De Motu
von Evan Parker
Nantes 2018 (Lenka Lente)
54 Seiten, 8 Euro
ISBN: 979-10-94601-23-5
Ein Reclam-Heft von Evan Parker! Nein, natürlich ist Lenka Lente nicht Reclam, aber ihre Veröffentlichungen haben eine ähnlich praktische Größe.
„De Motu“ heißt eine Komposition, die Parker 1992 für ein Festival in Rotterdam schrieb, ein Auftrag, der ihn darüber nachdenken ließ, wie sich die Art „freier Improvisation“, für die er stand, von anderen Formen avantgardistischer Musik, Neuer Musik oder ähnlichem unterschied. Er stellt fest, dass seine art Musik in den Niederlanden offenbar die beste Förderung erhält und dass es vielleicht nicht so unklug war, als Misha Mengelberg und Han Bennink ihr Musikkollektiv ICP nannten, „Instant Composers‘ Pool“. Hatte Vinko Globokar vielleicht recht, als er anmerkte, Platten mit freier Improvisation solle man sich möglichst nur ein einziges Mal anhören, um ihrer Spontaneität gerecht zu werden? Was genau ist das Material des improvisierenden im Vergleich zu jenem des komponierenden Musikers?
Diesem kurzen kritischen Blick auf Funktion und Stellenwert seiner eigenen Kunst folgt Parker mit einer Erinnerung an ein Konzert, bei dem er in einer Galerie ein Duo mit einer Klangskulptur spielte. in einem weiteren Text er Improvisation als kompositorische Methode; und schließlich fasst er all das zusammen in einer Erinnerung an die Vorbereitungen für das Rotterdamer Konzert, wie er sein Werk als grafische Partitur, als Master-Tape, das alles begleitet vom vorliegenden Essay der finanzierenden Rotterdamse Kunststichting übergeben werde.
Ein Reclam-Heft von Evan Parker. Darauf haben wir gewartet!
Wolfram Knauer (August 2023)
ABÉCÉDAIRE Jacques Demierre AB C BOOK
von Jacques Demierre
Nantes 2018 (Lenka Lente)
252 Seiten, 20 Euro
ISBN: 979-10-94601-22-8
Guilaume Belhomme interviewte den Schweizer Pianisten Jacques Demierre 2011, war von einigen seiner eigenen Publikationen so beeindruckt, dass er ihm anbot ein Assoziationsbuch zusammenzustellen, freie Hand von A bis Z.
Der rote Faden, schreibt Demierre ins einer Einleitung, sei seine Erfahrung von Klang gewesen, als Pianist, als Performer, als Komponist und als Improvisator. Und so schreibt er darüber, wie das Gefühl von Freundschaft („amitie“) die Wahrnehmung von Musik beeinflusst, wie sein Verhältnis zum Instrument ein fast intimes sei („amorous“), über die Notwendigkeit von Balance – auf der Bühne, im Klavier, im Raum, sowie über die Klavierstimm-Geschichte eines Flügels in Chicago („Constellation“).
Er erinnert sich an einen weisen Mann, dem er in einem Park in Bolivien begegnete („Equilibrium“), erklärt, was er mit seinen „Fabrik Songs“ (nach Kurt Weill) bezweckte, beschreibt das Erlebnis des improvisatorischen Flusses („Flux“), und erinnert sich, wie ihn die Mundharmonika immer an die menschliche Stimme erinnerte („Harmonica“).
Er reflektiert über „Intuition“ und beschreibt das Erlebnis auf einem Hamburger Steinway zu spielen („Liszt“), macht sich Gedanken über das Verhältnis von Bewegung („Movement“) und Klang, und betrachtet „Nietzsche“ als Improvisator. Er sinniert über die Verantwortung von Kunst angesichts von Gewalt in der Welt („Paris“) und erinnert eine Begegnung mit Luciano Berio („Pasta“). Er denkt über die Beschaffenheit der Hände eines Pianisten nach („Pelt“), und weiß über den argentinischen Linguisten Luis „Prieto“ zu berichten. Er schreibt über die Notwendigkeit sich als Pianist auf jedwedes Instrument einzulassen („Ruin“) und über ein Kunstobjekt von Joseph Beuys („Silence“).
Es sind Gedankenfacetten, Erinnerungen an Erlebnisse, mal philosophische, mal humorvolle Geschichten, die Demierre ausbreitet wie kurze, einprägsame, nachdenklich machende Piècen. Dem zweisprachigen Buch (Französisch/Englisch) liegt eine CD mit einer Aufnahme der Lautkomposition „Ritournelle“ bei, einer langsamen Lautverschiebung von „fremd“ über „Gruft, „Suche“, Wahl“ bis zu „mit“ – kein Klavier, nur Wortverfremdungen.
Wolfram Knauer (Mai 2021)
The Jazz Pilgrimage of Gerald Wilson
von Steven Loza
Jackson/MS 2018 (University Press of Mississippi)
189 Seiten, 25 US-Dollar
ISBN: 978-1-4968-1602-3
Gerald Wilson gehört zu den „musicians‘ musicians“ des Jazz: ein Musiker, dessen künstlerische Qualität von jeder Kollegin, jedem Kollegen gelobt wird, der durchaus sein Publikum erobert hat, aber dennoch von der Jazzgeschichtsschreibung weitgehend ignoriert wird. Steven Loza lehrt Musikethnologie an derselben Universität, an der Wilson lange Zeit Jazzgeschichte unterrichtete, und sein Ziel mit diesem Buch ist es, Wilsons musikalische Philosophie zu vermitteln, von der er zu Lebzeiten des Kollegen offenkundig zutiefst berührt wurde. Sein Buch will dabei Biographie genauso sein wie den Kontext vermitteln, aus dem heraus Wilson seine Kunst entwickelte, insbesondere im Kalifornien der 1950er bis 2000er Jahre. Loza lässt dazu in weiten Teilen Wilson selbst zu Worte kommen und bildet die Gespräche mit ihm in Interviewform ab.
Wilson beginnt mit seiner Familiengeschichte. Geboren in Shelby, Mississippi, erhielt er mit vier oder fünf Jahren den ersten Klavierunterricht von seiner Mutter. Er erzählt von den Ausbildungsmöglichkeiten einer ambitionierten Familie in den 1920er und 1930er Jahren, von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise von 1928, die auch in Shelby zu spüren war, von seiner Schulzeit in Memphis, von der Unterstützung durch einen wohlmeinenden Lagerhausbesitzer und seine Familie, und von seiner Liebe zur Musik der Zeit, egal, ob sie von schwarzen oder weißen Bands gespielt wurde. Seine erste Trompete erhielt er noch in Shelby, seinen ersten Unterricht dann bereits in Memphis, wo er auch schnell Mitglied einer Band wurde. Mit 16 kam er zum ersten Mal nach Chicago, das, wie er erzählt, genauso segregiert war wie Memphis, wo man aber diesen „Drang nach Freiheit“ spürte, den Drang nach gesellschaftlicher Veränderung.
Statt in Chicago landete Wilson 1934 erst einmal in Detroit, das politisch allerdings weit fortschrittlicher war als Chicago, wo es beispielsweise keine segregierten Parks gab. Er ging weiter zur Schule, landete auch aber schnell in einer der besten Bands der Stadt. Es war der Einstieg ins Profigeschäft: Bald folgten die erst die Band von Edgar Hayes (1938), dann vor allem jene von Jimmie Lunceford (ab 1939), in der er mehr und mehr zu arrangieren begann. 1942 verließ er Lunceford, um nach Los Angeles zu ziehen, wo er gute Kontakte hatte und von wo aus er bald zum Wehrdienst eingezogen wurde. Er erzählt vom Training in der unter Musikern legendären Great Lakes Naval Training Station, wo er in einer der Navy-Bands spielte, bis er 1944 aus gesundheitlichen Gründen aus der Armee entlassen wurde. Zurück in Los Angeles gründete Wilson sein eigenes Orchester, mit dem er bald die gesamte Westküste bereiste, aber auch bis nach Chicago kam und zusammen mit Ella Fitzgerald und Louis Armstrongs Orchester die Bühne teilte. Er hatte junge Musiker in der Band und spielte ein Repertoire, das deutlich auf den aktuellen Bebop Bezug nahm, etwa in seiner Aufnahme von Dizzy Gillespies „Groovin‘ High“ von 1945.
Das Musikerleben war allerdings … sagen wir mal, „vielseitig“: Einerseits schrieb Wilson Arrangements für Duke Ellington, hielt sich andererseits mit dem Betrieb eines eigenen Lebensmittelladens in L.A. über Wasser und studierte nebenbei mit dem Pianisten und Komponisten Phil Moore Komposition, weil er hoffte, so in der Studioszene Hollywoods Fuß fassen zu können. Er schrieb Arrangements fürs Count Basie Orchestra der späten 1940er Jahre und leitete die Begleitband für Billie Holiday auf einer Tournee, die zum finanziellen Fiasko wurde. In den 1950er Jahren besaß er kein eigenes Orchester mehr, arbeitete stattdessen in Studiobands fürs Fernsehen, arrangierte Platten für Pop- und Soulmusiker, und wirkte bei der Realisierung von Filmmusiken mit, etwa für Duke Ellingtons Soundtrack zu „Anatomy of a Murder“. In den 1960er Jahren gelang es Wilson aus einer Probenband wieder ein eigenes Orchester zusammenbauen, das für das Label Pacific Records Aufnahmen machte, die Bigband-Jazz mit aktuellen Poptrends verbanden und Musiker wie den Hammondorganisten Richard ‚Groove‘ Holmes herausstellten oder Titel wie Miles Davis‘ „Milestones“, Homages an Ravi Shankar oder an Aram Khachaturian. Kein Geringerer als Eric Dolphy war bereits in den 1950er Jahren durch Wilsons Schule gegangen und hat eigenem Zeugnis entsprechend hat vor allem von der stilistischen Neugier seines Mentors profitiert.
Während Wilson die Zeit bis in die 1950er noch weitgehend selbst kommentiert, greift Loza für die 1960er Jahre vor allem auf zeitgenössische Quellen zurück, zitiert Rezensionen der Zeit und erklärt den Kontext der Aufnahmen, die im Mittelpunkt dieser Kapitel stehen. In den 1970ern erhielt Wilson mehrere Aufträge für sinfonische Kompositionen, begann andererseits seine Arbeit als angesehener Jazzpädagoge. Auch im Rundfunk war er aktiv, wo er seit 1969 eine regelmäßige Sendung auf dem Jazzsender KBCA in Los Angeles moderierte. Loza fasst die Kompositionen der 1980er und 1990er Jahre zusammen, erwähnt eine große Würdigung Wilsons durch das Lincoln Center Jazz Orchestra und erklärt die Faszination des Arrangeurs mit lateinamerikanischen Einflüssen. In seinem letzten Kapitel geht er schließlich auf Wilsons „musikalische Philosophie und seinen Stil“ ein, auf harmonische und satztechnische Besonderheiten, die er auch mithilfe von Partituren verdeutlicht.
Ganz zum Schluss spricht er von der „Mestizität“ Gerald Wilsons, und meint damit die Erfahrung vieler Lateinamerikaner verschiedene kulturelle Identitäten in sich zu tragen. In diesem Schlusskapitel finden sich darüber hinaus einige Weisheiten Gerald Wilsons, wegen der ihn viele seiner Mitmusiker auch bewundert haben. Er beschreibt den Jazz als afro-amerikanische Musik und damit als Ergebnis einer andauernden Akkulturation. Er spricht über die produktive Art und Weise von Jazzmusikern mit scheinbaren Fehlern umzugehen, sie nämlich als kreativen Ausgangspunkt für Neues umzudeuten. Er kritisiert das Bildungssystem, das letztlich dafür verantwortlich sei, dass es so wenig schwarze Musiker gibt, macht sich aber dennoch um die Zukunft des Jazz keine Sorgen.
