Jazz im Widerstand: Die ukrainische Jazzszene im Krieg
von Mariana Bondarenko, Leiterin der Musikabteilung des Ukrainischen Instituts
Kyjiw, April 2025
Seit Beginn der umfassenden russischen Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 ist jeder Aspekt des ukrainischen Lebens tiefgreifend betroffen – und die Jazzszene bildet da keine Ausnahme. Doch selbst unter ständiger Bedrohung, Beschuss, Stromausfällen und Vertreibung hat der ukrainische Jazz nicht nur überlebt – er hat neue Stärke, Resilienz und internationale Anerkennung gefunden.
Vor dem Kriegsausbruch war Jazz in der Ukraine – wie überall – ein Ausdruck von Kunst, Experimentierfreude und Lebensfreude. Musiker:innen loteten die Grenzen des Klangs aus, entwickelten Grooves, traten auf Festivals auf, hatten neue Release-Alben und teilten sie mit ihrem Publikum. Doch mit Kriegsbeginn veränderte sich die Funktion der Musik grundlegend. Sie wurde zu mehr als nur Kunst. Sie wurde zur Botschaft, zur Waffe der Wahrheit, zum Schild für die Seele und zur Brücke zur Welt.
Musik als Widerstand und Heilung
In den ersten Kriegsmonaten reagierten ukrainische Jazzmusiker:innen sofort. Einige traten dem Militär bei. Andere organisierten Benefizkonzerte in Luftschutzkellern, Bahnhöfen oder U-Bahnen. Wieder andere gingen mit ihren Instrumenten ins Ausland und erzählten die Geschichte der Ukraine durch Musik. Initiativen wie das seit 2014 aktive Music Battalion setzten ihre wichtige Arbeit fort und brachten Musik sowohl zu den Truppen als auch zur Zivilbevölkerung.
In Lwiw begann die Initiative Music Cultural Front mit Jazz Konzerten am Bahnhof für Geflüchtete und weitete ihr Engagement später auf Online- und Offline-Benefizkonzerte aus – sogar aus Luftschutzkellern. In Charkiw eröffnete das Kharkiv Music Fest mit einem Konzert in der U-Bahn – ein kraftvolles Symbol kulturellen Widerstands.
Da viele Jazzmusiker:innen aus verschiedenen Landesteilen in Lwiw Zuflucht fanden, entstand im Rahmen des Jazz Bez Festivals 2022 das Programm Jazz Relocation mit Künstler:innen aus Charkiw, Dnipro, Kyjiw und anderen Städten. Einige von ihnen begannen auch an der Mykola-Lysenko-Musikakademie Lwiw zu unterrichten. Der ursprünglich aus der Krim stammende und später in Kyjiw ansässige Usein Bekirov leitet nun die Jazzabteilung; Jakiv Tsvetinsky aus Dnipro und Viktor Pavelko aus Kyjiw ergänzen das Team als Dozenten.
Ehemals geschlossene Jazzclubs öffneten nach und nach wieder – in Kyjiw, Odesa, Rivne, Tschernihiw und Lwiw. Viele Festivals fanden trotz Vertreibung weiterhin statt oder kehrten gestärkt zurück. Jazz Bez in Lwiw, Art Jazz in Rivne, Jazz Kolo in Kyjiw, die Lviv Jazz Days und Bouquet Kyiv Stage kehrten mit Programmen zurück, die lokale und internationale Acts kombinierten. Besonders bemerkenswert: Bouquet Kyiv Stage etablierte sich auch international mit Winter- und Sommerausgaben in London seit 2022 sowie einer georgischen Edition in Tiflis.
Künstlerresidenzen als sichere Häfen und kreative Zentren
Internationale Künstlerresidenzen boten ukrainischen Jazzmusiker:innen im Krieg nicht nur physischen Schutz, sondern auch kreative Kontinuität und Zugang zu neuen Publikumskreisen. In Polen initiierte Katowice City of Gardens unter der Leitung von Martyna van Niewland ein spezielles Residenzprogramm für ukrainische Musiker:innen. Es bot Ressourcen, Proberäume, professionelle Kontakte und Auftrittsmöglichkeiten in der Region.
