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Kansas City Jazz. A Little Evil Will Do You Good
von Con Chapman
Sheffield 2023
370 Seiten, 30 Britische Pfund
ISBN: 9781800502826
Eines Morgens, beginnt Con Chapman sein Buch über Jazz in Kansas City, hörte Bill Basie, der gerade mit einer Revuetruppe in Tulsa, Oklahoma, war, Musik, von der er dachte, sie käme von einer Schallplatte. Aber nein, es war eine Band, die auf einem Lastwagen spielte, um Werbung für ihren Gig am selben Abend zu machen. Es waren die Blue Devils, und sie waren sein erster Kontakt nach Kansas City.
Neben New Orleans, Chicago und New York war K.C. wahrscheinlich die wichtigste Stadt der Jazzgeschichte bis zur Mitte des 20sten Jahrhunderts. Count Basie, Jay McShann, Mary Lou Williams, Ben Webster, Lester Young, Charlie Parker – sie alle begannen ihre Karriere in der Stadt im Mittleren Westen, die ihre lebendige Musikszene zum einen der Tatsache zu verdanken hatte, dass sie Eisenbahnknoten und zentraler Viehmarkt war und die Händler und Käufer sich nach dem Geschäft gern unterhalten ließen, zum anderen, dass in den 1930er Jahren eine korrupte Stadtregierung den Kasinos und Revuetheatern der Stadt freie Hand ließ, oder besser, den Besitzern selbiger, die eng mit der örtlichen Unterwelt verbunden waren.
In Kansas City jedenfalls erklang eine Musik, die anders war als in allen anderen Metropolen des Landes: mal dem Ragtime verbunden – James Scott hatte eine Weile hier gewirkt -, stark vom Blues durchdrungen, der Improvisation aufgeschlossen, den instrumentalen Wettbewerb anfeuernd. Con Chapman erzählt in seinem Buch die Geschichte dieser Musik von den Anfängen bis in die 1940er Jahre. Er beginnt mit den Wurzeln im Ragtime, in der Minstrelsy und den Tent Shows, einer Musik, die mal dem Zirkus nahe stand, dann europäischer Salonmusik mit einem rhythmischen Pusch. Während der Jazz meist mit New Orleans, Chicago und New York verbunden wurde, waren viele der Ragtime- und Bluespioniere in Städten wie St. Louis oder Kansas City zuhause.
Chapman sieht es als seine Aufgabe an, auch oft übersehene Musiker zu legitimieren. So kontert er die zeitgenössische Kritik an der Theatralik Wilbur Sweatmans, der in seinem Bühnenact schon mal drei Klarinetten zugleich spielte, mit dem Verweis auf Rahsaan Roland Kirk (der das allerdings aus ganz anderen Gründen tat). Er verweist zu Recht auf die weit offenere Genrehaltung der frühen Jazzjahre, in denen technisch exzellente Musiker wie Sweatman ohne ästhetische Bedenken klassische Stücke genauso spielen konnten wie Gpysy Tunes, Ragtime, Blues oder Jazz.
Vom Stomp zum Swing, von der Tuba zur Bull Fiddle überschreibt Chapman sein zweites Kapitel, das letzten Endes davon handelt, wie die Musik von der Revuebühne mehr und mehr aufs Tanzparkett wechselte und sich dabei auch klanglich veränderte. Er führt nach und nach seinen ersten Hauptcharakter ein: den Tubisten Walter Page, der 1923 zusammen mit anderen die Blue Devils gründete, die Basie in Oklahoma gehört hatte. Chapman erklärt, wie die Band klarer, schärfer, sauberer geklungen habe als andere Bands der Stadt, die des Schlagzeugers Jesse Stone etwa und auch die Bennie Motens, der sich schließlich entschloss, wenn er die Blue Devils schon nicht musikalisch schlagen konnte, sie eben nach und nach, Musiker um Musiker zu plündern.
Dann nimmt sich Chapman die anderen Bands der Zeit und Region an: die bereits erwähnten von Moten und Stone, Troy Floyd, Alphonso Trent, Nat Towles. Er weiß Geschichten, die Musiker über die Bands und ihre Musik erzählten; er hört sich aber auch selbst die Aufnahmen an, die ab den frühen 1930er Jahren auf den Markt kamen. Er beschreibt den Wandel in der rhythmischen Auffassung, der insbesondere im Kansas City-Jazz zu spüren ist, diskutiert die Entwicklung der elektrischen Gitarre (Eddie Durham, Charlie Christian), und erklärt den Erfolg der All American Rhythm Section der Basie Band.
Er verfolgt die Musiker von ihren Tanzgigs zu den informellen After-Hours-Sessions, die zugleich eine Mischung aus Wettbewerbsarena und Experimentierlabor waren. Er betont die Bedeutung der Improvisation, der eigenen Stimme, des überzeugenden Narrativs, auf das in dieser Musik geachtet wurde, und er beschreibt, wie selbst viel der Musik der größeren Ensembles diese Jam Session-Atmosphäre atmete, wenn sie tatsächlich auf spontan gemeinsam entwickelten Riffs fusste.
