerichtete Ästhetik mit Cartoons und kaligraphischen Spielereien. Die Calypso-Alben strahlen auch visuell gute Laune aus, die Gospel-Alben dagegen Ruhe und manchmal eine seltsame Heiligkeit (Sri Chinmoy). Die thematischen Showcase-Alben schließlich mischen die Elemente, bringen die Atmosphäre von Tanzclubs in Kingston rüber („Partytime in Jamaica“) oder an die Simpsons erinnernde Karikaturen, allerdings aus dem Jahr 1963 („Dance Hall ’63“).
Natürlich kriegt man beim Durchblättern Lust auf die Musik (eine Auswahl derer das Soul Jazz Label parallel veröffentlicht hat), und noch mehr sehnt man sich nach Secondhand-Plattenläden, in denen solche und ähnliche LPs, etwas abgegriffen in den Regalen stehen, in denen man wühlt und aus den bunten Plattenhüllen die Lust auf das Entdecken neuer Musik gewinnt.
Ach, was ist uns verloren gegangen, seufzt man, an die LP-Ära zurückdenkend und berührt dann mit der linken Hand den Bildschirm des drahtlos mit der Stereoanlage verbundenen iPhones, um im Shuffle-Modus zum nächsten Stück zu gelangen, in eine andere Vergangenheit oder in eine andere Gegenwart.
Wolfram Knauer (September 2011)
Jazz i Danmark, 1950-2010
herausgegeben von Olav Harsløf & Finn Slumtrup
Kopenhagen 2011 (Politikens Forlag)
624 Seiten, 450 Dänische Kronen
ISBN: 978-87-567-9565-4
Der dänische Kritiker Erik Wiedemann legte 1982 seine ausführliche Studie über die Frühzeit des Jazz in Dänemark vor, die etwa Ende der 1940er Jahre schloss. Wiedemanns Buch war aus seiner musikwissenschaftlichen Dissertation heraus entstanden und wandte sich damit durchaus auch an ein Spezialpublikum. Olav Harsløfs und Finn Slumptrups imposantes Opus über 60 Jahre dänischer Musikgeschichte von 1950 bis 2010 will den Bogen von Wiedemanns früherer Arbeit bis ins Jetzt schlagen.
Das Buch ist zugleich Lexikon und Geschichtsschreibung, betrachtet die Entwicklung des Jazz in Dänemark aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln. Biographische Kapitel, Notizen über wichtige Aufnahmen, Portraits von Clubs oder Festivals, ein Blick in die Studios oder hinter die Kulissen der Plattenfirmen, der dänische Rundfunk mit Programm und Bigband, die vielen Amerikaner, die sich in Kopenhagen niederließen und ihren Einfluss hinterließen, Traditionalisten und Avantgardisten, alter Heroen und junge Wilde – ihnen allen wird in diesem Buch Tribut gezollt; sie alle werden in die dänische Jazzgeschichte(n) einsortiert. Das wirkt manchmal etwas unübersichtlich und macht das Lesen durchaus schon mal mühselig, aber dann ist dieses sechshundertseitige Werk vielleicht auch nicht wirklich ein Buch zum Schnell-Mal-Durchlesen als vielmehr ein Buch zum Nachschlagen. Und so tun die Autoren gut daran, ihre Kapitel kurz zu halten und in vielen Unterkapiteln zu sortieren, die es dem Leser erlauben, sich Informationen, Geschichten, Geschichte so herauszuklauben, wie er es gerade möchte. Papa Bue? John Tchicai? Pierre Dørge? Niels-Henning Ørsted Pedersen? Svend Asmussen? Wer auch immer auf der dänischen Jazzszene der letzten 60 Jahre seine Spuren hinterließ, wird irgendwo und irgendwie erwähnt. Es findet sich unglaublich viel an Detailinformationen in den Seiten, auch zu Facetten, an die man zuerst vielleicht gar nicht denkt: die Behandlung des Jazz in der tagesaktuellen Presse etwa, Jazzzeitschriften, die Jazzpädagogik oder ganz allgemein die Jazzwirtschaft des Landes. Beim Querlesen fehlt wenn überhaupt vielleicht eine Darstellung der öffentlichen Förderung von jazz in Dänemark – eine für Dänen, für die dieses Buch vor allem verfasst wurde, vielleicht selbstverständliche Information, die aber vor allem für Nicht-Dänen interessant wäre. Die allerdings, das sei gleich zugegeben, werden wahrscheinlich eh nicht genügend dänische Sprachkenntnisse haben.
Die einzelnen Kapitel wurden von verschiedenen Autoren verfasst – und diese Unterschiedlichkeit merkt man sowohl im Stil als auch im Ansatz an ihr Thema. Tore Mortensen und Ole Izard Hoyer nehmen sich die 1950er Jahre vor, Kjelt Frandsen die 1960er, Jens Jørn Gjedsted die 1970er, Christian Munch-Hansen die 1980er und Ole Mathiessen die 1990er Jahre. Für die Jahre nach der Jahrtausendwende ist der historische Abstand zu gering, und so entschieden die Herausgeber hier zu einer Art Kolloquium aller mitwirkenden Autoren. Am Schluss ergänzt Erik Raben das ganze mit einer Diskographie wichtiger dänischer Aufnahmen. Und wie es sich für ein solches Übersichtswerk gehört, erschließt ein umfangreicher Namensindex das Buch für all diejenigen, die in den über 600 Seiten nach detaillierter Information suchen.
Eine wichtige Ergänzung zur Dokumentation der europäischen Geschichte des Jazz.
Eine ausführliche Diskographie zum dänischen Jazz verfasst vom namhaften dänischen Diskographen Erik Raben findet sich als Ergänzung zum Buch auf der Website www.jazzdiscography.dk.
Wolfram Knauer (September 2011)
Zwischen den Strömungen. Mein Leben mit dem Jazz
von Karlheinz Drechsel (herausgegeben von Ulf Drechsel)
Rudolstadt 2011 (Greifenverlag)
352 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-86939-005-5
Geschichte entsteht aus Erinnerungen, und so bedarf jede Art von Geschichtsschreibung der Sammlung von Erinnerungen. Wie wir aus der leidvollen Vergangenheit unseres Landes wissen, wird die Sammlung von offenen Erinnerungen aber oft genug durch politische Bedingungen begrenzt, und es dauert eine Weile, bis das, was anderswo den gesellschaftlichen und kulturellen Prozess begleitet, auch publizistisch nachgeholt wird. Es ist ja nicht so, dass die Erinnerungen nicht da wären oder dass die Erinnerungen innerhalb der jeweiligen Gruppen nicht ausgetauscht würden. Nur sind sie für Außenstehende noch Jahre post-faktum scheinbar reines Insiderwissen und werden, wenn sie endlich gesammelt und veröffentlicht werden, mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Der Jazz in der DDR ist so ein Geheimthema, das bislang vor allem entweder total nüchtern, Ereignisse aufzählend, oder aber völlig emotional, die Wut und die Hoffnungen benennend. aufgearbeitet wurde, selten aber autobiographisch offen, mit dem Wissen oder wenigstens dem Ahnen um die Eingebundenheit des eigenen Seins ins System, in die alles bestimmende Gesellschaft.
Karlheinz Drechsel versucht in seinem Buch, das er im Dialog mit seinem Sohn, dem Jazzredakteur Ulf Drechsel verfasst hat, genau das: eine Bestandsaufnahme seines Lebens vor dem Hintergrund zweier totalitärer Regime, die ihn nicht davon abhielten, seine ganze Energie der von ihm so geliebten Musik zu widmen, die in beiden Regimen eher schlecht gelitten war. Er berichtet, wie er im Dresden der 1930er Jahre groß wurde, mit Freunden Swing-Platten hörte und Schlagzeug spielte. Er erzählt von den unterschiedlichen politischen Ansichten in der eigenen Familie, die ihm zumindest früh bewusst machten, dass es zu jeder Meinung auch eine Gegenmeinung gab. Er erzählt von den Bombenangriffen auf Dresden, vom Sich-Neu-Finden im von den Sowjets besetzen Gebiet, aber vor allem davon, wie ihn bei alledem der Jazz begleitet hatte. Selbst in seiner Abiturprüfung hielt er vor versammelter Klasse einen Vortrag zum Thema Jazz.
Er erzählt von ersten Live-Jazz-Erlebnissen, 1943 mit Ernst van’t Hoff, 1948 mit Bully Buhlan und dem RBT-Orchester. Vor allem erzählt er davon, wie er selbst die kulturpolitischen Beschränkungen der DDR-Führung wahrnahm, und wie er auch wegen seines Jazzinteresses ständig irgendwo zwischen den Welten pendelte, bereits als er beim Ostberliner Deutschlandsender (der damals noch im Haus des Rundfunks in Westberlin untergebracht war) ein Volontariat ableistete und abends in der Westberliner Badewanne Jazz hörte. Für den Sender produzierte er Anfang 1952 seine ersten eigenen Sendungen, zehnminütige Features über „Jazz des Volkes“ – in der DDR wurde zu jener Zeit sehr genau darauf geachtet, ob die Musik ideologisch vertretbar war. Beim Sender wurde er kurz darauf gekündigt – wie er später aus seiner Stasi-Akte erfuhr, auch wegen seiner „Westkontakte“.
Zurück in Dresden bekleidete Drechsel eine Weile die Stelle eines Redakteurs für den Stadtfunk in Radebeul, der ähnlich wie in der Sowjetunion öffentliche Straßenbeschallung auf wichtigen Straßen, Plätzen, Haltestellen etc. vornahm. Er hielt Vorträge beim Dresdner Kulturbund, schrieb Kritiken, war als Nachrichtensprecher aktiv – wobei er mindestens zwei seiner Rundfunkjobs damals durch eigene Unachtsamkeit wieder loswurde, etwa durch einen Aprilscherz, den die Rundfunkleitung überhaupt nicht lustig fand.
