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[:de]Neue Bücher 2018[:en]New Books 2018[:]

De Motu
von Evan Parker
Nantes 2018 (Lenka Lente)
54 Seiten, 8 Euro
ISBN: 979-10-94601-23-5

Ein Reclam-Heft von Evan Parker! Nein, natürlich ist Lenka Lente nicht Reclam, aber ihre Veröffentlichungen haben eine ähnlich praktische Größe.

„De Motu“ heißt eine Komposition, die Parker 1992 für ein Festival in Rotterdam schrieb, ein Auftrag, der ihn darüber nachdenken ließ, wie sich die Art „freier Improvisation“, für die er stand, von anderen Formen avantgardistischer Musik, Neuer Musik oder ähnlichem unterschied. Er stellt fest, dass seine art Musik in den Niederlanden offenbar die beste Förderung erhält und dass es vielleicht nicht so unklug war, als Misha Mengelberg und Han Bennink ihr Musikkollektiv ICP nannten, „Instant Composers‘ Pool“. Hatte Vinko Globokar vielleicht recht, als er anmerkte, Platten mit freier Improvisation solle man sich möglichst nur ein einziges Mal anhören, um ihrer Spontaneität gerecht zu werden? Was genau ist das Material des improvisierenden im Vergleich zu jenem des komponierenden Musikers?

Diesem kurzen kritischen Blick auf Funktion und Stellenwert seiner eigenen Kunst folgt Parker mit einer Erinnerung an ein Konzert, bei dem er in einer Galerie ein Duo mit einer Klangskulptur spielte. in einem weiteren Text er Improvisation als kompositorische Methode; und schließlich fasst er all das zusammen in einer Erinnerung an die Vorbereitungen für das Rotterdamer Konzert, wie er sein Werk als grafische Partitur, als Master-Tape, das alles begleitet vom vorliegenden Essay der finanzierenden Rotterdamse Kunststichting übergeben werde.

Ein Reclam-Heft von Evan Parker. Darauf haben wir gewartet!

Wolfram Knauer (August 2023)


ABÉCÉDAIRE Jacques Demierre AB C BOOK
von Jacques Demierre
Nantes 2018 (Lenka Lente)
252 Seiten, 20 Euro
ISBN: 979-10-94601-22-8

Guilaume Belhomme interviewte den Schweizer Pianisten Jacques Demierre 2011, war von einigen seiner eigenen Publikationen so beeindruckt, dass er ihm anbot ein Assoziationsbuch zusammenzustellen, freie Hand von A bis Z.

Der rote Faden, schreibt Demierre ins einer Einleitung, sei seine Erfahrung von Klang gewesen, als Pianist, als Performer, als Komponist und als Improvisator. Und so schreibt er darüber, wie das Gefühl von Freundschaft („amitie“) die Wahrnehmung von Musik beeinflusst, wie sein Verhältnis zum Instrument ein fast intimes sei („amorous“), über die Notwendigkeit von Balance – auf der Bühne, im Klavier, im Raum, sowie über die Klavierstimm-Geschichte eines Flügels in Chicago („Constellation“).

Er erinnert sich an einen weisen Mann, dem er in einem Park in Bolivien begegnete („Equilibrium“), erklärt, was er mit seinen „Fabrik Songs“ (nach Kurt Weill) bezweckte, beschreibt das Erlebnis des improvisatorischen Flusses („Flux“), und erinnert sich, wie ihn die Mundharmonika immer an die menschliche Stimme erinnerte („Harmonica“).

Er reflektiert über „Intuition“ und beschreibt das Erlebnis auf einem Hamburger Steinway zu spielen („Liszt“), macht sich Gedanken über das Verhältnis von Bewegung („Movement“) und Klang, und betrachtet „Nietzsche“ als Improvisator. Er sinniert über die Verantwortung von Kunst angesichts von Gewalt in der Welt („Paris“) und erinnert eine Begegnung mit Luciano Berio („Pasta“). Er denkt über die Beschaffenheit der Hände eines Pianisten nach („Pelt“), und weiß über den argentinischen Linguisten Luis „Prieto“ zu berichten. Er schreibt über die Notwendigkeit sich als Pianist auf jedwedes Instrument einzulassen („Ruin“) und über ein Kunstobjekt von Joseph Beuys („Silence“).

Es sind Gedankenfacetten, Erinnerungen an Erlebnisse, mal philosophische, mal humorvolle Geschichten, die Demierre ausbreitet wie kurze, einprägsame, nachdenklich machende Piècen. Dem zweisprachigen Buch (Französisch/Englisch) liegt eine CD mit einer Aufnahme der Lautkomposition „Ritournelle“ bei, einer langsamen Lautverschiebung von „fremd“ über „Gruft, „Suche“, Wahl“ bis zu „mit“ – kein Klavier, nur Wortverfremdungen.

Wolfram Knauer (Mai 2021)


The Jazz Pilgrimage of Gerald Wilson
von Steven Loza
Jackson/MS 2018 (University Press of Mississippi)
189 Seiten, 25 US-Dollar
ISBN: 978-1-4968-1602-3

Gerald Wilson gehört zu den „musicians‘ musicians“ des Jazz: ein Musiker, dessen künstlerische Qualität von jeder Kollegin, jedem Kollegen gelobt wird, der durchaus sein Publikum erobert hat, aber dennoch von der Jazzgeschichtsschreibung weitgehend ignoriert wird. Steven Loza lehrt Musikethnologie an derselben Universität, an der Wilson lange Zeit Jazzgeschichte unterrichtete, und sein Ziel mit diesem Buch ist es, Wilsons musikalische Philosophie zu vermitteln, von der er zu Lebzeiten des Kollegen offenkundig zutiefst berührt wurde. Sein Buch will dabei Biographie genauso sein wie den Kontext vermitteln, aus dem heraus Wilson seine Kunst entwickelte, insbesondere im Kalifornien der 1950er bis 2000er Jahre. Loza lässt dazu in weiten Teilen Wilson selbst zu Worte kommen und bildet die Gespräche mit ihm in Interviewform ab.

Wilson beginnt mit seiner Familiengeschichte. Geboren in Shelby, Mississippi, erhielt er mit vier oder fünf Jahren den ersten Klavierunterricht von seiner Mutter. Er erzählt von den Ausbildungsmöglichkeiten einer ambitionierten Familie in den 1920er und 1930er Jahren, von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise von 1928, die auch in Shelby zu spüren war, von seiner Schulzeit in Memphis, von der Unterstützung durch einen wohlmeinenden Lagerhausbesitzer und seine Familie, und von seiner Liebe zur Musik der Zeit, egal, ob sie von schwarzen oder weißen Bands gespielt wurde. Seine erste Trompete erhielt er noch in Shelby, seinen ersten Unterricht dann bereits in Memphis, wo er auch schnell Mitglied einer Band wurde. Mit 16 kam er zum ersten Mal nach Chicago, das, wie er erzählt, genauso segregiert war wie Memphis, wo man aber diesen „Drang nach Freiheit“ spürte, den Drang nach gesellschaftlicher Veränderung.

Statt in Chicago landete Wilson 1934 erst einmal in Detroit, das politisch allerdings weit fortschrittlicher war als Chicago, wo es beispielsweise keine segregierten Parks gab. Er ging weiter zur Schule, landete auch aber schnell in einer der besten Bands der Stadt. Es war der Einstieg ins Profigeschäft: Bald folgten die erst die Band von Edgar Hayes (1938), dann vor allem jene von Jimmie Lunceford (ab 1939), in der er mehr und mehr zu arrangieren begann. 1942 verließ er Lunceford, um nach Los Angeles zu ziehen, wo er gute Kontakte hatte und von wo aus er bald zum Wehrdienst eingezogen wurde. Er erzählt vom Training in der unter Musikern legendären Great Lakes Naval Training Station, wo er in einer der Navy-Bands spielte, bis er 1944 aus gesundheitlichen Gründen aus der Armee entlassen wurde. Zurück in Los Angeles gründete Wilson sein eigenes Orchester, mit dem er bald die gesamte Westküste bereiste, aber auch bis nach Chicago kam und zusammen mit Ella Fitzgerald und Louis Armstrongs Orchester die Bühne teilte. Er hatte junge Musiker in der Band und spielte ein Repertoire, das deutlich auf den aktuellen Bebop Bezug nahm, etwa in seiner Aufnahme von Dizzy Gillespies „Groovin‘ High“ von 1945.

Das Musikerleben war allerdings … sagen wir mal, „vielseitig“: Einerseits schrieb Wilson Arrangements für Duke Ellington, hielt sich andererseits mit dem Betrieb eines eigenen Lebensmittelladens in L.A. über Wasser und studierte nebenbei mit dem Pianisten und Komponisten Phil Moore Komposition, weil er hoffte, so in der Studioszene Hollywoods Fuß fassen zu können. Er schrieb Arrangements fürs Count Basie Orchestra der späten 1940er Jahre und leitete die Begleitband für Billie Holiday auf einer Tournee, die zum finanziellen Fiasko wurde. In den 1950er Jahren besaß er kein eigenes Orchester mehr, arbeitete stattdessen in Studiobands fürs Fernsehen, arrangierte Platten für Pop- und Soulmusiker, und wirkte bei der Realisierung von Filmmusiken mit, etwa für Duke Ellingtons Soundtrack zu „Anatomy of a Murder“. In den 1960er Jahren gelang es Wilson aus einer Probenband wieder ein eigenes Orchester zusammenbauen, das für das Label Pacific Records Aufnahmen machte, die Bigband-Jazz mit aktuellen Poptrends verbanden und Musiker wie den Hammondorganisten Richard ‚Groove‘ Holmes herausstellten oder Titel wie Miles Davis‘ „Milestones“, Homages an Ravi Shankar oder an Aram Khachaturian. Kein Geringerer als Eric Dolphy war bereits in den 1950er Jahren durch Wilsons Schule gegangen und hat eigenem Zeugnis entsprechend hat vor allem von der stilistischen Neugier seines Mentors profitiert.

Während Wilson die Zeit bis in die 1950er noch weitgehend selbst kommentiert, greift Loza für die 1960er Jahre vor allem auf zeitgenössische Quellen zurück, zitiert Rezensionen der Zeit und erklärt den Kontext der Aufnahmen, die im Mittelpunkt dieser Kapitel stehen. In den 1970ern erhielt Wilson mehrere Aufträge für sinfonische Kompositionen, begann andererseits seine Arbeit als angesehener Jazzpädagoge. Auch im Rundfunk war er aktiv, wo er seit 1969 eine regelmäßige Sendung auf dem Jazzsender KBCA in Los Angeles moderierte. Loza fasst die Kompositionen der 1980er und 1990er Jahre zusammen, erwähnt eine große Würdigung Wilsons durch das Lincoln Center Jazz Orchestra und erklärt die Faszination des Arrangeurs mit lateinamerikanischen Einflüssen. In seinem letzten Kapitel geht er schließlich auf Wilsons „musikalische Philosophie und seinen Stil“ ein, auf harmonische und satztechnische Besonderheiten, die er auch mithilfe von Partituren verdeutlicht.

Ganz zum Schluss spricht er von der „Mestizität“ Gerald Wilsons, und meint damit die Erfahrung vieler Lateinamerikaner verschiedene kulturelle Identitäten in sich zu tragen. In diesem Schlusskapitel finden sich darüber hinaus einige Weisheiten Gerald Wilsons, wegen der ihn viele seiner Mitmusiker auch bewundert haben. Er beschreibt den Jazz als afro-amerikanische Musik und damit als Ergebnis einer andauernden Akkulturation. Er spricht über die produktive Art und Weise von Jazzmusikern mit scheinbaren Fehlern umzugehen, sie nämlich als kreativen Ausgangspunkt für Neues umzudeuten. Er kritisiert das Bildungssystem, das letztlich dafür verantwortlich sei, dass es so wenig schwarze Musiker gibt, macht sich aber dennoch um die Zukunft des Jazz keine Sorgen.

Lozas Buch bietet eine zwiespältige Lektüre: Die Gesprächsteile mit Gerald Wilsons sind das Herzstück seines Buchs und als Quelle über die ästhetischen Entwicklung des Musikers ungemein spannend. Loza verzichtet aber sowohl auf eine „Lesbarmachung“ des Ganzen, also einen Editionsprozess, der beispielsweise Sätze klarer strukturieren, Zeitsprünge, die Wilson immer wieder vornimmt, auflösen, oder wenigstens den Kontext erklären würde. So muss man immer wieder nachblättern, um sich zu vergewissern, in welchem Jahr man eigentlich ist, wird durch lange Erinnerungen geführt, in denen Wilson betont, „Das ist jetzt wichtig“, um dann aber nie wieder drauf zurückzukommen. Das analytische Kapitel bildet Gespräche mit Wilson ab, in denen die beiden sich über Harmonik, Form und Orchestrierung austauschen, aber in den vorangegangenen Kapiteln über die Platten der 1960er bis 1990er Jahre verlässt sich Loza größtenteils auf journalistische Rezensionen. Einer eigenen Wertung will er sich weitestgehend entziehen, kann dann aber doch seiner persönlichen Begeisterung in der Beschreibung der Aufnahmen kaum entkommen. Das alles ist schade, denn Wilson hat ihm tatsächlich jede Menge Stoff geboten, der es erlauben würde, hinter die Musik zu blicken. Viele Fragen werden nicht beantwortet, weil Loza sie erst gar nicht stellt, oder weil er die Antwort höchstens andeutet: Themen wie Studioarbeit in Hollywood, alltäglicher Rassismus und deren Auswirkungen auf die Karriere eines Musikers, Repertoirekenntnis und was diese bedeutet, der Inhalt seiner immer wieder erwähnten Auseinandersetzung mit Komposition und klassischer Musik … Immer wieder fühlt man sich als Leser dabei ertappt zu denken, das ist jetzt aber interessant, zu hoffen, dass gleich eine Erläuterung kommt, doch dann geht’s einfach nur… weiter im Text. Ein wenig also eine vergebene Chance… aber natürlich kann man es auch anders, positiver sehen: Steven Loza bietet mit seinem Buch über Gerald Wilson künftigen Forschern jede Menge Themen, über die es sich zu forschen lohnt.

Wolfram Knauer (August 2020)


Das Kontrabass-Buch
von Jonas Lohse
Friedberg 2018 (Jonas Lohse)
324 Seiten, 39 Euro
ISBN: 978-3-00-060798-1

Jonas Lohse ist Kontrabassist, Bassbauer und Grafiker und ein sehr aktiver Akteur in der lebendigen Frankfurter Jazzszene. In seinem neuen Buch hat Lohse jetzt sein immenses Fachwissen über das Instrument zusammengefasst: die Geschichte des Kontrabasses, Spieltechniken, besondere Bassisten in Klassik und Jazz, Instrumentenvarianten und spezielle Bässe aus über 400 Jahren Instrumentengeschichte.

Er beginnt mit den ersten Streichinstrumenten in Basslage, die bereits im frühen 16. Jahrhundert nachgewiesen sind, diskutiert die Instrumentenstimmung und die Tatsache, dass viele Bässe bis zu Beginn des 20sten Jahrhunderts nur drei Saiten besaßen. Er vergleicht die unterschiedlichen Korpusformen und die Größen, die das Instrument üblicherweise einnimmt. Er erklärt, welche Auswirkungen verschiedene Materialien auf den Klang haben und wie sich der Bogenaufbau für den Kontrabass über die Jahrhunderte veränderte. Er zeigt unterschiedliche Formen der Schnecke sowie des f-Lochs, erwähnt elektrifizierte Bässe und beschreibt die Schwierigkeiten mit einem so großen Instrument auf Tournee zu gehen.

In einem zweiten Kapitel identifiziert Lohse die wichtigsten Kontrabass-Manufakturen in Deutschland und darüber hinaus. Er zeigt zahlreiche Klebezettel, die Geigenbauer gern ins Innere der Instrumente klebten und erklärt, warum selbst aus Fernost stammende Instrumente noch heute gern mit deutschen Namen versehen werden. Zugleich erläutert Lohse Stärken und Schwächen von Instrumenten aus amerikanischer Produktion, beschreibt die unterschiedlichen Saitentypen und ihre Auswirkung auf den Klang sowie die Bedeutung des Kolophoniums.

Sein ausführliches Kapitel über den Kontrabass im Jazz beschäftigt sich etwa mit den Anschlag-Varianten („Streichen, Zupfen oder Slappen?“) oder dem Walking Bass seit der Swingära. Er diskutiert prägende Bassisten bis in die Gegenwart und, in einem Nebenkapitel, auch die Verwendung des Cellos im Jazz. Dann geht es zurück zu Technischem, erklärt die Mikrophonierung und andere Arten der elektrischen Verstärkung, erzählt die Entwicklungsgeschichte der Tonabnehmer und beschreibt Kriterien zur Wahl von Verstärker und Lautsprecher. Er diskutiert das Setup des Instruments, also Griffbrett, Steg, Ober- und Untersattel, Stimmstock, Saitenhalter, Stachel, und weiß um den Einfluss von Wetterbedingungen aufs Holz. Er gibt Tipps für eigenhändige kleinere Reparaturen. Und er erklärt, was man bei der Anschaffung eines solchen Instruments bedenken sollte.

Jonas Lohses sorgfältig recherchiertes Buch ist eine wahre Fundgrube, nicht nur, aber insbesondere für Kontrabassisten. Der überaus reich bebilderte Band ist dabei auch für Nicht-Fachleute leicht und flüssig zu lesen, gibt Kontext, ohne sich zu weit vom eigentlichen Thema zu entfernen. Lohse erklärt, ohne zu belehren, und viele der Fotos ermuntern zum Nachhören klassischer genauso wie aktueller Aufnahmen, zum Fokussieren auf diesen tiefsten Klang der Band genauso wie des Orchesters, der antreibt, grundiert, harmonische genauso wie rhythmische Wirkungen entfaltet und dabei immer etwas Tänzerisches behält.

Wolfram Knauer (Juli 2020)


Die glorreichen Siebzehn. Die hr-Bigband
von Wolfgang Sandner
Frankfurt 2018 (Societäts Verlag)
128 Seiten, 1 heiheftende CD, 25 Euro
ISBN: 978-3-95542-304-9

Seit 1975 erst heißt die Band hr-Bigband, davor war sie das Tanzorchester des Hessischen Rundfunks, das über die Jahre aber immer weniger Schlager und immer mehr Jazz produzierte. Die künstlerisch Verantwortlichen hießen Willy Berking, Heinz Schönberger, Kurt Bong, Jörg Achim Keller, Örjan Fallström und seit 2011 Jim McNeely, den Klang aber erzeugen siebzehn Musiker, denen Wolfgang Sandner in seiner „Festschrift“ für das Ensemble jeweils ein vierseitiges Kapitel widmet. Tatsächlich listet er sogar 18 Musiker, denn das Verfassen des Manuskripts fiel just in die Zeit, als der Bass von Thomas Heidepriem an Hans Glawischnig überging.

Sandner geht knapp auf die Biographien und die klanglichen Besonderheiten jedes einzelnen Ensemblemitglieds ein, von denen ja jeder im Satz spielt und zugleich als Solist heraussticht, und er weiß, dass sie alle neben ihrer Tätigkeit in der Bigband auch in anderen Projekten oder als Dozenten an diversen Ausbildungsinstituten aktiv sind. Man erfährt über Einflüsse auf ihre jeweilige musikalische Haltung, über ihren Ton, über Höhepunkte ihrer bisherigen Karriere (besonders eindrucksvoll liest sich das für den Saxophonisten Tony Lakatos), sowie über besonders herausragende Momente mit der hr-Bigband.

Wie der Titel andeutet, ist das Buch ist eine Feier dieses Klangkörpers, einer von drei festangestellten deutschen Rundfunk-Bigbands, einer Struktur, um die andere Länder Deutschland beneiden. Kritische Töne sucht man also vergebens, etwa zum Repertoire, zur Zeitgemäßheit der Bigband-Besetzung, zu der Tatsache, dass die hr-Bigband bis heute ein reines Männerensemble ist. Auf jeden Fall aber eine – wie beim Autor Wolfgang Sandner nicht anders zu erwarten – sehr gut geschriebene Festschrift. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Die ausdrucksstarken Fotos im Buch stammen vom Pressefotografen Helmut Fricke und von Oliver Leicht, einem der Saxophonisten der Band. Und als Zugabe gibt es eine CD mit Studioaufnahmen vom September 2017, Jim McNeelys „Barefoot Dances and Other Visions“. Ein Buch für Freunde der Bigband also, ganz bestimmt aber für den großen Fankreis der hr-Bigband.

Wolfram Knauer (Januar 2020)


The Jazz Bubble. Neoclassical Jazz in Neoliberal Culture
von Dale Chapman
Oakland/CA 2018 (University of California Press)
282 Seiten, 34,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-520-27938-4

In den 1980er Jahren änderte sich die Welt. Der wirtschaftspolitische Neoliberalismus, der durch die Politik von Ronald Reagan und Margaret Thatcher angestoßen wurde, sorgte für ein grundlegendes Umdenken gesellschaftlicher Verantwortung, im Großen, also dem Handeln von Banken und Industrie, genauso wie im Kleinen, wo sich die Idee der Ich-AG durchsetzte, die ihr menschliches Kapitel auf dem Markt anbietet. Dale Chapman untersucht in seinem Buch die Verbindungen zwischen diesem neuen Kapitalismus des ausgehenden 20sten, beginnenden 21. Jahrhunderts, und dem Jazz jener Jahre, der oft mit den Young Lions, vor allem aber mit Wynton Marsalis und seiner Art des Neo-Klassizismus verbunden wird. Diese neokonservative Haltung im Jazz, wie sie sich über die Jahre insbesondere im Programm von Jazz @ Lincoln Center manifestierte, sah den Jazz als eine „freedom shaped by rules“, und diese neue, weit weniger als vorgegangene Entwicklungen radikale Perspektive sorgte dafür, dass Jazz nach und nach auch für Kreise interessant wurde, die diese Musik zuvor eher links liegen gelassen hatten. In der Folge wurde das Bild vom Jazz als einer das Risiko eingehenden Ensemblekunst gern als Muster für das erfolgreiche Handeln im betrieblichen Management genutzt, nicht anders als man zuvor versucht hatte, die individualistische Haltung des Jazz in Analogie zur amerikanischen Demokratie zu setzen.

Wie also, fragt Chapman, lassen sich mit Hilfe des Jazz gesellschaftliche sowie ökonomische Entwicklungen in den USA des ausgehenden 20sten Jahrhunderts beschreiben. Sein Buch bemüht dafür verschiedene konkrete Beispiele. Sein erstes Kapitel etwa widmet sich der Verwendung von Jazzmetaphern in Management-Seminaren. Dass solche Analogien hinken, ahnen selbst diejenigen, die sie bemühen; Chapman allerdings legt die Lupe an und fragt, wo sich denn das „ins Risiko gehen“ des Jazzmusikern von jenem im wirtschaftlichen Handeln unterscheidet. Als konkretes Beispiel beleuchtet er dabei das Miles Davis Quintett der Mitt-1960er Jahre, das für viele der Young Lions der 1980er Pate stand.

In Kapitel 2 betrachtet er die Rückkehr Dexter Gordons in die USA im Jahr 1976, die von der Presse als „Homecoming“ gefeiert wurde und die er vor dem Kontext der sozialen und wirtschaftlichen Schieflage New Yorks beleuchtet. Dort suchte man die Schuld für den scheinbaren Niedergang der Stadt wechselseitig in der afro-amerikanischen, der Latino oder der LGBTQ-Community. Dexter mit seinen klaren Wurzeln im Bebop wirkte da wie eine willkommene Alternative zu den Rock-, Funk- und Disco-Fusion-Projekten, in denen gesellschaftliche genauso wie Gendernormen in Frage gestellt wurden.

In den Kapiteln 3 und 4 befasst sich Chapman mit der Wiederbelebung des Labels Verve, dessen Katalog von der Polygram aufgekauft worden war, sowie mit dem Zusammenschluss von Polygram und Universal, in dessen Verlauf der Jazzkatalog und der Markenname Verve immer mehr unter Gesichtspunkten des „shareholder value“ betrachtet wurden. Verve und andere der großen Labels unterstützten die neoklassizistischen Projekte Marsalis‘ und anderer mit großem Publicity-Aufwand, was Howard Reich 2004 dazu brachte, analog von der Dotcom-Blase jener Jahre von einer „Jazzblase“ zu sprechen.

In den Kapitel 5 und 6 schließlich beleuchtet Chapman die Verbindung zwischen Jazz, Standentwicklung und der „neoliberalen Stadt“. Sein Beispiel ist der Versuch der Stadt San Francisco, das Viertel Fillmore District als „jazz preservation district“ neu zu entwickeln. Der ursprüngliche Plan, der auf eine gemischte Finanzierung aus öffentlicher Hand genauso und Privatkapital setzte, hoffte auf eine Belebung des innerstädtischen Bezirks, führte allerdings tatsächlich zur Umsiedlung zehntausender Anwohner und zur Aufgabe zahlreicher inhabergeführter Geschäfte, ließ dabei die eigentlichen Belange der dort ansässigen Community weitgehend außer Acht.

Chapmans Untersuchung bietet spannende Perspektiven auf Zusammenhänge gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen der letzten Jahre mit der Wahrnehmung und der Rolle von Jazz in unserer heutigen Gesellschaft. Und wenn sein Buch auch vor allem die amerikanische Lage erkundet, lassen sich ähnliche Bezüge auch im Verhältnis zwischen Jazz und Gesellschaft hierzulande finden. „The Jazz Bubble“ ist dabei keine einfache Lektüre; immer wieder greift der Autor auf wissenschaftliche Diskurse zwischen Ökonomie, Politikwissenschaft und kritischer Theorie zurück, denen er dann aber mit seinen sehr konkreten und anschaulichen Beispielen Leben einhaucht. Jedes der Kapitel ist mit einer konzisen Zusammenfassung versehen, die zugleich einen Ausblick wagt und dabei implizit zum Weiterforschen einlädt.

Wolfram Knauer (Juli 2019)


Sonny Rollins. Meditating on a Riff. A Journey into his World of Spirituality
von Hugh Wyatt
New York 2018 (Kamama Books)
288 Seiten, 19,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-9981219-2-5

Es gibt bereits einige Bücher über Sonny Rollins, darunter allein zwei von deutschen Autoren (Peter Niklas Wilson, Christian Broecking). Jetzt ist eine neue Biographie erschienen, die zumindest in einem außergewöhnlich ist: Sie blickt hinter die Fassade des international renommierten Jazz-Stars und weiß etliche persönliche Hintergründe zu beleuchten, die neue Perspektiven auf sein Leben und Wirken ermöglichen.

Der Autor Hugh Wyatt ist Journalist und seit den frühen 1960er Jahren mit dem Saxophonisten befreundet. Im Gespräch mit Rollins, mit Verwandten und Freunden gelingt ihm eine ungemein persönliche Annäherung an prägende Situationen sowie wichtige Wegmarken im musikalischen Werdegang des Saxophonisten. Geboren in Harlem wuchs Rollins in einer Mittelklassefamilie auf, in einem Viertel, in dem viele der bewunderten Stars der afro-amerikanischen Community wohnten. „Ist da nicht der große Tenorsaxophonist Coleman Hawkins verbeigelaufen“, habe Rollins seinem Kindheitsfreund mal zugerufen, worauf der geantwortet habe, „Ja! Und in die andere Richtung lief W.E.B. DuBois.“ Hawkins war sein Held auf dem Instrument, aber ein Publicity-Foto Louis Jordans der Auslöser, sich selbst ein solches Instrument zuzulegen.

Wie schon der Untertitel seines Buchs andeutet, legt Wyatt einen besonderen Fokus auf die Spiritualität Rollins, aus der heraus, wie er argumentiert, sich auch die Kreativität des Musikers speise. Anfangs war das die christliche Kirche, dann das Bewusstsein, dass es einen Zusammenhang zwischen Gott und der Musik gäbe, schließlich die Beschäftigung mit Buddhismus und Hinduismus, sowie die Erfahrung, dass Yoga ihm die Kraft seiner eigenen Spiritualität bewusst machte. Er wuchs in der Hochzeit des Bebop auf und nahm bereits als Teenager an den legendären Jam Session im Minton’s teil. Thelonious Monk lud ihn ein, mit ihm zu spielen, und natürlich traf er auch auf Charlie Parker. Rollins, sagte Percy Heath, später, konnte wie jeder Tenorist vor ihm klingen, aber man wurde auf ihn aufmerksam, weil er bereits begann seine eigene Stimme zu entwickeln. Wyatt berichtet, wie sich Rollins Stück für Stück Ansehen erspielte, lässt aber auch die Lebenswirklichkeit eines Afro-Amerikaners im rassistischen Amerika jener Zeit nicht außer Acht. Er beleuchtet die spirituelle Suche, die auch andere Jazzmusiker umtrieb, die sich zur selben Zeit dem Islam zuwandten. Und er schreibt über den Drogenkonsum in der Szene, dem Sonny Rollins verfiel. Konnte er besser spielen, wenn er high war? Schwer zu sagen, antwortet Rollins. Wenn wir high waren, konnten wir uns jedenfalls wirklich nur auf die Musik fokussieren. Irgendwann im Jahr 1949 nahm er dann eine zu hohe Dosis Heroin, überlebte glücklicherweise, landete aber bald darauf im Gefängnis.

Wyatt berichtet über solche Ereignisse wie über Proben, auf die der Saxophonist gestellt wurde, und die ihn letzten Endes immer wieder darauf zurück brachten, darüber nachzudenken, was im Leben wirklich wichtig ist. Im Gefängnis, erzählt Rollins, erfuhr er Rückhalt von seiner Familie, las viel und fand auf eine andere Art und Weise zu sich selbst. Nach seiner Entlassung wurde er Mitglied in Miles Davis‘ Band und machte Ende 1951 die ersten Aufnahmen unter eigenem Namen. Wyatt zählt die Karrierestationen auf, ist aber eher daran interessiert, was diese wohl für den jungen Saxophonisten bedeuten mussten, der in den sehr schwarz geprägten Klangfacetten des Hardbop ja zugleich eine Parallele zu seiner eigenen Beschäftigung mit afro-amerikanischer Kultur und Geschichte sehen musste. Mitte der 1950er Jahre allerdings kamen ihm die Drogen wieder in den Weg. Wyatt schildert ausführlich, wie Rollins sich selbst in eine Entzugsklinik in Lexington, Kentucky, einweisen ließ, um sowohl der Sucht wie auch der mit dieser verbundenen emotionalen Krise fertig zu werden. Und auch dieses Kapitel verbindet er mit Verweisen auf die spirituelle Komponente solcher Erfahrungen.

In einem anderen Kapitel beschreibt Wyatt die Faszination Rollins (und anderer afro-amerikanischer Musiker) mit weißen Frauen. In seiner Jugend schwärmte er für die damals berühmten Leinwandstars, hing auch gern mit den Frauen ab, die die Jam Sessions besuchten und mit denen er schon mal „einen Joint zog und das Leben genoss“. Seine erste Ehefrau sei ein schwarzes Model gewesen, berichtet Wyatt, die mit der Jazzwelt nicht klarkam. Bald nach der Trennung traf er auf ein braves weißes Mädchen aus Kansas City, Lucille Pearson, die zuhause keinen einzigen Afro-Amerikaner gekannt hatte, ihn kennenlernte, als sie in Chicago mit Freunden zu einem seiner Auftritte kam, und sich in ihn verliebte. Sie sei anders gewesen als all die anderen Frauen, die in der Jazzszene herumhingen, erzählt Rollins, förmlicher und konservativer. Ihre politischen Ansichten und die des Saxophonisten hätten kaum etwas gemein gehabt, und doch war es eine Beziehung, die ein Leben lang dauerte. Wegen Sonny zog Lucille nach New York, wo sie 1965 heirateten und von einer zweijährigen Auszeit Ende der 1960er Jahre abgesehen bis zu Lucilles Tod im Jahr 2004 zusammenblieben.

Natürlich spielt in Wyatts Buch auch Rollins‘ Begegnung mit John Coltrane eine Rolle, bei der er sowohl den gegenseitigen musikalischen Einfluss beleuchtet wie auch die Parallelen ihrer spirituellen Suche. Er berichtet über die politischer geprägte Musik, die der Saxophonist mit Max Roach in der „Freedom Now! Suite“ vorlegte, und er diskutiert die „Bridge“-Auszeit des Saxophone Colossus, genauso die musikalischen Flirts mit populären Genres Ende der 1960er Jahre vor allem aus spiritueller Sicht. 1967 verbrachte Rollins vier Monate in einem hinduistischen Ashram in Indien und lernte dort, dass, wenn er sein Instrument spielte, er eine Präsenz entwickelte, die andere Menschen nur durch Meditation erreichen konnten.

Sonny Rollins als spirituelles Wesen: Leuchtete er also im Dunkeln? Begann er zu schweben? Diese Fragen stellt Wyatt tatsächlich und bekräftigt, dass sowohl Lucille wie auch seine Schwester seinen Körper hätten leuchten sehen „wie einen Weihnachtsbaum“. Und Rollins selbst bezeugt, ein wenig schüchtern, ja, er fände das Schweben sehr schön, wolle dann aber nichts weiter dazu sagen. Rollins glaube an spirituelle Praktiken, erklärt Wyatt, spreche darüber aber nur mit ausgewählten Freunden. Die Spiritualität habe allerdings durchaus Eingang in seine Musik gefunden, und daneben strahle er auch abseits der Bühne eine enorme Präsenz aus. Rollins Neffe, der Posaunist – und, wie Wyatt anmerkt, eigentlich ein Realist – Clifton Anderson, erzählt, wie er einige von Rollins Fähigkeiten schon seltsam vorkamen: So habe er eine Weile die Probe aufs Exempel gemacht, an einem Abend ein rotes Hemd angezogen, am nächsten ein grünes, dann sogar ein quietschgelbes, und obwohl Sonny nichts davon wusste und sich ganz wo anders fürs Konzert anzog, kam der auch mit einem jeweils gleichfarbigen Hemd auf die Bühne. Solche Sachen seien wirklich häufig passiert. Und natürlich, fügt Wyatt an, sei der fast schon hypnotische Effekt bekannt, den Rollins auf seine Zuhörer hatte, eine Aura, die im Konzertsaal sofort zu spüren war.

Dann gibt es noch ein paar Kapitel, die den Leser wieder in die irdische Realität zurückholen. So erzählt Wyatt etwa über eine Frau, die eines Abends zu einem Konzert des Saxophonisten gekommen sei und behauptet habe seine Tochter zu sein, und wie Rollins Schwester ihm erzählte, die Tochter einer früheren Flamme des Saxophonisten war, die sie, nachdem ihre Mutter an einer Überdosis gestorben war, unterstützt hätten, obwohl sich alle sicher gewesen seien, dass er keinesfalls der biologische Vater sei. Einen DNA-Test habe es nie gegeben, und Rollins selbst schweigt über die ganze Angelegenheit. Oder Wyatt erzählt über jene skurrile Suche des Saxophonisten nach seinem Zahnersatz im Hotelzimmer in Marciac, und wie eine plötzliche Erleuchtung ihn diesen finden ließ. Er erinnert daran, dass Rollins 2001 nur sechs Blocks vom World Trade Center in seinem Studio gewesen sei – der Anschlag habe ihm den Horror des Krieges verdeutlicht. Er berichtet über die idiopathische Lungenfibrose, die 2012 bei Rollins diagnostiziert wurde und wegen der er nicht mehr spielt. Seinen Nachlass habe er geordnet: Das Schomburg Center hat seine Papiere übernommen, am Oberlin Conservatory wurde mit seiner Spende ein Jazz Ensemble Fund eingerichtet.

Wyatts Buch enthält zahlreiche Verweise auf Spiritualität, dass es den einen oder anderen abschrecken mag. Doch gelingt es ihm immer wieder, diese dem reinen Jazzfreund vielleicht nicht so wichtigen Informationen in das Narrativ einzubinden, das zu erklären versucht, was Sonny Rollins seine Karriere über geprägt hat. Man mag an der einen oder anderen Stelle dem Autor nicht folgen mögen, aber man kann nicht umhin, ihm am Ende dafür zu danken, dass sein Buch Sonny Rollins auf eine Art und Weise näher bringt, wie dies bislang, weder in biographischen Darstellungen noch in Interviews gelungen ist. Und es ist ja vielleicht gar nicht so schlecht, dass Sonny Rollins und seine Musik auch nach der Lektüre ein Rätsel bleiben…

Wolfram Knauer (Mai 2019)


Quartier Latin. Berlins legendärer Musikladen, 1970-1989
von Marco Saß & Henry Steinhau
Berlin 2018 (L&H Verlag)
368 Seiten, 50 Euro
ISBN: 978-3-939629-57-3

Es gibt Orte, die eine Stadt prägen, und das Quartiert Latin war ein solcher Ort, zumindest für das Westberlin der 1970er und 1980er Jahre. In einem schweren, aufwändigen und mit seltenen Fotos bebilderten Prachtband erinnern jetzt Marco Saß, Sohn des langjährigen Betreibers, und Henry Steinhau, der den Club viele Jahre als Musikjournalist besucht hat, an den Spielort und seine Funktion im wilden Westberlin jener Jahre.

Das Total Music Meeting war seit 1970 ans Quartier Latin gebunden, und Jost Gebers, der mit dem von ihm betreuten Label Free Music Production dessen Konzerte veranstaltete, begründet in einem Kapitel, wieso ihm und den Musikern der Raum trotz zeitweise mangelnder Heizung und anderer Unzulänglichkeiten ans Herz gewachsen war. Fred Billmann ist für ein weiteres, zumindest am Rande jazz-haltiges Kapitel zuständig, in dem er Champion Jack Dupree portraitiert, der über die Jahre immer wieder mindestens einwöchige Engagements in dem Saal auf der Potsdamer Straße hatte. Ansonsten beschäftigt sich das Buch vor allem mit der Rock-, Folk- und Liedermacherszene, betont dabei auch immer wieder, wie eng Musik und Kultur damals mit politischer Haltung verbunden waren.

Wir erfahren von Nina Hagens Karrierestart im Club, von Politrockbands wie Floh de Cologne, von Solidaritäts- und Friedensveranstaltungen, vom politischen Kabarett sowie der Westberliner Kleinkunstszene. Die Autoren erzählen aber auch die Geschichte hinter der Adresse Potsdamer Straße 38 (später 96), angefangen beim Gebäude, das ursprünglich als Vorstadt-Bürgerhaus erbaut wurde, dann ein adliges Palais wurde, in dem eine Modezeitschrift herausgebracht wurde. 1913 wurde der Saal als Lichtspieltheater erbaut, als der er bis in 1967 genutzt wurde. Das gesamte Gebäude gehörte nach dem Tod des Erbauers einer jüdischen Familie, die Mitte der 1930er Jahre enteignet wurden und bald darauf in die USA emigrierte. Nach Schließung des Filmtheaters befand sich im ehemaligen Kinosaal kurze Zeit eine Kneipe mit Tischtelefonen. Ende 1969 übernahm eine studentische Gaststätten-Betreiber-Gesellschaft den Laden, um der Musikszene einen Raum zur Verfügung zu stellen, der größer war als die kleinen Clubs, aber eben nicht so groß wie die riesigen Hallen, ein Ort für um die 500 bis 800 Zuschauer. Der Plan ging auf, und das Quartier Latin, wie es in Anlehnung ans Zentrum der Pariser Studentenbewegung jener Jahre genannt wurde, war bald einer der wichtigsten Begegnungsstätten zwischen unterschiedlichen Arten von Popkultur und der linken politischen Szene Westberlins. 1972 übernahm der gelernte Bäcker Manfred Saß das Quartier und betrieb es bis 1989.

Das reich bebilderte Buch erzählt also die ganze Geschichte, an denen der Jazz zwar einen wichtigen, aber eben auch in der Realität nur einen kleinen Teil innehatte. Auf Champion Jack Dupree und das Total Music Meeting wird immer wieder hingewiesen, und auch der langjährige Quasimodo-Chef Giorgio Carioti würdigt den Club als sinnvolle Ergänzung seiner Tätigkeit für den Jazz in der Stadt. Doch gehört es eben auch zur Realität im Westberlin der Nach-1968er-Zeit, dass Kultur nur bedingt spartenmäßig gedacht wurde, dass es jede Menge an Beziehungen zwischen den verschiedenen Ausprägungen popmusikalischer und politischer Aktivitäten gab. Und so ist dieses Buch vor allem ein Beitrag zur Kulturgeschichte Westberlins, zu der Jazz einen nicht unwichtigen Beitrag geleistet hat.

Wolfram Knauer (April 2019)


Always a Pleasure. Begegnungen mit Cecil Taylor
von Meinrad Buholzer
Ebikon 2018 (Eigenverlag)
148 Seiten, 32 Euro
ISBN: 978-3-033-06872-8

In den 1980er Jahren hatte der Schweizer Journalist Meinrad Buholzer an einem Buchprojekt über Cecil Taylor mitgewirkt, das im Laufe des Entstehens von zehn auf drei Beiträge schrumpfte. Jetzt kramte er in seinem Privatarchiv und fand Notizen und alte Artikel, die er seit 1975 über Cecil Taylor verfasst hatte. Den hatte er ein Jahr davor zum ersten Mal gehört und war überwältigt von der Kraft seiner Musik. Er begegnete ihm immer wieder, führte Interviews mit ihm, erlebte Konzerte und Aufnahmesitzungen, und freundete sich über die Jahre mit dem Pianisten an (Buholzer macht den schönen Unterschied: zwischen „Freundschaft“ und „befreundet sein“). „Always a Pleasure!“, verabschiedete sich Taylor regelmäßig von ihm, und Buholzer hat seinen Erinnerungen an die Begegnungen mit „C.T.“ ebendiesen Titel gegeben.

Buholzer beginnt sein Buch im Oktober 2015, als er Taylor in seinem Haus in Brooklyn aufsucht, erzählt, wie der nicht uneitle Pianist seine Zeit brauchte, um sich fertigzumachen, wie sie dann in Taylors Stammrestaurant gingen, wo Taylor ihn quasi unter den Tisch redete mit Geschichten über seine eigenen musikalischen Begegnungen, über Komponisten und Jazzkollegen, über Architektur und Philosophie, über, über, über… Tatsächlich erzählt Buholzer von diesem Abend vor allem von einigen musikalischen Stories, die er erfuhr, aber die Situation wird sich in seinen Berichten über die Treffen mit C.T. noch wiederholen, also sei hier schon mal zusammengefasst.

Buholzer hatte sich Taylors Sympathie auch dadurch zugezogen, dass er dem Architekturliebhaber einmal ein Buch über Brückenbau mitgebracht hatte, das der immer mit sich herum trug, mit zahllosen Notizzetteln und Anmerkungen versehen. Er wurde zu einer Art Vertrauten, obwohl – auch das wird schnell deutlich – Taylor, dessen Spiel auf Uneingeweihte so fremd und unnahbar wirken konnte, mit den Menschen sowieso schnell warm wurde.

Buholzer jedenfalls begegnete Taylor immer wieder, und seine Buchkapitel sind eben diese Begegnungen. 1975 in Willisau noch als Nur-Zuhörer und Kritiker; 1976 in Montreux zu einem ersten Interview; 1983 in Willisau, wo Taylor ihm drei Stunden lang Rede und Antwort stand, allerdings in einer Form, dass er die „oft monologartigen Passagen“ nachher nach Themen ordnen musste, um sie lesbar zu machen. Ebenfalls 1983 war Buholzer Zeuge einer Aufnahmesitzung im legendären MPS-Studio in Villingen im Schwarzwald, und seine Schilderung der Vorbereitung, der organisatorischen Probleme, der Spannung und der schließlich produzierten Musik gehört mit zu den aufschlussreichsten Höhepunkten seines Buchs, und macht einen traurig, dass diese Produktion nie veröffentlicht wurde, weil sich Taylor und der Produzent Werner X. Uehlinger nicht auf die finanziellen Konditionen einigen konnten. Auch in Basel gab es organisatorische Probleme, die Buholzer beschreibt und dabei einen Einblick in die Realität des Tourneegeschäfts gibt. 1986 verstarb Taylors langjähriger musikalischer Partner, der Saxophonist Jimmy Lyons – Buholzer war zufällig in New York, als in der St. Peter’s Church eine musikalische Trauerfeier für ihn ausgerichtet wurde.

Einen größeren Abschnitt macht sein für das Ende der 1980er Jahre als „Auf der Suche nach Cecil Taylor“ erschienene Buch verfasste Bericht über seinen ersten Besuch in Taylors Haus in Brooklyn aus. Von 1990 stammt die Reflexion über ein Konzert in Zürich, bei dem Taylors Feel Trio auf Gunter Hampel und Werner Lüdi trafen – ein Konzert, das von der Kritik verrissen wurde, anhand dessen Buholzer aber „das Recht auf Scheitern“ betont, gerade in dieser Art von Musik. 1999 erlebt er ihm beim Uncool Jazz Festival in Puschlav, das aus Anlass seines 70sten Geburtstags Taylor gewidmet war. 2000 beschreibt er ein einsilbiges Interview mit dem Pianisten in einem Pariser Luxushotel. 2000 erlebt er ihn wieder in der Schweiz, hängt in den 2000er Jahren mit ihm in der 55 Bar oder in Arthur’s Tavern in Greenwich Village ab.

In all diesen Begegnungen wie auch in den dazwischen gestreuten Reflexionen über seine Musik bringt uns Buholzer Cecil Taylor als einen Menschen nahe, dessen Musik viel mit seinem Wesen zu tun hat. Von daher mag man am Ende der Lektüre feststellen, dass auch hier jener Aspekt fehlt, wen der Autor am Buch von 1988 so bemängelt hatte, nämlich die musikalische bzw. musikwissenschaftliche Einordnung, dass diese aber mit jenem Ansatz, den Buholzer an Taylor wählt, auch gar nicht notwendig ist, weil das persönliche Kennenlernen, das seine Schilderung des Pianisten ja irgendwie ist, eine andere, tiefer blickende Perspektive auch auf seine Musik erlaubt. Und das ist, um den Buchtitel ein letztes Mal zu zitieren, wirklich „always a pleasure“.

Wolfram Knauer (März 2019)


Sophisticated Giant. The Life and Legacy of Dexter Gordon
von Maxine Gordon
Oakland 2018 University of California Press)
261 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0520280649

Dexter Gordon hatte bereits an seiner Autobiographie gearbeitet, erzählt Maxine Gordon im Vorwort, dabei aber ganze Jahre sowie Erlebnisse ausgelassen, an die er sich nicht erinnern wollte. Als Maxine, die den Saxophonisten Mitte der 1970er Jahren kennenlernte und ihn Anfang der 1980er Jahren heiratete, ihn nach diesen ausgelassenen Jahren fragte, sagte er lapidar: Das ist mein Leben. Ich kann auslassen, was immer ich will. Wenn Du diese Geschichten in dem Buch haben willst, musst Du es eben selbst schreiben. Gesagt, getan: Als Dexter Gordon 1990 starb, nahm sich Maxine vor, seine Geschichte zu Ende zu erzählen. Sie schrieb sich an der Universität ein, um historische Recherchemethoden kennenzulernen, aber auch, um sich mit der Problematik vertraut zu machen, ein Buch aus der notwendigen Distanz zu schreiben, ohne die eigene Nähe zum Thema zu verleugnen.

Jetzt also liegt es vor, und Farah Jasmine Griffin lobt im Vorwort, es sei in einer Reihe mit den Autobiographien von Sidney Bechet, Charles Mingus und Miles Davis zu sehen. Tatsächlich gelingt es Maxine Gordon, die verschiedenen Perspektiven ihres Blicks auf den Saxophonisten Dexter Gordon – als Historikerin, als Agentin, als Ehefrau – auf eine Art und Weise zu mischen, die der Lektüre enorm gut tut. So recherchiert sie die Geschichte seiner Vorfahren, kontextualisiert dabei den Stolz Gordons darauf, das seine Mutter eine geborene Boulanger war und sein Großvater ein „Buffalo Soldier“, ein Afro-Amerikaner in der US-amerikanischen Armee. Sie beschreibt die Nachbarschaft in Los Angeles, in der Dexter Gordon aufwuchs und zur Musik kam, trifft sich dafür mit ehemaligen Schulkameraden ihres Mannes und lässt Dexter immer wieder in Auszügen seiner eigenen Aufzeichnungen zu Worte kommen. 1940 arrangierte der Saxophonist Marshall Royal, dass der gerade mal 17-jährige Gordon Mitglied des Lionel Hampton Orchestra wurde, in dem er drei Jahre lang wirkte, um dann 1944 ein halbes Jahr lang mit Louis Armstrong zu spielen. Er trat dem Orchester des Sängers Billy Eckstine bei, der viele der jungen und modernen Stimmen des Bebop eingesammelt hatte, und machte 1945 seine ersten Aufnahmen unter eigenem Namen. Maxine erzählt von den geschäftlichen Seiten des Business, von Plattenverträgen, die Musiker gern übervorteilten und um künftige Tantiemen für ihre eigenen Kompositionen brachten. Sie erzählt von Kollegen, die Gordon unterstützten, insbesondere der Posaunistin und Arrangeurin Melba Liston, mit der er seit Kindheitstagen befreundet war und die er dazu ermutigte, 1947 bei einer Aufnahmesitzung in Los Angeles mitzuwirken. Sie beleuchtet die Bebopszene an der Westküste, die vor allem durch Aufnahmen Gordons und Wardell Grays weiter bekannt wurde, auch wenn der Saxophonist jetzt mehr und mehr Zeit in New York verbrachte, wo all die anderen Kollegen lebten und arbeiteten.

Dann kommt die von Dexter selbst ausgelassene Dekade. Der Saxophonist hatte angefangen Drogen zu nehmen und wurde in eine Entzugsklinik in Lexington, Kentucky, eingewiesen. Er war nicht der einzige Jazzmusiker unter den Insassen, und nach seiner Entlassung wurde er immer wieder wegen Drogenbesitzes verhaftet. Maxine dokumentiert diese Zeit anhand von Zeitzeugenberichten, hat sich aber auch die Gerichtsprotokolle angesehen und setzt sich überhaupt grundsätzlich mit der Drogenpolitik in den USA in den 1950er Jahren auseinander. Nach seiner letzten Strafe trat Gordon in der Westküsten-Fassung des Schauspiels „The Connection“ auf, begann außerdem für das Blue-Note-Label aufzunehmen, mit dessen beiden Gründern er sich schnell anfreundete. Vor allem aber nahm er das Angebot für einen Auftritt im Londoner Ronnie Scott’s Club an und blieb in der Folge für fast 15 Jahre in Europa. Er zog nach Paris, lebte in Kopenhagen, spielte in ganz Europa, flog aber auch regelmäßig zurück in die USA, um Verwandte zu besuchen oder eine Platte für Blue Note zu produzieren. 1966 wurde er in Paris wegen Drogenbesitzes verhaftet, ein Akteneintrag, die ihm bis zum Ende seines Lebens Probleme bei der Einreise in Frankreich bescheren sollte. Er kaufte ein Haus in Kopenhagen, begann ein bürgerliches Leben zu führen, was ihm auch dadurch ermöglicht wurde, dass er ein langfristiges Engagement im Kopenhagener Club Montmartre hatte. Auch in dieser Periode gibt es Details, die Dexter am liebsten verschwiegen hätte, den Tod seiner damaligen Freundin etwa, über den er nur schwer hinwegkam.

1975 kommt Maxine jetzt nicht nur als Historikerin, sondern als Agentin ins Spiel. Sie war für einen europäischen Tourneeveranstalter als Tourbegleiterin aktiv, freundete sich mit Gordon an und überzeugte ihn davon, ein Comeback in den USA zu versuchen. Sie überredete Max Gordon, den Besitzer des New Yorker Village Vanguard, Dexter eine Woche zu geben, rührte die Werbetrommel und schaffte es, dass die Rückkehr Gordons Mitte der 1970er Jahre nicht nur von der Jazzpresse wahrgenommen wurde. Erfolge und Welttourneen mit einem festen Quartett folgten, dazwischen verbrachten Dexter und Maxine einen Teil des Jahres im mexikanischen Cuernavaca, wo sie ein Haus gekauft hatten und der Saxophonist sich mehr und mehr darauf vorbereitete, sich zur Ruhe zu setzen. Dann allerdings kam Bernard Tavernier dazwischen, der französische Regisseur, der ihm das Angebot unterbreitete, eine Rolle in einem Film über einen fiktionalen amerikanischen Jazzmusiker in Paris zu spielen, eine Figur, die an den tatsächlichen Biographien Bud Powells und Lester Youngs orientiert ist. Maxine erzählt ausführlich von den Dreharbeiten und von Dexters eigenem Anteil etwa daran, dass die Dialoge stimmten. Die live eingespielte Musik tat ein Übriges, „Round Midnight“ zu einem großen Erfolg werden zu lassen. Martin Scorsese, der ebenfalls im Film mitwirkte, prophezeite Dexter eine Oscar-Nominierung als Hauptdarsteller, und tatsächlich war Gordon 1987 der vierte Afro-Amerikaner, dem diese Ehre in der Geschichte der Academy Awards zuteilwurde. Der Rest ist History: Paul Newman gewann, aber „Round Midnight“ ging als phänomenaler Film in die Kinogeschichte ein. Gordon genoss den Ruhm, der ihm plötzlich Starbehandlung einbrachte, wenn er sich auch mehr und mehr von der Bühne zurückzog. Ein letztes Mal spielte er 1988 auf einer Jazz-Kreuzfahrt, dann verstarb er an den Folgen von Kehlkopfkrebs am 25. April 1990.

Maxine Gordon ist mit „Sophisticated Giant“ tatsächlich ein großer Wurf gelungen. Sie schafft es, die persönliche Perspektive, die insbesondere im letzten Teil stärker in den Vordergrund tritt, von der historischen zu trennen, und den recherchierten oder von Dexter selbst erzählten Begebenheiten den nötigen Kontext zu geben. Auf die Musik selbst geht sie als Fan, Agentin, Historikerin und Ehefrau nur wenig ein: Ihr Buch ist vor allem eine Biographie und nur bedingt eine Würdigung des musikalischen Schaffens. Das alles liest sich dabei fließend und schnell. Einige Redundanzen zum Ende des Manuskripts hätte ein aufmerksamer Lektor ausmerzen können, aber letzten Endes sind das höchstens Schönheitsfehler einer unbedingt empfehlenswerten Biographie.

Wolfram Knauer (März 2019)


Möglichkeiten. Die Autobiografie
von Herbie Hancock (mit Lisa Dickey)
Höfen 2018 (hannibal)
332 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3-85445-650-6

Die Anfangs-Anekdote ist unbezahlbar: Wie er in den 1960ern in Stockholm mit Miles Davis spielte, und in einem Solo des Chefs einen „unglaublich falschen“ Akkord spielt, den Miles sofort aufnimmt und „von ‚falsch‘ nach ‚richtig‘ moduliert“. Wie er da gelernt habe, dass es genau darauf ankommt: Dass man jedes Risiko einzugehen vermag, wenn man weiß, dass es immer einen „richtigen“ Weg gibt, auch wenn der manchmal nicht der ist, den man eigentlich angestrebt hatte.

Herbie Hancock ist einer der erfolgreichsten Musiker des Jazz. Allein seine Mitwirkung an jenem legendären Miles Davis Quintett würde ihm einen Platz im Olymp des Jazz sichern. Doch seine eigenen Projekte – akustische Solokonzerte, Duos etwa mit Chick Corea, elektronische Ausflügen, Hits wie „Watermelon Man“ oder „Rockit“, Kooperationen mit Musiker aus Jazz und Pop – sind nicht weniger einflussreich auf die Geschichte dieser Musik geblieben. Der heute 78-Jährige tourt und produziert nach wie vor, lässt sich immer noch auf das Risiko der Improvisation ein. Und beschreibt in seiner Autobiographie, wie es alles anfing und wie wichtig es ist, die Musik mit dem persönlichen Leben in Einklang zu bringen.

1940 geboren nannte seine Mutter ihn nach dem Popsänger Herb Jeffries. Über seine Jugend berichtet Herbert Jeffrey Hancock, wie ihm eine optimistische Grundhaltung immer zupass kam und wie er früh gelernt habe, Situationen im Griff zu halten, statt durch sie entmutigt zu werden. Sein erstes Jazzerlebnis war eine Aufnahme mit Stan Getz und Johnny Smith im Radio, dann folgten Vokalplatten etwa der Hi-Los, deren Arrangements durch Clare Fischer „einen unglaubliche Einfluss auf mein Verständnis harmonischer Zusammenhänge“ ausgeübte hätten. Ab dem Alter von 7 Jahren spielte Hancock Klavier, gewann einen klassischen Wettbewerb und trat daraufhin als Elfjähriger mit dem Chicago Symphony Orchestra in einem Mozart-Konzert auf. Zugleich erkennt er im Rückblick, wie sein analytisches Herangehen, mit dem er auch technische Zusammenhänge schnell ergründen konnte, ihm den Zugang zur Improvisation erleichterte.

1956 schrieb sich Hancock für ein Studium der Elektrotechnik am Grinnell College ein, wechselte aber nach nur einem Jahr sein Studienfach zu Musik. 1960 engagierte ihn Coleman Hawkins für einen Auftritt in Chicago; im selben Jahr spielte er außerdem mit Donald Byrd und Pepper Adams, die ihn überzeugten, 1961 mit ihnen nach New York zu gehen. Byrd besorgte ihm Plattengigs mit anderen Musikern, und im Mai 1962 legte Hancock seine erste Einspielung unter eigenem Namen vor, „Takin‘ Off“ für das Blue Note-Label. Die Session wäre fast geplatzt, erzählt er, weil er darauf bestanden habe, die Rechte für seine Kompositionen behalten statt sie an das Label abzutreten. Letzten Endes habe Francis Wolffs körperliche Reaktion – sein Tanzen sozusagen – gezeigt, ob ein Take gelungen war oder nicht. Der Toningenieur Rudy Van Gelder, erinnert sich Hancock des Weiteren, sei mit seinem Equipment so eigen gewesen, dass Musiker sich nicht einmal trauten, ein Mikrophon umzustellen. Mit „Watermelon Man“ auf diesem ersten eigenen Album gelang dem Pianisten jedenfalls der erste eigene Hit.

In der Band von Eric Dolphy lernte Hancock sich auf freiere Formen der Improvisation einzulassen; zugleich spielte er mit Mongo Santamaria Latin-Musik, der seine eigene Version von Hancocks „Watermelon Man“ auf Platz 11 der Billboard-Charts brachte. Im Mai 1963 lud Miles Davis Hancock zusammen mit Tony Williams, Ron Carter und George Coleman zum Vorspiel ein und nahm kurz darauf mit diesem Quintett „Seven Steps to Heaven“ auf. Miles habe ihm das Selbstvertrauen gegeben, erklärt Hancock, das zu spielen, was ihm in den Sinn kam, selbst wenn es Stille sein sollte. Hancock erzählt Aufschlussreiches aus den Bandproben, erzählt daneben auch, wie Clubbesitzer teilweise den Alkoholausschank während der Sets einstellten, weil Tony Williams noch keine 18 war und es sonst Probleme gegeben hätte. Und er erinnert sich, wie Buster Williams Miles einmal fragte, was er in der Band eigentlich spielen solle, wo alle die größtmögliche Freiheit zu haben schienen, und Miles antwortete: „Buster, wenn sie schnell spielen, dann spielst du langsam. Und wenn sie langsam spielen, dann spielst du schnell.“ Miles, resümiert Hancock, gab nie einfache Antworten, regte stattdessen lieber zum Denken an.

Weitere Schnipsel eines reichen Musikerlebens beschreiben die Filmmusik für Michelangelo Antonionis „Blow Up“, oder die Begegnung mit Karlheinz Stockhausen, den er eines Abends im Club traf und für den er beinahe die amerikanische Nationalhymne für sein Stück „Hymnen“ eingespielt hätte. Mit dem Sextet Mwandishi fand Hancock langsam einen eigenen Bandsound, konkurrierte bald mit Stevie Wonder darum, wer den neuesten Synthesizer ausprobieren konnte, tourte neben seinen elektrischen Bands aber auch mit der akustischen V.S.O.P.-Band, der erst Freddie Hubbard angehörte, ab 1981 dann Wynton Marsalis. Er erinnert sich genauso an seine Ausflüge in die Discomusik der frühen 1980er Jahre, in denen er mit „Rockit“ einen internationalen Hit landete, wie an die Filmmusik zu „Round Midnight“ von 1986, für die er im nächsten Jahr einen Oscar erhielt.

Und er erzählt ein wenig aus dem Privatleben, über seine Ehe mit seiner in Deutschland geborenen Frau Gigi, und nicht zuletzt über seine Cracksucht, die zu gesundheitlichen und persönlichen Problemen führte, die er aber in einer Entziehung in den Griff bekam.

Herbie Hancocks „Möglichkeiten“ ist die Biographie eines Stars, der sehr wohl um die eigenen Qualitäten weiß, aber auch um seine Unzulänglichkeiten. Hancock gibt Hintergründe zu vielen seiner einflussreichen Alben und lässt den Leser an seinen grundsätzlichen Entscheidungsmotiven teilhaben. Das Buch liest sich flüssig, wenn auch an der einen oder anderen Stelle – insbesondere bei wörtlichen Zitaten anderer Musiker – deutlich wird, wie schwierig es ist, die Wärme der Community in eine andere Sprache zu übertragen.

Alles in allem jedenfalls strahlt das Buch jene positive Lebenshaltung aus, die Hancock nach einigen Rückschlägen für sich selbst reklamiert und die sich letzten Endes auch in der Eingangsanekdote mit Miles Davis ausdrückt. Eine empfehlenswerte Abendlektüre.

Wolfram Knauer (November 2018)


Jazz @ 100. An alternative to a story of heroes
herausgegeben von Wolfram Knauer
Hofheim 2018 (Wolke Verlag)
296 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3-95593-015-8

Full disclosure vorneweg: Der Autor dieser Zeilen ist zugleich der Herausgeber des hier vorgestellten Buchs. Dies ist also keine Kritik, sondern einfach eine Vorstellung „unserer“ neuesten Veröffentlichung. „Jazz @ 100. An alternative to a story of heroes“ war der Titel des 15. Darmstädter Jazzforums, das im Herbst letzten Jahres stattfand und Referent/innen aus aller Welt zusammenbrachte.