Lozas Buch bietet eine zwiespältige Lektüre: Die Gesprächsteile mit Gerald Wilsons sind das Herzstück seines Buchs und als Quelle über die ästhetischen Entwicklung des Musikers ungemein spannend. Loza verzichtet aber sowohl auf eine „Lesbarmachung“ des Ganzen, also einen Editionsprozess, der beispielsweise Sätze klarer strukturieren, Zeitsprünge, die Wilson immer wieder vornimmt, auflösen, oder wenigstens den Kontext erklären würde. So muss man immer wieder nachblättern, um sich zu vergewissern, in welchem Jahr man eigentlich ist, wird durch lange Erinnerungen geführt, in denen Wilson betont, „Das ist jetzt wichtig“, um dann aber nie wieder drauf zurückzukommen. Das analytische Kapitel bildet Gespräche mit Wilson ab, in denen die beiden sich über Harmonik, Form und Orchestrierung austauschen, aber in den vorangegangenen Kapiteln über die Platten der 1960er bis 1990er Jahre verlässt sich Loza größtenteils auf journalistische Rezensionen. Einer eigenen Wertung will er sich weitestgehend entziehen, kann dann aber doch seiner persönlichen Begeisterung in der Beschreibung der Aufnahmen kaum entkommen. Das alles ist schade, denn Wilson hat ihm tatsächlich jede Menge Stoff geboten, der es erlauben würde, hinter die Musik zu blicken. Viele Fragen werden nicht beantwortet, weil Loza sie erst gar nicht stellt, oder weil er die Antwort höchstens andeutet: Themen wie Studioarbeit in Hollywood, alltäglicher Rassismus und deren Auswirkungen auf die Karriere eines Musikers, Repertoirekenntnis und was diese bedeutet, der Inhalt seiner immer wieder erwähnten Auseinandersetzung mit Komposition und klassischer Musik … Immer wieder fühlt man sich als Leser dabei ertappt zu denken, das ist jetzt aber interessant, zu hoffen, dass gleich eine Erläuterung kommt, doch dann geht’s einfach nur… weiter im Text. Ein wenig also eine vergebene Chance… aber natürlich kann man es auch anders, positiver sehen: Steven Loza bietet mit seinem Buch über Gerald Wilson künftigen Forschern jede Menge Themen, über die es sich zu forschen lohnt.
Wolfram Knauer (August 2020)
Das Kontrabass-Buch
von Jonas Lohse
Friedberg 2018 (Jonas Lohse)
324 Seiten, 39 Euro
ISBN: 978-3-00-060798-1
Jonas Lohse ist Kontrabassist, Bassbauer und Grafiker und ein sehr aktiver Akteur in der lebendigen Frankfurter Jazzszene. In seinem neuen Buch hat Lohse jetzt sein immenses Fachwissen über das Instrument zusammengefasst: die Geschichte des Kontrabasses, Spieltechniken, besondere Bassisten in Klassik und Jazz, Instrumentenvarianten und spezielle Bässe aus über 400 Jahren Instrumentengeschichte.
Er beginnt mit den ersten Streichinstrumenten in Basslage, die bereits im frühen 16. Jahrhundert nachgewiesen sind, diskutiert die Instrumentenstimmung und die Tatsache, dass viele Bässe bis zu Beginn des 20sten Jahrhunderts nur drei Saiten besaßen. Er vergleicht die unterschiedlichen Korpusformen und die Größen, die das Instrument üblicherweise einnimmt. Er erklärt, welche Auswirkungen verschiedene Materialien auf den Klang haben und wie sich der Bogenaufbau für den Kontrabass über die Jahrhunderte veränderte. Er zeigt unterschiedliche Formen der Schnecke sowie des f-Lochs, erwähnt elektrifizierte Bässe und beschreibt die Schwierigkeiten mit einem so großen Instrument auf Tournee zu gehen.
In einem zweiten Kapitel identifiziert Lohse die wichtigsten Kontrabass-Manufakturen in Deutschland und darüber hinaus. Er zeigt zahlreiche Klebezettel, die Geigenbauer gern ins Innere der Instrumente klebten und erklärt, warum selbst aus Fernost stammende Instrumente noch heute gern mit deutschen Namen versehen werden. Zugleich erläutert Lohse Stärken und Schwächen von Instrumenten aus amerikanischer Produktion, beschreibt die unterschiedlichen Saitentypen und ihre Auswirkung auf den Klang sowie die Bedeutung des Kolophoniums.
Sein ausführliches Kapitel über den Kontrabass im Jazz beschäftigt sich etwa mit den Anschlag-Varianten („Streichen, Zupfen oder Slappen?“) oder dem Walking Bass seit der Swingära. Er diskutiert prägende Bassisten bis in die Gegenwart und, in einem Nebenkapitel, auch die Verwendung des Cellos im Jazz. Dann geht es zurück zu Technischem, erklärt die Mikrophonierung und andere Arten der elektrischen Verstärkung, erzählt die Entwicklungsgeschichte der Tonabnehmer und beschreibt Kriterien zur Wahl von Verstärker und Lautsprecher. Er diskutiert das Setup des Instruments, also Griffbrett, Steg, Ober- und Untersattel, Stimmstock, Saitenhalter, Stachel, und weiß um den Einfluss von Wetterbedingungen aufs Holz. Er gibt Tipps für eigenhändige kleinere Reparaturen. Und er erklärt, was man bei der Anschaffung eines solchen Instruments bedenken sollte.
Jonas Lohses sorgfältig recherchiertes Buch ist eine wahre Fundgrube, nicht nur, aber insbesondere für Kontrabassisten. Der überaus reich bebilderte Band ist dabei auch für Nicht-Fachleute leicht und flüssig zu lesen, gibt Kontext, ohne sich zu weit vom eigentlichen Thema zu entfernen. Lohse erklärt, ohne zu belehren, und viele der Fotos ermuntern zum Nachhören klassischer genauso wie aktueller Aufnahmen, zum Fokussieren auf diesen tiefsten Klang der Band genauso wie des Orchesters, der antreibt, grundiert, harmonische genauso wie rhythmische Wirkungen entfaltet und dabei immer etwas Tänzerisches behält.
Wolfram Knauer (Juli 2020)
Die glorreichen Siebzehn. Die hr-Bigband
von Wolfgang Sandner
Frankfurt 2018 (Societäts Verlag)
128 Seiten, 1 heiheftende CD, 25 Euro
ISBN: 978-3-95542-304-9
Seit 1975 erst heißt die Band hr-Bigband, davor war sie das Tanzorchester des Hessischen Rundfunks, das über die Jahre aber immer weniger Schlager und immer mehr Jazz produzierte. Die künstlerisch Verantwortlichen hießen Willy Berking, Heinz Schönberger, Kurt Bong, Jörg Achim Keller, Örjan Fallström und seit 2011 Jim McNeely, den Klang aber erzeugen siebzehn Musiker, denen Wolfgang Sandner in seiner „Festschrift“ für das Ensemble jeweils ein vierseitiges Kapitel widmet. Tatsächlich listet er sogar 18 Musiker, denn das Verfassen des Manuskripts fiel just in die Zeit, als der Bass von Thomas Heidepriem an Hans Glawischnig überging.
Sandner geht knapp auf die Biographien und die klanglichen Besonderheiten jedes einzelnen Ensemblemitglieds ein, von denen ja jeder im Satz spielt und zugleich als Solist heraussticht, und er weiß, dass sie alle neben ihrer Tätigkeit in der Bigband auch in anderen Projekten oder als Dozenten an diversen Ausbildungsinstituten aktiv sind. Man erfährt über Einflüsse auf ihre jeweilige musikalische Haltung, über ihren Ton, über Höhepunkte ihrer bisherigen Karriere (besonders eindrucksvoll liest sich das für den Saxophonisten Tony Lakatos), sowie über besonders herausragende Momente mit der hr-Bigband.
Wie der Titel andeutet, ist das Buch ist eine Feier dieses Klangkörpers, einer von drei festangestellten deutschen Rundfunk-Bigbands, einer Struktur, um die andere Länder Deutschland beneiden. Kritische Töne sucht man also vergebens, etwa zum Repertoire, zur Zeitgemäßheit der Bigband-Besetzung, zu der Tatsache, dass die hr-Bigband bis heute ein reines Männerensemble ist. Auf jeden Fall aber eine – wie beim Autor Wolfgang Sandner nicht anders zu erwarten – sehr gut geschriebene Festschrift. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Die ausdrucksstarken Fotos im Buch stammen vom Pressefotografen Helmut Fricke und von Oliver Leicht, einem der Saxophonisten der Band. Und als Zugabe gibt es eine CD mit Studioaufnahmen vom September 2017, Jim McNeelys „Barefoot Dances and Other Visions“. Ein Buch für Freunde der Bigband also, ganz bestimmt aber für den großen Fankreis der hr-Bigband.
Wolfram Knauer (Januar 2020)
The Jazz Bubble. Neoclassical Jazz in Neoliberal Culture
von Dale Chapman
Oakland/CA 2018 (University of California Press)
282 Seiten, 34,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-520-27938-4
In den 1980er Jahren änderte sich die Welt. Der wirtschaftspolitische Neoliberalismus, der durch die Politik von Ronald Reagan und Margaret Thatcher angestoßen wurde, sorgte für ein grundlegendes Umdenken gesellschaftlicher Verantwortung, im Großen, also dem Handeln von Banken und Industrie, genauso wie im Kleinen, wo sich die Idee der Ich-AG durchsetzte, die ihr menschliches Kapitel auf dem Markt anbietet. Dale Chapman untersucht in seinem Buch die Verbindungen zwischen diesem neuen Kapitalismus des ausgehenden 20sten, beginnenden 21. Jahrhunderts, und dem Jazz jener Jahre, der oft mit den Young Lions, vor allem aber mit Wynton Marsalis und seiner Art des Neo-Klassizismus verbunden wird. Diese neokonservative Haltung im Jazz, wie sie sich über die Jahre insbesondere im Programm von Jazz @ Lincoln Center manifestierte, sah den Jazz als eine „freedom shaped by rules“, und diese neue, weit weniger als vorgegangene Entwicklungen radikale Perspektive sorgte dafür, dass Jazz nach und nach auch für Kreise interessant wurde, die diese Musik zuvor eher links liegen gelassen hatten. In der Folge wurde das Bild vom Jazz als einer das Risiko eingehenden Ensemblekunst gern als Muster für das erfolgreiche Handeln im betrieblichen Management genutzt, nicht anders als man zuvor versucht hatte, die individualistische Haltung des Jazz in Analogie zur amerikanischen Demokratie zu setzen.
Wie also, fragt Chapman, lassen sich mit Hilfe des Jazz gesellschaftliche sowie ökonomische Entwicklungen in den USA des ausgehenden 20sten Jahrhunderts beschreiben. Sein Buch bemüht dafür verschiedene konkrete Beispiele. Sein erstes Kapitel etwa widmet sich der Verwendung von Jazzmetaphern in Management-Seminaren. Dass solche Analogien hinken, ahnen selbst diejenigen, die sie bemühen; Chapman allerdings legt die Lupe an und fragt, wo sich denn das „ins Risiko gehen“ des Jazzmusikern von jenem im wirtschaftlichen Handeln unterscheidet. Als konkretes Beispiel beleuchtet er dabei das Miles Davis Quintett der Mitt-1960er Jahre, das für viele der Young Lions der 1980er Pate stand.
In Kapitel 2 betrachtet er die Rückkehr Dexter Gordons in die USA im Jahr 1976, die von der Presse als „Homecoming“ gefeiert wurde und die er vor dem Kontext der sozialen und wirtschaftlichen Schieflage New Yorks beleuchtet. Dort suchte man die Schuld für den scheinbaren Niedergang der Stadt wechselseitig in der afro-amerikanischen, der Latino oder der LGBTQ-Community. Dexter mit seinen klaren Wurzeln im Bebop wirkte da wie eine willkommene Alternative zu den Rock-, Funk- und Disco-Fusion-Projekten, in denen gesellschaftliche genauso wie Gendernormen in Frage gestellt wurden.