Ähnliches geschah in Schweden: Musikcentrum ÖST in Stockholm startete ein Residenzprogramm, das es ukrainischen Künstler:innen ermöglichte, Projekte zu entwickeln, mit schwedischen Musiker:innen zu arbeiten und an lokalen Festivals teilzunehmen. In Kooperation mit Stim und dem Stim Forward Fund wurden in den Jahren 2022–2023 elf Musiker:innen und Musikprofis aus der Ukraine in Schweden unterstützt, mit Förderung der Postcode Foundation. Seit 2024 wurde die Zusammenarbeit mit dem Capacity-Building-Programm Resonate UA fortgesetzt. Die erste Delegation ukrainischer Musiker:innen wird an der jazzahead! in Bremen teilnehmen und ihre Projekte dem internationalen Fachpublikum präsentieren.
Neue Plattformen und junge Generationen
Trotz der massenhaften Vertreibung, auch von Studierenden und jungen Künstler:innen, geht die Musikausbildung in der Ukraine weiter. Die Musikakademien sind weiterhin aktiv – und an der Kyjiwer Musikakademie R. Glier wurde mit Jazzclub „43“ ein neuer Treffpunkt für junge Musiker:innen gegründet.
Eine herausragende Initiative ist das Drum Island Fest, das 2022 vom Schlagzeuger und Komponisten Dmytro Khoroshun ins Leben gerufen wurde – als Reaktion auf die vielen vertriebenen Kinder in Kyjiw. Das Festival schafft einen sicheren Raum für junge Schlagzeuger:innen und bietet heute neben Wettbewerben auch Masterclasses, Jam-Sessions und Mentoring. 2024 nahm das Team als Delegation am Überschlag Festival in Hannover teil – vermittelt durch das Ukrainische Institut. 2025 präsentiert das Festival erstmals ein internationales Line-up mit Alirio Torrealba (Venezuela) und Christin Neddens (Deutschland).
Unabhängige Communities wie Fusion Jams haben sich zu kreativen Hubs für moderne Jazzexperimente entwickelt. Dort formierte sich die Band Hyphen Dash, Saxophonist Andrii Barmalii präsentierte erstmals eigene Stücke, Gitarrist Jewhenij Puhatschow, Keyboarder Jewhenij Dubowyj und Drummer Mychajlo Halaktionow gründeten eigene Quartette. Im März 2025 feierte die Szene ihr sechsjähriges Jubiläum mit Acts wie Hyphen Dash, Yevhen Puhachov Quartet, BITLO und Aesthetic Combination – die Stimme einer mutigen neuen Generation.
Inspiriert vom schwedischen Jazznetzwerk KNUTPUNKT initiierte der 32 Jazz Club in Kyjiw die Gründung des Netzwerks MayDay Art für neue Jazzspielstätten in der Ukraine. Gemeinsam mit dem Ukrainischen Institut wurde 2024 eine ukrainisch-belgische Tour in vier Städten realisiert – mit vier Konzerten und zwei Masterclasses.
Widerstand an der Front
Viele Musiker:innen sind nicht nur kulturelle Botschafter, sondern aktive Verteidiger:innen ihres Landes. Einige kämpfen an der Front. So etwa Saxophonist, Komponist und Bandleader Danylo Vinarikov aus Dnipro, heute Leiter der Dnipro Big Band der Philharmonie Dnipro. Nach seiner Rückkehr von der Front gründete er 2024 ein Festival zum Gedenken an Serhii Artemov, einen gefallenen Musikerfreund. Das Ukrainische Institut veröffentlichte die Notensammlung „Serhii Artemov. In Memoriam“ mit acht seiner Kompositionen, die bei Konzerten in der Ukraine und international gespielt wurden – etwa beim NUEjazz Festival oder den Hof Jazz Nights in Deutschland sowie bei einem Tribute-Konzert in Montréal. Weitere Konzerte sind geplant.
Kultur für die Front
Seit Kriegsbeginn sammeln viele Musiker:innen Spenden oder spenden ihre Gagen für die ukrainische Armee. Eine der nachhaltigsten Initiativen ist „NaShapku“ (dt.: „Auf den Hut“) – eine wöchentliche Benefizkonzertreihe, initiiert von Radiomoderatorin Sonia Sotnyk gemeinsam mit der Stiftung Svoi. Seit 2015 wurden über 210 Konzerte veranstaltet und mehr als 6,7 Mio. UAH (ca. 160.000 €) gesammelt. Die Einnahmen flossen u. a. in medizinische Ausrüstung wie eine der größten Sammlungen von Sauerstoffkonzentratoren während der COVID-19-Pandemie und heute in medizinische Hilfe für Soldat:innen. Jeden Donnerstag versammelt sich die NaShapku-Community im Pepper’s Club in Kyjiw mit hervorragenden Jazzacts.