1956 gehörte Drechsel zu den Mitbegründern der IG Jazz bei der FDJ in Dresden. Er spricht über den Streit mit Reginald Rudorf und über die hinter diesem Streit steckenden unterschiedlichen Ansichten über musikalische und gesellschaftliche Aspekte des Jazz. Hier wie auch anderswo gibt Drechsel freimütigen (und oft durchaus auch selbstkritischen) Einblick in die Zwänge und die Möglichkeiten, die es im „real existierenden Sozialismus“gab, erstens seiner Liebe, dem Jazz zu fröhnen, und zweitens irgendwo zwischen Radio, Jazz und ewigen Auseinandersetzungen mit der restriktiven politischen Führung sein eigenes Auskommen zu finden.
1958 zog Drechsel nach Ostberlin, wo er eine Anstellung als Regieassistent beim Rundfunk erhielt. Er spricht über Mauerbau und die erste Tournee des Albert Mangelsdorff-Quintetts durch die DDR (1964), über seine Kontakte zu Horst Lippmann, dessen American Folk Blues Festival er im selben Jahr in den Osten brachte, und über eine geplante Vortragsreise nach Westdeutschland, die von der einladenden Deutschen Jazz Föderation dann aber abgesagt wurde. Er beleuchtet, mit welchen Problemen man zu tun hatte, wenn man im Osten neue Schallplatten kommen wollte, spricht ausführlich über seine Rundfunkerfahrungen, die sich ja über Jahrzehnte erstreckt, über die Präsentation und Unterstützung ostdeutscher Festivals durch den Rundfunks der DDR, über eigene Veranstaltungen und über die Struktur der Kulturveranstalter, die in der DDR Jazz präsentierten. Und natürlich berichtet er über das Dixieland-Festival in Dresden, das er von Anfang an begleitete.
Ein eigenes Kapitel erhält der Besuch Louis Armstrongs, der 1965 eine Tournee durch die DDR machte, und Drechsels Erinnerungen bringen Satchmo vor allem als Privatmann näher, dem auf dieser Reise zum ersten Mal die Situation der nach Westen völlig abgeschlossenen DDR wirklich bewusst wurde und der Parallelen zur Geschichte des Rassismus in seinem eigenen Land sah. Drechsel wurde ein beliebter Moderator, sagte etwa das Konzert von Ella Fitzgerald im Friedrichsstadtpalast an, tourte mit britischen Trad Bands durchs Land, trat aber auch als Moderator von Veranstaltungen in Erscheinung, die wenig mit Jazz zu tun hatten, etwa beim Schlagerfestival der Ostseestaaten, und sogar bei einer Europameisterschaft im Gewichtheben und einem Hunderennen.
Drechsel war immer ein Mann des ganzen Jazz. Als Moderator war er bei Dixielandfreunden genauso angesehen wie bei Anhängern der freieren Musik. In einem eigenen Kapitel arbeitet er die Besonderheit des DDR-Jazz der 1970er Jahre heraus und diskutiert die musikalische Radikalisierung und Abkapselung auf beiden Seiten des musikalischen Spektrums, eine stilistische Einseitigkeit, die nie seine Sache gewesen sei. Er spricht von Uli Gumpert, Ernst-Ludwig Petrowsky, Günther Fischer, Hannes Zerbe, Manfred Schulze, Friwi Sternberg und anderen. Die Wolf-Biermann-Ausbürgerung ist Thema und ihre Auswirkung auf die Jazzszene, die damals als nonverbale Kunst weniger misstrauisch beäugt wurde als die Rockszene. 1970 fuhr Drechsel Oliver Nelson in einer Art Geheimaktion nach Leipzig, um ihm das Bach-Museum zu zeigen und ihn außerdem auf der Orgel der Thomaskirche spielen zu lassen. Drechsel selbst durfte immer mal wieder zu besonderen Veranstaltungen, etwa zu den Jazztagen, nach Westberlin. Erst 1983 gelangte er als Begleiter der Dixieland All Stars zum ersten Mal in die USA, das Geburtsland des Jazz – fünf Tage Sacramento und fünf Tage New York.
1989 fiel die Mauer, und Drechsel fand sich nicht nur im bald wiedervereinigten Deutschland, sondern auch in einem Land wieder, in dem er unter Journalisten plötzlich als Konkurrenz empfunden wurde.
Er erzählt von seiner schriftstellerischen Arbeit, den Büchern „Faszination Jazz“ und „Jazz objektiv“ und seiner Diplomarbeit, mit der er 1975 ein Fernstudium abschloss und die den Titel trug: „Studie über die kulturpolitische und künstlerische Spezifik des Jazz – seine historische Entstehung und Entwicklung – seine internationale Verbreitung und sein Stellenwert im Ensemble der Künste der DDR“. Er berichtet von der Sektion Jazz im Komitee für Unterhaltungskunst der DDR und von der Abhängigkeit der Künstler von der Politik, aber auch von den Verbesserung der Lebensbedingungen von Musikern in den letztem acht bis zehn Jahren der DDR.
Und er erzählt davon, wie er nach der Wende Akteneinsicht bei der Gauck-Behörde nahm. Anlass seien Gerüchte gewesen, er selbst habe sei als Stasi-Spitzel aktiv gewesen. Er sei erschüttert gewesen, sagt er, als ihm der Behördenmitarbeiter gleich zahlreiche Leitz-Ordner zur Einsicht vorlegte. Post- und Telefonüberwachung, Berichte von IM’s aus allen möglichen Arbeitszusammenhängen. In diesem Kapitel liest man vor allem von schweren Enttäuschungen darüber, dass selbst langjährige vermeintliche Freunde Berichte an die Stasi lieferten und ihn bei anderen Jazzfreunden diskreditierten. Wie nebenbei erinnert sich Sohn Ulf daran, dass, wenn Gäste aus Westberlin oder aus dem Bundesgebiet bei ihnen zu Hause waren, „eigentlich immer ein Kissen auf das Telefon gelegt“ wurde.
Karlheinz Drechsels Lebenserinnerungen sind ein ungemein persönliches Buch geworden, das weit mehr erzählt als seine Jazzgeschichte. Es ist die Geschichte eines Mannes mit einer Passion, die er gegen alle Widrigkeiten verfolgte und der er bis heute treu blieb. Ulf Drechsel hat das Buch im Interviewstil belassen, mal chronologisch, mal thematisch geordnet. Es liest sich leicht, wie erzählt, und hinterlässt zugleich tiefe Eindrücke. Bezogen auf den Jazz, sagt Drechsel zum Schluss, würde er heute nichts anders machen. Sein schwerster Fehler sei gewesen, „zu glauben, in einer Parteidiktatur als Genosse einen Einzelkampf für den Jazz bestehen zu können“. Es relativiert sich einiges bei der Lektüre dieses Buchs, das von der Bedeutung des Jazz handelt, von der Kraft der Musik, von menschlicher Leidenschaft. Karlheinz Drechsel hat mit seinen Erinnerungen an sein Jazzleben einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der deutschen Jazzgeschichte geliefert.
Wolfram Knauer (August 2011)
Nachtrag, Dezember 2011: Nachdem der Greifenverlag kurz nach der Veröffentlichung des Buchs Insolvenz anmelden musste, war dieses Buch eine Weile nicht mehr zu beziehen. Nun hat die Jazzwerkstatt eine Neuauflage vorgelegt, der aus Bonus eine CD mit historischen Aufnahmen der „DDR All Stars“ aus dem Deutschen Hygienemuseum Dresden beiheftet. Neben Günter Hörig und seinen Dresdner Tanzsinfonikern ist etwa das Joachim Kühn Trio mit Ernst-Ludwig Petrowsky zu hören sowie Bands um Friedhelm Schönfeld, Joachim Graswurm, Reinhard Walter und andere.
Woodstock am Karpfenteich. Die Jazzwerkstatt Peitz
Herausgegeben von Ulli Blobel
Berlin 2011 (jazzwerkstatt)
207 Seiten, 1 beigeheftete CD, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-00-034405-3
Der Jazz in der DDR war für viele ein spannendes Thema: Musik der Freiheit – in einem totalitären System schien so etwas viel besser, aber auch viel romantischer greifbar als in den westlichen Demokratien, in dem der Jazz seine politische Funktion immer mehr zu verlieren drohte. Jazz aber war auch in Ostdeutschland eine überaus persönliche Angelegenheit, begleitete diverse sehr persönliche Wege der politischen, kulturellen und ästhetischen Bewusstwerdung, und von ihnen handelt dieses Buch. Nach einigen Gesamtdarstellungen zur Geschichte des Jazz in der DDR ist es dabei wohl auch an der Zeit, dass der Blick auf einzelne Personen bzw. wichtige, weil einflussreiche Events gerichtet wird. Die Jazzwerkstatt in Peitz in der Niederlausitz hatte in der Szene des zeitgenössischen freien Jazz bald einen Namen, der weit über die Größe der kleinen, noch heute weniger als 5.000 Einwohner zählenden Stadt hinausreichte: als Treffpunkt der frei improvisierenden Szene Europas und darüber hinaus, als im so abgeschlossenen Kulturleben der DDR eigentlich nicht vorstellbares Exotikum, das scheinbar gegen alle Regeln und Gesetze des real existierenden Sozialismus und seiner glänzend funktionierenden Bürokratie verstieß und dennoch elf Jahre lang ein Publikum aus dem ganzen Land anzog, für die jene Tage in Peitz identitätsstiftend waren, denen Peitz kreative Anregung genauso wie Trost bot, eine Art individualistisches Antidot zum sozialistischen Alltag.