In den Kapiteln 3 und 4 befasst sich Chapman mit der Wiederbelebung des Labels Verve, dessen Katalog von der Polygram aufgekauft worden war, sowie mit dem Zusammenschluss von Polygram und Universal, in dessen Verlauf der Jazzkatalog und der Markenname Verve immer mehr unter Gesichtspunkten des „shareholder value“ betrachtet wurden. Verve und andere der großen Labels unterstützten die neoklassizistischen Projekte Marsalis‘ und anderer mit großem Publicity-Aufwand, was Howard Reich 2004 dazu brachte, analog von der Dotcom-Blase jener Jahre von einer „Jazzblase“ zu sprechen.
In den Kapitel 5 und 6 schließlich beleuchtet Chapman die Verbindung zwischen Jazz, Standentwicklung und der „neoliberalen Stadt“. Sein Beispiel ist der Versuch der Stadt San Francisco, das Viertel Fillmore District als „jazz preservation district“ neu zu entwickeln. Der ursprüngliche Plan, der auf eine gemischte Finanzierung aus öffentlicher Hand genauso und Privatkapital setzte, hoffte auf eine Belebung des innerstädtischen Bezirks, führte allerdings tatsächlich zur Umsiedlung zehntausender Anwohner und zur Aufgabe zahlreicher inhabergeführter Geschäfte, ließ dabei die eigentlichen Belange der dort ansässigen Community weitgehend außer Acht.
Chapmans Untersuchung bietet spannende Perspektiven auf Zusammenhänge gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen der letzten Jahre mit der Wahrnehmung und der Rolle von Jazz in unserer heutigen Gesellschaft. Und wenn sein Buch auch vor allem die amerikanische Lage erkundet, lassen sich ähnliche Bezüge auch im Verhältnis zwischen Jazz und Gesellschaft hierzulande finden. „The Jazz Bubble“ ist dabei keine einfache Lektüre; immer wieder greift der Autor auf wissenschaftliche Diskurse zwischen Ökonomie, Politikwissenschaft und kritischer Theorie zurück, denen er dann aber mit seinen sehr konkreten und anschaulichen Beispielen Leben einhaucht. Jedes der Kapitel ist mit einer konzisen Zusammenfassung versehen, die zugleich einen Ausblick wagt und dabei implizit zum Weiterforschen einlädt.
Wolfram Knauer (Juli 2019)
Sonny Rollins. Meditating on a Riff. A Journey into his World of Spirituality
von Hugh Wyatt
New York 2018 (Kamama Books)
288 Seiten, 19,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-9981219-2-5
Es gibt bereits einige Bücher über Sonny Rollins, darunter allein zwei von deutschen Autoren (Peter Niklas Wilson, Christian Broecking). Jetzt ist eine neue Biographie erschienen, die zumindest in einem außergewöhnlich ist: Sie blickt hinter die Fassade des international renommierten Jazz-Stars und weiß etliche persönliche Hintergründe zu beleuchten, die neue Perspektiven auf sein Leben und Wirken ermöglichen.
Der Autor Hugh Wyatt ist Journalist und seit den frühen 1960er Jahren mit dem Saxophonisten befreundet. Im Gespräch mit Rollins, mit Verwandten und Freunden gelingt ihm eine ungemein persönliche Annäherung an prägende Situationen sowie wichtige Wegmarken im musikalischen Werdegang des Saxophonisten. Geboren in Harlem wuchs Rollins in einer Mittelklassefamilie auf, in einem Viertel, in dem viele der bewunderten Stars der afro-amerikanischen Community wohnten. „Ist da nicht der große Tenorsaxophonist Coleman Hawkins verbeigelaufen“, habe Rollins seinem Kindheitsfreund mal zugerufen, worauf der geantwortet habe, „Ja! Und in die andere Richtung lief W.E.B. DuBois.“ Hawkins war sein Held auf dem Instrument, aber ein Publicity-Foto Louis Jordans der Auslöser, sich selbst ein solches Instrument zuzulegen.
Wie schon der Untertitel seines Buchs andeutet, legt Wyatt einen besonderen Fokus auf die Spiritualität Rollins, aus der heraus, wie er argumentiert, sich auch die Kreativität des Musikers speise. Anfangs war das die christliche Kirche, dann das Bewusstsein, dass es einen Zusammenhang zwischen Gott und der Musik gäbe, schließlich die Beschäftigung mit Buddhismus und Hinduismus, sowie die Erfahrung, dass Yoga ihm die Kraft seiner eigenen Spiritualität bewusst machte. Er wuchs in der Hochzeit des Bebop auf und nahm bereits als Teenager an den legendären Jam Session im Minton’s teil. Thelonious Monk lud ihn ein, mit ihm zu spielen, und natürlich traf er auch auf Charlie Parker. Rollins, sagte Percy Heath, später, konnte wie jeder Tenorist vor ihm klingen, aber man wurde auf ihn aufmerksam, weil er bereits begann seine eigene Stimme zu entwickeln. Wyatt berichtet, wie sich Rollins Stück für Stück Ansehen erspielte, lässt aber auch die Lebenswirklichkeit eines Afro-Amerikaners im rassistischen Amerika jener Zeit nicht außer Acht. Er beleuchtet die spirituelle Suche, die auch andere Jazzmusiker umtrieb, die sich zur selben Zeit dem Islam zuwandten. Und er schreibt über den Drogenkonsum in der Szene, dem Sonny Rollins verfiel. Konnte er besser spielen, wenn er high war? Schwer zu sagen, antwortet Rollins. Wenn wir high waren, konnten wir uns jedenfalls wirklich nur auf die Musik fokussieren. Irgendwann im Jahr 1949 nahm er dann eine zu hohe Dosis Heroin, überlebte glücklicherweise, landete aber bald darauf im Gefängnis.
Wyatt berichtet über solche Ereignisse wie über Proben, auf die der Saxophonist gestellt wurde, und die ihn letzten Endes immer wieder darauf zurück brachten, darüber nachzudenken, was im Leben wirklich wichtig ist. Im Gefängnis, erzählt Rollins, erfuhr er Rückhalt von seiner Familie, las viel und fand auf eine andere Art und Weise zu sich selbst. Nach seiner Entlassung wurde er Mitglied in Miles Davis‘ Band und machte Ende 1951 die ersten Aufnahmen unter eigenem Namen. Wyatt zählt die Karrierestationen auf, ist aber eher daran interessiert, was diese wohl für den jungen Saxophonisten bedeuten mussten, der in den sehr schwarz geprägten Klangfacetten des Hardbop ja zugleich eine Parallele zu seiner eigenen Beschäftigung mit afro-amerikanischer Kultur und Geschichte sehen musste. Mitte der 1950er Jahre allerdings kamen ihm die Drogen wieder in den Weg. Wyatt schildert ausführlich, wie Rollins sich selbst in eine Entzugsklinik in Lexington, Kentucky, einweisen ließ, um sowohl der Sucht wie auch der mit dieser verbundenen emotionalen Krise fertig zu werden. Und auch dieses Kapitel verbindet er mit Verweisen auf die spirituelle Komponente solcher Erfahrungen.
In einem anderen Kapitel beschreibt Wyatt die Faszination Rollins (und anderer afro-amerikanischer Musiker) mit weißen Frauen. In seiner Jugend schwärmte er für die damals berühmten Leinwandstars, hing auch gern mit den Frauen ab, die die Jam Sessions besuchten und mit denen er schon mal „einen Joint zog und das Leben genoss“. Seine erste Ehefrau sei ein schwarzes Model gewesen, berichtet Wyatt, die mit der Jazzwelt nicht klarkam. Bald nach der Trennung traf er auf ein braves weißes Mädchen aus Kansas City, Lucille Pearson, die zuhause keinen einzigen Afro-Amerikaner gekannt hatte, ihn kennenlernte, als sie in Chicago mit Freunden zu einem seiner Auftritte kam, und sich in ihn verliebte. Sie sei anders gewesen als all die anderen Frauen, die in der Jazzszene herumhingen, erzählt Rollins, förmlicher und konservativer. Ihre politischen Ansichten und die des Saxophonisten hätten kaum etwas gemein gehabt, und doch war es eine Beziehung, die ein Leben lang dauerte. Wegen Sonny zog Lucille nach New York, wo sie 1965 heirateten und von einer zweijährigen Auszeit Ende der 1960er Jahre abgesehen bis zu Lucilles Tod im Jahr 2004 zusammenblieben.
Natürlich spielt in Wyatts Buch auch Rollins‘ Begegnung mit John Coltrane eine Rolle, bei der er sowohl den gegenseitigen musikalischen Einfluss beleuchtet wie auch die Parallelen ihrer spirituellen Suche. Er berichtet über die politischer geprägte Musik, die der Saxophonist mit Max Roach in der „Freedom Now! Suite“ vorlegte, und er diskutiert die „Bridge“-Auszeit des Saxophone Colossus, genauso die musikalischen Flirts mit populären Genres Ende der 1960er Jahre vor allem aus spiritueller Sicht. 1967 verbrachte Rollins vier Monate in einem hinduistischen Ashram in Indien und lernte dort, dass, wenn er sein Instrument spielte, er eine Präsenz entwickelte, die andere Menschen nur durch Meditation erreichen konnten.
Sonny Rollins als spirituelles Wesen: Leuchtete er also im Dunkeln? Begann er zu schweben? Diese Fragen stellt Wyatt tatsächlich und bekräftigt, dass sowohl Lucille wie auch seine Schwester seinen Körper hätten leuchten sehen „wie einen Weihnachtsbaum“. Und Rollins selbst bezeugt, ein wenig schüchtern, ja, er fände das Schweben sehr schön, wolle dann aber nichts weiter dazu sagen. Rollins glaube an spirituelle Praktiken, erklärt Wyatt, spreche darüber aber nur mit ausgewählten Freunden. Die Spiritualität habe allerdings durchaus Eingang in seine Musik gefunden, und daneben strahle er auch abseits der Bühne eine enorme Präsenz aus. Rollins Neffe, der Posaunist – und, wie Wyatt anmerkt, eigentlich ein Realist – Clifton Anderson, erzählt, wie er einige von Rollins Fähigkeiten schon seltsam vorkamen: So habe er eine Weile die Probe aufs Exempel gemacht, an einem Abend ein rotes Hemd angezogen, am nächsten ein grünes, dann sogar ein quietschgelbes, und obwohl Sonny nichts davon wusste und sich ganz wo anders fürs Konzert anzog, kam der auch mit einem jeweils gleichfarbigen Hemd auf die Bühne. Solche Sachen seien wirklich häufig passiert. Und natürlich, fügt Wyatt an, sei der fast schon hypnotische Effekt bekannt, den Rollins auf seine Zuhörer hatte, eine Aura, die im Konzertsaal sofort zu spüren war.
Dann gibt es noch ein paar Kapitel, die den Leser wieder in die irdische Realität zurückholen. So erzählt Wyatt etwa über eine Frau, die eines Abends zu einem Konzert des Saxophonisten gekommen sei und behauptet habe seine Tochter zu sein, und wie Rollins Schwester ihm erzählte, die Tochter einer früheren Flamme des Saxophonisten war, die sie, nachdem ihre Mutter an einer Überdosis gestorben war, unterstützt hätten, obwohl sich alle sicher gewesen seien, dass er keinesfalls der biologische Vater sei. Einen DNA-Test habe es nie gegeben, und Rollins selbst schweigt über die ganze Angelegenheit. Oder Wyatt erzählt über jene skurrile Suche des Saxophonisten nach seinem Zahnersatz im Hotelzimmer in Marciac, und wie eine plötzliche Erleuchtung ihn diesen finden ließ. Er erinnert daran, dass Rollins 2001 nur sechs Blocks vom World Trade Center in seinem Studio gewesen sei – der Anschlag habe ihm den Horror des Krieges verdeutlicht. Er berichtet über die idiopathische Lungenfibrose, die 2012 bei Rollins diagnostiziert wurde und wegen der er nicht mehr spielt. Seinen Nachlass habe er geordnet: Das Schomburg Center hat seine Papiere übernommen, am Oberlin Conservatory wurde mit seiner Spende ein Jazz Ensemble Fund eingerichtet.