Im hundertsten Geburtsjahr des Jazz warf die Konferenz einen Blick auf die Tücken einer Jazzgeschichtsschreibung, in der Legenden oft den Blick auf das verstellen, worauf es in dieser Musik noch viel mehr ankommt: auf die Multiperspektivität einer Musik, die nicht nur von den großen Meistern, auf jeden Fall aber von vielen Individualisten geprägt wird. Die fünfzehn Aufsätze in diesem Buch wagen die Perspektivverschiebung im Blick auf Personen, Orte oder Stile. Sie legen den Fokus auf scheinbar Bekanntes, um genau das zu hinterfragen, und sie machen uns dadurch darauf aufmerksam, auf welche Weise unser Verständnis von Jazz, seiner Geschichte und Ästhetik geprägt wurde und wie es bis in die Gegenwart Veränderungen unterworfen ist.

Konkret: Der Fotograf und Journalist Arne Reimer besuchte für seine beiden Bücher „American Jazz Heroes“ Musiker zuhause, erhielt dabei einen Einblick in ihr privates Lebensumfeld, und reflektiert über den Unterschied zwischen Lebenswirklichkeit, medialer Selbst- und Fremdwahrnehmung. Nicolas Gebhardt nimmt Jelly Roll Mortons 1938 aufgenommene Erinnerungen zum Anlass, darüber zu reflektieren, wie wichtig das Wissen um Lebens- und Arbeitsbedingungen von Musiker/innen ist, um ihre historiographische Einordnung zu verstehen, nämlich die Beziehung zwischen Narrativ, Erinnerung und kultureller Einbildungskraft. Katherine M. Leo blickt auf die Original Dixieland Jazz Band, deren Aufnahme des „Livery Stable Blues“ und des „Dixieland Jass Band One-Step“ vom 26. Februar 1917 oft als erste Aufnahme der Jazzgeschichte bezeichnet wird, nähert sich dabei mithilfe von Gerichtsakten und mit einem kritischen Blick auf die Rezeption der Platte den unterschiedlichen Narrativen, die sie auslöste.

Klaus Frieler berichtet vom Versuch Jazzgeschichte einmal nicht als Mischung biographischer, soziologischer und kultureller Kontextualisierungen sowie musikalischer Charakterisierungen zu erzählen, sondern anhand der computer-gestützten Analyse von Solo-Improvisationen. Andrew Hurley untersucht die verschiedenen Ausgaben von Joachim Ernst Berendts „Jazzbuch“ auf die veränderten Perspektiven des Autors und erklärt an diesem Beispiel unterschiedliche Formen der Narrativbildung. Tony Whyton fragt nach der Bedeutung lokaler und oft sehr persönlicher Erinnerungen von Musikern oder Veranstaltern für den Diskurs etwa über Jazz als transnationale Praxis. Mario Dunkel sieht in Darcy James Argue’s Secret Society den spannenden Versuch, sich eine alternative Jazzgeschichte vorzustellen und dabei auch auf nicht realisierte Möglichkeiten der Musik aufmerksam zu machen. Der Pianist und Komponist Orrin Evans spricht über den Jazz als eine aktuelle, relevante Kunst, und über die (afro-)amerikanische Identität der Musik auch im immer komplexer werdenden globalen Kontext. Krin Gabbard sieht sich den Hollywoodfilm „Syncopation“ aus dem Jahr 1942 an, fragt, wie Ansätze der „new jazz studies“ dabei helfen können, die der Kunst (und dem Film) zugrundeliegenden Vorstellungen von Hautfarbe, sozialer und wirtschaftlicher Machtverhältnisse zu analysieren.

Wolfram Knauer betrachtet die Orte, an denen Jazz gespielt wird und untersucht die Auswirkungen mehr oder weniger ikonischer Spielorte auf Musik, Musiker, die Jazzszene sowie die Wahrnehmung von Jazzgeschichte. Oleg Pronitschew diskutiert die zunehmende Institutionalisierung der deutschen Jazzszene in den letzten 40 Jahren anhand ausgewählter Beispiele und fragt nach deren Auswirkung auf das öffentliche Bild des Jazz. Rüdiger Ritter untersucht die Begeisterung für die „Giganten des Jazz“ in Osteuropa und diskutiert, warum Mythen im Jazz zugleich produktive Elemente und ein künstlerisches Gefängnis sein können. Mit einem Blick auf den Einfluss der Gullah- und Geechie-Kultur in der Küstenregion von South Carolina beschreibt Karen Chandler, dass die Darstellung einer Jazzentwicklung entlang klarer geografischer Zentren die komplexe Entstehungsgeschichte des Jazz als einer musikalischen genauso wie sozialen Praxis verfälscht. Scott DeVeaux hinterfragt die Anfänge des Bebop, der die Grundlage für den modernen Jazz legte, und fragt, inwieweit die Entscheidungen, die Musiker in den 1940er Jahren machten, bis heute die Ästhetik des zeitgenössischen Jazz beeinflussen. Schließlich beendet Nicolas Pillai das 15. Darmstädter Jazzforum mit einem Referat über das „dissonante Bild“, das sich in der medialen Repräsentation von Miles Davis findet und fragt, auf welche Art und Weise der späte Miles Einfluss weit über seine Musik hinaus hatte.

Bis auf den Beitrag von Oleg Pronitschew sind alle Kapitel in englischer Sprache. Auf seiner Website hat der Wolke Verlag einen Link auf Vorwort und Inhaltsverzeichnis gesetzt. „Jazz @ 100“ kann über den Buchhandel oder online auch direkt über den Verlag bestellt werden.

Wolfram Knauer (Oktober 2018)


Jazz. Harmonik, Melodik, Improvisation, Analyse
von Herbert Hellhund
Ditzingen 2018 (Reclam)
202 Seiten, 18,95 Euro
ISBN: 978-3-15-01165-9

Herbert Hellhund unterrichtet seit vielen Jahren Trompete, Improvisation, Ensemble und Jazzgeschichte an der Musikhochschule Hannover. Als Musiker und Musikwissenschaftler, der sich in den 1980er Jahren mit einer Arbeit über Cool Jazz promovierte, ist er einerseits ein ausgewiesener Kenner des Jazz, andererseits auch mit der didaktischen Literatur zum Thema vertraut. Jetzt hat er ein Buch vorgelegt, das sich an Musiker, Musikstudenten und mit musiktechnischen Fachtermini vertraute Fans wendet und ihnen ein tieferes Verständnis geben soll, wie der Jazz als eine Kunst funktioniert, sich Handwerkliches und Kommunikation verbinden. Ziel des Buchs ist es dabei, „Konzepte der Solimprovisation vor allem des Modern-Jazz-Spektrums herauszuarbeiten“.

Hellhund beginnt mit musikalischen Parametern, beschreibt Harmonik, Melodik und Ausdruck als allgemeine Elemente der Musik und geht insbesondere in den Teilkapitel zur Rhythmik und Form eingehender auf die Besonderheiten des Jazz ein, also etwa die Laid-Back-Phrasierung bei Miles Davis, die polyrhythmischen Überlagerungen in Aufnahmen Charlie Parkers, die Konturen von Groove in Swing, Modern Jazz, Jazz-Rock und Latin Jazz, sowie den sehr unterschiedlichen Umgang mit Form, der viel über musikalische und ästhetische Ansätze der betreffenden Musiker aussagen kann.

Im nächsten Kapitel erklärt Hellhund die Akkord-Skalen-Theorie, erläutert „Bebop-Scales“, Pentatonik, blues-typische und andere Skalen. In einem ersten Hauptkapitel diskutiert er die Funktionsharmonik im Jazz sowohl theoretisch als auch an praktischen Beispielen, von Parker bis Coltrane, von Miles Davis bis Herbie Hancock. Er geht die harmonischen Möglichkeiten und Potentiale am Beispiel zweier Standards durch, „All the Things You Are“ und „Stella By Starlight“, und er vergleicht die Ansätze Charlie Parkers und John Coltranes bezüglich Reharmonisierung.

Ein weiteres zentrales Kapitel widmet sich der Improvisation. Hellhund diskutiert, inwieweit Improvisation genuine Erfindung ist, sich Assoziation oder Repetition bedient, und er erklärt die bewussten Anteile an Improvisation anhand konkreter Beispiele aus den Bereichen Harmonik, Form, Rhythmik und Ausdruck. Er fragt, inwieweit Sprachanalogien für Jazzimprovisation Sinn machen und diskutiert kurz die Interaktion als „kollektives Komponieren“.

Benny Bailey habe einmal gesagt, man könne vielleicht feststellen was Miles Davis in einem seiner Soli spielte, nicht aber, warum er es spielt. Diese Feststellung fordert den Autor geradezu heraus, diesem „Warum“ jetzt gerade auf die Spur zu kommen. Dabei geht es ihm nun nicht (wie wahrscheinlich Bailey meinte) um das ästhetisch-philosophisch-spirituelle „Warum?“, sondern um das technische „Warum?“, oder besser um das „Wie?“. Er beschreibt also, wie sich die verschiedenen Parameter gegenseitig beeinflussen, wie einzelne Ideen durch melodische, harmonische oder rhythmische Verfahren zu den „Geschichten in Tönen“ werden, die bekannte Jazzmusiker immer gern forderten („tell a story!“).

Noch konkreter schaut er sich Jazz Lines an, also die Verkettung kleinerer Tongruppen zu längeren Passagen sowie die Überlagerung melodischer, rhythmischer und harmonischer Ansätze. Und dann kommt er zum Verbindenden: Es sei ja schön und gut, wenn man all die Techniken beherrscht, wie aber lässt sich daraus eine musikalische Dramaturgie schaffen, die das alles miteinander verknüpft und zugleich mehr ist als Technik. Lester Young habe schließlich gefordert: „Tell a story!“, und nicht „Zeige deinen Materialvorrat!“

Eigentlich ist dies der Teil, in dem die Kreativität ins Spiel kommt und die Lehrbarkeit schwierig wird. Hellhund versucht es trotzdem. Er betont, wie wichtig Balance und Ausgleich für die Dramaturgie eines Solos ist, eine spürbare Schlüssigkeit, der Sinn für Kontrast und Überraschung. Er erklärt, dass man sich der Kontur des gespielten Stücks bewusst sein müsse, und dass es gelte, dem eigenen Gestus, also dem expressiven Ausdruck, eine stimmige Dramaturgie zu verleihen, die sich beispielsweise der musikalischen Sprachebenen bedienen kann, die er zuvor beschrieben hatte. Hier aber muss irgendwann auch Hellhund die letzte Entscheidung über das Erklingende an die ausführenden Musiker abgeben; hier also stimmt nun wirklich, dass dieses letzte Stück an kreativem Ausdruck wahrscheinlich am besten durch das Studium der Meister zu schaffen ist.

Und so beginnt er den letzten Teil seiner Darstellung mit der Aufforderung an praktische Musiker, sich nicht nur emotional, sondern auch analytisch mit gelungenen Aufnahmen der Jazzgeschichte auseinanderzusetzen, um daraus Lehren und Anregungen für das eigene Spiel zu ziehen. Was kann Analyse generell, fragt er, und wie kann man die Erkenntnisse einer vor allem harmonischen mit einer „verstehende“ Analyse im Sinne der Hermeneutik angehen? Vor allem erklärt er all das ganz praktisch: an eingehenden Analysen des „Dippermouth Blues“ von King Oliver, des „West End Blues“ von Louis Armstrong, von „Now’s the Time“ von Charlie Parker, „Intuition“ von Lennie Tristano sowie „Witch Hunt“ von Herbie Hancock.

Hellhund beschließt sein Buch mit einem „Ausblick“, der tatsächlich an den Anfang des Buches gehört hätte, nämlich sowohl seinen Beweggrund fürs Verfassen des Textes wie auch die Struktur des Buchs erläutert. Im Vorwort aber weiß Hellhund bereits, dass auch sein Buch nur eine Hilfestellung zum persönlichen Entdecken, zur Strukturierung eines Herangehens an Jazz und an Improvisation sein kann. Jazz allein aus Büchern zu lernen, schreibt er, sei nicht möglich. Die Nachahmung durch Hören und Nachvollziehen sei bis heute ein elementares Mittel sich dieser Musik zu nähern. Und er ermuntert dazu Jazz zu hören, immer wieder, vor, während und nach der Lektüre. Denn: „Je mehr man von ihm weiß, umso mehr hört man.“

„Jazz“ ist kein Buch für den Nachttisch, kein Buch zum schnellen Schmökern. Dem Thema angemessen schreibt Hellhund sachlich und eher trocken. Sein Buch ist damit ein Arbeitsbuch vor allem für angehende Musiker, das die diversen Parameter für Jazzimprovisation und die Zusammenhänge zwischen ihnen sorgfältig ordnet und damit Hilfestellung sowohl bei der Reflektion über das eigene Tun wie auch über die Annäherung an Beispiele aus der Jazzgeschichte bietet.

Wolfram Knauer (Oktober 2018)


Das Landgren Alphabet. Nils Landgren im Gespräch
herausgegeben von Rainer Placke
Bad Oeynhausen 2018 (jazzprezzo)
136 Seiten, 1 beiheftende DVD, 25 Euro
ISBN: 978-3-9819538-0-0

Nach dem Buch „Nils Landgren. Red & Cool“, das Rainer Placke 2005 über den schwedischen Posaunisten herausgebracht hat, legt der rührige Verleger exzellenter Fotobücher aus Bad Oeynhausen jetzt einen zweiten Band vor, in dem der Mann mit der roten Posaune selbst zu Wort kommt. Statt einer Biographie hat Placke sich dabei auf eine Art Spiel besonnen: Er legte Landgren zu jedem Buchstaben des Alphabets einen Zettel mit jeweils fünf Begriffen vor, von denen der sich (mindestens) zwei aussuchen durfte, um über sie und seine eigene Beziehung zu ihnen zu philosophieren. Zur Veranschaulichung: Unter „A“ finden sich Begriffe wie „Abba, Alter, Amsterdam, Asthma und Avantgarde“, und dass Landgren „Asthma“ und „Abba“ auswählt, hat sehr persönliche Gründe – Landgren erklärt, dass das Posaunenspiel ihm als Asthmatiker helfe, seine Atemwege frei zu machen, und wie er einst als Studiomusiker mit Abba zusammenspielte und später eine ganze Platte mit dem Repertoire der Popgruppe gestaltete.

Dann spricht er (der alphabetischen Reihenfolge nach) über seine Frau Beatrice und den Pianisten Bengt-Arne Wallin, über die Crusaders und die Stadt Degersfors, in der er geboren wurde, über ECM und Esbjörn Svensson, über seine Funk Unit, über Gesang und Groove, über Hamburg und seine „Helden“, über Idealismus und Intonation, über das Festival JazzBaltica, über sein Engagement für ein Sozialprojekt in Kibera, Kenia, und das schwedische Königshaus, über Astrid Lindgren, Miles und New York, über Ordnung, die Ostsee und die Aufgaben eines Produzenten, über Quincy Jones, die Mühen des Reisens, Siggi Loch und Stockholm, über Talent, Urlaub, seinen Vater und Värmland, über Michael Wollny, Kurt Weill, seine X-mas-Tourneen, Yoga und – in kürzesten Kommentaren – über Zeit, Zuhause, Zukunft, Zurückhaltung und Zweifel.

Herausgekommen ist ein Buch über Nils Landgren, das ganz bewusst weder Biographie noch Interview ist, sondern in dem Placke den Posaunisten zum Nachdenken über die unterschiedlichsten Themen anregt. Am Ende steht dabei weniger eine Geschichte, sondern vielmehr ein Blick auf den Posaunisten aus vielen Perspektiven. Das alles liest sich schnell und vergnüglich, gern mit Landgrens Musik im Hintergrund, über die man in der abschließenden Diskographie noch einmal auf dem Laufenden gehalten wird. Und wenn man all die Informationen mit Bildern verbinden will, helfen auf der einen Seite die Fotos von Oliver Krato von der Gesprächs-Session, auf der anderen Seite aber die als DVD beiheftende Filmdokumentation „Nils Landgren – Do Your Own Thing“ von Dietmar Klum und Jan Bäumer aus dem jahr 2014.

Alles in allem, ein überaus interessanter, von Ingo Wulff wunderbar gestalteter und inhaltlich immer wieder überraschender Band über einen der zurzeit sicher erfolgreichsten europäischen Musiker.

Wolfram Knauer (Juli 2018)


Mosaics. The Life and Works of Graham Collier
von Duncan Heining
Sheffield 2018 (Equinox)
314 Seiten, 39,95 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78179-263-6

Graham Collier war eine dieser Integrationsfiguren, die der Jazz immer wieder braucht, ein Musiker, der von seinen Kollegen insbesondere deshalb geschätzt wurde, weil er sie alle, egal von welcher stilistischen Prägung sie kamen, einbinden konnte in seine Musik, ja, weil ihn die Unterschiedlichkeit ihrer Herkunft geradezu künstlerisch anspornte. Duncan Heining hat nun Colliers Biographie vorgelegt, in der er versucht sowohl der Musik, die auf Platte dokumentiert ist, gerecht zu werden, als auch der Persönlichkeit des Mannes, der gesellig, in seiner künstlerischen Zielgerichtetheit für andere aber auch nicht immer einfach war.

Duncans Buch beginnt bei Colliers Kindheit im britischen Northumberland, beschreibt, wie der Junge von der Trompete zum Euphonium zur Posaune wechselte, obwohl der Kontrabass es ihm da bereits angetan hatte, den er schließlich während seines Wehrdienstes in Hongkong aufnahm. Zur selben Zeit begann Collier zu arrangieren und erhielt 1961 den dritten Preis einer DownBeat-Ausschreibung für eine seiner Kompositionen, der mit einem Stipendium fürs Berklee College in Boston verbunden war. Dort, erzählt Heining, hinterließ insbesondere sein Lehrer Herb Pomeroy nur in seiner Musik, sondern auch in seiner eigenen späteren Unterrichtstätigkeit Spuren.

Zurück in England gründete Collier 1964 seine erste Band, ein Septett mit Trompete, Horn, Alt- und Baritonsaxophon, Gitarre, Bass und Schlagzeug. Zwei Jahre später begann er an der Barry Summer School seine ersten Erfahrungen als Lehrer zu sammeln, und Heining stellt heraus, wie wichtig diese Sommerkurse für die Karrieren später namhafter britischer Musiker sein sollten. Colliers eigene Musik hatte Anklänge an Gil Evans und George Russell und wurde wegen der Arrangements genauso wie wegen der hochrangigen Solisten gelobt, unter ihnen über die Jahre insbesondere die Trompeter Kenny Wheeler und Harry Beckett. Immer mehr spielte auch der Ansatz von Charles Mingus für Collier eine große Rolle, der seinen Musikern innerhalb vorgegebener Strukturen freie Hand ließ und dennoch die Handschrift des Komponisten an jeder Stelle erkennen ließ.

Heining erwähnt alle wichtigen Alben von den Mitt-1960er bis in die 2000er Jahre, und er zeichnet die Entwicklung dieser „flexiblen Form“ nach, an der Collier gelegen war, egal, ob er für sein Septett oder für eine ganze Bigband komponierte. Der Autor zitiert dafür aus zeitgenössischen Rezensionen und versucht die Aufnahmen immer wieder in die größere Jazzgeschichte einzupassen. Dabei gelingt es ihm nicht immer, das Interesse des Lesers (zumindest dieses Lesers) zu halten, wenn er sich im Klein-Klein einzelner Platten oder Ereignisse verirrt und das große Bild aus dem Blick verliert.

Neben der Musik, der Lehre und den Ansichten Graham Colliers über Jazz, die er in diversen Büchern und später auf einer Website öffentlich machte, zieht sich jedenfalls noch ein viertes Thema durch das Buch, das nämlich von Graham Colliers Homosexualität. Der Komponist, der in den 1980er Jahren das Bass-Spielen bleiben ließ, um sich nur noch auf seine Arbeit als Komponist zu konzentrieren, lebte seit den 1960er Jahren offen schwul und hatte damit, wie er selbst sagte, weder unter Kollegen noch im Unterricht etwa an der Royal Academy of Music jemals Probleme gehabt. Heining berichtet, wie offen Collier mit seiner Orientierung umging, streift aber auch homophobe Attacken, die der Komponist etwa von Lesern zu erdulden hatte, die Wind davon bekamen, dass er für die Gay News, eine schwule Zeitschrift, Platten des Labels ECM besprach. Auch von professioneller Seite gab es homophobe Ausfälle, etwa von den bekannten britischen Journalisten Steve Voce und Jim Godbolt. Vielleicht mag die fast 35-jährige Beziehung Colliers mit dem Journalisten John Gill ein Grund dafür gewesen sein mag, dass Colliers sexuelle Orientierung ansonsten kaum Thema war: Sein Leben war nicht anders normal als das seiner heterosexuellen Kollegen auch.

Alles in allem ist Heinings Buch eine Fleißarbeit, der die Fülle an Information, die er da miteinander verbinden muss, manchmal etwas sehr anzumerken ist. Wenn er im Vorwort ankündigt, er habe Themen durchaus zusammengefasst, so hat er diesen Vorsatz in den Kapiteln dann leider zeitweise vergessen und bleibt bei der chronologischen Darstellung, die für die eine oder andere Redundanz sorgt, vor allem aber für eine leicht ermüdende Lektüre. Hier hätte die Konzentration auf die verschiedenen Seiten Colliers als Bandleader, Bassist, Arrangeur, Pädagoge und Autor das Lesen vielleicht etwas erweitert. Die Vollständigkeit, mit der Heining das Oeuvre seines Helden abbildet, wirkt am Ende eher verwirrend, wenn sich auf jeder Seite Hinweise finden lassen, bei denen man denkt: Hier würde ich jetzt gerne weiterlesen, die von Heining aber sofort abgebrochen werden, weil er dem chronologischen Fluss seiner Erzählung zu folgen hat.

Davon abgesehen ist Heinings Buch, über dessen erstes Rohmaterial Colliers 2016 verstorbener Partner John Gill noch schauen konnte, eine angemessene Würdigung einer der wichtigen Persönlichkeit der britischen Jazzszene und des europäischen Jazz, eines Musikers, der eine ganze Generation an Jazzern beeinflusst hat, durch seine Stücke, seine Art Bands zu leiten, durch seinen Unterricht und nicht zuletzt durch die Unverfälschtheit seiner eigenen Persönlichkeit.

Wolfram Knauer (Juli 2018)


Zwei Karrieren – ein Klang. Über die Freiheit, sich nicht entscheiden zu müssen. Meine Lebensgeschichte als Jazzmusiker und Industrieller
von Franco Ambrosetti
Köln 2018 (Verlag Dohr)
192 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-3-86846-151-0

Mit „Zwei Karrieren – ein Klang“ hat der Schweizer Trompeter Franco Ambrosetti vielleicht eine der ungewöhnlichsten Biographien einer Musik vorgelegt, von der es heißt: „Wie macht man eine Million als Jazzmusiker?“ – „Man fängt mit zwei Millionen an.“ Ganz so arg ist es ja tatsächlich nicht – das Leben als Jazzmusiker ist nicht das einfachste und vielleicht auch nicht das einträglichste, aber die Künstlerinnen und Künstler, die sich diesem Genre verschrieben haben, finden in der Regel ihr Auskommen. Franco Ambrosetti allerdings hat neben der erfolgreichen Jazzer-Karriere noch ein zweites, genauso erfolgreiches Standbein als Geschäftsführer eines internationalen Unternehmens mit rund 600 Mitarbeitern. Und in seinem Buch erzählt, wie er es ihm gelingt, diese beiden Karrieren unter einen Hut zu bringen, wie die eine sogar die andere beflügeln half.

Die Liebe zum Jazz war ihm vom Vater in die Wiege gelegt worden, dem Saxophonisten Flavio Ambrosetti, der selbst Jazzmusiker war, einer der Pioniere des Bebop in Europa. Ein Besuch bei einem Konzert Stan Kentons in Mailand und ein Stück, das Bill Russo für den Trompeter Conte Candoli geschrieben hatte, brachten ihn zu seinem Instrument. Mit 20 spielte er in der Band des italienischen Pianisten Romano Mussolini, gründete bald darauf sein eigenes Quintett und wirkte auch im Ensemble seines Vaters mit. Er reiste zu Festivals, machte Plattenaufnahmen und gewann 1966 in Wien einen internationalen Wettbewerb für Jazzmusiker bis 25 Jahre.

Zugleich studierte er Betriebswirtschaft, war nach dem Studium erst als Unternehmensberater aktiv, bis er in die Firma seines Vaters eintrat. Daneben tourte er mit George Gruntz und anderen Musikern, war 1972 Mitgründer von „The Band“, einem Ensemble, das bald als George Gruntz Concert Jazz Band bekannt wurde und von Anfang an als Solistenorchester gedacht war, das vor allem von George Gruntz arrangierte Eigenkompositionen der Orchestermitglieder spielen sollte.

Ambrosetti erzählt von den Möglichkeiten, die sich ihm als Musiker boten, von Reisen nach Berlin und New York, von etablierten älteren genauso wie aufstrebenden jungen Musikerkollegen, mit denen er gemeinsam ins Studio ging, in Clubs oder bei Festivals auf der Bühne stand. Ein kurzer, aber vielsagender Abschnitt seines Buchs handelt davon, für wie ähnlich Ambrosetti die Welten von Musik und Unternehmens-Management sieht. Seine Grundformel für den Zusammenhang lautet in etwa: Sobald man mit einer kreativen Ader geboren wurde, kann man eigentlich alles machen. Er erklärt, dass seine Stellung als einigermaßen unangefochtener Chef eines Familienunternehmens ihm die Ausflüge in den Jazz einfacher machte, dass die dauernden Geschäftsreisen aber auch Herausforderungen für seine andere Seite, für den Musiker in ihm, mit sich brachten. So hatte er tägliche Übe-Routinen entwickelt, die er auch im Hotel einzuhalten versuchte, wo er dann meist bei eingeschaltetem Fernseher in den mit Kleidung gefüllten Schrank spielte, weil sich Hotelgäste selten über einen bei normaler Lautstärke laufenden Fernseher beschweren.

Ambrosetti reflektiert über Plattenaufnahmen, über geschäftliche Entscheidungen und musikalische Wunschprojekte, über Stress und den Ausgleich im privaten Glück. Vor allem aber steht die Musik im Mittelpunkt seiner Erinnerungen, die Begegnungen mit großen Musiker aus Europa wie den USA, das Glück, das er empfindet, weil ihn all diese Großen des Jazz nicht etwa als begüterten Hobbymusiker, sondern als Kollegen auf Augenhöhe sahen. Zwischen (und stellenweise auch in) den Zeilen merkt man die Selbstzweifel, die sich da auch schon mal einstellten und ahnt, dass es so einfach denn vielleicht doch nicht gewesen sein mag, zwei so verantwortungsvolle Karrieren unter einen Hut zu bringen. Die größte Würdigung aber findet sich wohl am Schluss, in den Statements von Enrico Rava, Claudio Fasoli, Enrico Intra, Randy Brecker, Paolo Fresu, Uri Caine und Daniel Humair, die sein „natürliches Talent“ genauso bewundern wie die Lust und Freude, die er ausstrahlt, wenn er zur Trompete greift. Und genau diese Lust und Freude merkt man auch Franco Ambrosettis Lebenserinnerungen an, die mit einer knappen Diskographie und einem Index der im Buch erwähnten Personen endet.

Wolfram Knauer (Juni 2018)


Respekt! Die Geschichte der Fire Music. Jazz: Perspektiven und Kontroversen, Band II
von Christian Broecking
Berlin 2018 (Broecking Verlag)
373 Seiten, 34,99 Euro
ISBN: 978-3-938763-47-6

Christian Broecking ist ein profunder Kenner afro-amerikanischer Diskurse über Jazz, Ästhetik und Politik. Als Nicht-Amerikaner gelingen ihm in seinen Interviews mit einigen der bedeutendsten Musiker/innen der afro-amerikanischen improvisierten Musik Einblicke, wie deren Kunst immer auch die gesellschaftliche Auseinandersetzung der Zeit spiegelt.

Sein neustes Buch ist eigentlich die Wiederveröffentlichung dreier zwischen 2004 und 2007 erschienener, mittlerweile nicht mehr lieferbarer Bände: „Respekt“, „Black Codes“ und „Jeder Ton eine Rettungsstation“. Seine Interviews beleuchten die Auseinandersetzungen der Zeit, die Frage nach der Deutungshoheit afro-amerikanischer Musik, die Frage nach politischer und gesellschaftlicher Relevanz, die Frage nach künstlerischer Freiheit, die Frage danach, was von den Aussagen, die Musiker da in ihrer Kunst formulieren, beim Publikum (und bei welchem) ankommt.

So spricht Broecking etwa mit Sonny Rollins darüber, ob man mit Musik die Welt verändern kann („Ja!“), mit Wayne Shorter über den Versuch der damaligen Neotraditionalisten, Miles Davis aus dem Jazz zu verdammen („Falsch!“), oder mit Bill Dixon über die October Revolution in Jazz und die Notwendigkeit politischer Positionierung in der Gegenwart. Er diskutiert mit Ornette Coleman über Rassismus und den schwarzen Beethoven, mit Archie Shepp über Begriffe wie „Jazz“ oder „Black Music“, mit Sam Rivers über die Notwendigkeit einer Avantgarde, oder mit James Carter über den Spagat zwischen Tradition und Gegenwart.

Er unterhält sich mit Amiri Baraka über dessen Gedicht „Somebody Blew Up America“, mit Amina Claudine Myers über den Einfluss der schwarzen Kirche, und mit Shirley Horn über Miles Davis als Mentor. Er fragt Stanley Crouch über den Streit zu Wynton Marsalis, Abbey Lincoln, Oscar Brown Jr. und Gil Scott-Heron über die politische Bedeutung ihrer Musik, oder Cassandra Wilson über den Blues. Er befragt Dianne Reeves nach der Gefahr des Konservatismus, Wynton Marsalis nach seiner Auseinandersetzung mit der (meist weißen) Jazzkritik und Jayne Cortez nach der Bedeutung von Poetry in der Gegenwart.

Er spricht mit David Murray über den Zustand der afro-amerikanischen Community, mit Butch Morris über Conduction und mit Billy Bang darüber, warum er sich als einer der letzten Avantgardisten fühlt. Er fragt Roscoe Mitchell nach den vielen Jahren mit dem Art Ensemble of Chicago, Craig Taborn nach dem politischen Bewusstsein junger Musiker und George E. Lewis nach dem Gegensatzpaar „Afro/Euro“ in der Musik. Er unterhält sich mit Fred Anderson, Mwata Bowden und Nicole Mitchell über die ACCM, mit Dewey Redman über seine Zusammenarbeit mit Ornette Coleman sowie mit Randy Weston über das Konzept von Great Black Music. Er diskutiert mit Yusef Lateef über künstlerische Forschung und Produktivität, mit Howard Johnson über seine Erlebnisse in Deutschland und mit Sirone Jones über Musik als Ego-Trip, Selbsterfahrung oder Produkt. Mit Tyshawn Sorey und Vijay Iyer interviewt er auch zwei der noch heute angesagtesten Musiker, unterhält sich mit Wadada Leo Smith sowie mit Marshall Allen und James Jacson, die nach Sun Ras Tod dessen Arkestra weiterführten.

All diese Interviews geben in ihrer jeweiligen Kürze oder Länge tiefe Einblicke in den Stand der ästhetischen Diskussion im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende. Broecking wertet nicht, er lässt seine Subjekte sprechen, liefert Stichworte, ermutigt sie ihre Position deutlich zu machen. Dass ihm das so gut gelingt, mag einerseits der Tatsache zu verdanken sein, dass er für sie Ausländer war, dem man die Dinge grundsätzlich anders erklärt als Gesprächspartnern aus dem eigenen Kulturkreis. Daneben aber verfügt Broecking über so viel an Hintergrundwissen, dass er jedes der Gespräche auf die Gebiete zu lenken weiß, die ihn besonders interessieren.

Leider verzichtet der Autor auf ein Register, das gerade für dieses Buch ungemein hilfreich gewesen wäre, wie Broecking selbst weiß, der die vielen Interviews, die er hier und anderswo veröffentlichte, inzwischen ja auch für seine wissenschaftliche Forschung genutzt hat. Es ist dennoch eine Bereicherung, all diese Gespräche in einem Buch versammelt im Bücherregal zu haben. Seine Übertragung ins Deutsche liest sich ungemein flüssig, so dass man meint, die Musiker selbst sprechen zu hören. „Respekt!“ ist damit eine umfassende Dokumentation der Diskurse afro-amerikanischer Musik im beginnenden 21sten Jahrhundert, ein wichtiges Kapitel der Jazzgeschichtsschreibung und dazu noch eine nach wie vor faszinierende Lektüre.

Wolfram Knauer (Mai 2018)


 

Jazz @ 100

[:de]

Konferenz, 28. bis 30. September 2017
K
onzerte, Ausstellung (September / Oktober 2017)

Im hundertsten Geburtsjahr des Jazz – die Aufnahmen der Original Dixieland Jass Band aus dem Jahr 1917 werden gern als erste Jazzaufnahmen genannt – wirft das Darmstädter Jazzforum einen Blick auf die Tücken einer Jazzgeschichtsschreibung, in der Legenden oft den Blick auf das verstellen, worauf es in dieser Musik noch viel mehr ankommt: auf die Multiperspektivität einer Musik, die nicht nur von den großen Meistern, auf jeden Fall aber von vielen Individualisten geprägt wird.

Das 15. Darmstädter Jazzforum will die Jazzgeschichte dabei nicht neu schreiben. In der internationalen  Konferenz, in Konzerten und einer Ausstellung hoffen wir allerdings auf eine lebendige Diskussion darüber, wie unser Verständnis von dieser Musik, ihrer Geschichte und ihrer Ästhetik geprägt wurde. Wir verstehen den Jazz als eine Musik mit einer mehr als hundertjährigen Geschichte, und wir wissen, dass diese weit komplexer ist, als die Geschichtsbücher uns das meistens wahrmachen wollen. Unser Ziel ist es, ein wenig von dieser Komplexität zu entwirren, wohl wissend, dass wir damit höchstens an der Oberfläche kratzen werden.

Konferenzprogramm/Kurze Zusammenfassung
„Jazz @ 100. (K)eine Heldengeschichte“

Am Donnerstag werden wir uns mit der Wahrnehmung von Jazzgeschichte, ihren Heroen und den Orten, an denen sie stattfinden, nähern. Der Fotograf und Journalist Arne Reimer besuchte für seine beiden Bücher „American Jazz Heroes“ Musiker zuhause, erhielt dabei einen Einblick in ihr privates Lebensumfeld, und reflektiert über den Unterschied zwischen Lebenswirklichkeit, medialer Selbst- und Fremdwahrnehmung. Nicolas Gebhardt nimmt Jelly Roll Mortons 1938 aufgenommene Erinnerungen zum Anlass, darüber zu reflektieren, wie wichtig das Wissen um Lebens- und Arbeitsbedingungen von Musiker/innen ist, um ihre historiographische Einordnung zu verstehen, nämlich die Beziehung zwischen Narrativ, Erinnerung und kultureller Einbildungskraft. Katherine  M. Leo beendet den ersten Konferenztag mit einem Blick auf die Original Dixieland Jazz Band, deren Aufnahme des „Livery Stable Blues“ und des „Dixieland Jass Band One-Step“ vom 26. Februar 1917 oft als erste Aufnahme der Jazzgeschichte bezeichnet wird, nähert sich dabei mithilfe von Gerichtsakten und mit einem kritischen Blick auf die Rezeption der Platte den unterschiedlichen Narrativen, die sie auslöste.

Am Freitag beschäftigen sich sechs Referate mit vergangenen, sich wandelnden, sehr persönlichen Perspektiven auf den Jazz und seine Geschichte. Klaus Frieler berichtet vom Versuch Jazzgeschichte einmal nicht als Mischung biographischer, soziologischer und kultureller Kontextualisierungen sowie musikalischer Charakterisierungen zu erzählen, sondern anhand der computer-gestützten Analyse von Solo-Improvisationen. Andrew Hurley untersucht die verschiedenen Ausgaben von Joachim Ernst Berendts „Jazzbuch“  auf die veränderten Perspektiven des Autors und erklärt an diesem Beispiel unterschiedliche Formen der Narrativbildung. Tony Whyton fragt nach der Bedeutung lokaler und oft sehr persönlicher Erinnerungen von Musikern oder Veranstaltern für den Diskurs etwa über Jazz als transnationale Praxis. Mario Dunkel sieht in Darcy James Argue’s Secret Society den spannenden Versuch, sich eine alternative Jazzgeschichte vorzustellen und dabei auch auf nicht realisierte Möglichkeiten der Musik aufmerksam zu machen. Der Pianist und Komponist Orrin Evans spricht über den Jazz als eine aktuelle, relevante Kunst, und über die (afro-)amerikanische Identität der Musik auch im immer komplexer werdenden globalen Kontext.  Krin Gabbard sieht sich den Hollywoodfilm „Syncopation“ aus dem Jahr 1942 an, fragt, wie Ansätze der „new jazz studies“ dabei helfen können, die der Kunst (und dem Film) zugrundeliegenden Vorstellungen von Hautfarbe, sozialer und wirtschaftlicher Machtverhältnisse zu analysieren.

Am Samstag geht es vor allem um das Entstehen von Narrativen, den Einfluss von Musikern und anderen Akteuren der Musikindustrie an ihrer eigenen Geschichtseinordnung sowie der (Nach-) Wirkung solcher Narrative bei den Rezipienten. Wolfram Knauer betrachtet die Orte, an denen Jazz gespielt wird und untersucht die Auswirkungen mehr oder weniger ikonischer Spielorte auf Musik, Musiker, die Jazzszene sowie die Wahrnehmung von Jazzgeschichte. Oleg Pronitschew diskutiert die zunehmende Institutionalisierung der deutschen Jazzszene in den letzten 40 Jahren anhand ausgewählter Beispiele und fragt nach deren Auswirkung auf das öffentliche Bild des Jazz. Rüdiger Ritter untersucht die Begeisterung für die „Giganten des Jazz“ in Osteuropa und diskutiert, warum Mythen im Jazz zugleich produktive Elemente und ein künstlerisches Gefängnis sein können. Mit einem Blick auf den Einfluss der Gullah- und Geechie-Kultur in der Küstenregion von South Carolina beschreibt Karen Chandler, dass die Darstellung einer Jazzentwicklung entlang klarer geografischer Zentren die komplexe Entstehungsgeschichte des Jazz als einer musikalischen genauso wie sozialen Praxis verfälscht. Scott DeVeaux hinterfragt die Anfänge des Bebop, der die Grundlage für den modernen Jazz legte, und fragt, inwieweit die Entscheidungen, die Musiker in den 1940er Jahren machten, bis heute die Ästhetik des zeitgenössischen Jazz beeinflussen. Schließlich beendet Nicolas Pillai das 15. Darmstädter Jazzforum mit einem Referat über das „dissonante Bild“, das sich in der medialen Repräsentation von Miles Davis findet und fragt, auf welche Art und Weise der späte Miles Einfluss weit über seine Musik hinaus hatte.

 


Konferenzprogramm/Referenten und Zeitplan
Jazz @ 100. (K)eine Heldengeschichte“

Donnerstag, 27. September 2017

14:00 Uhr
Eröffnung

14:30 Uhr
Arne Reimer, Deutschland
My Encounters with „American Jazz Heroes“

Arne Reimer hat für sein zwei Buchprojekte „American Jazz Heroes“ ältere US-amerikanische Jazzmusiker zuhause besucht, und zwar sowohl Künstler mit auch finanziell erfolgreichen Karrieren als auch solche, die heute eher in prekären Verhältnissen leben. Beim Darmstädter Jazzforum fragt er danach, wie letztere mit der mangelnden Anerkennung umgehen, mit der Tatsache, dass die kreative und erfolgreiche Phase ihrer Karriere lange zurückliegt. Zugleich thematisiert er seinen eigenen Ansatz als Fotograf und Journalist, dessen Fokus auf diese Musiker sie ja auf eine Weise selbst zurück in den Mittelpunkt rückt und damit ein neues Narrativ von Jazzgeschichte schafft.

Arne Reimer studierte Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB) und in den USA mit einem Fulbright Stipendium am Massachusetts College of Art in Boston, MA. Als künstlerischer Mitarbeiter im Fachbereich Fotografie hat er sechs Jahre an der HGB Leipzig unterrichtet. Seine beiden Bücher „American Jazz Heroes“, veröffentlicht 2013 und 2016, erhielten zahlreiche Preise, darunter zuletzt 2017 einen Echo Jazz Sonderpreis. Reimer arbeitet außerdem als Kurator und freiberuflicher Fotograf für Zeitschriften (z.B. Jazz Thing) und Plattenfirmen (z.B. ECM Records).

15:30 Uhr
Nicholas Gebhardt, England
Reality Remade: Historical Narrative and the Cultural Imagination in Alan Lomax’s Mister Jelly Roll

Nicolas Gebhardt geht von einer der ersten autobiographischen Dokumentationen zum Jazz aus, Jelly Roll Mortons oraler Jazzgeschichte, die er 1938 für die Library of Congress aufnahm und fragt dabei nach den verschiedenen Perspektiven, die sich in der Veröffentlichung dieses Materials widerspiegeln: Mortons eigene Sicht auf seine Rolle in der Frühzeit dieser Musik, die er in Wort und Musik manifestiert, Alan Lomaxs Auswahl und Interpretation dessen, was er in sein später veröffentlichtes Buch „Mister Jelly Roll“ übernahm, und unsere Haltung als Jazzforscher, wenn wir Musiker, ihre Musik, ihre  Lebens- und Arbeitsbedingungen kontextualisieren, um Jazzgeschichte über ihre bisherige Darstellung hinaus differenzierter beschreiben zu können.

Nicholas Gebhardt ist Professor für Jazz and Popular Music Studies an der Birmingham City University. Seine Forschungsschwerpunkte konzentrieren sich auf Jazz and populäre Musik in der amerikanischen Kultur, und zu seinen Publikationen zählen beispielsweise Going For Jazz: Musical Practices and American Ideology (Chicago), The Cultural Politics of Jazz Collectives (Routledge) sowie Vaudeville Melodies: Popular Musicians and Mass Entertainment in American Culture, 1870-1929 (Chicago). Er ist Mitherausgeber der beim Verlag Routledge Press erscheinenden Buchreihe Transnational Studies In Jazz sowie des in Kürze erscheinenden The Routledge Companion to Jazz Studies.

16:30 Uhr
Katherine M. Leo, USA
The ODJB at 100: Revisiting Essential Narratives and Victor 18255

Katherine  M. Leo untersucht die Selbst- und Außendarstellung der Original Dixieland Jazz Band, deren „Livery Stable Blues“ und „Dixieland Jass Band One-Step“ vom 26. Februar 1917 oft als erste Aufnahmen der Jazzgeschichte bezeichnet werden. Sie findet, dass die Rezeption der Band in der Jazzgeschichtsschreibung meist auf die Aufnahme von 1917 reduziert wird und plädiert für eine weiter gefasste Betrachtung, nicht nur der Musik, sondern auch der Narrative, die der ODJB über die letzten 100 Jahre angeheftet wurden und nutzt dafür neben anderen Quellen auch Gerichtsakten zu zwei Copyright-Prozessen, die just die beiden Seite der ersten Jazzplatte betreffen.

Katherine M. Leo ist seit Herbst diesen Jahres an der Millikin University als Assistant Professor in den Fächern Musikwissenschaft und Musikethnologie. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich amerikanische Rechts- und Musikgeschichte, mit besonderem Fokus auf die populäre Musik des frühen 20sten Jahrhunderts. Leo hat sowohl einen philosophischen wie einen juristischen Abschluss von der Ohio State University, wobei sich ihre Dissertation mit der Geschichte musikalischer Gutachten in Urheberrechtsstreitigkeiten vor amerikanischen Gerichten auseinandersetzte, während ihre Masterarbeit Fragen zur Urheberschaft in Bezug auf die ODJB zum Thema hatte. Leo ist auf wissenschaftlichen Tagungen präsent, zuletzt beispielsweise für die American Musicological Society und die Society for American Music, eine weitere Veröffentlichung im Journal of Music History Pedagogy ist in Arbeit.

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Freitag, 29. September 2017

9:30 Uhr
Klaus Frieler, Deutschland
A Feature History of Jazz Solo Improvisation

Klaus Frieler berichtet vom Versuch Jazzgeschichte einmal nicht als Mischung biographischer, soziologischer und kultureller Kontextualisierungen sowie musikalischer Charakterisierungen zu erzählen, sondern anhand der computer-gestützten Analyse von Solo-Improvisationen. Er nutzt dafür das Jazzomat Programm der Weimar Jazz Database, mithilfe dessen sich Soli nach unterschiedlichen Charakteristika, etwa melodischen Formeln,  der harmonischen Dichte, der rhythmischen Komplexität und anderen Parametern untersuchen lassen. Frieler fragt dabei, inwieweit solche scheinbar objektiven Funde helfen können, den kreativen Prozess zu beschreiben und diskutiert mögliche zukünftige Erweiterungen des Projekts.

Klaus Frieler hat an der Universität sowohl ein Diplom in theoretischer Physik (1997) wie auch eine Promotion in systematischer Musikwissenschaft gemacht. Er arbeitete mehrere Jahre als freiberuflicher Software-Entwickler und unterrichtete ab 2008 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Systematische Musikwissenschaft in Hamburg sowie für kurze Zeit am Centre for Digital Music der Queen Mary University of London. Seit Herbst 2012 arbeitet er am Jazzomat Research Project der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ in Weimar und ist seit 2017 am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik tätig. Frieler forscht und lebt an der Schnittstelle von Musikpsychologie und Musikinformatik. Große und kleine Datensätze sind sein täglich Brot, in der Hoffnung, darin verborgenen Mustern auf die Spur zu kommen, die Aufschlüsse darüber geben können, was Musik ist, warum Musik ist und wie Musik ist. Seit 2006 ist er außerdem als freischaffender Musikgutachter tätig. Siehe http://www.mu-on.org für weitere Informationen.

10:30 Uhr

Andrew Hurley, Australia
In and Out: Processes of Inclusion and Exclusion in Joachim-Ernst Berendt’s Jazzbuch/Jazzbook, 1953-2011

Für deutsche Jazzfans lieferten die Bücher von Joachim Ernst Berendt lange den wichtigsten Orientierungspunkt. Andrew Hurley untersucht die verschiedenen Ausgaben seines „Jazzbuchs“ von 1953 bis in die Gegenwart auf die veränderten Perspektiven des bzw. der Autoren, auf die daraus ablesbaren sich wandelnden Konzepte einer Jazzgeschichtsschreibung, sowie auf die darin berücksichtigten Narrative und jene, die ausgespart wurden. Dabei entdeckt er am konkreten Beispiel, wie Narrativbildung funktioniert, wie der Diskurs durch bewusste Gegenmodelle forciert wird und wie sich in diesem Streit der Narrative die Wahrnehmung von scheinbarer Wirklichkeit wandelt.

Andrew W. Hurley ist Associate Professor an der Faculty of Arts and Social Sciences der Technischen Universität in Sydney, Australien, wo er im International Studies-Programm arbeitet. Er ist Autor zweier Monographien: The Return of Jazz: Joachim-Ernst Berendt and West German Cultural Change (Berghahn, 2011) and Into The Groove:  Popular Music and Contemporary German Fiction (Boydell & Brewer, 2015)

11:30 Uhr
Tony Whyton, England
Wilkie’s story: hidden musicians, cosmopolitan connections, and dominant jazz histories

Tony Whyton entdeckt in einer Kiste Erinnerungsstücke seines angeheirateten Großonkels, die dessen Verbindungen zur Jazzszene Großbritanniens seit den Mitt-1920er Jahren dokumentieren. Anhand dieses Beispiels fragt Whyton nach der Bedeutung lokaler, oft versteckter und sehr persönlicher Erinnerungen an und Sichtweisen auf den Jazz für einen größeren, solche Details oft außer Acht lassenden Diskurs über Jazz und seine Geschichte und insbesondere für die Erforschung etwa von Jazz als einer transnationalen Praxis.

Tony Whyton ist Professor of Jazz Studies am Birmingham City College. Seine Publikationen Jazz Icons: Heroes, Myths and the Jazz Tradition (Cambridge University Press, 2010) und Beyond A Love Supreme: John Coltrane and the Legacy of an Album (Oxford University Press, 2013) versuchen interdisziplinäre Fragestellungen und Lösungswege zu beschreiten. Als Herausgeber war Whyton für die Jazzausgabe der Ashgate Library, Essays on Popular Music (2011), verantwortlich, als Mitherausgeber betreut er das Jazz Research Journal (Equinox). 2014 begründete er zusammen mit seinem BCU-Kollegen Nicholas Gebhardt eine neue Reihe des Verlags Routledge Press, Transnational Studies in Jazz, ist außerdem Herausgeber von The Cultural Politics of Jazz Collectives: This Is Our Music (Routledge, 2015), einer Sammlung von Aufsätzen, die sich auf Musikerkollektive fokussiert und fragt, inwieweit diese als Modell für ein Umdenken der Jazz-Praxis im Nachkriegsjazz dienen können. Von 2010-2013 war Whyton Projektleiter des durch HERA geförderten Projekts Rhythm Changes: Jazz Cultures and European Identities (http://www.rhythmchanges.net), in dem dreizehn Forscher/innen an sieben Universitäten in fünf Ländern zusammenarbeiteten.

14:30 Uhr

Mario Dunkel, Germany
Darcy James Argue’s Uchronic Jazz

Mario Dunkel stellt das aktuelle Projekt des Komponisten und Bandleaders Darcy James Argue als den Versuch dar, eine alternative Jazzgeschichte zu recherchieren, etwa, indem er sich überlegt, wie Bigbandmusik wohl klingen möge, wenn sie populär geblieben wäre und Stilelemente vieler ihr folgender populärer Genres von Rock über Grunge bis HipHop aufgenommen hätte. Die Frage „Was wäre wenn?“ hilft dabei, so Dunkel, die eigene Perspektive zu erweitern, und zwar sowohl in Bezug auf tatsächliche Jazzgeschichte wie auch auf vielleicht nicht realisierte Möglichkeiten.

Mario Dunkel ist Juniorprofessor für Musikpädagogik an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg. Seine Forschungsinteressen umfassen transkulturelle Musikvermittlung, Jazzgeschichte und die Praxis der Musikdiplomatie.

15:30 Uhr
Orrin Evans, USA
A Talk with Orrin Evans

Orrin Evans ist Pianist, Komponist und, obwohl in Philadelphia lebend, ein in der New Yorker Szene der Gegenwart tief verankerter Musiker. Mit ihm werden wir uns über die eigene Sicht auf den Jazz als eine relevante Kunst unterhalten, über die nach wie vor künstlerische Identität schaffenden Momente von Improvisation in der Tradition des Jazz, sowie über den Wandel dieser Musik von einer (afro-)amerikanischen Musik hin zu einer Kunstform, die komplexe und zum Teil weit voneinander entfernte Spielformen ausgebildet hat, welche es schon mal schwer machen, das alles unter einem Begriff zu subsumieren.

Seit 1995 hat der Pianist und Komponist Orrin Evans mehr als 25 Alben als Bandleader aufgenommen und auf unzähligen weiteren mitgewirkt. Er ist tief in der reichen Jazzszene von Philadelphia verwurzelt, wo er bis heute lebt, obwohl er wöchentlich in new York (und anderswo) spielt. Evans tritt mit seinem trio, seiner Band Tarbaby oder mit der Captain Black Big Band auf. Ab Frühjahr 2018 wird er Ethan Iverson m Trio The Bad Plus ersetzen. Orrin Evans wird am Samstagabend beim 15. Darmstädter Jazzforum ein Solokonzert geben.

16:30 Uhr
Krin Gabbard, USA
Syncopated Women

Krin Gabbard greift in seinem Beitrag das Thema unseres letzten Jazzforums auf und fragt, ausgehend von William Dieterles Film „Syncopation“ von 1942, welche Rolle bestimmte Darstellungsweisen von Jazz und Jazzgeschichte innerhalb herrschender Gesellschaftsvorstellungen haben mögen. Wie kein anderer Film aus den 1940er Jahren benennt „Syncopation“ die Sklaverei als wesentliche historische Komponente für die Entwicklung des Jazz. Zugleich wird im Film deutlich auf die Unterschiede zwischen dem wirtschaftlichen Erfolg schwarzer und weißer Bands hingewiesen. Und schließlich ist im Film eine ungewöhnlich ambivalente Haltung zur Rolle von Frauen an der Entwicklung der Musik festzustellen. Anhand dieses konkreten Beispiels plädiert Gabbard dafür, dass die „new jazz studies“ eine facettenreichere Vorstellung von Jazzgeschichte ermöglichen und erklären helfen können, wie die hier angesprochenen Traditionen im Verständnis der Zeit zu verorten sind.

Krin Gabbard ist Professor of Jazz Studies sowie Direktor von J-Disc, einem diskographischen Forschungsprojekt an der Columbia University. Zu seinen Büchern gehören Jammin’ at the Margins: Jazz and the American Cinema (University of Chicago Press, 1996), Black Magic: White Hollywood and African American Culture (Rutgers University Press, 2004) und Better Git It in Your Soul: An Interpretive Biography of Charles Mingus (University of California Press, 2016). Er ist außerdem der Herausgeber von Jazz Among the Discourses (Duke University Press, 1995).

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Samstag, 30. September 2017

9:30 Uhr

Wolfram Knauer, Deutschland
Four Sides of a House. How jazz spaces irritate, fascinate, stimulate creativity or become icons

Wolfram Knauer nähert sich der Idee eines idealen Raums für Jazz aus unterschiedlichen Sichtweisen. Säle mit großartiger Akustik, Clubs mit einer eigenen (oft jazzhistorischen) Aura, die Möglichkeit des „Alles-Hören-Könnens“ oder die intime Situation, in der Musiker und Publikum einander besonders nah sind: An unterschiedlichen Beispielen kontrastiert er verschiedene Vorstellungen dessen, was ein idealer Jazzort sein könnte oder sollte, thematisiert die Einbindung solcher Orte in lokale oder weiter vernetzte Szenen und diskutiert, wie der Wandel der Präsentations- und Rezeptionsformate als Chance genauso wie als Bedrohung existierender Szenen gesehen werden kann, weil er zum einen tatsächlich großen Einfluss darauf hat, wie das Publikum die Musik wahrnimmt, und weil zum zweiten neue Orte auch die Präsentationserwartung von Jazz verändern.

Wolfram Knauer leitet seit 1990 das Jazzinstitut Darmstadt. Er ist Herausgeber der Darmstadt contributions to jazz research (bislang 14 Bände, Wolke 1990-2016) und hat diverse Bücher veröffentlicht, zuletzt Monographien über Louis Armstrong (Reclam 2010) und Charlie Parker (Reclam 2014). Eine weitere Monographie über Duke Ellington erscheint 2017 (Reclam). Er hat an verschiedenen deutschen Hochschulen unterrichtet und lehrte im Frühjahr 2008 als erster nicht-amerikanischer Louis Armstrong Professor of Jazz Studies an der Columbia University in New York.

10:30 Uhr
Oleg Pronitschew, Germany
A New Place for Jazz. Insights Into the Historic Institutionalization of German Jazz Music.

Oleg Pronitschew betrachtet die zunehmende Institutionalisierung der deutschen Jazzszene in den letzten 40 Jahren und fragt nach deren Auswirkung auf das öffentliche Bild des Jazz. Dabei beschreibt er den Wandel des Selbstverständnisses von Jazz als Kunstmusik und die damit einhergehenden veränderten ästhetischen, gesellschaftlichen wie kommerziellen Erwartungen an die Musik.

Oleg Pronitschew studierte europäische Ethnologie, Politische Wissenschaft und Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Zurzeit beendet er seine Promotion über die gesellschaftliche Imagination von Popularmusiker/innen im Bereich Jazz und Rock. Pronitschew ist Promotionsstipendiat des Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks e. V. in Berlin.

11:30 Uhr
Rüdiger Ritter, Germany
Myths in jazz – artistic prison or productive element? Examples from East and East Central Europe

Die Geschichte des Jazz in Polen und anderen osteuropäischen Ländern wird oft als eine Abfolge von „Giganten des Jazz“ erzählt, die sich mit ihren US-amerikanischen Vorbildern vergleichen ließen. In diesem Sinne war das höchste Lob für einen polnischen Musiker, als der „polnische Charlie Parker“ bezeichnet zu werden. Rüdiger Ritter fragt, wie solch ein Verständnis von Jazzmusikern als nationale Helden die Position des Jazz als konstitutives Element polnischer Nationalkultur beeinflusste. Er diskutiert auch eine andere Art der Verwendung von Jazz-„Mythen“ in der Sowjetunion und der Tschechoslowakei, wo Musiker den Jazz als eine Möglichkeit ansahen, ihre eigenen ästhetischen Ideen zu realisieren, ohne sich dabei auf spezifische Vorbilder zu beziehen. Das polnische Beispiel zeigt, dass das Festhalten am Mythos der „Giganten“ nicht unbedingt ein ästhetisches Gefängnis sein muss, sondern durchaus zu kreativen Wegen des Musikmachens führen kann – und die Beispiele aus der Sowjetunion und aus der Tschechoslowakei zeigen, wie die Distanzierung von mythischen Jazz-Narrativen ein Maximum ästhetischer Möglichkeiten öffnet, wenn diese auch mit der Gefahr einhergehen, dass der Jazzgehalt der resultierenden Musik in Frage gestellt wird. Mythen im Jazz scheinen also sowohl produktive Elemente wie auch ein künstlerisches Gefängnis sein zu können.

Rüdiger Ritter ist Osteuropahistoriker und hat extensiv über die Jazzszene in den ehemaligen Ostblockstaaten publiziert. Er lehrt an der Universität Bremen, ist zugleich stellvertretender Leiter des Museums der 50er Jahre Bremerhaven. Ritter war Koordinator des Forschungsprojekts „Jazz im ‚Ostblock‘ – Widerständigkeit durch Kulturtransfer“, und hat seine Habilitationsschrift über Willis Conover und die Auswirkungen seiner Jazzsendungen auf der Voice of America verfasst.

14:30 Uhr
Karen Chandler, USA
Bin Yah (Been Here). Africanisms and Jazz Influences in Gullah Culture

Musik, wie andere kulturelle Äußerungen auch, lebt in und von regionaler Verankerung in den Communities, in denen sie entsteht. Karen Chandler beschreibt die Afrikanismen, die sich in der Kultur der Gullahs und Geechees in der Küstenregion von South Carolina erhalten haben und die die Musik in Charleston maßgeblich beeinflussten. Die übliche Darstellung einer Jazzentwicklung entlang klarer geografischer Zentren (New Orleans, Chicago, New York, Kansas City, Los Angeles etc.) vergisst leicht die Komplexität einer Musik, die eben nicht einfach mal vor einhundert Jahren in New Orleans „erfunden“ wurde, sondern die an vielen Orten, unter den unterschiedlichsten Bedingungen und von Menschen verschiedenster Herkunft ausgehandelt wurde.

Karen Chandler ist Direktorin des Studiengangs Arts Management am College of Charleston. Sie ist Mitgründerin der Charleston Jazz Initiative (CJI), eines mehrjährigen Forschungsprojekts zur Jazzgeschichte in Charleston und South Carolina. Zwischen 2001 und 2004 war sie außerdem Direktorin des Avery Research Center for African American History and Culture am College of Charleston.

15:30 Uhr
Scott DeVeaux, USA
An Alternative History of Bebop

Der Bebop hat eine Schlüsselstellung innerhalb der Jazzgeschichte inne. In den 1940er Jahren trafen Musiker Entscheidungen, die den Jazz klar von der populären Kultur trennten und ihn als ein neues und eigenständiges Genre definierten, eine Definition, die bis heute unser Verständnis vom Jazz prägt. Doch diese ästhetischen Zuweisungen, die noch aus der Bebop-Ära stammen, argumentiert Scott DeVeaux, lassen sich durchaus überdenken. Warum muss man Jazz als so klar von Tanz- oder populärer Musik getrennt betrachten? Warum muss das Jazzpublikum Instrumentalsolisten immer isoliert von anderen Genres statt in gemeinschaftlichen Projekten mit anderen Künstlern der Popkultur hören? DeVeaux untermauert seine Argumente mit musikalischen Beispielen aus der Gegenwart.

Scott DeVeaux ist ein bekannter Jazzforscher, dessen Buch The Birth of Bebop: A Social and Musical History (1997) den American Book Award, einen ASCAP–Deems Taylor Award, den Otto Kinkeldey Award der American Musicological Society, und den ARSC Award for Excellence in Historical Sound Research erhalten hat. Seit 1983 unterrichtet DeVeaux Jazzgeschichte an der University of Virginia.

16:30 Uhr
Nicolas Pillai, England
A Star Named Miles: tracking jazz musicians across media

Die Wahrnehmung der Jazzheroen wird durch viele Aspekte beeinflusst, von denen ihre Musik wirklich nur eine ist. Nicolas Pillai untersucht in seinem Beitrag verschiedene mediale Repräsentationen des Trompeters Miles Davis in seinen späteren Jahren, fragt nach dem „dissonanten Bild“, das diese geben, nach den Netzwerken der Musikindustrie, die seine Multi-Media-Persönlichkeit prägten, und letztlich auch danach, wie stark der Trompeter sein eigenes öffentliches Image etwa durch Attitüden, Sprache und Kleidung selbst mit beeinflusste.

Nicolas Pillai ist der Autor von Jazz as Visual Culture: Film, Television and the Dissonant Image (I. B. Tauris, 2017) und der Koautor von New Jazz Conceptions: History, Theory, Practice (Routledge, 2017). Mit Tim Wall und Roger Fagge gibt er eine in Kürze erscheinende Sammlung über Miles Davis heraus. Er hat Artikel über Jazz und Film in der Zeitschrift The Soundtrack sowie in dem Darmstädter Beiträgen zur Jazzforschung, 14, veröffentlicht. Zurzeit arbeitet er an Kapiteln für The Routledge Companion to New Jazz Studies, The Routledge Companion to Popular Music History and Heritage und The Oxford History of Jazz in Europe.

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Conference, 28 – 30 September 2017
Concerts, exhibition (September / October 2017)

In the centenary of jazz – the recordings of the Original Dixieland Jass Band from 1917 are often cited as the first jazz recordings ever – the Darmstadt Jazzforum conference looks at the pitfalls of jazz historiography, which often relies on myths and legends that distort what is even more important: the multi-perspectivity of a music which is being created not only by great masters, but certainly by many individualists.