Er verfolt die Boogie-Woogie-Mode der 1930er, deren wichtigste Protagonisten alle zeitweise in Kansas City aktiv waren, und die Legenden um die Tenoristen der Stadt, Herschel Evans, Ben Webster und Lester Young. Er diskutiert “Shouters and Singers”, Joe Turner und Jimmy Rushing, Cleanhead Vinson und Jimmy Witherspoon, aber auch ihre weiblichen Kolleginnen, Ada Brown, Julia Lee, June Richmond, Trixie Smith und Helen Humes. Er listet Trompeter auf wie Hot Lips Page, Buck Clayton, Ed Lewis, Harry Edison oder Snooky Young, und Posaunisten wie Jack Teagarden, Jimmy Harrison, Dan Minor oder Dicky Wells.
Er widmet ein Kapitel Andy Kirk und seinen Twelve Clouds of Joy sowie der Pianistin und Arrangeurin Mary Lou Williams, ein weiteres den Altsaxophonisten Buster Smith und Eddie Barefield, lässt auch die Thamon Hayes Rockets nicht aus, die nicht ganz den erhofften Erfolg hatten, und landet schließlich bei Charlie Parker, dessen Kindheit und Jugend in Kansas City ihn wohl zu dem gemacht hat, was er war: ein im Blues verhafteter Musiker, der wusste, dass er sein Instrument vollkommen beherrschen musste, um es in der Musik zu etwas zu bringen.
Ein Ausflug bringt uns das Orchester Jay McShanns näher, in dem Parker seine ersten offiziellen Aufnahmen machte. Und zum Schluss erklärt Chapman noch ein wenig die politische Lage, in der die Musikszene florierte im Kansas City der 1930er Jahre, die korrupte Stadtregierung also unter Bürgermeister Tom Pendergast, und der Niedergang der Kulturszene, der mit dessen Verhaftung und dem politischen Wandel in der Stadtverwaltung verbunden war. Dieses Kapitel hätte man sich übrigens früher gewünscht, vielleicht mit einer eingehenderen Diskussion der wirtschaftlichen Hintergründe, auf denen die Musikszene hier fusste.
Auch der musikalische Wandel machte der Szene zu schaffen: Der junge Bebop war keine Massenmusik mehr. Und hier wird Chapmans Buch stellenweise leider zur Klischeesammlung – zwischen den Zeilen lässt sich leicht erkennen, dass dem Autor die Entwicklung hin zum Bebop nicht wirklich gefällt, dass er sich am Riemen zu reißen versucht, dann aber doch noch ein Zitat findet – von Mary Lou Williams oder Ralph Ellison -, das seine kritische Haltung zu stützen scheint.
Hier auch endet Chapmans Buch, und in seiner ästhetischen Wehmut hat er zugleich eine große Chance vertan: nämlich zu erkennen, dass die Geschichte des Jazz in Kansas City auch eine der Ermächtigung schwarzer Künstler:innen war, dass sie just jenen Umschlagpunkt beleuchtet, in der der Jazz von Unterhaltung zum Experiment wurde. Von hier an ging es nicht mehr zurück. Ohne Kansas City wären ein Großteil der spätereen Jazzentwicklungen gar nicht denkbar – und dasselbe gilt eigentlich für die gesamte afro-amerikanische Musikkultur.
Enden wir aber versöhnlich: Chapmans Buch ist leicht lesbar; es gelingt ihm neben den Stars der Ära auch weniger bekannte Musiker:innen zu beleuchten, und wenn die musikalischen Verweise auch wenige sind, so sind sie dennoch da, ermutigen also zum Weiterhören. In seinem Buch findet sich nichts, was nicht auch anderswo ähnlich diskutiert worden wäre; er hat allerdings fließig in den Quellen gewühlt und immer wieder interessante Verweise gefunden, die durchaus eine seltener bedachte Seite der Ära erklären helfen.
Wolfram Knauer (März 2023)
The Routledge Companion to Jazz and Gender
herausgegeben von James Reddan, Monika Herzig und Michael Kahr
New York 2023 (Routledge)
498 Seiten, 152 Britische Pfund
ISBN: 978-0-367-53414-1
Sie versuche Konferenzen zu vermeiden, bei denen sie eingeladen werde, um über “Frauen im Jazz” zu sprechen, sagte die amerikanische Musikwissenschaftlerin Sherrie Tucker einmal in Darmstadt. Wann immer sie auf das Thema angesprochen werde, betone sie, dass, wer auch immer sich mit Frauen im Jazz befasse, sich mindestens gleichermaßen mit Diversität im Jazz befassen müsse. Nach Darmstadt brachte Tucker damals, im Jahr 2015, eine Konferenz, die das Jazzinstitut unter dem Titel “Gender and Identity” abgehalten hatte und deren Buchpublikation durchaus wegweisend war, weil sie eben über das reine “Frauenthema” hinausblickte. Zuvor hatte es zwar einige Bücher gegeben, die sich “women in jazz” widmeten, auch immerhin eines, dass sich dem Thema der Homosexualität annahm – dann aber gleich in der gesamten populären Musik. Jetzt haben James Reddan, Monika Herzig und Michael Kahr ein dickes Kompendium herausgebracht, dass sich zumindest ansatzweise an die gesamte Bandbreite von “Jazz and Gender” heranwagt.