Von dieser Stimmung berichtet das vorliegende Buch, herausgegeben von Ulli Blobel, zusammen mit Peter ‚Jimi‘ Metag dem Gründer der Jazzwerkstatt Peitz, der dabei in Ansätzen auch seine eigene Geschichte vor Peitz und seither erzählt. Auch alle anderen Autoren nähern sich dem Thema von der persönlichen Warte: Für sie alle war das Abenteuer der Reise in die Niederlausitz offenbar genauso prägend wie die musikalischen Erlebnisse, die sie an den Nachmittagen und Abenden in Peitz erfuhren. Bert Noglik etwa bekennt, dass die Begegnungen in Peitz ihm dabei halfen, für sich „einen Beruf zu definieren, der damals in der DDR nicht vorgesehen war: Jazzpublizist“. Günter Baby Sommer berichtet von musikalischen Begegnungen, die nachhaltig blieben, insbesondere seinem Trio mit dem amerikanischen Trompeter Leo Smith und dem Wuppertaler Kontrabassisten Peter Kowald. Christoph Dieckmann erzählt, wie schwierig es war, im Osten an Platten zu kommen und welchen Wert Jazzplatten unter den Fans dort besaßen. Ulrich Steinmetzger und Wolf Kampmann erzählen von ihren Reisen nach Peitz, von den prägenden Erfahrungen, der Bewusstseinsveränderung über West und Ost, die mit dem Hören der freien Musik einherging. René Theska erzählt, wie Peitz ihn und weitere Jazzfreunde aus Ilmenau dazu anregte, mit Hilfe der AG Jazz Ilmenau selbst Konzerte zu organisieren. Steffen Wolle gibt Beispiele sowohl für den Umgang der Staatsmacht mit der suspekten Jazzszene wie auch für die kreativen Strategien, mit denen diese Szene die Staatsbürokratie immer wieder austrickste, austricksen musste. Am Schluss findet sich ein 50seitiger Anhang mit allen Besetzungen, die bei der Jazzwerkstatt Peitz zwischen 1973 und 1983 zu hören waren. Dazwischen viele Fotos, die die Atmosphäre einfangen, die Konzentration, die Erwartungshaltung, die oft wie eine Art Aufbruchsstimmung wirkt, nur, dass der tatsächliche Aufbruch erst sechs Jahre nach dem letzten Konzert in Peitz stattfinden sollte.
Die beiheftende CD schließlich enthält Mitschnitte von der Jazzwerkstatt 1981, ein Quintett mit Ulrich Humpert, Peter Brötzmann, Johannes Bauer, Harry Miller und Willi Kellers, das Conrad Bauer Bäserquintett, einen Solotitel Uwe Kropinskis sowie das Trio Leo Smith / Peter Kowald / Günter Baby Sommer.
„Woodstock am Karpfenteich“ bietet einen Einblick in eine kreative Bewusstwerdungsphase, ist weder rein historische Dokumentation, noch musikologische Erklärung etwa des DDR-Jazz. Wenn überhaupt, dann ist dieses Buch die Sammlung von sehr persönlichen Erinnerungen an ein dreizehn Jahre lang gegen alle Wahrscheinlichkeit funktionierendes Experiment freier Improvisation. Es regt zum Nachdenken an, nicht nur für die, die dabei waren, sondern ganz allgemein, darüber, was wir mit Musik verbinden, egal, wo wir sie hören, welche Prägungen wir durch Musik erhielten und wie musikalische Erinnerungen Biographien verschränken können, die sonst kaum etwas miteinander zu tun haben.
Lebenswert!
Wolfram Knauer (Juli 2011)
John Coltrane. A Love Supreme
von Karl Lippegaus
Hamburg 2011 (edel:vita)
317 Seiten, 29,95 Euro
ISBN: 978-3-8419-0069-2
Karl Lippegaus beginnt sein Buch mit einer wenig verhüllten Liebeserklärung an John Coltrane, einer Erinnerung daran, wie er eines Morgens in Südfrankreich seine verkratzte LP „Live at the Village Vanguard“ auflegte und ein Hahn mit Pharoah Sanders um die Wette krähte. Dann wird er sachlich, wie es sich für einen Biographen gehört. Er erzählt Coltranes Leben von der Kindheit in North Carolina über die Granoff School of Music in Philadelphia bis zu den ersten Gehversuchen in Bands wie der von Cleanhead Vinson. Er nennt Einflüsse, den Sound von Johnny Hodges etwa oder den großen Charlie Parker, seinen Freund Jimmy Heath oder Igor Strawinsky. Er nennt die großen Tenoristen an dessen Ideal Coltrane sich messen lassen musste und er versucht zu ergründen, was Trane etwa bei Dizzy Gillespie lernte, in dessen Bigband er Ende der 1940er Jahre spielte. Lippegaus begleitet den Saxophonisten in die Band von Miles Davis und Thelonious Monk, erkundet Coltranes Lektüre auf Reisen, seine philosophischen und spirituellen Entwicklungen jener Jahre. Er nähert sich der Musik dabei eher die Atmosphäre als die Musik selbst beschreibend. er lässt Musiker und Zeitzeugen zu Worte kommen, imaginiert sich die Stimmung, die wohl im Studio oder im Club geherrscht haben muss, in dem einige der Coltrane-Klassiker entstanden, stellt sich vor welchen Eindruck diese Stimmung und all die von ihm beschriebenen Einflüsse auf den Saxophonisten haben mussten und wie daraus das entstand, was wir bis heute auf Platte hören können. Seine Kapitelgliederung ist angenehm kleingliedrig, erlaubt das Zurseitelegen des Buchs – vielleicht um weiterzudenken oder aber die genannten Stücke zu hören. Immer wieder verweist er auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in den USA der Bürgerrechtsbewegung, in deren Kontext auch die musikalische Entwicklung Coltranes ihm zufolge unbedingt zu sehen ist.
Lippegaus beschreibt die Musik nicht so sehr als Produkt und fertiges Statement, sondern vielmehr als Prozess, als Entwicklung, und so gelingt es ihm, dem Leser (und Hörer) den Entwicklungswillen näher zu bringen, der Coltranes Musik von Anfang bis Ende prägte. In dieser Verbindung schafft Lippegaus dann auch, was vielleicht nur offenohrigen Autoren möglich ist: die allseits bekannten Daten und Fakten geben auch dieser Biographie die Struktur, aber er füllt sie außerdem mit dem Wollen und Denken, mit seiner Annäherung an die Visionen, aus denen sich Coltranes Kunst näherte. Ein überaus gelungenes Buch, geschmackvoll gesetzt, mit Fotos der verschiedenen Schaffenszeiten bebildert … lesenswert!
Wolfram Knauer (August 2011)
Jelly Roll Morton, The „Old Quadrille“ and „Tiger Rag“. A Historiographic Revision
von Vincenzo Caporaletti
Lucca (Italien) 2011 (Libreria Musicale Italiana)
104 Seiten (Text auf Italienisch und Englisch), 25 Euro
ISBN: 978-88-7096-627-5
Alan Lomax holte den Pianisten und Komponisten Jelly Roll Morton 1938 ins Studio, um für die Library of Congress eine Dokumentation über sein Leben und die Entstehung des Jazz aufzuzeichnen, wahrscheinlich das erste Oral-History-Projekt der Jazzgeschichte. Morton saß am Flügel des Coolidge Auditoriums, eine Flasche Whisky nahebei, und Lomax gab ihm die Themen vor, ermunterte ihn dazu, Geschichten zu erzählen über New Orleans um die Jahrhundertwende, über berühmte und weniger berühmte Kollegen, über musikalische Einflüsse und seine eigene berufliche Entwicklung. Morton war zeitlebens ein Großsprecher und Angeber, jedenfalls hatte er keine Probleme damit, seine Leistungen auch gebührend in den Vordergrund zu rücken und die eine oder andere Tatsache der Jazzgeschichte zu seinen Gunsten zurechtzurücken. Am bekanntesten ist sein Satz „Ich erfand Jazz im Jahr 1902“, der sich in einem Down Beat-Artikel aus demselben Jahr der Aufnahmen fand.
Beim Interview mit Lomax, das Basis der später erschienenen Morton’schen Autobiographie „Mister Jelly Lord“ sein sollte und mittlerweile vollständig als Tondokument erhältlich ist, übernahm Morton Autorenschaft für jede Menge unterschiedlicher Ereignisse. Musikhistorische vielleicht am interessantesten war seine Behauptung Urheber des „Tiger Rag“ gewesen zu sein, den er tatsächlich aus unterschiedlichen Teilen einer alten Quadrille abgewandelt habe. Die Jazzgeschichtsschreibung berichtet anderes, schreibt den „Tiger Rag“ Nick La Rocca zu und weiß außerdem, dass gerade dieses Stück auf der ersten Schallplatte der Jazzgeschichte zu hören war, eingespielt im Jahr 1917 von LaRoccas Original Dixieland Jazz Band. Die heutige Forschung will wissen, dass weder Morton noch LaRocca die tatsächlichen Urheber des „Tiger Rag“ sind, wie Bruce Boyd Raeburn in seinem Vorwort zum vorliegenden Buch schreibt, sondern das LaRoccas Version tatsächlich ein Zusammenstückeln unterschiedlichster Versatzstücke ist, die Jack Stewart in einer Transkriptions-Edition identifiziert hat.
Vincenco Caporaletti, italienischer Musikwissenschaftler und Autor mehrerer analytischer Bücher zum Jazz, nimmt Mortons Performance der Evolution des „Tiger Rag“ aus einer alten französischen Quadrille zum Anlass, Mortons Behauptung selbst zu hinterfragen, er selbst sei der wahre Komponist des Stücks, nicht Nick LaRocca. Die Legende, dass der „Tiger Rag“ auf eine Quadrille zurückginge, habe in Musikerkreisen in New Orleans schon länger kursiert, erklärt Caporelletti und zitiert verschiedene Quellen. Mortons Inanspruchnahme der Autorenschaft allerdings sei wohl auch der Tatsache zu verdanken, dass er sich durch die Musikgeschichte der 1930er Jahre weitgehend vergessen gefühlt und vor den Mikrophonen der Library of Congress die Gelegenheit gesehen habe, die Geschichte zurechtzurücken, Tatsachen hin oder her. Caporaletti zeigt, wie Morton einem erstaunten Lomax fünf Teile der ursprünglichen Quadrille vorführt, auch um zu erklären, dass die Umwandlung in den „Tiger Rag“ seine ureigene Leistung gewesen sei. Er vergleicht die formale und harmonische Struktur beider Stücke, stellt Ähnlichkeiten zwischen Mortons Library-of-Congress-Fassung und der Aufnahme der ODJB aus dem Jahr 1917 fest und verweist darüber hinaus auf Mortons eigene erste Aufnahme des Stücks aus dem Jahr 1924, das in der Form (und bis in die Klarinetten-Breaks hinein) der ODJB-Fassung folgt. Mit analytischen Feingespür schlussfolgert er, dass Mortons Herleitung aus der Quadrille tatsächlich eher belegt, dass dieser selbst den „Tiger Rag“ vor allem durch die Aufnahme der ODJB kennengelernt habe.