In all of this, the 15th Darmstadt Jazzforum does not plan to re-write jazz historiography. During the international conference, during concerts and an exhibition, however, we hope for a lively discussion about how our understanding of the music, its history and its aesthetic has been shaped. We see jazz as a music with a history of more than a hundred years, and we know that it’s much more complex than history books usually tell us. Our objective is to unravel some more of this complexity, even though we know that we will only be scratching at the surface.

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Conference/Short Overview
„Jazz @ 100. An alternative to a story of heroes“

On Thursday we will look at the perception of jazz history, its heroes and the places where it develops. For his book „American Jazz Heroes“ the photographer and journalist Arne Reimer visited musicians in their personal homes, received intimate insights into their lives, and reflects about the difference between reality, self- and outside perception.  Nicholas Gebhardt reflects on Alan Lomax’s Library Of Congress recordings of Jelly Roll Morton in 1938 and connects them to broader issues in historiography, especially the relation between narrative, memory and the cultural imagination. Katherine  M. Leo ends the first day of the conference looking at the Original Dixieland Jazz Band whose recording of „Livery Stable Blues“ and „Dixieland Jass Band One-Step“ from 26 February 1917 is often cited as the first jazz record ever, and uses court documents for copyright lawsuits as well as a critical reading of the music’s reception to set the different narratives in perspective which the record evoked.

Six papers on Friday will focus on the changing perspectives on jazz and its history.  Klaus Frieler reports about an attempt to tell jazz history not just through a mixture of biographical, social and cultural context and musical characterizations but by using a computer-based analysis tool to approach solo improvisations. Andrew Hurley reads the different editions of Joachim Ernst Berendt’s influential „Jazzbuch“  (The Jazz Book), focusing on the author’s changed and changing attitudes and using this example to describe different methods of narrative formation. Tony Whyton discusses the influence of local and often very personal memories of musicians or promoters on the discourse about jazz as a trans-national practice. Mario Dunkel reads Darcy James Argue’s Secret Society as a attempt of imagining an alternative kind of jazz history and thus making room for a history of jazz as a story of both realized and unrealized potentialities. The pianist and composer Orrin Evans talks about jazz as a current and relevant art form as well as about (African-)American identity of the music in the context of a more and more complex global network.  Krin Gabbard looks at the film „Syncopation“ from 1942 in order to ask how „new jazz studies“ approaches can help analyze racial and economic ideologies and to emphasize the importance of not only concentrating on the (mostly male) heroes of the music.

The papers on Saturday will deal with the issue of major narratives in jazz, how it is being influenced by the music industry, how musicians have the power to change the historical narrative which involves them directly, and how all of such discourses influence the perception of the public. Wolfram Knauer looks at specific places where jazz is being performed, and asks about the effect of such often iconic venues with the music, the musicians, the jazz scene(s) and the public perception of the music. Oleg Pronitschew looks the increasing institutionalization of the German jazz scene during the last 40 years, discussing selected case studies and asking for its effect on the public image of the music. Rüdiger Ritter examines the idea of „jazz giants“ in East and Central Europe and finds that myth in jazz can be a productive element and an artistic prison at the same time. Karen Chandler describes the influence of Gullah and Geechie culture on the coastal region of South Carolina and argues that a representation of jazz history along clear geographical centers can distort the much more complex notion of jazz as a musical as well as social practice. Scott DeVeaux revisits the birth of bebop, which provided the ideology for much of modern jazz, but asks us to reconsider whether the choices made by musicians in the 1940s should still govern contemporary music-making. Nicolas Pillai ends the 15th Darmstadt Jazzforum with a look at the representation of Miles Davis across different media, asking in which ways the late Miles created impact beyond his music.


Conference/Lecturers and Timetable
Jazz @ 100. An alternative to a story of heroes“

Thursday, 28 September 2017

2:00pm
Opening remarks

2:30pm
Arne Reimer, Germany
My Encounters with „American Jazz Heroes“

For his two coffee-table-sized books „American Jazz Heroes“, Arne Reimer visited older American jazz musicians at home, covering artists whose career proved to be financially successful as well as such who live under economically unstable conditions. At the Darmstadt Jazzforum Reimer asks how musicians deal both with the gap between their self- and their media perception, how they handle a lack of recognition or the fact that the most creative and successful part of their career might be long past. At the same time he reflects about his own approach as a photographer and journalist whose focus on these musicians will put them back into some sort of spotlight and thus create its own, new narrative about them.

Arne Reimer studied photography at the Academy of Fine Arts in Leipzig, Germany (HGB) as well as at Massachusetts College of Art in Boston, MA. He has taught for six years at the Academy of Fine Arts in Leipzig. His photos have been widely published; his two books „American Jazz Heroes“ published in 2013 and 2016 have been praised and won several prizes, among them an 2017 Echo Jazz special award. Reimer also works as a curator and freelance photographer for magazines (Jazz Thing) and record companies (ECM Records).

3:30pm
Nicholas Gebhardt, England
Reality Remade: Historical Narrative and the Cultural Imagination in Alan Lomax’s Mister Jelly Roll

Nicolas Gebhardt looks at one of the first autobiographical documents on jazz, Jelly Roll Morton’s interview for the Library of Congress from 1938 and asks about the different perspectives reflected within this material: Morton’s view of his own role during the early history of the music, Alan Lomax’s editorial decisions and thus interpretation of the excerpts which he selected for the book „Mister Jelly Roll“, and our own approach as jazz researchers contextualizing musicians, their music, their living and working conditions in order to gain a more nuanced description of jazz history.

Nicholas Gebhardt is Professor of Jazz and Popular Music Studies at Birmingham City University in the United Kingdom. His work focuses on jazz and popular music in American culture, and his publications include Going For Jazz: Musical Practices and American Ideology (Chicago), The Cultural Politics of Jazz Collectives (Routledge) and Vaudeville Melodies: Popular Musicians and Mass Entertainment in American Culture, 1870-1929 (Chicago). He is the co-editor of the Routledge book series, Transnational Studies In Jazz and the forthcoming The Routledge Companion to Jazz Studies.

4:30pm
Katherine M. Leo, USA
The ODJB at 100: Revisiting Essential Narratives and Victor 18255

Katherine  M. Leo examines the self-portrayal as well as the public image of the Original Dixieland Jazz Band whose „Livery Stable Blues“ and „Dixieland Jass Band One-Step“ from 26 February 1917 often are called jazz history’s first recordings. She discovers that the band’s critical and public reception often is being reduced to this recording from 1917 and pleads for a more nuanced discussion not just of the music but also of the narrative which was attached to the ODJB over the last 100 years. Among the sources she uses for this reconsideration are court documents for copyright lawsuits  about exactly these two tunes.

Katherine M. Leo is an Assistant Professor in Musicology/Ethnomusicology at Millikin University, in Decatur, IL. Her research explores the intersection of American legal and music histories, with specific emphasis on early-twentieth-century popular musics. Having recently received her Ph.D. (2016) and J.D. (2015) from Ohio State, Katherine’s dissertation examined the history and nature of musical expertise in federal copyright litigation, while her masters’ research focused on notions of authorship surrounding the ODJB. Katherine has notably presented papers for the American Musicological Society and the Society for American Music, and will soon be published in the Journal of Music History Pedagogy.

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Friday, 29 September 2017

9:30am
Klaus Frieler, Germany
A Feature History of Jazz Solo Improvisation

Klaus Frieler reports about an attempt to narrate jazz history not so much by mixing biographical accounts of eminent figures, descriptions of sociological and cultural context and genuine musical characterizations, but through the computer-based analysis of solo improvisations. For this he uses high-quality solo transcriptions from the Weimar Jazz Database as well as an analytical software developed for the Jazzomat Research Project which allows to search for a variety of characteristics such as scalar features, tonal and rhythmic complexity and other parameters. Frieler then discusses how such seemingly objective finds can be useful to describe the creative process and looks at potential future extensions to the project.

Klaus Frieler graduated in theoretical physics (diploma) and received a PhD in systematic musicology in 2008 from the University of Hamburg. He worked as a freelance software developer for several years, before taking up a post as a lecturer in systematic musicology at the University of Hamburg in 2008. In 2012, he spent a brief period at the Centre for Digital Music, Queen Mary University of London. Since autumn 2012, he has been working as a post-doctoral researcher with the Jazzomat Research Project at the University of Music “Franz Liszt” Weimar. His main research interests are computational and statistical music psychology with a focus on creativity, melody perception, singing intonation, and jazz research. Since 2006, he has also been working as an independent music expert specializing in copyright cases. See http://www.mu-on.org for more information.

10:30am

Andrew Hurley, Australia
In and Out: Processes of Inclusion and Exclusion in Joachim-Ernst Berendt’s Jazzbuch/Jazzbook, 1953-2011

For German jazz fans the books written by Joachim Ernst Berendt were a major point of reference. Andrew Hurley reads the different editions of „The Jazz Book“ from 1953 up to the presently available edition and discovers shifts in narrative perspective and elisions. He discusses what the decisions about which narratives to use (or not) tell us about changing concepts of jazz historiography. In a close reading of „The Jazz Book“, Hurley discovers how narratives establish themselves, how alternative readings are suppressed or emerge, and how the quarrel between narratives can change perceptions of apparent reality.

Andrew W. Hurley is Associate Professor in the Faculty of Arts and Social Sciences at the University of Technology, Sydney, where he teaches in the International Studies programme. He is the author of two monographs: The Return of Jazz: Joachim-Ernst Berendt and West German Cultural Change (Berghahn, 2011) and Into The Groove:  Popular Music and Contemporary German Fiction (Boydell & Brewer, 2015)

11:30am
Tony Whyton, England
Wilkie’s story: hidden musicians, cosmopolitan connections, and dominant jazz histories

Tony Whyton discovered a box full of memorabilia by a distant family member documenting his connections within the British jazz scene since the mid-1920s. Using this example, Whyton discusses the hidden histories of musicians and the role they play in the ecologies of jazz. Archival materials such as these comment on the inter-relationship between dominant jazz narratives and other cosmopolitan connections. They can enable us to start a conversation about the realities of the jazz world, the connectedness of people in different cultural settings, and the development of jazz as a transnational practice.

Tony Whyton is Professor of Jazz Studies at BCU. His critically acclaimed books Jazz Icons: Heroes, Myths and the Jazz Tradition (Cambridge University Press, 2010) and Beyond A Love Supreme: John Coltrane and the Legacy of an Album (Oxford University Press, 2013) have sought to develop cross-disciplinary methods of musical enquiry. As an editor, Whyton published the Jazz volume of the Ashgate Library of Essays on Popular Music in 2011 and continues to work as co-editor of the Jazz Research Journal (Equinox). In 2014, he founded the new Routledge series ‘Transnational Studies in Jazz’ alongside BCU colleague Dr Nicholas Gebhardt. Gebhardt and Whyton also edited The Cultural Politics of Jazz Collectives: This Is Our Music (Routledge) in 2015, a collection that explores the ways in which musician-led collectives offer a powerful model for rethinking jazz practices in the post-war period. From 2010-2013, Whyton was Project Leader for the ground-breaking HERA-funded Rhythm Changes: Jazz Cultures and European Identities project (www.rhythmchanges.net), where he led a consortium of 13 researchers working across 7 Universities in 5 countries.

2:30pm

Mario Dunkel, Germany
Darcy James Argue’s Uchronic Jazz

Mario Dunkel presents the latest project of composer and bandleader Darcy James Argue as an attempt to investigate an alternative history of jazz by, for instance, asking how big band music might sound if it had stayed popular and incorporated many of the popular genres that have emerged since, including rock, grunge, steampunk, and hip hop. By asking what might have been, argues Dunkel, Argue provides a new perspective on what was, and on what was not, making room for a history of jazz as a story of both realized and unrealized potentialities.

Mario Dunkel is assistant professor (Juniorprofessor) at the Music Department of the Carl von Ossietzky University of Oldenburg. His research interests include transcultural music education, the history of jazz, and the practice of music diplomacy.

3:30pm
Orrin Evans, USA
A Talk with Orrin Evans

As a pianist and composer Orrin Evans who lives in Philadelphia is very much a part of today’s New York jazz scene. For the Darmstadt Jazzforum he shares his view of jazz as a relevant art form, talks about improvisation as a road to artistic identity in jazz history, as well as about the changes of jazz from an (African-)American music towards a complex global art form which developed quite varied practices that at times seem to be difficult to subsume under the same term.

Since 1995 pianist and composer Orrin Evans has recorded more than 25 albums as a leader or co-leader and performed on numerous others. He came up in the culturally rich jazz scene of Philadelphia where he still lives although he plays in New York (and elsewhere) on a weekly basis. Evans performs with his trio, his band Tarbaby or his Captain Black Big Band. From early 2018 he will replace Ethan Iverson in the trio The Bad Plus. Orrin Evans will perform a solo piano concert at the Darmstadt Jazzforum on Saturday evening.

4:30pm
Krin Gabbard, USA
Syncopated Women

Krin Gabbard picks up discussion of our last Darmstadt Jazzforum in his presentation when he asks, after a close reading of William Dieterle’s film „Syncopation“ from 1942, how specific representations of jazz and jazz history reflect racial, gender, and economic ideologies.  Unlike virtually every other jazz film of the 1940s, „Syncopation“ acknowledges slavery as a crucial element in jazz history.  It is also unique in distinguishing between the economies of black and white jazz bands.  In addition, the film has an unusually ambivalent view of the participation of women in the music’s development.  Using the example of „Syncopation“, Gabbard argues that the „new jazz studies“ can provide a rich conception of jazz histories and how these traditions have been understood.

Krin Gabbard is Professor of Jazz Studies and director of the J-Disc, the jazz discography project at Columbia University. His books include Jammin’ at the Margins: Jazz and the American Cinema (University of Chicago Press, 1996), Black Magic: White Hollywood and African American Culture (Rutgers University Press, 2004), and Better Git It in Your Soul: An Interpretive Biography of Charles Mingus (University of California Press, 2016). He is also the editor of Jazz Among the Discourses (Duke University Press, 1995).

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Saturday, 30 September 2017

9:30am

Wolfram Knauer, Germany
Four Sides of a House. How jazz spaces irritate, fascinate, stimulate creativity or become icons

Wolfram Knauer looks at the ideal room for jazz from different perspectives. There are venues with an excellent acoustic, clubs with their own aura (often soaked in jazz history), halls where one can literally hear everything, and others that offer an intimate connection between the artists and their audience. Knauer looks at several examples to speculate about different conceptions of what might constitute an ideal room for jazz. He discusses the involvement of such venues with local and regional scenes, and he asks how changes in the presentation and reception can be both seen as a chance and as a threat to established local activities because (a) they indeed have an impact on the perception of the music, and because (b) new venues will also change the general expectation of the audience in regard to the music they are going to hear.

Wolfram Knauer is the director of the Jazzinstitut Darmstadt since its inception in 1990. He is the editor of Darmstadt Studies in Jazz Research (14 volumes till now, Wolke 1890-2016) has published several books, among them critical studies of Louis Armstrong (Reclam 2010) and Charlie Parker (Reclam 2014). A study of Duke Ellington and his music will be published in 2017 (Reclam). He has taught at several schools and universities and was appointed the first non-American Louis Armstrong Professor of Jazz Studies at the Center for Jazz Studies, Columbia University, New York, for spring 2008.

10:30am
Oleg Pronitschew, Germany
A New Place for Jazz. Insights Into the Historic Institutionalization of German Jazz Music.

Oleg Pronitschew looks at the institutionalization of the German jazz scene during the last 40 years and asks what effect it had on the public image of the music. He describes how jazz was more and more seen as a form of art music and discusses how as a result the aesthetic, social as well as commercial expectations have changed that both musicians, the industry and the audience directed towards the music.

Oleg Pronitschew is an European Ethnologist and PhD candidate at the Christian-Albrechts-University of Kiel. He has studied European Ethnology, Political Science and New German Literature and Media Studies at the CAU Kiel from 2005 to 2011. He was as a lecturer at the Department of European Ethnology in Kiel from 2011 to 2013. Currently he is finishing his PhD project on the topic of jazz/popular musicians as a cultural practice between imagination and valuation. He is a PhD-fellow of the Ernst-Ludwig-Ehrlich-trust in Berlin since 2014.

11:30am
Rüdiger Ritter, Germany
Myths in jazz – artistic prison or productive element? Examples from East and East Central Europe

The history of jazz in Poland and other East European countries was often presented as a succession of national „jazz greats“ who could be compared with their US-American counterparts. Thus, the highest praise for a Polish musician might have been to be described as the „Polish Charlie Parker“. Rüdiger Ritter asks how such a view of jazz musicians as national heroes influenced the role of jazz as a constitutive moment of Polish national culture. He also discusses a different kind of identification with jazz „myths“ in the Soviet Union and in Czechoslovakia where musicians saw jazz as an option to realize one’s own aesthetic ideas without seeking out specific role models. The Polish example demonstrates that clinging to the „giant“ myth does not necessarily have to be an aesthetic prison, but can offer creative paths to music-making as well – and the Soviet and Czechoslovakian examples show how rejecting the mythical jazz narratives allowed for a maximum of aesthetic possibilities, even though these came with the danger of the music being questioned as to its jazz content. Myths in jazz, then, seem to be a productive element and an artistic prison as well.

Rüdiger Ritter is an expert on Eastern Europe and has published extensively about jazz in countries of the former Eastern bloc. He teaches at the University of Bremen; at the same time he is assistant director of the Museum of the 1950s in Bremerhaven. Ritter was coordinator for the research project „Jazz in the Eastern Bloc“, and has written his habilitation dissertation about Willis Conover and the effect of his jazz radio broadcasts.

2:30pm
Karen Chandler, USA
Bin Yah (Been Here). Africanisms and Jazz Influences in Gullah Culture

Music like most cultural expressions is based in regional networks, in the communities in which they serve specific functions. Karen Chandler describes some of the Africanisms which survived in the Gullah and Geechee culture of the coastal region of South Carolina and which strongly influenced the music in Charleston. Jazz history is often told by focusing on clear geographical centers (New Orleans, Chicago, New York, Kansas City, Los Angeles etc.), a narrative that thus blurs the real complexity of a music which, after all, was not just „invented“ a hundred years ago but is the result of cultural negotiations between people of different origins in different places and under different conditions.

Karen Chandler is the Director of the Arts Management program at the College of Charleston. She is also Co-Founder/Principal of the Charleston Jazz Initiative (CJI), a multi-year study of the jazz tradition in Charleston and South Carolina. From 2001-2004, she served as director of the College of Charleston’s Avery Research Center for African American History and Culture.

3:30pm
Scott DeVeaux, USA
An Alternative History of Bebop

Bebop was a crucial moment in jazz history.  In the 1940s, musicians made choices that separated jazz from popular culture and defined it as a new and distinct genre, one that still governs our sense of jazz today.  Yet, as Scott DeVeaux notes, the assumptions underlying bebop can be reconsidered.  Why should jazz be seen as separate from dance and popular song? Why should jazz audiences insist on hearing instrumental improvisers in isolation, instead of encouraging collaborations with other spheres of pop culture? He will illustrate with examples from contemporary music.

Scott DeVeaux is a nationally recognized jazz scholar whose 1997 book The Birth of Bebop: A Social and Musical History won the American Book Award, an ASCAP–Deems Taylor Award, the Otto Kinkeldey Award from the American Musicological Society, and the ARSC Award for Excellence in Historical Sound Research. He has taught jazz history at the University of Virginia since 1983.

4:30pm
Nicolas Pillai, England
A Star Named Miles: tracking jazz musicians across media

The perception of jazz heroes is influenced by many aspects, music being just one of them. In the final presentation of our conference, Nicolas Pillai looks at the media representation of trumpeter Miles Davis in his later years, and describes „the dissonant image“ of his appearances in film, television drama, music videos, fashion magazines and TV advertising. He considers the industry networks which formed Miles‘ multi-media personality, taking into account the trumpeter’s own influence on his public image, discussing gesture, speech and costume.

Nicolas Pillai is the author of Jazz as Visual Language: Film, Television and the Dissonant Image (I. B. Tauris, 2017) and the co-editor of New Jazz Conceptions: History, Theory, Practice (Routledge, 2017). With Tim Wall and Roger Fagge, he is preparing an edited collection on late Miles Davis. He has published work on jazz and film in The Soundtrack journal and Darmstadt Studies in Jazz, 14. He is currently working on chapters for The Routledge Companion to New Jazz Studies, The Routledge Companion to Popular Music History and Heritage and The Oxford History of Jazz in Europe.

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[:de]Sonderworkshop mit Gerd Dudek[:en]Special class Gerd Dudek[:]

[:de]

Gerd Dudek

… ist einen weiten Weg gegangen. Persönlich und musikalisch. Geboren 1938 im schlesischen Groß Döbbern, nach dem Krieg als Flüchtling zunächst in Berlin aufgewachsen, wo er seine Karriere nach dem Musikstudium Anfang der 1960er Jahre in der SFB-Bigband, die damals sein älterer Bruder Ossi leitete, begann. Über ein dreijähriges Engagement in der damals sehr populären Helmut Brandt-Combo fand er seinen Weg schließlich nach Köln und wechselte dort in die Bigband von Kurt Edelhagen.

Mit seinem Einstieg 1965 in das seinerzeit revolutionäre Manfred Schoof Quintett, öffnete sich Dudek, der als Tenorsaxofonist seine Haupteinflüsse stets in den Altisten Charlie Parker, Ornette Coleman und dem Bassklarinettisten Albert Ayler sah, mehr den Kooperationen mit den wichtigsten Vertretern des deutschen Free-Jazz. So spielte er mit Peter Brötzmann und Albert Mangelsdorff, trat seit 1967 regelmäßig mit Alexander von Schlippenbachs Globe Unity Orchestra auf (zuletzt 2016 beim Hessischen Jazzpodium in Darmstadt) und forcierte auch seine internationale Karriere.

Neben vielen internationalen Auftritten mit Musikern wie Mel Lewis/Thad Jones-Bigband, George Russell, Don Cherry, Alphonse Mouzon, Alan Skidmore und Mal Waldron spielt Dudek seit den 1970er Jahre vor allem mit dem, von dem Bassisten Ali Haurand ins Leben gerufenen European Jazz Quintett und dessen diversen Ablegern in variierenden Besetzungen.

Dudek ist Jazzmusiker vom alten Schlag. Musikalische Scheuklappen waren und blieben ihm fremd. Immer wieder auch ist er auf Aufnahmen aus der Hochzeit des Krautrock (etwa mit Jackie Liebezeit oder Conny Plank) zu hören, bediente die Freejazz-Begeisterten ebenso wie die Anhänger des traditionsbewussten Mainstreams mit seinem an die großen amerikanischen Vorbilder erinnernden sonoren Tenorsound.

Dudek wird im Rahmen des Workshops einige Stücke gemeinsam mit einer Band des Dozententeams spielen. Im wesentlichen aber wird er sich mit Dr. Wolfram Knauer vom Jazzinstiut Darmstadt über seine wahrhaft reichhaltige musikalische Erfahrung unterhalten und dabei den Teilnehmer/innen mit Sicherheit den ein oder anderen wertvollen Tipp für ihre weitere musikalische Entwicklung mit auf den Weg geben können.

Samstag, 8. Juli 2017, 15 Uhr bis 16:30 Uhr, Bessunger Knabenschule

Dieser Teil der 26. Darmstädter Jazz Conceptions ist auch offen für Nicht-Teilnehmer/innen des Workshops. Für sie kostet der Eintritt 6 Euro; ein Kombiticket (Sonderworkshop am Nachmittag sowie das Abschlusskonzert am Abend) ist an der Tageskasse für 12 Euro erhältlich. Das Abendkonzert allein kostet 10 Euro Eintritt.[:en]sorry, the content is only avilable in German.[:]

[:de]Dozentinnen und Dozenten 2017[:en]Teachers in 2017[:]

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Martial Frenzel

… ist das frische Gesicht bei den diesjährigen Jazz Conceptions. Der aus Saarbrücken stammende Schlagzeuger war zuletzt bereits zweimal mit seinem Berliner Trio BUBU zu Gast in Darmstadt. Dort sorgten die drei Musiker mit einem fulminaten Auftritt im Gewölbekeller des Jazzinstituts und beim Hessischen Jazzforum 2016 für Aufsehen.

Der Sohn einer Französin und eines Deutschen studierte an der Hochschule für Musik Saar und ist ein enger Bruder im Geiste des in Darmstadt wohlbekannten Posaunisten Christof Thewes, mit dem ihn unzählige musikalische Projekte verbinden. Mit Thewes teilt Frenzel auch seinen überaus humorvollen Umgang mit vermeintlich schwer zugänglichem musikalischen Material. In seinem Soloprogramm Microman etwa trommelt er sich „wild, wüst und gefräßig“ durch Klanglandschaften ganz seinen Vorbildern Tony Oxley, Ed Blackwell oder Buddy Rich (!) verpflichtet. Als rock-affiner Schlagzeuger präsentiert sich Frenzel dagegen in der Band UHL mit dem Gitarristen Johannes Schmitz und dem Bassisten Lukas Reidenbach.

Als Anti-Dogmatiker passt Martial Frenzel hervorragend in Jürgen Wuchners Konzept  einer offenen musikalischen Kommunikation zwischen Dozenten und Teilnehmern – gewiss keine schlechte Voraussetzung für einen spannenden und erfolgreichen Darmstädter Workshop.

Über seine Vorstellungen zum diesjährigen Workshop schreibt er folgendes:

„Es geht in meinem Kurs um das Erarbeiten von Standards und von eigenen Stücken. Die Schwerpunkte sind Formspiel, Comping, Bandsound, Umsetzung von Themen, Arrangements aus der Probesituation heraus zu kreieren,Odd Meters, und Improvisation.

Die Teilnehmer werden dazu angehalten, eigene Kompositionen oder Wunschstücke vorzuschlagen, die wir dann gemeinsam einstudieren und aufführen.“

Die fliegende Kuh – Martial Frenzel from Philipp Majer on Vimeo.

Nicole Johänntgen

… ist eigentlich die zweite Saarländerin in der Dozentenriege, lebt aber inzwischen seit vielen Jahren in Zürich und erobert von dort aus die Jazzbühnen dieser Welt.

Lange Jahre stand die Alt- und Sopransaxofonistin, die an der Musikhochschule Mannheim studierte und dort auch anschließend ein Aufbaustudium Komposition und Arrangement absolvierte, für den groovigem Funkjazz  ihrer Band Nicole Jo. Mit ihrem neuen Projekt „Henry“ hat Johänntgen sich den Traum einer nicht nur musikalischen Reise in den Jazzksomos New Orleans verwirklicht. Sie klingt nun erdiger, bluesiger, vielleicht auch abgeklärter als früher.

Eigentlich kein Wunder, denn die inzwischen 36jährige wurde in den letzten Jahren nicht nur mit unzähligen internationalen Preisen überschüttet, wie dem renomierten Concours International des Solistes de Jazz in Monaco oder dem New York-Stipendium der Stadt Zürich, sie suchte musikalisch auch immer den Kontakt mit unzähligen Kolleginnen weltweit. Diese Kollaborationen machten aus ihr nicht nur eine vielbeschäftigte Instrumentalistin, Komponistin, Lehrerin – mittlerweile  fördert sie sogar als Initiatorin des SOFIA-Programm aktiv den Ausstausch junger Jazzmusikerinnen in ganz Europa.

Über ihre Vorstellungen zum diesjährigen Workshop schreibt sie folgendes:

„Im Kurs geht es um das Thema Improvisation und Timing. Mit verschiedenen Übungen arbeiten wir an kurzen und einprägsamen Songs aus dem american standard repertoire. Ziel ist es verschiedene Solomethoden zu erlernen und das eigene Rhythmusgefühl zu trainieren.“

Beitrag aus der Sendung „KUNSCHT“ für den SWR von Annette Fuhr

Detlef Landeck

… hieß der Hessische Jazzpreisträger 2008. Der Posaunist aus Kassel ist Rückgrat und Antreiber der Jazzszene in der nordhessischen ‚Diaspora‘ und gleichzeitig auch ein international vernetzter Musiker. Landeck wird in diesem Jahr bei den Darmstädter Jazz Conceptions das Großensemble leiten, das traditionell am Samstag, dem Abschlussabend, in der Bessunger Knabenschule auftritt.

Detlef Landeck wird als vielbeschäftigter Pädagoge nicht nur im Musikschulbereich hoch geschätzt, sondern gilt als ausgezeichneter Bigband-Arrangeur und -Motivator. So leitet er derzeit die Bigbands der Universitäten Kassel und Göttingen. Seine eigene muskalische Ausbildung zum Musikpädagogen absolvierte er an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. Darüber hinaus ist Landeck an verschiedenen Theaterproduktionen am Deutschen Theater Göttingen, am Stadttheater Marburg oder am Landestheater Kassel eingebunden.

Landeck gehört zu den Gründern der Kasseler Jazzmusikerinitiative e.V., die heute mit über 200 Mitgliedern zu den aktivsten Jazzveranstaltern in Nordhessen mit fast 100 Konzerten im Jahr zählt.

Über seine Vorstellungen zum diesjährigen Workshop schreibt er folgendes:

„…“

Uli Partheil

… leitet in diesem Jahr einen eigenen Workshop nur für Jugendliche zwischen 12 und 22 Jahren (weitere Informationen zum Jugendensemble).

Partheil ist einer der aktivsten Protagonisten der Darmstädter Szene, beeinflusst von der Musik Duke Ellingtons, Thelonious Monks, kubanischen Rhythmen und dem Blues. Er ist nicht nur ein versierter Pianist in sämtlichen Stilistiken des Jazz, sondern auch als Komponist tätig. In seinen Komposiotionen geht er äußerst kreativ mit den verschiedenen Einflüssen um, die ihn als Musiker prägen.

Uli Partheil studierte an der Mannheimer Musikhochschule unter anderem bei Professor Jörg Reiter Jazzpiano, Komposition und Arrangement. Seit Beginn der 1990er Jahre arbeitet er mit Jürgen Wuchner, Matthias Schubert, Janusz Stefanski, Ack van Rooyen, Rudi Mahall, Daniel Guggenheim, Wolfgang Puschnigg, Thomas Siffling, dem Wiener Kronenbräu Orchester, dem Palatina Swing Orchestra und vielen anderen zusammen.

Mit seinem Working Trio „Playtime“ ist er in den letzten Jahren mit verschiedenen Literatur- & Jazz-Projekten erfolgreich. Partheil unterrichtet an der Jazz & Pop School Darmstadt. Für seine musikalischen Verdienste und sein Wirken für die Förderung des jazzmusikalischen Nachwuchses erhielt er 2008 den Darmstädter Musikpreis.

Über seine Vorstellungen zum diesjährigen Workshop schreibt er folgendes:

„Es werden Stücke aus den unterschiedlichsten Stilistiken des Jazz und vom Jazz beeinflusster Musik erarbeitet. Die Improvisation und das spontane Reagieren werden dabei immer eine wichtige Rolle spielen.Wichtig auch: es muss nicht jede/r Teilnehmer/in improvisieren! Die Arrangements sind zum Teil vorbereitet und werden dann auf die Gruppe „zugeschneidert“. Für jeden wird eine passende Rolle gefunden. Wer lieber nur nach Noten spielt, kann das auch tun.

Und: wir werden richtig arbeiten! 2,5 Stunden jeden Tag volle Konzentration auf die Musik und dabei alles geben! Das Wichtigste bleibt aber immer: Der Spaß am Musikmachen! Sich mit offenen Ohren dem Abenteuer aus Rhythmus, Groove, Spannung, und Auflösung voll hinzugeben!

Interviewportät von Uli Partheil von Rainer Lind

John-Dennis Renken

… wurde 2017 vom neuen künstlerischen Leiter des Moers Festivals, Tom Isfort, zum Improviser in Residence der Stadt Moers ernannt und steht damit in einer mittlerweile sehr illustren Reihe, der von Vorgänger Reiner Michalke ins Leben gerufenen Institution.  Dass der vielbeschäftigte Trompeter dennoch Lust und Zeit hat, eine Woche als Dozent ein Ensemble bei den diesjährigen Jazz Conceptions zu leiten, spricht wohl in gleichem Maße für Darmstadt wie für den 1981 in Bremen geborenen Trompeter.

Renken lebt seit seinem Studium an der Folkwang-Universität in Essen. Von dort führten ihn seine zahlreichen Konzerte durch die halbe Welt – etwa in so verschiedenen musikalischen Besetzungen wie seiner Working Band „Zodiak Trio“ (mit Bernd Oezsevim und Andreas Wahl), Jan Klares Ruhrpott-Großformation „The Dorf“, Eric Schaefers „The Shredz“, aber auch in gemeinsamen Projekten von Angelika Niescier, John Thomsen, Marsen Jules, André Nendza, Michael Wollny oder dem „Stefan Schultze Large Ensemble“.

Für sein musikalisches Schaffen erhielt er unter anderem 2011 den „Jazzpreis Ruhr“ und belegte im selben Jahr mit Zodiak den zweiten Platz beim „Neuen Deutschen Jazzpreis“ in Mannheim. Im Mai 2014 wurde ihm die Ehre zuteil, als Gastsolist der WDR-Bigband mit dieser seine eigenen Kompositionen aufzuführen.

Renken tritt auch immer wieder bei CD-, Theater-, Hörspiel-, Rundfunk- und Fernsehproduktionen in Erscheinung, so für die ARD und das ZDF, für Radio Bremen und den WDR, als auch am Düsseldorfer Schauspielhaus, am Theater Oberhausen, am Essener Grillo-Theater und bei den Bad Hersfelder Festspielen. Derzeit steht er mit seiner Trompete als sogenannte „Livemusik-Installation“ im „Parsifal“, nach der gleichnamigen Oper von Richard Wagner und dem Theaterstück „Parzival“ von Tankred Dorst, am Schauspiel Essen auf der Bühne.

Über seine Vorstellungen zum diesjährigen Workshop schreibt er folgendes:

„In meiner Band werden wir Stücke aus unterschiedlichen Stilen erarbeiten. Ein bis zwei Stücke von mir, wobei das erste Stück eine konkrete Ballade sein wird und das zweite ein sehr frei angelegtes Stück, bei welchem die Bandmitglieder auf Dirigat bestimmte Teile spielen und/oder improvisieren. Des Weiteren werden wir noch ein bis zwei Standardwerke spielen. Je nach Fortkommen können wir auch noch ein eigenes Stück komponieren.

Es geht um Improvisation! Miteinander, gegeneinander oder allein. Aktion und Reaktion, wohin bewegt sich die Musik.“

Promo-Video of Eric Schaefer & The Shredz from ACT Music „Abstract Dub“ on Youtube

John Schröder

… will sich einfach nicht so richtig festlegen lassen, welches denn nun sein Hauptinstrument ist – und beherrscht wohl deswegen alle auf einem Niveau, das nur wenige zu erreichen vermögen.

Als Jahrhunderttalent auf der Gitarre startete der gebürtige Frankfurter im Jugendalter seine erste Jazzkarriere, um wenige Jahre und einen Umzug nach Berlin später mit der Band „Der Rote Bereich“ (mit Frank Möbus und Rudi Mahall) als klanggewaltiger Schlagzeuger die deutsche Jazzlandschaft aufzumischen. Als er diesen charakteristischen Berliner Bands (u.a. auch Rosa Rauschen, Erdmann 3000) den Rücken kehrte, tauchte Schröder mit seinem eigenen John Schröder Trio als ebenso virtuoser und phantasievoller Pianist wieder auf.

Zu seiner Karriere gehörten Auftritte mit internationalen Stars wie James Moody, Joe Lovano, Enrico Rava oder Randy Brecker (zu seinen ersten Schülern in Berlin gehörte Kalle Kalima), während seiner Schlagzeugerkarriere revolutionierte er mit anderen Ende der 1990er Jahre massiv die Wahrnehmung von „Deutschem Jazz“ im Ausland. Am Piano klingt er so nahe bei sich und bei den großen amerikanischen Jazzheroen wie wenige andere.  John Schröder ist ein musikalischer Tausendsassa und Alleskönner, der auch im Workshop davon sicherlich Vieles teilen wird.

Über seine Vorstellungen zum diesjährigen Workshop schreibt er folgendes:

„Musikalisch möchte ich den Bereich von formal strukturierten Kompositionsgrundlagen bis hin zu freier Improvisation und die ‚Grauzone‘ zwischen beiden ausloten. Dabei wäre es schön, wenn die Teilnehmer eigene Stücke beisteuern würden, an denen wir dann arbeiten können.

Ich selbst werde auch einige meiner thematischen Ideen dazu einbringen; Grundsätzlich soll das Ganze aber undogmatisch gestaltet werden, so daß auch  genreübergreifendes Material gerne eingebracht werden darf.“

Auftritt mit Kresten Osgood 2016 in Kopenhagen Mandagsklubben @5e bei Youtube

Jürgen Wuchner

Juergen_Wuchner_Wilfried_Heckmann01… ist der eigentliche Initiator der Jazz Conceptions. Wuchner spielte u.a. mit Hans Koller, Heinz Sauer und dem Vienna Art Orchestra und tritt im Rhein-Main-Gebiet vor allem mit seinen eigenen Bands in Erscheinung, mit denen er sich immer wieder neuen Projekten widmet. Er besitzt einen erdigen, ungemein warmen und persönlichen Basston, viele seiner Kompositionen kann zumindest die Darmstädter Jazzgemeinde mitpfeifen.

In Darmstadt ist er außerdem als langjähriger Leiter eines regelmäßigen kleineren Jazz-Workshops bekannt. Für seine Arbeit als Musiker und Pädagoge wurde Wuchner 1996 mit dem Hessischen Jazzpreis ausgezeichnet. Wuchner unterrichtete bis 2013 an der Darmstädter Akademie für Tonkunst und leitet zusammen mit Uli Partheil die Jazz & Pop School. 2012 erhielt Wuchner den Darmstädter Musikpreis.

Über seine Vorstellungen zum diesjährigen Workshop schreibt er folgendes:

„Für dieses Jahr werde ich einige Kompositionen mitbringen, die wir in Modulen überall im Verlauf des Sets einsetzen können. Es sind nicht Themen mit nachfolgender Improvisation, sondern z.T. auch Miniaturen, die einfach zwischen Improvisationsteilen eingebaut werden, um für die nächste Improvisation eine andere  Atmosphäre zu erzeugen. Manche Kompositionen können auch als Plattform für Soli  dienen.“

Interviewporträt von Jürgen Wuchner von Rainer Lind[:en]sorry, only in German[:]

[:de]Neue Bücher 2017[:en]New Books 2017[:]

[:de]Duke Ellington
von Wolfram Knauer
Ditzingen 2017 (Reclam)
328 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-15-011127-7

Da lesen wir laufend „fremder Leute“ Bücher und vergessen dabei fast die Eigenwerbung. Im letzten Herbst jedenfalls brachte die Post Wolfram Knauers „Duke Ellington“ , das, so die Verlagsankündigung, „den Komponisten, Pianisten und Orchesterleiter Duke Ellington als eine Integrationsfigur des Jazz“ würdigt. Weiter heißt es da: „Musiker aller Epochen, aller Stilrichtungen, aller künstlerischen Ansätze scheinen sich mit seiner musikalischen Ästhetik identifizieren zu können. Knauer, Musikwissenschaftler und international bekannter Experte zum Jazz, lauscht seinen Aufnahmen, um aus ihnen heraus Ellingtons Biographie zu erzählen, den geradlinigen Weg eines Musikers, der weiß, dass seine Stärke im Zusammenfügen der vielen Stimmen seines Orchesters besteht. Anschaulich und mit Wissen auch um Ellingtons privates Umfeld und die wirtschaftlichen Zwänge im amerikanischen Musikbusiness schildert er die Gründe für ästhetische Entscheidungen des Duke und kann damit die verschiedenen Phasen seines Schaffens angemessen würdigen.“

Oder, in Knauers eigenen Worten: „Was ich in dem Buch versucht habe, war buchstäblich: in die Musik hineinzuhören und dabei immer wieder zu fragen, warum Ellington so schrieb, spielte und dachte, wie er es zu verschiedenen Zeiten seiner Karriere tat. Was führte zu den ästhetischen und musikalischen Entscheidungen, wohin führten die Experimente, an denen ihm ohrenscheinlich lag? Warum entschied er sich zu Richtungsänderungen, warum klang seine Musik in den verschiedenen Jahrzehnten seiner langen Karriere immer wieder anders, und wie sollte man sich den klanglichen Ergebnissen nähern, um fair über sie zu schreiben (oder sie zu hören)? Wie ich im Vorwort andeute, war meine Herangehensweise insofern unüblich, als ich das Ellington-Archiv an der Smithsonian Institution besuchte, bevor ich auch nur ein einziges Wort geschrieben hatte, um mir auf gut Glück Kisten kommen zu lassen in der Hoffnung, dass das darin befindliche Material mir vielleicht einige der Fragen liefern würde, die ich in meinem Buch zu beantworten beabsichtigte (schließlich kommt es einem so vor, als sei schon alles über Ellington gesagt worden). Danach begann ich mit dem intensiven Hören, fragte dabei dauernd „Warum?“ und „Was?“, mehr noch als „Wer?“ oder „Wann und Wo?“. Diese Fragen führten dann zu einer Kontextualisierung seiner Biographie, seines Kompositionsprozesses, dem Konzept von Komposition im Jazz ganz allgemein, seiner Interaktion mit seinen Bandmitgliedern und mit anderen Musikern, seines privaten Lebens, seiner Geschäftspraktiken und – vor allem – seiner Aufnahmen. Als das Rohmanuskript fertig war, kehrte ich ins Ellington-Archiv zurück und ließ mir diesmal ganz gezielt die Kisten kommen, vor allem jene, die seine Kompositionsskizzen oder aber die Stimmen seines Orchesters enthielten, um an ihnen zu verifizieren, was konkret in den Noten steht und wo der Zauber anfängt, der das alles zum Leben erweckt und so ungemein persönlich werden lässt. Ich glaube, dass mein Ansatz sich durchaus von dem unterscheidet, was bislang über Ellington geschrieben wurde, und ich hoffe, dass es gelegentlich eine englische Übersetzung des Buchs geben wird.“

Johannes Breckner liest das Buch für das Darmstädter Echo, Wolfgang Sandner für die FAZ, Johannes Kaiser für SWR Cluster, Johann Buddecke für Concerti. Christian Broecking, Stefan Franzen und Martin Laurentius für die Jazzthetik.

zugegeben: Eigenwerbung, dennoch: Wolfram Knauer (Juli 2018)


Um Blues und Groove. Afroamerikanische Musik im 20. Jahrhundert
von Manfred Miller
Dreieich 2017 (Song Bücherei / Heupferd Musik Verlag)
454 Seiten, 34 Euro
ISBN: 978-3-923445-18-9

Er macht es einem nicht einfach: Ein Druckbild langer Zeilen, die viel zu weit in den Bundsteg reichen, eine Schrifttype, die entweder weitere Zeilenabstände oder aber klarere Absätze verlangen würde, lange Sätze, oft mit Nebengedanken in Parenthese oder (wie ein Unterkapitel überschrieben ist) „Kleine Nebenbemerkung zur Nebenbemerkung“ (64). Ein ausschweifender Stil, in dem sich der Autor sehr wohl bewusst ist, dass es sich hier um ein Alterswerk handelt. Er weiß, dass er seinen Leser:innen etwas zumutet, wenn er sie „dem Autor beim Verfertigen seiner Gedanken zuschauen“ lässt (7). Ein Stil, der laufend die Position zu wechseln scheint, mal erzählend ist, dann historisch einordnend, dann aus der Gegenwart heraus wertend, nein nicht aus der Gegenwart, sondern aus seiner, des Autoren Gegenwart, oft gespeist durch Verweise auf seine eigene Zeugenschaft, als er etwa für Rundfunk- und Fernsehdokumentationen Interviews mit den Protagonisten der Musik führte, über die er hier schreibt.

Manfred Miller gehört seit den 1960er Jahren zu den wichtigen Popularmusikforschern Deutschlands. Er leitete die Jazzredaktion in Bremen (wo er neben vielem anderen auch die legendäre LP „Machine Gun“ Peter Brötzmanns ermöglichte), moderierte eine regelmäßige Bluessendung im Südwestfunk, gründete das SWF-Bluesfestival in Lahnstein, produzierte TV- und Hörfunkdokumentationen zur Rock- und Bluesgeschichte. Ihm war es dabei immer wichtig, über den Tellerrand der Genres hinauszublicken, mit denen er sich beschäftigte. So erkannte er im Blues immer auch eine Reflexion der Welt, aus der dieser kam. Denn es sei viel Unsinn verzapft worden beim Schreiben über diese Musik. So sei in Zeugnissen früher Musiker neben dem Blues immer wieder von „rihls“ die Rede gewesen (in unterschiedlichen Schreibweisen), und etliche Autoren hätten darin den „reel“ aus irisch-schottischer Volksmusik erkannt. „[W]ie minimal die Wahrscheinlichkeit sein mochte“, ärgert sich Miller, „dass der Interviewte jemals einen solchen Tanz oder dessen Namen gehört haben konnte, haben sie sich offenbar nicht gefragt.“ Und ein leicht rechthaberischer Tonfall klingt durch, wenn er fortfährt: „Dabei, scheint mir, drängt sich die korrekte Transkription förmlich auf, nämlich ‚Reals'“. Der Blues als Beschreibung der wirklichen Welt, der Realität: auch eine Theorie, und keineswegs eine schlechte. Die Rückführung des betreffenden Begriffs auf keltische „reels“ ist allerdings auch nicht so falsch, wie Miller suggeriert: Irische und schottische Kulturtraditionen waren in die „neue Welt“ transferiert worden, und es ist gut möglich, dass „reel“ quasi als Deonym generisch für eine bestimmte Art von Tanz(musik) verwandt wurde. Was richtig ist, weiß ich als Leser (und Nicht-Blues-Experte) auch nicht, allerdings stößt es leicht sauer auf, wenn Miller ein Zitat Little Brother Montgomerys nachschiebt, in dem dieser betont, wie wichtig das Abbild der Realität im Blues sei, um dann verächtlich zu urteilen: „Dass sie Mist verzapft haben, können unter feldforschenden Musikethnologen offenbar etliche selbst dann nicht riechen, wenn jemand sie mit der Nase hineinstößt.“ (16)

Den Hauptteil seines Buchs beginnt Miller mit Platon und der Bedeutung von Musik seit der Antike. Er sinniert über die Polyphonie des Mittelalters und die Mehrchörigkeit bei Schütz und Bach, über Castrati und Countertenöre, über Gesualdos Madrigale, über Musik und Macht, genauer: Musik als Symbol von Herrschaft. Er ist sich bewusst, dass in Musik oft Erinnerung an Rituale transportiert werden, deren Funktion längst nicht mehr erinnerbar ist. Und er beschreibt, wie Musik immer im Hier und Jetzt wahrgenommen wurde, bis der Phonograph erfunden wurde und sie damit vom Ritual zur Ware werden konnte (Miller spricht von „fundamentaler Um- und Abwertung der Gebrauchswerte von Musik zu einer der gängigsten unter den angstlösenden Alltagsdrogen“ [69]).

Millers zweites Kapitel befasst sich mit den musikalischen Grundlagen afro-amerikanischer Musik. Es geht um Artikulation, vor allem aber um swing. Er fragt danach, wie sich die rhythmische Komplexität in afro-amerikanischer (und afrikanischer) Musik aus unterschiedlichen Perspektiven hören lässt und beschäftigt sich mit dem Missverständnis der Synkope im Jazz. Er hinterfragt Begriffe wie Pulse, Beat und Groove und diskutiert sie anhand konkreter Aufnahmen etwa von Louis Armstrong, Art Blakey und Fats Waller. Woher kommt dieser Groove, fragt er, bemüht dann gleich noch einmal die gesamte (westliche) Musikgeschichte, fragt etwa nach dem Verhältnis zwischen Harmonik und Metrik, um schließlich (ich habe etwas vorgeblättert) bei seiner Erklärung anzulangen: Der Groove käme aus der Momenthaftigkeit der Musik, aus dem Jetzt, aus dem „Now“. Das ist durchaus einleuchtend, doch jetzt ist Miller in Fahrt. Er reflektiert über Ellingtons „It Don’t Mean a Thing“, über Aufnahmen der King Oliver Creole Jazz Band und Frankie Trumbauers, über den Wirtschaftsliberalismus Thatchers und Reagans, über Technobastler, die eine Software namens „Humanizer“ entwickelt haben, über die Kontroverse zwischen Barack Obama und der „Tea Party“ in den USA…. Man kommt viel rum als Leser:in, und man ist seinen Anmerkungen zum Ende der Kapitel dankbar, bei denen er sozusagen den eigenen Text noch einmal mit etwas Abstand liest und einordnet.

Als nächstes: der Blues! Genre, Gattung, Form? Um dem Wesen, nein den verschiedenen Wesen des Blues auf die Spur zu kommen, lauscht Miller zahlreichen Aufnahmen. Billie Holiday, Miles Davis, Louis Armstrong, Jelly Roll Morton, Jabbo Smith. Er stellt die Form in Frage, sucht Beispiele heraus , die deutlich als Blues konnotiert sind, aber auf die sprichwörtlichen 12 Takte weitgehend verzichten. Dann der Einfluss der Tin Pan Alley auf die Popularisierung des Blues – Stichwort: „Blues als Tanzmusik“. Es folgen Beispiele aus dem Bereich des Country-Blues, des Chicago-Blues und des britischen Rock-Blues, die belegen, wie fließend die Form ist. Das ist gerade in der Mischung der Beispiele spannend, wenn auch etwas schwer zu lesen, insbesondere wenn wieder einmal der Unterton des Rechthabens mitschwingt, als hätten wirklich alle Autor:innen über Musik den Blues nur mit „12 Takte und traurig“ beschrieben.

„Traurig“ ist dann auch das nächste Klischee, das Miller zu entzaubern trachtet. Wo kommt die Zuschreibung her, fragt er, welche anderen Zuschreibungen hat der Blues über die Jahre erhalten? Dabei landet er bei Joachim Ernst Berendt und seiner Beschreibung der „Blue Notes“ von 1957, die Miller als vereinfacht und eurozentristisch klassifiziert, um dann eine Art Urzustand der Blue Notes beispielsweise in einer Rede von Dr. Martin Luther King zu finden, von dem ausgehend er den Blue Notes dann vor allem eine rhetorische Funktion zuschreibt: „sie unterstreichen, sie heben hervor, was der Sängerin, dem Sänger besonders wichtig ist“ (148). Er hinterfragt die autobiographische Haltung des Blues, die Rollenfigur, die der oder die Sänger/in einnimmt, und er analysiert beispielhaft, etwa den Text zum „Down Hearted Blues“, den er sich daraufhin gleich noch von verschiedenen Sängerinnen anhört. Miller ist ein exzellenter Übersetzer von Bluestexten, dazu in der Lage, auch im Deutschen den Inhalt mit dem Rhythmus des Originaltextes zu verbinden. Und er ist sich der Grenzen seiner Übersetzermöglichkeiten bewusst, die etwa dort aufhören, wo das englischsprachige Original (insbesondere das Black English des Blues) mit double entendre, mit semantischer Mehrdeutigkeit spielt, die nicht so einfach zu übertragen ist. Er diskutiert die Themen des Blues, Liebe, Tod, aber auch das Themenfeld Protz und Prahlerei („Was hab ich mit da nur aufgehalst!“), und er schreibt darüber, wie sich in den Songs die alltägliche Gewalt und der Rassismus der USA wiederspiegeln.

Es findet sich ein anregendes Kapitel über Billie Holidays Bluesästhetik, eines über aus dem Vaudeville stammende Duos wie Butterbeans & Susie, sowie eines über Bluestexte, die es nur knapp an der Zensur vorbeigeschafft haben. Er diskutiert Aufnahmen Jelly Roll Mortons aus dessen Sitzung für die Library of Congress, bei denen der Pianist lange, schnell ins Pornographische ausartende Titel spielte und sang, und er mutmaßt, dass diese Beispiel für ein ansonsten nicht dokumentiertes Repertoire seien, das den musikalischen Feldforschern nur deshalb entgangen sei, weil sie es an die Orte, an denen es erklang (Bordelle) selten gezogen hätte.

Am Schluss seines Buchs bemüht Miller den afro-amerikanischen Philosophen Cornel West, den er mithilfe von Textauszüge in ein fiktives Interview verstrickt, um abschließend noch ein wenig Trübsal zu blasen: Leider gäbe es heute keinen aktuellen Mainstream afro-amerikanischer Musik mehr, der entsprechende „Resonanz in der großen Gemeinde der schwarzen Amerikaner“ fände. Rap und HipHop hätten nicht dieselben inklusiven Merkmale wie Blues und Jazz der Vergangenheit und die „schwarze Gemeinde in Amerika“ habe durch den „vom Marktliberalismus produzierte[n] Wandel des Gesellschaftlichen und der Gesellschaft“ aufgehört, sich selbst als „Gemeinde“ zu sehen. „Tut mir leid“, schreibt er, „Auch wenn ich hin und wieder aus klanglichen oder rhythmischen Gründen das Präsenz benutze – was ich in dieser Arbeit verhandle, ist Vergangenheit. – Jedoch: welch einmalige Vergangenheit! Musik, die ein Volk trägt!“

Er macht es einem nicht einfach, habe ich diese Rezension begonnen. Manfred Miller, der aus dem Vollen seines Wissens, seiner Hörerfahrung schöpfen kann, lässt genau dies seine Leser:innen an jeder Stelle spüren: dort, wo er mit Fakten um sich wirft, dort wo er sofort Vergleichsbeispiele aus der globalen Kulturgeschichte zur Hand hat, insbesondere auch dort, wo er seine Leser:innen direkt anspricht, ihre Einwände vorwegahnt, um dann seine Thesen näher unterlegen zu können. Der leicht verächtlich wirkende Blick herab auf Forscher:innen, Journalist:innen und andere Autor:innen (gerne auch der Verweis darauf, dass dies oder jenes doch ein gutes „Referat im Oberseminar der Musikethnologen “ sei) findet sich zuhauf in Millers Buch. Er macht es einem nicht einfach, weil all diese schriftstellerischen Tricks seine Leser eben gerade nicht mitnehmen, und weil man gerade bei einem so als Bleiwüste gestalteten Buch (dem weder die Typographie noch die Kursivschreibung Abwechslung verleihen) eigentlich keine Lust hat, dauernd als virtueller Sparringpartner herhalten zu müssen. Das aber ist schade. Denn tatsächlich hat Miller etliches zu erzählen. Tatsächlich sind seine Denkansätze ungemein spannend, wert diskutiert, weitergedacht, immer wieder auch widersprochen zu werden. Doch dazu lädt Manfred Miller nicht so recht ein mit seinem Buch, das, obwohl es weder eine Geschichte des Blues noch des Jazz ist, ein Füllhorn anregender Gedanken über afro-amerikanische Musik enthält – und die westeuropäische Rezeption derselben.

Wolfram Knauer (Juni 2020)


Träume aus dem Untergrund. Als Beatfans, Hippies und Folkfreaks Baden-Württemberg aufmischten
von Christoph Wagner
Tübingen 2017 (Silberburg-Verlag)
180 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-8425-2039-4

Christoph Wagner, in Baden-Württemberg geborener und seit Jahren nahe London lebender Journalist, beschreibt die musikalische Subkultur der 1960er und 1970er Jahre in Baden-Württemberg. Zwischen Mannheim und Freiburg findet er dabei jede Menge Beispiele aus populären Genres zwischen Blues, Rock, Jazz und Folk.

Er blickt auf die Einflüsse, beispielsweise die lebendige Jazzszene ums Heidelberger Cave oder die Stuttgarter Atlantik-Bar, betrachtet die Aktivitäten des Südwestfunks und den Kulturschock, den Möhringer Bürger erlebten, als sie einen Musiker wie Cecil Taylor durch den Ort joggen sahen oder als sich Abdullah Ibrahim eine Bretzel in der Dorfbäckerei holte, während er in Tourneepausen bei Gabi Kleinschmidt wohnte.

Er weiß um die Beat- und Soulszene in Stuttgart, die vor allem durch einheimische Amateurgruppen befeuert wurde und oft genug auf die Eltern als Fahrdienst angewiesen war. Aber auch internationale Bands machten im Ländle Station, The Who etwa, über die der Tourneeveranstalter Walter Puls einige Geschichten zu erzählen weiß.

Joachim Ernst Berendt war einerseits für die Jazzgeschichte des Landes wichtig, schnitt aber auch Konzerte des American Folk Blues Festival mit, das seit 1962 von Horst Lippmann und Fritz Rau veranstaltet wurde. Die Bluesszene wurde Anfang der 1970er durch Clubs geprägt, die tourende amerikanische Künstler genauso engagierten wie solche, die sich wie etwa Memphis Slim oder Champion Jack Dupree in Europa niedergelassen hatten. Neben der Blues- gab es aber auch eine lebendige Folkszene, die, in Folge des legendären Waldeck-Festivals im Hunsrück „deutschen Protestsängern, Liedermachern und Kabarettisten“, aber auch englischen, schottischen und amerikanischen Folkmusiker:innen eine Bühne bot. Nicht selten stand diese in dieselben Clubs, in denen auch Jazz oder Blues zu hören war: Das Publikum hatte zu jener Zeit doch beträchtliche Schnittmengen. Folkmusik war damals zugleich ein Soundtrack zu den Anti-AKW-Protesten und den Friedensdemonstrationen jener Jahre, eine Protesthaltung, die sich erst gegen Ende der 1970er, wie Wagner schreibt, andere musikalische Formen suchte, „ob im Punk, im anarchistischen Rock oder im Sponti-Kabarett“.

Am 19. Januar 1969 trat Jimi Hendrix in der Stuttgarter Liedermacherhalle auf. Bald darauf ließen sich mit Rockmusik, insbesondere aus englischsprachigen Ländern, Hallen mittlerer Größe leicht füllen. Als Vorgruppe standen dabei oft regionale Bands auf der Bühne, in denen Musiker groß wurden, die später zwischen Jazz, Rock und Pop  von sich Reden machten. Wagner skizziert die Veranstaltungsorte, an denen diese Musik zu hören waren, in den Großstädten Stuttgart, Mannheim und Freiburg genauso wie in Kleinstädten wie Schorndorf, wo in der Manufaktur Peter Brötzmann zu hören war (für 250 Mark Gage), die amerikanische Folkmusikerin Hedy West (für 220 Mark) und der Liedermacher Reinhard Mey (für 170 Mark). Wagner berichtet über zwei Black-Sabbath-Tourneen durch den Südwesten in den Jahren 1969 und 1970, oder über das Rolling-Stones-Konzert in der Messehalle 6 in Stuttgart, das 20 Mark Eintritt kosten sollte, was in der Szene für heftigen Protest und für Boykottaufrufe sorgte.

Den erfolgreichen und kommerziellen Rockshows stellten sich mit der Zeit Kulturinitiativen entgegen, die eine andere Vorstellung von Musikvermarktung hatten, insbesondere der Verein GIG, der sich die „Durchführung von Veranstaltungen zu gewinnlosen Eintrittspreisen“ auf die Fahnen schrieb. Insbesondere in Tübingen und anderen Studentenstädten fanden zur selben Zeit eher links orientierte deutsche Bands wie Floh de Cologne oder Ihre Kinder Zulauf; selbst hier aber wehrte sich das studentische Publikum schon mal gegen als zu hoch empfundene Eintrittspreise, einen Diskurs zwischen Veranstalterinitiative und Publikum, den Wagner  detailliert nachzeichnet. In Stuttgart hatte Werner Schretzmeier mittlerweile Kontakte zum SDR-Fernsehen geknüpft, durch die er Rockbands wie Pink Floyd, Black Sabbath und Deep Purple zu Produktionen einladen konnte. In einem letzten Kapitel befasst sich Wagner schließlich noch mit Mundartrock zwischen Joy Fleming (Neckar-Blues), Wolle Krinwanek (Schwabenrock) und der Band Schwoißfuaß.

Christoph Wagners „Träume aus dem Untergrund“ bieten einen unterhaltsamen Streifzug durch eine Zeit, in der Musik mehr und mehr als ästhetischer genauso wie als politischer Ausdruck wahrgenommen wurde und dabei zwischen den Polen einer Community-bindenden Kunst und Kommerz existierte. In seinen Kapiteln gelingt es ihm, sicher auch dank der zahlreichen Abbildungen, viele Facetten dieses Lebensgefühls deutlich zu machen. Ihm geht es dabei nur bedingt um eine Beschreibung der Musik selbst; wichtiger ist ihm der Kontext, die Bildung und Selbstdefinition einer Szene also. In dieser verorteten sich in jenen Jahren auch die Jazzfans, und Wagners Darstellung der Strukturen, in denen sich Rock und Pop in diesen Jahren entwickelte, macht schnell klar, wie wichtig der weitere Blick sein kann, um Kontexte zu erklären, die letztlich auch die Entwicklung des Jazz mit beeinflussten.

Wolfram Knauer (Juni 2020)


André Hodeir. Le jazz et son double
von Pierre Fargeton
Lyon 2017 (collection Symétrie recherche)
772 Seiten, 70 Euro
ISBN: 978-2-36485-028-6

Es ist eine mehr als passende Würdigung: ein fast 800 Seiten starkes Buch über den Kritiker, Musikwissenschaftler, Geiger und Komponisten André Hodeir, das seiner Biographie genauso gerecht zu werden versucht wie seiner Musik und seiner musikwissenschaftlichen Erkenntnisse. Pierre Fargeton ist prädestiniert für diese Aufgabe: Der Musikwissenschaftler verfasste 2006 seine Dissertation über Hodeir und arbeitet zurzeit an der Herausgabe der Korrespondenz zwischen Hugues Panassié und André Hodeir.

Sein Buch beginnt – chronologisch – im Geburtsjahr seines Sujets 1921 und beschreibt, wie der junge André, der dem Klavierunterricht seines älteren Bruders mehr abgewinnen konnte als jener,  im Alter von 11 Jahren zur Geigenausbildung aufs Konservatorium geschickt wurde, wo er bereits 1935 seine „6 Pièces de Virtuosité“  komponierte. Zur selben Zeit interessierten ihn aber genauso das Tischtennisspiel, Poker und der Jazz, für den er sich begeisterte, nachdem er Benny Carter mit dem Orchester von Willie Lewis gehört hatte. Er entdeckte erst Stéphane Grappelli, dann Eddie South als role models auf seinem eigenen Instrument und lernte Charles Delaunay kennen, den Jazzkenner und Autor der Hot Discography.