Internationale Partnerschaften
Seit 2022 ist die ukrainische Jazzszene ein Teil des internationalen Diskurses: Die Ukraine präsentierte erstmals einen eigenen Stand bei der jazzahead!, unterstützt vom Ukrainischen Institut. Acts wie Vadim Neselovsky, Ihor Osypov, LELEKA, GANNA und DZ’OB traten bei Showcases auf. Auch bei WOMEX gab es eine nationale Delegation mit Showcase-Künstler:innen. Seither sind ukrainische Delegationen regelmäßig bei beiden Events vertreten.
Ein weiterer Meilenstein war der Beitritt des Ukrainischen Instituts zum Europe Jazz Network (EJN) 2023. Seither wurde ein Verzeichnis ukrainischer Musiker:innen in der Diaspora veröffentlicht und die ukrainische Jazzszene offiziell in das EJN Jazz Panorama aufgenommen. Delegationen nehmen jährlich an der European Jazz Conference teil – eine Plattform für Austausch, neue Kooperationen und Sichtbarkeit.
Beispiele erfolgreicher Kooperationen:
- Schweden–Ukraine: Drummer Peter Danemo und Bandurist Georgi Matviiv – ein Dialog zwischen nordischer Klangästhetik und ukrainischer Tiefe.
- Global Jazz – Ukraine: Pianist Usein Bekirov veröffentlichte das Album Free Way mit Legenden wie Bill Evans, Frank Gambale, Michael League und Dennis Chambers.
- Belgien–Ukraine: Pianist Ivan Paduart, Gitarrist Patrick Deltenre, Bassist Ihor Zakus und Drummer Yaroslav Borys traten gemeinsam in der Ukraine auf – organisiert im Rahmen der Green Pilot Tours.
- Deutschland–Ukraine: Die Band LELEKA mit Sängerin Viktoria Anton und Gastmusiker Maksym Berezhniuk veröffentlichte das Album RIZDVO – ukrainische Weihnachtslieder in Jazzvariationen.
- Polen–Ukraine: Pianistin Kateryna Ziabliuk spielte mit der polnischen All-Female-Jazzband N.E. im Showcase bei jazzahead! 2024.
- Portugal–Ukraine: Sängerin Kateryna Avdysh veröffentlichte ihr Debütalbum Always Alive, u. a. mit dem Song One Way Ticket im Duett mit Salvador Sobral (ESC-Gewinner 2017).
Medienpartnerschaften und Sichtbarkeit
2023 widmete Jazz Forum (Polen) eine ganze Ausgabe der ukrainischen Jazzszene. In Frankreich veröffentlichte Citizen Jazz das Sonderheft We Insist! in Kooperation mit Meloport und dem Ukrainischen Institut. 2024 startete das Projekt Ukrainisch-Polnische Jazzverbindungen (im Rahmen von Grace Note und JazzKultura) eine umfassende Recherche zur Jazzgeschichte beider Länder, die in Artikeln und Interviews mündete.
Das Magazin All About Jazz startete die Reihe A Brief Guide to Ukrainian Jazz – ein internationaler Überblick über die Szene.
Fazit
Auch wenn der Krieg weitergeht und die Herausforderungen wachsen – die ukrainische Jazzszene bleibt eine lebendige Kraft des Widerstands, der Gemeinschaft und des künstlerischen Ausdrucks. Doch diese Dynamik braucht internationale Unterstützung: durch Residenzen, Bookings, Kompositionsaufträge, Bildungsprogramme und kreative Kooperationen.
Jedes Projekt, jedes Konzert, jede neue Verbindung stärkt nicht nur die Kunst, sondern auch den Überlebenswillen eines Landes – für seine Kultur, seine Freiheit, seine Stimme.
Gerade jetzt braucht der ukrainische Jazz die Welt – und die Welt braucht den Mut und die Kreativität des ukrainischen Jazz.
Lasst uns weiterspielen. Lasst uns zuhören. Lasst uns zusammenstehen.