Wyatts Buch enthält zahlreiche Verweise auf Spiritualität, dass es den einen oder anderen abschrecken mag. Doch gelingt es ihm immer wieder, diese dem reinen Jazzfreund vielleicht nicht so wichtigen Informationen in das Narrativ einzubinden, das zu erklären versucht, was Sonny Rollins seine Karriere über geprägt hat. Man mag an der einen oder anderen Stelle dem Autor nicht folgen mögen, aber man kann nicht umhin, ihm am Ende dafür zu danken, dass sein Buch Sonny Rollins auf eine Art und Weise näher bringt, wie dies bislang, weder in biographischen Darstellungen noch in Interviews gelungen ist. Und es ist ja vielleicht gar nicht so schlecht, dass Sonny Rollins und seine Musik auch nach der Lektüre ein Rätsel bleiben…
Wolfram Knauer (Mai 2019)
Quartier Latin. Berlins legendärer Musikladen, 1970-1989
von Marco Saß & Henry Steinhau
Berlin 2018 (L&H Verlag)
368 Seiten, 50 Euro
ISBN: 978-3-939629-57-3
Es gibt Orte, die eine Stadt prägen, und das Quartiert Latin war ein solcher Ort, zumindest für das Westberlin der 1970er und 1980er Jahre. In einem schweren, aufwändigen und mit seltenen Fotos bebilderten Prachtband erinnern jetzt Marco Saß, Sohn des langjährigen Betreibers, und Henry Steinhau, der den Club viele Jahre als Musikjournalist besucht hat, an den Spielort und seine Funktion im wilden Westberlin jener Jahre.
Das Total Music Meeting war seit 1970 ans Quartier Latin gebunden, und Jost Gebers, der mit dem von ihm betreuten Label Free Music Production dessen Konzerte veranstaltete, begründet in einem Kapitel, wieso ihm und den Musikern der Raum trotz zeitweise mangelnder Heizung und anderer Unzulänglichkeiten ans Herz gewachsen war. Fred Billmann ist für ein weiteres, zumindest am Rande jazz-haltiges Kapitel zuständig, in dem er Champion Jack Dupree portraitiert, der über die Jahre immer wieder mindestens einwöchige Engagements in dem Saal auf der Potsdamer Straße hatte. Ansonsten beschäftigt sich das Buch vor allem mit der Rock-, Folk- und Liedermacherszene, betont dabei auch immer wieder, wie eng Musik und Kultur damals mit politischer Haltung verbunden waren.
Wir erfahren von Nina Hagens Karrierestart im Club, von Politrockbands wie Floh de Cologne, von Solidaritäts- und Friedensveranstaltungen, vom politischen Kabarett sowie der Westberliner Kleinkunstszene. Die Autoren erzählen aber auch die Geschichte hinter der Adresse Potsdamer Straße 38 (später 96), angefangen beim Gebäude, das ursprünglich als Vorstadt-Bürgerhaus erbaut wurde, dann ein adliges Palais wurde, in dem eine Modezeitschrift herausgebracht wurde. 1913 wurde der Saal als Lichtspieltheater erbaut, als der er bis in 1967 genutzt wurde. Das gesamte Gebäude gehörte nach dem Tod des Erbauers einer jüdischen Familie, die Mitte der 1930er Jahre enteignet wurden und bald darauf in die USA emigrierte. Nach Schließung des Filmtheaters befand sich im ehemaligen Kinosaal kurze Zeit eine Kneipe mit Tischtelefonen. Ende 1969 übernahm eine studentische Gaststätten-Betreiber-Gesellschaft den Laden, um der Musikszene einen Raum zur Verfügung zu stellen, der größer war als die kleinen Clubs, aber eben nicht so groß wie die riesigen Hallen, ein Ort für um die 500 bis 800 Zuschauer. Der Plan ging auf, und das Quartier Latin, wie es in Anlehnung ans Zentrum der Pariser Studentenbewegung jener Jahre genannt wurde, war bald einer der wichtigsten Begegnungsstätten zwischen unterschiedlichen Arten von Popkultur und der linken politischen Szene Westberlins. 1972 übernahm der gelernte Bäcker Manfred Saß das Quartier und betrieb es bis 1989.
Das reich bebilderte Buch erzählt also die ganze Geschichte, an denen der Jazz zwar einen wichtigen, aber eben auch in der Realität nur einen kleinen Teil innehatte. Auf Champion Jack Dupree und das Total Music Meeting wird immer wieder hingewiesen, und auch der langjährige Quasimodo-Chef Giorgio Carioti würdigt den Club als sinnvolle Ergänzung seiner Tätigkeit für den Jazz in der Stadt. Doch gehört es eben auch zur Realität im Westberlin der Nach-1968er-Zeit, dass Kultur nur bedingt spartenmäßig gedacht wurde, dass es jede Menge an Beziehungen zwischen den verschiedenen Ausprägungen popmusikalischer und politischer Aktivitäten gab. Und so ist dieses Buch vor allem ein Beitrag zur Kulturgeschichte Westberlins, zu der Jazz einen nicht unwichtigen Beitrag geleistet hat.
Wolfram Knauer (April 2019)
Always a Pleasure. Begegnungen mit Cecil Taylor
von Meinrad Buholzer
Ebikon 2018 (Eigenverlag)
148 Seiten, 32 Euro
ISBN: 978-3-033-06872-8
In den 1980er Jahren hatte der Schweizer Journalist Meinrad Buholzer an einem Buchprojekt über Cecil Taylor mitgewirkt, das im Laufe des Entstehens von zehn auf drei Beiträge schrumpfte. Jetzt kramte er in seinem Privatarchiv und fand Notizen und alte Artikel, die er seit 1975 über Cecil Taylor verfasst hatte. Den hatte er ein Jahr davor zum ersten Mal gehört und war überwältigt von der Kraft seiner Musik. Er begegnete ihm immer wieder, führte Interviews mit ihm, erlebte Konzerte und Aufnahmesitzungen, und freundete sich über die Jahre mit dem Pianisten an (Buholzer macht den schönen Unterschied: zwischen „Freundschaft“ und „befreundet sein“). „Always a Pleasure!“, verabschiedete sich Taylor regelmäßig von ihm, und Buholzer hat seinen Erinnerungen an die Begegnungen mit „C.T.“ ebendiesen Titel gegeben.
Buholzer beginnt sein Buch im Oktober 2015, als er Taylor in seinem Haus in Brooklyn aufsucht, erzählt, wie der nicht uneitle Pianist seine Zeit brauchte, um sich fertigzumachen, wie sie dann in Taylors Stammrestaurant gingen, wo Taylor ihn quasi unter den Tisch redete mit Geschichten über seine eigenen musikalischen Begegnungen, über Komponisten und Jazzkollegen, über Architektur und Philosophie, über, über, über… Tatsächlich erzählt Buholzer von diesem Abend vor allem von einigen musikalischen Stories, die er erfuhr, aber die Situation wird sich in seinen Berichten über die Treffen mit C.T. noch wiederholen, also sei hier schon mal zusammengefasst.
Buholzer hatte sich Taylors Sympathie auch dadurch zugezogen, dass er dem Architekturliebhaber einmal ein Buch über Brückenbau mitgebracht hatte, das der immer mit sich herum trug, mit zahllosen Notizzetteln und Anmerkungen versehen. Er wurde zu einer Art Vertrauten, obwohl – auch das wird schnell deutlich – Taylor, dessen Spiel auf Uneingeweihte so fremd und unnahbar wirken konnte, mit den Menschen sowieso schnell warm wurde.
Buholzer jedenfalls begegnete Taylor immer wieder, und seine Buchkapitel sind eben diese Begegnungen. 1975 in Willisau noch als Nur-Zuhörer und Kritiker; 1976 in Montreux zu einem ersten Interview; 1983 in Willisau, wo Taylor ihm drei Stunden lang Rede und Antwort stand, allerdings in einer Form, dass er die „oft monologartigen Passagen“ nachher nach Themen ordnen musste, um sie lesbar zu machen. Ebenfalls 1983 war Buholzer Zeuge einer Aufnahmesitzung im legendären MPS-Studio in Villingen im Schwarzwald, und seine Schilderung der Vorbereitung, der organisatorischen Probleme, der Spannung und der schließlich produzierten Musik gehört mit zu den aufschlussreichsten Höhepunkten seines Buchs, und macht einen traurig, dass diese Produktion nie veröffentlicht wurde, weil sich Taylor und der Produzent Werner X. Uehlinger nicht auf die finanziellen Konditionen einigen konnten. Auch in Basel gab es organisatorische Probleme, die Buholzer beschreibt und dabei einen Einblick in die Realität des Tourneegeschäfts gibt. 1986 verstarb Taylors langjähriger musikalischer Partner, der Saxophonist Jimmy Lyons – Buholzer war zufällig in New York, als in der St. Peter’s Church eine musikalische Trauerfeier für ihn ausgerichtet wurde.
Einen größeren Abschnitt macht sein für das Ende der 1980er Jahre als „Auf der Suche nach Cecil Taylor“ erschienene Buch verfasste Bericht über seinen ersten Besuch in Taylors Haus in Brooklyn aus. Von 1990 stammt die Reflexion über ein Konzert in Zürich, bei dem Taylors Feel Trio auf Gunter Hampel und Werner Lüdi trafen – ein Konzert, das von der Kritik verrissen wurde, anhand dessen Buholzer aber „das Recht auf Scheitern“ betont, gerade in dieser Art von Musik. 1999 erlebt er ihm beim Uncool Jazz Festival in Puschlav, das aus Anlass seines 70sten Geburtstags Taylor gewidmet war. 2000 beschreibt er ein einsilbiges Interview mit dem Pianisten in einem Pariser Luxushotel. 2000 erlebt er ihn wieder in der Schweiz, hängt in den 2000er Jahren mit ihm in der 55 Bar oder in Arthur’s Tavern in Greenwich Village ab.
In all diesen Begegnungen wie auch in den dazwischen gestreuten Reflexionen über seine Musik bringt uns Buholzer Cecil Taylor als einen Menschen nahe, dessen Musik viel mit seinem Wesen zu tun hat. Von daher mag man am Ende der Lektüre feststellen, dass auch hier jener Aspekt fehlt, wen der Autor am Buch von 1988 so bemängelt hatte, nämlich die musikalische bzw. musikwissenschaftliche Einordnung, dass diese aber mit jenem Ansatz, den Buholzer an Taylor wählt, auch gar nicht notwendig ist, weil das persönliche Kennenlernen, das seine Schilderung des Pianisten ja irgendwie ist, eine andere, tiefer blickende Perspektive auch auf seine Musik erlaubt. Und das ist, um den Buchtitel ein letztes Mal zu zitieren, wirklich „always a pleasure“.
Wolfram Knauer (März 2019)
Sophisticated Giant. The Life and Legacy of Dexter Gordon
von Maxine Gordon
Oakland 2018 University of California Press)
261 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0520280649
Dexter Gordon hatte bereits an seiner Autobiographie gearbeitet, erzählt Maxine Gordon im Vorwort, dabei aber ganze Jahre sowie Erlebnisse ausgelassen, an die er sich nicht erinnern wollte. Als Maxine, die den Saxophonisten Mitte der 1970er Jahren kennenlernte und ihn Anfang der 1980er Jahren heiratete, ihn nach diesen ausgelassenen Jahren fragte, sagte er lapidar: Das ist mein Leben. Ich kann auslassen, was immer ich will. Wenn Du diese Geschichten in dem Buch haben willst, musst Du es eben selbst schreiben. Gesagt, getan: Als Dexter Gordon 1990 starb, nahm sich Maxine vor, seine Geschichte zu Ende zu erzählen. Sie schrieb sich an der Universität ein, um historische Recherchemethoden kennenzulernen, aber auch, um sich mit der Problematik vertraut zu machen, ein Buch aus der notwendigen Distanz zu schreiben, ohne die eigene Nähe zum Thema zu verleugnen.