Caporalettis Analyse kommt so der Wirklichkeit Morton’scher Aufschneiderei auf die Spur, macht uns allerdings zugleich darauf aufmerksam, dass in Mortons Geschichte mehr als ein Körnchen Wahrheit steckt: Wenn Morton auch nicht als Komponist des Stücks angesehen werden kann, so ist doch seine Herleitung aus der Quadrille ein hervorragendes Beispiel für die Aneignung traditionellen Materials durch den Jazz.
Der Anhang des Buchs enthält eine komplette Transkription des Interviews mit Morton sowie eines einer exakten Notation der fünf Quadrille-Sätze und des daraus resultieren „Tiger Rag“ in Mortons Fassung. Die analytischen Teile des Buchs finden sich in einer italienischen und einer englischen Fassung, daneben druckt Caporaletti seine komplette Transkription der Aufnahme ab. Er schließt, alles in allem eine überaus interessante Lücke der Morton-Forschung und stößt zugleich genügend neue Türen auf, in die Musik hineinzuhorchen und dabei ästhetischen Entscheidungen auf die Schliche zu kommen.
Wolfram Knauer (August 2011)
Barney Wilen. Blue Monday
von Yves Buin
Bègles/Frankreich 2011 (Castor Music)
126 Seiten, 12 Euro
ISBN: 978-2-85920-862-2
Es ist durchaus interessant zu sehen, in welcher Gesellschaft das neue Buch über den französischen Saxophonisten Barney Wilen steht. Andere Bände der Biographienreihe befassen sich etwa mit Prince, Jimi Hendrix, Rory Gallagher, Bob Dylan, Bob Marley und anderen Größen aus Rock und Pop. Wilen wurde spätestens, nachdem er mit Miles Davis die Filmmusik zu „Fahrstuhl zum Schaffott“ einspielte, als einer der wenigen europäischen Saxophonisten gehandelt, der den Amerikanern ebenbürtig seien.
Yves Buin begleitet den Musiker von seiner Geburt in Nizza im Jahr 1937 bis zu seinem Tod durch ein Krebsleiden im Jahr 1996. Wilen war von früher Jugend an begeistert vom Jazz, hörte die amerikanischen Musiker, die an der Côte d’Azur Station machten. Mit 17 ging er nach Paris, spielte mit französischen Freunden und mit Amerikanern, die sich in der Stadt niedergelassen hatten, Roy Haynes etwa oder Jimmy Gourley. 1956 war er bei einer Plattensession des Pianisten John Lewis mit von der Partie, und mit 20 nahm er seine erste Platte unter eigenem Namen auf. Buin verfolgt das Plattenschaffen des Saxophonisten zwischen Einfluss Charlie Parkers, Cool Jazz und Hardbop jener Jahre. Er beschreibt die Aufnahmesitzung mit Miles, die Pariser Jazzszene, die teilweise wie ein Exil-Amerika gewirkt haben mag, seine Filmmusikern etwa für Édouard Milonaro oder Roger Vadim, Free-Jazz-Experimente („Dear Professor Leary“), die Band Jazz Hip, sein Comeback in den 1980er Jahren sowie die letzten Jahre seines Lebens, in denen er mit vielen jungen Musikern zusammenwirkte, die noch heute auf der französischen und internationalen Jazzszene aktiv sind.
Buin hangelt sich dabei von Album zu Album, beschreibt die Musik, weniger die Lebensentscheidungen und gibt auch nicht vor, alle ästhetischen Entscheidungen Wilens erklären zu können. Als Anhang präsentiert er Ausschnitte aus drei Interviews des Saxophonisten, die dieser dem französischen Jazz Magazine 1961, 1966 und 1972 gegeben hatte. So erhält Wilen dann doch noch eine Stimme und man kann über die beschriebenen Alben hinaus über Einflüsse, nationales Selbstverständnis oder den Einfluss afrikanischer Musik lesen. Ein willkommenes kleines Büchlein über einen weithin vergessenen Experimentator der europäischen Jazzszene.
Wolfram Knauer (August 2011)
The Studio Recordings of the Miles Davis Quintet, 1965-68
Oxford Studies in Recorded Jazz
Von Keith Waters
New York 2011 (Oxford University Press)
302 Seiten
ISBN: 978-0-19-539384-2
Ashley Kahn begann vor einigen Jahren mit Monografien, die sich nicht etwa der Biographie eines Künstlers, sondern einem einzelnen Werk, konkret: einer Schallplatte widmeten, etwa Miles Davis „Kind of Blue“ oder John Coltranes „A Love Supreme“. Oxford University Press geht ähnlich, wenn auch gänzlich anders vor in seiner neuen Buchreihe mit dem Titel „Oxford Studies in Recorded Jazz“, in der jetzt die ersten Bände erschienen sind. Es ist eine musikwissenschaftliche Reihe, also stehen biographische oder sonstige historische Details eher im Hintergrund, spielen nur dann eine Rolle, wenn sie den musikalischen Ablauf oder musikalische Entscheidungen erklären helfen.
Der Musikwissenschaftler Keith Waters beginnt seinen Band über das berühmte zweite Miles Davis Quintet der 1960er Jahre mit einer allgemeinen stilistischen Darstellung des Quintetts, beschreibt, wo die einzelnen Musiker herkommen, aber auch die damals üblichen Studioabläufe (und begründet dabei, warum er die Liveaufnahmen des Quintetts bei seinen Beobachtungen außen vor lässt), die zum auf Platte veröffentlichten Klangergebnis führen. In Abrissen über die Personalstilistik der fünf Mitstreiter Miles Davis, Wayne Shorter, Herbie Hancock, Ron Carter und Tony Williams geht er kurz auch auf frühere Aufnahmen ein, um ihre Entwicklung zu beschreiben, zu erklären, wo die Musiker herkommen und wie sie zu dem Stil gelangt sind, den sie auf den Quintettaufnahmen der 1960er Jahre spielen. Ein zweites Kapitel erklärt analytische Ansätze, diskutiert dabei die Entwicklung und Bedeutung der modalen Spielweise, die Begründung für motivische Analysewege, diskutiert die Interaktion innerhalb der Gruppe, Zirkularkompositionen, das Moment der Form in Improvisation sowie Davis als Avantgardist.
Der Hauptteil des Buches widmet sich dann dein Platten des zweiten Miles Davis Quintet: „E.S.P.“, „Miles Smiles“, „Sorcerer“, „Nefertiti“, „Miles in the Sky“ und „Filles de Kilimanjaro“. Waters arbeitet mit Transkriptionen, harmonischen, rhythmischen und formalen Analysen, beschreibt innermusikalische Beziehungen, Entwicklungen, Reaktionen, harmonische Spannungen und Auflösungen, dramaturgische Bögen und vieles mehr. Er enthält sich dabei größtenteils einer ästhetischen Wertung, spricht höchstens von „neuen Lösungen“, der „mühelosen Bewältigung technischer Hürden“, verweist aber durchaus auch etwa auf die „kontrollierte Freiheit“, mit der insbesondere Hancock Ideen des Freejazz Ornette-Coleman’scher Prägung in die Musik des Quintetts einbrachte. Immer wieder fragt er nach den Wurzeln im Hardbop und der langsamen Entfernung von hardbop-typischen musikalischen Vokabeln hin zu einer Spielweise, die letzten Endes eine glatte Entwicklung hin zur Davis’schen Fusion der späten 1960er Jahre darstellt. Eine Zusammenfassung fragt nach dem Erbe dieser Aufnahmen und stellt fest, dass sowohl das Repertoire als auch die Spielweise der Musiker bald Teil der Jazztradition wurden, die von jüngeren Musikern als Musterbeispiel empfunden wurden, auf die sie ihre eigenen weiteren Entdeckungsreisen aufbauen konnten.
Das Buch ist sicher keine leichte Kost – wer keine Noten lesen kann, von Harmonik wenig versteht und sich eh auf solch eine Abstraktionsebene über Musik nicht einlassen möchte, wird voraussichtlich wenig Spaß bei der Lektüre haben. Als Beispiel einer tiefgehenden Beschäftigung mit einem Teil-OEuvre der Musik Miles Davis und als Auftakt einer Reihe mit musikwissenschaftlich kompromisslosen Analysen wichtiger Aufnahmen des Jazz hat Oxford auf jeden Fall kraftvoll einen Ball ins Spiel geworfen, dem man wünscht, dass er von anderen aufgegriffen wird und zum intensiveren Diskurs über die Musik beitragen kann.
Wolfram Knauer (August 2011)
Alex Steinweiss. The Inventor of the Modern Album Cover
von Kevin Reagan & Kevin Heller
Köln 2011 (Taschen)
420 Seiten (Großformat), 49,99 Euro
ISBN: 978-3-8365-2771-2
[alle Texte in Englisch, Deutsch und Französisch]
Der Kölner Taschen-Verlag ist weltweit bekannt für seine opulenten Kunst- und Fotobücher. Ab und an kreuzen sich seine Wege dabei mit dem Jazz. Vor einigen Jahren etwa brachte Taschen (mit Hilfe des Jazzinstituts) das legendäre, ursprünglich bei Burda erschienene Buch „Jazz Life“ von Joachim Ernst Berendt und William Claxton in einer um viele Bilder ergänzten Neuauflage heraus. Jetzt sammelt Kevin Reagan die Plattencover des Alex Steinweiss.
Wie es bei Covern so ist, sollte man auch hier mit dem Äußeren beginnen. Das Buch ist in einen festen Pappband gebunden, mit Lederrücken und Rückeneinkerbung, damit man es leicht aufblättern kann, ohne dass die Seiten brechen. Doch, nein, tatsächlich erinnert diese Aufmachung natürlich ganz bewusst an die ersten Schellackalben, die Anfang der 1940er Jahre bis zu fünf oder sechs Schellackplatten zusammenfassten und innen drin nichts als diese Platten hatten, in feste Papierumschläge gehüllt, die in das Cover eingebunden waren. Davor waren Schellackplatten meist einfach in Papiertüten verkauft worden, auf denen höchstens eine ganz generelle Werbung für die Plattenfirma abgedruckt war, aber weder Information zur auf der Platte enthaltenen Musik noch eine großartig künstlerische Covergestaltung.