Eine Lungenentzündung, wegen der er Ende der 1930er, Anfang der 1940er Jahre lange Zeit ans Bett gefesselt war, machte dem Traum seiner Mutter ein Ende, die ihren Sohn als einen „neuen Menuhin“ sah. Doch bis Ende der 1940er Jahre war Hodeir durchaus auf der Geige zu hören, im Jazzkontext meist unter dem Pseudonym Claude Laurence, unter dem er 1942 seine ersten Titel für das Label Swing aufnahm, kurz darauf außerdem Platten mit dem Gitarristen Joseph Reinhardt. Nach dem Krieg begann Hodeir seine ersten Artikel für das Magazin Jazz Hot zu schreiben, besuchte eine Analyseklasse bei Olivier Messiaen und beschäftigte sich zeitgleich mit den Aufnahmen Charlie Parkers und Dizzy Gillespies. Von 1947 bis 1951 fungierte er als Chefredakteur von Jazz Hot, eine Position, in der er mehr und mehr das Bewusstsein dafür ausbildete, dass der Jazz Vordenker braucht, die seine Struktur und Machart verstehen, ihn aber auch ästhetisch und intellektuell in die Diskurse der aktuellen Musik einordnen können.

Fargeton nennt ihn „zweisprachig“, weil Hodeir in diesen Jahren musikalisch den Jazz genauso bedienen konnte wie die zeitgenössische Musik, weil er mit Kenny Clarke genauso spielte wie er sich an Streichquartetten versuchte. Und schließlich gibt es erste Beispiele einer Vermengung der beiden Welten, etwa in Stücken wie dem 1953 eingespielte „Saint-Tropez“. Fargeton zeigt, wie sich Hodeirs analytische Beschäftigung mit dem amerikanischen Jazz auch auf seine eigene Kompositionsweise niederschlägt, etwa in der Betonung motivischer Beziehungen oder in seiner Auseinandersetzung mit formaler Gliederung seiner Musik. Es folgten Experimente mit Zwölftontechniken und die Beschäftigung mit anderen seriellen Techniken, etwa im verschworenen Kreis um den Klassiker Pierre Boulez.

1954 veröffentlichte Hodeir das Buch Hommes et problèmes du jazz, eine Sammlung bereits veröffentlichter und bislang unveröffentlichter Aufsätze, die drei Jahre später unter dem Titel Jazz: Its Evolution and Essence auch auf Englisch erscheinen und großen Einfluss auf die ernsthafte Beschäftigung mit dem Jazz haben sollte. Im selben Jahr gründete Hodeir die Jazz Groupe de Paris, ein am Miles Davis Capitol Nonet orientiertes Ensemble, das etwa zehn Jahre lang bestand und Hodeirs Third-Stream-orientierte Kompositionen, aber auch Filmmusik einspielte. Fargeton verfolgt Hodeirs Karriere, beschreibt seine Reise in die USA 1957, den Auftritt der Jazz Groupe bei den Donaueschinger Musiktagen im selben Jahr, sowie die Kooperation mit John Lewis und dem Modern Jazz Quartet, für das er drei Stücke schrieb. Wie Lewis, wie Gunther Schuller und wenige andere blieb André Hodeir dabei ein Mittler zwischen den Welten, konnte sich am Diskurs der zeitgenössischen Musik genauso beteiligen, wie er jenen im Jazz mit seinen Schriften und Stücken selbst mitbestimmte.

1964 wandte sich Hodeir Stücken für größeres Ensemble zu,  schrieb für Bigband oder Goßensemble ungewöhnlicherer Besetzung. Zu letzterer gehört insbesondere „Anna Liva Plurabelle“, eine durchkomponierte Jazzkantate über Texte aus James Joyces Finnegans Wake. Mit dem Free Jazz hatte Hodeir weniger am Hut, was ihm Kritik jüngerer Autorenkollegen einbrachte. 1970 brachte Hodeir Les Mondes du Jazz heraus, ein Buch, das einerseits literarischer gefasst ist, anderseits weniger konkrete musikalische als vielmehr ästhetische Themen im Zentrum hat. In den nächsten Jahren zog sich Hodeir weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück, forschte am Pariser IRCAM, schrieb Romane, und trat höchstens auf Anregung des Pianisten Martial Solal, für den er in den 1960er Jahren immer wieder geschrieben hatte, für einige Konzerte wieder auf die Bühne. 1992 wurde „Anna Livia Plurabelle“ wieder aufgeführt, in Brest, Wien und Paris und schließlich unter Leitung des Bassisten Patrice Caratini auch auf Platte aufgenommen.

Im zweiten Teil seines Buchs analysiert Fargeton die musikalische Sprache André Hodeirs, fragt nach Klangfarbenmelodie, -rhythmus und -melodie, Kompositionstechniken, Individualisierung der Töne, nach Textur und Kontrapunkt in seiner Musik, um dann im dritten Teil die Form in Hodeirs Werk unter die Lupe zu nehmen, das Variationsprinzip, sowie die simulierte Improvisation.

Pierre Fargetons Buch ist ohne Zweifel ein Standardwerk zu Leben und Werk André Hodeirs. Insbesondere in den analytischen Passagen, die etwa die Hälfte des Buchs ausmachen, bietet es zeitweilig etwas sperrige Lektüre (was vielleicht auch nicht anders zu erwarten ist). Im biographischen Teil lässt er vor allem die Rezeption ein wenig beiseite, die ja weit über Frankreich hinaus ging. John Gennari hat beispielsweise darauf hingewiesen, wie wichtig Jazz: Its Evolution and Essence für den US-amerikanischen Jazzdiskurs der 1960er Jahre wurde, wo Autoren, egal ob sie ihn umarmten (Martin Williams) oder eher ablehnten (Dan Morgenstern, Whitney Balliett), sich auf jeden Fall zu ihm zu verhalten hatten. Eine solche Diskussion der Auswirkungen seines Denkens und Schreibens, die beispielsweise auch den britischen Autor Eric Hobsbawm oder den deutschen Kritiker Joachim Ernst Berendt mit einzubeziehen hätte, wäre eine sinnvolle Ergänzung. Und wenn auch das Thema des Third Stream sowohl im biographischen wie auch im analytischen Teil des Buchs immer wieder angerissen wird, wäre auch hier eine weiterführende Einordnung der Folgen wünschenswert, in Hodeirs Fall insbesondere auf das Umfeld von Jazzmusikern (Michel Portal beispielsweise), die ähnlich wie er „bi-lingual“ unterwegs waren, also einen Fuß in der Jazztradition hatten, sich aber genauso in der Welt der Zeitgenössischen Musik zuhause fühlten. Doch hätten solche Ergänzungen wohl dazu geführt, das ohnedies dicke Buch auf über 1000 Seiten anschwellen zu lassen.

Es bleibt abzuwarten, was die Korrespondenz zwischen Hugues Panassié und André Hodeir an ästhetischen Streits enthält, an der Fargeton zur Zeit als Herausgeber arbeitet. André Hodeir. Le jazz et son double immerhin ist eine mehr als angemessene und ausgesprochen gelungene Würdigung des Multitalents. In seinem Vorwort schreibt Martial Solal, all die verschiedenen Seiten Hodeirs seien untrennbar miteinander verbunden gewesen. Er habe ihm immer den größten Respekt entgegengebracht, und Bewunderung empfunden für seinen Humor und seine Feinsinnigkeit, die sich denen, die ihn gut kannten, mitteilte. Nun, zumindest letztere Elemente sind durchaus auch in seiner Musik deutlich zu spüren, und durch Fargetons Buch kommen auch wir Leser dem Phänomen André Hodeirs ein wenig näher.

Wolfram Knauer (Januar 2020)


Sonor in Weissenfels, 1875-1950
Von Klaus Ruple
Weißenfels 2017 (Arps Verlag Weißenfels)
240 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3-936341-30-0

Das Schlagzeug-Drumset entwickelte sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und ermöglichte Perkussionsvirtuosen die Bedienung mehrerer Trommeln zur gleichen Zeit. Vor allem die Erfindung des Bass-Drum-Pedals förderte die erfolgreiche Vermarktung eines kompletten Drumsets, das spätestens mit der Aufnahme der ersten Jazzaufnahmen weitgehend komplett war. Trommeln gab es in allen Kulturen, Trommelfabriken bald überall in der westlichen Welt. Klaus Ruple hat nun quasi die Biographie einer dieser Firmen geschrieben, Sonor, gegründet vom Drechsler und Weißgerber Johannes Link in Weißenfels an der Saale und bis heute ein Name im Instrumentenbau.

Ruple beginnt mit einer üblichen Handwerkergeschichte des 19. Jahrhunderts, erzählt, wie der auf der Schwäbischen Alb geborene Johannes Link 1875 nach den damals üblichen Jahren der Wanderschaft im sachsen-anhaltinischen Weißenfels eine Trommelfabrik für die Fertigung von Militärtrommeln gründete. Er beschreibt handwerkliche Prozesse der Zeit, insbesondere das Gerben der Kalbs- oder Ziegenfelle, und findet in der Buchhaltung der Firma Hinweise auf die laufende Expansion: mehr Aufträge, mehr Angestellte, eine größere Produktpalette. Im Jahr 1900 beschäftigte die Firma bereits 50 Mitarbeiter, und 1907 wurde aus der „Ersten Trommelfabrik Weißenfels“ die Firma „Sonor“ mit den Geschäftsbereichen „Herstellung und Vertrieb von Schlaginstrumenten und Spielwaren: Trommeln, Pauken, Trommelfelle, Schlaginstrumente aller Art und deren Bestandteile, Kindertrommeln, Ballschläger und Tischtennisschläger“. Militäraufträge lasteten die Firma bis 1914 gut aus, die sich immer mehr erweiterte und im Februar 1914 einen Fabrikneubau auf einem größeren Grundstück plante, der allerdings durch den Ersten Weltkrieg verhindert wurde.

Ein eigenes Kapitel widmet Ruple der Trommelproduktion für den „Großen Krieg“, der Sonor Produktionszuwächse sicherte, die auch nach Kriegsende nicht nachließen. Nach einem Brand der alten Fabrik baute die Firma an einem neuen Standort, einer ehemaligen Badeanstalt, die Ende des 19. Jahrhunderts von einer Brauerei aufgekauft und zu einem großes Gesellschaftshaus umgenutzt worden war. 1925 beschäftigte Sonor 145 Mitarbeiter in der nunmehr vollends vom Handwerksbetrieb zu industrieller Fertigung gewachsenen Fabrik, die in ihren Verkaufsräumen auch historische Schlaginstrumente vom Dreißigjährigen Krieg bis in die Gegenwart ausstellte. Zum 50-jährige Jubiläum, das der 1914 verstorbene Firmengründer nicht mehr miterlebt, spielte paradoxerweise ein Streichquartett; Sohn Otto und Stiefsohn Max Straubel führten forthin die Geschäfte weiter. Militärinstrumente traten immer mehr in den Hintergrund, stattdessen warb die Firma ab Mitte der 1920er Jahre für die „Eigene Fabrikation von Schlag-Instrumenten jeder Art, Trommelfellen, Banjos, Jazz-Schlagzeugen“. Für eine Weile war Sonor Weltmarktführer bei der Herstellung und Verarbeitung von Fellen, entwickelte daneben immer neue Verbesserungen von Trommeln, Mechanik, Pedalen und Hängesystemen für das Drumset. Einige dieser Lösungen wurden auch von anderen Herstellen übernommen, wie Ruple andeutet, wenn er zumindest Ähnlichkeiten in Design, Ausführung und Verkaufsprogrammen der Firmen erkennt.

1930 reiste Otto Link in die Vereinigten Staaten, um mögliche neue Kunden für seine Produkte zu finden; hatte bald aber auch zuhause wieder große Aufträge, obwohl die Rohstoffversorgung zusehends schwieriger wurde. Insbesondere Eisen und Messing wurden ab 1937 kontingentiert, so dass Sonor insbesondere eine Reihe an Auslandsaufträgen verlor, die stattdessen in die Tschechoslowakei oder nach England gingen. „Den wirtschaftlich und politisch schweren Jahren folgt der Zweite Weltkrieg mit Inflation und Kriegswirren“, formuliert Ruple und fährt fort: „Mit Link-Trommeln marschieren die Deutschen nach Polen, Frankreich, Russland und zahlreiche andere europäische bzw. gar afrikanische Länder ein.“ Bis Ende des Krieges produzierte Sonor einerseits Marschtrommeln für Reichsheer, Luftwaffe, Hitlerjugend und Polizei, wurde aber auch „in die direkte Kriegsproduktion einbezogen, wie Ruple (jetzt etwas weniger konkret) schreibt, „fertigte u.a. für die Junkers Werke in Dessau und Merseburg“. 1945 wird die Firmenbezeichnung von „Trommelfabrik“ gar in „Herstellung von Kriegsgerät“ umbenannt.

Nach dem Krieg flüchtete Otto Links Sohn Horst nach Aue, einen Ortsteil von Bad Berleburg, die Weißenfelser Fabrik, die bei einem Bombenangriff 1944 keinen Schaden nahm, stellte die Produktion währenddessen um auf „Autoumbauten, Herstellung kleiner Kohlenschaufeln und Messer aus Kriegsmaterial, Tische, Wandtafeln für Schulen, Rollwagen aus Abfallholz“. In Aue/Westfalen begann Horst Link mit kleinen Mitteln wieder die Trommelherstellung, während Otto Link im Weißenfels 1948/49 einen Großauftrag über 5000 Trommeln und 1000 Holzkoffer für die Rote Armee an Land zog. Am 7. Oktober wurde die DDR gegründet, und nachdem Links Firma anfänglich noch ins Handelsregister aufgenommen wurde, erfolgte im Jahr darauf schrittweise die Enteignung, verbunden mit der Androhung einer Anklage gegen Link wegen „Wirtschaftsverbrechen“. Otto Link floh in den Westen; die Weißenburger Firma ging in Volkseigentum über. In den 1950er Jahren, die Ruple nur noch am Rande streift, wurde Sonor dann zu einer wichtigen Marke im Jazzbereich, gespielt von Musikern wie Kenny Clarke, Connie Kay, Roy Haynes, Karl Sanner oder Teddy Paris.

Klaus Ruple endet sein Buch mit einer knapp gehaltenen „Fotostory“, die bis in die Gegenwart führt, zeigt Fabrikräume, neue Produkte und Sonor-Künstler aus unterschiedlichen Stilbereichen. Er besucht den Ort der ersten Weißenfelder Fabrik, die wegen Baufälligkeit 2011 abgerissen werden musste, und das ehemalige Bad, das 2015 von von einem kanadischen Investor gekauft wurde, der, wie man zuletzt hörte, plant, daraus wieder ein Kulturzentrum mit Hotel und Ballsaal zu machen. Auch in der DDR wurde in der VEB Trommelfabrik Weißenfels weiterproduziert, erzählt er, die noch bis zur Wende Instrumente der Marken Tacton und Trowa herstellte, dann aber abgewickelt wurde.

Der Buchtitel „Sonor in Weissenfels“ ist viel zu nüchtern für eine so reich gestaltete Dokumentation, die akribisch in die Bücher schaut, viele der zahlreichen Abbildungen genau erklärt, und zwar sowohl Fotos über den Ort der Produktion, über die Instrumente selbst oder über die Familiengeschichte. Bei alledem gelingt es Ruple, die wechselvolle Geschichte einer Fabrik lebendig werden zu lassen, die von der Militärtrommel zum Jazzschlagzeug die Musik des 20sten Jahrhunderts begleitete.

Wolfram Knauer (Juli 2018)


Downtown Düsseldorf. Jazz am Rhein
von Peter K. Kirchhof
Düsseldorf 2017 (Droste Verlag)
176 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978-3-7700-2027-0

Mit einer Dokumentation der Düsseldorfer Jazzgeschichte schließt sich Peter Kirchhof ähnlichen Lokalgeschichten für andere Städte an. Die Zeit bis 1945 wird handelt er darin auf knapp zehn Seiten ab, bevor er die Nachkriegsszene beschreibt zwischen Dixieland, Deutschem Amateur Jazzfestival, der Nähe zur Jazz- und Hochschulstadt Köln, Spielorten wie dem New Orleans, dem Jazz Cap oder dem Dum Dum, Workshops, und Tourneekonzerten internationaler Stars und vielem mehr. Einen besonderen Schwerpunkt legt Kirchhof auf den 1966 eröffneten Club Downtown, das mit Unterbrechungen bis Ende der 1980er Jahre bestand.

„Downtown Düsseldorf“ hält minutiös die Entwicklungen der lokalen Szene fest, nennt Akteure wie Wilton Gaynair, Peter Weiss oder Wolf Doldinger, weiß um die Vernetzung in andere Jazzregionen Nordrhein-Westfalens und um Versuche, das von viel ehrenamtlicher Arbeit getragene städtische Jazzleben den neuesten Entwicklungen und der Stadtkultur anzupassen. Kirchhof bebildert das alles mit historischen Dokumente, Anzeigen, Plakaten, Zeitungsausrissen, vor allem aber mit Fotos des Düsseldorfer Fotografen Hans Harzheim, der nicht nur die Szene in seiner Stadt seit den 1950er Jahren mit der Kamera begleitet hatte.

Alles in allem: eine zu lobende Lokalgeschichte des Jazz, die sich der Vollständigkeit halber allerdings manchmal ein wenig zu sehr im Detail verliert und dabei die Lesbarkeit etwas außer Acht lässt. Ein Musikerregister schließt das Buch ab.

Wolfram Knauer (Juli 2018)


Experiencing Bessie Smith. A Listener’s Companion
von John Clark
Lanham/MD 2017 (Rowman & Littlefield)
187 Seiten, 40 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4340-8

Anders als die Welt der Bigbands, der Jeff Sultanof seinen Listeners‘ Companion gewidmet hat und deren viele Facetten fast zu umfangreich für das Konzept der Buchreihe sind, anders auch als Chick Corea, dessen Aufnahmen Monika Herzig in ihrem Band abhandelte, das aber bis in die Gegenwart reicht, handelt es sich beim Untersuchungsgegenstand, den John Clark sich für diesen Band vorgenommen hat, um ein abgeschlossenes Oeuvre, um Aufnahmen der Bluessängerin Bessie Smith zwischen 1923 und 1933. Clark interessiert dabei, wie Bessie Smiths zu einer Zeit aktiv war, als weder die Genres Jazz oder Blues vollständig ausgebildet waren, als Künstler in populären Genres immer auch Teil eines größeren Programms auf Varietébühnen waren, als sich das alles schließlich erst langsam als ein großes, umfassendes, kommerziell interessantes und zugleich kulturelle Identität beschreibendes Geschäft erwies.

Clark beginnt mit einer Beschreibung des Unterhaltungsangebots für Afro-Amerikaner zu Beginn des I. Weltkriegs, beschreibt das Format der Tent Shows, die Tradition des Blues und die ersten Beispiele dafür, wie dieser seinen Weg in die populäre Musik fand. Er erklärt, wie sich eine Art „classic blues“ herausbildete und wie sich in einer der ersten Aufnahmen des Genres in Mamie Smiths „Crazy Blues“ Einflüsse aus Vaudeville, Ragtime und Tin Pan Alley mischten. Der Erfolg dieser Aufnahme brachte eine ganze Industrie zum Leben, und Clark nennt Beispiele, von denen viele aus der Talentschmiede des Pianisten, Komponisten, Bandleaders und Plattenproduzenten Clarence Williams stammten. Trixie Smith, Alberta Hunter, Ma Rainey und Ethel Waters fanden jeweils ihren eigenen Stil in der Gemengelage eines noch nicht völlig ausgebildeten Genres, und in seiner Besprechung einzelner Aufnahmen dieser Sängerinnen deutet Clark bereits an, was an Bessie Smith so besonders war.

Er beschreibt das mögliche Repertoire zwischen populären Blues-Hits etwa aus der Feder von W.C. Handy, und schlüpfrig-doppeldeutigen Texten. Er beleuchtet Titel wie „Alexander’s Ragtime Band“, den „Yellow Dog Blues“, den Einfluss der Gospelmusik in „Moan You Moaners“, und die Zielgerichtetheit der Texte auf ein afro-amerikanisches Publikum anhand „Mama’s Got the Blues“. Er erklärt das Konzept der auf den afro-amerikanischen Markt ausgerichteten „race records“ und weiß zu berichten, dass auch eine Sängerin wie Bessie Smith erst Testaufnahmen vorlegen musste, bevor sie einen Vertrag mit einer Plattenfirma erhielt. Seine Höranalysen fokussieren sich mal auf musikalische Besonderheiten, Smiths‘ Art der Tonbeugung etwa, ihre Stimmqualität, ihren Sound, mal auf den Text und darauf, welche Konnotationen dieser in den 1920er Jahren gehabt hatte. Er stellt fest, dass allein im ersten Jahr ihres Aufnahmeschaffens sie ganz unterschiedliche Begleitbands hatte, von Jazzensembles bis zu eher folk-orientierten Besetzungen mit Mandoline oder mit Harmonika, Gitarre und Kazoo. In den Aufnahmen nach 1924 erkennt er, wie sich ein ganz eigener Stil herausschält, urbaner, stärker von Jazz durchdrungen, und zwar nicht nur, wenn Fletcher Henderson, Charlie Green oder Louis Armstrong mit von der Partie sind. Clark sucht für all diese Besetzungsformate erhellende Aufnahmen heraus, in denen er Einflüsse auf die verschiedenen Beteiligten genauso erklärt wie das, was da zwischen Solostimme und Begleitung musikalisch geschieht und welche Wirkung es auf die Musik als solche hat.

1927, schreibt Clark, war Bessie Smith eine der am höchsten bezahlten schwarzen Entertainer der Welt. Er beschreibt den Einfluss des Erfolgs auf ihr Schaffen und hinterfragt die Erinnerungen ihrer Nichte Ruby Walker, aus er wir viel über Smiths‘ Privatleben und den professionellen Druck auf sie wissen. Er befasst sich ausführlich mit den Aufnahmen, die Bessie Smith mit James P. Johnson machte, konzentriert sich auch hier abwechselnd auf die Musik, das Zusammenspiel zwischen Stride-Piano und expressivem Gesang, und die Texte, in denen schon mal in einer Zeile biblische Zitate und überdeutliche sexuelle Andeutungen kombiniert werden. Er macht den Leser immer wieder auf die Formgestalt der Stücke aufmerksam oder auf Unterschiede im musikalischen Ansatz etwa von Tommy Ladnier im Vergleich zum früheren Armstrong.

Clark erklärt, dass die Plattenindustrie in den 1920er und frühen 1930er Jahren höchstens ein Zusatzeinkommen, vor allem aber eine Art Werbung für Liveauftritte waren, die immer noch den Hauptteil des Einkommens von Musikern ausmachten. Er diskutiert, warum Aufnahmen nach 1928 von vielen als weit unter Smiths Niveau gehandelt werden, erklärt, dass dies insbesondere an den Begleitbands gelegen habe, die nicht immer auf dem Level der Sängerin waren. Zwischendurch streut er Informationen über Smiths Privatleben genauso ein wie einen Exkurs darüber, welche Rolle die Sängerin wohl bei der Komposition ihrer Songs gespielt habe. 1931 endete Bessie Smiths Vertrag mit Columbia Records, und zwei Jahre später machte sie letzte Aufnahmen für den Produzenten John Hammond, der ihr dazu eine Band mit Frankie Newton, Chu Berry, Jack Teagarden und Benny Goodman zur Seite stellte. Ein eigenes Kapitel widmet sich dem Film „St. Louis Blues“ von 1929, und ein letztes Kapitel dem Einfluss Bessie Smiths‘ auf nachfolgende Generationen, wobei Clark Sängerinen aus dem Bluesbereich diskutiert wie Ruby Walker, Mildred Bailey und Dinah Washington, andere aus dem Jazzbereich wie Connee Boswell und Billie Holiday, sowie spätere von Bessie Smith beeinflusste Sänger/innen wie Mahalia Jackson. Jimmy Rushing, Big Joe Turner, Bob Wills, Nina Simone und Janis Joplin. Eine kommentierte Bibliographie, eine Diskographie mit kompletter Besetzungsnennung der verschiedenen Bands und ein Index runden das Buch ab.

John Clarks Buch ist als Höreinführung angelegt, letzten Endes aber weit mehr als das. Zwischen den Erklärungen zu den Titeln gelingt es ihm, den urbanen Vaudeville-Blues der 1920er Jahre musikalisch genauso einzuordnen wie in seiner kommerziellen Verwertbarkeit, erzählt er von ästhetischen Wegscheiden, an denen viele der Musiker beteiligt waren, die auf Bessie Smiths Aufnahmen zu hören sind. Er weiß die Musik dabei nicht nur aus der historischen Perspektive zu hören, sondern fordert seine Leser auf, sich die Avanciertheit dieses Genres vor Augen zu halten, die Tatsache, dass sich diese Art von Musik ja quasi parallel zu den Aufnahmen erst entwickelte und als eigenständiges Genre ausbildete. Das alles mischt er auf eine Art und Weise, dass die Lektüre an keiner Stelle langweilig wird und man sehr gerne auch die wertenden Passagen seines Buchs am eigenen Höreindruck überprüft.

Wolfram Knauer (März 2018)


Experiencing Chick Corea. A Listener’s Companion
von Monika Herzig
Lanham/MD 2017 (Rowman & Littlefield)
139 Seiten, 35 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4468-9

Monika Herzig, selbst Pianistin und Pädagogin, hat für die Reihe der Listening Companions das Kapitel „Chick Corea“ übernommen. Im Vorwort erinnert sie sich ihr eigenes erstes Livekonzert mit dem Pianisten, dass sie in Tübingen erlebte, und an viele andere Konzerte, die sie besuchte, nachdem sie sich in den Vereinigten Staaten niedergelassen hatte.

Herzig beginnt ihr Buch mit einem Schnelldurchlauf durch die Geschichte des Klaviers im Jazz von den Anfängen bis zu Bud Powell und Thelonious Monk. Eine Timeline bietet eine Übersicht über Lebens- und Karrieredaten Chick Coreas von seiner Geburt 1941 bis ins Jahr 2017. Den Hauptteil des Buchs aber macht wie in den anderen Bänden der Reihe auch hier das gelenkte Hören aus, für das Herzig Aufnahmen aus allen Schaffensperioden auswählt, die sie eingehend beschreibt, indem sie die technischen Details kontextualisiert, also etwa auf Einflüsse, aktuelle musikalische Diskurse zur Zeit der Aufnahme oder auf die spezifische Besetzung hinweist. Sie bedient sich Aufnahmen aus Coreas gesamten Diskographie, in denen Besonderheiten seines Stils besonders gut darzustellen sind, und beschränkt sich dabei auch nicht nur auf solche, die unter seinem Namen herauskamen, sondern diskutiert auch Aufnahmen etwa mit Blue Mitchell oder Miles Davis.

Herzig widmet sich seinen akustischen Bands genauso wie den elektronischen Besetzungen, Duo-Aufnahmen etwa mit Gary Burton, Herbie Hancock, Bobby McFerrin oder Hiromi Uehara. Obwohl die Kapitel grob chronologisch angelegt sind, nimmt sie sich dabei die Freiheit, in einem Abschnitt wie „Playing with Friends“ auch gleich bis in die Gegenwart zu gehen, weil es eben Sinn macht, diese Aufnahmen, die einen ähnlichen Kontext besitzen, auch zusammen zu betrachten.

Sie diskutiert den stilistischen und ästhetischen Wandel der Jahrzehnte und Coreas Reaktion etwa darauf, dass Jazz in den 1980er Jahren immer mehr zu einer Konzertmusik wurde, es zugleich auch ein steigendes Interesse an akustischen Besetzungen gab. Zwischendurch streut sie immer wieder Zitate des Pianisten ein, die zeigen, dass die stilistischen Richtungswechsel bewusste Entscheidungen waren und eine deutliche Reaktion auf die ästhetischen Diskurse seiner Zeit. Ein eigenes Kapitel („Back to Electric“) widmet sich Coreas Auseinandersetzung mit dem technischen Fortschritt, mit seiner Verwendung elektrischer und elektronischer Instrumente und Hilfsmittel; ein weiteres Kapitel („So Many Things to Do“) dem Wandel der Musikindustrie im neuen Jahrtausend, in dem erst Filesharing, dann Downloads zum neuen Distributionsmittel wurden. Dieses Kapitel enthält außerdem eine Diskussion von 24 Aufnahmen aus den Jahren 2001 bis 2015, die zeigen soll, wie es Chick Corea in dieser jüngsten Phase seiner Karriere gelang, die verschiedenen Ausprägungen seines Stils weiterzuentwickeln. Notiz am Rande: Im Kapitel über Chick Coreas Avantgarde-Trio Circle in der ersten Hälfte des Buchs gibt es auch einen kurzen Exkurs über die Zugehörigkeit des Pianisten zur Church of Scientology und seinen Rechtsstreit mit deutschen Behörden, als das Land Baden-Württemberg entschied, dass mit öffentlichen Geldern keine Veranstaltungen gefördert werden dürften, die mit Scientology in Verbindung stünden. Eine Diskographie, ein Literaturverzeichnis und ein Register schließen das Buch ab.

Monika Herzig gelingt es in ihrem Listener’s Companion, dem Leser genügend Zusatzwissen mit auf den Weg zu geben, um in der Musik Chick Coreas Verbindungen zu musikalischen und ästhetischen Entwicklungen des Jazz von den 1960er Jahren bis heute zu erkennen. Ihre analytischen Annäherungen an seine Aufnahmen sind beschreibend, dabei aber eingehend genug, um sowohl den Laien wie auch den Experten auf Kontexte aufmerksam zu machen, die zum vertieften Nochmal-Hören anregen.

Nehmen wir ein Beispiel: Sie beschreibt den Verlauf von „Chick’s Tune“ von 1964 und ordnet dieses Stück gleich als letzten Titel der Aufnahmesitzung ein, für den die Musiker einen Wechsel der musikalischen Textur für ganz sinnvoll erachten. Sie beschreibt, wie das Latin-Thema erklingt, man darunter aber eine bekannte Akkordprogression erkennen kann, verweist auf die Tradition seit dem Bebop, neue Themen über altbekannte Harmonien zu schreiben, und verrät schließlich – im Idealfall hat der Leser sich das Thema jetzt bereits wiederholt angehört –, dass es sich dabei um „You Stepped Out of a Dream“ handelt. Als „fun fact“ ergänzt sie, dass diese Komposition im Geburtsjahr Coreas populär wurde, nachdem sie im Film „Ziegfeld Girl“ mit Judy Garland und Lana Turner gezeigt wurde, weist dann auf die für Standards eher unübliche Harmonik des Stücks hin und darauf, was Corea damit melodisch anfängt. Sie beschreibt nicht nur sein Solo, sondern betont zugleich, dass es damals durchaus nicht selbstverständlich war, dass ein Klavier- und nicht ein Bläsersolo dem Thema folgt, hat dann noch ein paar Anmerkungen zur üblichen Dramaturgie solcher Titel, und dazu, wieso diese Aufnahme der perfekte Schluss für die Platte sein könnte. Nach ähnlichem Muster geht sie auch die anderen Aufnahmen an, die sie beschreibt: Von der Großform zu Details, immer darauf bedacht, diese aus der Jazzgeschichte heraus zu erklären und zu kontextualisieren.

Monika Herzig gelingt dabei mit ihrem Buch mehr als eine Anleitung zum Hören der Musik von Chick Corea. „Experiencing Chick Corea“ ist nicht nur ein Buch für Laien, wenn es diese auch an keiner Stelle abschreckt. Herzig nämlich gelingt die perfekte Balance der musikalischen Erklärung und Kontextualisierung der von ihr ausgesuchten Aufnahmen genauso wie der musikalischen Karriere Chick Coreas. Last not least ist das alles auch noch gut lesbar, überzeugend gruppiert und macht – immer noch das größte Lob für Literatur zur Musik – Lust auf eingehenderes Nachhören.

Wolfram Knauer (März 2018)


Experiencing Big Band Jazz. A Listener’s Companion
von Jeff Sultanof
Lanham/MD 2017 (Rowman & Littlefield)
207 Seiten, 38 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4242-5

Die Reihe „A Listener’s Companion“ will musikalischen Laien das Werk einzelner Künstler oder ganzer Genres näherbringen. Der Fokus liegt dabei auf der Musik; Ziel ist es, den Leser zum gezielten, aufmerksamen Lauschen zu verleiten. Es geht also weder um eine tiefe musikalische Analyse, noch sind die Bände als Biographien oder Stilgeschichten zu lesen. Stattdessen sollen sie genau das sein, was der Untertitel andeutet: Begleiter beim aufmerksamen Zuhören.

Der Komponist, Arrangeur und Musikhistoriker Jeff Sultanof hat die Aufgabe übernommen, einen Bereich des Jazz abzudecken, der von den Anfängen bis in die Gegenwart immer neue Ausprägungen erfahren hat: den Bigband-Jazz. Er beginnt sein Buch mit einer Timeline, in der europäische Walzerorchester und Ragtimebands als Vorläufer ebenso enthalten sind wie die klassische Bigbands der Swingära und spätere modernere Besetzungen. Kurz handelt er die üblichen Formate und gängigen Formmodelle des Genres ab; dann geht es auch gleich los¬:

Sultanof beginnt mit James Reese Europe und Art Hickman, er erwähnt all die erwartbaren Größen des Metiers, Henderson, Ellington, Goodman, Basie, aber auch Beispiele, die eher Eingeweihten bekannt sein dürften, Red Norvo, Don Redman, Ray McKinley. Neben den Swingbands handelt er auch jene des modernen Jazz ab, also Dizzy Gillespie, Gil Evans, Gerry Mulligan, Thad Jones, und kommt mit Maria Schneider oder der Mingus Big Band bis in die Gegenwart.

Seine kurzen Höranalysen verweisen auf Besetzungsänderungen, Soli, auf bestimmte rhythmische oder harmonische Facetten. In diesen versteht er sich als „tour guide“, als Stadtführer durch eine Region, die er besonders gut kennt. Er macht auf Besonderheiten aufmerksam, erklärt Kontexte, weist darauf hin, woher bestimmte Entwicklungen kommen oder wohin andere gehen. Und er hält auch mit dem eigenen Enthusiasmus nicht hinterm Berg, wenn er insbesondere einzelne Soli lobend heraushebt. Immer wieder verweist er auf den Hintergrund, auf die Tricks, mit denen Arrangeure aus der Zusammenstellung bestimmter Instrumente besondere Klänge erzeugen.

Ab und an fühlt man sich dabei an Fußballreportagen erinnert. Ein zufällig herausgegriffenes Beispiel: „Nach einer Einleitung“, lautet etwa Sultanofs Tour durch Shorty Rogers‘ Version von „Topsy“, „spielen Tenor- und Baritonsaxophone den A-Teil der Melodie (0:14); der B-Teil wird von der ganzen Band übernommen (0:41). Rogers soliert mit einfachem Dämpfer (1:08), und Herb Geller spielt ein Solo auf dem Altsaxophon (1:36). Die ganze Band spielt bis zum Solo des Tenorsaxophonisten Jimmy Giuffre (2:19). Marty Paich spielt ein Klaviersolo (2:32), und dann erklingt die Melodie wieder in den Saxophonen (2:46). Die Einleitung wird wiederholt und schließt mit einem gehaltenen Akkord am Ende.“ Hier wie anderswo gibt Sultanof dem unerfahrenen Hörer die Chance Strukturen zu erkennen und musikalische Entwicklungen nachzuvollziehen. Nun gut, meint der Jazzkenner, das meiste davon hört man doch eh, warum also noch extra darauf hinweisen? Und tatsächlich wäre es vielleicht genauso interessant gewesen zu erklären, warum sich jemand wie Rogers ausgerechnet die Basie-Band zum Vorbild nimmt, dass das Thema des Anfangs sehr bewusst in einem ruhigen Unisono gehalten ist, während die Bridge dem genauso bewusst komplexere Harmonien entgegensetzt, als die Basie-Band sie je gespielt hätte. Vielleicht wäre ein Hinweis darauf ganz interessant gewesen, wie die Posaunen im letzten A-Teil des Themas die Basslinie verdoppeln und alles dunkel einfärben, so dass Rogers‘ gedämpftes Solo als ganz besonderer Kontrast hervortritt, oder darauf, dass die Wiederholung der Einleitung am Ende der Aufnahme eben nicht nur eine solche ist, sondern Rogers sich wieder mit seiner gedämpften Trompete darüber setzt und damit im Schluss das Stück quasi öffnet. Will sagen: Neben der bloßen Ablaufbeschreibung ließe sich ja auch eine Beschreibung der Dramaturgie, der Klangentwicklung, der Qualität einzelner Soli denken, ohne dass man dazu zu technisch werden müsste. Oder eben, und zwar gerne für jedes Stück unterschiedlich, die jeweils eine Frage: Was sagt uns das Stück im Kontext der Jazzgeschichte.

Die Verzahnung der sehr unterschiedlichen Beispiele immerhin gelingt Sultanof in den Zwischentexten, in denen er neue Protagonisten einführt, besondere Ereignisse (Konzerte oder Aufnahmen) schildert, musikalische Einflüsse nachzeichnet oder ästhetische Richtungsentscheidungen erklärt. Und hier deutet er dann auch an, wie Personalstile in diesem Bereich entstehen und was den Sound der betreffenden Aufnahme so besonders macht. Die verständliche Entscheidung, das alles quasi chronologisch darzustellen, vergibt dabei die Chance, etwa nach Klangfarben, nach Avanciertheit oder auch nach persönlicher Entwicklung zu gruppieren. In einer solchen Lesart hätte sich darstellen lassen, wie sich Ellingtons Orchesterstil über die Jahre veränderte, wie die Bigbandklänge von Stan Kenton, Count Basie, jenem gerade erwähnten Shorty Rogers und Thad Jones miteinander in Beziehung stehen, wie die Auseinandersetzung mit Klangfarben bei Claude Thornhill, Eddie Sauter, Sun Ra oder dem Orchestra USA unterschiedliche Resultate gezeitigt hat – wobei das Orchestra USA überhaupt nicht vorkommt – usw.

Die Grundsatzfrage also ist : Muss ein Buch, dass sich an Jazzlaien richtet, an der Oberfläche bleiben? Reicht es aus, Ellingtons Karriere von den 1920er bis in die 1960er Jahre anhand von Beispielen zu verfolgen, aber nirgends zu erklären, dass Ellingtons Art des Konzipierens von Musik für großes Ensemble sich grundsätzlich von der Herangehensweise anderer Bigbands unterscheidet? Kann allein die Identifikation von Soli in diesen Aufnahmen wirklich die Musik erklären?

Nun gibt es sicher auch gute Argumente für Sultanofs Darstellungsweise. Er will mit seinem Buch ja Mut machen, sich eingehender mit der Musik zu beschäftigen; er will Kontexte liefern, aus denen heraus auch ein nicht mit dieser Musik aufgewachsener Leser vielleicht zu verstehen vermag, was sie so faszinierend machte. Warum allerdings die Stücke im Fließtext in den dicken Unterbrechern, die auf sie aufmerksam machen sollen, einzig durch Titel mit Komponist, gegebenenfalls Arrangeur, Aufnahmeort und -datum identifiziert werden, man dann aber drumherum suchen muss, welches Orchester denn für diese Aufnahme verantwortlich war, ist schwer verständlich.

Das wiederum ist eine editorische Schwäche des Buchs, dem es nicht nur an dieser Stelle an Übersichtlichkeit mangelt. Auch dass am Schluss die verschiedenen Register nicht miteinander verzahnt werden, trägt zu diesem Bild bei: Da gibt es ein Register, dass die einzelnen Aufnahmen – wie im Buch vorkommend, Kapitel nach Kapitel –, aufzählt, aber keine Seitenzahl gibt. Dann ein Register der wichtigsten Orchester mit den im Buch genannten Titeln, aber wieder ohne Seitenzahl. Und schließlich ein Personen- und ein Titelregister mit Seitenzahl, wobei bei letzteren darauf verzichtet wird die Zuordnung zu den Ausführenden zu erwähnen. Das ist besonders schade, da Sultanof doch sehr bewusst immer mal wieder einzelne Titel auswählt, die gleich von verschiedenen Bands aufgenommen wurden, um im Vergleich des scheinbar selben Grundmaterials Unterschiede erklären zu können.

Last not least, eine Anmerkung des europäischen Lesers: Dass Sultanof zwar ein paar britische Bands und Francy Boland mit einbezieht, Europa ansonsten außen vor lässt (Orchestre National du Jazz? George Gruntz? oder gar: Globe Unity???), ist wohl vor allem dem angepeilten amerikanischen Publikum zu schulden. Sein Buch richtet sich insbesondere an musikalische Laien, an Amateur-Bigbandmusiker, an Lehrer und an Schüler. Auf den knappen Ausflug bis in die Gegenwart allerdings hätte er auch verzichten können: seine kurzen Sätze zu Kamasi Washingtons „The Epic“ und Ted Nashs „Presidential Suite“ sind nicht einmal mehr beschreibend.

Alles in allem also eine gute Idee, von Sultanof, einem ausgewiesenen Kenner der Materie, mit viel Gefühl für die Zwischentöne ausgeführt. Auch die Wahl der Beispiele ist gelungen, bei der Bekanntes neben Unerwartetem steht und sich so die Varietät des Genres bestens beleuchten lässt. Vielleicht liegen all die kritischen Untertöne dieser Rezension ja in der Grundidee der Reihe begründet, die im Vorwort des Herausgebers im Satz mündet, man wolle Leser erreichen, die keine exzessive musikalische Ausbildung besäßen und sich nicht laufend ihres elitären Wissensstands (wörtlich spricht er von „elitist shoulder rubbing“) vergewissern müssten. Nun ja, unterfordern sollte man die Leser und Hörer aber auch nicht…

Wolfram Knauer (März 2018)


Jazz en 150 Figures
von Guillaume Belhomme
Paris 2017 (Editions du Layeur)
360 Seiten, 39,90 Euro
ISBN: 9-782-91512-631-0

Guillaume Belhomme ist ein französischer Musiker und Journalist. Sein jüngstes Buch will die Jazzgeschichte in 150 Musikerportraits erzählen und damit die Abfolge instrumentaler und vokaler Helden bis in die Gegenwart fortschreiben. Die Künstler werden chronologisch in die üblichen Stilschubladen-Kapitel sortiert, von „Early Jazz“ über „Swing“, „Bebop“, „Cool“, „Hard Bop, „Post Bop“, „Free Jazz“ bis zu „Modernes“, einer Abteilung, die Musiker fasst, die irgendwo zwischen freier Improvisation und eklektischen Experimenten arbeiten. Belhomme wählt für jeden der 150 Musiker von King Oliver bis Mats Gustafsson jeweils fünf Platten aus, die für ihn die Bandbreite ihrer künstlerischen Arbeit beleuchten. Dafür nimmt er sich jeweils zwei, in Ausnahmefällen vier Seiten Platz, bebildert das alles mit einem, selten zwei Fotos und zwischen zwei und vier Abbildungen der erwähnten Platten. Er beginnt seinen Text mit knappen biographischen Anmerkungen, streicht dann wichtige Aufnahmen heraus und betont die Bedeutung der Musiker für die Jazzgeschichte. Tief kann das alles nicht gehen, und das Buch lebt neben den kurzen Annäherungen an die Kunst der Musiker vor allem von den Abbildungen.

Der Jazzkenner wird in diesem Buch also inhaltlich wenig Neues entdecken, wird immerhin auf den einen oder anderen Musiker verwiesen, der in seinem persönlichen Kanon vielleicht nicht denselben Stellenwert hat. Eine solche Auswahl ist nun mal immer persönlich, und eigentlich ist es müßig, sich an den Entscheidungen des Autors zu reiben. Allerdings irriert dann doch, dass Belhomme in seiner Auswahl kaum die Chance ergreift, die Heldengeschichte des Jazz vielleicht auch mal in Frage zu stellen, dass er sie stattdessen als eine Geschichte männlicher und meist amerikanischer Künstler fortschreibt. Naja, unter den 150 portraitierten Musikern befinden sich immerhin siebzehn Nicht-Amerikaner, allerdings nur sechs Frauen, und unter diesen nur zwei Instrumentalistinnen. Nicht einmal Django Reinhardt oder Mary Lou Williams fanden Eingang in Belhommes Tableau des Jazz. Man mag das als lässliches Versehen entschuldigen, ein Buch selbst diesen Umfangs kann schließlich nicht alles abdecken. Und doch ist es schade, dass Jazzgeschichte im Jahr 2017 immer noch nach alten Mustern erzählt wird, insbesondere durch einen Autoren, der den Jazz eigentlich als eine Musik der Offenheit und Vielfalt versteht.

Fazit: Man sollte sich also nicht zu tief hineinvertiefen in die Auswahlentscheidungen Belhommes, sollte stattdessen die schön layouteten Seiten genießen, die Hörerinnerungen hervorrufen oder neugierig machen auf neue Hörentdeckungen. Und die Lektüre als Aufforderung verstehen, als Leser seine eigenen Namen hinzuzufügen und auch für diese fünf Alben auszuwählen, die Jazzgeschichte aus einer noch anderen Perspektive wahrnehmbar werden lassen.

Wolfram Knauer (Februar 2018)


Commemoration of the Centenary of the arrival of the African-American military bands in France during World War I
von Dan Vernhettes
Saint-Etienne-du-Rouvray 2017 (Jazz’edit)
54 Seiten, 20 Euro
Bestellungen unter http://www.jazzedit.org/English/Centenaire/Centenaire%201918.html

Im Februar 2018 jährt sich zum 100sten Mal die Ankunft afro-amerikanischer Regimenter in Europa. Das 15. Regiment der New York National Guard, das in Frankreich als 369stes Regiment der IV. französischen Armee zugeordnet wurde, kämpfte an der Front, kam bis zum Rhein und wurde nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten als Harlem Hellfighters gefeiert. Zu dem Regiment gehörte eine Militärkapelle, die von Ltd. James Reese Europe geleitet wurde und deren Mitglieder nicht nur Musik machten, sondern auch aktiv mitkämpften. Neben der Tatsache, dass hier Soldaten für Demokratie und Freiheit kämpften, die zuhause Segregation und Rassismus zu erdulden hatten, ist vor allem die Tatsache bemerkenswert, dass Europe und seine Band wahrscheinlich den ersten Jazz nach Europa brachten. Dass diese Musik mit der Art von Jazz wenig zu tun hatte, die bald auf Schallplatten erschien und weltweit begeistert aufgenommen wurde, dass der Marschkapellen-Charakter deutlich stärker war als die Improvisation kleinerer Besetzungen, führte dazu, dass die Jazzgeschichte oft genug höchstens von „Proto-Jazz“ sprach. Und doch ist es die Spielhaltung dieser Bands, die von ihr als wohl erster Jazzerfahrung für viele europäische Zuhörer sprechen lässt. Vom 1. Januar 1918 bis zum 13. Januar 1919 waren europe und seine Band in ganz Frankreich zu hören, in Brest, wo sie per Schiff anlandeten (und wieder abreisten), sowie in Orten wie Saint-Nazaire, Aix-les-Bains, Givry, Maffrécourt, Châlons, Paris, Vouziers, Bladhelsheim, Belfort und Les Mans. Aus Anlass des Zentenariums findet im Februar 2018 in Nantes eine Konzertreihe und eine kleine Konferenz statt. Zuvor hat der französische Jazzhistoriker Dan Vernhettes ein lohnenswertes und reich bebildertes Buch herausgegeben, das die Stationen von Europes Hellfighters Band sowie die anderer, weniger bekannter afro-amerikanischer Armeekapellen in Europa im I. Weltkrieg oder kurz danach verfolgt.

Vernhettes beginnt mit einem Überblick über zeitnahe Begegnungen amerikanischer Jazzbands mit einem europäischen Publikum, sowie über den Eintritt der Vereinigten Staaten in den „Großen Krieg“. Er beschreibt das Camp Pontanézen in Brest, in dem am 12. November 1917 die ersten amerikanischen Truppen anlangten, und beziffert die Soldaten in den 27 afro-amerikanischen Regimentern auf 42.000, darunter immerhin ca. 1.000 Musiker, die in den Armeekapellen Dienst taten. Er widmet sich Jim Europes Biographie, der 1880 in Mobile, Alabama, geboren wurde und um die Jahrhundertwende nach Washington, D.C., zog. Europe arbeitete als Pianist, Geiger und Dirigent für verschiedene Varietéshows und machte sich ab 1903 auf der New Yorker Musikszene einen Namen. Dort setzte er sich auch für eine Interessenvertretung für afro-amerikanische Musiker ein und gründete 1910 den Clef Club, der ein eigenes Symphony Orchestra organisierte und Musikern in der ganzen Stadt Arbeit vermittelte. Bald begleitete seine Band das populäre Tanz-Duo Irene und Vernon Castles, für die er Stücke im Repertoire hatte, die er auch auf Schallplatte aufnahm. Noch vor Kriegseintritt der Vereinigten Staaten meldete er sich im September 1916 zusammen mit dem Sänger Noble Sissle freiwillig zum Wehrdienst, ein halbes Jahr später wurde er damit beauftragt, „die beste Militärkapelle der Vereinigten Staaten“ zu organisieren. Per Zeitungsannonce suchte Europe Musiker im ganzen Land und reiste sogar nach Puerto Rico, um dort Instrumentalisten zu rekrutieren. Am 22. Juni 1917 gab die Kapelle ihr erstes Konzert im New Yorker Manhattan Casino vor 4000 Zuhörern, im Monat darauf wurden die Mitglieder in den aktiven Dienst berufen.

Vernhettes beschreibt, wie diese Kapelle im Januar 1918 in Brest ankam und wie sie und alle anderen afro-amerikanischen Soldaten in den französischen Dörfern und Städten, durch die sie kamen, willkommen geheißen wurden. In Orten wie Aix-les-Bains blieben sie einen vollen Monat, gaben Konzerte in Parks, Krankenhäusern und im Kasino. Im März wurde das Regiment, dem die Band angehörte, unter die Befehlsgewalt der französischen Armee gestellt und die weitere Ausbildung der Soldaten von französischen Offizieren übernommen. Zwischenzeitlich wurde Europe den kämpfenden Truppen zugeteilt und war der erste schwarze Offizier, der Truppen in den Grabenkämpfen kommandierte. Vernhettes hat etliche Fotos gefunden, die die Band in Aktion zeigt, teils bei Konzerten für das zivile französische Publikum, teils für Mitglieder der US-Armee. Es gibt ein Foto, dass einzelne Musiker neben einem Schlagzeug zeigt, auf dem deutlich „Jass Band“ zu lesen steht, das damit klar macht, dass der musikalische Grat zwischen Jazz und sonstiger Musik zumindest für die Musiker nicht sonderlich hoch war. Im September 1918 waren etliche der Soldaten an der großen Schlacht zwischen Verdun und Reims beteiligt, im November erreichten sie den Rhein. Im Dezember erhielten Europe und andere Mitglieder des 369sten Regiments das Croix de Guerre, im Januar 1919 kehrten sie alle zurück nach New York, wo sie mit einer großen Parade empfangen wurden. Ein kurzer Einschub beschreibt die Aufnahmen, die Europes Band 1919 für das Pathé Label machte, und in einem Nachsatz beschreibt Vernhettes, wie Europe während eines Konzerts im Mai 1919 vom Schlagzeuger der Band erstochen wurde.

Die Hellfighters schrieben Geschichte, aber Vernhettes ist es auch wichtig auf andere Bands hinzuweisen, die zur selben Zeit in Frankreich zu hören waren. Er fasst zusammen, was über die weiteren Regimentskapellen zu finden ist, beschreibt das Wirken etwa der Bands unter Leitung von Tim Brymn, George Dulf und Will Vodery. Ein kurzer Ausblick widmet sich dem Wirken des Schlagzeugers Louis Mitchell, des Sängers Noble Sissle und des Pianisten und Bandleaders Sam Wooding, die alle ihren Anteil an der Popularisierung von Jazz und afro-amerikanischer Musik in Europa in den Jahren direkt nach dem 1. Weltkrieg hatten.

Dan Vernhettes Buch ist überaus reich bebildert und fasst lesenswert zusammen, was über die Aktivitäten afro-amerikanischer Militärkapellen in den Jahren zwischen 1917 und 1919 zu finden ist. Er geht nicht weiter auf die Frage ein, inwieweit die Musik Europes und anderer als „Jazz“ zu werten ist oder damals als „Jazz“ rezipiert wurde, diskutiert in seinen knappen Anmerkungen zu den Aufnahmen James Reese Europes immerhin, wie sich deren Musik zwischen Vorbildern wie John Philip Sousa und Arthur Pryor und dem instrumentalen Ragtime der Zeit bewegten. Das lesenswerte Büchlein ist allemal ein würdiger Tribut an das hundertjährige Jubiläum der Ankunft des Jazz in Europa.

Wolfram Knauer (Februar 2018)


Jazz in Concert. Mein Leben als Konzertveranstalter
von Oskar Riha & Susanne Schulzke-Riha
Ludwigshafen 2017 (Rosamontis Verlag)
275 Seiten, 19,80 Euro
ISBN: 978-3-940212-87-0

1994 entschloss sich Oskar Riha, Gitarrenlehrer aus Memmingen im Allgäu, ein Konzert mit dem Trio des Schlagzeugers Paul Wertico zu organisieren, der in den 1980er und 1990er Jahren in der Band des von Riha so bewunderten Pat Metheny mitgewirkt hatte. Aus dem einen Konzert wurden bald mehr, und vier Jahre später gründete er einen Verein, JAMM, Jazz & More Memmingen, um Verstärkung für die vielen Aufgaben zu haben und zugleich besser Fördergelder einwerben zu können. Mit JAMM brachte Riha die nächsten 18 Jahre über viele namhafte Musiker der amerikanischen wie europäischen Jazzszene in die kleinen Stadt im Allgäu, bis sich der Verein 2016 auflöste und er sich selbst von Konzerte-Organisieren zurückzog.

Jetzt erinnert sich Oskar Riha in dem von seiner Frau Susanne Schulzke-Riha verfassten Buch an die vielen Begegnungen mit Stars, an die Freuden und die oft unvorhergesehenen Probleme, die diese Konzerte mit sich brachten, und er lässt seine Leser dabei teilhaben an den alltäglichen, den spontanen und absurden Erlebnissen, denen sich (insbesondere ehrenamtliche) Konzertveranstalter immer mal wieder ausgesetzt sehen.

Riha ist dabei, wie man der Lektüre anmerkt, immer ein Fan dieser Musik geblieben. Er liebt den Jazz, und er hat klare Präferenzen für das, was er präsentieren will. Selbst Gitarrist schlägt sein Herz natürlich für Metheny, Ralph Towner, John Abercrombie oder Robben Ford, daneben aber auch für Charlie Haden, Charles Lloyd, Bill Evans, Brad Mehldau, Michael Wollny, Jan Garbarek und andere mehr.

Über die Jahre erarbeitete er sich ein Publikum, das teils aus der Region stammte, für die Memminger Events teils aber auch aus der Ferne anreiste. Der Ruf seiner Konzertreihe sprach sich bei anderen Veranstaltern in Deutschland genauso herum wie bei Musikern international. Riha schaffte es nach und nach ein Netzwerk zu bilden mit Künstlern, Agenturen, Veranstaltern und vielen anderen, die er durch sein Engagement überzeugen konnte und die ihm helfen wollten, die Konzerte zu Erfolgen werden zu lassen.

Rihas Buch handelt also von all dem, was auch dazugehört, um die Musik erklingen zu lassen. Es handelt von Verträgen, von Gagenverhandlungen, von technischen Ridern, von Backlines und von vertraglich festgehaltenen Sonderwünschen aller Art. Es handelt von dem Bemühen, den Künstlern einen guten Aufenthalt und die besten Spielmöglichkeiten zu bieten, und es handelt davon, wie schwer all das sein kann, wenn man keinen festen Veranstaltungsort zur Verfügung hat und sich um alle zusätzlichen Details neben dem Brotberuf kümmern muss. Riha beschreibt lebhaft, wie er über die Jahre Erfahrungen sammeln konnte, wie er mit Problemen umging und sie meistens erfolgreiche meisterte, und wie die Künstler, die er zu betreuen hatte, seinen ganz persönlichen Einsatz in der Regel auch zu schätzen wussten.

Der Jazz lebt, wie wenige andere Sparten des Musikgeschäfts, von genau solchen engagierten „Verrückten“ wie Oskar Riha. Er lebt davon, dass es eine flächendeckende Struktur von Kleinveranstaltern und ehrenamtlichen Initiativen gibt, deren Mitglieder Konzerte in erster Linie deshalb veranstalten, weil sie die Künstler in ihrer Region sonst nie hören könnten. Oskar Rihas Buch bringt einem die Freuden genauso wie die Beschwernisse dieses Engagements anschaulich vor Augen, und Riha streicht neben der großartigen Musik, die er erleben konnte, immer auch heraus, wie befriedigend die Begeisterung des Publikums für ihn war. Sein Buch, das genauso über hervorragende Konzerte berichtet wie über Freundschaften, die er über die Jahre mit „seinen“ Künstlern schließen konnte, ist für Memminger ein einziges Erinnerungsalbum, für alle anderen ein Beispiel für die ehrenamtliche Arbeit von der die hiesige Jazzszene auch lebt, und außerdem eine schnelle und überaus vergnügliche Lektüre.

Wolfram Knauer (Februar 2018)

PS: Lieber Oskar Riha: Es gibt einen Unterschied zwischen Roadies und Rowdies (S. 110), aber ich habe herzhaft gelacht!


Joe Sydow und „Kleopatra“
herausgegeben von Martina Schmoll
Hamburg 2017 (Fokumala Verlag)
100 Seiten, 39 Euro (Selbstkostenpreis, plus Porto)
Bestellung über info@fokumala.de

Der Bassist Joe Sydow verstarb am 3. Januar 2018 im Alter von 91 Jahren. Er konnte das Erscheinen des Bildbandes gerade noch miterleben, den Martina Schmoll aus mit Dokumenten über seine Karriere, Zeitungsartikeln über seine musikalischen Aktivitäten, privaten Fotos und Gedichten zusammengestellt hat, die Sydow seit seiner Jugend gerne schrieb und durchaus auch gerne vortrug. Das Ergebnis ist ein liebevoll layoutetes und sehr persönliches Buch, keine kritische Dokumentation, sondern eine freundschaftliche Erinnerung an ein reiches musikalisches Leben und an einen Hamburger Fan- und Freundeskreis, der ihm bis zum Schluss treu blieb.

Ekkehard Sydow kam 1926 in Rottach-Egern am Tegernsee zur Welt, und begann zu Schulzeiten klassischen Kontrabass zu spielen. Nach Kriegsende begann er seine Jazzkarriere in der Band von Klaus Gering, spielte dann von 1947 bis in die 1960er Jahre mit dem Orchester Kurt Edelhagen, daneben mit dem Geiger Helmut Weglinski. Ab den späten 1960er Jahren war er Bassist des NDR Tanz- und Unterhaltungsorchesters und gehörte damit fest zur Hamburger Jazzszene, die eher traditionell, also irgendwo zwischen New Orleans und Swing, ausgerichtet war. In den 1980er Jahren wirkte er bei Musicals mit und war 2010 im Film „Schenk mir dein Herz“ mit Paul Kuhn zu sehen, den er noch von seiner Jugend in Heidelberg her kannte.

All diese Stationen dokumentiert Martina Schmoll mit vielen Fotos, Zeitungsausrissen und liebevollen Anmerkungen. Da finden sich Erinnerungen an eine Nordafrikatournee Edelhagens, Korrespondenz mit der GEMA, die Kopie seines Vertrags für eine Aufzeichnung zum 25-jährigen Jubiläum der Edelhagen Big Band beim WDR, und Erinnerungen von Sydow und Mitmusikern an die Tücken des Musikerlebens und wie man sie meistert. Dazwischen immer wieder Gedichte, die Sydow über die Jahre verfasst hatte, und zwar zu allem und jedem: manchmal im Stile eines Eugen Roth, zu Themen wie dem pekuniären Wert des menschlichen Körpers, zu Ehrgeiz, Hunden, Parfum und Körpergeruch, zum Wert der Verlobung, aber auch über Orchesterleiter wie Alfred Hause und Franz Thon, über Mitmusiker wie Günter Fuhlisch und Ladi Geisler.

Man sollte bei alledem also keine zusammenhängende Biographie erwarten, sondern vor allem eine Sammlung von Anekdoten. Bei alledem – und wissend, dass es ihr um die Würdigung eines Freundes ging und eben nicht um die lückenlose Dokumentation seiner Karriere – erlauben die von Martina Schmoll gesammelten Erinnerungen dennoch einen Einblick ins Schaffen eines über die Jahre verlässlichen Musikers, der im Hintergrund den deutschen Jazz mit geprägt hat.

Wolfram Knauer (Januar 2018)


Modern Piano School. Klavier. Band 1+2. Schule für Jugendliche & Erwachsene
von Axel Kemper-Moll
Offenbach 2017 (Art Edition)
jeweils 76 Seiten
jeder Band: 19,90 Euro; Begleit-CDs je Heft: 10 Euro
ISBN: 978-3-947071-00-5 (Band 1)
ISBN: 978-3-947071-02-9 (Band 1)
www.modern-piano-school.de

Als erfahrener Klavierpädagoge hörte Axel Kemper-Moll von Kolleg/innen immer wieder, dass sie, um ihre Schüler/innen mit interessantem Material bedienen zu können, Notenmaterial aus unterschiedlichsten Quellen zusammenstückeln müssen. Ihm ging es in seiner täglichen Arbeit nicht viel anders, und so entschied er sich, eine eigene Klavierschule herauszugeben, in der all die pädagogischen Facetten enthalten sind, die ihm wichtig schienen: Ansätze an klassische Kompositionen also genauso wie an populäre Klavierstile, an Latin-, Blues- und Jazzstandards sowie überhaupt an das Thema der Improvisation.