Jetzt also liegt es vor, und Farah Jasmine Griffin lobt im Vorwort, es sei in einer Reihe mit den Autobiographien von Sidney Bechet, Charles Mingus und Miles Davis zu sehen. Tatsächlich gelingt es Maxine Gordon, die verschiedenen Perspektiven ihres Blicks auf den Saxophonisten Dexter Gordon – als Historikerin, als Agentin, als Ehefrau – auf eine Art und Weise zu mischen, die der Lektüre enorm gut tut. So recherchiert sie die Geschichte seiner Vorfahren, kontextualisiert dabei den Stolz Gordons darauf, das seine Mutter eine geborene Boulanger war und sein Großvater ein „Buffalo Soldier“, ein Afro-Amerikaner in der US-amerikanischen Armee. Sie beschreibt die Nachbarschaft in Los Angeles, in der Dexter Gordon aufwuchs und zur Musik kam, trifft sich dafür mit ehemaligen Schulkameraden ihres Mannes und lässt Dexter immer wieder in Auszügen seiner eigenen Aufzeichnungen zu Worte kommen. 1940 arrangierte der Saxophonist Marshall Royal, dass der gerade mal 17-jährige Gordon Mitglied des Lionel Hampton Orchestra wurde, in dem er drei Jahre lang wirkte, um dann 1944 ein halbes Jahr lang mit Louis Armstrong zu spielen. Er trat dem Orchester des Sängers Billy Eckstine bei, der viele der jungen und modernen Stimmen des Bebop eingesammelt hatte, und machte 1945 seine ersten Aufnahmen unter eigenem Namen. Maxine erzählt von den geschäftlichen Seiten des Business, von Plattenverträgen, die Musiker gern übervorteilten und um künftige Tantiemen für ihre eigenen Kompositionen brachten. Sie erzählt von Kollegen, die Gordon unterstützten, insbesondere der Posaunistin und Arrangeurin Melba Liston, mit der er seit Kindheitstagen befreundet war und die er dazu ermutigte, 1947 bei einer Aufnahmesitzung in Los Angeles mitzuwirken. Sie beleuchtet die Bebopszene an der Westküste, die vor allem durch Aufnahmen Gordons und Wardell Grays weiter bekannt wurde, auch wenn der Saxophonist jetzt mehr und mehr Zeit in New York verbrachte, wo all die anderen Kollegen lebten und arbeiteten.
Dann kommt die von Dexter selbst ausgelassene Dekade. Der Saxophonist hatte angefangen Drogen zu nehmen und wurde in eine Entzugsklinik in Lexington, Kentucky, eingewiesen. Er war nicht der einzige Jazzmusiker unter den Insassen, und nach seiner Entlassung wurde er immer wieder wegen Drogenbesitzes verhaftet. Maxine dokumentiert diese Zeit anhand von Zeitzeugenberichten, hat sich aber auch die Gerichtsprotokolle angesehen und setzt sich überhaupt grundsätzlich mit der Drogenpolitik in den USA in den 1950er Jahren auseinander. Nach seiner letzten Strafe trat Gordon in der Westküsten-Fassung des Schauspiels „The Connection“ auf, begann außerdem für das Blue-Note-Label aufzunehmen, mit dessen beiden Gründern er sich schnell anfreundete. Vor allem aber nahm er das Angebot für einen Auftritt im Londoner Ronnie Scott’s Club an und blieb in der Folge für fast 15 Jahre in Europa. Er zog nach Paris, lebte in Kopenhagen, spielte in ganz Europa, flog aber auch regelmäßig zurück in die USA, um Verwandte zu besuchen oder eine Platte für Blue Note zu produzieren. 1966 wurde er in Paris wegen Drogenbesitzes verhaftet, ein Akteneintrag, die ihm bis zum Ende seines Lebens Probleme bei der Einreise in Frankreich bescheren sollte. Er kaufte ein Haus in Kopenhagen, begann ein bürgerliches Leben zu führen, was ihm auch dadurch ermöglicht wurde, dass er ein langfristiges Engagement im Kopenhagener Club Montmartre hatte. Auch in dieser Periode gibt es Details, die Dexter am liebsten verschwiegen hätte, den Tod seiner damaligen Freundin etwa, über den er nur schwer hinwegkam.
1975 kommt Maxine jetzt nicht nur als Historikerin, sondern als Agentin ins Spiel. Sie war für einen europäischen Tourneeveranstalter als Tourbegleiterin aktiv, freundete sich mit Gordon an und überzeugte ihn davon, ein Comeback in den USA zu versuchen. Sie überredete Max Gordon, den Besitzer des New Yorker Village Vanguard, Dexter eine Woche zu geben, rührte die Werbetrommel und schaffte es, dass die Rückkehr Gordons Mitte der 1970er Jahre nicht nur von der Jazzpresse wahrgenommen wurde. Erfolge und Welttourneen mit einem festen Quartett folgten, dazwischen verbrachten Dexter und Maxine einen Teil des Jahres im mexikanischen Cuernavaca, wo sie ein Haus gekauft hatten und der Saxophonist sich mehr und mehr darauf vorbereitete, sich zur Ruhe zu setzen. Dann allerdings kam Bernard Tavernier dazwischen, der französische Regisseur, der ihm das Angebot unterbreitete, eine Rolle in einem Film über einen fiktionalen amerikanischen Jazzmusiker in Paris zu spielen, eine Figur, die an den tatsächlichen Biographien Bud Powells und Lester Youngs orientiert ist. Maxine erzählt ausführlich von den Dreharbeiten und von Dexters eigenem Anteil etwa daran, dass die Dialoge stimmten. Die live eingespielte Musik tat ein Übriges, „Round Midnight“ zu einem großen Erfolg werden zu lassen. Martin Scorsese, der ebenfalls im Film mitwirkte, prophezeite Dexter eine Oscar-Nominierung als Hauptdarsteller, und tatsächlich war Gordon 1987 der vierte Afro-Amerikaner, dem diese Ehre in der Geschichte der Academy Awards zuteilwurde. Der Rest ist History: Paul Newman gewann, aber „Round Midnight“ ging als phänomenaler Film in die Kinogeschichte ein. Gordon genoss den Ruhm, der ihm plötzlich Starbehandlung einbrachte, wenn er sich auch mehr und mehr von der Bühne zurückzog. Ein letztes Mal spielte er 1988 auf einer Jazz-Kreuzfahrt, dann verstarb er an den Folgen von Kehlkopfkrebs am 25. April 1990.
Maxine Gordon ist mit „Sophisticated Giant“ tatsächlich ein großer Wurf gelungen. Sie schafft es, die persönliche Perspektive, die insbesondere im letzten Teil stärker in den Vordergrund tritt, von der historischen zu trennen, und den recherchierten oder von Dexter selbst erzählten Begebenheiten den nötigen Kontext zu geben. Auf die Musik selbst geht sie als Fan, Agentin, Historikerin und Ehefrau nur wenig ein: Ihr Buch ist vor allem eine Biographie und nur bedingt eine Würdigung des musikalischen Schaffens. Das alles liest sich dabei fließend und schnell. Einige Redundanzen zum Ende des Manuskripts hätte ein aufmerksamer Lektor ausmerzen können, aber letzten Endes sind das höchstens Schönheitsfehler einer unbedingt empfehlenswerten Biographie.
Wolfram Knauer (März 2019)
Möglichkeiten. Die Autobiografie
von Herbie Hancock (mit Lisa Dickey)
Höfen 2018 (hannibal)
332 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3-85445-650-6
Die Anfangs-Anekdote ist unbezahlbar: Wie er in den 1960ern in Stockholm mit Miles Davis spielte, und in einem Solo des Chefs einen „unglaublich falschen“ Akkord spielt, den Miles sofort aufnimmt und „von ‚falsch‘ nach ‚richtig‘ moduliert“. Wie er da gelernt habe, dass es genau darauf ankommt: Dass man jedes Risiko einzugehen vermag, wenn man weiß, dass es immer einen „richtigen“ Weg gibt, auch wenn der manchmal nicht der ist, den man eigentlich angestrebt hatte.
Herbie Hancock ist einer der erfolgreichsten Musiker des Jazz. Allein seine Mitwirkung an jenem legendären Miles Davis Quintett würde ihm einen Platz im Olymp des Jazz sichern. Doch seine eigenen Projekte – akustische Solokonzerte, Duos etwa mit Chick Corea, elektronische Ausflügen, Hits wie „Watermelon Man“ oder „Rockit“, Kooperationen mit Musiker aus Jazz und Pop – sind nicht weniger einflussreich auf die Geschichte dieser Musik geblieben. Der heute 78-Jährige tourt und produziert nach wie vor, lässt sich immer noch auf das Risiko der Improvisation ein. Und beschreibt in seiner Autobiographie, wie es alles anfing und wie wichtig es ist, die Musik mit dem persönlichen Leben in Einklang zu bringen.
1940 geboren nannte seine Mutter ihn nach dem Popsänger Herb Jeffries. Über seine Jugend berichtet Herbert Jeffrey Hancock, wie ihm eine optimistische Grundhaltung immer zupass kam und wie er früh gelernt habe, Situationen im Griff zu halten, statt durch sie entmutigt zu werden. Sein erstes Jazzerlebnis war eine Aufnahme mit Stan Getz und Johnny Smith im Radio, dann folgten Vokalplatten etwa der Hi-Los, deren Arrangements durch Clare Fischer „einen unglaubliche Einfluss auf mein Verständnis harmonischer Zusammenhänge“ ausgeübte hätten. Ab dem Alter von 7 Jahren spielte Hancock Klavier, gewann einen klassischen Wettbewerb und trat daraufhin als Elfjähriger mit dem Chicago Symphony Orchestra in einem Mozart-Konzert auf. Zugleich erkennt er im Rückblick, wie sein analytisches Herangehen, mit dem er auch technische Zusammenhänge schnell ergründen konnte, ihm den Zugang zur Improvisation erleichterte.
1956 schrieb sich Hancock für ein Studium der Elektrotechnik am Grinnell College ein, wechselte aber nach nur einem Jahr sein Studienfach zu Musik. 1960 engagierte ihn Coleman Hawkins für einen Auftritt in Chicago; im selben Jahr spielte er außerdem mit Donald Byrd und Pepper Adams, die ihn überzeugten, 1961 mit ihnen nach New York zu gehen. Byrd besorgte ihm Plattengigs mit anderen Musikern, und im Mai 1962 legte Hancock seine erste Einspielung unter eigenem Namen vor, „Takin‘ Off“ für das Blue Note-Label. Die Session wäre fast geplatzt, erzählt er, weil er darauf bestanden habe, die Rechte für seine Kompositionen behalten statt sie an das Label abzutreten. Letzten Endes habe Francis Wolffs körperliche Reaktion – sein Tanzen sozusagen – gezeigt, ob ein Take gelungen war oder nicht. Der Toningenieur Rudy Van Gelder, erinnert sich Hancock des Weiteren, sei mit seinem Equipment so eigen gewesen, dass Musiker sich nicht einmal trauten, ein Mikrophon umzustellen. Mit „Watermelon Man“ auf diesem ersten eigenen Album gelang dem Pianisten jedenfalls der erste eigene Hit.
In der Band von Eric Dolphy lernte Hancock sich auf freiere Formen der Improvisation einzulassen; zugleich spielte er mit Mongo Santamaria Latin-Musik, der seine eigene Version von Hancocks „Watermelon Man“ auf Platz 11 der Billboard-Charts brachte. Im Mai 1963 lud Miles Davis Hancock zusammen mit Tony Williams, Ron Carter und George Coleman zum Vorspiel ein und nahm kurz darauf mit diesem Quintett „Seven Steps to Heaven“ auf. Miles habe ihm das Selbstvertrauen gegeben, erklärt Hancock, das zu spielen, was ihm in den Sinn kam, selbst wenn es Stille sein sollte. Hancock erzählt Aufschlussreiches aus den Bandproben, erzählt daneben auch, wie Clubbesitzer teilweise den Alkoholausschank während der Sets einstellten, weil Tony Williams noch keine 18 war und es sonst Probleme gegeben hätte. Und er erinnert sich, wie Buster Williams Miles einmal fragte, was er in der Band eigentlich spielen solle, wo alle die größtmögliche Freiheit zu haben schienen, und Miles antwortete: „Buster, wenn sie schnell spielen, dann spielst du langsam. Und wenn sie langsam spielen, dann spielst du schnell.“ Miles, resümiert Hancock, gab nie einfache Antworten, regte stattdessen lieber zum Denken an.