Erst mit den Schellackalben änderte sich das, und wenn man gleich auf der Umschlaginnenseite einige dieser Alben sieht, weiß man auch, woher dieser Begriff „Album“ stammt, den man heute für jede Einzel-LP oder -CD benutzt, der aber ursprünglich genau das bezeichnete: Eine Zusammenfassung mehrerer thematisch irgendwie zusammenhängender Einzelplatten, eingebunden in einen Hardcoverumschlag mit künstlerischer Gestaltung durch … und damit sind wir beim Thema, denn Alex Steinweiss war tatsächlich einer der ersten, der hier tätig wurde und kann mit Fug und Recht als „Erfinder des modernen Albumcovers“ genannt werden, wie der Untertitel des Buchs suggeriert.
Steinweiss, der im Juli 2011 im Alter von 94 Jahren verstarb und somit die Veröffentlichung dieses Buchs noch miterleben konnte, erzählt im Gespräch mit Reagan seine Lebensgeschichte, vor allem aber über seine künstlerischen Vorstellungen, seine Einfälle, Konflikte mit den Auftraggebern, Lösungen. Steinweiss illustrierte sein erstes Album 1940 und erfand quasi 1948 die Papphülle für 30-cm-Schallplatten. Steven Heller ordnet seine Arbeit sowohl in die Verpackungs- wie auch die Kunstgeschichte des 20sten Jahrhunderts ein, benennt Vorbilder aus der Bildenden Kunst genauso wie dem Notendruck, Bauhaus und Klassizismus und berichtet über Werbestrategien der Plattenfirma Columbia, bei der Steinweiss in jenen frühen Jahren angestellt war.
Steinweiss erzählt von der Parsons School in New York und der Lehre beim österreichischen Plakatmaler Joseph Binder, über sein kleines Studio, in dem er die „Kompositionen“ seiner Hüllendesigns entwarf, den Produktionsprozess, die Betriebsstruktur bei Columbia Records, seine Arbeit für die US-Navy für die er Poster und grafische Anleitungen zeichnete. Eine Seite zeigt die zuvor üblichen Alben-Cover und was Steinweiss daraus machte, von grau nach bunt, fantasievoll und voll Leben. Zwischendrin sieht man aber auch Logos und Briefköpfe, die er etwa für einen Friseur entwarf. Für seine Covers entwickelte Steinweiss darüber hinaus ein eigenes handgeschriebes Alphabet, das sich auf vielen seiner Hüllen wieder findet. Nebenbei entwarf er Werbebroschüren etwa für ein Schmerzmittel, die amerikanische Krebsgesellschaft und anderes.
Immer wieder ist man aber davon überrascht, welche Vielfalt Steinweiss mit deutlich wiedererkennbaren Mitteln in seiner Kunst ausdrücken konnte, die Gebrauchskunst war, aber gerade deshalb Dinge wagen konnte, die in der „freien“ Kunst vielleicht gar nicht möglich gewesen wären. Magazine, Buchillustrationen, weitere Platten.
Nach Columbia arbeitete Steinweiss ab Mitte der 1950er Jahre für die Label Decca und London, baute nun immer mehr auch die Fotografie in seine Gestaltung ein. Und auch im Film war er ein gefragter Mann, entwarf Filmtitel etwa für Gary Grant und Audrey Hepburn, aber auch für „James Bond“-Filme. Als er sich 1974 zur Ruhe setzte, begann er Bilder zur Musik zu malen, bunt und märchenhaft. Das Buch zeigt Hunderte seiner Entwürfe, meist in der Originalgröße der kleineren 25-cm-Schallplatten. Man mag mit dem Blättern gar nicht aufhören, entdeckt Querverbindungen zwischen frühen und späten Entwürfen wundert sich über den Mut und die Direktheit, mit der Steinweiss seine Arbeit von Anfang an verfolgte. Persönliche Fotos eines langen, reichhaltigen und offenbar durchaus gutgelaunten Lebens schließen das Buch ab, das als Coffeetable-Buch dedacht ist und auf diesem coffee table garantiert jeder Kaffeestunde genügend schmunzelnden Gesprächsstoff bietet.
Wolfram Knauer (Juli 2011)
Joëlle Léandre Solo. Conversations
von Franck Médioni
Jerusalem 2011 (Kadima Collective)
161 Seiten, 1 CD, 1 DVD, 39 US-Dollar
ISBN: 8-85767-51020-3
Seit den frühen 1970er Jahren gehört die Kontrabassistin Joëlle Léandre zu den führenden Musikerinnen der europäischen improvisierten Musik – zusammen mit Irène Schweizer eine der wenigen Frauen in diesem Metier. Im Gespräch mit dem Journalisten Franck Médioni erzählt sie, wie sie zur Musik und zu ihrem Instrument gekommen ist. Sie habe sich hin- und hergezogen gefühlt zwischen der zeitgenössischen Klassik und dem Jazz, den sie als afro-amerikanische Musik eigentlich erst 1971 entdeckte, als sie auf einem Flohmarkt ein Album von Slam Stewart erstand, durch das ihr bewusst wurde, dass sich die klassischen Techniken durchaus mit denen des Jazz vermengen ließen. Sie hörte sich durch die großen Kontrabassisten des Jazz und entdeckte den Free Jazz und die freie Improvisation als eine Spielweise, in der sie eigene Ideen entwickeln konnte.
Im zweiten Kapitel benennt Léandre konkrete Einflüsse: die Komponisten John Cage und Giacinto Scelsi, welch letzteren sie 1978 in Rom traf, George Lewis, Derek Bailey und andere Musiker aus der frei improvisierenden Szene. Das dritte Kapitel widmet sie ihrem Instrument, spricht über ihr Verhältnis zum Kontrabass, die Körperlichkeit des Instruments und die Instrumentenhaftigkeit ihres eigenen Körpers. Sie spricht über technische Schwierigkeiten und Strategien, die sie entwickelte, diese zu überkommen, über die Erweiterung des Klangs durch Perkussion auf dem Basscorpus oder durch ihre eigene Stimme.
Kapitel 4 gehört dem Verhältnis von Improvisation und Komposition. Sie reflektiert über die Schwierigkeit der Klassifizierung ihrer Musik, die nicht wirklich Jazz, auf keinen Fall Klassik, natürlich kein Pop ist, vielleicht am ehesten eine Art Musik, wie sie ein jeder in sich habe… Kapitel 5 widmet Léandre der Lebenswirklichkeit einer reisenden Musikerin und überschreibt es mit „Nomad / Monad“. Sie spricht darin auch über die Probleme, sich als Frau in einer von Männern dominierten Welt durchzuboxen. Kapitel 6 beschäftigt sich mit der Bedeutung von Aufnahmen – live oder im Studio; Kapitel 7 mit Business- und politischen Aspekten ihrer Arbeit.
Über die ganze Strecke lässt Médioni Léandre einfach reden, und sie erzählt freimütig von einem Nomadenleben zwischen den stilistischen Stühlen, von einer so intensiven musikalischen Suche, dass sie selbst oft nicht mehr weiß, wie sie anderen erläutern kann, wohin diese Suche sie verschlagen hat. Das schafft dann vielleicht doch am ehesten die Musik selbst, und so ist es nur passend, dass das Buch musikalisch von zwei im Deckel eingebundenen Tonträgern gerahmt ist: der CD eines Soloauftrittes von 2005 sowie der DVD einer Soloperformance von 2009.
Wolfram Knauer (Juli 2011)
The 4th Quarter of the Triad. Tony Oxley. Fünf Jahrzehnte improvisierter Musik
von Uli Kurth
Hofheim 2011
256 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-936000-48-1
Zusammen mit Derek Bailey, Evan Parker und wenigen anderen gehört Tony Oxley zu den wichtigsten Musikern der „freien Szene“ Englands. Uli Kurth begleitet Oxley auf eine Erinnerungsreise von Mainstream- und Tanzkapellen der späten 1950er Jahre über Hardbop-Ensembles der 1960er in die freie Improvisation, die Oxley zusammen mit seinen diversen Mitstreitern zu einer Art performativen Musiziersprache entwickelte, einer Improvisation, wie Kurth schreibt, „die allein auf Grund ihrer Ereignisdichte und vieler Seitenpfade nicht komponiert werden kann“. Kurth hat sich für das Buch über Monate mit Oxley in dessen Wohnung in Viersen getroffen, die unterschiedlichsten Themen angeschnitten und Oxley erzählen lassen: über Mitmusiker, die Londoner Szene der 1960er Jahre, musikalische Konzepte, Jazz oder Nicht-Jazz, grafische Notation, Elektronik. Zwischendrin analysiert Kurth einzelne, wegweisende Aufnahmen Oxleys, etwa „The Baptised Traveler“ von 1969, „Ichnos“ von 1971, Aufnahmen mit Cecil Taylor oder mit seinem eigenen Quartett. Diese analytischen Anmerkungen gehen tief, aber nicht auf vordergründig musikwissenschaftliche Art und Weise, sondern eng verzahnt mit der Schilderung der Aufnahme- und Spielsituation sowie mit Interviewausschnitten Oxleys zu den betreffenden Stücken. Oxley erzählt über seine Malerei, seinen Ausflug in die DDR, seine langjährige Zusammenarbeit mit Cecil Taylor und vieles andere. Kurth gelingt bei alledem ein fliegender Wechsel von nüchterner Biographie, erklärender Sozial- und Musikgeschichte, autobiographischen Einblicken und musikanalytischen Details. Oxleys Musik gehört sicher nicht zu den eingängigsten – das vorliegende Buch erlaubt einen sehr persönlichen Zugang.