Nach elementarem Grundwissen über die Tastatur, das Tonsystem, den grundlegenden Fingersatz und Körperhaltung folgt im ersten Band gleich der musikalische Spaß: zum Teil selbstgeschriebene Kompositionen, zum Teil Bearbeitungen klassischer Themen. Kemper-Moll erhöht den Schwierigkeitsgrad mäßig; er empfiehlt den Schülern die komplexeren Titel auf der zu den Heften erhältlichen CD zu hören, um die Melodien oder die Rhythmik im Zusammenhang zu erleben und sich aus dem Mix von Notenbild und Hörerinnerung an die Musik heranzuarbeiten. Viele Titel sind vierhändig gesetzt mit den schwereren Teil für den Lehrer, der etwa Wagners „Pilgerchor“ auffüllt oder Jacques Offenbachs „La Vie Parisienne“ den nötigen Schwung verleiht. Kemper-Moll weiß, wie sehr gerade Anfänger auf dem Instrument an feste Fingerhaltungen gewöhnt sind und erweitert die Klaviatur Stück für Stück um weitere Lagen, erläutert auch, wie erste technische Schwierigkeiten zu lösen sind (etwa das Verschieben des zweiten und fünften Fingers). Dem Lehrer bleibt es insbesondere in den jazzigeren Stücken aus Kemper-Molls Feder belassen, die vorgegebenen Lehrerstimme oder aber eine Begleitung aus den in der Schülerstimme benannten Harmoniesymbolen zu spielen. Der erste Band endet mit einem gerade für Klavieranfänger besonders wichtigen Kapitel: vier Weihnachtsliedern, von denen zwei allein und zwei mit dem Lehrer zu spielen sind (den aber vielleicht nicht jeder zur privaten Weihnachtsfeier im Kreis der Familie einladen mag).

Band 2 erweitert das Wissen um die Klaviertastatur nun deutlich um die bislang noch fehlenden Noten, um Pedale und Vorzeichen am Zeichenanfang, um Durtonleitern (wobei zum Schluss auch die Molltonleitern erläutert werden) und um die Einladung, dem Ohr genauso zu vertrauen wie den Augen (also hörend zu lernen, nicht nur lesend) und sich dabei bewusst zu sein, das Improvisation oder Fantasieren schon immer mit zur Musikausübung gehörte. Zu Beginn des Bands lässt Kemper-Moll seine Schüler jeden einzelnen Ton auf der Klaviatur identifizieren, ermutigt zum Erkennen der Lagen und ermutigt, sofern man einzelne Stücke zu können meint, die sich dazu anbieten, mit Rhythmik, Pausen und eigenen Melodien zu experimentieren. Er stellt die Pedale vor und zeigt ihren Einsatz am Beispiel des Gospels „Michael Row the Boat Ashore“. „Hit the Road Jack“ lässt ihn außerdem Swingachtel und Bluestonleiter einführen. Lehrer-/Schüler-Stücke sind in diesem Band schon seltener, und wenn (wie im „D Moll Menuett“ von Johann Sebastian Bach) sehr effektvoll gesetzt. Einen besonderen Schwerpunkt lenkt Kemper-Moll auf Fingerhaltung und Fingersätze und reißt knapp die Welt der Pentatonik an. Dann gibt es noch ein paar Vorführstücke: Auf Eigenes wie den „Tanz auf Hawaii“ oder „Tom’s Boogie“ folgt Bachs „Präludium C-Dur“ (unbearbeitet), eigene Stücke mit Anleihen aus irischer Folklore oder jiddischer Musik, Tschaikowski, Händel, und – mit all dem Üben ist wahrscheinlich wieder ein Jahr vergangen – weitere Weihnachtslieder, mit denen man die Familie beglücken kann.

Der geplante dritte Band wird sich stärker mit handwerklichen Grundlagen befassen und außerdem eine Anleitung zum Spiel nach Akkordsymbolen und zur Improvisation geben.

Kemper-Molls „Modern Piano School“ ist so angelegt, dass Langeweile eigentlich weder beim Lehrer noch beim Schüler aufkommen sollte. Sie bietet genug stilistische Abwechslung, einen behutsamen Fortgang der Unterrichts mit etlichen Möglichkeiten für die Klavierlehrer, die angerissenen Themen weiter zu vertiefen. Vor allem versucht Kemper-Moll in seiner Klavierschule immer wieder die Furcht vor den Noten auf dem Papier zu nehmen und den Schüler zu ermutigen, daneben seinem Ohr zu vertrauen.

Wolfram Knauer (November 2017)


The Jazz Repertoire. A Survey
von Jan J. Mulder
Almere/Netherlands 2017 (Names & Numbers)
598 Seiten, 45 Euro
ISBN: 978-90-77260-24-1
www.names-and-numbers.nl

Names & Numbers ist genau das: eine in den Niederlanden publizierte Zeitschrift, die sich der diskographischen Erforschung des Jazz widmet, also fragt, wer wann was aufgenommen hat, dabei Lücken in der Dokumentation des Aufnahmeschaffens vieler Künstler schließt, auf Fehler bisheriger Diskographien hinweist oder generelle Fragen darüber aufwirft, was Diskographien leisten können und leisten sollen. Eigentlich, sollte man meinen, ist gerade das Feld der Diskographie eines, das heutzutage am besten im Internet bearbeitet werden könnte, weil es hier auf die Vernetzung von unzähligem Einzelwissen ankommt, das insbesondere bei Sammlern vorhanden ist, die die Originalveröffentlichungen vor sich haben, in sie hineinhören und auf das Label oder, sofern vorhanden, auf die Plattencover schauen können. Tatsächlich gibt es mittlerweile eine Reihe an Datenbanken, die die ehedem in Buch- oder Zettelform (Brian Rust, Willem Bruyninckx, Tom Lord) publizierten Diskographien ablösen. Es gibt Mailinglisten, in denen Sammler sich genau über solche Fragen austauschen. Und es gibt vereinzelte Versuche kommentierbarer Diskographien, die das auch in Zeitschriften wie Names & Numbers gesammelte Wissen zusammenfassen und die Diskussionen über einzelne Aufnahmen dokumentieren können.

Names & Numbers also veröffentlicht neben seiner Vierteljahreszeitschrift ab und an Bücher, oft Diskographien einzelner Künstler oder Labels. Das wohl dickste Buch der bisherigen Reihe ist soeben erschienen, Jan J. Mulders „The Jazz Repertoire. A Survey“, in dem der Autor, selbst einer der fleißigsten Diskographen Europas, das Repertoire von Jazzmusikern in Augenschein nimmt, aufgelistet von „A“ wie „ABC Blues“ bis „Z“ wie „Zumba“.

Im Vorwort erklärt Mulder, dass er sehr bewusst vom Jazzrepertoire statt von Jazz Standards spricht, da etliche der Titel einem breiteren Publikum (und auch vielen Musikern) kaum bekannt sein dürften. Jeder Eintrag des Buchs ist mit Informationen über die Autoren (Text / Musik) und das ursprüngliche Veröffentlichungsjahr versehen. Eine knappe Kategorisierung indiziert, wie oft das Stück aufgenommen wurde (von „100-300 Mal“ bis „900-1100 Mal“, wobei zwei Titel, nämlich „Body and Soul“ und der „St. Louis Blues“ eine eigene Kategorie erhalten, nämlich „über 1100 Mal“. Und schließlich gibt es den Hinweis auf – meist zwischen drei und sechs – wichtige Künstler, die den betreffenden Titel aufgenommen haben. Es finden sich Verweise auf alternative Titelungen genauso wie kurze Erklärungen der Titel (etwa: „9:20 Special: die Uhrzeit der Aufnahme am 10. April 1941“ oder „Mahoganny Hall Stomp: ein Bordell in New Orleans“).

Das Ergebnis also ist eine ausführliche Listung von – nun ja, wieviel Titel es genau in Mulders Buch geschafft haben, wissen wir nicht. Und hier kommt dann auch die Kritik, die an die anfangs gemachten Anmerkungen zum Nutzen von Datenbanken anknüpft: So hilfreich dieses Buch auch zum schnellen Nachblättern über Titel ist ­– eine Art ausführlicherer Titelindex zu bestehenden Diskographien –, so wäre es ein Leichtes gewesen, zusätzliche Information zur Erhebung zu liefern, also etwa dazu, welches die Eckdaten sind, die der Autor berücksichtigt hat, wieviel Titel dieses Jazzrepertoire in Zahlen umfasst, vielleicht auch eine Aufgliederung der Menge an Titel nach Jahren oder wenigstens Jahrzehnten. All das wäre unter dem Untertitel „A Survey“ eigentlich zu erwarten und würde dem Forscher, der diese Datensammlung nutzen will, helfen, sie über die reine Listung hinaus einzuordnen. 40 weitere Seiten hätten wahrscheinlich gereicht, die gesammelten Daten nach verschiedenen Fragestellungen darzustellen. Ohne diese Information bleibt das Buch nicht mehr – aber eben auch nicht weniger – als ein gutes Nachschlagewerk zum Repertoire der Jazzgeschichte.

Wolfram Knauer (November 2017)


Long Play
von Arne Reimer
Köln 2017 (Buchhandlung Walther König)
248 Seiten, 39,80 Euro
ISBN: 978-3-96098-037-7

Arne Reimers zweibändige „American Jazz Heroes“ waren mehr als ein Fotobuch; in ihnen gingen die Bilder mit den Texten, die der Fotograf selbst verfasst hatte, eine Einheit ein, ergänzten sich gegenseitig, beleuchteten die Besuche Reimers bei den Giganten der Jazzgeschichte von unterschiedlichen Perspektiven. In „Long Play“ müssen die Fotos für sich sprechen. Reimer reiste für die vorgenannten Bücher ja viel durch die Vereinigten Staaten und besuchte – Plattensammler, der er ist -, wo immer er war, die Läden, in denen antiquarisch LPs gehandelt wurden. Von nichts anderem handelt „Long Play“, von der Aura der schwarzen Scheiben, von den Geschäften, in denen diese auf neue Liebhaber warten, und von den Kunden, auf die sie eine so unendliche Faszination ausüben.

Da sind Platten aufeinandergestapelt oder warten im Rack aufs Durchblättern. Ein Poster an der Wand preist Abtastsysteme und –nadeln an. Im Schaufenster oder an Wandregalen sind einzelne Plattencover aufgestellt, um das Publikum anzuziehen. Plattenspieler stehen bereit, damit man in das eine oder andere Exemplar hineinhören kann. Kunden mit Kopfhörern oder mit deutlichem Sucherblick tauchen völlig ab in die Welt der zu Vinyl erstarrten Musik. Man meint die Läden geradezu riechen zu können, Low-Budget-Geschäfte, oft eher provisorisch zusammengezimmert, in heruntergekommenen Hütten oder im Keller eines Hauses. Alles wirkt improvisiert, selbst da, wo statt Jazz Paul Anka oder Buddy Holly zum Verkauf steht. Überhaupt: Schallplatten, scheint es, sind das Medium vor der Genretrennung. Doch, da stehen Reiter mit Beschriftungen wie „Punk“, „Oldies“, „Vocals“, aber man ahnt, dass bei dem Durcheinander der Läden, bei den Hinguckern unter den Plattencovern, selbst der stilkonformistischste aller Käufer gern auch im Nachbarregal wühlt. Man ahnt, dass selbst bei zielgerichteten Sammlern die Plattencover Neugier mindestens genauso auslösen müssen wie die Hoffnung, endlich die noch fehlende Scheibe zu ergattern.

Und noch etwas fällt auf: Schallplatten sind ein Ding für junge Leute, und nicht nur für die DJs, die dabei etwas zum Sampeln und Mischen suchen. So wirken die Archivfotos, die am Schluss des Buchs Bilder aus den 1950er bis 1970er Jahren zeigen, als all diese Platten den Markt ursprünglich eroberten, auch wie ein seltsamer Kontrast: Von der Ware zum Kultobjekt. Seltener kam die Atmosphäre dieser Erfahrung so überzeugend rüber wie in diesem Buch, ganz ohne Erklärung, denn: Ein Essay von Ulf Erdmann Ziegler beschreibt zwar die Faszination des Plattensammelns, doch hielt die fürs Design Verantwortliche es hier leider für eine gute Idee, den Text in silbernen Buchstaben auf schwarzem Grund zu drucken. Und so ist man dankbar, dass das Buch gerade keinen Text benötigt, weil die Bilder alles sagen…

Wolfram Knauer (Oktober 2017)


The Original Blues. The Emergence of the Blues in African American Vaudeville
von Lynn Abbott & Doug Seroff
Jackson/MS 2017 8University Press of Mississippi)
420 Seiten, 85 US-Dollar
ISBN: 978-1-4968-1002-1

Der Blues ist eine der wichtigsten Grundlagen amerikanischer populärer Musik. Oft wird er vereinfacht als eine Art ländliche Volksmusik dargestellt, und tatsächlich liegt man mit dieser Beschreibung bei vielen seiner Protagonisten nicht ganz falsch. Im frühen 20sten Jahrhundert wurde der Blues allerdings auch zu einer wichtigen Bühnenmusik in den Varietés der Vereinigten Staaten, den Vaudeville-Shows, in denen bald auch Sängerinnen wie Ma Rainey, Bessie, Clara oder Trixie Smith zu hören waren. Lynn Abbott und Doug Seroff, die sich bereits in zwei vorausgegangenen Büchern mit der Frühgeschichte afro-amerikanischer Musik beschäftigt und dabei immer auch die Einbindung musikalischer Praktiken in die afro-amerikanische Community berücksichtigt haben, legen jetzt ein dickes Werk vor, das die Schnittstellen zwischen Blues und Showbusiness untersucht.

Im ersten Kapitel datieren sie die Geburt der schwarzen Vaudeville-Show ins Jahrzehnt zwischen 1899 und 1909, nennen Saloon-Theater etwa in Jacksonville, Tampa, Savannah, Louisville, New Orleans, Memphis oder Atlanta und beschreiben das Programm in solchen Shows, das Anklänge an die Minstrelshow des 19. Jahrhunderts besaß, sowie die Wahl des musikalischen Repertoires, das in ihnen zu hören war. Um 1910 gab es mehr als 100 kleine schwarze Vaudeville-Theater in den amerikanischen Südstaaten, die Tourneen von Texas nach Florida oder Virginia erlaubten und sogar dazu führten, dass Künstler aus Chicago oder dem Mittleren Westen in den Süden kamen, um hier zu touren.

Etwa um 1910 auch machte Butler May von sich reden, der als „String Beans“ große Bühnenerfolge als Sänger und Komiker feierte. Die Autoren verfolgen im zweiten Kapitel ihres Buchs die Karriere dieses Entertainers, der bald zusammen mit seiner Frau Sweetie Matthews unter dem Namen May & May auftrat und nicht nur im Süden der USA, sondern auch in New York und anderswo zu erleben war. Für eine Beschreibung der Musik müssen sie sich dabei auf zeitgenössische Presseberichte verlassen, da String Beans nie ins Studio ging. Sein Einfluss allerdings war riesig; nicht nur nahmen etliche Bluessängerinnen später Stücke aus seinem Repertoire auf und hielten etwa W.C. Handy, Jelly Roll Morton und andere große Stücke auf ihn, der „String Beans Blues“ wurde zudem in zahlreichen Aufnahmen zitiert.

Kapitel 3 beleuchtet männliche Bluessänger, die auf den Vaudevillebühnen im Süden auftraten, etwa Baby Seals, Charles Anderson und andere. Kapitel 5 erklärt, wie dieselben Bühnen dazu führten, dass Bluessängerinnen wie Ma Rainey und Bessie Smith populär wurden, die hier ihr Handwerk lernten. In einem Zwischenkapitel gehen die Autoren auf die Realität des Tourneelebens ein, beschreiben die Aufgabe von Agenturen wie T.O.B.A., der Theatre Owners Booking Association, die dafür sorgten, dass Künstler Anschlussengagements erhielten, die bei diesen allerdings nicht nur beliebt waren.

Kapitel 5 schließlich führt uns in die 1920er Jahre, als der Blues mehr und mehr auch ein kommerzielles Geschäft darstellte, beleuchtet die Folgen von „Shuffle Along“, jener rein afro-amerikanischen Show, die 1921 enorme Erfolge am Broadway feierte, aber auch außerdem die Auswirkungen der Schallplattenindustrie, die insbesondere schwarze Bluessängerinnen für ihre „race records“ entdeckte, also jenen Teil der Produktion, der sich primär an afro-amerikanische Käufer wandte. Die Autoren beschreiben geschäftliche Usancen, sowohl in Bezug auf Auftritte und Tourneen als auch in Bezug auf Plattenaufnahmen, nennen Gagen und Honorare und erzählen, wie viele der Künstler sich, insbesondere, wenn sie im Süden tourten, mit rassistischen Übergriffen konfrontiert sahen.

70 Seiten Fußnoten, ein ausführlicher Namens-, Titel- und Ortsindex belegen, wie akribisch Abbott und Seroff für ihr Buch recherchiert haben. In jedem Teilkapitel, in dem sie die Beziehung einzelner Künstler/innen mit den Vaudevillebühnen beschreiben, steckt so viel an neuen biographischen und kulturhistorischen Einsichten, dass man den Blues der 1920er Jahre und die Professionalität der vielen in dieser Musik aktiven Künstler/innen nach der Lektüre mit deutlich anderem Blick sieht. Eine ungemein gelungene Perspektivverschiebung also, die zudem reich bebildert und spannend zu lesen ist.

Wolfram Knauer (Oktober 2017)


Jazz and Art. Two Steps Ahead of the Century
von Sharon Jordan
Hamburg 2017 (Edel earbooks)
220 Seiten, 3 beigeheftete CDs, 49,95 Euro
ISBN: 978-3-9435-7331-2

Vor zwei Jahren zeigte das Kunstmuseum Stuttgart die sagenhafte Ausstellung „I Got Rhythm. Kunst und Jazz seit 1920“, die von einem ausführlichen Katalog begleitet wurde. Jetzt erscheint ein großformatiger Band der amerikanischen Kunsthistorikerin Sharon Jones, die sich ebenfalls – und, da es sich um keinen Ausstellungskatalog handelt, mit etwas mehr Freiheit bei der Auswahl der Abbildungen – mit dem Thema beschäftigt. Sie fragt, welche Wechselwirkungen Kunst und Jazz im 20sten Jahrhundert hatten, wie also der Jazz als Sujet in Gemälden auftaucht, wie auf der anderen Seite bildende Künstler Jazz als Inspirationsquelle für ihre Kunstwerke nutzten.

Jordan gliedert ihr Buch in eine Einleitung („Die Ursprünge der Moderne, 1960-1900“) und drei Großkapitel: „Ragtime und populäre Unterhaltung, 1900-1917“, „Das Jazz-Zeitalter in Europa und Amerika, 1920-1930“ und „Nachkriegskunst und Jazz, 1940-1990“. Innerhalb dieser Kapitel identifiziert sie Stilrichtungen, künstlerische Ansätze sowie konkrete Künstler, deren Verhältnis zum Jazz sie in Unterkapiteln herausarbeitet. Da geht es dann einerseits um Primitivismus, den deutschen Expressionismus, um Kubismus und Abstraktion, um Surrealismus, Bauhaus und Neue Sachlichkeit, oder um die „entartete Kunst“ und „entartete Musik“ im Dritten Reich, andererseits um Künstler wie Man Ray, Francis Picabia, Picasso, Aaron Douglas und Archibald Motley, Stuart Davis, Alexander Calder, Otto Dix, Max Beckmann, Piet Mondrian, Henri Matisse, Jean Dubuffet, Jackson Pollock, Romare Bearden, Roy DeCarava, Andy Warhol, Larry Rivers und Jean-Michel Basquiat. Sie alle werden reich bebildert mit teils ganzseitigen, teils kleineren Beispielen, bekannteren Exempeln genauso wie eher selten gezeigten.

„Jazz“, beginnt Jordan ihre inhaltliche Argumentation, „war die erste wirklich moderne Kunstform, deren Ursprung in Amerika liegt.“ Schnell wird klar, dass für ihr Thema eine differenzierte Sicht auf die Geschichte, die ästhetische und gesellschaftliche Haltung der Musik zu komplex ist und sie sich deshalb darauf beschränkt, Stereotype der Jazzgeschichtsschreibung als Kontext für das ihr eigentlich Wichtige, nämlich die Umsetzung der Musik in Farbe auf Leinwand, wiederzugeben. Also wird der Jazz wieder einmal (nur) in New Orleans geboren, das Schlagzeug spielt eine große Rolle, Ragtime heißt ursprünglich Stride (?), Kreolen sind hellhäutige Farbige und so weiter und so fort. Diese doch recht unbefangene Sicht auf Jazzgeschichte mag dem Jazzexperten stellenweise etwas zu klischeehaft sein, doch ist dieses Buch eher für den Neugierigen gedacht, der an beidem Spaß hat, Bildender Kunst des 20sten Jahrhunderts und Jazz. Die Individualitätsästhetik des Jazz begeisterte vor allem die modernen Bildenden Künstler, die ab dem Impressionismus ihre eigene Perspektive auf Kunst und Gesellschaft entwickelten. Jordan schildert anhand ihrer Unterkapitel, auf welche Diskurse innerhalb der Bildenden Kunst die Maler rekurrierten, welche Musikdarbietungen sie überhaupt sehen und hören konnten und welche ikonischen Konnotationen sie mit der Darstellung von Jazzszenen ansteuerten. Ihre Kapitel sind kurz und zusammenfassend, fokussiert auf die Rolle des Jazz für die Motivwahl, die Ausführung oder überhaupt fürs Denken der behandelten Künstler oder Stile. Sie zeigt, dass die Faszination mit dem Jazz in Europa genauso wie in Amerika Künstler beflügelte, bleibt in ihren Ausführungen weitgehend beschreibend, geht etwa in Bezug auf Action-Painting-Bilder etwa von Jackson Pollock aber auch auf die Transformation improvisatorischer Praktiken in die malerische Umsetzung ein.

Jordans Buch ist dabei eine durchaus lesenswerte Einführung ins Thema. Von Sonia Delaunay abgesehen, die in einem der Kapitel wenigstens kurz erwähnt wird, behandelt sie keine Künstlerinnen, sondern ausschließlich Männer. Neben der Lektüre aber kann der Leser sich vor allem über die beigehefteten CDs freuen, von denen jede einzelne für eines der drei Kapitel steht und diesen die passende Begleitmusik liefert. Von der Original Dixieland Jazz Band über Jelly Roll Morton und Fats Waller bis zu den Boogie-Woogie-Pianisten, von Louis Armstrong über Count Basie und Duke Ellington bis zu Marlene Dietrich und den Weintraub Syncopators, von Charlie Parker über Art Blakey und Miles Davis bis zu John Coltrane: Die Auswahl der Titel korrespondiert zur Erwähnung in einzelnen Unterkapiteln und hält den Leser bei der Stange, lässt ihn vielleicht weitere Facetten in den Abbildungen entdecken.

Und so ist „Jazz and Art“ trotz des etwas holzschnittartigen Verständnisses von Jazzgeschichte ein durchaus empfehlenswertes Buch für Jazz- genauso wie für Kunstfreunde, ein im wahrsten Sinne bunter und swingender Blick auf die Kunstdiskurse des 20sten Jahrhunderts und darauf, wie diese durch eine afro-amerikanische Kulturpraxis neue Impulse erhielten.

Wolfram Knauer (Oktober 2017)


The Art of Conduction. A Conduction Workbook
von Lawrence D. „Butch“ Morris (herausgegeben von Daniela Beronesi)
New York 2017 (Karma)
220 Seiten, 40 US-Dollar
ISBN: 978-1-942607-42-7

Dirigierte Improvisation: Der im Januar 2013 verstorbene Kornettist Butch Morris hatte sein Leben lang an diesem Traum gearbeitet: als Dirigent vor einem Ensemble jedweder Größe stehen zu können, das improvisiert, jedem einzelnen der Musiker seine individuelle Kreativität zu belassen und doch die Fäden all dessen in der Hand zu behalten und aus der freien Improvisation der Einzelnen eine gelenkte Improvisation des Ensembles zu machen. Das Spannende dabei: Keiner fühlte sich durch Morris‘ Dirigat eingeschränkt, alle empfanden das Ergebnis als ein eindrückliche Bündelung ihrer individuellen kreativen Energie. Morris hatte dafür quasi ein Alphabet an Handgesten entwickelt, die er einsetzte, egal ob er mit wenigen Musiker/innen oder mit übergroßen Ensembles arbeitete, und die er über die letzten zehn Jahre seines Lebens für das jetzt veröffentlichte Buch zusammenfasste.

Die Linguistin Daniela Veranesi traf Morris erstmals 2002, war fasziniert von seinem Konzept und organisierte bald Conduction-Workshops mit ihm in Italien. Kurz vor seinem Tod gab Morris ihr auf den Weg, das Buch fertigzustellen und bat sie, „Make it clear, elegant and ‚travelable'“. Nun ist es zum Reisen fast ein wenig zu umfangreich geworden, großformatig mit festen Seiten und festem Einband, aber die Klarheit und Eleganz ist auf jeden Fall da.

Nach Vorworten von Howard Mandel, der Butch Morris‘ Konzept in die Geschichte des Jazz und der afro-amerikanischen Musik einbindet, und der Herausgeberin, die erklärt, wieso sie diese Aufgabe übernahm und wie sie das Buch strukturierte, sowie Erfahrungsberichten des Posaunisten J.A. Deane und des Dichters Alan Graubard beginnt der eigentliche, Morris‘ Handschrift tragende und durch seine Erklärungen eingeleitete Teil.

Morris erklärt, was Conduction zu leisten in der Lage ist, wie er aus seinen Erfahrungen mit Conduction kreative Lehren gezogen habe in Bezug auf Musik und seine eigene musikalische Ausdrucksweise, aber auch in Bezug auf die teilnehmenden Musiker/innen, weil er Conduction als „Akt der Gemeinschaft“ versteht, an dem Musiker jedweden Hintergrunds teilnehmen können. Er erklärt die Aufgabe des Dirigenten, die Rolle der einzelnen Musiker/innen, die Gesamtheit des Ensembles, sowie die Notwendigkeit Geduld zu haben und Conduction als musikalische Praxis zu üben. Den Hauptteil des Buchs macht dann die Klassifikation der Handgesten aus, sortiert nach „Beginn und Ende gemeinsamer Aktion“, „Dynamik“, „Artikulation“, „Wiederholung“, „Rhythmik“, Tempo“, Tonalität und Tonhöhe“, verschiedene Arten der „Transformation“, herausragende „Events“, „Effekte bzw. Instrumentenspezifische Vorgaben“, und das Steuern einer Performance durch vorab notierte Passagen. Jede Geste erhält eine eigene Seite mit erklärenden Zeichnungen, Beschreibungen und Kommentaren. Schließlich folgen ein Interview mit Butch Morris sowie Notizen und Sketche aus Morris‘ Notizbüchern über die verschiedenen Aspekte von Conduction. J.A. Deane, der selbst Morris‘ Methode der Conduction verwendet, und Daniela Beronesi ergänzen das alles mit praktischen Übungen. Eine Chronologie führt die verschiedenen Conduction-Performances Butch Morris‘ von 1985 bis zu seinem Tod vor Augen und nennt die daran beteiligten Musiker/innen auf mehreren Kontinenten; eine Diskographie listet veröffentlichte Aufnahmen seiner Conductions.

Butch Morris hat mit der Conduction eine Ausdruckspraxis entwickelt, die das Ensemble als aus vielen Individuen bestehende improvisierende Einheit ernst nimmt. Sein Handbuch ermöglicht es Musiker/innen mit seinem Vokabular weiterzuarbeiten, es um eigene Gesten oder Ideen zu erweitern und diese fürwahr genre- und kulturüberschreitende kreative Praxis lebendig zu halten. Morris traf sich in den letzten Jahren seines Lebens jeden Montagabend mit Musiker im New Yorker Stone, von denen einige öfters dabei waren, andere zum ersten Mal, und jeder Workshop war zugleich ein neues Kennenlernen und eine neue Performance, die man, auch im Publikum, im gesamten gemeinsamen Entstehungsprozess erleben konnte. Daniela Veronesi ist mit der Herausgabe von „The Art of Conduction“ eine angemessene Umsetzung des Morris’schen Konzepts gelungen, ein Buch, dem zu wünschen ist, dass es von Musiker/innen auf der ganzen Welt – und durchaus auch in anderen Genres als dem Jazz – eingesetzt wird.

Wolfram Knauer (Oktober 2017)


For the Love of Music
Von Nathalie Lans
Amsterdam 2017 (Scriptum)
112 Seiten
ISBN: 978-94-6319-111-1

Das Konzept ist einfach: Natalie Lans bat 50 Musiker/innen, ihr zu sagen, was Musik für sie bedeutet. Die kurzen prägnanten Antworten machen, zusammen mit einer kurzen Biographie der Interviewten, die eine Hälfte einer Doppelseite aus, deren zweite Hälfte aus einem aussagekräftiges Konzertfoto von vier Fotografen und einer Fotografin besteht. Die ausgewählten Musiker stammen aus den Niederlanden und den USA, ihre Antworten sind jeweils in der eigenen Sprache abgedruckt, in Holländisch und in Englisch. Vom Pianisten Marco Apicello geht es also alphabetisch bis zum Saxophonisten Bart Wirtz, und ihre Antworten sprechen von der ungemein persönlichen Betroffenheit und Hingabe, die es verlangt, diese Musik zu machen.

Beispiele: „Ich sehe den Sound wirklich“ (Matt Wilson) – „Live das zu spielen, was man gedacht hat, und es mit seinem Publikum zu teilen. Magisch!“ (Jeffrey Spalburg) – „Afrikanische und afro-amerikanische polyrhythmische Sounds fließen durch meine Venen. Ich höre sie in der Natur, im Schlaf, in der Art und Weise, wie wir sprechen“ (Camille Sledge) – „Musik dringt bis in die Knochen vor, egal, ob es ein Instrument gibt, mit dem man sie ausdrücken kann oder nicht“ (Miron Rafajlovic) – „Musik zeigt das Innenleben des Menschen, das wir mit den Augen nicht sehen können; es zeigt das menschliche Herz“ (Steve Nelson) – „Ein Leben ohne Musik ist meine Vorstellung der Hölle!“ (Kit Morgan) – „Für mich ist Musik der Gesang der Vögel am Morgen“ (Chris Jagger) – „Musik ist eine Reflexion der menschlichen Existenz und ein Hauch Gottes“ (Gene Jackson) –“Musik bewegt mich, beruhigt mich, befreit meinen Kopf“ (Bernard Fowler) – „Musik kann das perfekte Zusammenleben sein“ (Ben van den Dungen) – „Musik beschreibt meinen wirklichen Charakter und meine Leidenschaft: meine Seele“ (Joseph Bowie) – „Musik ist mein Sauerstoff“ (Zep Barnasconi).

Allein diese Auswahl an Beispielen zeigt die Bandbreite der Künstler/innen, die Nathalie Lans bat, ihre eigene Philosophie über die Musik auszubreiten. Arrivierte und junge Musiker, internationale Stars und nationale Aufsteiger: Letzten Endes ist es egal, wen man fragt: Wenn Künstler sich intensiv mit den Gründen auseinandergesetzt haben, warum sie Musik machen, werden sie dazu etwas zu sagen haben.

Nathalie Lans‘ Buch ist ein schön layoutetes Coffeetable-Buch, zum Blättern mehr als zum In-einem-Stück-Lesen. Ein grundlegendes Verständnis der holländischen Sprache ist von Vorteil.

Wolfram Knauer (Oktober 2017)


Komponieren & Dirigieren. Doppelbegabungen als Thema der Interpretationsgeschichte
herausgegeben von Alexander Drčar & Wolfgang Gratzer
Freiburg 2017 (Rombach Verlag)
630 Seiten, 78 Euro
ISBN: 978-3-7930-9861-4

Es gab in der Musikgeschichte immer wieder Doppelbegabungen, Komponisten, die zugleich dirigierten oder Dirigenten, die zugleich komponierten. Mit diesem – zugegeben dennoch recht speziellen – Phänomen beschäftigt sich das vorliegende, von den beiden am Salzburger Mozarteum wirkenden Musikwissenschaftlern Alexander Drčar und Wolfgang Gratzer herausgegebene Buch. Die für den Band beauftragten Autoren sollten sich insbesondere auf drei Fragen konzentrieren: „(1) Welche Rolle spiel(t)en die Tätigkeiten des Komponierens und Dirigierens in der künstlerischen Entwicklung des jeweils thematisierten Künstlers? (2) Inwiefern lassen sich Wechselwirkungen zwischen den Tätigkeiten des Dirigierens und Komponierens dokumentieren? (3) Welche Entwicklung nahm bzw. nimmt die Rezeption dieser Doppeltätigkeit?“

Die Bandbreite des Buchs reicht von Joseph Haydn bis Johannes Kalitzke, von klassischer Musik über Neue Musik bis zur Filmmusik und zum Jazz. Den Jazz berühren dabei vor allem vier Kapitel, von denen der „Überblick über die Tradition von Komposition und Dirigat im Jazz“ von Wolfram Knauer (full disclosure: also dem Autor auch dieses Textes) versucht einige grundlegende Fragen zu klären darüber, was überhaupt Komposition im Jazz bedeutet und inwieweit diese sich von Komposition in insbesondere europäischen Musikgenres unterscheidet, welche Techniken des Dirigats Jazzmusiker von Count Basie über Duke Ellington bis zu Thad Jones oder Butch Morris verwandten, um dann in zwei Interviews mit Dieter Glawischnig und Mathias Rüegg deren Herangehensweise an die Themen Komposition und Dirigat zu diskutieren. Alexander Drčar spricht mit dem Posaunisten, Komponisten und Dirigenten Christian Muthspiel über die verschiedenen Anforderungen zwischen den Welten des Jazz und der klassischen Musik, die er zumindest in seiner Arbeit recht klar getrennt hält, aber auch über den Respekt des Dirigenten vor den Anweisungen des Komponisten und darüber, was er als Komponist aus seinen Erfahrungen als Dirigent gelernt hat. Joachim Brügge beschreibt, wie die Filmmusiken Bernard Herrmanns (etwa für Hitchcocks „Psycho“ oder „Die Vögel“) von seinen Erfahrungen als klassischer Dirigent profitiert hatten. Frédéric Döhl schließlich diskutiert in seinem Beitrag die Parallelen und Unterschiede in der Herangehensweise vierer klassischer Musiker – Antal Doráti, Igor Markevitch, André Previn und Lorin Maazel – von denen Previn auch einen Jazzbackground besitzt.

In seiner Gesamtheit gibt in diesem Buch viele kluge Hinweise darauf, wie wichtig ein Dirigat zur Umsetzung von (insbesondere klassischen) Kompositionen sein kann, wie die intime Annäherung an komponierte Werke zahlreiche Dirigenten dazu animierte, selbst kompositorisch tätig zu werden, wie auf der anderen Seite Komponisten, sofern sie zugleich dirigierten, ein verstärktes Bewusstsein für die Interpretation und Interpretierbarkeit auch ihrer eigenen Werke erhielten.

Wolfram Knauer (August 2017)


100 Jahre Jazz. Von der Klassik bis zur Moderne. Die größten Stars
von Philippe Margotin
Bielefeld 2017 (Delius Klasing Verlag)
424 Seiten, 59,90 Euro
ISBN: 978-3-667-10607-0

Endlich ein Buch zum 100sten Geburtstag des Jazz, das „größte Freude“ bereitet – allerdings nur, wenn man Spaß an Stilblüten und Fehlern auf gefühlt jeder einzelnen Seite hat!

Philippe Margotin hat bislang Bücher über die Beatles, die Rolling Stones oder Bob Dylan geschrieben; als Jazzautor dagegen tat er sich eher weniger hervor. Zum 100sten Jahrestag der ersten Jazzaufnahme hat er nun einen schweren Wälzer vorgelegt, ein dickes Buch mit zahlreichen Fotos, auf dem die Helden der einhundertjährigen Jazzgeschichte gefeiert werden. Margotin unterteilt diese Geschichte in eine „erste Epoche“ (New Orleans, Hot Jazz, Swingära) und eine „zweite Epoche“ (Bebop, Cool Jazz, Hard Bop, Neue Klangwelten). In dieses Raster passt er dann Portraits von 63 Künstlerinnen und Künstlern des Jazz ein (nun ja: 58 Künstlern und 5 Künstlerinnen, von denen bis auf Carla Bley alle Sängerinnen sind), den großen Namen des Genres, von Armstrong über Parker, Miles bis zu Coltrane. Ornette Coleman und die allzu experimentelle Fraktion fehlen, dafür werden zum Schluss mit Steve Coleman und Esbjörn Svensson noch zwei Musiker mit aktuellem Einfluss aufgenommen. Pro Musiker meist 6 Seiten: stichwortartige Lebensdaten, kurzer biographischer Essay, drei Fotos sowie eine einseitige Würdigung der musikalischen Stilistik des betreffenden Künstlers, oft anhand zitierter Fremdlektüre.

So weit, so gut, so erwartbar. Natürlich könnte man über die Auswahl der Portraitierten streiten, doch sind solche Entscheidungen nun wirklich Sache des Autors und akzeptabel, wenn ihre Bedeutung erklärt und ihr Schaffen sinnvoll in den Kontext der Jazzgeschichte eingepasst wird. Man mag sich über einige der Zuordnungen wundern – warum etwa werden Coleman Hawkins und Lester Young unter die Überschrift „Diven und Romantik“ sortiert und was hat Nat King Cole im Großkapitel „Hard Bop und Soul Jazz“ zu suchen? (S. 314) –, aber auch das wären Kleinigkeiten, vielleicht sogar interessante Schlaglichter, sofern der Rest stimmt. Bei Margotin aber stimmt so wenig, dass man geneigt ist, auch dem Rest zu misstrauen. Und als Rezensent hat man noch eine weitere Schwierigkeit: Man weiß zuweilen nicht, ob die Fehler dem Autor oder den beiden Übersetzerinnen anzulasten sind, die für eine eher holprige als spannende Lektüre verantwortlich zeichnen.

Vielleicht erklärt sich das grundlegende Missverständnis von Jazzgeschichte als einer Heldengeschichte ja bereits aus den Quellen, die Margotin in seiner Bibliographie angibt. Kein einziger Literaturhinweis, der nach 2000 publiziert wurde; eine erstaunlich unkritische Sammlung an Büchern von Journalisten und Jazzkennern der vorletzten Generation, aus einer Zeit also, als man Jazzgeschichte noch als eine Abfolge klar umgrenzter Stilistiken und genialer Einfälle einzelner Individuen darstellte, nicht als ein Ineinandergreifen persönlicher künstlerischer Aussagen, allgemeiner – und zwar weit über den Jazz hinausreichender – ästhetischer Diskurse, und wirtschaftlicher Zwänge. Mit solch einem Verständnis von Jazz und der völligen Unkenntnis aktueller Diskurse auch über Jazzgeschichte lässt sich wahrscheinlich kein anderes Buch schreiben. Selbst unter diesen Voraussetzungen allerdings ist „100 Jahre Jazz“ so voller Fehler, Ungenauigkeiten, Verallgemeinerungen und Stilblüten, dass man für knapp 60 Euro wahrlich Besseres erstehen kann.

Mehr wahllos als systematisch seien hier also ein paar Beispiele für die Sorglosigkeit angeführt, mit der das Thema behandelt wird: Dass Paul Whiteman als erstes Beispiel für „Die Swingära“ genannt wird (S. 65) ließe sich zumindest diskutieren (wird es aber nicht). Duke Ellingtons Orchester nennt Margotin eine „Swingband“ (S. 80), lässt dabei völlig außer Acht, dass dieses so ganz anders als die üblichen Swingorchester funktionierte, selbst wenn sich auch Ellington auf dem Markt der Swingmusik bewegte. Dessen „Black, Brown and Beige“, heißt es (S. 80), habe „länger als eine Stunde“ gedauert, wo es tatsächlich gut 45 Minuten waren. Und Benny Goodman, dessen problematische Führungsqualitäten Legende sind, wird unerklärterweise als ein „Menschenführer“ gelobt (S. 93).

Dass dem Lektorat etliche Tippfehler entgingen, zeigt, wie wenig sorgfältig hier auf allen Ebenen gearbeitet wurde. Da ist vom „Livery Staple Blues“ die Rede (S. 59), wird „Joachim-Ernst Behrendt“ mit „h“ geschrieben (S. 87) und „Miles Davies“ mit einem zusätzlichen „e“ (S. 142). Und Bennie Motens Aufnahme „Prince of Wails“ heisst eben nicht „Prince of Wales“ (S. 97). Auch inhaltlich reicht es von flüchtig bis ignorant: Sonny Greer spielte nie bei Count Basie (S. 98) – das war Sonny Payne. Und wenn man schon die Basie-Rhythmusgruppe heraushebt, ist es irreführend, die erste Besetzung mit Clifford McYntire (!), Walter Page und Jesse Price zu erwähnen, Freddie Green aber nur in einem Halbsatz zu streifen (S. 98) und auf die Bedeutung von Jo Jones ebenfalls nicht hinzuweisen. Dass Bobby Hackett im Artikel über Glenn Miller als „Trompeter und Gitarrist“ identifiziert wird (S. 117), ist zwar richtig, aber irreführend. Und Jan Garbarek in der Überschrift zum ihn betreffenden Artikel „Ethno-Jazz auf dem Altsaxophon“ zuzuschreiben (S. 392), verfälscht das Hauptinstrument des Saxophonisten. In letzterem Fall mag man fast schon entschuldigend ahnen, dass vielleicht jemand das gebogene Sopran auf dem Bild gegenüber falsch identifiziert haben mag – aber ist das wirklich eine Entschuldigung?

Dizzy Gillespie reiste nicht im Auftrag des Weißen Hauses (S. 232, 236), sondern in dem des amerikanischen State Department in den Mittleren Osten. Dass Fats Waller andererseits „eine Weile in Paris“ lebte (S. 124) ist übertrieben – er verbrachte 1932 vielleicht anderthalb Monate in Frankreich, eher also eine Art ausgedehnten Urlaub. Keine Ahnung, wer für das großartige Foto von Illinois Jacquet verantwortlich zeichnet, das den Artikel zu Roy Eldridge ziert und auf dem Jacquet als der Trompeter identifiziert wird, obwohl er doch eindeutig ein Saxophon bedient (S. 157; ein Auge und der Haaransatz Eldridges ist immerhin abgebildet). Das Foto von Al Grey im Artikel zu J.J. Johnson (S. 249) wird im Untertext wenigstens richtig identifiziert, nur: Warum? Warum nicht eher Kai Winding? Dass der Autor es als eine wichtige Information über Billie Holiday erachtet, dass sie keinen Sex mit Lester Young gehabt habe (S. 198), mag man ebenfalls unter der Rubrik „Warum?“ verbuchen. Und Coleman Hawkins‘ Aufnahme von „I’ll Be Glad When You’re Dead, You’re Rascal You“ ist nur ein einziges Stück und nicht zwei, wie auf S. 209 zu lesen ist.

Andere Fehler sind klar den Übersetzerinnen zuzuschreiben. „Die Revue Negrè“ hieß genauso und nicht „Black Revue“ (S. 47), und Teddy Hills „Revue ‚The Cotton Club Show'“ (S. 235) hieß tatsächlich „The Cotton Club Revue“. Was die Überschrift „Rückkehr zur Gnade“ im Artikel zu Sidney Bechet (ebenfalls S. 47) zu bedeuten hat, erschließt sich wahrscheinlich erst, wenn man die französische Originalausgabe des Buchs zur Hand hat. Ähnliches gilt für die Überschrift „Riverboats in Harlem“ im Artikel über Henry Red Allen (S. 147), die wahrscheinlich „Von den Riverboats nach Harlem“ heißen sollte. Über eine frühe Charlie Parker-Aufnahme zitiert Margotin Ross Russell: „Der Hootie Blues verursachte bei allen Musikern, die ihn zunächst nur zufällig hörten, einen Aufruhr…“ (S. 231) – so weit im Buch hat man allerdings die Lust zur Nachforschung darüber verloren, was Russell wohl wirklich geschrieben hat, und ergibt sich in der Erkenntnis, dass im Verlauf der „Stillen Post“, der Mehrfachübersetzung (englisch – französisch – deutsch) also, irgendetwas, im schlimmsten Fall einfach der Sinn, verloren gegangen ist. Begriffsübertragungen wie „falscher Fingersatz“ für „false fingering“ im Artikel über Bix Beiderbecke (S. 61) machen im Deutschen keinen wirklichen Sinn, und was die auf derselben Seite erwähnten „synonymen Noten“ sein sollen, mag man erahnen, der Nutzwert solch innovativer Übersetzungen ist für den Leser allerdings eher gering.

Über Dizzy Gillespie heißt es: „Und schließlich zeigte Dizzy Gillespie mit seinem leichthändigen Umgang mit dem Spott, ja manchmal sogar ausgesprochenem Blödsinn, dass man sehr wohl Jazz spielen konnte, ohne sich allzu ernst nehmen zu müssen“ (S. 237) – Gillespies Bühnenscherze allerdings hatten weder mit Spott noch Blödsinn etwas zu tun, sondern mit Traditionen des afro-amerikanischen Showbusiness. Ob es so passend ist, Django Reinhardt in einer Zwischenüberschrift „erfolgreiche Kriegsjahre“ zu attestieren, ist letzten Endes nicht nur Geschmackssache. Auch die Zwischenüberschrift „Die Qualen der künstlichen Paradiese“ im Artikel über Charlie Parker (S. 230) lässt den Leser ratlos zurück. Warum „die Geistlichen in der Baptistenkirche [Duke Ellingtons] Botschaft [in dessen Sacred Concerts] allerdings nicht verstanden“ (S. 80) blieb diesem Rezensenten unklar, wie überhaupt die Beschreibung von Ellingtons Stil (S. 81) hilflos wirkt und seiner Musik nicht wirklich nahe kommt.

Und so geht es durch das gesamte Buch: Eine Mischung aus Fehlern, Nachlässigkeiten, mangelndem Fachwissen oder mangelnder Recherche auf allen Ebenen der Produktion, dass es wirklich nur zwei Empfehlungen gibt: Für den jazzinteressierten Laien: Finger weg!!! Für den Jazzkenner: Warten, bis das Buch im modernen Antiquariat gelandet ist (das kann nicht so lange dauern), dann kaufen und mit Genuss weitere Stilblüten entdecken!

Wolfram Knauer (Juli 2017)


The Cambridge Companion to Duke Ellington
herausgegeben von Edward Green
Cambridge 2014 (Cambridge University Press)
296 Seiten, 29,99 US-Dollar (Paperback)
ISBN: 978-0-521-70753-4

Duke Ellington Studies
von John Howland
Cambridge 2017 (Cambridge University Press)
308 Seiten, 75 Britische Pfund (Hardcover)
ISBN: 978-0-521-76404-9

Neben Charlie Parker ist Duke Ellington wahrscheinlich der am meisten untersuchte Musiker der Jazzgeschichte. Sein kompositorisches Œuvre, sein Umgang mit Klangfarben, sein Einsatz einzelner Musiker, die Wandlung seiner musikalischen Sprache über mehr als fünf Jahrzehnte bieten mehr als genug Stoff für Untersuchungen aus allen möglichen Perspektiven. Jetzt sind innerhalb von nur zweieinhalb Jahren gleich zwei Sammlungen solcher Perspektiven beim Verlag Cambridge University Press erschienen. Die Herausgeber Edward Green und John Howland planten die beiden Bände ursprünglich als einander ergänzende Bücher, die dann in ihrer Konzeption ein Eigenleben entwickelten und so unabhängig voneinander veröffentlicht wurden.

Im von Edward Green herausgegebenen „Cambridge Companion“ wird Ellingtons Schaffen in 19 Kapitel abgehandelt, die ihn zum einen in den ästhetischen Kontext seiner Zeit einordnen sollen, zum zweiten seine Rezeption beleuchten und schließlich auf sein musikalisches Schaffen mit Bezug auf die Jazztradition eingehen. Wo dieses Buch zumindest in Teilen noch chronologisch angelegt ist, steht in den von John Howland herausgegebenen „Duke Ellington Studies“ tatsächlich die Perspektive im Vordergrund: auf seine Musik, auf die Kritik, auf seine Rezeption in Großbritannien, auf seine Manuskripte, auf sein Konzept von Afrika, auf wegweisende Komposition und Alben wie etwa „Such Sweet Thunder oder „A Drum is a Woman“.

Als Autoren konnten beide Herausgeber ausgewiesene Ellington-Kenner genauso gewinnen wie weitsichtige Musikwissenschaftler oder Journalisten. In Howlands Buch etwa fragt David Berger nach dem Unterschied zwischen Komposition und Rekomposition in Ellingtons Werk, blickt Brian Priestley auf Ellingtons Reisen ins Ausland und verstehen Olly Wilson und Trevor Weston Ellington als eine kulturelle Ikone. In einem eher historischen Block betrachtet Jeffrey Magee Ellingtons afro-modernistische Vision der 1920er Jahre, Andrew Berish die Zeit zwischen Anpassung und Experiment in den 1930ern, Anna Harwell Celenza die Blanton-Webster Band sowie die Carnegie-Hall-Konzerte, Anthony Brown die 1950er und Dan Morgenstern die 1960er und 1970er Jahre. Die analytisch interessantesten Kapitel kommen zum Schluss, wenn Benjamin Givan auf die Bluesbehandlung beim Duke eingeht und Walter van de Leur auf die musikalische Beziehung zwischen Ellington und Billy Strayhorn, wenn Bill Dobbins Ellingtons Einfluss aufs Jazzklavier beleuchtet und Marcello Piras seine fast programmatischen Kompositionen, wenn Will Friedwald ihn als einen eher zufälligen Songschreiber charakterisiert, David Berger die Suiten des Duke miteinander vergleicht und Benjamin Bierman seinen Einfluss auf die Nachwelt untersucht.

Dobbins und Van de Leur sind auch in den „Duke Ellington Studies“ präsent, Dobbins mit einer Studie, die Dukes Klavierstil analysiert und Van De Leur mit einem Blick auf die Manuskripte in der Duke Ellington Collection der Smithsonian Institution. Phil Ford analysiert Ellingtons Selbstdarstellung als Afro-Amerikaner in frühen Filme und vergleicht diese mit der Selbstdarstellung des Präsidenten Barack Obama. John Howland hinterfragt die Interpretation Ellingtons in der frühen Jazzkritik als „ernsthafter“ Jazzkomponist, Catherine Tackley verfolgt die Jazzrezeption des Duke über die Jahrzehnte in Großbritannien. David Schiff blickt hinter die auch politische Bedeutung des Albums „Such Sweet Thunder“, Gabriel Solis auf die Auswirkung des LP-Formats auf Ellingtons Œuvre, Carl Woidecks auf Ellingtons Bild von Afrika, wie es sich in seiner Musik abbildet, und John Wriggle auf „A Drum Is a Woman“ als „Mother of All Albums“

Beide Bücher richten sich auf wohltuende Art und Weise an Experten und interessierte Fans gleichermaßen. Sie sind nicht als Biographien des Duke gedacht, sondern als Versuch, sein Werk aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit unterschiedlichem Fokus zu beleuchten. Sie sind ausführlich annotiert und belegen auch damit das Eingangsstatement dieser Rezension: dass nämlich Ellington schon lange nicht nur ein Säulenheiliger der Jazzgeschichte, sondern auch einer der Jazzforschung ist.

Wolfram Knauer (Juni 2017)


New Jazz Conceptions. History, Theory, Practice
herausgegeben von Roger Fagge & Nicolas Pillai
New York 2017 (Routledge)
209 Seiten,110 Britische Pfund
ISBN 978-1-84893-609-6

„New Jazz Conceptions“ hieß das Debütalbum von Bill Evans aus dem Jahr 1956 (nicht 1957 übrigens, wie die Herausgeber dieses Buchs in ihrem Vorwort schreiben), ein Album, das, so zumindest kann man im Rückblick sagen, tatsächlich etwas Neues heraufbeschwor im Jazz, sei es die sehr spezielle und enorm einflussreiche Spielweise des Pianisten, sei es ein neues Ineinandergreifen der Instrumente innerhalb der Klaviertrio-Besetzung im Jazz. „New Jazz Conceptions“ hieß auch eine Konferenz an der University of Warwick im Mai 2014, deren Vorträge jetzt in Druckform vorliegen. Die Organisatoren und Herausgeber dieses Buchs Roger Fagge und Nicolas Pillai sind Vertreter der „New Jazz Studies“, eines Zweigs der Jazzforschung, der in den letzten Jahren versucht, sich zum einen stärker auf einzelne Facetten der Jazzgeschichte und ihres Umfelds zu fokussieren, der auf der anderen Seite den interdisziplinären Diskurs insbesondere auf den Jazz praktiziert. Eine solche neue Art von Jazzforschung, schreiben die Herausgeber, reagiere auf Veränderungen in der Musik, sei sich aber auch bewusst, dass sie Verantwortung dafür trage, wie wir die Musik in der Zukunft verstehen. Die Auswahl der Beiträge zur ersten Konferenz könne nur genau das sein, eine Auswahl verschiedener Ansatzpunkte, nehmen sie dann eine offenbar bereits erahnte Kritik vorweg, zu der wir dann zum Schluss auch gerne kommen werden.

Tim Wall widmet sich in seinem Beitrag einer Livesendung mit dem Duke Ellington Orchestra vom 14. Juni 1933 durch den BBC und fragt dabei, was diese Ausstrahlung einerseits für die Programmpolitik des Sendes, andererseits für die Wahrnehmung des Jazz im allgemeinen und Duke Ellingtons im Besonderen in Großbritannien bedeutete. Er blickt zurück auf die Jazzprogramme, die der Sender vor 1933 ausgestrahlt hatte und fragt, warum gerade Ellington die Ehre dieser Aufmerksamkeit zur besten Sendezeit zuteilwurde. Er untersucht den Wandel der öffentlichen Wahrnehmung von Jazz infolge des Ellington-Besuchs, der sich in Berichten genauso niederschlug wie in Schallplattenausgaben und der schließlich auch das Selbstverständnis der britischen Jazzszene und ihrer medialen Vermittlung weit über die 1930er Jahre hinaus mit prägte.

Tom Sykes schaut auf die Bildung von Szenen, die sich in den letzten Jahren durch die Einbeziehung und Benutzung sozialer Medien erheblich verändert habe. Er fragt, welchen Einfluss soziale Medien auf lokale Szenen haben und ob die neu entstandenen Szenen / Gruppen / Communities wohl auch ohne e-mail, Video-Sharing oder soziales Netzwerken bestehen könnten. Dabei benutzt er als Ausgangspunkt verschiedene soziologische Beschreibungen des Phänomens von Community, insbesondere mit Bezug auf Jazz, beschreibt den Unterschied zu virtuellen Communities und die Scheinhaftigkeit einer Gruppenzugehörigkeit etwa durch Online-Diskussionsforen. Schließlich gibt er einige konkrete Beispiele der Durchlässigkeit zwischen realen und virtuellen Szenen und schlussfolgert, dass, wenn auch virtuelle Netzwerke immer wichtiger werden, Jazzfans daneben auch in semi-virtuellen und lokalen Szenen verankert seien und der Jazz als Liveerlebnis daher nicht zur Disposition stünde.

Andrew Hodgetts betrachtet die diversen Versuche der britischen Musikergewerkschaft zwischen den 1930er und 1950er Jahren, ausländischen Musikern Auftritte im Land zu verbieten und so die einheimischen Kollegen zu schützen. Er gibt konkrete Beispiele für Auswirkungen etwa auf geplante Konzerte oder Tourneen amerikanischer Bands und vergleicht die protektionistischen Anstrengungen mit denen der amerikanischen Musikergewerkschaft sowie mit der Situation beispielsweise in Schweden und Frankreich zur selben Zeit. Schließlich beschreibt er den über die Jahre sich wandelnden Diskurs über Internationalität versus Protektionismus, der insbesondere im Melody Maker gut dokumentiert sei.

Nicolas Pillai nähert sich den unterschiedlichen Publikumsreaktionen auf Dave Brubeck anhand einer Fernsehaufnahme für den BBC im Jahre 1964 und der Diskussionen über die Tournee seines Quartetts aus dem selben Jahr in der britischen Presse. Brubeck war zu der Zeit bereits in die ästhetische Spalte zwischen „innovativem Jazz“ und „zu kommerziell“ geraten, eine Einschätzung, die sich auch in den Presseberichten über die Tournee niederschlug. Diese reflektieren über seine Hits genauso wie über sein Anwesen in Connecticut, und Pillai vergleicht die unterschiedlichen Berichte, die letzten Endes verantwortlich sind für die öffentliche Wahrnehmung des Pianisten in Großbritannien, mit der Fernsehdokumentation, in der zu erleben sei, dass diese Musik nach wie vor subkulturelle Qualitäten besäße, sich in einem konstanten Dialog auch mit populären Strömungen in der Musik befunden habe.

Katherine Williams konzentriert sich in ihrem Kapitel auf Duke Ellingtons legendäres Newport-Konzert vom Juli 1956, erzählt die Vorgeschichte und den Ablauf des Abends und berichtet über die Veröffentlichungsgeschichte des Mitschnitts, der zwar als „Live at Newport“ herauskam, tatsächlich aber zum Teil im Studio nach-produziert worden war. Sie diskutiert die Faszination mit Live-Alben und die Problematik der Nachbearbeitungsmöglichkeiten – für die Künstler genauso wie für die ästhetische Einschätzung des scheinbar „historischen“ Ereignisses.

Adrian Litvinoff beschäftigt sich mit Musikgeschmack im Jazz und fragt, warum es vielen Hörern so schwer falle, sich auf Neues, Unbekanntes einzulassen. Er hinterfragt die Rolle des Marktes für den Musikgeschmack und deutet an, wie stark letztlich auch die Hörerwartung das Hörerlebnis prägt.

Roger Fagge verfolgt den wandelnden kritischen und ästhetischen Ansatz dreier britischer Autoren und Kritiker. Philip Larkin hatte zeitlebens ein Problem mit dem modernen Jazz (also mit allem ab dem Bebop), und Fagge diskutiert einige seiner Verrisse über Konzerte und Platten der Hardbop- und frühen Free-Jazz-Generation. Kingley Amis‘ Haltung gegenüber Miles Davis, Monk und anderen Vertretern des modernen Jazz war sehr viel positiver, er versuchte, wie Fagge schreibt, die Musik angemessen, „objektiv“ zu beurteilen. Dennoch beklagte Amis sich gegenüber Larkins, dass er für seine Artikel im Observer heftig angegriffen würde. Beide hätten den Jazz im Gegensatz zu Eric Hobsbawm allerdings kaum als eine politische Musik verstanden. Letzterer veröffentlichte 1959 unter dem Pseudonym Francis Newton das Buch The Jazz Scene und schrieb für den New Stateman Kritiken, von denen Fagge besonders solche über den Avantgardejazz der 1960er Jahre hervorhebt. Fagge beschreibt die unterschiedlichen Beweggründe der drei Autoren, ihre jeweilige Herangehensweise an die Musik und ihren meist unausgesprochenen emotionalen wie intellektuellen Disput, der den Jazzdiskurs im Großbritannien der 1950er und 1960er Jahre gut umschreiben kann.

Mike Fletcher blickt auf die Gegenwart des Jazz in Großbritannien und fragt nach „Tradition, Community und musikalische Identität“, danach also, inwieweit aktuell aktive Musiker sich nach wie vor mit der Geschichte des Jazz und mit seinen Ursprüngen identifizieren, wie sie sich im Vergleich zu anderen musikalischen Entwicklungen verorten, und welche Auswirkungen all das auf ihre konkrete Musik hat. Er stellt die Frage danach, inwieweit man als improvisierender Musiker in Großbritannien immer noch die amerikanischen Roots im Blick habe, betont die Bedeutung persönlicher Lehrer-Schüler-Verhältnisse für den Jazz, diskutiert die Rolle, die Schallplatten für das Selbstverständnis von Musikern spielen, und spricht mit Musikern wie Soweto Kinch, Alexander Hawkins und anderen über ihre eigenes Selbstverständnis einer ethnischen genauso wie kulturellen Identität und wie sich dieses mit den diversen Bildern des Jazz verträgt. Schließlich fragt er nach der Bedeutung von Community für die Jazzmusiker-Szene und danach, inwiefern Musiker sich in einer Art britischer Traditionslinie verorten.

Nicholas Gebhardt wirft im Schlusskapitel einen Blick auf Alan Lomax’s Oral-History-Interview mit Jelly Roll Morton, das er 1938 für die Library of Congress aufnahm. Er fragt dabei nach den Inhalten der Geschichten, die Morton erzählt, nach dem Bild also, das dieser seinem Interviewer von sich selbst und von New Orleans vermitteln will. Ihn interessiert daneben aber auch Lomax‘ Interesse an diesem Material, das helfen sollte, seinem eigenen historischen Verständnis der frühen Jazzgeschichte konkrete Inhalte zu geben, die die Legende zum Leben erwecken, dabei aber auch von der lebenslangen Erfahrung des Pianisten zehren kann.

Neun verschiedene Ansätze also, aus historischer, soziologischer, medienwissenschaftlicher, Sicht, die mal mit der Auswertung historischer Quellen, mal mit Textkritik, mal mit eigenem Interviewmaterial arbeiten. Die Autoren sind Wissenschaftler und Musiker, eine wichtige Mischung, da gerade im Jazz (aber nicht nur da) die Ausübenden immer eine Stimme haben sollten. Was fehlt, ist der direkte Bezug auf die erklingende Musik. Eine „neue Jazzforschung“ kann eben auch nicht sein, nur über die Umstände, die Wahrnehmung oder die verschiedenen Arten der Reflektion über Musik zu sprechen. Sie sollte sich immer wieder auch an die Musik selbst herantrauen, zumindest ihre Fragen aus der Musik heraus entwickeln. Katherine Williams kommt dem in diesem Buch am nächsten, scheut dann aber, da sie so viel über die Umstände von Newport und der Rezeption des Konzerts erzählen muss, doch vor einer eingehenderen Diskussion der Musik selbst zurück. Aber den Herausgebern ist – und deshalb bleibt dies eher eine Anregung als eine Kritik – durchaus bewusst, dass die Beiträge ihrer Konferenz und dieses Buches alles andere als erschöpfend die Aspekte der „new jazz studies“ betrachten können.