Weitere Schnipsel eines reichen Musikerlebens beschreiben die Filmmusik für Michelangelo Antonionis „Blow Up“, oder die Begegnung mit Karlheinz Stockhausen, den er eines Abends im Club traf und für den er beinahe die amerikanische Nationalhymne für sein Stück „Hymnen“ eingespielt hätte. Mit dem Sextet Mwandishi fand Hancock langsam einen eigenen Bandsound, konkurrierte bald mit Stevie Wonder darum, wer den neuesten Synthesizer ausprobieren konnte, tourte neben seinen elektrischen Bands aber auch mit der akustischen V.S.O.P.-Band, der erst Freddie Hubbard angehörte, ab 1981 dann Wynton Marsalis. Er erinnert sich genauso an seine Ausflüge in die Discomusik der frühen 1980er Jahre, in denen er mit „Rockit“ einen internationalen Hit landete, wie an die Filmmusik zu „Round Midnight“ von 1986, für die er im nächsten Jahr einen Oscar erhielt.
Und er erzählt ein wenig aus dem Privatleben, über seine Ehe mit seiner in Deutschland geborenen Frau Gigi, und nicht zuletzt über seine Cracksucht, die zu gesundheitlichen und persönlichen Problemen führte, die er aber in einer Entziehung in den Griff bekam.
Herbie Hancocks „Möglichkeiten“ ist die Biographie eines Stars, der sehr wohl um die eigenen Qualitäten weiß, aber auch um seine Unzulänglichkeiten. Hancock gibt Hintergründe zu vielen seiner einflussreichen Alben und lässt den Leser an seinen grundsätzlichen Entscheidungsmotiven teilhaben. Das Buch liest sich flüssig, wenn auch an der einen oder anderen Stelle – insbesondere bei wörtlichen Zitaten anderer Musiker – deutlich wird, wie schwierig es ist, die Wärme der Community in eine andere Sprache zu übertragen.
Alles in allem jedenfalls strahlt das Buch jene positive Lebenshaltung aus, die Hancock nach einigen Rückschlägen für sich selbst reklamiert und die sich letzten Endes auch in der Eingangsanekdote mit Miles Davis ausdrückt. Eine empfehlenswerte Abendlektüre.
Wolfram Knauer (November 2018)
Jazz @ 100. An alternative to a story of heroes
herausgegeben von Wolfram Knauer
Hofheim 2018 (Wolke Verlag)
296 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3-95593-015-8
Full disclosure vorneweg: Der Autor dieser Zeilen ist zugleich der Herausgeber des hier vorgestellten Buchs. Dies ist also keine Kritik, sondern einfach eine Vorstellung „unserer“ neuesten Veröffentlichung. „Jazz @ 100. An alternative to a story of heroes“ war der Titel des 15. Darmstädter Jazzforums, das im Herbst letzten Jahres stattfand und Referent/innen aus aller Welt zusammenbrachte.
Im hundertsten Geburtsjahr des Jazz warf die Konferenz einen Blick auf die Tücken einer Jazzgeschichtsschreibung, in der Legenden oft den Blick auf das verstellen, worauf es in dieser Musik noch viel mehr ankommt: auf die Multiperspektivität einer Musik, die nicht nur von den großen Meistern, auf jeden Fall aber von vielen Individualisten geprägt wird. Die fünfzehn Aufsätze in diesem Buch wagen die Perspektivverschiebung im Blick auf Personen, Orte oder Stile. Sie legen den Fokus auf scheinbar Bekanntes, um genau das zu hinterfragen, und sie machen uns dadurch darauf aufmerksam, auf welche Weise unser Verständnis von Jazz, seiner Geschichte und Ästhetik geprägt wurde und wie es bis in die Gegenwart Veränderungen unterworfen ist.
Konkret: Der Fotograf und Journalist Arne Reimer besuchte für seine beiden Bücher „American Jazz Heroes“ Musiker zuhause, erhielt dabei einen Einblick in ihr privates Lebensumfeld, und reflektiert über den Unterschied zwischen Lebenswirklichkeit, medialer Selbst- und Fremdwahrnehmung. Nicolas Gebhardt nimmt Jelly Roll Mortons 1938 aufgenommene Erinnerungen zum Anlass, darüber zu reflektieren, wie wichtig das Wissen um Lebens- und Arbeitsbedingungen von Musiker/innen ist, um ihre historiographische Einordnung zu verstehen, nämlich die Beziehung zwischen Narrativ, Erinnerung und kultureller Einbildungskraft. Katherine M. Leo blickt auf die Original Dixieland Jazz Band, deren Aufnahme des „Livery Stable Blues“ und des „Dixieland Jass Band One-Step“ vom 26. Februar 1917 oft als erste Aufnahme der Jazzgeschichte bezeichnet wird, nähert sich dabei mithilfe von Gerichtsakten und mit einem kritischen Blick auf die Rezeption der Platte den unterschiedlichen Narrativen, die sie auslöste.
Klaus Frieler berichtet vom Versuch Jazzgeschichte einmal nicht als Mischung biographischer, soziologischer und kultureller Kontextualisierungen sowie musikalischer Charakterisierungen zu erzählen, sondern anhand der computer-gestützten Analyse von Solo-Improvisationen. Andrew Hurley untersucht die verschiedenen Ausgaben von Joachim Ernst Berendts „Jazzbuch“ auf die veränderten Perspektiven des Autors und erklärt an diesem Beispiel unterschiedliche Formen der Narrativbildung. Tony Whyton fragt nach der Bedeutung lokaler und oft sehr persönlicher Erinnerungen von Musikern oder Veranstaltern für den Diskurs etwa über Jazz als transnationale Praxis. Mario Dunkel sieht in Darcy James Argue’s Secret Society den spannenden Versuch, sich eine alternative Jazzgeschichte vorzustellen und dabei auch auf nicht realisierte Möglichkeiten der Musik aufmerksam zu machen. Der Pianist und Komponist Orrin Evans spricht über den Jazz als eine aktuelle, relevante Kunst, und über die (afro-)amerikanische Identität der Musik auch im immer komplexer werdenden globalen Kontext. Krin Gabbard sieht sich den Hollywoodfilm „Syncopation“ aus dem Jahr 1942 an, fragt, wie Ansätze der „new jazz studies“ dabei helfen können, die der Kunst (und dem Film) zugrundeliegenden Vorstellungen von Hautfarbe, sozialer und wirtschaftlicher Machtverhältnisse zu analysieren.
Wolfram Knauer betrachtet die Orte, an denen Jazz gespielt wird und untersucht die Auswirkungen mehr oder weniger ikonischer Spielorte auf Musik, Musiker, die Jazzszene sowie die Wahrnehmung von Jazzgeschichte. Oleg Pronitschew diskutiert die zunehmende Institutionalisierung der deutschen Jazzszene in den letzten 40 Jahren anhand ausgewählter Beispiele und fragt nach deren Auswirkung auf das öffentliche Bild des Jazz. Rüdiger Ritter untersucht die Begeisterung für die „Giganten des Jazz“ in Osteuropa und diskutiert, warum Mythen im Jazz zugleich produktive Elemente und ein künstlerisches Gefängnis sein können. Mit einem Blick auf den Einfluss der Gullah- und Geechie-Kultur in der Küstenregion von South Carolina beschreibt Karen Chandler, dass die Darstellung einer Jazzentwicklung entlang klarer geografischer Zentren die komplexe Entstehungsgeschichte des Jazz als einer musikalischen genauso wie sozialen Praxis verfälscht. Scott DeVeaux hinterfragt die Anfänge des Bebop, der die Grundlage für den modernen Jazz legte, und fragt, inwieweit die Entscheidungen, die Musiker in den 1940er Jahren machten, bis heute die Ästhetik des zeitgenössischen Jazz beeinflussen. Schließlich beendet Nicolas Pillai das 15. Darmstädter Jazzforum mit einem Referat über das „dissonante Bild“, das sich in der medialen Repräsentation von Miles Davis findet und fragt, auf welche Art und Weise der späte Miles Einfluss weit über seine Musik hinaus hatte.
Bis auf den Beitrag von Oleg Pronitschew sind alle Kapitel in englischer Sprache. Auf seiner Website hat der Wolke Verlag einen Link auf Vorwort und Inhaltsverzeichnis gesetzt. „Jazz @ 100“ kann über den Buchhandel oder online auch direkt über den Verlag bestellt werden.
Wolfram Knauer (Oktober 2018)
Jazz. Harmonik, Melodik, Improvisation, Analyse
von Herbert Hellhund
Ditzingen 2018 (Reclam)
202 Seiten, 18,95 Euro
ISBN: 978-3-15-01165-9
Herbert Hellhund unterrichtet seit vielen Jahren Trompete, Improvisation, Ensemble und Jazzgeschichte an der Musikhochschule Hannover. Als Musiker und Musikwissenschaftler, der sich in den 1980er Jahren mit einer Arbeit über Cool Jazz promovierte, ist er einerseits ein ausgewiesener Kenner des Jazz, andererseits auch mit der didaktischen Literatur zum Thema vertraut. Jetzt hat er ein Buch vorgelegt, das sich an Musiker, Musikstudenten und mit musiktechnischen Fachtermini vertraute Fans wendet und ihnen ein tieferes Verständnis geben soll, wie der Jazz als eine Kunst funktioniert, sich Handwerkliches und Kommunikation verbinden. Ziel des Buchs ist es dabei, „Konzepte der Solimprovisation vor allem des Modern-Jazz-Spektrums herauszuarbeiten“.
Hellhund beginnt mit musikalischen Parametern, beschreibt Harmonik, Melodik und Ausdruck als allgemeine Elemente der Musik und geht insbesondere in den Teilkapitel zur Rhythmik und Form eingehender auf die Besonderheiten des Jazz ein, also etwa die Laid-Back-Phrasierung bei Miles Davis, die polyrhythmischen Überlagerungen in Aufnahmen Charlie Parkers, die Konturen von Groove in Swing, Modern Jazz, Jazz-Rock und Latin Jazz, sowie den sehr unterschiedlichen Umgang mit Form, der viel über musikalische und ästhetische Ansätze der betreffenden Musiker aussagen kann.
Im nächsten Kapitel erklärt Hellhund die Akkord-Skalen-Theorie, erläutert „Bebop-Scales“, Pentatonik, blues-typische und andere Skalen. In einem ersten Hauptkapitel diskutiert er die Funktionsharmonik im Jazz sowohl theoretisch als auch an praktischen Beispielen, von Parker bis Coltrane, von Miles Davis bis Herbie Hancock. Er geht die harmonischen Möglichkeiten und Potentiale am Beispiel zweier Standards durch, „All the Things You Are“ und „Stella By Starlight“, und er vergleicht die Ansätze Charlie Parkers und John Coltranes bezüglich Reharmonisierung.
Ein weiteres zentrales Kapitel widmet sich der Improvisation. Hellhund diskutiert, inwieweit Improvisation genuine Erfindung ist, sich Assoziation oder Repetition bedient, und er erklärt die bewussten Anteile an Improvisation anhand konkreter Beispiele aus den Bereichen Harmonik, Form, Rhythmik und Ausdruck. Er fragt, inwieweit Sprachanalogien für Jazzimprovisation Sinn machen und diskutiert kurz die Interaktion als „kollektives Komponieren“.
Benny Bailey habe einmal gesagt, man könne vielleicht feststellen was Miles Davis in einem seiner Soli spielte, nicht aber, warum er es spielt. Diese Feststellung fordert den Autor geradezu heraus, diesem „Warum“ jetzt gerade auf die Spur zu kommen. Dabei geht es ihm nun nicht (wie wahrscheinlich Bailey meinte) um das ästhetisch-philosophisch-spirituelle „Warum?“, sondern um das technische „Warum?“, oder besser um das „Wie?“. Er beschreibt also, wie sich die verschiedenen Parameter gegenseitig beeinflussen, wie einzelne Ideen durch melodische, harmonische oder rhythmische Verfahren zu den „Geschichten in Tönen“ werden, die bekannte Jazzmusiker immer gern forderten („tell a story!“).