Es ist ein “companion”, also keine systematische Übersicht über die Thematik, sondern eine Sammlung sehr unterschiedlicher Aufsätze. Die Herausgeber haben sich entschieden die 38 Essays in vier Blöcken zusammenzufassen, die bereits die Vielfalt der Ansätze andeuten: “Historical Perspectives”, “Identity and Culture”, “Society and Education” sowie “Policy and Advocacy”.
Die erste Abteilung, “Historical Perspectives” versammelt beispielsweise einen Beitrag über sexistische Klischees zum Jazz in Australien (Bruce Johnson), eine Reflektion über die legendäre Mamie Desdunes in New Orleans (Benjamin Barson), eine Darstellung über Lil Hardin und Helen Joyner (Jeremy Brown), über die queere Ästhetik der 1920er Jahre (Magdalena Fürnkranz), über schwarze Musikerinnen im britischen Jazz zwischen den Weltkriegen (Jessica Chow), über Maskulinität im Auftreten von Freddie Hubbard, Lester Bowie (Aaron J. Johnson) und Lee Morgan (Keith Karns), sowie über die Programmgestaltung etablierter Jazzspielstätten aus feministischer Sicht (Kara Attrep).
Der Teil über “Identity and Culture” befasst sich beispielsweise mit den Bedingungen, die es Mädchen und Frauen erschweren Jazz zu spielen (Erin L. Wehr), mit dem Zusammenhang zwischen Gender, Geschlecht und dem Spiel des Saxophons (Yoko Suzuki), mit der Vielfalt an Identitäten, die Jazzmusiker:innen ausmachen (Wolfram Knauer), mit der Rolle von Geschlecht bei Jazz-Wettbewerben (Matthias Heyman), mit der Geschlechterbalance in europäischen Jazzfestivals (Kristin McGee), mit patriarchalen und rassistischen Klischees in Bezug auf den Tanz im Jazz (Brandi Coleman), mit der Schwierigkeit für Frauen das “glass ceiling” der Jazzwelt zu durchbrechen (Marie Buscatto), sowie mit offen schwulen Jazzmusikern der jüngeren Vergangenheit, Graham Collier, Fred Hersch, Gary Burton (Ann Cotterrell).
“Society and Education” ist jener Buchteil überschrieben, in dem hinterfragt wird, inwieweit Gender-Stereotype sich bis in die Jazzgeschichtsschreibung und –pädagogik finden lassen (James Reddan), wie Frauen in drei verschiedenen “textbooks” zum Jazz erwähnt werden (Ramsey Castaneda, Amanda Quinlan), wie die Gitarre eigentlich ein “gendered instrument” sei, also eines, das mit einem bestimmten Geschlecht verbunden wird, und wie man das ändern kann (Tom Williams). In einem eigenen Kapitel erzählt die Bassistin Jennifer Leitham von ihrer Transition von Mann zu Frau (Joshua Palkki, Carl Oser). Und dann lesen wir noch über den Versuch einer inklusiven Jazzpädagogik (Sonya R. Lawson), sowie über die Erfahrungen weiblicher Pädagoginnen in Hochschulkontext (Natalie Boeyink).
“Policy and Advocacy” schließlich beschreibt unter anderem die jüngsten Bestrebungen nach “gender justice” im Jazz (Betariz Nunes, Leonor Arnaut), die Erfahrungen von Musikerinnen in Spanien (Rebeca Munozu-García) und Südosteuropa (Jasna Jovicevic), Wege zur Geschlechtergerechtigkeit durch Mentorenschaft und andere Arten des Empowerment (Ellen Rowe) sowie die Rolle von Frauenkapellen in der Jazzgeschichte und -gegenwart (Monika Herzig).
Zusammen mit anderen Büchern zum Thema – beispielsweise denen von Sherrie Tucker oder dem bereits erwähnten Darmstädter Band zu “Gender and Identity” – bietet der “Routledge Companion to Jazz and Gender” eine gute Übersicht über den Forschungsstand. Bei der Lektüre wird schnell klar, dass es sich beim Thema um eine Entwicklung handelt, die noch lange nicht abgeschlossen ist. Wir befinden uns mitten im Diskurs, der im Buch immer wieder durchscheint, mit mal mehr, mal weniger Vehemenz, mit Erfahrungsberichten genauso wie Handlungsanleitungen. Das Buch ist ein akademischer Band geworden, dick also und nicht gerade preiswert, aber hoffentlich insbesondere an Hochschulen präsent und viel genutzt, erlaubt er doch eine kritische Selbstbetrachtung der Jazzlandschaft, die seit langem überfällig ist.
Wolfram Knauer (Dezember 2022)