Wolfram Knauer (Juni 2017)


Keith Jarretts Klavier-Solokonzerte. Eine Stilanalyse von Keith Jarretts Solo-Klavierkonzerten aus den Jahren 1973 bis 1975
von Babak Pakzad
Saarbrücken 2017 (AV Akademikerverlag)
112 Seiten, 32,90 Euro
ISBN: 978-3-330-51516-1

Ein wichtiger Teil in Keith Jarretts musikalischem Schaffen waren seine Solo-Performances, die sich Babak Pakzad in seiner Arbeit zum Thema macht. Der Autor braucht dazu keine große Einleitung, sondern geht gleich in medias res, beschreibt, wie Jarretts Solokonzerte üblicherweise mit einer fast meditativen Konzentrationsphase am Flügel beginnen, wie er dann eine Zelle vorgibt, einen einzelnen Ton etwa, aus dem heraus er die kreative Energie entwickeln kann. Er erklärt die Notwendigkeit, die Jarrett für Rituale empfindet, um bei Konzentration zu bleiben und warum ihn kleinste Geräusche, sei es ein Husten aus dem Publikum, aus dieser Konzentration reißen können. In einem zweiten Kapitel setzt Pakzad Jarretts Aussagen zur Improvisation in Verbindung zu philosophischen Einflüssen insbesondere durch George I. Gurdjieff. Im dritten Kapitel stellt er Entwicklungen im Jazz der 1960er Jahre vor, in denen diese Musik als eine politische Stimme wahrgenommen worden sei, in dem sich kulturelle Diskurse auch aus anderen Kunstgattungen der Zeit spiegeln.

Keith Jarretts Solokonzerte sind schließlich Inhalt des vierten, nämlich des Hauptkapitels, das unter anderem die Rolle von Körper und stimmlicher Begleitung für seine Performances beschreibt, den formalen Ablauf seiner Soloexkurse und die Mischung unterschiedlicher Stileinflüsse. Pakzad betrachtet die formalen Bestandteile in Jarretts Solointerpretationen, etwa „stabile Passagen“, zu denen er verschiedene Arten von Vamps, Gospelstrecken oder solche zählt, die er als „Folk-Ballade“ benennt, oder „instabile Passagen“, zu denen „Ballade“, „Rhapsodie“, „Drone“, freie Passagen und Choralhaftes gehören. Und schließlich legt er aufgrund dieser formalen Parameter eine tabellarische Ablaufanalyse der Konzerte „Lausanne“, „Bremen“, „Köln“, „Sunbear“, „Bregenz-München“, „Paris“, „Vienna“, „La Scala“, „Radiance“, „Carnegie Hall“, „Paris-London“, „Rio“ und „Creation“ vor. Zwei kurze Transkriptionen mit analytischen Anmerkungen, aber ohne Fragestellung oder Schlussfolgerung, schließen sich an, bevor Pakzad seine abschließende Unterteilung vornimmt: Es gäbe in Jarretts Solokonzerten vier „Zyklen“, nämlich einen ersten, der vor allem aus „Jazz-Improvisationen“ bestehe, die voller Energie und emotionalem Ausdruck seien, einen zweiten, der „klassische Improvisationen“ beinhalte, „weniger Abenteuer und Exploration in der Musik“, der „reifer“ wirke und dessen „Strategien und Methoden“ stärker „entwickelt“ seien, einen dritten, der sich dadurch auszeichne, dass „die Stile sehr gut miteinander verschmelzen“, sowie einen vierten, in dem es keine langen Improvisationen mehr gebe, „sondern jeder Stil ist ein selbstständiges Stück“.

So schön so gut. Pakzads Arbeit bleibt an der Oberfläche, geht kaum wirklich in die Musik hinein, verallgemeinert die improvisatorische Praxis und ist leider in den wenigen Passagen, in denen er auf Jazzgeschichte eingeht, von wenig Sachkenntnis getrübt. Es gibt keine Fragestellung und dementsprechend auch kein Resümee. Seine Thesen zur Stilanalyse entnimmt er den Dissertationen von Gernot Blume und Peter Elsdon, wendet sie dann aber nur ansatzweise und dazu auch noch völlig unkritisch an, als würde ein einmal entdecktes System die Musik erklären können. Die Strukturskizzen der Solokonzerte bleibt an der Oberfläche der Musik, er untersucht weder melodische, harmonische noch rhythmische Verdichtungen. Pakzad nennt zwar die Bedeutung von Körperlichkeit und Spiritualität, findet dazu dann in der Musik selbst aber kein einziges Wort. Was das seltsame Kapitel über „Free Jazz“ in seinem Text zu suchen hat, wird nirgends erklärt, ganz abgesehen davon, dass die darin behaupteten politischen, kulturellen und musikalischen Entwicklungen arg vereinfacht, wenn nicht gar falsch dargestellt werden. Da steht dann so etwas wie: „Im Free Jazz gewinnt die Idee des Rituals an Bedeutung. Er wird als Vereinigung mit dem Übernatürlichen beschrieben, in der es nicht um die Vereinigung der Musiker als einzelne Individuen geht, sondern um eine Einheit in einer größeren Gruppe. Diese Idee kann man auch in einem größeren Kulturellen Kontext verstehen, der auf eine die geografischen Grenzen außer Acht lassende Vereinigung der afrikanischen und der afroamerikanischen Gesellschaft verweist.“ Pakzad hat offenbar nicht viel Ahnung davon, was Free Jazz wirklich war und wie sich der Stil entwickelte; er schwimmt, wie überhaupt in seinem Text, auf Gemeinplätzen dahin und subsumiert schließlich auch noch Sonny Rollins zu diesem Stil. Überhaupt zieren nicht nur für den Kenner erkenntliche Stilblüten den Text, der als Abschlussarbeit, wo auch immer, dem Autoren hoffentlich keine Lorbeeren eingebracht hat und dessen Veröffentlichung eher ärgerlich ist als dass sie auch nur irgendeinen neuen Aspekt in die Erforschung der Musik Keith Jarretts bringen würde.

Wolfram Knauer (Mai 2017)


New Orleans and the Global South. Caribbean, Creolization, Carnival
von Ottmar Ette & Gesine Müller
Hildesheim 2017 (Olms)
403 Seiten, 68 Euro
ISBN: 978-3-487-15504-3

New Orleans wird als Wiege des Jazz gefeiert, als nördlichste Stadt der Karibik, als ein Schmelztiegel der Kulturen, als die amerikanische Stadt mit den über die Jahrhunderte tiefsten und prägendsten kulturellen Verbindungen nach Europa. New Orleans ist eine Stadt der Traditionsbewahrung, obwohl jeder Bewohner der Stadt quasi seine eigenen Traditionen mit einbringt, die Traditionen seiner Vorfahren und seiner Community.

Eine Tagung in Köln im Februar 2015 widmete sich dem Thema der Karibik, der Kreolisierung und des Karnevals, alles Klischees, die mit New Orleans verbunden werden und die, differenziert betrachtet, dazu beitragen können, den kulturellen Diskurs in dieser Stadt zu beschreiben. Konkret näherte sich die Tagung diesem Thema von vier Seiten: Literatur und Sprache in einer Stadt, die ihren eigenen Akzent aus der Mischung der Bevölkerung entwickelte; die Tradition des Karnevals; Musik; sowie die Verbindungen zwischen New Orleans, der Karibik und Südamerika. Ottmar Ette setzt in seinem Beitrag die gegenseitige Bedingtheit des karnevalistischen Zukunftsmuts und der natürlichen Katastrophen, die New Orleans immer wieder einholten zueinander in Bezug. Ingrid Neumann-Holzschuh setzt sich mit den Besonderheiten und dem Wandel der Sprache, des „créole“ in Louisiana auseinander. Philipp Krämer untersucht, wie das „créole“ der Region die enge Bindung nach Frankreich beeinflusst. Gesine Müller liest Texte von „freien Schwarzen“ im Louisiana des 19. Jahrhundertsund untersucht sie auf ihr transkulturelles Bewusstsein hin – sowohl in Richtung früheres „französisches Mutterland“ wie auch in Richtung der anderen amerikanischen Rehionen. Owen Robinson findet in Baron Ludwig von Reizensteins Roman „The Mysteries of New Orleans“ eine fiktionalisierte Zeitzeugenbeschreibung der schon Mitte des 19. Jahrhunderts recht freizügigen Hafenstadt.

Aurélie Godet untersucht die Sprache des Mardi Gras auf Aspekte von „creolization“ und damit auch die Funktion kreolischer Prozesse innerhalb der Community/Communities von Louisiana. Rosary O’Neill beleuchtet die geschichte der Carnival Krewes in New Orleans und die Evolution dieser Tradition aus europäischen Vorbildern heraus. Wolfram Knauer untersucht den Einfluss eines „kreolischen Konzepts“ in der Musik von New Orleans bis in die globale Gegenwart hinein. William Boelhower untersucht die Topologie innerhalb dessen der Jazz sich in new Orleans entwickelte. Hans-Jürgen Lüsebrink weist auf Verbindungen zwischen den frankophonen Regionen Nordamerikas hin, die über die Sprache hinausgehen. Tobias Kraft fragt, was es bedeutet, dass eine farbige Kreolin, Aveline, seit 2012 im Videospiel „Assassin’s Creed III: Liberation“, das in New Orleans spielt, eine der Hauptprotagonisten ist. Berndt Ostendorf argumentiert, dass die Stadt ihre Diversität an Straßenkultur, ethnischer Mischung, Finanzkraft, Cuisine, Klang-, Wasser- und Landschaften als eigene Identität in der Vielfalt angenommen hat. Sona Arnold betrachtet die Reisebeschreibungen von Friedrich Gerstäcker über New Orleans und Brasilien als ein frühes Beispiel des Bewusstseins einer Verbindung zwischen Louisiana und Latein- bzw. Südamerika. Bill Marshall verweist auf die Bedeutung des „French Atlantic“, also der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen New Orleans und Frankreich, als Erklärhilfen für die spezifische Mischung der Kulturen, die in Lousiana möglich war. Michael Zeuske vergleicht Havanna, Kuba und New Orleans als historische Zentren des Sklavenhandels. Und Eugenio Matibag verweist auf die Cajun Filipinos und das Phänomen der asiatisch-amerikanischen Kreolisierung in Louisiana.

So ist das ganze Buch (also die ganze Konferenz, die 2015 in Köln stattfand) eine lebendige Annäherung an die verschiedenen Aspekte von „creolity“ oder „creolization“. Gerade, weil sich die Musik und all die anderen Subthemen hier in den Kanon der verschiedenen Kreolisierungstheorien eingereiht finden, handelt es sich damit um eine Perspektivbereicherung, die allen Teilnehmern und damit auch dem Leser dieses Bandes neue Erkenntnisse bringen kann.

Wolfram Knauer (März 2017)


Jazz As Visual Language. Film, Television and the Dissonant Image
von Nicolas Pillai
London 2017 (I.B. Tauris)
176 Seiten, 64 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78453-344-1

2017pillaiJazz, beginnt Nicolas Pillai sein Buch, war nie nur Musik. Als kommunikative Kunstform war Jazz auch immer immens visuell. Bildende Künstler haben immer wieder ihre Faszination mit dem Jazz betont, Tatsächlich entwickelte sich der Jazz etwa parallel zum Film, und so macht es Sinn, die Interaktionen zwischen beiden Genres zu untersuchen. Statt sich dabei auf Geschichten über Jazz zu konzentrieren, interessiert Pillai sich insbesondere für formale und strukturelle Parallelen zwischen den Künsten, analysiert dafür Bildsequenzen, Erzählstrategien mehr als die Story selbst. Dabei entdeckt er Kamerablicke genauso wie ikonische Motive und fragt sowohl, welche Gründe der Regisseur für seine filmischen Entscheidungen gehabt haben mag, als auch, welche Aussagen diese über die Zeit zulassen und wie sie auf das Publikum wirken.

Pillai wählt drei konkrete Fälle für seine Hauptkapitel. Len Lyes dreiminütiger Film „A Colour Box“ ist ein Klassiker der filmischen Abstraktion. Für neun seiner elf abstrakten Filme zwischen 1934 und 1940 wählte Lye Jazzaufnahmen, die klar den Verlaub der filmischen Abstraktion strukturieren. Für „Colour Box“ entschied er sich nach dem Durchhören hunderter Platten für Don Barretos Aufnahme „La Belle Creole“. Lye, der aus Neuseeland stammt, verweist in einzelnen seiner Bilder, die er direkt auf das Zelluloid malte oder kratzte, auf die Kunst der Aboriginees. Lye hatte seiner Erfahrungen in der Werbebranche gesammelt, für die er Animationsfilme machte, und Pillai vergleicht seine Technik mit Werbestrategien, die in den 1930er Jahren aufkamen, nicht so sehr das Produkt als vielmehr die Firma oder Marke zu bewerben. Hintergrund war, dass man damit umgehen wollte, dem Mittelklasse-Publikum, an das sich die Werbung richtete, zu offen die Rolle des Konsumenten zuzuschieben. Also fragt Pillai, wie das Publikum wohl die erkennbaren textlichen Inhalte von „A Colour Box“ dechiffriert haben mag, Hinweise auf Postwertzeichen und –gewichte, oder auf den aus verschiedenen kommerziell erhältlichen Versionen des „Lambeth Walk“ zusammengeschnittenen Soundtrack des Films „Swinging the Lambeth Walk“ von 1938. In Len Lyes Kunst, schlussfolgert Pillai, gehe es zuvorderst um Kino als Technologie, um die Besonderheit des projizierten Bildes, all das aber vor dem Hintergrund klarer gesellschaftlicher Vorstellungen und mit dem Bewusstsein der Wirkung seiner Filme auf ihr zeitgenössisches Publikum.

Im zweiten Kapitel beleuchtet Pillai Gjon Milis legendären Film „Jammin‘ the Blues“ von 1944, der sich von anderen Kurzfilmen mit amerikanischem Jazz in jenen Jahren insbesondere dadurch unterscheidet, dass er die Jazzszenen (etwa mit Lester Young und Harry Edison) als bewusste Reaktion auf den aktuellen künstlerischen Diskurs der Zeit setzt. In der Einleitung des Films sagt ein Erzähler, dies sei eine Jam Session, tatsächlich aber handelt es sich bei dem Kurzfilm um eine Hollywood-Produktion, und bewegen die Musiker ihre Finger zum vorab aufgenommenen Soundtrack. Und so interessieren Pillai hier vor allem Kompetenzen wie „Ehrlichkeit“ und „Ernsthaftigkeit“, verweist auf der ähnliche Kameraführungen wie jene ikonische, in der Lester Youngs Pork Pie Hat zu Beginn von „Jammin‘ the Blues“ als geometrische Kreise von oben gezeigt wird, um sich dann mit der Kamerafahrt und Youngs Erheben seines Kopfes als materielles Objekt zu entpuppen. Pillai berichtet kurz über Milis Karriere, sein Interesse am Film als eines künstlerischen Mediums, seine fotografischen Aktivitäten fürs LIFE-Magazin, die immer wieder auch Szenen aus der Jazzwelt beinhalteten, betrachtet einzelne Szenen als Reflex der Fotografenerfahrung Milis, und endet mit einem Aside über ein ähnliches Projekt aus dem Jahr 1950, bei dem Musiker aus Norman Granzs Jazz at the Philharmonic-Truppe zu sehen waren, unter ihnen Coleman Hawkins, Buddy Rich und Charlie Parker, die aber, da der vor-aufgenommene Soundtrack, zu dem die Musiker ihr Spiel mimen musste, verloren ging, nicht zu hören sind.

Pillais drittes Kapitel widmet sich der britischen Fernsehreihe „Jazz 625“, bei der durchreisende amerikanische Stars oft mit britischen Musikern zusammenwirkten und im Zusammenhang mit dem ihn insbesondere die Fernsehästhetik interessiert, einschließlich der Präsentation der Musiker durch Ansager wie Steve Race und Humphrey Lyttelton. Er beschreibt die Kamera als Sympathisanten der Musiker und schussfolgert, dass musikalische Bedeutung und musikalischer Effekt hier genauso der Crew hinter der Kamera zu verdanken sind wie den Musikern an ihren Instrumenten. Pillai holt kurz aus und beschreibt, wie Live-Jazz vor „Jazz 625“ im britischen Fernsehen präsentiert wurde, vergleicht dies auch mit Produktionen aus den USA, die wie ein Vorbild zur britischen Reihe wirken mögen, insbesondere „Jazz Casual“ und „Jazz Scene USA“. Er beschreibt, wie die Sendung eine überhöhte Form von Live-Atmosphäre kreierte und diskutiert schließlich, wie sich die daraus abgeleitete Ästhetik mit Musik im Fernsehen bis heute vergleichen ließe.

Pillai versteht seine eigene Forschung zum Jazz als Teil der interdisziplinären New Jazz Studies, die sehr bewusst darauf Rücksicht nehmen, dass jede Beschreibung oder Analyse eines künstlerischen Gegenstandes des Bewusstseins der jeweils eingenommenen Perspektive bedarf. Und so ist „Jazz as Visual Language“ denn auch nicht als umfassende Geschichte der Verwendung von Jazz im Film zu verstehen, sondern vielmehr als eine Versammlung von Fallbeispielen, die zeigen, dass die Darstellung von Jazz im Film Einfluss auf die Rezeption der Musik genauso haben wie die gespielte Musik Einfluss auf die Dramaturgie des Films haben wird.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)[:en]Duke Ellington
von Wolfram Knauer
Ditzingen 2017 (Reclam)
328 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-15-011127-7

Da lesen wir laufend „fremder Leute“ Bücher und vergessen dabei fast die Eigenwerbung. Im letzten Herbst jedenfalls brachte die Post Wolfram Knauers „Duke Ellington“ , das, so die Verlagsankündigung, „den Komponisten, Pianisten und Orchesterleiter Duke Ellington als eine Integrationsfigur des Jazz“ würdigt. Weiter heißt es da: „Musiker aller Epochen, aller Stilrichtungen, aller künstlerischen Ansätze scheinen sich mit seiner musikalischen Ästhetik identifizieren zu können. Knauer, Musikwissenschaftler und international bekannter Experte zum Jazz, lauscht seinen Aufnahmen, um aus ihnen heraus Ellingtons Biographie zu erzählen, den geradlinigen Weg eines Musikers, der weiß, dass seine Stärke im Zusammenfügen der vielen Stimmen seines Orchesters besteht. Anschaulich und mit Wissen auch um Ellingtons privates Umfeld und die wirtschaftlichen Zwänge im amerikanischen Musikbusiness schildert er die Gründe für ästhetische Entscheidungen des Duke und kann damit die verschiedenen Phasen seines Schaffens angemessen würdigen.“

Oder, in Knauers eigenen Worten: „Was ich in dem Buch versucht habe, war buchstäblich: in die Musik hineinzuhören und dabei immer wieder zu fragen, warum Ellington so schrieb, spielte und dachte, wie er es zu verschiedenen Zeiten seiner Karriere tat. Was führte zu den ästhetischen und musikalischen Entscheidungen, wohin führten die Experimente, an denen ihm ohrenscheinlich lag? Warum entschied er sich zu Richtungsänderungen, warum klang seine Musik in den verschiedenen Jahrzehnten seiner langen Karriere immer wieder anders, und wie sollte man sich den klanglichen Ergebnissen nähern, um fair über sie zu schreiben (oder sie zu hören)? Wie ich im Vorwort andeute, war meine Herangehensweise insofern unüblich, als ich das Ellington-Archiv an der Smithsonian Institution besuchte, bevor ich auch nur ein einziges Wort geschrieben hatte, um mir auf gut Glück Kisten kommen zu lassen in der Hoffnung, dass das darin befindliche Material mir vielleicht einige der Fragen liefern würde, die ich in meinem Buch zu beantworten beabsichtigte (schließlich kommt es einem so vor, als sei schon alles über Ellington gesagt worden). Danach begann ich mit dem intensiven Hören, fragte dabei dauernd „Warum?“ und „Was?“, mehr noch als „Wer?“ oder „Wann und Wo?“. Diese Fragen führten dann zu einer Kontextualisierung seiner Biographie, seines Kompositionsprozesses, dem Konzept von Komposition im Jazz ganz allgemein, seiner Interaktion mit seinen Bandmitgliedern und mit anderen Musikern, seines privaten Lebens, seiner Geschäftspraktiken und – vor allem – seiner Aufnahmen. Als das Rohmanuskript fertig war, kehrte ich ins Ellington-Archiv zurück und ließ mir diesmal ganz gezielt die Kisten kommen, vor allem jene, die seine Kompositionsskizzen oder aber die Stimmen seines Orchesters enthielten, um an ihnen zu verifizieren, was konkret in den Noten steht und wo der Zauber anfängt, der das alles zum Leben erweckt und so ungemein persönlich werden lässt. Ich glaube, dass mein Ansatz sich durchaus von dem unterscheidet, was bislang über Ellington geschrieben wurde, und ich hoffe, dass es gelegentlich eine englische Übersetzung des Buchs geben wird.“

Johannes Breckner liest das Buch für das Darmstädter Echo, Wolfgang Sandner für die FAZ, Johannes Kaiser für SWR Cluster, Johann Buddecke für Concerti. Christian Broecking, Stefan Franzen und Martin Laurentius für die Jazzthetik.

zugegeben: Eigenwerbung, dennoch: Wolfram Knauer (Juli 2018)


Um Blues und Groove. Afroamerikanische Musik im 20. Jahrhundert
von Manfred Miller
Dreieich 2017 (Song Bücherei / Heupferd Musik Verlag)
454 Seiten, 34 Euro
ISBN: 978-3-923445-18-9

Er macht es einem nicht einfach: Ein Druckbild langer Zeilen, die viel zu weit in den Bundsteg reichen, eine Schrifttype, die entweder weitere Zeilenabstände oder aber klarere Absätze verlangen würde, lange Sätze, oft mit Nebengedanken in Parenthese oder (wie ein Unterkapitel überschrieben ist) „Kleine Nebenbemerkung zur Nebenbemerkung“ (64). Ein ausschweifender Stil, in dem sich der Autor sehr wohl bewusst ist, dass es sich hier um ein Alterswerk handelt. Er weiß, dass er seinen Leser:innen etwas zumutet, wenn er sie „dem Autor beim Verfertigen seiner Gedanken zuschauen“ lässt (7). Ein Stil, der laufend die Position zu wechseln scheint, mal erzählend ist, dann historisch einordnend, dann aus der Gegenwart heraus wertend, nein nicht aus der Gegenwart, sondern aus seiner, des Autoren Gegenwart, oft gespeist durch Verweise auf seine eigene Zeugenschaft, als er etwa für Rundfunk- und Fernsehdokumentationen Interviews mit den Protagonisten der Musik führte, über die er hier schreibt.

Manfred Miller gehört seit den 1960er Jahren zu den wichtigen Popularmusikforschern Deutschlands. Er leitete die Jazzredaktion in Bremen (wo er neben vielem anderen auch die legendäre LP „Machine Gun“ Peter Brötzmanns ermöglichte), moderierte eine regelmäßige Bluessendung im Südwestfunk, gründete das SWF-Bluesfestival in Lahnstein, produzierte TV- und Hörfunkdokumentationen zur Rock- und Bluesgeschichte. Ihm war es dabei immer wichtig, über den Tellerrand der Genres hinauszublicken, mit denen er sich beschäftigte. So erkannte er im Blues immer auch eine Reflexion der Welt, aus der dieser kam. Denn es sei viel Unsinn verzapft worden beim Schreiben über diese Musik. So sei in Zeugnissen früher Musiker neben dem Blues immer wieder von „rihls“ die Rede gewesen (in unterschiedlichen Schreibweisen), und etliche Autoren hätten darin den „reel“ aus irisch-schottischer Volksmusik erkannt. „[W]ie minimal die Wahrscheinlichkeit sein mochte“, ärgert sich Miller, „dass der Interviewte jemals einen solchen Tanz oder dessen Namen gehört haben konnte, haben sie sich offenbar nicht gefragt.“ Und ein leicht rechthaberischer Tonfall klingt durch, wenn er fortfährt: „Dabei, scheint mir, drängt sich die korrekte Transkription förmlich auf, nämlich ‚Reals'“. Der Blues als Beschreibung der wirklichen Welt, der Realität: auch eine Theorie, und keineswegs eine schlechte. Die Rückführung des betreffenden Begriffs auf keltische „reels“ ist allerdings auch nicht so falsch, wie Miller suggeriert: Irische und schottische Kulturtraditionen waren in die „neue Welt“ transferiert worden, und es ist gut möglich, dass „reel“ quasi als Deonym generisch für eine bestimmte Art von Tanz(musik) verwandt wurde. Was richtig ist, weiß ich als Leser (und Nicht-Blues-Experte) auch nicht, allerdings stößt es leicht sauer auf, wenn Miller ein Zitat Little Brother Montgomerys nachschiebt, in dem dieser betont, wie wichtig das Abbild der Realität im Blues sei, um dann verächtlich zu urteilen: „Dass sie Mist verzapft haben, können unter feldforschenden Musikethnologen offenbar etliche selbst dann nicht riechen, wenn jemand sie mit der Nase hineinstößt.“ (16)

Den Hauptteil seines Buchs beginnt Miller mit Platon und der Bedeutung von Musik seit der Antike. Er sinniert über die Polyphonie des Mittelalters und die Mehrchörigkeit bei Schütz und Bach, über Castrati und Countertenöre, über Gesualdos Madrigale, über Musik und Macht, genauer: Musik als Symbol von Herrschaft. Er ist sich bewusst, dass in Musik oft Erinnerung an Rituale transportiert werden, deren Funktion längst nicht mehr erinnerbar ist. Und er beschreibt, wie Musik immer im Hier und Jetzt wahrgenommen wurde, bis der Phonograph erfunden wurde und sie damit vom Ritual zur Ware werden konnte (Miller spricht von „fundamentaler Um- und Abwertung der Gebrauchswerte von Musik zu einer der gängigsten unter den angstlösenden Alltagsdrogen“ [69]).

Millers zweites Kapitel befasst sich mit den musikalischen Grundlagen afro-amerikanischer Musik. Es geht um Artikulation, vor allem aber um swing. Er fragt danach, wie sich die rhythmische Komplexität in afro-amerikanischer (und afrikanischer) Musik aus unterschiedlichen Perspektiven hören lässt und beschäftigt sich mit dem Missverständnis der Synkope im Jazz. Er hinterfragt Begriffe wie Pulse, Beat und Groove und diskutiert sie anhand konkreter Aufnahmen etwa von Louis Armstrong, Art Blakey und Fats Waller. Woher kommt dieser Groove, fragt er, bemüht dann gleich noch einmal die gesamte (westliche) Musikgeschichte, fragt etwa nach dem Verhältnis zwischen Harmonik und Metrik, um schließlich (ich habe etwas vorgeblättert) bei seiner Erklärung anzulangen: Der Groove käme aus der Momenthaftigkeit der Musik, aus dem Jetzt, aus dem „Now“. Das ist durchaus einleuchtend, doch jetzt ist Miller in Fahrt. Er reflektiert über Ellingtons „It Don’t Mean a Thing“, über Aufnahmen der King Oliver Creole Jazz Band und Frankie Trumbauers, über den Wirtschaftsliberalismus Thatchers und Reagans, über Technobastler, die eine Software namens „Humanizer“ entwickelt haben, über die Kontroverse zwischen Barack Obama und der „Tea Party“ in den USA…. Man kommt viel rum als Leser:in, und man ist seinen Anmerkungen zum Ende der Kapitel dankbar, bei denen er sozusagen den eigenen Text noch einmal mit etwas Abstand liest und einordnet.

Als nächstes: der Blues! Genre, Gattung, Form? Um dem Wesen, nein den verschiedenen Wesen des Blues auf die Spur zu kommen, lauscht Miller zahlreichen Aufnahmen. Billie Holiday, Miles Davis, Louis Armstrong, Jelly Roll Morton, Jabbo Smith. Er stellt die Form in Frage, sucht Beispiele heraus , die deutlich als Blues konnotiert sind, aber auf die sprichwörtlichen 12 Takte weitgehend verzichten. Dann der Einfluss der Tin Pan Alley auf die Popularisierung des Blues – Stichwort: „Blues als Tanzmusik“. Es folgen Beispiele aus dem Bereich des Country-Blues, des Chicago-Blues und des britischen Rock-Blues, die belegen, wie fließend die Form ist. Das ist gerade in der Mischung der Beispiele spannend, wenn auch etwas schwer zu lesen, insbesondere wenn wieder einmal der Unterton des Rechthabens mitschwingt, als hätten wirklich alle Autor:innen über Musik den Blues nur mit „12 Takte und traurig“ beschrieben.

„Traurig“ ist dann auch das nächste Klischee, das Miller zu entzaubern trachtet. Wo kommt die Zuschreibung her, fragt er, welche anderen Zuschreibungen hat der Blues über die Jahre erhalten? Dabei landet er bei Joachim Ernst Berendt und seiner Beschreibung der „Blue Notes“ von 1957, die Miller als vereinfacht und eurozentristisch klassifiziert, um dann eine Art Urzustand der Blue Notes beispielsweise in einer Rede von Dr. Martin Luther King zu finden, von dem ausgehend er den Blue Notes dann vor allem eine rhetorische Funktion zuschreibt: „sie unterstreichen, sie heben hervor, was der Sängerin, dem Sänger besonders wichtig ist“ (148). Er hinterfragt die autobiographische Haltung des Blues, die Rollenfigur, die der oder die Sänger/in einnimmt, und er analysiert beispielhaft, etwa den Text zum „Down Hearted Blues“, den er sich daraufhin gleich noch von verschiedenen Sängerinnen anhört. Miller ist ein exzellenter Übersetzer von Bluestexten, dazu in der Lage, auch im Deutschen den Inhalt mit dem Rhythmus des Originaltextes zu verbinden. Und er ist sich der Grenzen seiner Übersetzermöglichkeiten bewusst, die etwa dort aufhören, wo das englischsprachige Original (insbesondere das Black English des Blues) mit double entendre, mit semantischer Mehrdeutigkeit spielt, die nicht so einfach zu übertragen ist. Er diskutiert die Themen des Blues, Liebe, Tod, aber auch das Themenfeld Protz und Prahlerei („Was hab ich mit da nur aufgehalst!“), und er schreibt darüber, wie sich in den Songs die alltägliche Gewalt und der Rassismus der USA wiederspiegeln.

Es findet sich ein anregendes Kapitel über Billie Holidays Bluesästhetik, eines über aus dem Vaudeville stammende Duos wie Butterbeans & Susie, sowie eines über Bluestexte, die es nur knapp an der Zensur vorbeigeschafft haben. Er diskutiert Aufnahmen Jelly Roll Mortons aus dessen Sitzung für die Library of Congress, bei denen der Pianist lange, schnell ins Pornographische ausartende Titel spielte und sang, und er mutmaßt, dass diese Beispiel für ein ansonsten nicht dokumentiertes Repertoire seien, das den musikalischen Feldforschern nur deshalb entgangen sei, weil sie es an die Orte, an denen es erklang (Bordelle) selten gezogen hätte.

Am Schluss seines Buchs bemüht Miller den afro-amerikanischen Philosophen Cornel West, den er mithilfe von Textauszüge in ein fiktives Interview verstrickt, um abschließend noch ein wenig Trübsal zu blasen: Leider gäbe es heute keinen aktuellen Mainstream afro-amerikanischer Musik mehr, der entsprechende „Resonanz in der großen Gemeinde der schwarzen Amerikaner“ fände. Rap und HipHop hätten nicht dieselben inklusiven Merkmale wie Blues und Jazz der Vergangenheit und die „schwarze Gemeinde in Amerika“ habe durch den „vom Marktliberalismus produzierte[n] Wandel des Gesellschaftlichen und der Gesellschaft“ aufgehört, sich selbst als „Gemeinde“ zu sehen. „Tut mir leid“, schreibt er, „Auch wenn ich hin und wieder aus klanglichen oder rhythmischen Gründen das Präsenz benutze – was ich in dieser Arbeit verhandle, ist Vergangenheit. – Jedoch: welch einmalige Vergangenheit! Musik, die ein Volk trägt!“

Er macht es einem nicht einfach, habe ich diese Rezension begonnen. Manfred Miller, der aus dem Vollen seines Wissens, seiner Hörerfahrung schöpfen kann, lässt genau dies seine Leser:innen an jeder Stelle spüren: dort, wo er mit Fakten um sich wirft, dort wo er sofort Vergleichsbeispiele aus der globalen Kulturgeschichte zur Hand hat, insbesondere auch dort, wo er seine Leser:innen direkt anspricht, ihre Einwände vorwegahnt, um dann seine Thesen näher unterlegen zu können. Der leicht verächtlich wirkende Blick herab auf Forscher:innen, Journalist:innen und andere Autor:innen (gerne auch der Verweis darauf, dass dies oder jenes doch ein gutes „Referat im Oberseminar der Musikethnologen “ sei) findet sich zuhauf in Millers Buch. Er macht es einem nicht einfach, weil all diese schriftstellerischen Tricks seine Leser eben gerade nicht mitnehmen, und weil man gerade bei einem so als Bleiwüste gestalteten Buch (dem weder die Typographie noch die Kursivschreibung Abwechslung verleihen) eigentlich keine Lust hat, dauernd als virtueller Sparringpartner herhalten zu müssen. Das aber ist schade. Denn tatsächlich hat Miller etliches zu erzählen. Tatsächlich sind seine Denkansätze ungemein spannend, wert diskutiert, weitergedacht, immer wieder auch widersprochen zu werden. Doch dazu lädt Manfred Miller nicht so recht ein mit seinem Buch, das, obwohl es weder eine Geschichte des Blues noch des Jazz ist, ein Füllhorn anregender Gedanken über afro-amerikanische Musik enthält – und die westeuropäische Rezeption derselben.

Wolfram Knauer (Juni 2020)


Träume aus dem Untergrund. Als Beatfans, Hippies und Folkfreaks Baden-Württemberg aufmischten
von Christoph Wagner
Tübingen 2017 (Silberburg-Verlag)
180 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-8425-2039-4

Christoph Wagner, in Baden-Württemberg geborener und seit Jahren nahe London lebender Journalist, beschreibt die musikalische Subkultur der 1960er und 1970er Jahre in Baden-Württemberg. Zwischen Mannheim und Freiburg findet er dabei jede Menge Beispiele aus populären Genres zwischen Blues, Rock, Jazz und Folk.

Er blickt auf die Einflüsse, beispielsweise die lebendige Jazzszene ums Heidelberger Cave oder die Stuttgarter Atlantik-Bar, betrachtet die Aktivitäten des Südwestfunks und den Kulturschock, den Möhringer Bürger erlebten, als sie einen Musiker wie Cecil Taylor durch den Ort joggen sahen oder als sich Abdullah Ibrahim eine Bretzel in der Dorfbäckerei holte, während er in Tourneepausen bei Gabi Kleinschmidt wohnte.

Er weiß um die Beat- und Soulszene in Stuttgart, die vor allem durch einheimische Amateurgruppen befeuert wurde und oft genug auf die Eltern als Fahrdienst angewiesen war. Aber auch internationale Bands machten im Ländle Station, The Who etwa, über die der Tourneeveranstalter Walter Puls einige Geschichten zu erzählen weiß.

Joachim Ernst Berendt war einerseits für die Jazzgeschichte des Landes wichtig, schnitt aber auch Konzerte des American Folk Blues Festival mit, das seit 1962 von Horst Lippmann und Fritz Rau veranstaltet wurde. Die Bluesszene wurde Anfang der 1970er durch Clubs geprägt, die tourende amerikanische Künstler genauso engagierten wie solche, die sich wie etwa Memphis Slim oder Champion Jack Dupree in Europa niedergelassen hatten. Neben der Blues- gab es aber auch eine lebendige Folkszene, die, in Folge des legendären Waldeck-Festivals im Hunsrück „deutschen Protestsängern, Liedermachern und Kabarettisten“, aber auch englischen, schottischen und amerikanischen Folkmusiker:innen eine Bühne bot. Nicht selten stand diese in dieselben Clubs, in denen auch Jazz oder Blues zu hören war: Das Publikum hatte zu jener Zeit doch beträchtliche Schnittmengen. Folkmusik war damals zugleich ein Soundtrack zu den Anti-AKW-Protesten und den Friedensdemonstrationen jener Jahre, eine Protesthaltung, die sich erst gegen Ende der 1970er, wie Wagner schreibt, andere musikalische Formen suchte, „ob im Punk, im anarchistischen Rock oder im Sponti-Kabarett“.

Am 19. Januar 1969 trat Jimi Hendrix in der Stuttgarter Liedermacherhalle auf. Bald darauf ließen sich mit Rockmusik, insbesondere aus englischsprachigen Ländern, Hallen mittlerer Größe leicht füllen. Als Vorgruppe standen dabei oft regionale Bands auf der Bühne, in denen Musiker groß wurden, die später zwischen Jazz, Rock und Pop von sich Reden machten. Wagner skizziert die Veranstaltungsorte, an denen diese Musik zu hören waren, in den Großstädten Stuttgart, Mannheim und Freiburg genauso wie in Kleinstädten wie Schorndorf, wo in der Manufaktur Peter Brötzmann zu hören war (für 250 Mark Gage), die amerikanische Folkmusikerin Hedy West (für 220 Mark) und der Liedermacher Reinhard Mey (für 170 Mark). Wagner berichtet über zwei Black-Sabbath-Tourneen durch den Südwesten in den Jahren 1969 und 1970, oder über das Rolling-Stones-Konzert in der Messehalle 6 in Stuttgart, das 20 Mark Eintritt kosten sollte, was in der Szene für heftigen Protest und für Boykottaufrufe sorgte.

Den erfolgreichen und kommerziellen Rockshows stellten sich mit der Zeit Kulturinitiativen entgegen, die eine andere Vorstellung von Musikvermarktung hatten, insbesondere der Verein GIG, der sich die „Durchführung von Veranstaltungen zu gewinnlosen Eintrittspreisen“ auf die Fahnen schrieb. Insbesondere in Tübingen und anderen Studentenstädten fanden zur selben Zeit eher links orientierte deutsche Bands wie Floh de Cologne oder Ihre Kinder Zulauf; selbst hier aber wehrte sich das studentische Publikum schon mal gegen als zu hoch empfundene Eintrittspreise, einen Diskurs zwischen Veranstalterinitiative und Publikum, den Wagner detailliert nachzeichnet. In Stuttgart hatte Werner Schretzmeier mittlerweile Kontakte zum SDR-Fernsehen geknüpft, durch die er Rockbands wie Pink Floyd, Black Sabbath und Deep Purple zu Produktionen einladen konnte. In einem letzten Kapitel befasst sich Wagner schließlich noch mit Mundartrock zwischen Joy Fleming (Neckar-Blues), Wolle Krinwanek (Schwabenrock) und der Band Schwoißfuaß.

Christoph Wagners „Träume aus dem Untergrund“ bieten einen unterhaltsamen Streifzug durch eine Zeit, in der Musik mehr und mehr als ästhetischer genauso wie als politischer Ausdruck wahrgenommen wurde und dabei zwischen den Polen einer Community-bindenden Kunst und Kommerz existierte. In seinen Kapiteln gelingt es ihm, sicher auch dank der zahlreichen Abbildungen, viele Facetten dieses Lebensgefühls deutlich zu machen. Ihm geht es dabei nur bedingt um eine Beschreibung der Musik selbst; wichtiger ist ihm der Kontext, die Bildung und Selbstdefinition einer Szene also. In dieser verorteten sich in jenen Jahren auch die Jazzfans, und Wagners Darstellung der Strukturen, in denen sich Rock und Pop in diesen Jahren entwickelte, macht schnell klar, wie wichtig der weitere Blick sein kann, um Kontexte zu erklären, die letztlich auch die Entwicklung des Jazz mit beeinflussten.

Wolfram Knauer (Juni 2020)


André Hodeir. Le jazz et son double
von Pierre Fargeton
Lyon 2017 (collection Symétrie recherche)
772 Seiten, 70 Euro
ISBN: 978-2-36485-028-6

Es ist eine mehr als passende Würdigung: ein fast 800 Seiten starkes Buch über den Kritiker, Musikwissenschaftler, Geiger und Komponisten André Hodeir, das seiner Biographie genauso gerecht zu werden versucht wie seiner Musik und seiner musikwissenschaftlichen Erkenntnisse. Pierre Fargeton ist prädestiniert für diese Aufgabe: Der Musikwissenschaftler verfasste 2006 seine Dissertation über Hodeir und arbeitet zurzeit an der Herausgabe der Korrespondenz zwischen Hugues Panassié und André Hodeir.

Sein Buch beginnt – chronologisch – im Geburtsjahr seines Sujets 1921 und beschreibt, wie der junge André, der dem Klavierunterricht seines älteren Bruders mehr abgewinnen konnte als jener, im Alter von 11 Jahren zur Geigenausbildung aufs Konservatorium geschickt wurde, wo er bereits 1935 seine „6 Pièces de Virtuosité“ komponierte. Zur selben Zeit interessierten ihn aber genauso das Tischtennisspiel, Poker und der Jazz, für den er sich begeisterte, nachdem er Benny Carter mit dem Orchester von Willie Lewis gehört hatte. Er entdeckte erst Stéphane Grappelli, dann Eddie South als role models auf seinem eigenen Instrument und lernte Charles Delaunay kennen, den Jazzkenner und Autor der Hot Discography.

Eine Lungenentzündung, wegen der er Ende der 1930er, Anfang der 1940er Jahre lange Zeit ans Bett gefesselt war, machte dem Traum seiner Mutter ein Ende, die ihren Sohn als einen „neuen Menuhin“ sah. Doch bis Ende der 1940er Jahre war Hodeir durchaus auf der Geige zu hören, im Jazzkontext meist unter dem Pseudonym Claude Laurence, unter dem er 1942 seine ersten Titel für das Label Swing aufnahm, kurz darauf außerdem Platten mit dem Gitarristen Joseph Reinhardt. Nach dem Krieg begann Hodeir seine ersten Artikel für das Magazin Jazz Hot zu schreiben, besuchte eine Analyseklasse bei Olivier Messiaen und beschäftigte sich zeitgleich mit den Aufnahmen Charlie Parkers und Dizzy Gillespies. Von 1947 bis 1951 fungierte er als Chefredakteur von Jazz Hot, eine Position, in der er mehr und mehr das Bewusstsein dafür ausbildete, dass der Jazz Vordenker braucht, die seine Struktur und Machart verstehen, ihn aber auch ästhetisch und intellektuell in die Diskurse der aktuellen Musik einordnen können.

Fargeton nennt ihn „zweisprachig“, weil Hodeir in diesen Jahren musikalisch den Jazz genauso bedienen konnte wie die zeitgenössische Musik, weil er mit Kenny Clarke genauso spielte wie er sich an Streichquartetten versuchte. Und schließlich gibt es erste Beispiele einer Vermengung der beiden Welten, etwa in Stücken wie dem 1953 eingespielte „Saint-Tropez“. Fargeton zeigt, wie sich Hodeirs analytische Beschäftigung mit dem amerikanischen Jazz auch auf seine eigene Kompositionsweise niederschlägt, etwa in der Betonung motivischer Beziehungen oder in seiner Auseinandersetzung mit formaler Gliederung seiner Musik. Es folgten Experimente mit Zwölftontechniken und die Beschäftigung mit anderen seriellen Techniken, etwa im verschworenen Kreis um den Klassiker Pierre Boulez.

1954 veröffentlichte Hodeir das Buch Hommes et problèmes du jazz, eine Sammlung bereits veröffentlichter und bislang unveröffentlichter Aufsätze, die drei Jahre später unter dem Titel Jazz: Its Evolution and Essence auch auf Englisch erscheinen und großen Einfluss auf die ernsthafte Beschäftigung mit dem Jazz haben sollte. Im selben Jahr gründete Hodeir die Jazz Groupe de Paris, ein am Miles Davis Capitol Nonet orientiertes Ensemble, das etwa zehn Jahre lang bestand und Hodeirs Third-Stream-orientierte Kompositionen, aber auch Filmmusik einspielte. Fargeton verfolgt Hodeirs Karriere, beschreibt seine Reise in die USA 1957, den Auftritt der Jazz Groupe bei den Donaueschinger Musiktagen im selben Jahr, sowie die Kooperation mit John Lewis und dem Modern Jazz Quartet, für das er drei Stücke schrieb. Wie Lewis, wie Gunther Schuller und wenige andere blieb André Hodeir dabei ein Mittler zwischen den Welten, konnte sich am Diskurs der zeitgenössischen Musik genauso beteiligen, wie er jenen im Jazz mit seinen Schriften und Stücken selbst mitbestimmte.

1964 wandte sich Hodeir Stücken für größeres Ensemble zu, schrieb für Bigband oder Goßensemble ungewöhnlicherer Besetzung. Zu letzterer gehört insbesondere „Anna Liva Plurabelle“, eine durchkomponierte Jazzkantate über Texte aus James Joyces Finnegans Wake. Mit dem Free Jazz hatte Hodeir weniger am Hut, was ihm Kritik jüngerer Autorenkollegen einbrachte. 1970 brachte Hodeir Les Mondes du Jazz heraus, ein Buch, das einerseits literarischer gefasst ist, anderseits weniger konkrete musikalische als vielmehr ästhetische Themen im Zentrum hat. In den nächsten Jahren zog sich Hodeir weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück, forschte am Pariser IRCAM, schrieb Romane, und trat höchstens auf Anregung des Pianisten Martial Solal, für den er in den 1960er Jahren immer wieder geschrieben hatte, für einige Konzerte wieder auf die Bühne. 1992 wurde „Anna Livia Plurabelle“ wieder aufgeführt, in Brest, Wien und Paris und schließlich unter Leitung des Bassisten Patrice Caratini auch auf Platte aufgenommen.

Im zweiten Teil seines Buchs analysiert Fargeton die musikalische Sprache André Hodeirs, fragt nach Klangfarbenmelodie, -rhythmus und -melodie, Kompositionstechniken, Individualisierung der Töne, nach Textur und Kontrapunkt in seiner Musik, um dann im dritten Teil die Form in Hodeirs Werk unter die Lupe zu nehmen, das Variationsprinzip, sowie die simulierte Improvisation.

Pierre Fargetons Buch ist ohne Zweifel ein Standardwerk zu Leben und Werk André Hodeirs. Insbesondere in den analytischen Passagen, die etwa die Hälfte des Buchs ausmachen, bietet es zeitweilig etwas sperrige Lektüre (was vielleicht auch nicht anders zu erwarten ist). Im biographischen Teil lässt er vor allem die Rezeption ein wenig beiseite, die ja weit über Frankreich hinaus ging. John Gennari hat beispielsweise darauf hingewiesen, wie wichtig Jazz: Its Evolution and Essence für den US-amerikanischen Jazzdiskurs der 1960er Jahre wurde, wo Autoren, egal ob sie ihn umarmten (Martin Williams) oder eher ablehnten (Dan Morgenstern, Whitney Balliett), sich auf jeden Fall zu ihm zu verhalten hatten. Eine solche Diskussion der Auswirkungen seines Denkens und Schreibens, die beispielsweise auch den britischen Autor Eric Hobsbawm oder den deutschen Kritiker Joachim Ernst Berendt mit einzubeziehen hätte, wäre eine sinnvolle Ergänzung. Und wenn auch das Thema des Third Stream sowohl im biographischen wie auch im analytischen Teil des Buchs immer wieder angerissen wird, wäre auch hier eine weiterführende Einordnung der Folgen wünschenswert, in Hodeirs Fall insbesondere auf das Umfeld von Jazzmusikern (Michel Portal beispielsweise), die ähnlich wie er „bi-lingual“ unterwegs waren, also einen Fuß in der Jazztradition hatten, sich aber genauso in der Welt der Zeitgenössischen Musik zuhause fühlten. Doch hätten solche Ergänzungen wohl dazu geführt, das ohnedies dicke Buch auf über 1000 Seiten anschwellen zu lassen.

Es bleibt abzuwarten, was die Korrespondenz zwischen Hugues Panassié und André Hodeir an ästhetischen Streits enthält, an der Fargeton zur Zeit als Herausgeber arbeitet. André Hodeir. Le jazz et son double immerhin ist eine mehr als angemessene und ausgesprochen gelungene Würdigung des Multitalents. In seinem Vorwort schreibt Martial Solal, all die verschiedenen Seiten Hodeirs seien untrennbar miteinander verbunden gewesen. Er habe ihm immer den größten Respekt entgegengebracht, und Bewunderung empfunden für seinen Humor und seine Feinsinnigkeit, die sich denen, die ihn gut kannten, mitteilte. Nun, zumindest letztere Elemente sind durchaus auch in seiner Musik deutlich zu spüren, und durch Fargetons Buch kommen auch wir Leser dem Phänomen André Hodeirs ein wenig näher.

Wolfram Knauer (Januar 2020)


Sonor in Weissenfels, 1875-1950
Von Klaus Ruple
Weißenfels 2017 (Arps Verlag Weißenfels)
240 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3-936341-30-0

Das Schlagzeug-Drumset entwickelte sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und ermöglichte Perkussionsvirtuosen die Bedienung mehrerer Trommeln zur gleichen Zeit. Vor allem die Erfindung des Bass-Drum-Pedals förderte die erfolgreiche Vermarktung eines kompletten Drumsets, das spätestens mit der Aufnahme der ersten Jazzaufnahmen weitgehend komplett war. Trommeln gab es in allen Kulturen, Trommelfabriken bald überall in der westlichen Welt. Klaus Ruple hat nun quasi die Biographie einer dieser Firmen geschrieben, Sonor, gegründet vom Drechsler und Weißgerber Johannes Link in Weißenfels an der Saale und bis heute ein Name im Instrumentenbau.

Ruple beginnt mit einer üblichen Handwerkergeschichte des 19. Jahrhunderts, erzählt, wie der auf der Schwäbischen Alb geborene Johannes Link 1875 nach den damals üblichen Jahren der Wanderschaft im sachsen-anhaltinischen Weißenfels eine Trommelfabrik für die Fertigung von Militärtrommeln gründete. Er beschreibt handwerkliche Prozesse der Zeit, insbesondere das Gerben der Kalbs- oder Ziegenfelle, und findet in der Buchhaltung der Firma Hinweise auf die laufende Expansion: mehr Aufträge, mehr Angestellte, eine größere Produktpalette. Im Jahr 1900 beschäftigte die Firma bereits 50 Mitarbeiter, und 1907 wurde aus der „Ersten Trommelfabrik Weißenfels“ die Firma „Sonor“ mit den Geschäftsbereichen „Herstellung und Vertrieb von Schlaginstrumenten und Spielwaren: Trommeln, Pauken, Trommelfelle, Schlaginstrumente aller Art und deren Bestandteile, Kindertrommeln, Ballschläger und Tischtennisschläger“. Militäraufträge lasteten die Firma bis 1914 gut aus, die sich immer mehr erweiterte und im Februar 1914 einen Fabrikneubau auf einem größeren Grundstück plante, der allerdings durch den Ersten Weltkrieg verhindert wurde.

Ein eigenes Kapitel widmet Ruple der Trommelproduktion für den „Großen Krieg“, der Sonor Produktionszuwächse sicherte, die auch nach Kriegsende nicht nachließen. Nach einem Brand der alten Fabrik baute die Firma an einem neuen Standort, einer ehemaligen Badeanstalt, die Ende des 19. Jahrhunderts von einer Brauerei aufgekauft und zu einem großes Gesellschaftshaus umgenutzt worden war. 1925 beschäftigte Sonor 145 Mitarbeiter in der nunmehr vollends vom Handwerksbetrieb zu industrieller Fertigung gewachsenen Fabrik, die in ihren Verkaufsräumen auch historische Schlaginstrumente vom Dreißigjährigen Krieg bis in die Gegenwart ausstellte. Zum 50-jährige Jubiläum, das der 1914 verstorbene Firmengründer nicht mehr miterlebt, spielte paradoxerweise ein Streichquartett; Sohn Otto und Stiefsohn Max Straubel führten forthin die Geschäfte weiter. Militärinstrumente traten immer mehr in den Hintergrund, stattdessen warb die Firma ab Mitte der 1920er Jahre für die „Eigene Fabrikation von Schlag-Instrumenten jeder Art, Trommelfellen, Banjos, Jazz-Schlagzeugen“. Für eine Weile war Sonor Weltmarktführer bei der Herstellung und Verarbeitung von Fellen, entwickelte daneben immer neue Verbesserungen von Trommeln, Mechanik, Pedalen und Hängesystemen für das Drumset. Einige dieser Lösungen wurden auch von anderen Herstellen übernommen, wie Ruple andeutet, wenn er zumindest Ähnlichkeiten in Design, Ausführung und Verkaufsprogrammen der Firmen erkennt.

1930 reiste Otto Link in die Vereinigten Staaten, um mögliche neue Kunden für seine Produkte zu finden; hatte bald aber auch zuhause wieder große Aufträge, obwohl die Rohstoffversorgung zusehends schwieriger wurde. Insbesondere Eisen und Messing wurden ab 1937 kontingentiert, so dass Sonor insbesondere eine Reihe an Auslandsaufträgen verlor, die stattdessen in die Tschechoslowakei oder nach England gingen. „Den wirtschaftlich und politisch schweren Jahren folgt der Zweite Weltkrieg mit Inflation und Kriegswirren“, formuliert Ruple und fährt fort: „Mit Link-Trommeln marschieren die Deutschen nach Polen, Frankreich, Russland und zahlreiche andere europäische bzw. gar afrikanische Länder ein.“ Bis Ende des Krieges produzierte Sonor einerseits Marschtrommeln für Reichsheer, Luftwaffe, Hitlerjugend und Polizei, wurde aber auch „in die direkte Kriegsproduktion einbezogen, wie Ruple (jetzt etwas weniger konkret) schreibt, „fertigte u.a. für die Junkers Werke in Dessau und Merseburg“. 1945 wird die Firmenbezeichnung von „Trommelfabrik“ gar in „Herstellung von Kriegsgerät“ umbenannt.

Nach dem Krieg flüchtete Otto Links Sohn Horst nach Aue, einen Ortsteil von Bad Berleburg, die Weißenfelser Fabrik, die bei einem Bombenangriff 1944 keinen Schaden nahm, stellte die Produktion währenddessen um auf „Autoumbauten, Herstellung kleiner Kohlenschaufeln und Messer aus Kriegsmaterial, Tische, Wandtafeln für Schulen, Rollwagen aus Abfallholz“. In Aue/Westfalen begann Horst Link mit kleinen Mitteln wieder die Trommelherstellung, während Otto Link im Weißenfels 1948/49 einen Großauftrag über 5000 Trommeln und 1000 Holzkoffer für die Rote Armee an Land zog. Am 7. Oktober wurde die DDR gegründet, und nachdem Links Firma anfänglich noch ins Handelsregister aufgenommen wurde, erfolgte im Jahr darauf schrittweise die Enteignung, verbunden mit der Androhung einer Anklage gegen Link wegen „Wirtschaftsverbrechen“. Otto Link floh in den Westen; die Weißenburger Firma ging in Volkseigentum über. In den 1950er Jahren, die Ruple nur noch am Rande streift, wurde Sonor dann zu einer wichtigen Marke im Jazzbereich, gespielt von Musikern wie Kenny Clarke, Connie Kay, Roy Haynes, Karl Sanner oder Teddy Paris.

Klaus Ruple endet sein Buch mit einer knapp gehaltenen „Fotostory“, die bis in die Gegenwart führt, zeigt Fabrikräume, neue Produkte und Sonor-Künstler aus unterschiedlichen Stilbereichen. Er besucht den Ort der ersten Weißenfelder Fabrik, die wegen Baufälligkeit 2011 abgerissen werden musste, und das ehemalige Bad, das 2015 von von einem kanadischen Investor gekauft wurde, der, wie man zuletzt hörte, plant, daraus wieder ein Kulturzentrum mit Hotel und Ballsaal zu machen. Auch in der DDR wurde in der VEB Trommelfabrik Weißenfels weiterproduziert, erzählt er, die noch bis zur Wende Instrumente der Marken Tacton und Trowa herstellte, dann aber abgewickelt wurde.

Der Buchtitel „Sonor in Weissenfels“ ist viel zu nüchtern für eine so reich gestaltete Dokumentation, die akribisch in die Bücher schaut, viele der zahlreichen Abbildungen genau erklärt, und zwar sowohl Fotos über den Ort der Produktion, über die Instrumente selbst oder über die Familiengeschichte. Bei alledem gelingt es Ruple, die wechselvolle Geschichte einer Fabrik lebendig werden zu lassen, die von der Militärtrommel zum Jazzschlagzeug die Musik des 20sten Jahrhunderts begleitete.

Wolfram Knauer (Juli 2018)


Downtown Düsseldorf. Jazz am Rhein
von Peter K. Kirchhof
Düsseldorf 2017 (Droste Verlag)
176 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978-3-7700-2027-0

Mit einer Dokumentation der Düsseldorfer Jazzgeschichte schließt sich Peter Kirchhof ähnlichen Lokalgeschichten für andere Städte an. Die Zeit bis 1945 wird handelt er darin auf knapp zehn Seiten ab, bevor er die Nachkriegsszene beschreibt zwischen Dixieland, Deutschem Amateur Jazzfestival, der Nähe zur Jazz- und Hochschulstadt Köln, Spielorten wie dem New Orleans, dem Jazz Cap oder dem Dum Dum, Workshops, und Tourneekonzerten internationaler Stars und vielem mehr. Einen besonderen Schwerpunkt legt Kirchhof auf den 1966 eröffneten Club Downtown, das mit Unterbrechungen bis Ende der 1980er Jahre bestand.

„Downtown Düsseldorf“ hält minutiös die Entwicklungen der lokalen Szene fest, nennt Akteure wie Wilton Gaynair, Peter Weiss oder Wolf Doldinger, weiß um die Vernetzung in andere Jazzregionen Nordrhein-Westfalens und um Versuche, das von viel ehrenamtlicher Arbeit getragene städtische Jazzleben den neuesten Entwicklungen und der Stadtkultur anzupassen. Kirchhof bebildert das alles mit historischen Dokumente, Anzeigen, Plakaten, Zeitungsausrissen, vor allem aber mit Fotos des Düsseldorfer Fotografen Hans Harzheim, der nicht nur die Szene in seiner Stadt seit den 1950er Jahren mit der Kamera begleitet hatte.

Alles in allem: eine zu lobende Lokalgeschichte des Jazz, die sich der Vollständigkeit halber allerdings manchmal ein wenig zu sehr im Detail verliert und dabei die Lesbarkeit etwas außer Acht lässt. Ein Musikerregister schließt das Buch ab.

Wolfram Knauer (Juli 2018)


Experiencing Bessie Smith. A Listener’s Companion
von John Clark
Lanham/MD 2017 (Rowman & Littlefield)
187 Seiten, 40 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4340-8

Anders als die Welt der Bigbands, der Jeff Sultanof seinen Listeners‘ Companion gewidmet hat und deren viele Facetten fast zu umfangreich für das Konzept der Buchreihe sind, anders auch als Chick Corea, dessen Aufnahmen Monika Herzig in ihrem Band abhandelte, das aber bis in die Gegenwart reicht, handelt es sich beim Untersuchungsgegenstand, den John Clark sich für diesen Band vorgenommen hat, um ein abgeschlossenes Oeuvre, um Aufnahmen der Bluessängerin Bessie Smith zwischen 1923 und 1933. Clark interessiert dabei, wie Bessie Smiths zu einer Zeit aktiv war, als weder die Genres Jazz oder Blues vollständig ausgebildet waren, als Künstler in populären Genres immer auch Teil eines größeren Programms auf Varietébühnen waren, als sich das alles schließlich erst langsam als ein großes, umfassendes, kommerziell interessantes und zugleich kulturelle Identität beschreibendes Geschäft erwies.

Clark beginnt mit einer Beschreibung des Unterhaltungsangebots für Afro-Amerikaner zu Beginn des I. Weltkriegs, beschreibt das Format der Tent Shows, die Tradition des Blues und die ersten Beispiele dafür, wie dieser seinen Weg in die populäre Musik fand. Er erklärt, wie sich eine Art „classic blues“ herausbildete und wie sich in einer der ersten Aufnahmen des Genres in Mamie Smiths „Crazy Blues“ Einflüsse aus Vaudeville, Ragtime und Tin Pan Alley mischten. Der Erfolg dieser Aufnahme brachte eine ganze Industrie zum Leben, und Clark nennt Beispiele, von denen viele aus der Talentschmiede des Pianisten, Komponisten, Bandleaders und Plattenproduzenten Clarence Williams stammten. Trixie Smith, Alberta Hunter, Ma Rainey und Ethel Waters fanden jeweils ihren eigenen Stil in der Gemengelage eines noch nicht völlig ausgebildeten Genres, und in seiner Besprechung einzelner Aufnahmen dieser Sängerinnen deutet Clark bereits an, was an Bessie Smith so besonders war.

Er beschreibt das mögliche Repertoire zwischen populären Blues-Hits etwa aus der Feder von W.C. Handy, und schlüpfrig-doppeldeutigen Texten. Er beleuchtet Titel wie „Alexander’s Ragtime Band“, den „Yellow Dog Blues“, den Einfluss der Gospelmusik in „Moan You Moaners“, und die Zielgerichtetheit der Texte auf ein afro-amerikanisches Publikum anhand „Mama’s Got the Blues“. Er erklärt das Konzept der auf den afro-amerikanischen Markt ausgerichteten „race records“ und weiß zu berichten, dass auch eine Sängerin wie Bessie Smith erst Testaufnahmen vorlegen musste, bevor sie einen Vertrag mit einer Plattenfirma erhielt. Seine Höranalysen fokussieren sich mal auf musikalische Besonderheiten, Smiths‘ Art der Tonbeugung etwa, ihre Stimmqualität, ihren Sound, mal auf den Text und darauf, welche Konnotationen dieser in den 1920er Jahren gehabt hatte. Er stellt fest, dass allein im ersten Jahr ihres Aufnahmeschaffens sie ganz unterschiedliche Begleitbands hatte, von Jazzensembles bis zu eher folk-orientierten Besetzungen mit Mandoline oder mit Harmonika, Gitarre und Kazoo. In den Aufnahmen nach 1924 erkennt er, wie sich ein ganz eigener Stil herausschält, urbaner, stärker von Jazz durchdrungen, und zwar nicht nur, wenn Fletcher Henderson, Charlie Green oder Louis Armstrong mit von der Partie sind. Clark sucht für all diese Besetzungsformate erhellende Aufnahmen heraus, in denen er Einflüsse auf die verschiedenen Beteiligten genauso erklärt wie das, was da zwischen Solostimme und Begleitung musikalisch geschieht und welche Wirkung es auf die Musik als solche hat.