Wolfram Knauer (Juli 2011)
Spirits Rejoice!. Albert Ayler und seine Botschaft
von Peter Niklas Wilson
Hofheim 2011 (2te Auflage; 1. Auflage 1996)
191 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-3-936000-87-0
Am 25. November 1970 wurde Albert Ayler aus dem East River gezogen. Die Umstände seines Todes wurden nie vollständig aufgeklärt. Dies versucht auch Peter Niklas Wilson nicht in der ersten Monographie, die überhaupt über diesen Saxophonisten erschien. Doch Wilsons Buch ist ein Beleg dafür, daß Recherchen noch mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Tod eines Musikers neue Erkenntnisse hervorbringen können. Wilson ist dafür sozusagen in die Vergangenheit gereist, hat Zeitzeugen ausfindig gemacht, die bislang von niemandem zum Leben Albert Aylers befragt worden waren, hat das Bild, das er so von der Person Aylers gewann, anhand der existierenden Interviews und Zeitschriftenberichte überprüft und all dies mit den Tondokumenten des Aylerschen Musikschaffens verbunden. Herausgekommen ist ein überaus lesenswertes Sachbuch mit Daten, Fakten, Anekdoten, musikalischen Analysen und einer Kurzbeschreibung der von Ayler veröffentlichten LPs.
Der 1936 im schwarzen Clevelander Stadtteil Mount Pleasant geborene Albert Ayler machte eine jazztypische Entwicklung durch. Mit sieben Jahren erhielt er seinen ersten Musikunterricht vom Vater, später in einer örtlichen Musikschule. Mit fünfzehn spielte er in lokalen Bands — eine Musik, die sich eher am Rhythm and Blues als am modernen Jazz der Zeit orientierte. Mit siebzehn wurde Ayler zum Profi-Musiker, ging mit dem Blues-Harmonika-Spieler Little Walter auf Tournee. Doch er spielte nicht nur R&B, sondern auch Bebop — in Cleveland nannte man ihn damals „Little Bird“. Von 1958 bis 1961 ging Ayler durch eine wichtige Schule: die der US-Armeekapellen. Viel der Repertoire-Besonderheiten des späteren Saxophonisten erklären sich aus seinen biographisch-musikalischen Begegnungen: der Rhythm and Blues in Cleveland, die Märsche und Tanzmusik der Armeekapellen. Bald wurde Ayler ins französische Orléans versetzt, machte Konzerttourneen durch ganz Europa. Zurück in Cleveland erfuhr Ayler eine zweite musikalische Initiation: die des Avantgardisten. Man hielt ihn entweder für einen Scharlatan oder für leicht verrückt. 1962 machte sich Ayler nach Schweden auf, wo er ein Interesse an seiner Musik erfahren hatte, das ihm in Cleveland nicht entgegengebracht wurde. Auch in Schweden aber mußte Ayler sich mit Tanzmusik durchschlagen; lernte allerdings auch einige Musiker kennen, die genau wie er dem „New Thing“ anhingen: John Tchicai beispielsweise oder die Musiker des Cecil Taylor Trios. 1963 kam es in Schweden zu den ersten dokumentierten Aufnahmen: ein Repertoire üblicher Hardbop-Standards mit freien Improvisationen des Saxophonisten. Zurück in den USA zog es Ayler im Sommer 1963 nach New York, wo er ab und zu mit der Cecil Taylor Unit auftrat. 1964 folgte die erste Studioeinspielung „Spirits“, dann Aufnahmen für das Avantgarde-Label ESP, die ihn endlich zu einem musikalisch wahrgenommenen Phänomen der amerikanischen Jazzszene machten.
Mitte der 60er Jahre lag im schwarzen Amerika die Revolution in der Luft. Bürgerrechtsproteste, die Black-Power-Bewegung, frühe Zusammenschlüsse der Black Panthers und zornige Äußerungen der schwarzen Wortführer bestimmten das Klima. LeRoi Jones sah damals in der Musik des New Thing, und besonders in der Musik Albert Aylers den Aufruf zum Protest, zur Revolte. Ayler selbst allerdings äußerte sich nie dezidiert zu einer etwaigen politischen Funktion seiner Musik. „Musik und Politik — sie können auf gewisse Weise verknüpft sein, aber Musik ist Musik und Politik ist Politik“, zitiert Wilson den Saxophonisten.
Wilson betrachtet sowohl die Musik als auch die Ästhetik Aylers dabei durchaus kritisch. Den spirituellen Äußerungen Aylers, deren Resultate sich durchaus in seiner Musik wiederfinden lassen, stellt er da beispielsweise einen oft zornigen Kleinbürger mit Macho-Attitüden gegenüber, den er in den Äußerungen von Ayler-Freunden wie Michel Samson, Sunny Murray und anderen entdeckt. 1967 lernte Ayler Mary Parks (alias Mary Maria) kennen, die sein privates Leben und seine musikalische Karriere nachhaltend beeinflußte. John Coltrane vermittelte Ayler einen Plattenvertrag mit dem Label Impulse. Dessen Produzent Bob Thiele wollte den Saxophonisten einem weiteren Publikum bekannt machen — heraus kam „New Grass“, eine Platte mit Bläsersätzen und Background-Chören und einer offenen spirituellen Botschaft. Wilson argumentiert gegen etliche Kritiker, daß diese Entwicklung nicht einzig auf Thieles Drängen stattgefunden habe, sondern durch und durch dem musikalischen Willen Aylers und dem Einfluß seiner Lebensgefährtin Mary Parks entsprach. Aylers Tod im November 1970 ließ Spekulationen über Selbstmord aufkeimen, Spekulationen, die ihren Grund auch in depressiven Stimmungen hatten, denen Ayler in den letzten Jahren seines Lebens unterlag.
Dem biographischen Teil des Buchs folgt eine ausführliche analytische (dabei übrigens überaus lesbare) Würdigung der musikalischen Seite Albert Aylers. Wilson untersucht die unterschiedlichen Traditionsstränge, die sich in der Musik des Saxophonisten finden: die Musik der schwarzen Kirche, Rhythm ’n‘ Blues, Jazztradition, Märsche. Er gliedert die Entwicklung Aylers in vier Phasen, die des „Free Bop“ (ca. bis 1964), die der „Shapes — From Notes to Sounds“ (1964), die der „Universal Music“ (1965-1967) und die der „Verbalisierung der Botschaft — From Sounds to Words“ (ab 1968).
Peter Niklas Wilsons Buch ist nicht nur deshalb als ein Standardwerk zu Albert Aylers Leben und Schaffen einzustufen, weil es bislang [1997] die einzige Monographie über den Saxophonisten darstellt. Wilson ist es gelungen, ein umfassendes Bild des Menschen Ayler und seiner Musik zu geben, ein Bild, in dem die Biographie, die spirituelle und die musikalische Entwicklung gegenübergestellt und ihre vielfältigen Einflüsse aufeinander sinnvoll dargestellt werden.
Wolfram Knauer (Januar 1997)
„To make a lady out of jazz.“ Die Jazzrezeption im Werk Erwin Schulhoffs
von Miriam Weiss
Neumünster 2011 (von Bockel Verlag)
458 Seiten, 48 Euro
ISBN: 978-3-932696-81-7
Der Jazz überrannte Europa in den 1920er Jahren in vielfacher Weise: als Tanz, als Musik, als Mode, als Lebensart. Es müssen also all die nicht-musikalischen Konnotationen immer mitgedacht werden, wenn man über die Jazzrezeption jener Jahre spricht. Jazz faszinierte Künstler aller Bereiche, Literaten, Maler, Bildhauer, Fotografen, Tanzmusiker genauso wie klassische Komponisten. Über die Jazzrezeption in der klassischen Musik Europas ist viel geschrieben worden. Miriam Weiss konzentriert sich auf einen Komponisten, keinen der „ganz Großen“, dafür einen, der weit mehr als andere den Jazz nicht nur für einzelne Werke, sondern über weite Strecken seines Schaffens als Inspiration nutzte.
Weiss ist sich der Konnotationen bewusst, die der Jazz für viele Künstler in der Zeit der Weimarer Republik bot; sie nennt Jazz in einem Kapitel klar als „Projektionsfläche für Klischees“. Sie beschreibt darin etliche der Missverständnisse, die mit dem Jazz verbunden waren und die letztlich zum weithin zitierten Diktion Theodor W. Adornos führte, der Jazz als eigenständige Kunst gar nicht wahrhaben wollte und ihn stattdessen vor allem als Teil der Kulturindustrie betrachtete. Sie beleuchtet Schulhoffs Kontakte zu den Dadaisten, vergleicht sein Verständnis von jazz mit dem etwa des Malers George Grosz und analysiert vor diesem Hintergrund Schulhoffs „Fünf Pittoresken für Klavier“ von 1919.mit Sätzen wie „Foxtrott“, „Ragtime“, „One-Step“ und „Maxixe“. Auch in der „Suite für Kammerorchester“ findet sich ein „Ragtime“ betitelter Satz, ein „Valse Boston“ und als letzter ein mit „Jazz“ überschriebener Satz („Allegro con fuoco“). Während Schulhoff in Werken wie diesen rhythmische und klangliche Assoziationen an das versuchte, was ihm und etlichen anderen Komponisten als „Jazz“ vorschwebte (kaum einer von ihnen hatte zu dieser Zeit selbst realen afro-amerikanischen Jazz gehört), greift er vor allem in seinen Klavierkompositionen der 1920er Jahre auf leichter zugängliches Material zurück, insbesondere die virtuose, stark vom Ragtime beeinflusste Novelty-Tradition, in deren Folge Kompositionen etwa von Zez Confrey auch auf europäischen Bühnen gespielt wurden. Die Genreklarheit ist auch hier nicht überall gegeben, ob Jazz oder Blues, Ragtime oder Tango – wichtig war vor allem die Anbindung an aktuell populäre Musikformen; ein tatsächliches Bewusstsein für Jazz als eine vorrangig mit Improvisation funktionierende afro-amerikanische Musik war bei europäischen Komponisten und auch bei Schulhoff kaum vorhanden. Erst in seiner „Hot-Sonate“ für Altsaxophon und Klavier von 1930 nahm er in den Melodielinien scheinbar Bezug auf improvisatorische Vorbilder, aber auch auf die jazzspezifische Klangbildung mit Verschleifungen, dirty tones etc.