Noch konkreter schaut er sich Jazz Lines an, also die Verkettung kleinerer Tongruppen zu längeren Passagen sowie die Überlagerung melodischer, rhythmischer und harmonischer Ansätze. Und dann kommt er zum Verbindenden: Es sei ja schön und gut, wenn man all die Techniken beherrscht, wie aber lässt sich daraus eine musikalische Dramaturgie schaffen, die das alles miteinander verknüpft und zugleich mehr ist als Technik. Lester Young habe schließlich gefordert: „Tell a story!“, und nicht „Zeige deinen Materialvorrat!“
Eigentlich ist dies der Teil, in dem die Kreativität ins Spiel kommt und die Lehrbarkeit schwierig wird. Hellhund versucht es trotzdem. Er betont, wie wichtig Balance und Ausgleich für die Dramaturgie eines Solos ist, eine spürbare Schlüssigkeit, der Sinn für Kontrast und Überraschung. Er erklärt, dass man sich der Kontur des gespielten Stücks bewusst sein müsse, und dass es gelte, dem eigenen Gestus, also dem expressiven Ausdruck, eine stimmige Dramaturgie zu verleihen, die sich beispielsweise der musikalischen Sprachebenen bedienen kann, die er zuvor beschrieben hatte. Hier aber muss irgendwann auch Hellhund die letzte Entscheidung über das Erklingende an die ausführenden Musiker abgeben; hier also stimmt nun wirklich, dass dieses letzte Stück an kreativem Ausdruck wahrscheinlich am besten durch das Studium der Meister zu schaffen ist.
Und so beginnt er den letzten Teil seiner Darstellung mit der Aufforderung an praktische Musiker, sich nicht nur emotional, sondern auch analytisch mit gelungenen Aufnahmen der Jazzgeschichte auseinanderzusetzen, um daraus Lehren und Anregungen für das eigene Spiel zu ziehen. Was kann Analyse generell, fragt er, und wie kann man die Erkenntnisse einer vor allem harmonischen mit einer „verstehende“ Analyse im Sinne der Hermeneutik angehen? Vor allem erklärt er all das ganz praktisch: an eingehenden Analysen des „Dippermouth Blues“ von King Oliver, des „West End Blues“ von Louis Armstrong, von „Now’s the Time“ von Charlie Parker, „Intuition“ von Lennie Tristano sowie „Witch Hunt“ von Herbie Hancock.
Hellhund beschließt sein Buch mit einem „Ausblick“, der tatsächlich an den Anfang des Buches gehört hätte, nämlich sowohl seinen Beweggrund fürs Verfassen des Textes wie auch die Struktur des Buchs erläutert. Im Vorwort aber weiß Hellhund bereits, dass auch sein Buch nur eine Hilfestellung zum persönlichen Entdecken, zur Strukturierung eines Herangehens an Jazz und an Improvisation sein kann. Jazz allein aus Büchern zu lernen, schreibt er, sei nicht möglich. Die Nachahmung durch Hören und Nachvollziehen sei bis heute ein elementares Mittel sich dieser Musik zu nähern. Und er ermuntert dazu Jazz zu hören, immer wieder, vor, während und nach der Lektüre. Denn: „Je mehr man von ihm weiß, umso mehr hört man.“
„Jazz“ ist kein Buch für den Nachttisch, kein Buch zum schnellen Schmökern. Dem Thema angemessen schreibt Hellhund sachlich und eher trocken. Sein Buch ist damit ein Arbeitsbuch vor allem für angehende Musiker, das die diversen Parameter für Jazzimprovisation und die Zusammenhänge zwischen ihnen sorgfältig ordnet und damit Hilfestellung sowohl bei der Reflektion über das eigene Tun wie auch über die Annäherung an Beispiele aus der Jazzgeschichte bietet.
Wolfram Knauer (Oktober 2018)
Das Landgren Alphabet. Nils Landgren im Gespräch
herausgegeben von Rainer Placke
Bad Oeynhausen 2018 (jazzprezzo)
136 Seiten, 1 beiheftende DVD, 25 Euro
ISBN: 978-3-9819538-0-0
Nach dem Buch „Nils Landgren. Red & Cool“, das Rainer Placke 2005 über den schwedischen Posaunisten herausgebracht hat, legt der rührige Verleger exzellenter Fotobücher aus Bad Oeynhausen jetzt einen zweiten Band vor, in dem der Mann mit der roten Posaune selbst zu Wort kommt. Statt einer Biographie hat Placke sich dabei auf eine Art Spiel besonnen: Er legte Landgren zu jedem Buchstaben des Alphabets einen Zettel mit jeweils fünf Begriffen vor, von denen der sich (mindestens) zwei aussuchen durfte, um über sie und seine eigene Beziehung zu ihnen zu philosophieren. Zur Veranschaulichung: Unter „A“ finden sich Begriffe wie „Abba, Alter, Amsterdam, Asthma und Avantgarde“, und dass Landgren „Asthma“ und „Abba“ auswählt, hat sehr persönliche Gründe – Landgren erklärt, dass das Posaunenspiel ihm als Asthmatiker helfe, seine Atemwege frei zu machen, und wie er einst als Studiomusiker mit Abba zusammenspielte und später eine ganze Platte mit dem Repertoire der Popgruppe gestaltete.
Dann spricht er (der alphabetischen Reihenfolge nach) über seine Frau Beatrice und den Pianisten Bengt-Arne Wallin, über die Crusaders und die Stadt Degersfors, in der er geboren wurde, über ECM und Esbjörn Svensson, über seine Funk Unit, über Gesang und Groove, über Hamburg und seine „Helden“, über Idealismus und Intonation, über das Festival JazzBaltica, über sein Engagement für ein Sozialprojekt in Kibera, Kenia, und das schwedische Königshaus, über Astrid Lindgren, Miles und New York, über Ordnung, die Ostsee und die Aufgaben eines Produzenten, über Quincy Jones, die Mühen des Reisens, Siggi Loch und Stockholm, über Talent, Urlaub, seinen Vater und Värmland, über Michael Wollny, Kurt Weill, seine X-mas-Tourneen, Yoga und – in kürzesten Kommentaren – über Zeit, Zuhause, Zukunft, Zurückhaltung und Zweifel.
Herausgekommen ist ein Buch über Nils Landgren, das ganz bewusst weder Biographie noch Interview ist, sondern in dem Placke den Posaunisten zum Nachdenken über die unterschiedlichsten Themen anregt. Am Ende steht dabei weniger eine Geschichte, sondern vielmehr ein Blick auf den Posaunisten aus vielen Perspektiven. Das alles liest sich schnell und vergnüglich, gern mit Landgrens Musik im Hintergrund, über die man in der abschließenden Diskographie noch einmal auf dem Laufenden gehalten wird. Und wenn man all die Informationen mit Bildern verbinden will, helfen auf der einen Seite die Fotos von Oliver Krato von der Gesprächs-Session, auf der anderen Seite aber die als DVD beiheftende Filmdokumentation „Nils Landgren – Do Your Own Thing“ von Dietmar Klum und Jan Bäumer aus dem jahr 2014.
Alles in allem, ein überaus interessanter, von Ingo Wulff wunderbar gestalteter und inhaltlich immer wieder überraschender Band über einen der zurzeit sicher erfolgreichsten europäischen Musiker.
Wolfram Knauer (Juli 2018)
Mosaics. The Life and Works of Graham Collier
von Duncan Heining
Sheffield 2018 (Equinox)
314 Seiten, 39,95 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78179-263-6
Graham Collier war eine dieser Integrationsfiguren, die der Jazz immer wieder braucht, ein Musiker, der von seinen Kollegen insbesondere deshalb geschätzt wurde, weil er sie alle, egal von welcher stilistischen Prägung sie kamen, einbinden konnte in seine Musik, ja, weil ihn die Unterschiedlichkeit ihrer Herkunft geradezu künstlerisch anspornte. Duncan Heining hat nun Colliers Biographie vorgelegt, in der er versucht sowohl der Musik, die auf Platte dokumentiert ist, gerecht zu werden, als auch der Persönlichkeit des Mannes, der gesellig, in seiner künstlerischen Zielgerichtetheit für andere aber auch nicht immer einfach war.
Duncans Buch beginnt bei Colliers Kindheit im britischen Northumberland, beschreibt, wie der Junge von der Trompete zum Euphonium zur Posaune wechselte, obwohl der Kontrabass es ihm da bereits angetan hatte, den er schließlich während seines Wehrdienstes in Hongkong aufnahm. Zur selben Zeit begann Collier zu arrangieren und erhielt 1961 den dritten Preis einer DownBeat-Ausschreibung für eine seiner Kompositionen, der mit einem Stipendium fürs Berklee College in Boston verbunden war. Dort, erzählt Heining, hinterließ insbesondere sein Lehrer Herb Pomeroy nur in seiner Musik, sondern auch in seiner eigenen späteren Unterrichtstätigkeit Spuren.
Zurück in England gründete Collier 1964 seine erste Band, ein Septett mit Trompete, Horn, Alt- und Baritonsaxophon, Gitarre, Bass und Schlagzeug. Zwei Jahre später begann er an der Barry Summer School seine ersten Erfahrungen als Lehrer zu sammeln, und Heining stellt heraus, wie wichtig diese Sommerkurse für die Karrieren später namhafter britischer Musiker sein sollten. Colliers eigene Musik hatte Anklänge an Gil Evans und George Russell und wurde wegen der Arrangements genauso wie wegen der hochrangigen Solisten gelobt, unter ihnen über die Jahre insbesondere die Trompeter Kenny Wheeler und Harry Beckett. Immer mehr spielte auch der Ansatz von Charles Mingus für Collier eine große Rolle, der seinen Musikern innerhalb vorgegebener Strukturen freie Hand ließ und dennoch die Handschrift des Komponisten an jeder Stelle erkennen ließ.
Heining erwähnt alle wichtigen Alben von den Mitt-1960er bis in die 2000er Jahre, und er zeichnet die Entwicklung dieser „flexiblen Form“ nach, an der Collier gelegen war, egal, ob er für sein Septett oder für eine ganze Bigband komponierte. Der Autor zitiert dafür aus zeitgenössischen Rezensionen und versucht die Aufnahmen immer wieder in die größere Jazzgeschichte einzupassen. Dabei gelingt es ihm nicht immer, das Interesse des Lesers (zumindest dieses Lesers) zu halten, wenn er sich im Klein-Klein einzelner Platten oder Ereignisse verirrt und das große Bild aus dem Blick verliert.
Neben der Musik, der Lehre und den Ansichten Graham Colliers über Jazz, die er in diversen Büchern und später auf einer Website öffentlich machte, zieht sich jedenfalls noch ein viertes Thema durch das Buch, das nämlich von Graham Colliers Homosexualität. Der Komponist, der in den 1980er Jahren das Bass-Spielen bleiben ließ, um sich nur noch auf seine Arbeit als Komponist zu konzentrieren, lebte seit den 1960er Jahren offen schwul und hatte damit, wie er selbst sagte, weder unter Kollegen noch im Unterricht etwa an der Royal Academy of Music jemals Probleme gehabt. Heining berichtet, wie offen Collier mit seiner Orientierung umging, streift aber auch homophobe Attacken, die der Komponist etwa von Lesern zu erdulden hatte, die Wind davon bekamen, dass er für die Gay News, eine schwule Zeitschrift, Platten des Labels ECM besprach. Auch von professioneller Seite gab es homophobe Ausfälle, etwa von den bekannten britischen Journalisten Steve Voce und Jim Godbolt. Vielleicht mag die fast 35-jährige Beziehung Colliers mit dem Journalisten John Gill ein Grund dafür gewesen sein mag, dass Colliers sexuelle Orientierung ansonsten kaum Thema war: Sein Leben war nicht anders normal als das seiner heterosexuellen Kollegen auch.