1927, schreibt Clark, war Bessie Smith eine der am höchsten bezahlten schwarzen Entertainer der Welt. Er beschreibt den Einfluss des Erfolgs auf ihr Schaffen und hinterfragt die Erinnerungen ihrer Nichte Ruby Walker, aus er wir viel über Smiths‘ Privatleben und den professionellen Druck auf sie wissen. Er befasst sich ausführlich mit den Aufnahmen, die Bessie Smith mit James P. Johnson machte, konzentriert sich auch hier abwechselnd auf die Musik, das Zusammenspiel zwischen Stride-Piano und expressivem Gesang, und die Texte, in denen schon mal in einer Zeile biblische Zitate und überdeutliche sexuelle Andeutungen kombiniert werden. Er macht den Leser immer wieder auf die Formgestalt der Stücke aufmerksam oder auf Unterschiede im musikalischen Ansatz etwa von Tommy Ladnier im Vergleich zum früheren Armstrong.

Clark erklärt, dass die Plattenindustrie in den 1920er und frühen 1930er Jahren höchstens ein Zusatzeinkommen, vor allem aber eine Art Werbung für Liveauftritte waren, die immer noch den Hauptteil des Einkommens von Musikern ausmachten. Er diskutiert, warum Aufnahmen nach 1928 von vielen als weit unter Smiths Niveau gehandelt werden, erklärt, dass dies insbesondere an den Begleitbands gelegen habe, die nicht immer auf dem Level der Sängerin waren. Zwischendurch streut er Informationen über Smiths Privatleben genauso ein wie einen Exkurs darüber, welche Rolle die Sängerin wohl bei der Komposition ihrer Songs gespielt habe. 1931 endete Bessie Smiths Vertrag mit Columbia Records, und zwei Jahre später machte sie letzte Aufnahmen für den Produzenten John Hammond, der ihr dazu eine Band mit Frankie Newton, Chu Berry, Jack Teagarden und Benny Goodman zur Seite stellte. Ein eigenes Kapitel widmet sich dem Film „St. Louis Blues“ von 1929, und ein letztes Kapitel dem Einfluss Bessie Smiths‘ auf nachfolgende Generationen, wobei Clark Sängerinen aus dem Bluesbereich diskutiert wie Ruby Walker, Mildred Bailey und Dinah Washington, andere aus dem Jazzbereich wie Connee Boswell und Billie Holiday, sowie spätere von Bessie Smith beeinflusste Sänger/innen wie Mahalia Jackson. Jimmy Rushing, Big Joe Turner, Bob Wills, Nina Simone und Janis Joplin. Eine kommentierte Bibliographie, eine Diskographie mit kompletter Besetzungsnennung der verschiedenen Bands und ein Index runden das Buch ab.

John Clarks Buch ist als Höreinführung angelegt, letzten Endes aber weit mehr als das. Zwischen den Erklärungen zu den Titeln gelingt es ihm, den urbanen Vaudeville-Blues der 1920er Jahre musikalisch genauso einzuordnen wie in seiner kommerziellen Verwertbarkeit, erzählt er von ästhetischen Wegscheiden, an denen viele der Musiker beteiligt waren, die auf Bessie Smiths Aufnahmen zu hören sind. Er weiß die Musik dabei nicht nur aus der historischen Perspektive zu hören, sondern fordert seine Leser auf, sich die Avanciertheit dieses Genres vor Augen zu halten, die Tatsache, dass sich diese Art von Musik ja quasi parallel zu den Aufnahmen erst entwickelte und als eigenständiges Genre ausbildete. Das alles mischt er auf eine Art und Weise, dass die Lektüre an keiner Stelle langweilig wird und man sehr gerne auch die wertenden Passagen seines Buchs am eigenen Höreindruck überprüft.

Wolfram Knauer (März 2018)


Experiencing Chick Corea. A Listener’s Companion
von Monika Herzig
Lanham/MD 2017 (Rowman & Littlefield)
139 Seiten, 35 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4468-9

Monika Herzig, selbst Pianistin und Pädagogin, hat für die Reihe der Listening Companions das Kapitel „Chick Corea“ übernommen. Im Vorwort erinnert sie sich ihr eigenes erstes Livekonzert mit dem Pianisten, dass sie in Tübingen erlebte, und an viele andere Konzerte, die sie besuchte, nachdem sie sich in den Vereinigten Staaten niedergelassen hatte.

Herzig beginnt ihr Buch mit einem Schnelldurchlauf durch die Geschichte des Klaviers im Jazz von den Anfängen bis zu Bud Powell und Thelonious Monk. Eine Timeline bietet eine Übersicht über Lebens- und Karrieredaten Chick Coreas von seiner Geburt 1941 bis ins Jahr 2017. Den Hauptteil des Buchs aber macht wie in den anderen Bänden der Reihe auch hier das gelenkte Hören aus, für das Herzig Aufnahmen aus allen Schaffensperioden auswählt, die sie eingehend beschreibt, indem sie die technischen Details kontextualisiert, also etwa auf Einflüsse, aktuelle musikalische Diskurse zur Zeit der Aufnahme oder auf die spezifische Besetzung hinweist. Sie bedient sich Aufnahmen aus Coreas gesamten Diskographie, in denen Besonderheiten seines Stils besonders gut darzustellen sind, und beschränkt sich dabei auch nicht nur auf solche, die unter seinem Namen herauskamen, sondern diskutiert auch Aufnahmen etwa mit Blue Mitchell oder Miles Davis.

Herzig widmet sich seinen akustischen Bands genauso wie den elektronischen Besetzungen, Duo-Aufnahmen etwa mit Gary Burton, Herbie Hancock, Bobby McFerrin oder Hiromi Uehara. Obwohl die Kapitel grob chronologisch angelegt sind, nimmt sie sich dabei die Freiheit, in einem Abschnitt wie „Playing with Friends“ auch gleich bis in die Gegenwart zu gehen, weil es eben Sinn macht, diese Aufnahmen, die einen ähnlichen Kontext besitzen, auch zusammen zu betrachten.

Sie diskutiert den stilistischen und ästhetischen Wandel der Jahrzehnte und Coreas Reaktion etwa darauf, dass Jazz in den 1980er Jahren immer mehr zu einer Konzertmusik wurde, es zugleich auch ein steigendes Interesse an akustischen Besetzungen gab. Zwischendurch streut sie immer wieder Zitate des Pianisten ein, die zeigen, dass die stilistischen Richtungswechsel bewusste Entscheidungen waren und eine deutliche Reaktion auf die ästhetischen Diskurse seiner Zeit. Ein eigenes Kapitel („Back to Electric“) widmet sich Coreas Auseinandersetzung mit dem technischen Fortschritt, mit seiner Verwendung elektrischer und elektronischer Instrumente und Hilfsmittel; ein weiteres Kapitel („So Many Things to Do“) dem Wandel der Musikindustrie im neuen Jahrtausend, in dem erst Filesharing, dann Downloads zum neuen Distributionsmittel wurden. Dieses Kapitel enthält außerdem eine Diskussion von 24 Aufnahmen aus den Jahren 2001 bis 2015, die zeigen soll, wie es Chick Corea in dieser jüngsten Phase seiner Karriere gelang, die verschiedenen Ausprägungen seines Stils weiterzuentwickeln. Notiz am Rande: Im Kapitel über Chick Coreas Avantgarde-Trio Circle in der ersten Hälfte des Buchs gibt es auch einen kurzen Exkurs über die Zugehörigkeit des Pianisten zur Church of Scientology und seinen Rechtsstreit mit deutschen Behörden, als das Land Baden-Württemberg entschied, dass mit öffentlichen Geldern keine Veranstaltungen gefördert werden dürften, die mit Scientology in Verbindung stünden. Eine Diskographie, ein Literaturverzeichnis und ein Register schließen das Buch ab.

Monika Herzig gelingt es in ihrem Listener’s Companion, dem Leser genügend Zusatzwissen mit auf den Weg zu geben, um in der Musik Chick Coreas Verbindungen zu musikalischen und ästhetischen Entwicklungen des Jazz von den 1960er Jahren bis heute zu erkennen. Ihre analytischen Annäherungen an seine Aufnahmen sind beschreibend, dabei aber eingehend genug, um sowohl den Laien wie auch den Experten auf Kontexte aufmerksam zu machen, die zum vertieften Nochmal-Hören anregen.

Nehmen wir ein Beispiel: Sie beschreibt den Verlauf von „Chick’s Tune“ von 1964 und ordnet dieses Stück gleich als letzten Titel der Aufnahmesitzung ein, für den die Musiker einen Wechsel der musikalischen Textur für ganz sinnvoll erachten. Sie beschreibt, wie das Latin-Thema erklingt, man darunter aber eine bekannte Akkordprogression erkennen kann, verweist auf die Tradition seit dem Bebop, neue Themen über altbekannte Harmonien zu schreiben, und verrät schließlich – im Idealfall hat der Leser sich das Thema jetzt bereits wiederholt angehört –, dass es sich dabei um „You Stepped Out of a Dream“ handelt. Als „fun fact“ ergänzt sie, dass diese Komposition im Geburtsjahr Coreas populär wurde, nachdem sie im Film „Ziegfeld Girl“ mit Judy Garland und Lana Turner gezeigt wurde, weist dann auf die für Standards eher unübliche Harmonik des Stücks hin und darauf, was Corea damit melodisch anfängt. Sie beschreibt nicht nur sein Solo, sondern betont zugleich, dass es damals durchaus nicht selbstverständlich war, dass ein Klavier- und nicht ein Bläsersolo dem Thema folgt, hat dann noch ein paar Anmerkungen zur üblichen Dramaturgie solcher Titel, und dazu, wieso diese Aufnahme der perfekte Schluss für die Platte sein könnte. Nach ähnlichem Muster geht sie auch die anderen Aufnahmen an, die sie beschreibt: Von der Großform zu Details, immer darauf bedacht, diese aus der Jazzgeschichte heraus zu erklären und zu kontextualisieren.

Monika Herzig gelingt dabei mit ihrem Buch mehr als eine Anleitung zum Hören der Musik von Chick Corea. „Experiencing Chick Corea“ ist nicht nur ein Buch für Laien, wenn es diese auch an keiner Stelle abschreckt. Herzig nämlich gelingt die perfekte Balance der musikalischen Erklärung und Kontextualisierung der von ihr ausgesuchten Aufnahmen genauso wie der musikalischen Karriere Chick Coreas. Last not least ist das alles auch noch gut lesbar, überzeugend gruppiert und macht – immer noch das größte Lob für Literatur zur Musik – Lust auf eingehenderes Nachhören.

Wolfram Knauer (März 2018)


Experiencing Big Band Jazz. A Listener’s Companion
von Jeff Sultanof
Lanham/MD 2017 (Rowman & Littlefield)
207 Seiten, 38 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4242-5

Die Reihe „A Listener’s Companion“ will musikalischen Laien das Werk einzelner Künstler oder ganzer Genres näherbringen. Der Fokus liegt dabei auf der Musik; Ziel ist es, den Leser zum gezielten, aufmerksamen Lauschen zu verleiten. Es geht also weder um eine tiefe musikalische Analyse, noch sind die Bände als Biographien oder Stilgeschichten zu lesen. Stattdessen sollen sie genau das sein, was der Untertitel andeutet: Begleiter beim aufmerksamen Zuhören.

Der Komponist, Arrangeur und Musikhistoriker Jeff Sultanof hat die Aufgabe übernommen, einen Bereich des Jazz abzudecken, der von den Anfängen bis in die Gegenwart immer neue Ausprägungen erfahren hat: den Bigband-Jazz. Er beginnt sein Buch mit einer Timeline, in der europäische Walzerorchester und Ragtimebands als Vorläufer ebenso enthalten sind wie die klassische Bigbands der Swingära und spätere modernere Besetzungen. Kurz handelt er die üblichen Formate und gängigen Formmodelle des Genres ab; dann geht es auch gleich los¬:

Sultanof beginnt mit James Reese Europe und Art Hickman, er erwähnt all die erwartbaren Größen des Metiers, Henderson, Ellington, Goodman, Basie, aber auch Beispiele, die eher Eingeweihten bekannt sein dürften, Red Norvo, Don Redman, Ray McKinley. Neben den Swingbands handelt er auch jene des modernen Jazz ab, also Dizzy Gillespie, Gil Evans, Gerry Mulligan, Thad Jones, und kommt mit Maria Schneider oder der Mingus Big Band bis in die Gegenwart.

Seine kurzen Höranalysen verweisen auf Besetzungsänderungen, Soli, auf bestimmte rhythmische oder harmonische Facetten. In diesen versteht er sich als „tour guide“, als Stadtführer durch eine Region, die er besonders gut kennt. Er macht auf Besonderheiten aufmerksam, erklärt Kontexte, weist darauf hin, woher bestimmte Entwicklungen kommen oder wohin andere gehen. Und er hält auch mit dem eigenen Enthusiasmus nicht hinterm Berg, wenn er insbesondere einzelne Soli lobend heraushebt. Immer wieder verweist er auf den Hintergrund, auf die Tricks, mit denen Arrangeure aus der Zusammenstellung bestimmter Instrumente besondere Klänge erzeugen.

Ab und an fühlt man sich dabei an Fußballreportagen erinnert. Ein zufällig herausgegriffenes Beispiel: „Nach einer Einleitung“, lautet etwa Sultanofs Tour durch Shorty Rogers‘ Version von „Topsy“, „spielen Tenor- und Baritonsaxophone den A-Teil der Melodie (0:14); der B-Teil wird von der ganzen Band übernommen (0:41). Rogers soliert mit einfachem Dämpfer (1:08), und Herb Geller spielt ein Solo auf dem Altsaxophon (1:36). Die ganze Band spielt bis zum Solo des Tenorsaxophonisten Jimmy Giuffre (2:19). Marty Paich spielt ein Klaviersolo (2:32), und dann erklingt die Melodie wieder in den Saxophonen (2:46). Die Einleitung wird wiederholt und schließt mit einem gehaltenen Akkord am Ende.“ Hier wie anderswo gibt Sultanof dem unerfahrenen Hörer die Chance Strukturen zu erkennen und musikalische Entwicklungen nachzuvollziehen. Nun gut, meint der Jazzkenner, das meiste davon hört man doch eh, warum also noch extra darauf hinweisen? Und tatsächlich wäre es vielleicht genauso interessant gewesen zu erklären, warum sich jemand wie Rogers ausgerechnet die Basie-Band zum Vorbild nimmt, dass das Thema des Anfangs sehr bewusst in einem ruhigen Unisono gehalten ist, während die Bridge dem genauso bewusst komplexere Harmonien entgegensetzt, als die Basie-Band sie je gespielt hätte. Vielleicht wäre ein Hinweis darauf ganz interessant gewesen, wie die Posaunen im letzten A-Teil des Themas die Basslinie verdoppeln und alles dunkel einfärben, so dass Rogers‘ gedämpftes Solo als ganz besonderer Kontrast hervortritt, oder darauf, dass die Wiederholung der Einleitung am Ende der Aufnahme eben nicht nur eine solche ist, sondern Rogers sich wieder mit seiner gedämpften Trompete darüber setzt und damit im Schluss das Stück quasi öffnet. Will sagen: Neben der bloßen Ablaufbeschreibung ließe sich ja auch eine Beschreibung der Dramaturgie, der Klangentwicklung, der Qualität einzelner Soli denken, ohne dass man dazu zu technisch werden müsste. Oder eben, und zwar gerne für jedes Stück unterschiedlich, die jeweils eine Frage: Was sagt uns das Stück im Kontext der Jazzgeschichte.

Die Verzahnung der sehr unterschiedlichen Beispiele immerhin gelingt Sultanof in den Zwischentexten, in denen er neue Protagonisten einführt, besondere Ereignisse (Konzerte oder Aufnahmen) schildert, musikalische Einflüsse nachzeichnet oder ästhetische Richtungsentscheidungen erklärt. Und hier deutet er dann auch an, wie Personalstile in diesem Bereich entstehen und was den Sound der betreffenden Aufnahme so besonders macht. Die verständliche Entscheidung, das alles quasi chronologisch darzustellen, vergibt dabei die Chance, etwa nach Klangfarben, nach Avanciertheit oder auch nach persönlicher Entwicklung zu gruppieren. In einer solchen Lesart hätte sich darstellen lassen, wie sich Ellingtons Orchesterstil über die Jahre veränderte, wie die Bigbandklänge von Stan Kenton, Count Basie, jenem gerade erwähnten Shorty Rogers und Thad Jones miteinander in Beziehung stehen, wie die Auseinandersetzung mit Klangfarben bei Claude Thornhill, Eddie Sauter, Sun Ra oder dem Orchestra USA unterschiedliche Resultate gezeitigt hat – wobei das Orchestra USA überhaupt nicht vorkommt – usw.

Die Grundsatzfrage also ist : Muss ein Buch, dass sich an Jazzlaien richtet, an der Oberfläche bleiben? Reicht es aus, Ellingtons Karriere von den 1920er bis in die 1960er Jahre anhand von Beispielen zu verfolgen, aber nirgends zu erklären, dass Ellingtons Art des Konzipierens von Musik für großes Ensemble sich grundsätzlich von der Herangehensweise anderer Bigbands unterscheidet? Kann allein die Identifikation von Soli in diesen Aufnahmen wirklich die Musik erklären?

Nun gibt es sicher auch gute Argumente für Sultanofs Darstellungsweise. Er will mit seinem Buch ja Mut machen, sich eingehender mit der Musik zu beschäftigen; er will Kontexte liefern, aus denen heraus auch ein nicht mit dieser Musik aufgewachsener Leser vielleicht zu verstehen vermag, was sie so faszinierend machte. Warum allerdings die Stücke im Fließtext in den dicken Unterbrechern, die auf sie aufmerksam machen sollen, einzig durch Titel mit Komponist, gegebenenfalls Arrangeur, Aufnahmeort und -datum identifiziert werden, man dann aber drumherum suchen muss, welches Orchester denn für diese Aufnahme verantwortlich war, ist schwer verständlich.

Das wiederum ist eine editorische Schwäche des Buchs, dem es nicht nur an dieser Stelle an Übersichtlichkeit mangelt. Auch dass am Schluss die verschiedenen Register nicht miteinander verzahnt werden, trägt zu diesem Bild bei: Da gibt es ein Register, dass die einzelnen Aufnahmen – wie im Buch vorkommend, Kapitel nach Kapitel –, aufzählt, aber keine Seitenzahl gibt. Dann ein Register der wichtigsten Orchester mit den im Buch genannten Titeln, aber wieder ohne Seitenzahl. Und schließlich ein Personen- und ein Titelregister mit Seitenzahl, wobei bei letzteren darauf verzichtet wird die Zuordnung zu den Ausführenden zu erwähnen. Das ist besonders schade, da Sultanof doch sehr bewusst immer mal wieder einzelne Titel auswählt, die gleich von verschiedenen Bands aufgenommen wurden, um im Vergleich des scheinbar selben Grundmaterials Unterschiede erklären zu können.

Last not least, eine Anmerkung des europäischen Lesers: Dass Sultanof zwar ein paar britische Bands und Francy Boland mit einbezieht, Europa ansonsten außen vor lässt (Orchestre National du Jazz? George Gruntz? oder gar: Globe Unity???), ist wohl vor allem dem angepeilten amerikanischen Publikum zu schulden. Sein Buch richtet sich insbesondere an musikalische Laien, an Amateur-Bigbandmusiker, an Lehrer und an Schüler. Auf den knappen Ausflug bis in die Gegenwart allerdings hätte er auch verzichten können: seine kurzen Sätze zu Kamasi Washingtons „The Epic“ und Ted Nashs „Presidential Suite“ sind nicht einmal mehr beschreibend.

Alles in allem also eine gute Idee, von Sultanof, einem ausgewiesenen Kenner der Materie, mit viel Gefühl für die Zwischentöne ausgeführt. Auch die Wahl der Beispiele ist gelungen, bei der Bekanntes neben Unerwartetem steht und sich so die Varietät des Genres bestens beleuchten lässt. Vielleicht liegen all die kritischen Untertöne dieser Rezension ja in der Grundidee der Reihe begründet, die im Vorwort des Herausgebers im Satz mündet, man wolle Leser erreichen, die keine exzessive musikalische Ausbildung besäßen und sich nicht laufend ihres elitären Wissensstands (wörtlich spricht er von „elitist shoulder rubbing“) vergewissern müssten. Nun ja, unterfordern sollte man die Leser und Hörer aber auch nicht…

Wolfram Knauer (März 2018)


Jazz en 150 Figures
von Guillaume Belhomme
Paris 2017 (Editions du Layeur)
360 Seiten, 39,90 Euro
ISBN: 9-782-91512-631-0

Guillaume Belhomme ist ein französischer Musiker und Journalist. Sein jüngstes Buch will die Jazzgeschichte in 150 Musikerportraits erzählen und damit die Abfolge instrumentaler und vokaler Helden bis in die Gegenwart fortschreiben. Die Künstler werden chronologisch in die üblichen Stilschubladen-Kapitel sortiert, von „Early Jazz“ über „Swing“, „Bebop“, „Cool“, „Hard Bop, „Post Bop“, „Free Jazz“ bis zu „Modernes“, einer Abteilung, die Musiker fasst, die irgendwo zwischen freier Improvisation und eklektischen Experimenten arbeiten. Belhomme wählt für jeden der 150 Musiker von King Oliver bis Mats Gustafsson jeweils fünf Platten aus, die für ihn die Bandbreite ihrer künstlerischen Arbeit beleuchten. Dafür nimmt er sich jeweils zwei, in Ausnahmefällen vier Seiten Platz, bebildert das alles mit einem, selten zwei Fotos und zwischen zwei und vier Abbildungen der erwähnten Platten. Er beginnt seinen Text mit knappen biographischen Anmerkungen, streicht dann wichtige Aufnahmen heraus und betont die Bedeutung der Musiker für die Jazzgeschichte. Tief kann das alles nicht gehen, und das Buch lebt neben den kurzen Annäherungen an die Kunst der Musiker vor allem von den Abbildungen.

Der Jazzkenner wird in diesem Buch also inhaltlich wenig Neues entdecken, wird immerhin auf den einen oder anderen Musiker verwiesen, der in seinem persönlichen Kanon vielleicht nicht denselben Stellenwert hat. Eine solche Auswahl ist nun mal immer persönlich, und eigentlich ist es müßig, sich an den Entscheidungen des Autors zu reiben. Allerdings irriert dann doch, dass Belhomme in seiner Auswahl kaum die Chance ergreift, die Heldengeschichte des Jazz vielleicht auch mal in Frage zu stellen, dass er sie stattdessen als eine Geschichte männlicher und meist amerikanischer Künstler fortschreibt. Naja, unter den 150 portraitierten Musikern befinden sich immerhin siebzehn Nicht-Amerikaner, allerdings nur sechs Frauen, und unter diesen nur zwei Instrumentalistinnen. Nicht einmal Django Reinhardt oder Mary Lou Williams fanden Eingang in Belhommes Tableau des Jazz. Man mag das als lässliches Versehen entschuldigen, ein Buch selbst diesen Umfangs kann schließlich nicht alles abdecken. Und doch ist es schade, dass Jazzgeschichte im Jahr 2017 immer noch nach alten Mustern erzählt wird, insbesondere durch einen Autoren, der den Jazz eigentlich als eine Musik der Offenheit und Vielfalt versteht.

Fazit: Man sollte sich also nicht zu tief hineinvertiefen in die Auswahlentscheidungen Belhommes, sollte stattdessen die schön layouteten Seiten genießen, die Hörerinnerungen hervorrufen oder neugierig machen auf neue Hörentdeckungen. Und die Lektüre als Aufforderung verstehen, als Leser seine eigenen Namen hinzuzufügen und auch für diese fünf Alben auszuwählen, die Jazzgeschichte aus einer noch anderen Perspektive wahrnehmbar werden lassen.

Wolfram Knauer (Februar 2018)


Commemoration of the Centenary of the arrival of the African-American military bands in France during World War I
von Dan Vernhettes
Saint-Etienne-du-Rouvray 2017 (Jazz’edit)
54 Seiten, 20 Euro
Bestellungen unter http://www.jazzedit.org/English/Centenaire/Centenaire%201918.html

Im Februar 2018 jährt sich zum 100sten Mal die Ankunft afro-amerikanischer Regimenter in Europa. Das 15. Regiment der New York National Guard, das in Frankreich als 369stes Regiment der IV. französischen Armee zugeordnet wurde, kämpfte an der Front, kam bis zum Rhein und wurde nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten als Harlem Hellfighters gefeiert. Zu dem Regiment gehörte eine Militärkapelle, die von Ltd. James Reese Europe geleitet wurde und deren Mitglieder nicht nur Musik machten, sondern auch aktiv mitkämpften. Neben der Tatsache, dass hier Soldaten für Demokratie und Freiheit kämpften, die zuhause Segregation und Rassismus zu erdulden hatten, ist vor allem die Tatsache bemerkenswert, dass Europe und seine Band wahrscheinlich den ersten Jazz nach Europa brachten. Dass diese Musik mit der Art von Jazz wenig zu tun hatte, die bald auf Schallplatten erschien und weltweit begeistert aufgenommen wurde, dass der Marschkapellen-Charakter deutlich stärker war als die Improvisation kleinerer Besetzungen, führte dazu, dass die Jazzgeschichte oft genug höchstens von „Proto-Jazz“ sprach. Und doch ist es die Spielhaltung dieser Bands, die von ihr als wohl erster Jazzerfahrung für viele europäische Zuhörer sprechen lässt. Vom 1. Januar 1918 bis zum 13. Januar 1919 waren europe und seine Band in ganz Frankreich zu hören, in Brest, wo sie per Schiff anlandeten (und wieder abreisten), sowie in Orten wie Saint-Nazaire, Aix-les-Bains, Givry, Maffrécourt, Châlons, Paris, Vouziers, Bladhelsheim, Belfort und Les Mans. Aus Anlass des Zentenariums findet im Februar 2018 in Nantes eine Konzertreihe und eine kleine Konferenz statt. Zuvor hat der französische Jazzhistoriker Dan Vernhettes ein lohnenswertes und reich bebildertes Buch herausgegeben, das die Stationen von Europes Hellfighters Band sowie die anderer, weniger bekannter afro-amerikanischer Armeekapellen in Europa im I. Weltkrieg oder kurz danach verfolgt.

Vernhettes beginnt mit einem Überblick über zeitnahe Begegnungen amerikanischer Jazzbands mit einem europäischen Publikum, sowie über den Eintritt der Vereinigten Staaten in den „Großen Krieg“. Er beschreibt das Camp Pontanézen in Brest, in dem am 12. November 1917 die ersten amerikanischen Truppen anlangten, und beziffert die Soldaten in den 27 afro-amerikanischen Regimentern auf 42.000, darunter immerhin ca. 1.000 Musiker, die in den Armeekapellen Dienst taten. Er widmet sich Jim Europes Biographie, der 1880 in Mobile, Alabama, geboren wurde und um die Jahrhundertwende nach Washington, D.C., zog. Europe arbeitete als Pianist, Geiger und Dirigent für verschiedene Varietéshows und machte sich ab 1903 auf der New Yorker Musikszene einen Namen. Dort setzte er sich auch für eine Interessenvertretung für afro-amerikanische Musiker ein und gründete 1910 den Clef Club, der ein eigenes Symphony Orchestra organisierte und Musikern in der ganzen Stadt Arbeit vermittelte. Bald begleitete seine Band das populäre Tanz-Duo Irene und Vernon Castles, für die er Stücke im Repertoire hatte, die er auch auf Schallplatte aufnahm. Noch vor Kriegseintritt der Vereinigten Staaten meldete er sich im September 1916 zusammen mit dem Sänger Noble Sissle freiwillig zum Wehrdienst, ein halbes Jahr später wurde er damit beauftragt, „die beste Militärkapelle der Vereinigten Staaten“ zu organisieren. Per Zeitungsannonce suchte Europe Musiker im ganzen Land und reiste sogar nach Puerto Rico, um dort Instrumentalisten zu rekrutieren. Am 22. Juni 1917 gab die Kapelle ihr erstes Konzert im New Yorker Manhattan Casino vor 4000 Zuhörern, im Monat darauf wurden die Mitglieder in den aktiven Dienst berufen.

Vernhettes beschreibt, wie diese Kapelle im Januar 1918 in Brest ankam und wie sie und alle anderen afro-amerikanischen Soldaten in den französischen Dörfern und Städten, durch die sie kamen, willkommen geheißen wurden. In Orten wie Aix-les-Bains blieben sie einen vollen Monat, gaben Konzerte in Parks, Krankenhäusern und im Kasino. Im März wurde das Regiment, dem die Band angehörte, unter die Befehlsgewalt der französischen Armee gestellt und die weitere Ausbildung der Soldaten von französischen Offizieren übernommen. Zwischenzeitlich wurde Europe den kämpfenden Truppen zugeteilt und war der erste schwarze Offizier, der Truppen in den Grabenkämpfen kommandierte. Vernhettes hat etliche Fotos gefunden, die die Band in Aktion zeigt, teils bei Konzerten für das zivile französische Publikum, teils für Mitglieder der US-Armee. Es gibt ein Foto, dass einzelne Musiker neben einem Schlagzeug zeigt, auf dem deutlich „Jass Band“ zu lesen steht, das damit klar macht, dass der musikalische Grat zwischen Jazz und sonstiger Musik zumindest für die Musiker nicht sonderlich hoch war. Im September 1918 waren etliche der Soldaten an der großen Schlacht zwischen Verdun und Reims beteiligt, im November erreichten sie den Rhein. Im Dezember erhielten Europe und andere Mitglieder des 369sten Regiments das Croix de Guerre, im Januar 1919 kehrten sie alle zurück nach New York, wo sie mit einer großen Parade empfangen wurden. Ein kurzer Einschub beschreibt die Aufnahmen, die Europes Band 1919 für das Pathé Label machte, und in einem Nachsatz beschreibt Vernhettes, wie Europe während eines Konzerts im Mai 1919 vom Schlagzeuger der Band erstochen wurde.

Die Hellfighters schrieben Geschichte, aber Vernhettes ist es auch wichtig auf andere Bands hinzuweisen, die zur selben Zeit in Frankreich zu hören waren. Er fasst zusammen, was über die weiteren Regimentskapellen zu finden ist, beschreibt das Wirken etwa der Bands unter Leitung von Tim Brymn, George Dulf und Will Vodery. Ein kurzer Ausblick widmet sich dem Wirken des Schlagzeugers Louis Mitchell, des Sängers Noble Sissle und des Pianisten und Bandleaders Sam Wooding, die alle ihren Anteil an der Popularisierung von Jazz und afro-amerikanischer Musik in Europa in den Jahren direkt nach dem 1. Weltkrieg hatten.

Dan Vernhettes Buch ist überaus reich bebildert und fasst lesenswert zusammen, was über die Aktivitäten afro-amerikanischer Militärkapellen in den Jahren zwischen 1917 und 1919 zu finden ist. Er geht nicht weiter auf die Frage ein, inwieweit die Musik Europes und anderer als „Jazz“ zu werten ist oder damals als „Jazz“ rezipiert wurde, diskutiert in seinen knappen Anmerkungen zu den Aufnahmen James Reese Europes immerhin, wie sich deren Musik zwischen Vorbildern wie John Philip Sousa und Arthur Pryor und dem instrumentalen Ragtime der Zeit bewegten. Das lesenswerte Büchlein ist allemal ein würdiger Tribut an das hundertjährige Jubiläum der Ankunft des Jazz in Europa.

Wolfram Knauer (Februar 2018)


Jazz in Concert. Mein Leben als Konzertveranstalter
von Oskar Riha & Susanne Schulzke-Riha
Ludwigshafen 2017 (Rosamontis Verlag)
275 Seiten, 19,80 Euro
ISBN: 978-3-940212-87-0

1994 entschloss sich Oskar Riha, Gitarrenlehrer aus Memmingen im Allgäu, ein Konzert mit dem Trio des Schlagzeugers Paul Wertico zu organisieren, der in den 1980er und 1990er Jahren in der Band des von Riha so bewunderten Pat Metheny mitgewirkt hatte. Aus dem einen Konzert wurden bald mehr, und vier Jahre später gründete er einen Verein, JAMM, Jazz & More Memmingen, um Verstärkung für die vielen Aufgaben zu haben und zugleich besser Fördergelder einwerben zu können. Mit JAMM brachte Riha die nächsten 18 Jahre über viele namhafte Musiker der amerikanischen wie europäischen Jazzszene in die kleinen Stadt im Allgäu, bis sich der Verein 2016 auflöste und er sich selbst von Konzerte-Organisieren zurückzog.

Jetzt erinnert sich Oskar Riha in dem von seiner Frau Susanne Schulzke-Riha verfassten Buch an die vielen Begegnungen mit Stars, an die Freuden und die oft unvorhergesehenen Probleme, die diese Konzerte mit sich brachten, und er lässt seine Leser dabei teilhaben an den alltäglichen, den spontanen und absurden Erlebnissen, denen sich (insbesondere ehrenamtliche) Konzertveranstalter immer mal wieder ausgesetzt sehen.

Riha ist dabei, wie man der Lektüre anmerkt, immer ein Fan dieser Musik geblieben. Er liebt den Jazz, und er hat klare Präferenzen für das, was er präsentieren will. Selbst Gitarrist schlägt sein Herz natürlich für Metheny, Ralph Towner, John Abercrombie oder Robben Ford, daneben aber auch für Charlie Haden, Charles Lloyd, Bill Evans, Brad Mehldau, Michael Wollny, Jan Garbarek und andere mehr.

Über die Jahre erarbeitete er sich ein Publikum, das teils aus der Region stammte, für die Memminger Events teils aber auch aus der Ferne anreiste. Der Ruf seiner Konzertreihe sprach sich bei anderen Veranstaltern in Deutschland genauso herum wie bei Musikern international. Riha schaffte es nach und nach ein Netzwerk zu bilden mit Künstlern, Agenturen, Veranstaltern und vielen anderen, die er durch sein Engagement überzeugen konnte und die ihm helfen wollten, die Konzerte zu Erfolgen werden zu lassen.

Rihas Buch handelt also von all dem, was auch dazugehört, um die Musik erklingen zu lassen. Es handelt von Verträgen, von Gagenverhandlungen, von technischen Ridern, von Backlines und von vertraglich festgehaltenen Sonderwünschen aller Art. Es handelt von dem Bemühen, den Künstlern einen guten Aufenthalt und die besten Spielmöglichkeiten zu bieten, und es handelt davon, wie schwer all das sein kann, wenn man keinen festen Veranstaltungsort zur Verfügung hat und sich um alle zusätzlichen Details neben dem Brotberuf kümmern muss. Riha beschreibt lebhaft, wie er über die Jahre Erfahrungen sammeln konnte, wie er mit Problemen umging und sie meistens erfolgreiche meisterte, und wie die Künstler, die er zu betreuen hatte, seinen ganz persönlichen Einsatz in der Regel auch zu schätzen wussten.

Der Jazz lebt, wie wenige andere Sparten des Musikgeschäfts, von genau solchen engagierten „Verrückten“ wie Oskar Riha. Er lebt davon, dass es eine flächendeckende Struktur von Kleinveranstaltern und ehrenamtlichen Initiativen gibt, deren Mitglieder Konzerte in erster Linie deshalb veranstalten, weil sie die Künstler in ihrer Region sonst nie hören könnten. Oskar Rihas Buch bringt einem die Freuden genauso wie die Beschwernisse dieses Engagements anschaulich vor Augen, und Riha streicht neben der großartigen Musik, die er erleben konnte, immer auch heraus, wie befriedigend die Begeisterung des Publikums für ihn war. Sein Buch, das genauso über hervorragende Konzerte berichtet wie über Freundschaften, die er über die Jahre mit „seinen“ Künstlern schließen konnte, ist für Memminger ein einziges Erinnerungsalbum, für alle anderen ein Beispiel für die ehrenamtliche Arbeit von der die hiesige Jazzszene auch lebt, und außerdem eine schnelle und überaus vergnügliche Lektüre.

Wolfram Knauer (Februar 2018)

PS: Lieber Oskar Riha: Es gibt einen Unterschied zwischen Roadies und Rowdies (S. 110), aber ich habe herzhaft gelacht!


Joe Sydow und „Kleopatra“
herausgegeben von Martina Schmoll
Hamburg 2017 (Fokumala Verlag)
100 Seiten, 39 Euro (Selbstkostenpreis, plus Porto)
Bestellung über info@fokumala.de

Der Bassist Joe Sydow verstarb am 3. Januar 2018 im Alter von 91 Jahren. Er konnte das Erscheinen des Bildbandes gerade noch miterleben, den Martina Schmoll aus mit Dokumenten über seine Karriere, Zeitungsartikeln über seine musikalischen Aktivitäten, privaten Fotos und Gedichten zusammengestellt hat, die Sydow seit seiner Jugend gerne schrieb und durchaus auch gerne vortrug. Das Ergebnis ist ein liebevoll layoutetes und sehr persönliches Buch, keine kritische Dokumentation, sondern eine freundschaftliche Erinnerung an ein reiches musikalisches Leben und an einen Hamburger Fan- und Freundeskreis, der ihm bis zum Schluss treu blieb.

Ekkehard Sydow kam 1926 in Rottach-Egern am Tegernsee zur Welt, und begann zu Schulzeiten klassischen Kontrabass zu spielen. Nach Kriegsende begann er seine Jazzkarriere in der Band von Klaus Gering, spielte dann von 1947 bis in die 1960er Jahre mit dem Orchester Kurt Edelhagen, daneben mit dem Geiger Helmut Weglinski. Ab den späten 1960er Jahren war er Bassist des NDR Tanz- und Unterhaltungsorchesters und gehörte damit fest zur Hamburger Jazzszene, die eher traditionell, also irgendwo zwischen New Orleans und Swing, ausgerichtet war. In den 1980er Jahren wirkte er bei Musicals mit und war 2010 im Film „Schenk mir dein Herz“ mit Paul Kuhn zu sehen, den er noch von seiner Jugend in Heidelberg her kannte.

All diese Stationen dokumentiert Martina Schmoll mit vielen Fotos, Zeitungsausrissen und liebevollen Anmerkungen. Da finden sich Erinnerungen an eine Nordafrikatournee Edelhagens, Korrespondenz mit der GEMA, die Kopie seines Vertrags für eine Aufzeichnung zum 25-jährigen Jubiläum der Edelhagen Big Band beim WDR, und Erinnerungen von Sydow und Mitmusikern an die Tücken des Musikerlebens und wie man sie meistert. Dazwischen immer wieder Gedichte, die Sydow über die Jahre verfasst hatte, und zwar zu allem und jedem: manchmal im Stile eines Eugen Roth, zu Themen wie dem pekuniären Wert des menschlichen Körpers, zu Ehrgeiz, Hunden, Parfum und Körpergeruch, zum Wert der Verlobung, aber auch über Orchesterleiter wie Alfred Hause und Franz Thon, über Mitmusiker wie Günter Fuhlisch und Ladi Geisler.

Man sollte bei alledem also keine zusammenhängende Biographie erwarten, sondern vor allem eine Sammlung von Anekdoten. Bei alledem – und wissend, dass es ihr um die Würdigung eines Freundes ging und eben nicht um die lückenlose Dokumentation seiner Karriere – erlauben die von Martina Schmoll gesammelten Erinnerungen dennoch einen Einblick ins Schaffen eines über die Jahre verlässlichen Musikers, der im Hintergrund den deutschen Jazz mit geprägt hat.

Wolfram Knauer (Januar 2018)


Modern Piano School. Klavier. Band 1+2. Schule für Jugendliche & Erwachsene
von Axel Kemper-Moll
Offenbach 2017 (Art Edition)
jeweils 76 Seiten
jeder Band: 19,90 Euro; Begleit-CDs je Heft: 10 Euro
ISBN: 978-3-947071-00-5 (Band 1)
ISBN: 978-3-947071-02-9 (Band 1)
www.modern-piano-school.de

Als erfahrener Klavierpädagoge hörte Axel Kemper-Moll von Kolleg/innen immer wieder, dass sie, um ihre Schüler/innen mit interessantem Material bedienen zu können, Notenmaterial aus unterschiedlichsten Quellen zusammenstückeln müssen. Ihm ging es in seiner täglichen Arbeit nicht viel anders, und so entschied er sich, eine eigene Klavierschule herauszugeben, in der all die pädagogischen Facetten enthalten sind, die ihm wichtig schienen: Ansätze an klassische Kompositionen also genauso wie an populäre Klavierstile, an Latin-, Blues- und Jazzstandards sowie überhaupt an das Thema der Improvisation.

Nach elementarem Grundwissen über die Tastatur, das Tonsystem, den grundlegenden Fingersatz und Körperhaltung folgt im ersten Band gleich der musikalische Spaß: zum Teil selbstgeschriebene Kompositionen, zum Teil Bearbeitungen klassischer Themen. Kemper-Moll erhöht den Schwierigkeitsgrad mäßig; er empfiehlt den Schülern die komplexeren Titel auf der zu den Heften erhältlichen CD zu hören, um die Melodien oder die Rhythmik im Zusammenhang zu erleben und sich aus dem Mix von Notenbild und Hörerinnerung an die Musik heranzuarbeiten. Viele Titel sind vierhändig gesetzt mit den schwereren Teil für den Lehrer, der etwa Wagners „Pilgerchor“ auffüllt oder Jacques Offenbachs „La Vie Parisienne“ den nötigen Schwung verleiht. Kemper-Moll weiß, wie sehr gerade Anfänger auf dem Instrument an feste Fingerhaltungen gewöhnt sind und erweitert die Klaviatur Stück für Stück um weitere Lagen, erläutert auch, wie erste technische Schwierigkeiten zu lösen sind (etwa das Verschieben des zweiten und fünften Fingers). Dem Lehrer bleibt es insbesondere in den jazzigeren Stücken aus Kemper-Molls Feder belassen, die vorgegebenen Lehrerstimme oder aber eine Begleitung aus den in der Schülerstimme benannten Harmoniesymbolen zu spielen. Der erste Band endet mit einem gerade für Klavieranfänger besonders wichtigen Kapitel: vier Weihnachtsliedern, von denen zwei allein und zwei mit dem Lehrer zu spielen sind (den aber vielleicht nicht jeder zur privaten Weihnachtsfeier im Kreis der Familie einladen mag).

Band 2 erweitert das Wissen um die Klaviertastatur nun deutlich um die bislang noch fehlenden Noten, um Pedale und Vorzeichen am Zeichenanfang, um Durtonleitern (wobei zum Schluss auch die Molltonleitern erläutert werden) und um die Einladung, dem Ohr genauso zu vertrauen wie den Augen (also hörend zu lernen, nicht nur lesend) und sich dabei bewusst zu sein, das Improvisation oder Fantasieren schon immer mit zur Musikausübung gehörte. Zu Beginn des Bands lässt Kemper-Moll seine Schüler jeden einzelnen Ton auf der Klaviatur identifizieren, ermutigt zum Erkennen der Lagen und ermutigt, sofern man einzelne Stücke zu können meint, die sich dazu anbieten, mit Rhythmik, Pausen und eigenen Melodien zu experimentieren. Er stellt die Pedale vor und zeigt ihren Einsatz am Beispiel des Gospels „Michael Row the Boat Ashore“. „Hit the Road Jack“ lässt ihn außerdem Swingachtel und Bluestonleiter einführen. Lehrer-/Schüler-Stücke sind in diesem Band schon seltener, und wenn (wie im „D Moll Menuett“ von Johann Sebastian Bach) sehr effektvoll gesetzt. Einen besonderen Schwerpunkt lenkt Kemper-Moll auf Fingerhaltung und Fingersätze und reißt knapp die Welt der Pentatonik an. Dann gibt es noch ein paar Vorführstücke: Auf Eigenes wie den „Tanz auf Hawaii“ oder „Tom’s Boogie“ folgt Bachs „Präludium C-Dur“ (unbearbeitet), eigene Stücke mit Anleihen aus irischer Folklore oder jiddischer Musik, Tschaikowski, Händel, und – mit all dem Üben ist wahrscheinlich wieder ein Jahr vergangen – weitere Weihnachtslieder, mit denen man die Familie beglücken kann.

Der geplante dritte Band wird sich stärker mit handwerklichen Grundlagen befassen und außerdem eine Anleitung zum Spiel nach Akkordsymbolen und zur Improvisation geben.

Kemper-Molls „Modern Piano School“ ist so angelegt, dass Langeweile eigentlich weder beim Lehrer noch beim Schüler aufkommen sollte. Sie bietet genug stilistische Abwechslung, einen behutsamen Fortgang der Unterrichts mit etlichen Möglichkeiten für die Klavierlehrer, die angerissenen Themen weiter zu vertiefen. Vor allem versucht Kemper-Moll in seiner Klavierschule immer wieder die Furcht vor den Noten auf dem Papier zu nehmen und den Schüler zu ermutigen, daneben seinem Ohr zu vertrauen.

Wolfram Knauer (November 2017)


The Jazz Repertoire. A Survey
von Jan J. Mulder
Almere/Netherlands 2017 (Names & Numbers)
598 Seiten, 45 Euro
ISBN: 978-90-77260-24-1
www.names-and-numbers.nl

Names & Numbers ist genau das: eine in den Niederlanden publizierte Zeitschrift, die sich der diskographischen Erforschung des Jazz widmet, also fragt, wer wann was aufgenommen hat, dabei Lücken in der Dokumentation des Aufnahmeschaffens vieler Künstler schließt, auf Fehler bisheriger Diskographien hinweist oder generelle Fragen darüber aufwirft, was Diskographien leisten können und leisten sollen. Eigentlich, sollte man meinen, ist gerade das Feld der Diskographie eines, das heutzutage am besten im Internet bearbeitet werden könnte, weil es hier auf die Vernetzung von unzähligem Einzelwissen ankommt, das insbesondere bei Sammlern vorhanden ist, die die Originalveröffentlichungen vor sich haben, in sie hineinhören und auf das Label oder, sofern vorhanden, auf die Plattencover schauen können. Tatsächlich gibt es mittlerweile eine Reihe an Datenbanken, die die ehedem in Buch- oder Zettelform (Brian Rust, Willem Bruyninckx, Tom Lord) publizierten Diskographien ablösen. Es gibt Mailinglisten, in denen Sammler sich genau über solche Fragen austauschen. Und es gibt vereinzelte Versuche kommentierbarer Diskographien, die das auch in Zeitschriften wie Names & Numbers gesammelte Wissen zusammenfassen und die Diskussionen über einzelne Aufnahmen dokumentieren können.

Names & Numbers also veröffentlicht neben seiner Vierteljahreszeitschrift ab und an Bücher, oft Diskographien einzelner Künstler oder Labels. Das wohl dickste Buch der bisherigen Reihe ist soeben erschienen, Jan J. Mulders „The Jazz Repertoire. A Survey“, in dem der Autor, selbst einer der fleißigsten Diskographen Europas, das Repertoire von Jazzmusikern in Augenschein nimmt, aufgelistet von „A“ wie „ABC Blues“ bis „Z“ wie „Zumba“.

Im Vorwort erklärt Mulder, dass er sehr bewusst vom Jazzrepertoire statt von Jazz Standards spricht, da etliche der Titel einem breiteren Publikum (und auch vielen Musikern) kaum bekannt sein dürften. Jeder Eintrag des Buchs ist mit Informationen über die Autoren (Text / Musik) und das ursprüngliche Veröffentlichungsjahr versehen. Eine knappe Kategorisierung indiziert, wie oft das Stück aufgenommen wurde (von „100-300 Mal“ bis „900-1100 Mal“, wobei zwei Titel, nämlich „Body and Soul“ und der „St. Louis Blues“ eine eigene Kategorie erhalten, nämlich „über 1100 Mal“. Und schließlich gibt es den Hinweis auf – meist zwischen drei und sechs – wichtige Künstler, die den betreffenden Titel aufgenommen haben. Es finden sich Verweise auf alternative Titelungen genauso wie kurze Erklärungen der Titel (etwa: „9:20 Special: die Uhrzeit der Aufnahme am 10. April 1941“ oder „Mahoganny Hall Stomp: ein Bordell in New Orleans“).

Das Ergebnis also ist eine ausführliche Listung von – nun ja, wieviel Titel es genau in Mulders Buch geschafft haben, wissen wir nicht. Und hier kommt dann auch die Kritik, die an die anfangs gemachten Anmerkungen zum Nutzen von Datenbanken anknüpft: So hilfreich dieses Buch auch zum schnellen Nachblättern über Titel ist ­– eine Art ausführlicherer Titelindex zu bestehenden Diskographien –, so wäre es ein Leichtes gewesen, zusätzliche Information zur Erhebung zu liefern, also etwa dazu, welches die Eckdaten sind, die der Autor berücksichtigt hat, wieviel Titel dieses Jazzrepertoire in Zahlen umfasst, vielleicht auch eine Aufgliederung der Menge an Titel nach Jahren oder wenigstens Jahrzehnten. All das wäre unter dem Untertitel „A Survey“ eigentlich zu erwarten und würde dem Forscher, der diese Datensammlung nutzen will, helfen, sie über die reine Listung hinaus einzuordnen. 40 weitere Seiten hätten wahrscheinlich gereicht, die gesammelten Daten nach verschiedenen Fragestellungen darzustellen. Ohne diese Information bleibt das Buch nicht mehr – aber eben auch nicht weniger – als ein gutes Nachschlagewerk zum Repertoire der Jazzgeschichte.

Wolfram Knauer (November 2017)


Long Play
von Arne Reimer
Köln 2017 (Buchhandlung Walther König)
248 Seiten, 39,80 Euro
ISBN: 978-3-96098-037-7

Arne Reimers zweibändige „American Jazz Heroes“ waren mehr als ein Fotobuch; in ihnen gingen die Bilder mit den Texten, die der Fotograf selbst verfasst hatte, eine Einheit ein, ergänzten sich gegenseitig, beleuchteten die Besuche Reimers bei den Giganten der Jazzgeschichte von unterschiedlichen Perspektiven. In „Long Play“ müssen die Fotos für sich sprechen. Reimer reiste für die vorgenannten Bücher ja viel durch die Vereinigten Staaten und besuchte – Plattensammler, der er ist -, wo immer er war, die Läden, in denen antiquarisch LPs gehandelt wurden. Von nichts anderem handelt „Long Play“, von der Aura der schwarzen Scheiben, von den Geschäften, in denen diese auf neue Liebhaber warten, und von den Kunden, auf die sie eine so unendliche Faszination ausüben.

Da sind Platten aufeinandergestapelt oder warten im Rack aufs Durchblättern. Ein Poster an der Wand preist Abtastsysteme und –nadeln an. Im Schaufenster oder an Wandregalen sind einzelne Plattencover aufgestellt, um das Publikum anzuziehen. Plattenspieler stehen bereit, damit man in das eine oder andere Exemplar hineinhören kann. Kunden mit Kopfhörern oder mit deutlichem Sucherblick tauchen völlig ab in die Welt der zu Vinyl erstarrten Musik. Man meint die Läden geradezu riechen zu können, Low-Budget-Geschäfte, oft eher provisorisch zusammengezimmert, in heruntergekommenen Hütten oder im Keller eines Hauses. Alles wirkt improvisiert, selbst da, wo statt Jazz Paul Anka oder Buddy Holly zum Verkauf steht. Überhaupt: Schallplatten, scheint es, sind das Medium vor der Genretrennung. Doch, da stehen Reiter mit Beschriftungen wie „Punk“, „Oldies“, „Vocals“, aber man ahnt, dass bei dem Durcheinander der Läden, bei den Hinguckern unter den Plattencovern, selbst der stilkonformistischste aller Käufer gern auch im Nachbarregal wühlt. Man ahnt, dass selbst bei zielgerichteten Sammlern die Plattencover Neugier mindestens genauso auslösen müssen wie die Hoffnung, endlich die noch fehlende Scheibe zu ergattern.

Und noch etwas fällt auf: Schallplatten sind ein Ding für junge Leute, und nicht nur für die DJs, die dabei etwas zum Sampeln und Mischen suchen. So wirken die Archivfotos, die am Schluss des Buchs Bilder aus den 1950er bis 1970er Jahren zeigen, als all diese Platten den Markt ursprünglich eroberten, auch wie ein seltsamer Kontrast: Von der Ware zum Kultobjekt. Seltener kam die Atmosphäre dieser Erfahrung so überzeugend rüber wie in diesem Buch, ganz ohne Erklärung, denn: Ein Essay von Ulf Erdmann Ziegler beschreibt zwar die Faszination des Plattensammelns, doch hielt die fürs Design Verantwortliche es hier leider für eine gute Idee, den Text in silbernen Buchstaben auf schwarzem Grund zu drucken. Und so ist man dankbar, dass das Buch gerade keinen Text benötigt, weil die Bilder alles sagen…

Wolfram Knauer (Oktober 2017)


The Original Blues. The Emergence of the Blues in African American Vaudeville
von Lynn Abbott & Doug Seroff
Jackson/MS 2017 8University Press of Mississippi)
420 Seiten, 85 US-Dollar
ISBN: 978-1-4968-1002-1

Der Blues ist eine der wichtigsten Grundlagen amerikanischer populärer Musik. Oft wird er vereinfacht als eine Art ländliche Volksmusik dargestellt, und tatsächlich liegt man mit dieser Beschreibung bei vielen seiner Protagonisten nicht ganz falsch. Im frühen 20sten Jahrhundert wurde der Blues allerdings auch zu einer wichtigen Bühnenmusik in den Varietés der Vereinigten Staaten, den Vaudeville-Shows, in denen bald auch Sängerinnen wie Ma Rainey, Bessie, Clara oder Trixie Smith zu hören waren. Lynn Abbott und Doug Seroff, die sich bereits in zwei vorausgegangenen Büchern mit der Frühgeschichte afro-amerikanischer Musik beschäftigt und dabei immer auch die Einbindung musikalischer Praktiken in die afro-amerikanische Community berücksichtigt haben, legen jetzt ein dickes Werk vor, das die Schnittstellen zwischen Blues und Showbusiness untersucht.

Im ersten Kapitel datieren sie die Geburt der schwarzen Vaudeville-Show ins Jahrzehnt zwischen 1899 und 1909, nennen Saloon-Theater etwa in Jacksonville, Tampa, Savannah, Louisville, New Orleans, Memphis oder Atlanta und beschreiben das Programm in solchen Shows, das Anklänge an die Minstrelshow des 19. Jahrhunderts besaß, sowie die Wahl des musikalischen Repertoires, das in ihnen zu hören war. Um 1910 gab es mehr als 100 kleine schwarze Vaudeville-Theater in den amerikanischen Südstaaten, die Tourneen von Texas nach Florida oder Virginia erlaubten und sogar dazu führten, dass Künstler aus Chicago oder dem Mittleren Westen in den Süden kamen, um hier zu touren.

Etwa um 1910 auch machte Butler May von sich reden, der als „String Beans“ große Bühnenerfolge als Sänger und Komiker feierte. Die Autoren verfolgen im zweiten Kapitel ihres Buchs die Karriere dieses Entertainers, der bald zusammen mit seiner Frau Sweetie Matthews unter dem Namen May & May auftrat und nicht nur im Süden der USA, sondern auch in New York und anderswo zu erleben war. Für eine Beschreibung der Musik müssen sie sich dabei auf zeitgenössische Presseberichte verlassen, da String Beans nie ins Studio ging. Sein Einfluss allerdings war riesig; nicht nur nahmen etliche Bluessängerinnen später Stücke aus seinem Repertoire auf und hielten etwa W.C. Handy, Jelly Roll Morton und andere große Stücke auf ihn, der „String Beans Blues“ wurde zudem in zahlreichen Aufnahmen zitiert.

Kapitel 3 beleuchtet männliche Bluessänger, die auf den Vaudevillebühnen im Süden auftraten, etwa Baby Seals, Charles Anderson und andere. Kapitel 5 erklärt, wie dieselben Bühnen dazu führten, dass Bluessängerinnen wie Ma Rainey und Bessie Smith populär wurden, die hier ihr Handwerk lernten. In einem Zwischenkapitel gehen die Autoren auf die Realität des Tourneelebens ein, beschreiben die Aufgabe von Agenturen wie T.O.B.A., der Theatre Owners Booking Association, die dafür sorgten, dass Künstler Anschlussengagements erhielten, die bei diesen allerdings nicht nur beliebt waren.

Kapitel 5 schließlich führt uns in die 1920er Jahre, als der Blues mehr und mehr auch ein kommerzielles Geschäft darstellte, beleuchtet die Folgen von „Shuffle Along“, jener rein afro-amerikanischen Show, die 1921 enorme Erfolge am Broadway feierte, aber auch außerdem die Auswirkungen der Schallplattenindustrie, die insbesondere schwarze Bluessängerinnen für ihre „race records“ entdeckte, also jenen Teil der Produktion, der sich primär an afro-amerikanische Käufer wandte. Die Autoren beschreiben geschäftliche Usancen, sowohl in Bezug auf Auftritte und Tourneen als auch in Bezug auf Plattenaufnahmen, nennen Gagen und Honorare und erzählen, wie viele der Künstler sich, insbesondere, wenn sie im Süden tourten, mit rassistischen Übergriffen konfrontiert sahen.

70 Seiten Fußnoten, ein ausführlicher Namens-, Titel- und Ortsindex belegen, wie akribisch Abbott und Seroff für ihr Buch recherchiert haben. In jedem Teilkapitel, in dem sie die Beziehung einzelner Künstler/innen mit den Vaudevillebühnen beschreiben, steckt so viel an neuen biographischen und kulturhistorischen Einsichten, dass man den Blues der 1920er Jahre und die Professionalität der vielen in dieser Musik aktiven Künstler/innen nach der Lektüre mit deutlich anderem Blick sieht. Eine ungemein gelungene Perspektivverschiebung also, die zudem reich bebildert und spannend zu lesen ist.

Wolfram Knauer (Oktober 2017)


Jazz and Art. Two Steps Ahead of the Century
von Sharon Jordan
Hamburg 2017 (Edel earbooks)
220 Seiten, 3 beigeheftete CDs, 49,95 Euro
ISBN: 978-3-9435-7331-2

Vor zwei Jahren zeigte das Kunstmuseum Stuttgart die sagenhafte Ausstellung „I Got Rhythm. Kunst und Jazz seit 1920“, die von einem ausführlichen Katalog begleitet wurde. Jetzt erscheint ein großformatiger Band der amerikanischen Kunsthistorikerin Sharon Jones, die sich ebenfalls – und, da es sich um keinen Ausstellungskatalog handelt, mit etwas mehr Freiheit bei der Auswahl der Abbildungen – mit dem Thema beschäftigt. Sie fragt, welche Wechselwirkungen Kunst und Jazz im 20sten Jahrhundert hatten, wie also der Jazz als Sujet in Gemälden auftaucht, wie auf der anderen Seite bildende Künstler Jazz als Inspirationsquelle für ihre Kunstwerke nutzten.

Jordan gliedert ihr Buch in eine Einleitung („Die Ursprünge der Moderne, 1960-1900“) und drei Großkapitel: „Ragtime und populäre Unterhaltung, 1900-1917“, „Das Jazz-Zeitalter in Europa und Amerika, 1920-1930“ und „Nachkriegskunst und Jazz, 1940-1990“. Innerhalb dieser Kapitel identifiziert sie Stilrichtungen, künstlerische Ansätze sowie konkrete Künstler, deren Verhältnis zum Jazz sie in Unterkapiteln herausarbeitet. Da geht es dann einerseits um Primitivismus, den deutschen Expressionismus, um Kubismus und Abstraktion, um Surrealismus, Bauhaus und Neue Sachlichkeit, oder um die „entartete Kunst“ und „entartete Musik“ im Dritten Reich, andererseits um Künstler wie Man Ray, Francis Picabia, Picasso, Aaron Douglas und Archibald Motley, Stuart Davis, Alexander Calder, Otto Dix, Max Beckmann, Piet Mondrian, Henri Matisse, Jean Dubuffet, Jackson Pollock, Romare Bearden, Roy DeCarava, Andy Warhol, Larry Rivers und Jean-Michel Basquiat. Sie alle werden reich bebildert mit teils ganzseitigen, teils kleineren Beispielen, bekannteren Exempeln genauso wie eher selten gezeigten.

„Jazz“, beginnt Jordan ihre inhaltliche Argumentation, „war die erste wirklich moderne Kunstform, deren Ursprung in Amerika liegt.“ Schnell wird klar, dass für ihr Thema eine differenzierte Sicht auf die Geschichte, die ästhetische und gesellschaftliche Haltung der Musik zu komplex ist und sie sich deshalb darauf beschränkt, Stereotype der Jazzgeschichtsschreibung als Kontext für das ihr eigentlich Wichtige, nämlich die Umsetzung der Musik in Farbe auf Leinwand, wiederzugeben. Also wird der Jazz wieder einmal (nur) in New Orleans geboren, das Schlagzeug spielt eine große Rolle, Ragtime heißt ursprünglich Stride (?), Kreolen sind hellhäutige Farbige und so weiter und so fort. Diese doch recht unbefangene Sicht auf Jazzgeschichte mag dem Jazzexperten stellenweise etwas zu klischeehaft sein, doch ist dieses Buch eher für den Neugierigen gedacht, der an beidem Spaß hat, Bildender Kunst des 20sten Jahrhunderts und Jazz. Die Individualitätsästhetik des Jazz begeisterte vor allem die modernen Bildenden Künstler, die ab dem Impressionismus ihre eigene Perspektive auf Kunst und Gesellschaft entwickelten. Jordan schildert anhand ihrer Unterkapitel, auf welche Diskurse innerhalb der Bildenden Kunst die Maler rekurrierten, welche Musikdarbietungen sie überhaupt sehen und hören konnten und welche ikonischen Konnotationen sie mit der Darstellung von Jazzszenen ansteuerten. Ihre Kapitel sind kurz und zusammenfassend, fokussiert auf die Rolle des Jazz für die Motivwahl, die Ausführung oder überhaupt fürs Denken der behandelten Künstler oder Stile. Sie zeigt, dass die Faszination mit dem Jazz in Europa genauso wie in Amerika Künstler beflügelte, bleibt in ihren Ausführungen weitgehend beschreibend, geht etwa in Bezug auf Action-Painting-Bilder etwa von Jackson Pollock aber auch auf die Transformation improvisatorischer Praktiken in die malerische Umsetzung ein.