Die Jazzrezeption in der klassischen Musik des 20sten Jahrhunderts aber sollte auch nirgends als Übernahme von Jazz in ein anderes Genre missverstanden werden. Interessant sind vor allem die Inspirationen; interessant ist, wie die „andere“ Sprache des Jazz Komponisten Möglichkeiten im Klanglichen, Rhythmischen, Harmonischen öffnet, weil sie mit technischen Mitteln neben den üblichen konventionellen Traditionen auf weitere aus der populären Musik verweisen können, Verweise, die letztlich sowohl Struktur bildend wie auch Ästhetik erweiternd wirken. Für Schulhoff wurde die Auseinandersetzung mit den Einflüssen aus dem Jazz jedenfalls stilbildend, nicht nur in den kammermusikalischen Werken seines OEuvres, sondern auch in größeren Gattungen, Ballett, Sinfonie und Oper. Weiss verfolgt die Jazzelemente in all diesen Kompositionen sorgfältig, analysiert rhythmische und melodische Details und erklärt so die spezifische Klangfarbe, die der Jazz seiner Musik beizugeben vermag.
Das Buch entsprang einer musikwissenschaftlichen Dissertation, und etliche der analytischen Details richten sich so vor allem an einen fachinternen Diskurs. Für den musikwissenschaftlichen Laien ist vor allem die genreübergreifende Beschäftigung vieler Künstler der 1920er Jahre mit dem Thema Jazz interessant, die Weiss insbesondere im Kapitel Dada ausführlich erörtert. Wie so oft in Büchern über die Jazzrezeption scheint dem Rezensenten auch hier ein Aspekt nicht deutlich genug erklärt: jener nämlich des produktiven Missverständnisses, dem sich so viele Künstler in jenen Jahren ausgesetzt waren, die mit Jazz ganz verschiedene Dinge konnotierten und zum Teil noch nicht einmal unter sich einig waren, was unter diesem Phänomen wohl zu verstehen sei. Das „Jazz“ in diesem Sinne nichts mit dem zu tun hat, was man im Nachhinein als die Ursprünge einer afro-amerikanischen Kunstform definiert, also mit Oliver, Morton, Armstrong, Ellington, wird schnell klar, aber für welche unterschiedliche Konzepte „Jazz“ genutzt werden konnte oder, wie Weiss schreibt, für welche Klischees der Jazz (und vor allem: welcher Jazz?) als Projektionsfläche dienen konnte, das ist bisher kaum strukturell überzeugend nachzulesen. Miriam Weiss nähert bei dieser Aufgabe wenigstens einem Teilkapitel: welche Funktion Jazz nämlich für die kompositorische wie ästhetische Arbeit im Schaffen Erwin Schulhoffs hatte. Der, schreibt sie, „erkannte die emotionale Wirkung und das brisante, weil provozierende Potential des Jazz“. Dieser habe sich bei Schulhoff im Verlauf der 1920er Jahre von der „aufmüpfigen Göre“ zur „wohlerzogenen Lady“ gewandelt, ein Prozess, der in seiner Musik nachvollziehen allemal spannend genug ist, ihm eine eigene Monographie zu widmen.
Flying High. A Jazz Life and Beyond
von Peter King
London 2011 (Northway Publications)
338 Seiten, 20 Englische Pfund
ISBN: 978-0-9550908-9-9
Peter King mag nicht zu den großen Namen der europäischen Jazzgeschichte gehören. Ein Altsaxophonist, der sein Spiel zeitlebens am großen Charlie Parker orientierte, dabei seine eigene Stimme fand, die aber nie zu weit ab war vom amerikanischen Modern Mainstream seiner Tage, ein Musiker, der von amerikanischen Kollegen auf Europatourneen wegen seiner stilistischen Verlässlichkeit gern engagiert wurde, zugleich aber auch wegen seiner persönlichen Probleme – insbesondere mit Drogen– schwierigste Zeiten durchmachte… ein musicians‘ musician vor allem unter britischen Kollegen, der nichtsdestotrotz eine spannende Geschichte zu erzählen hat.
Spannend ist sie auch deshalb, weil sein Buch nicht einfach nur Musikerbegegnungen aneinanderreiht, wie man das leider sonst so häufig in Biographien und Autobiographien findet, sondern weil King recht offenherzig versucht, den Entscheidungen seines Lebens auf die Spur zu kommen, ob sie nun zu guten oder zu weniger guten Resultaten führten.
Eigentlich hatte er Aeronautiker werden wollen, schreibt er, doch Willis Conovers legendäre Radiosendung „Jazz Hour“ änderte seinen Berufswunsch: Nun wollte er Jazzklarinettist werden. In jugendlichem Enthusiasmus versuchte er selbst eine Klarinette zu bauen, bis seine Eltern Mitleid mit ihm hatten und ihm ein preiswertes Instrument schenkten. Im Gymnasium stolperte er über Charlie Parker und entschied sich zusätzlich Altsaxophon zu lernen. Er tat sich mit anderen Jazzenthusiasten zusammen, die regelmäßig in einer Bäckerei spielten, die sich abendlich in eine Art Jazzclub verwandelte. Musik wurde mehr und mehr zu seiner Hauptbeschäftigung, und nach und nach traf er professionelle Musiker wie Gordon Beck, Kathy Stobart und Ronnie Scott, der ihn bat, im Oktober 1959 bei der Eröffnung seines ersten Clubs zu spielen. Von da ab spielte King (nicht zu verwechseln mit Pete King, dem langjährigen Manager Ronnie Scott’s) regelmäßig im Club, mit eigener Band genauso wie mit durchreisenden amerikanischen Musikern.
In seinem Buch erzählt der Saxophonist Geschichten über Tourneen etwa mit der John Dankworth Bigband, über seine Begegnung mit Bud Powell, über Ben Webster, Sonny Stitt, Tubby Hayes, Dave Holland (der mit ihm spielte, noch bevor Miles Davis ihn engagierte), Annie Ross, Dakota Staton und vielen andere. Europäischer Jazz, schreibt King, habe durch Plattenfirmen wie ECM durchaus einen spezifisch europäischen Sound erhalten, er selbst aber sei halt vor allem von den afro-amerikanischen Wurzeln des Jazz begeistert gewesen.
1962 heiratete King die Sängerin Joy Marshall, eine ungleiche und bald auch unglückliche Ehe, die schließlich in Chaos und Scheidung endete. King erzählt genauso offen wie von anderen persönlichen Entwicklungen seines Lebens von seinem Drogenmissbrauch: Kokain, Heroin, Zeug, für das er den größten Teil seiner Gage ausgab. Er erzählt, wie er mit Hilfe einer bekannten Londoner Ärztin, der auch Stan Getz und Bill Evans wegen ihrer Drogensucht behandelte, versuchte, von dem Stoff wegzukommmen. Später nahm er Methedrin und andere Ersatzdrogen, und in der neu erworbenen Freiheit begann King sich mit klassischer Musik und Literatur auseinanderzusetzen, aber auch die Malerei aufzugreifen. Seine zweite Frau akzeptierte die Tatsache mit einem Süchtigen zusammenzusein und gab ihm in ihrer Akzeptanz Halt.
King berichtet von Auftritten Plattensessions mit Philly Joe Jones, Hal Singer, Jimmy Witherspoon, über Tourneen mit Ray Charles, James Brown, Sacha Distel und Charlie Watts. … Die Geschichten nehmen kein Ende, werden aber auch nie langweilig, weil man eine Ehrlichkeit hinter ihnen spürt, die nicht der Selbstdarstellung geschuldet ist, sondern einer gewissen Selbsterkenntnis. King schreibt mit einer Offenheit, die selten ist in der Jazzwelt, beschreibt die Zwänge seiner Drogensucht, aber auch in welchen Zwängen sich viele der anderen Musiker befanden, mit denen er zusammenarbeitete und die unter ähnlichen Problemen zu leiden hatten. Das alles tut er nicht Mitleid heischend oder voll Vorwürfe, sondern nüchtern, mit einem distanzierten Augenzwinkern und dem Wissen, dass nicht alles okay war, was er oder andere gemacht haben, dass sie alle aber Menschen sind und dass auch eine Biographie aus dem Menschen keinen Heiligen machen sollte.
Zum Schluss erzählt er von seinen kompositorischen Ambitionen, einem Opernprojekt namens „Zyklon“ über den Erfinder von Zyklon B, dem Gift, mit dem die Nazis Hunderttausende Menschen ermordeten. Und er gibt einen kurzen Einblick in sein anderes Hobby, das seinem ersten Berufswunsch geschuldet ist: dem Modell-Flugzeugbau, ein Gebiet, in dem er sich ebenfalls einen Namen machte.
Neben all den Einsichten in das tägliche Leben eines Jazzmusikers also ist dies vor allem ein ehrliches, manchmal überraschendes und damit ungemein lesenswertes Buch.
Wolfram Knauer (Juli 2011)
I Feel So Good. The Life and Times of Big Bill Broonzy
von Bob Riesman
Chicago 2011 (University of Chicago Press)
324 Seiten, 27,50 US-Dollar
ISBN: 978-0-226-71745-6
Bei der enormen Flut an Veröffentlichungen im Bereich von Jazz, Blues und Rhythm ’n‘ Blues ist man doch immer wieder erstaunt, wenn es einem Autoren gelingt, so weit unter die Oberfläche zu gelangen, wie dies Bob Riesman mit seiner neuen Biographie des Gitarristen und Sängers Big Bill Broonzy gelungen ist.