Alles in allem ist Heinings Buch eine Fleißarbeit, der die Fülle an Information, die er da miteinander verbinden muss, manchmal etwas sehr anzumerken ist. Wenn er im Vorwort ankündigt, er habe Themen durchaus zusammengefasst, so hat er diesen Vorsatz in den Kapiteln dann leider zeitweise vergessen und bleibt bei der chronologischen Darstellung, die für die eine oder andere Redundanz sorgt, vor allem aber für eine leicht ermüdende Lektüre. Hier hätte die Konzentration auf die verschiedenen Seiten Colliers als Bandleader, Bassist, Arrangeur, Pädagoge und Autor das Lesen vielleicht etwas erweitert. Die Vollständigkeit, mit der Heining das Oeuvre seines Helden abbildet, wirkt am Ende eher verwirrend, wenn sich auf jeder Seite Hinweise finden lassen, bei denen man denkt: Hier würde ich jetzt gerne weiterlesen, die von Heining aber sofort abgebrochen werden, weil er dem chronologischen Fluss seiner Erzählung zu folgen hat.
Davon abgesehen ist Heinings Buch, über dessen erstes Rohmaterial Colliers 2016 verstorbener Partner John Gill noch schauen konnte, eine angemessene Würdigung einer der wichtigen Persönlichkeit der britischen Jazzszene und des europäischen Jazz, eines Musikers, der eine ganze Generation an Jazzern beeinflusst hat, durch seine Stücke, seine Art Bands zu leiten, durch seinen Unterricht und nicht zuletzt durch die Unverfälschtheit seiner eigenen Persönlichkeit.
Wolfram Knauer (Juli 2018)
Zwei Karrieren – ein Klang. Über die Freiheit, sich nicht entscheiden zu müssen. Meine Lebensgeschichte als Jazzmusiker und Industrieller
von Franco Ambrosetti
Köln 2018 (Verlag Dohr)
192 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-3-86846-151-0
Mit „Zwei Karrieren – ein Klang“ hat der Schweizer Trompeter Franco Ambrosetti vielleicht eine der ungewöhnlichsten Biographien einer Musik vorgelegt, von der es heißt: „Wie macht man eine Million als Jazzmusiker?“ – „Man fängt mit zwei Millionen an.“ Ganz so arg ist es ja tatsächlich nicht – das Leben als Jazzmusiker ist nicht das einfachste und vielleicht auch nicht das einträglichste, aber die Künstlerinnen und Künstler, die sich diesem Genre verschrieben haben, finden in der Regel ihr Auskommen. Franco Ambrosetti allerdings hat neben der erfolgreichen Jazzer-Karriere noch ein zweites, genauso erfolgreiches Standbein als Geschäftsführer eines internationalen Unternehmens mit rund 600 Mitarbeitern. Und in seinem Buch erzählt, wie er es ihm gelingt, diese beiden Karrieren unter einen Hut zu bringen, wie die eine sogar die andere beflügeln half.
Die Liebe zum Jazz war ihm vom Vater in die Wiege gelegt worden, dem Saxophonisten Flavio Ambrosetti, der selbst Jazzmusiker war, einer der Pioniere des Bebop in Europa. Ein Besuch bei einem Konzert Stan Kentons in Mailand und ein Stück, das Bill Russo für den Trompeter Conte Candoli geschrieben hatte, brachten ihn zu seinem Instrument. Mit 20 spielte er in der Band des italienischen Pianisten Romano Mussolini, gründete bald darauf sein eigenes Quintett und wirkte auch im Ensemble seines Vaters mit. Er reiste zu Festivals, machte Plattenaufnahmen und gewann 1966 in Wien einen internationalen Wettbewerb für Jazzmusiker bis 25 Jahre.
Zugleich studierte er Betriebswirtschaft, war nach dem Studium erst als Unternehmensberater aktiv, bis er in die Firma seines Vaters eintrat. Daneben tourte er mit George Gruntz und anderen Musikern, war 1972 Mitgründer von „The Band“, einem Ensemble, das bald als George Gruntz Concert Jazz Band bekannt wurde und von Anfang an als Solistenorchester gedacht war, das vor allem von George Gruntz arrangierte Eigenkompositionen der Orchestermitglieder spielen sollte.
Ambrosetti erzählt von den Möglichkeiten, die sich ihm als Musiker boten, von Reisen nach Berlin und New York, von etablierten älteren genauso wie aufstrebenden jungen Musikerkollegen, mit denen er gemeinsam ins Studio ging, in Clubs oder bei Festivals auf der Bühne stand. Ein kurzer, aber vielsagender Abschnitt seines Buchs handelt davon, für wie ähnlich Ambrosetti die Welten von Musik und Unternehmens-Management sieht. Seine Grundformel für den Zusammenhang lautet in etwa: Sobald man mit einer kreativen Ader geboren wurde, kann man eigentlich alles machen. Er erklärt, dass seine Stellung als einigermaßen unangefochtener Chef eines Familienunternehmens ihm die Ausflüge in den Jazz einfacher machte, dass die dauernden Geschäftsreisen aber auch Herausforderungen für seine andere Seite, für den Musiker in ihm, mit sich brachten. So hatte er tägliche Übe-Routinen entwickelt, die er auch im Hotel einzuhalten versuchte, wo er dann meist bei eingeschaltetem Fernseher in den mit Kleidung gefüllten Schrank spielte, weil sich Hotelgäste selten über einen bei normaler Lautstärke laufenden Fernseher beschweren.
Ambrosetti reflektiert über Plattenaufnahmen, über geschäftliche Entscheidungen und musikalische Wunschprojekte, über Stress und den Ausgleich im privaten Glück. Vor allem aber steht die Musik im Mittelpunkt seiner Erinnerungen, die Begegnungen mit großen Musiker aus Europa wie den USA, das Glück, das er empfindet, weil ihn all diese Großen des Jazz nicht etwa als begüterten Hobbymusiker, sondern als Kollegen auf Augenhöhe sahen. Zwischen (und stellenweise auch in) den Zeilen merkt man die Selbstzweifel, die sich da auch schon mal einstellten und ahnt, dass es so einfach denn vielleicht doch nicht gewesen sein mag, zwei so verantwortungsvolle Karrieren unter einen Hut zu bringen. Die größte Würdigung aber findet sich wohl am Schluss, in den Statements von Enrico Rava, Claudio Fasoli, Enrico Intra, Randy Brecker, Paolo Fresu, Uri Caine und Daniel Humair, die sein „natürliches Talent“ genauso bewundern wie die Lust und Freude, die er ausstrahlt, wenn er zur Trompete greift. Und genau diese Lust und Freude merkt man auch Franco Ambrosettis Lebenserinnerungen an, die mit einer knappen Diskographie und einem Index der im Buch erwähnten Personen endet.
Wolfram Knauer (Juni 2018)
Respekt! Die Geschichte der Fire Music. Jazz: Perspektiven und Kontroversen, Band II
von Christian Broecking
Berlin 2018 (Broecking Verlag)
373 Seiten, 34,99 Euro
ISBN: 978-3-938763-47-6
Christian Broecking ist ein profunder Kenner afro-amerikanischer Diskurse über Jazz, Ästhetik und Politik. Als Nicht-Amerikaner gelingen ihm in seinen Interviews mit einigen der bedeutendsten Musiker/innen der afro-amerikanischen improvisierten Musik Einblicke, wie deren Kunst immer auch die gesellschaftliche Auseinandersetzung der Zeit spiegelt.
Sein neustes Buch ist eigentlich die Wiederveröffentlichung dreier zwischen 2004 und 2007 erschienener, mittlerweile nicht mehr lieferbarer Bände: „Respekt“, „Black Codes“ und „Jeder Ton eine Rettungsstation“. Seine Interviews beleuchten die Auseinandersetzungen der Zeit, die Frage nach der Deutungshoheit afro-amerikanischer Musik, die Frage nach politischer und gesellschaftlicher Relevanz, die Frage nach künstlerischer Freiheit, die Frage danach, was von den Aussagen, die Musiker da in ihrer Kunst formulieren, beim Publikum (und bei welchem) ankommt.
So spricht Broecking etwa mit Sonny Rollins darüber, ob man mit Musik die Welt verändern kann („Ja!“), mit Wayne Shorter über den Versuch der damaligen Neotraditionalisten, Miles Davis aus dem Jazz zu verdammen („Falsch!“), oder mit Bill Dixon über die October Revolution in Jazz und die Notwendigkeit politischer Positionierung in der Gegenwart. Er diskutiert mit Ornette Coleman über Rassismus und den schwarzen Beethoven, mit Archie Shepp über Begriffe wie „Jazz“ oder „Black Music“, mit Sam Rivers über die Notwendigkeit einer Avantgarde, oder mit James Carter über den Spagat zwischen Tradition und Gegenwart.
Er unterhält sich mit Amiri Baraka über dessen Gedicht „Somebody Blew Up America“, mit Amina Claudine Myers über den Einfluss der schwarzen Kirche, und mit Shirley Horn über Miles Davis als Mentor. Er fragt Stanley Crouch über den Streit zu Wynton Marsalis, Abbey Lincoln, Oscar Brown Jr. und Gil Scott-Heron über die politische Bedeutung ihrer Musik, oder Cassandra Wilson über den Blues. Er befragt Dianne Reeves nach der Gefahr des Konservatismus, Wynton Marsalis nach seiner Auseinandersetzung mit der (meist weißen) Jazzkritik und Jayne Cortez nach der Bedeutung von Poetry in der Gegenwart.
Er spricht mit David Murray über den Zustand der afro-amerikanischen Community, mit Butch Morris über Conduction und mit Billy Bang darüber, warum er sich als einer der letzten Avantgardisten fühlt. Er fragt Roscoe Mitchell nach den vielen Jahren mit dem Art Ensemble of Chicago, Craig Taborn nach dem politischen Bewusstsein junger Musiker und George E. Lewis nach dem Gegensatzpaar „Afro/Euro“ in der Musik. Er unterhält sich mit Fred Anderson, Mwata Bowden und Nicole Mitchell über die ACCM, mit Dewey Redman über seine Zusammenarbeit mit Ornette Coleman sowie mit Randy Weston über das Konzept von Great Black Music. Er diskutiert mit Yusef Lateef über künstlerische Forschung und Produktivität, mit Howard Johnson über seine Erlebnisse in Deutschland und mit Sirone Jones über Musik als Ego-Trip, Selbsterfahrung oder Produkt. Mit Tyshawn Sorey und Vijay Iyer interviewt er auch zwei der noch heute angesagtesten Musiker, unterhält sich mit Wadada Leo Smith sowie mit Marshall Allen und James Jacson, die nach Sun Ras Tod dessen Arkestra weiterführten.
All diese Interviews geben in ihrer jeweiligen Kürze oder Länge tiefe Einblicke in den Stand der ästhetischen Diskussion im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende. Broecking wertet nicht, er lässt seine Subjekte sprechen, liefert Stichworte, ermutigt sie ihre Position deutlich zu machen. Dass ihm das so gut gelingt, mag einerseits der Tatsache zu verdanken sein, dass er für sie Ausländer war, dem man die Dinge grundsätzlich anders erklärt als Gesprächspartnern aus dem eigenen Kulturkreis. Daneben aber verfügt Broecking über so viel an Hintergrundwissen, dass er jedes der Gespräche auf die Gebiete zu lenken weiß, die ihn besonders interessieren.
Leider verzichtet der Autor auf ein Register, das gerade für dieses Buch ungemein hilfreich gewesen wäre, wie Broecking selbst weiß, der die vielen Interviews, die er hier und anderswo veröffentlichte, inzwischen ja auch für seine wissenschaftliche Forschung genutzt hat. Es ist dennoch eine Bereicherung, all diese Gespräche in einem Buch versammelt im Bücherregal zu haben. Seine Übertragung ins Deutsche liest sich ungemein flüssig, so dass man meint, die Musiker selbst sprechen zu hören. „Respekt!“ ist damit eine umfassende Dokumentation der Diskurse afro-amerikanischer Musik im beginnenden 21sten Jahrhundert, ein wichtiges Kapitel der Jazzgeschichtsschreibung und dazu noch eine nach wie vor faszinierende Lektüre.
Wolfram Knauer (Mai 2018)