Riesman ist ein Kenner der Chicagoer Folk- und Blueszene, und im Vorwort seines Buchs erzählt er vom Verschleierungskünstler Broonzy, der Daten und sonstige Informationen nach Belieben veränderte und den Biographen so des öfteren in die Leere laufen ließ. In Amsterdam traf Riesman eine Frau, die ein Kind von Broonzy hatte und ihm einen Schuhkarton mit Briefen des Gitarristen in die Hand drückte. Er traf Verwandte in Arkansas, wühlte in Archiven und stückelte so die Lebensgeschichte weit über das hinaus zusammen, was Broonzy selbst 1955 in seiner von Yannick Bruynoghe edierten Autobiographie erzählt hat. Vor allem hinterfragt er viele der Geschichte, die Big Bill ähnlich ausschmückte wie er den Blues sang: mit Lyrik und dramatischem Geschick. Riesman geht Broonzys eigener Namensgebung auf den Grund (eigentlich hieß er (wahrscheinlich) Lee Conley Bradley. Er betrachtet das Arkansas im frühen 20sten Jahrhundert und vergleicht immer wieder die verschiedenen Versionen von Geschichten, die Broonzy über wichtige Ereignisse seines Lebens erzählte. Broonzy begann auf der Fiddle, und Riesman betrachtet die unterschiedlichen musikalischen Einflüsse, denen er als Junge augesetzt war. Er verfolgt den Aufstieg des Gitarristen und Sängers, der nach dem I. Weltkrieg nach Chicago ging und dort bald zu einem der führenden Bluesmusiker der Stadt wurde. 1938 sang er in der Carnegie Hall, und nach dem Krieg war sein Einfluss auf das Folk-Revival um Pete Seger und Studs Terkel nicht zu unterschätzen. In den 1950er Jahren bereiste Broonzy Europa und machte dort enormen Eindruck auf junge Rockmusiker, die in den 1960er Jahren aufbauend auf seinem Stil und dem anderer Bluesmusiker seiner Generation eine eigene populäre Musik schaffen sollten. Nebenbei gräbt Riesman viele biographische Details aus, über Broonzy als Ehemann dreier Frauen etwa und Vater eines Kindes auf dem Alten Kontinent. Zum Schluss des Buchs berichtet Riesman davon, wie Broonzy durch den Krebs erst seine Stimme, dann sein Leben verlor, just zu dem Zeitpunkt, als seine internationale Karriere einem neuen Höhepunkt zustrebte.
Bob Riesmans Buch ist vordergründig eine chronologisch erzählte Biographie und greift fast wie nebenbei viele Stränge der Popmusikkultur des 20sten Jahrhunderts auf. Das Buch ist akribisch recherchiert und dennoch flüssig zu lesen. Etliche seltene Fotos runden ein durch und durch gelungenes Werk ab. Die Geschichte des Blues und Broonzys Rolle darin wird durch das Buch nicht neu geschrieben. Viele Zusammenhänge aber werden klarer, weil persönlicher. Lesenswert!
Wolfram Knauer (Juni 2011)
Klaus Doldinger
von Rainer Thieme
Altenburg 2011 (Kamprad)
127 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-930550-81-4
Klaus Doldinger ist einer der namhaftesten deutschen Jazzmusiker, und seine Karriere hat viele Facetten: Begonnen hatte er mit den Feetwarmers, einer Düsseldorfer Dixieland-Band, um sich dann in den frühen 1960er Jahren moderneren Stilarten des Jazz zuzuwenden. Er experimentierte mit Latin Jazz, ging aber nie den Weg zum Free Jazz, hatte stattdessen ein Pseudonym, Paul Nero, unter dem er zwischen 1964 und 1970 elf Langspielplatten mit Tanzmusik einspielte. Seine Band Passport wurde zur führenden deutschen Fusion-Group seit den 1970er Jahren, und mit seiner Titelmelodie zum „Tatort“ und der Filmmusik zu „Das Boot“ verewigte der Saxophonist sich in der Film- und Fernsehmusikgeschichte.
Rainer Thiemes Buch ist vor allem eine Diskographie mit etwa 100 Seiten Auflistung von Plattensessions, Besetzungen, Reproduktion von LP- und CD-Covers, einer Liste der von Doldinger geschriebenen Filmmusiken und einem Titelindex mit Verweis auf die Platten, auf denen die Titel enthalten sind. Die Biographie des Saxophonisten nimmt dagegen gerade mal jeweils 12 Seiten (deutsch/englisch) ein. Sie ist eher eine nüchterne Zusammenfassung der Karrierestationen. Die Diskographie ist thematisch geordnet: Feetwarmers; Doldinger Quartett; Doldinger’s Motherhood; Doldinger’s Passport; Soloprohekte; Paul Nero; Soundtracks. Alle Platten sind mit Coverabbildungen, Titel- und Besetzungsliste, wo möglich Angaben zum Produzenten und zu Wiederveröffentlichungen dokumentiert. Da die Kapitelüberschriften in der Diskographie etwas zu unauffällig geraten sind, muss man im Buch ein wenig suchen, um die unterschiedlichen Abschnitte voneinander unterscheiden zu können. Davon abgesehen aber ist das Büchlein gewiss ein unverzichtbares Nachschlagewerk für jeden Doldinger-Fan und quasi ein Bestandskatalog für jeden Doldinger-Sammler.
Wolfram Knauer (April 2011)
Die Ernst Höllerhagen Story. Ein Jazzmusiker zwischen Nationalsozialismus und Wirtschaftswunder
von Heiner Bontrup & E. Dieter Fränzel
Wuppertal 2011 (NordPark)
184 Seiten, 15 Euro
ISBN_ 978-3-935421-42-3
Vor fünf Jahren erschien der opulente Band „Sounds like Whoopataal“, eine Lokal- und Regionalgeschichte des Jazz in Wuppertal von den 1920er Jahren über die Free-Jazz-Szene um Brötzmann, Kowald und Co. bis heute. Darin gab es ein ausführliches Kapitel über Ernst Höllerhagen, den Wuppertaler Klarinettisten, der zwischen 1934 und 1955 insgesamt 550 Titel mit verschiedenen Orchestern und unter eigenem Namen eingespielt hatte. Für dieses Kapitel recherchierten E. Dieter Fränzel und Heiner Bontrup in diversen Archiven, sprachen mit Angehörigen, Kollegen und Zeitzeugen und sammelten so viel spannende Information sowohl über seine musikalische Karriere als auch über sein persönliches Schicksal, dass sie sich entschlossen, ihm eine eigene Biographie zu widmen.
„Die Ernst Höllerhagen Story“ beginnt dabei tragisch: mit dem Selbstmord des Klarinettisten, der am 11. Juli 1956 nicht zu einer Probe der Band Hazy Osterwalds erschienen war, und den man bald darauf erhängt in der Toilette fand. Freitod aus Einsamkeit, mutmaßen die beiden Autoren und begeben sich auf die Suche nach einem Leben „zwischen Nationalsozialismus und Wirtschaftswunder“. Höllerhagens Schwester Martha Blockhaus erzählt von der Kindheit und Jugend ihres Bruders, von der Familie, von der Zeit in Wuppertal. In den 1920er Jahren, geht die Legende, habe Höllerhagen mit dem amerikanischen Pianisten Sam Wooding gespielt, und Bontrup und Fränzel klopfen sie auf ihre Wahrscheinlichkeit ab, finden aber auch keine definitiven Belege.
1932 jedenfalls begann Höllerhagen seine professionelle Musikerkarriere in der Band von Jack Alban. In den Jahren darauf trifft er holländische genauso wie Schweizer Kollegen und knüpft Netzwerke, die ihm später hilfreich sein sollten. Er spielt in diversen Bands in den Niederlanden, etwa der des Pianisten Mike Weersma, hat danach ein paar Gigs in der Schweiz, dann wieder in Holland und Belgien, um schließlich auf der Berliner Szene Fuß zu fassen. Es ist ein Leben mit vielen Stationen: Bald ist Höllerhagen zurück in der Schweiz, spielt dort mit den „Berries“, die unter anderem den Tenorsaxophonisten Coleman Hawkins bei Plattenaufnahmen begleiten. Er wirkte in Teddy Stauffers Band, parlierte, Stauffers Biographie zufolge, einen „Heil Hitler“-Gruß schon mal mit „Heil Goodman“ und blieb 1939 mit Stauffer in der Schweiz. Dort machte er Aufnahmen unter eigenem Namen, spielte mit dem Amerikaner Willie Lewis und freundete sich mit Hazy Osterwald an. Mit dessen Sextett trat Höllerhagen 1949 beim Paris Jazz Festival auf, und auf einem Foto im Buch ist Höllerhagen am Tisch neben Max Roach und Kenny Dorham zu sehen. In den 1950er Jahren wurde Osterwalds Band mit Höllerhagen immer wieder für deutsche Spielfilme verpflichtet, die mit leichter Kost von den Zerstörungen des Krieges ablenken sollten. Die Osterwald-Band spielte Jazz und Tanzmusik, und Höllerhagens Spiel wurde von Kritikern wie Kollegen gern mit dem Benny Goodmans verglichen – der Pianist Joe Turner schrieb auf ein Foto gar die Widmung: „To the biggest threat to Benny Goodman“.
Ein aufregendes Musikerleben also – woher, fragen die Autoren, stammen dann die Depressionen, die Höllerhagen offenbar immer mehr einholten? 1943 heiratete er die Jugendliebe Hazy Osterwalds, bekam noch im selben Jahr ein Kind. 10 Jahre später lässt seine Frau sich von ihm scheiden, zieht mit der Tochter in die USA und lehnt jeden weiteren Kontakt zu ihm ab. Kurze Zeit vor seinem Selbstmord erlitt er eine Nervenentzündung im Lippenbereich, so dass er wochenlang nicht spielen konnte. Auch hatte er eine „Herzattacke“, und sah die Gefahr, irgendwann nicht mehr als Musiker arbeiten zu können. Diese Faktoren mögen Gründe für seinen Freitod gewesen sein.
Das letzte Drittel des Buchs nimmt eine ausführliche Diskographie der Titel ein, die Höllerhagen zwischen 1934 und 1955 mit diversen Bands einspielte. Bontrup und Fränzel haben mit der „Ernst Höllerhagen Story“ ein interessantes Kapitel deutscher und europäischer Musikgeschichte dokumentiert. Neben dem Schicksal des Klarinettisten wird dabei vor allem die Beweglichkeit deutlich, die Musiker im Jazz- und Tanzmusikbereich jener Jahre haben mussten, weil die Engagements sie nun mal in unterschiedliche Regionen verschlagen konnten.
Wolfram Knauer (April 2011)
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