Jordans Buch ist dabei eine durchaus lesenswerte Einführung ins Thema. Von Sonia Delaunay abgesehen, die in einem der Kapitel wenigstens kurz erwähnt wird, behandelt sie keine Künstlerinnen, sondern ausschließlich Männer. Neben der Lektüre aber kann der Leser sich vor allem über die beigehefteten CDs freuen, von denen jede einzelne für eines der drei Kapitel steht und diesen die passende Begleitmusik liefert. Von der Original Dixieland Jazz Band über Jelly Roll Morton und Fats Waller bis zu den Boogie-Woogie-Pianisten, von Louis Armstrong über Count Basie und Duke Ellington bis zu Marlene Dietrich und den Weintraub Syncopators, von Charlie Parker über Art Blakey und Miles Davis bis zu John Coltrane: Die Auswahl der Titel korrespondiert zur Erwähnung in einzelnen Unterkapiteln und hält den Leser bei der Stange, lässt ihn vielleicht weitere Facetten in den Abbildungen entdecken.

Und so ist „Jazz and Art“ trotz des etwas holzschnittartigen Verständnisses von Jazzgeschichte ein durchaus empfehlenswertes Buch für Jazz- genauso wie für Kunstfreunde, ein im wahrsten Sinne bunter und swingender Blick auf die Kunstdiskurse des 20sten Jahrhunderts und darauf, wie diese durch eine afro-amerikanische Kulturpraxis neue Impulse erhielten.

Wolfram Knauer (Oktober 2017)


The Art of Conduction. A Conduction Workbook
von Lawrence D. „Butch“ Morris (herausgegeben von Daniela Beronesi)
New York 2017 (Karma)
220 Seiten, 40 US-Dollar
ISBN: 978-1-942607-42-7

Dirigierte Improvisation: Der im Januar 2013 verstorbene Kornettist Butch Morris hatte sein Leben lang an diesem Traum gearbeitet: als Dirigent vor einem Ensemble jedweder Größe stehen zu können, das improvisiert, jedem einzelnen der Musiker seine individuelle Kreativität zu belassen und doch die Fäden all dessen in der Hand zu behalten und aus der freien Improvisation der Einzelnen eine gelenkte Improvisation des Ensembles zu machen. Das Spannende dabei: Keiner fühlte sich durch Morris‘ Dirigat eingeschränkt, alle empfanden das Ergebnis als ein eindrückliche Bündelung ihrer individuellen kreativen Energie. Morris hatte dafür quasi ein Alphabet an Handgesten entwickelt, die er einsetzte, egal ob er mit wenigen Musiker/innen oder mit übergroßen Ensembles arbeitete, und die er über die letzten zehn Jahre seines Lebens für das jetzt veröffentlichte Buch zusammenfasste.

Die Linguistin Daniela Veranesi traf Morris erstmals 2002, war fasziniert von seinem Konzept und organisierte bald Conduction-Workshops mit ihm in Italien. Kurz vor seinem Tod gab Morris ihr auf den Weg, das Buch fertigzustellen und bat sie, „Make it clear, elegant and ‚travelable'“. Nun ist es zum Reisen fast ein wenig zu umfangreich geworden, großformatig mit festen Seiten und festem Einband, aber die Klarheit und Eleganz ist auf jeden Fall da.

Nach Vorworten von Howard Mandel, der Butch Morris‘ Konzept in die Geschichte des Jazz und der afro-amerikanischen Musik einbindet, und der Herausgeberin, die erklärt, wieso sie diese Aufgabe übernahm und wie sie das Buch strukturierte, sowie Erfahrungsberichten des Posaunisten J.A. Deane und des Dichters Alan Graubard beginnt der eigentliche, Morris‘ Handschrift tragende und durch seine Erklärungen eingeleitete Teil.

Morris erklärt, was Conduction zu leisten in der Lage ist, wie er aus seinen Erfahrungen mit Conduction kreative Lehren gezogen habe in Bezug auf Musik und seine eigene musikalische Ausdrucksweise, aber auch in Bezug auf die teilnehmenden Musiker/innen, weil er Conduction als „Akt der Gemeinschaft“ versteht, an dem Musiker jedweden Hintergrunds teilnehmen können. Er erklärt die Aufgabe des Dirigenten, die Rolle der einzelnen Musiker/innen, die Gesamtheit des Ensembles, sowie die Notwendigkeit Geduld zu haben und Conduction als musikalische Praxis zu üben. Den Hauptteil des Buchs macht dann die Klassifikation der Handgesten aus, sortiert nach „Beginn und Ende gemeinsamer Aktion“, „Dynamik“, „Artikulation“, „Wiederholung“, „Rhythmik“, Tempo“, Tonalität und Tonhöhe“, verschiedene Arten der „Transformation“, herausragende „Events“, „Effekte bzw. Instrumentenspezifische Vorgaben“, und das Steuern einer Performance durch vorab notierte Passagen. Jede Geste erhält eine eigene Seite mit erklärenden Zeichnungen, Beschreibungen und Kommentaren. Schließlich folgen ein Interview mit Butch Morris sowie Notizen und Sketche aus Morris‘ Notizbüchern über die verschiedenen Aspekte von Conduction. J.A. Deane, der selbst Morris‘ Methode der Conduction verwendet, und Daniela Beronesi ergänzen das alles mit praktischen Übungen. Eine Chronologie führt die verschiedenen Conduction-Performances Butch Morris‘ von 1985 bis zu seinem Tod vor Augen und nennt die daran beteiligten Musiker/innen auf mehreren Kontinenten; eine Diskographie listet veröffentlichte Aufnahmen seiner Conductions.

Butch Morris hat mit der Conduction eine Ausdruckspraxis entwickelt, die das Ensemble als aus vielen Individuen bestehende improvisierende Einheit ernst nimmt. Sein Handbuch ermöglicht es Musiker/innen mit seinem Vokabular weiterzuarbeiten, es um eigene Gesten oder Ideen zu erweitern und diese fürwahr genre- und kulturüberschreitende kreative Praxis lebendig zu halten. Morris traf sich in den letzten Jahren seines Lebens jeden Montagabend mit Musiker im New Yorker Stone, von denen einige öfters dabei waren, andere zum ersten Mal, und jeder Workshop war zugleich ein neues Kennenlernen und eine neue Performance, die man, auch im Publikum, im gesamten gemeinsamen Entstehungsprozess erleben konnte. Daniela Veronesi ist mit der Herausgabe von „The Art of Conduction“ eine angemessene Umsetzung des Morris’schen Konzepts gelungen, ein Buch, dem zu wünschen ist, dass es von Musiker/innen auf der ganzen Welt – und durchaus auch in anderen Genres als dem Jazz – eingesetzt wird.

Wolfram Knauer (Oktober 2017)


For the Love of Music
Von Nathalie Lans
Amsterdam 2017 (Scriptum)
112 Seiten
ISBN: 978-94-6319-111-1

Das Konzept ist einfach: Natalie Lans bat 50 Musiker/innen, ihr zu sagen, was Musik für sie bedeutet. Die kurzen prägnanten Antworten machen, zusammen mit einer kurzen Biographie der Interviewten, die eine Hälfte einer Doppelseite aus, deren zweite Hälfte aus einem aussagekräftiges Konzertfoto von vier Fotografen und einer Fotografin besteht. Die ausgewählten Musiker stammen aus den Niederlanden und den USA, ihre Antworten sind jeweils in der eigenen Sprache abgedruckt, in Holländisch und in Englisch. Vom Pianisten Marco Apicello geht es also alphabetisch bis zum Saxophonisten Bart Wirtz, und ihre Antworten sprechen von der ungemein persönlichen Betroffenheit und Hingabe, die es verlangt, diese Musik zu machen.

Beispiele: „Ich sehe den Sound wirklich“ (Matt Wilson) – „Live das zu spielen, was man gedacht hat, und es mit seinem Publikum zu teilen. Magisch!“ (Jeffrey Spalburg) – „Afrikanische und afro-amerikanische polyrhythmische Sounds fließen durch meine Venen. Ich höre sie in der Natur, im Schlaf, in der Art und Weise, wie wir sprechen“ (Camille Sledge) – „Musik dringt bis in die Knochen vor, egal, ob es ein Instrument gibt, mit dem man sie ausdrücken kann oder nicht“ (Miron Rafajlovic) – „Musik zeigt das Innenleben des Menschen, das wir mit den Augen nicht sehen können; es zeigt das menschliche Herz“ (Steve Nelson) – „Ein Leben ohne Musik ist meine Vorstellung der Hölle!“ (Kit Morgan) – „Für mich ist Musik der Gesang der Vögel am Morgen“ (Chris Jagger) – „Musik ist eine Reflexion der menschlichen Existenz und ein Hauch Gottes“ (Gene Jackson) –“Musik bewegt mich, beruhigt mich, befreit meinen Kopf“ (Bernard Fowler) – „Musik kann das perfekte Zusammenleben sein“ (Ben van den Dungen) – „Musik beschreibt meinen wirklichen Charakter und meine Leidenschaft: meine Seele“ (Joseph Bowie) – „Musik ist mein Sauerstoff“ (Zep Barnasconi).

Allein diese Auswahl an Beispielen zeigt die Bandbreite der Künstler/innen, die Nathalie Lans bat, ihre eigene Philosophie über die Musik auszubreiten. Arrivierte und junge Musiker, internationale Stars und nationale Aufsteiger: Letzten Endes ist es egal, wen man fragt: Wenn Künstler sich intensiv mit den Gründen auseinandergesetzt haben, warum sie Musik machen, werden sie dazu etwas zu sagen haben.

Nathalie Lans‘ Buch ist ein schön layoutetes Coffeetable-Buch, zum Blättern mehr als zum In-einem-Stück-Lesen. Ein grundlegendes Verständnis der holländischen Sprache ist von Vorteil.

Wolfram Knauer (Oktober 2017)


Komponieren & Dirigieren. Doppelbegabungen als Thema der Interpretationsgeschichte
herausgegeben von Alexander Drčar & Wolfgang Gratzer
Freiburg 2017 (Rombach Verlag)
630 Seiten, 78 Euro
ISBN: 978-3-7930-9861-4

Es gab in der Musikgeschichte immer wieder Doppelbegabungen, Komponisten, die zugleich dirigierten oder Dirigenten, die zugleich komponierten. Mit diesem – zugegeben dennoch recht speziellen – Phänomen beschäftigt sich das vorliegende, von den beiden am Salzburger Mozarteum wirkenden Musikwissenschaftlern Alexander Drčar und Wolfgang Gratzer herausgegebene Buch. Die für den Band beauftragten Autoren sollten sich insbesondere auf drei Fragen konzentrieren: „(1) Welche Rolle spiel(t)en die Tätigkeiten des Komponierens und Dirigierens in der künstlerischen Entwicklung des jeweils thematisierten Künstlers? (2) Inwiefern lassen sich Wechselwirkungen zwischen den Tätigkeiten des Dirigierens und Komponierens dokumentieren? (3) Welche Entwicklung nahm bzw. nimmt die Rezeption dieser Doppeltätigkeit?“

Die Bandbreite des Buchs reicht von Joseph Haydn bis Johannes Kalitzke, von klassischer Musik über Neue Musik bis zur Filmmusik und zum Jazz. Den Jazz berühren dabei vor allem vier Kapitel, von denen der „Überblick über die Tradition von Komposition und Dirigat im Jazz“ von Wolfram Knauer (full disclosure: also dem Autor auch dieses Textes) versucht einige grundlegende Fragen zu klären darüber, was überhaupt Komposition im Jazz bedeutet und inwieweit diese sich von Komposition in insbesondere europäischen Musikgenres unterscheidet, welche Techniken des Dirigats Jazzmusiker von Count Basie über Duke Ellington bis zu Thad Jones oder Butch Morris verwandten, um dann in zwei Interviews mit Dieter Glawischnig und Mathias Rüegg deren Herangehensweise an die Themen Komposition und Dirigat zu diskutieren. Alexander Drčar spricht mit dem Posaunisten, Komponisten und Dirigenten Christian Muthspiel über die verschiedenen Anforderungen zwischen den Welten des Jazz und der klassischen Musik, die er zumindest in seiner Arbeit recht klar getrennt hält, aber auch über den Respekt des Dirigenten vor den Anweisungen des Komponisten und darüber, was er als Komponist aus seinen Erfahrungen als Dirigent gelernt hat. Joachim Brügge beschreibt, wie die Filmmusiken Bernard Herrmanns (etwa für Hitchcocks „Psycho“ oder „Die Vögel“) von seinen Erfahrungen als klassischer Dirigent profitiert hatten. Frédéric Döhl schließlich diskutiert in seinem Beitrag die Parallelen und Unterschiede in der Herangehensweise vierer klassischer Musiker – Antal Doráti, Igor Markevitch, André Previn und Lorin Maazel – von denen Previn auch einen Jazzbackground besitzt.

In seiner Gesamtheit gibt in diesem Buch viele kluge Hinweise darauf, wie wichtig ein Dirigat zur Umsetzung von (insbesondere klassischen) Kompositionen sein kann, wie die intime Annäherung an komponierte Werke zahlreiche Dirigenten dazu animierte, selbst kompositorisch tätig zu werden, wie auf der anderen Seite Komponisten, sofern sie zugleich dirigierten, ein verstärktes Bewusstsein für die Interpretation und Interpretierbarkeit auch ihrer eigenen Werke erhielten.

Wolfram Knauer (August 2017)


100 Jahre Jazz. Von der Klassik bis zur Moderne. Die größten Stars
von Philippe Margotin
Bielefeld 2017 (Delius Klasing Verlag)
424 Seiten, 59,90 Euro
ISBN: 978-3-667-10607-0

Endlich ein Buch zum 100sten Geburtstag des Jazz, das „größte Freude“ bereitet – allerdings nur, wenn man Spaß an Stilblüten und Fehlern auf gefühlt jeder einzelnen Seite hat!

Philippe Margotin hat bislang Bücher über die Beatles, die Rolling Stones oder Bob Dylan geschrieben; als Jazzautor dagegen tat er sich eher weniger hervor. Zum 100sten Jahrestag der ersten Jazzaufnahme hat er nun einen schweren Wälzer vorgelegt, ein dickes Buch mit zahlreichen Fotos, auf dem die Helden der einhundertjährigen Jazzgeschichte gefeiert werden. Margotin unterteilt diese Geschichte in eine „erste Epoche“ (New Orleans, Hot Jazz, Swingära) und eine „zweite Epoche“ (Bebop, Cool Jazz, Hard Bop, Neue Klangwelten). In dieses Raster passt er dann Portraits von 63 Künstlerinnen und Künstlern des Jazz ein (nun ja: 58 Künstlern und 5 Künstlerinnen, von denen bis auf Carla Bley alle Sängerinnen sind), den großen Namen des Genres, von Armstrong über Parker, Miles bis zu Coltrane. Ornette Coleman und die allzu experimentelle Fraktion fehlen, dafür werden zum Schluss mit Steve Coleman und Esbjörn Svensson noch zwei Musiker mit aktuellem Einfluss aufgenommen. Pro Musiker meist 6 Seiten: stichwortartige Lebensdaten, kurzer biographischer Essay, drei Fotos sowie eine einseitige Würdigung der musikalischen Stilistik des betreffenden Künstlers, oft anhand zitierter Fremdlektüre.

So weit, so gut, so erwartbar. Natürlich könnte man über die Auswahl der Portraitierten streiten, doch sind solche Entscheidungen nun wirklich Sache des Autors und akzeptabel, wenn ihre Bedeutung erklärt und ihr Schaffen sinnvoll in den Kontext der Jazzgeschichte eingepasst wird. Man mag sich über einige der Zuordnungen wundern – warum etwa werden Coleman Hawkins und Lester Young unter die Überschrift „Diven und Romantik“ sortiert und was hat Nat King Cole im Großkapitel „Hard Bop und Soul Jazz“ zu suchen? (S. 314) –, aber auch das wären Kleinigkeiten, vielleicht sogar interessante Schlaglichter, sofern der Rest stimmt. Bei Margotin aber stimmt so wenig, dass man geneigt ist, auch dem Rest zu misstrauen. Und als Rezensent hat man noch eine weitere Schwierigkeit: Man weiß zuweilen nicht, ob die Fehler dem Autor oder den beiden Übersetzerinnen anzulasten sind, die für eine eher holprige als spannende Lektüre verantwortlich zeichnen.

Vielleicht erklärt sich das grundlegende Missverständnis von Jazzgeschichte als einer Heldengeschichte ja bereits aus den Quellen, die Margotin in seiner Bibliographie angibt. Kein einziger Literaturhinweis, der nach 2000 publiziert wurde; eine erstaunlich unkritische Sammlung an Büchern von Journalisten und Jazzkennern der vorletzten Generation, aus einer Zeit also, als man Jazzgeschichte noch als eine Abfolge klar umgrenzter Stilistiken und genialer Einfälle einzelner Individuen darstellte, nicht als ein Ineinandergreifen persönlicher künstlerischer Aussagen, allgemeiner – und zwar weit über den Jazz hinausreichender – ästhetischer Diskurse, und wirtschaftlicher Zwänge. Mit solch einem Verständnis von Jazz und der völligen Unkenntnis aktueller Diskurse auch über Jazzgeschichte lässt sich wahrscheinlich kein anderes Buch schreiben. Selbst unter diesen Voraussetzungen allerdings ist „100 Jahre Jazz“ so voller Fehler, Ungenauigkeiten, Verallgemeinerungen und Stilblüten, dass man für knapp 60 Euro wahrlich Besseres erstehen kann.

Mehr wahllos als systematisch seien hier also ein paar Beispiele für die Sorglosigkeit angeführt, mit der das Thema behandelt wird: Dass Paul Whiteman als erstes Beispiel für „Die Swingära“ genannt wird (S. 65) ließe sich zumindest diskutieren (wird es aber nicht). Duke Ellingtons Orchester nennt Margotin eine „Swingband“ (S. 80), lässt dabei völlig außer Acht, dass dieses so ganz anders als die üblichen Swingorchester funktionierte, selbst wenn sich auch Ellington auf dem Markt der Swingmusik bewegte. Dessen „Black, Brown and Beige“, heißt es (S. 80), habe „länger als eine Stunde“ gedauert, wo es tatsächlich gut 45 Minuten waren. Und Benny Goodman, dessen problematische Führungsqualitäten Legende sind, wird unerklärterweise als ein „Menschenführer“ gelobt (S. 93).

Dass dem Lektorat etliche Tippfehler entgingen, zeigt, wie wenig sorgfältig hier auf allen Ebenen gearbeitet wurde. Da ist vom „Livery Staple Blues“ die Rede (S. 59), wird „Joachim-Ernst Behrendt“ mit „h“ geschrieben (S. 87) und „Miles Davies“ mit einem zusätzlichen „e“ (S. 142). Und Bennie Motens Aufnahme „Prince of Wails“ heisst eben nicht „Prince of Wales“ (S. 97). Auch inhaltlich reicht es von flüchtig bis ignorant: Sonny Greer spielte nie bei Count Basie (S. 98) – das war Sonny Payne. Und wenn man schon die Basie-Rhythmusgruppe heraushebt, ist es irreführend, die erste Besetzung mit Clifford McYntire (!), Walter Page und Jesse Price zu erwähnen, Freddie Green aber nur in einem Halbsatz zu streifen (S. 98) und auf die Bedeutung von Jo Jones ebenfalls nicht hinzuweisen. Dass Bobby Hackett im Artikel über Glenn Miller als „Trompeter und Gitarrist“ identifiziert wird (S. 117), ist zwar richtig, aber irreführend. Und Jan Garbarek in der Überschrift zum ihn betreffenden Artikel „Ethno-Jazz auf dem Altsaxophon“ zuzuschreiben (S. 392), verfälscht das Hauptinstrument des Saxophonisten. In letzterem Fall mag man fast schon entschuldigend ahnen, dass vielleicht jemand das gebogene Sopran auf dem Bild gegenüber falsch identifiziert haben mag – aber ist das wirklich eine Entschuldigung?

Dizzy Gillespie reiste nicht im Auftrag des Weißen Hauses (S. 232, 236), sondern in dem des amerikanischen State Department in den Mittleren Osten. Dass Fats Waller andererseits „eine Weile in Paris“ lebte (S. 124) ist übertrieben – er verbrachte 1932 vielleicht anderthalb Monate in Frankreich, eher also eine Art ausgedehnten Urlaub. Keine Ahnung, wer für das großartige Foto von Illinois Jacquet verantwortlich zeichnet, das den Artikel zu Roy Eldridge ziert und auf dem Jacquet als der Trompeter identifiziert wird, obwohl er doch eindeutig ein Saxophon bedient (S. 157; ein Auge und der Haaransatz Eldridges ist immerhin abgebildet). Das Foto von Al Grey im Artikel zu J.J. Johnson (S. 249) wird im Untertext wenigstens richtig identifiziert, nur: Warum? Warum nicht eher Kai Winding? Dass der Autor es als eine wichtige Information über Billie Holiday erachtet, dass sie keinen Sex mit Lester Young gehabt habe (S. 198), mag man ebenfalls unter der Rubrik „Warum?“ verbuchen. Und Coleman Hawkins‘ Aufnahme von „I’ll Be Glad When You’re Dead, You’re Rascal You“ ist nur ein einziges Stück und nicht zwei, wie auf S. 209 zu lesen ist.

Andere Fehler sind klar den Übersetzerinnen zuzuschreiben. „Die Revue Negrè“ hieß genauso und nicht „Black Revue“ (S. 47), und Teddy Hills „Revue ‚The Cotton Club Show'“ (S. 235) hieß tatsächlich „The Cotton Club Revue“. Was die Überschrift „Rückkehr zur Gnade“ im Artikel zu Sidney Bechet (ebenfalls S. 47) zu bedeuten hat, erschließt sich wahrscheinlich erst, wenn man die französische Originalausgabe des Buchs zur Hand hat. Ähnliches gilt für die Überschrift „Riverboats in Harlem“ im Artikel über Henry Red Allen (S. 147), die wahrscheinlich „Von den Riverboats nach Harlem“ heißen sollte. Über eine frühe Charlie Parker-Aufnahme zitiert Margotin Ross Russell: „Der Hootie Blues verursachte bei allen Musikern, die ihn zunächst nur zufällig hörten, einen Aufruhr…“ (S. 231) – so weit im Buch hat man allerdings die Lust zur Nachforschung darüber verloren, was Russell wohl wirklich geschrieben hat, und ergibt sich in der Erkenntnis, dass im Verlauf der „Stillen Post“, der Mehrfachübersetzung (englisch – französisch – deutsch) also, irgendetwas, im schlimmsten Fall einfach der Sinn, verloren gegangen ist. Begriffsübertragungen wie „falscher Fingersatz“ für „false fingering“ im Artikel über Bix Beiderbecke (S. 61) machen im Deutschen keinen wirklichen Sinn, und was die auf derselben Seite erwähnten „synonymen Noten“ sein sollen, mag man erahnen, der Nutzwert solch innovativer Übersetzungen ist für den Leser allerdings eher gering.

Über Dizzy Gillespie heißt es: „Und schließlich zeigte Dizzy Gillespie mit seinem leichthändigen Umgang mit dem Spott, ja manchmal sogar ausgesprochenem Blödsinn, dass man sehr wohl Jazz spielen konnte, ohne sich allzu ernst nehmen zu müssen“ (S. 237) – Gillespies Bühnenscherze allerdings hatten weder mit Spott noch Blödsinn etwas zu tun, sondern mit Traditionen des afro-amerikanischen Showbusiness. Ob es so passend ist, Django Reinhardt in einer Zwischenüberschrift „erfolgreiche Kriegsjahre“ zu attestieren, ist letzten Endes nicht nur Geschmackssache. Auch die Zwischenüberschrift „Die Qualen der künstlichen Paradiese“ im Artikel über Charlie Parker (S. 230) lässt den Leser ratlos zurück. Warum „die Geistlichen in der Baptistenkirche [Duke Ellingtons] Botschaft [in dessen Sacred Concerts] allerdings nicht verstanden“ (S. 80) blieb diesem Rezensenten unklar, wie überhaupt die Beschreibung von Ellingtons Stil (S. 81) hilflos wirkt und seiner Musik nicht wirklich nahe kommt.

Und so geht es durch das gesamte Buch: Eine Mischung aus Fehlern, Nachlässigkeiten, mangelndem Fachwissen oder mangelnder Recherche auf allen Ebenen der Produktion, dass es wirklich nur zwei Empfehlungen gibt: Für den jazzinteressierten Laien: Finger weg!!! Für den Jazzkenner: Warten, bis das Buch im modernen Antiquariat gelandet ist (das kann nicht so lange dauern), dann kaufen und mit Genuss weitere Stilblüten entdecken!

Wolfram Knauer (Juli 2017)


The Cambridge Companion to Duke Ellington
herausgegeben von Edward Green
Cambridge 2014 (Cambridge University Press)
296 Seiten, 29,99 US-Dollar (Paperback)
ISBN: 978-0-521-70753-4

Duke Ellington Studies
von John Howland
Cambridge 2017 (Cambridge University Press)
308 Seiten, 75 Britische Pfund (Hardcover)
ISBN: 978-0-521-76404-9

Neben Charlie Parker ist Duke Ellington wahrscheinlich der am meisten untersuchte Musiker der Jazzgeschichte. Sein kompositorisches Œuvre, sein Umgang mit Klangfarben, sein Einsatz einzelner Musiker, die Wandlung seiner musikalischen Sprache über mehr als fünf Jahrzehnte bieten mehr als genug Stoff für Untersuchungen aus allen möglichen Perspektiven. Jetzt sind innerhalb von nur zweieinhalb Jahren gleich zwei Sammlungen solcher Perspektiven beim Verlag Cambridge University Press erschienen. Die Herausgeber Edward Green und John Howland planten die beiden Bände ursprünglich als einander ergänzende Bücher, die dann in ihrer Konzeption ein Eigenleben entwickelten und so unabhängig voneinander veröffentlicht wurden.

Im von Edward Green herausgegebenen „Cambridge Companion“ wird Ellingtons Schaffen in 19 Kapitel abgehandelt, die ihn zum einen in den ästhetischen Kontext seiner Zeit einordnen sollen, zum zweiten seine Rezeption beleuchten und schließlich auf sein musikalisches Schaffen mit Bezug auf die Jazztradition eingehen. Wo dieses Buch zumindest in Teilen noch chronologisch angelegt ist, steht in den von John Howland herausgegebenen „Duke Ellington Studies“ tatsächlich die Perspektive im Vordergrund: auf seine Musik, auf die Kritik, auf seine Rezeption in Großbritannien, auf seine Manuskripte, auf sein Konzept von Afrika, auf wegweisende Komposition und Alben wie etwa „Such Sweet Thunder oder „A Drum is a Woman“.

Als Autoren konnten beide Herausgeber ausgewiesene Ellington-Kenner genauso gewinnen wie weitsichtige Musikwissenschaftler oder Journalisten. In Howlands Buch etwa fragt David Berger nach dem Unterschied zwischen Komposition und Rekomposition in Ellingtons Werk, blickt Brian Priestley auf Ellingtons Reisen ins Ausland und verstehen Olly Wilson und Trevor Weston Ellington als eine kulturelle Ikone. In einem eher historischen Block betrachtet Jeffrey Magee Ellingtons afro-modernistische Vision der 1920er Jahre, Andrew Berish die Zeit zwischen Anpassung und Experiment in den 1930ern, Anna Harwell Celenza die Blanton-Webster Band sowie die Carnegie-Hall-Konzerte, Anthony Brown die 1950er und Dan Morgenstern die 1960er und 1970er Jahre. Die analytisch interessantesten Kapitel kommen zum Schluss, wenn Benjamin Givan auf die Bluesbehandlung beim Duke eingeht und Walter van de Leur auf die musikalische Beziehung zwischen Ellington und Billy Strayhorn, wenn Bill Dobbins Ellingtons Einfluss aufs Jazzklavier beleuchtet und Marcello Piras seine fast programmatischen Kompositionen, wenn Will Friedwald ihn als einen eher zufälligen Songschreiber charakterisiert, David Berger die Suiten des Duke miteinander vergleicht und Benjamin Bierman seinen Einfluss auf die Nachwelt untersucht.

Dobbins und Van de Leur sind auch in den „Duke Ellington Studies“ präsent, Dobbins mit einer Studie, die Dukes Klavierstil analysiert und Van De Leur mit einem Blick auf die Manuskripte in der Duke Ellington Collection der Smithsonian Institution. Phil Ford analysiert Ellingtons Selbstdarstellung als Afro-Amerikaner in frühen Filme und vergleicht diese mit der Selbstdarstellung des Präsidenten Barack Obama. John Howland hinterfragt die Interpretation Ellingtons in der frühen Jazzkritik als „ernsthafter“ Jazzkomponist, Catherine Tackley verfolgt die Jazzrezeption des Duke über die Jahrzehnte in Großbritannien. David Schiff blickt hinter die auch politische Bedeutung des Albums „Such Sweet Thunder“, Gabriel Solis auf die Auswirkung des LP-Formats auf Ellingtons Œuvre, Carl Woidecks auf Ellingtons Bild von Afrika, wie es sich in seiner Musik abbildet, und John Wriggle auf „A Drum Is a Woman“ als „Mother of All Albums“

Beide Bücher richten sich auf wohltuende Art und Weise an Experten und interessierte Fans gleichermaßen. Sie sind nicht als Biographien des Duke gedacht, sondern als Versuch, sein Werk aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit unterschiedlichem Fokus zu beleuchten. Sie sind ausführlich annotiert und belegen auch damit das Eingangsstatement dieser Rezension: dass nämlich Ellington schon lange nicht nur ein Säulenheiliger der Jazzgeschichte, sondern auch einer der Jazzforschung ist.

Wolfram Knauer (Juni 2017)


New Jazz Conceptions. History, Theory, Practice
herausgegeben von Roger Fagge & Nicolas Pillai
New York 2017 (Routledge)
209 Seiten,110 Britische Pfund
ISBN 978-1-84893-609-6

„New Jazz Conceptions“ hieß das Debütalbum von Bill Evans aus dem Jahr 1956 (nicht 1957 übrigens, wie die Herausgeber dieses Buchs in ihrem Vorwort schreiben), ein Album, das, so zumindest kann man im Rückblick sagen, tatsächlich etwas Neues heraufbeschwor im Jazz, sei es die sehr spezielle und enorm einflussreiche Spielweise des Pianisten, sei es ein neues Ineinandergreifen der Instrumente innerhalb der Klaviertrio-Besetzung im Jazz. „New Jazz Conceptions“ hieß auch eine Konferenz an der University of Warwick im Mai 2014, deren Vorträge jetzt in Druckform vorliegen. Die Organisatoren und Herausgeber dieses Buchs Roger Fagge und Nicolas Pillai sind Vertreter der „New Jazz Studies“, eines Zweigs der Jazzforschung, der in den letzten Jahren versucht, sich zum einen stärker auf einzelne Facetten der Jazzgeschichte und ihres Umfelds zu fokussieren, der auf der anderen Seite den interdisziplinären Diskurs insbesondere auf den Jazz praktiziert. Eine solche neue Art von Jazzforschung, schreiben die Herausgeber, reagiere auf Veränderungen in der Musik, sei sich aber auch bewusst, dass sie Verantwortung dafür trage, wie wir die Musik in der Zukunft verstehen. Die Auswahl der Beiträge zur ersten Konferenz könne nur genau das sein, eine Auswahl verschiedener Ansatzpunkte, nehmen sie dann eine offenbar bereits erahnte Kritik vorweg, zu der wir dann zum Schluss auch gerne kommen werden.

Tim Wall widmet sich in seinem Beitrag einer Livesendung mit dem Duke Ellington Orchestra vom 14. Juni 1933 durch den BBC und fragt dabei, was diese Ausstrahlung einerseits für die Programmpolitik des Sendes, andererseits für die Wahrnehmung des Jazz im allgemeinen und Duke Ellingtons im Besonderen in Großbritannien bedeutete. Er blickt zurück auf die Jazzprogramme, die der Sender vor 1933 ausgestrahlt hatte und fragt, warum gerade Ellington die Ehre dieser Aufmerksamkeit zur besten Sendezeit zuteilwurde. Er untersucht den Wandel der öffentlichen Wahrnehmung von Jazz infolge des Ellington-Besuchs, der sich in Berichten genauso niederschlug wie in Schallplattenausgaben und der schließlich auch das Selbstverständnis der britischen Jazzszene und ihrer medialen Vermittlung weit über die 1930er Jahre hinaus mit prägte.

Tom Sykes schaut auf die Bildung von Szenen, die sich in den letzten Jahren durch die Einbeziehung und Benutzung sozialer Medien erheblich verändert habe. Er fragt, welchen Einfluss soziale Medien auf lokale Szenen haben und ob die neu entstandenen Szenen / Gruppen / Communities wohl auch ohne e-mail, Video-Sharing oder soziales Netzwerken bestehen könnten. Dabei benutzt er als Ausgangspunkt verschiedene soziologische Beschreibungen des Phänomens von Community, insbesondere mit Bezug auf Jazz, beschreibt den Unterschied zu virtuellen Communities und die Scheinhaftigkeit einer Gruppenzugehörigkeit etwa durch Online-Diskussionsforen. Schließlich gibt er einige konkrete Beispiele der Durchlässigkeit zwischen realen und virtuellen Szenen und schlussfolgert, dass, wenn auch virtuelle Netzwerke immer wichtiger werden, Jazzfans daneben auch in semi-virtuellen und lokalen Szenen verankert seien und der Jazz als Liveerlebnis daher nicht zur Disposition stünde.

Andrew Hodgetts betrachtet die diversen Versuche der britischen Musikergewerkschaft zwischen den 1930er und 1950er Jahren, ausländischen Musikern Auftritte im Land zu verbieten und so die einheimischen Kollegen zu schützen. Er gibt konkrete Beispiele für Auswirkungen etwa auf geplante Konzerte oder Tourneen amerikanischer Bands und vergleicht die protektionistischen Anstrengungen mit denen der amerikanischen Musikergewerkschaft sowie mit der Situation beispielsweise in Schweden und Frankreich zur selben Zeit. Schließlich beschreibt er den über die Jahre sich wandelnden Diskurs über Internationalität versus Protektionismus, der insbesondere im Melody Maker gut dokumentiert sei.

Nicolas Pillai nähert sich den unterschiedlichen Publikumsreaktionen auf Dave Brubeck anhand einer Fernsehaufnahme für den BBC im Jahre 1964 und der Diskussionen über die Tournee seines Quartetts aus dem selben Jahr in der britischen Presse. Brubeck war zu der Zeit bereits in die ästhetische Spalte zwischen „innovativem Jazz“ und „zu kommerziell“ geraten, eine Einschätzung, die sich auch in den Presseberichten über die Tournee niederschlug. Diese reflektieren über seine Hits genauso wie über sein Anwesen in Connecticut, und Pillai vergleicht die unterschiedlichen Berichte, die letzten Endes verantwortlich sind für die öffentliche Wahrnehmung des Pianisten in Großbritannien, mit der Fernsehdokumentation, in der zu erleben sei, dass diese Musik nach wie vor subkulturelle Qualitäten besäße, sich in einem konstanten Dialog auch mit populären Strömungen in der Musik befunden habe.

Katherine Williams konzentriert sich in ihrem Kapitel auf Duke Ellingtons legendäres Newport-Konzert vom Juli 1956, erzählt die Vorgeschichte und den Ablauf des Abends und berichtet über die Veröffentlichungsgeschichte des Mitschnitts, der zwar als „Live at Newport“ herauskam, tatsächlich aber zum Teil im Studio nach-produziert worden war. Sie diskutiert die Faszination mit Live-Alben und die Problematik der Nachbearbeitungsmöglichkeiten – für die Künstler genauso wie für die ästhetische Einschätzung des scheinbar „historischen“ Ereignisses.

Adrian Litvinoff beschäftigt sich mit Musikgeschmack im Jazz und fragt, warum es vielen Hörern so schwer falle, sich auf Neues, Unbekanntes einzulassen. Er hinterfragt die Rolle des Marktes für den Musikgeschmack und deutet an, wie stark letztlich auch die Hörerwartung das Hörerlebnis prägt.

Roger Fagge verfolgt den wandelnden kritischen und ästhetischen Ansatz dreier britischer Autoren und Kritiker. Philip Larkin hatte zeitlebens ein Problem mit dem modernen Jazz (also mit allem ab dem Bebop), und Fagge diskutiert einige seiner Verrisse über Konzerte und Platten der Hardbop- und frühen Free-Jazz-Generation. Kingley Amis‘ Haltung gegenüber Miles Davis, Monk und anderen Vertretern des modernen Jazz war sehr viel positiver, er versuchte, wie Fagge schreibt, die Musik angemessen, „objektiv“ zu beurteilen. Dennoch beklagte Amis sich gegenüber Larkins, dass er für seine Artikel im Observer heftig angegriffen würde. Beide hätten den Jazz im Gegensatz zu Eric Hobsbawm allerdings kaum als eine politische Musik verstanden. Letzterer veröffentlichte 1959 unter dem Pseudonym Francis Newton das Buch The Jazz Scene und schrieb für den New Stateman Kritiken, von denen Fagge besonders solche über den Avantgardejazz der 1960er Jahre hervorhebt. Fagge beschreibt die unterschiedlichen Beweggründe der drei Autoren, ihre jeweilige Herangehensweise an die Musik und ihren meist unausgesprochenen emotionalen wie intellektuellen Disput, der den Jazzdiskurs im Großbritannien der 1950er und 1960er Jahre gut umschreiben kann.

Mike Fletcher blickt auf die Gegenwart des Jazz in Großbritannien und fragt nach „Tradition, Community und musikalische Identität“, danach also, inwieweit aktuell aktive Musiker sich nach wie vor mit der Geschichte des Jazz und mit seinen Ursprüngen identifizieren, wie sie sich im Vergleich zu anderen musikalischen Entwicklungen verorten, und welche Auswirkungen all das auf ihre konkrete Musik hat. Er stellt die Frage danach, inwieweit man als improvisierender Musiker in Großbritannien immer noch die amerikanischen Roots im Blick habe, betont die Bedeutung persönlicher Lehrer-Schüler-Verhältnisse für den Jazz, diskutiert die Rolle, die Schallplatten für das Selbstverständnis von Musikern spielen, und spricht mit Musikern wie Soweto Kinch, Alexander Hawkins und anderen über ihre eigenes Selbstverständnis einer ethnischen genauso wie kulturellen Identität und wie sich dieses mit den diversen Bildern des Jazz verträgt. Schließlich fragt er nach der Bedeutung von Community für die Jazzmusiker-Szene und danach, inwiefern Musiker sich in einer Art britischer Traditionslinie verorten.

Nicholas Gebhardt wirft im Schlusskapitel einen Blick auf Alan Lomax’s Oral-History-Interview mit Jelly Roll Morton, das er 1938 für die Library of Congress aufnahm. Er fragt dabei nach den Inhalten der Geschichten, die Morton erzählt, nach dem Bild also, das dieser seinem Interviewer von sich selbst und von New Orleans vermitteln will. Ihn interessiert daneben aber auch Lomax‘ Interesse an diesem Material, das helfen sollte, seinem eigenen historischen Verständnis der frühen Jazzgeschichte konkrete Inhalte zu geben, die die Legende zum Leben erwecken, dabei aber auch von der lebenslangen Erfahrung des Pianisten zehren kann.

Neun verschiedene Ansätze also, aus historischer, soziologischer, medienwissenschaftlicher, Sicht, die mal mit der Auswertung historischer Quellen, mal mit Textkritik, mal mit eigenem Interviewmaterial arbeiten. Die Autoren sind Wissenschaftler und Musiker, eine wichtige Mischung, da gerade im Jazz (aber nicht nur da) die Ausübenden immer eine Stimme haben sollten. Was fehlt, ist der direkte Bezug auf die erklingende Musik. Eine „neue Jazzforschung“ kann eben auch nicht sein, nur über die Umstände, die Wahrnehmung oder die verschiedenen Arten der Reflektion über Musik zu sprechen. Sie sollte sich immer wieder auch an die Musik selbst herantrauen, zumindest ihre Fragen aus der Musik heraus entwickeln. Katherine Williams kommt dem in diesem Buch am nächsten, scheut dann aber, da sie so viel über die Umstände von Newport und der Rezeption des Konzerts erzählen muss, doch vor einer eingehenderen Diskussion der Musik selbst zurück. Aber den Herausgebern ist – und deshalb bleibt dies eher eine Anregung als eine Kritik – durchaus bewusst, dass die Beiträge ihrer Konferenz und dieses Buches alles andere als erschöpfend die Aspekte der „new jazz studies“ betrachten können.

Wolfram Knauer (Juni 2017)


Keith Jarretts Klavier-Solokonzerte. Eine Stilanalyse von Keith Jarretts Solo-Klavierkonzerten aus den Jahren 1973 bis 1975
von Babak Pakzad
Saarbrücken 2017 (AV Akademikerverlag)
112 Seiten, 32,90 Euro
ISBN: 978-3-330-51516-1

Ein wichtiger Teil in Keith Jarretts musikalischem Schaffen waren seine Solo-Performances, die sich Babak Pakzad in seiner Arbeit zum Thema macht. Der Autor braucht dazu keine große Einleitung, sondern geht gleich in medias res, beschreibt, wie Jarretts Solokonzerte üblicherweise mit einer fast meditativen Konzentrationsphase am Flügel beginnen, wie er dann eine Zelle vorgibt, einen einzelnen Ton etwa, aus dem heraus er die kreative Energie entwickeln kann. Er erklärt die Notwendigkeit, die Jarrett für Rituale empfindet, um bei Konzentration zu bleiben und warum ihn kleinste Geräusche, sei es ein Husten aus dem Publikum, aus dieser Konzentration reißen können. In einem zweiten Kapitel setzt Pakzad Jarretts Aussagen zur Improvisation in Verbindung zu philosophischen Einflüssen insbesondere durch George I. Gurdjieff. Im dritten Kapitel stellt er Entwicklungen im Jazz der 1960er Jahre vor, in denen diese Musik als eine politische Stimme wahrgenommen worden sei, in dem sich kulturelle Diskurse auch aus anderen Kunstgattungen der Zeit spiegeln.

Keith Jarretts Solokonzerte sind schließlich Inhalt des vierten, nämlich des Hauptkapitels, das unter anderem die Rolle von Körper und stimmlicher Begleitung für seine Performances beschreibt, den formalen Ablauf seiner Soloexkurse und die Mischung unterschiedlicher Stileinflüsse. Pakzad betrachtet die formalen Bestandteile in Jarretts Solointerpretationen, etwa „stabile Passagen“, zu denen er verschiedene Arten von Vamps, Gospelstrecken oder solche zählt, die er als „Folk-Ballade“ benennt, oder „instabile Passagen“, zu denen „Ballade“, „Rhapsodie“, „Drone“, freie Passagen und Choralhaftes gehören. Und schließlich legt er aufgrund dieser formalen Parameter eine tabellarische Ablaufanalyse der Konzerte „Lausanne“, „Bremen“, „Köln“, „Sunbear“, „Bregenz-München“, „Paris“, „Vienna“, „La Scala“, „Radiance“, „Carnegie Hall“, „Paris-London“, „Rio“ und „Creation“ vor. Zwei kurze Transkriptionen mit analytischen Anmerkungen, aber ohne Fragestellung oder Schlussfolgerung, schließen sich an, bevor Pakzad seine abschließende Unterteilung vornimmt: Es gäbe in Jarretts Solokonzerten vier „Zyklen“, nämlich einen ersten, der vor allem aus „Jazz-Improvisationen“ bestehe, die voller Energie und emotionalem Ausdruck seien, einen zweiten, der „klassische Improvisationen“ beinhalte, „weniger Abenteuer und Exploration in der Musik“, der „reifer“ wirke und dessen „Strategien und Methoden“ stärker „entwickelt“ seien, einen dritten, der sich dadurch auszeichne, dass „die Stile sehr gut miteinander verschmelzen“, sowie einen vierten, in dem es keine langen Improvisationen mehr gebe, „sondern jeder Stil ist ein selbstständiges Stück“.

So schön so gut. Pakzads Arbeit bleibt an der Oberfläche, geht kaum wirklich in die Musik hinein, verallgemeinert die improvisatorische Praxis und ist leider in den wenigen Passagen, in denen er auf Jazzgeschichte eingeht, von wenig Sachkenntnis getrübt. Es gibt keine Fragestellung und dementsprechend auch kein Resümee. Seine Thesen zur Stilanalyse entnimmt er den Dissertationen von Gernot Blume und Peter Elsdon, wendet sie dann aber nur ansatzweise und dazu auch noch völlig unkritisch an, als würde ein einmal entdecktes System die Musik erklären können. Die Strukturskizzen der Solokonzerte bleibt an der Oberfläche der Musik, er untersucht weder melodische, harmonische noch rhythmische Verdichtungen. Pakzad nennt zwar die Bedeutung von Körperlichkeit und Spiritualität, findet dazu dann in der Musik selbst aber kein einziges Wort. Was das seltsame Kapitel über „Free Jazz“ in seinem Text zu suchen hat, wird nirgends erklärt, ganz abgesehen davon, dass die darin behaupteten politischen, kulturellen und musikalischen Entwicklungen arg vereinfacht, wenn nicht gar falsch dargestellt werden. Da steht dann so etwas wie: „Im Free Jazz gewinnt die Idee des Rituals an Bedeutung. Er wird als Vereinigung mit dem Übernatürlichen beschrieben, in der es nicht um die Vereinigung der Musiker als einzelne Individuen geht, sondern um eine Einheit in einer größeren Gruppe. Diese Idee kann man auch in einem größeren Kulturellen Kontext verstehen, der auf eine die geografischen Grenzen außer Acht lassende Vereinigung der afrikanischen und der afroamerikanischen Gesellschaft verweist.“ Pakzad hat offenbar nicht viel Ahnung davon, was Free Jazz wirklich war und wie sich der Stil entwickelte; er schwimmt, wie überhaupt in seinem Text, auf Gemeinplätzen dahin und subsumiert schließlich auch noch Sonny Rollins zu diesem Stil. Überhaupt zieren nicht nur für den Kenner erkenntliche Stilblüten den Text, der als Abschlussarbeit, wo auch immer, dem Autoren hoffentlich keine Lorbeeren eingebracht hat und dessen Veröffentlichung eher ärgerlich ist als dass sie auch nur irgendeinen neuen Aspekt in die Erforschung der Musik Keith Jarretts bringen würde.

Wolfram Knauer (Mai 2017)


New Orleans and the Global South. Caribbean, Creolization, Carnival
von Ottmar Ette & Gesine Müller
Hildesheim 2017 (Olms)
403 Seiten, 68 Euro
ISBN: 978-3-487-15504-3

New Orleans wird als Wiege des Jazz gefeiert, als nördlichste Stadt der Karibik, als ein Schmelztiegel der Kulturen, als die amerikanische Stadt mit den über die Jahrhunderte tiefsten und prägendsten kulturellen Verbindungen nach Europa. New Orleans ist eine Stadt der Traditionsbewahrung, obwohl jeder Bewohner der Stadt quasi seine eigenen Traditionen mit einbringt, die Traditionen seiner Vorfahren und seiner Community.

Eine Tagung in Köln im Februar 2015 widmete sich dem Thema der Karibik, der Kreolisierung und des Karnevals, alles Klischees, die mit New Orleans verbunden werden und die, differenziert betrachtet, dazu beitragen können, den kulturellen Diskurs in dieser Stadt zu beschreiben. Konkret näherte sich die Tagung diesem Thema von vier Seiten: Literatur und Sprache in einer Stadt, die ihren eigenen Akzent aus der Mischung der Bevölkerung entwickelte; die Tradition des Karnevals; Musik; sowie die Verbindungen zwischen New Orleans, der Karibik und Südamerika. Ottmar Ette setzt in seinem Beitrag die gegenseitige Bedingtheit des karnevalistischen Zukunftsmuts und der natürlichen Katastrophen, die New Orleans immer wieder einholten zueinander in Bezug. Ingrid Neumann-Holzschuh setzt sich mit den Besonderheiten und dem Wandel der Sprache, des „créole“ in Louisiana auseinander. Philipp Krämer untersucht, wie das „créole“ der Region die enge Bindung nach Frankreich beeinflusst. Gesine Müller liest Texte von „freien Schwarzen“ im Louisiana des 19. Jahrhundertsund untersucht sie auf ihr transkulturelles Bewusstsein hin – sowohl in Richtung früheres „französisches Mutterland“ wie auch in Richtung der anderen amerikanischen Rehionen. Owen Robinson findet in Baron Ludwig von Reizensteins Roman „The Mysteries of New Orleans“ eine fiktionalisierte Zeitzeugenbeschreibung der schon Mitte des 19. Jahrhunderts recht freizügigen Hafenstadt.

Aurélie Godet untersucht die Sprache des Mardi Gras auf Aspekte von „creolization“ und damit auch die Funktion kreolischer Prozesse innerhalb der Community/Communities von Louisiana. Rosary O’Neill beleuchtet die geschichte der Carnival Krewes in New Orleans und die Evolution dieser Tradition aus europäischen Vorbildern heraus. Wolfram Knauer untersucht den Einfluss eines „kreolischen Konzepts“ in der Musik von New Orleans bis in die globale Gegenwart hinein. William Boelhower untersucht die Topologie innerhalb dessen der Jazz sich in new Orleans entwickelte. Hans-Jürgen Lüsebrink weist auf Verbindungen zwischen den frankophonen Regionen Nordamerikas hin, die über die Sprache hinausgehen. Tobias Kraft fragt, was es bedeutet, dass eine farbige Kreolin, Aveline, seit 2012 im Videospiel „Assassin’s Creed III: Liberation“, das in New Orleans spielt, eine der Hauptprotagonisten ist. Berndt Ostendorf argumentiert, dass die Stadt ihre Diversität an Straßenkultur, ethnischer Mischung, Finanzkraft, Cuisine, Klang-, Wasser- und Landschaften als eigene Identität in der Vielfalt angenommen hat. Sona Arnold betrachtet die Reisebeschreibungen von Friedrich Gerstäcker über New Orleans und Brasilien als ein frühes Beispiel des Bewusstseins einer Verbindung zwischen Louisiana und Latein- bzw. Südamerika. Bill Marshall verweist auf die Bedeutung des „French Atlantic“, also der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen New Orleans und Frankreich, als Erklärhilfen für die spezifische Mischung der Kulturen, die in Lousiana möglich war. Michael Zeuske vergleicht Havanna, Kuba und New Orleans als historische Zentren des Sklavenhandels. Und Eugenio Matibag verweist auf die Cajun Filipinos und das Phänomen der asiatisch-amerikanischen Kreolisierung in Louisiana.

So ist das ganze Buch (also die ganze Konferenz, die 2015 in Köln stattfand) eine lebendige Annäherung an die verschiedenen Aspekte von „creolity“ oder „creolization“. Gerade, weil sich die Musik und all die anderen Subthemen hier in den Kanon der verschiedenen Kreolisierungstheorien eingereiht finden, handelt es sich damit um eine Perspektivbereicherung, die allen Teilnehmern und damit auch dem Leser dieses Bandes neue Erkenntnisse bringen kann.

Wolfram Knauer (März 2017)


Jazz As Visual Language. Film, Television and the Dissonant Image
von Nicolas Pillai
London 2017 (I.B. Tauris)
176 Seiten, 64 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78453-344-1

2017pillaiJazz, beginnt Nicolas Pillai sein Buch, war nie nur Musik. Als kommunikative Kunstform war Jazz auch immer immens visuell. Bildende Künstler haben immer wieder ihre Faszination mit dem Jazz betont, Tatsächlich entwickelte sich der Jazz etwa parallel zum Film, und so macht es Sinn, die Interaktionen zwischen beiden Genres zu untersuchen. Statt sich dabei auf Geschichten über Jazz zu konzentrieren, interessiert Pillai sich insbesondere für formale und strukturelle Parallelen zwischen den Künsten, analysiert dafür Bildsequenzen, Erzählstrategien mehr als die Story selbst. Dabei entdeckt er Kamerablicke genauso wie ikonische Motive und fragt sowohl, welche Gründe der Regisseur für seine filmischen Entscheidungen gehabt haben mag, als auch, welche Aussagen diese über die Zeit zulassen und wie sie auf das Publikum wirken.

Pillai wählt drei konkrete Fälle für seine Hauptkapitel. Len Lyes dreiminütiger Film „A Colour Box“ ist ein Klassiker der filmischen Abstraktion. Für neun seiner elf abstrakten Filme zwischen 1934 und 1940 wählte Lye Jazzaufnahmen, die klar den Verlaub der filmischen Abstraktion strukturieren. Für „Colour Box“ entschied er sich nach dem Durchhören hunderter Platten für Don Barretos Aufnahme „La Belle Creole“. Lye, der aus Neuseeland stammt, verweist in einzelnen seiner Bilder, die er direkt auf das Zelluloid malte oder kratzte, auf die Kunst der Aboriginees. Lye hatte seiner Erfahrungen in der Werbebranche gesammelt, für die er Animationsfilme machte, und Pillai vergleicht seine Technik mit Werbestrategien, die in den 1930er Jahren aufkamen, nicht so sehr das Produkt als vielmehr die Firma oder Marke zu bewerben. Hintergrund war, dass man damit umgehen wollte, dem Mittelklasse-Publikum, an das sich die Werbung richtete, zu offen die Rolle des Konsumenten zuzuschieben. Also fragt Pillai, wie das Publikum wohl die erkennbaren textlichen Inhalte von „A Colour Box“ dechiffriert haben mag, Hinweise auf Postwertzeichen und –gewichte, oder auf den aus verschiedenen kommerziell erhältlichen Versionen des „Lambeth Walk“ zusammengeschnittenen Soundtrack des Films „Swinging the Lambeth Walk“ von 1938. In Len Lyes Kunst, schlussfolgert Pillai, gehe es zuvorderst um Kino als Technologie, um die Besonderheit des projizierten Bildes, all das aber vor dem Hintergrund klarer gesellschaftlicher Vorstellungen und mit dem Bewusstsein der Wirkung seiner Filme auf ihr zeitgenössisches Publikum.

Im zweiten Kapitel beleuchtet Pillai Gjon Milis legendären Film „Jammin‘ the Blues“ von 1944, der sich von anderen Kurzfilmen mit amerikanischem Jazz in jenen Jahren insbesondere dadurch unterscheidet, dass er die Jazzszenen (etwa mit Lester Young und Harry Edison) als bewusste Reaktion auf den aktuellen künstlerischen Diskurs der Zeit setzt. In der Einleitung des Films sagt ein Erzähler, dies sei eine Jam Session, tatsächlich aber handelt es sich bei dem Kurzfilm um eine Hollywood-Produktion, und bewegen die Musiker ihre Finger zum vorab aufgenommenen Soundtrack. Und so interessieren Pillai hier vor allem Kompetenzen wie „Ehrlichkeit“ und „Ernsthaftigkeit“, verweist auf der ähnliche Kameraführungen wie jene ikonische, in der Lester Youngs Pork Pie Hat zu Beginn von „Jammin‘ the Blues“ als geometrische Kreise von oben gezeigt wird, um sich dann mit der Kamerafahrt und Youngs Erheben seines Kopfes als materielles Objekt zu entpuppen. Pillai berichtet kurz über Milis Karriere, sein Interesse am Film als eines künstlerischen Mediums, seine fotografischen Aktivitäten fürs LIFE-Magazin, die immer wieder auch Szenen aus der Jazzwelt beinhalteten, betrachtet einzelne Szenen als Reflex der Fotografenerfahrung Milis, und endet mit einem Aside über ein ähnliches Projekt aus dem Jahr 1950, bei dem Musiker aus Norman Granzs Jazz at the Philharmonic-Truppe zu sehen waren, unter ihnen Coleman Hawkins, Buddy Rich und Charlie Parker, die aber, da der vor-aufgenommene Soundtrack, zu dem die Musiker ihr Spiel mimen musste, verloren ging, nicht zu hören sind.

Pillais drittes Kapitel widmet sich der britischen Fernsehreihe „Jazz 625“, bei der durchreisende amerikanische Stars oft mit britischen Musikern zusammenwirkten und im Zusammenhang mit dem ihn insbesondere die Fernsehästhetik interessiert, einschließlich der Präsentation der Musiker durch Ansager wie Steve Race und Humphrey Lyttelton. Er beschreibt die Kamera als Sympathisanten der Musiker und schussfolgert, dass musikalische Bedeutung und musikalischer Effekt hier genauso der Crew hinter der Kamera zu verdanken sind wie den Musikern an ihren Instrumenten. Pillai holt kurz aus und beschreibt, wie Live-Jazz vor „Jazz 625“ im britischen Fernsehen präsentiert wurde, vergleicht dies auch mit Produktionen aus den USA, die wie ein Vorbild zur britischen Reihe wirken mögen, insbesondere „Jazz Casual“ und „Jazz Scene USA“. Er beschreibt, wie die Sendung eine überhöhte Form von Live-Atmosphäre kreierte und diskutiert schließlich, wie sich die daraus abgeleitete Ästhetik mit Musik im Fernsehen bis heute vergleichen ließe.

Pillai versteht seine eigene Forschung zum Jazz als Teil der interdisziplinären New Jazz Studies, die sehr bewusst darauf Rücksicht nehmen, dass jede Beschreibung oder Analyse eines künstlerischen Gegenstandes des Bewusstseins der jeweils eingenommenen Perspektive bedarf. Und so ist „Jazz as Visual Language“ denn auch nicht als umfassende Geschichte der Verwendung von Jazz im Film zu verstehen, sondern vielmehr als eine Versammlung von Fallbeispielen, die zeigen, dass die Darstellung von Jazz im Film Einfluss auf die Rezeption der Musik genauso haben wie die gespielte Musik Einfluss auf die Dramaturgie des Films haben wird.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)[:]

[:de]Hinter den Kulissen[:]

[:de]Jazzfotografie von Ulla C. Binder

Ausstellung vom 18.11. 2016 bis 31.01.2017 

Mit stimmungsvollen Backstage-Fotos der Berliner Fotografin
Ulla C. Binder gibt die neue Ausstellung im Jazzinstitut interessante Einblicke in die Jazzwelt abseits der Bühne

kulissen_plakat Hinter den Kulissen heißt die neue Ausstellung in der Galerie des Jazzinstituts und dieser Titel ist auch zugleich Programm. Gezeigt werden Momente auf Tour, bei Festivals und im Studio.
Die Berliner Fotografin Ulla C. Binder fotografiert Jazz auf eine ganz besondere Weise. Sie hält Menschen, Situationen und Stillleben fest, nicht während des großen Auftritts auf der Bühne, sondern in dem Moment kurz davor oder direkt danach. So entstehen Bilder, die die meisten Besucher sonst nie zu Gesicht bekommen würden.

 

 

Das Besonderbackstage_2011e von Ulla C. Binders Fotos ist die Stimmung. Es werden Augenblicke der Begegnung, der Konzentration, der Vorbereitung und des Wartens festgehalten. Man findet in den Fotografien viel Zeitvertreib, Müßiggang, Probeszenen, Kommunikation undDistanz. Eine subtile Distanz, obwohl man dem Betrachteten so nah ist. Sie entsteht, wenn der beobachtete Mensch ganz in seinen eigenen Kosmos abgetaucht ist, in den Moment der Stille und der Kontemplation, ohne Show, ohne Maske.

jazzcotech_dancers_2014Man entdeckt fleißige Hände hinter und auf der Bühne. Hände, die während der Show unsichtbar bleiben, ohne die die Show aber nicht möglich wäre…
Relaxte Mitarbeiter treffen sich hinter der Bühne, angespannte Musiker davor. Besucher an Ständen kurz vor dem Gig. Manchmal wird der Betrachter fast selbst zum Protagonisten auf der Bühne, wenn er mit den Künstlern ins Publikum schaut.
Was Ulla Binders Fotografien so interessant macht, ist die Vielseitigkeit der Motive. Neben den Musikerporträts sind es vor allem beeindruckende Stillleben. Gelbe Containerstapel, daneben ein deponiertes Saxophon, Technik, Musikinstrumente und  daneben eingeschworene Gruppen, Sekunden bevor sie auf die Bühne gehen. Viele ihrer Fotos sind auf der dem Werftgelände von Blohm und Voss in Hamburg entstanden, wo jährlich das Elbjazzfestival stattfindet. Jedes Foto erzählt eine Story. kamerateam_2014Und jedes Gesicht erzählt Geschichten von dem individuellen Weg zum Ziel, gleich das Beste zu geben und sein Innerstes nach außen zu tragen.
Die Ausstellung erzählt auch in allen Facetten von dem Wunsch, etwas Einzigartiges für den Augenblick entstehen zu lassen.

 

Hinter den Kulissen
Jazzfotografie von Ulla C. Binder
Ausstellung vom 18. November 2016  bis 31. Januar 2017, Öffnungszeiten Mo, Di, Do 10-17 Uhr, Fr 10-14 Uhr, www.jazzinstitut.de, Ausstellungseröffnung Freitag, 18. November 2016, 19:30 Uhr Galerie des Jazzinstituts[:]

[:de]The Jazz I’ve Seen[:]

[:de]THE JAZZ I’VE SEEN
Local Heroes: skizziert, animiert, geätzt, geprintet, gedruckt
Ausstellung vom 28. August bis 4. November 2016

QR-Code-Kraft
QR-Code-Kraft

Kann man Musik sehen? Diese Fragestellung ist die konzeptionelle Grundlage der neuen Ausstellung des Darmstädter Künstlers Hans-Werner Hermann und seiner Kollegen Thilo Hofer (Fotograf und Fotomedientechniker) und Thorsten Herz (Medien und Gestaltung), die erstmalig als Künstlerkollektiv (Biographien) zusammenarbeiten.

Zentraler Bestandteil bei der künstlerischen Umsetzung ist das Neben- und Miteinander verschiedenster technischer Konzepte wie klassische Radierung, Digitalisierung, ComputerArt, PhotoPrints, Videoanimation und vieles mehr. In der Kombination von traditionellen Zeichnungen und Skizzen und neuester Technologie zeigen die Kunstwerke eine überraschende Erweiterung, weg von der realen Welt, hin zu einem gänzlich eigenständigen Bildverfahren.

Thematisch begegnet man vielen Heroes der heimischen Jazzszene mit hohem Wiedererkennungsfaktor. Doch nichts ist so wie es scheint.

Jazz-Skizze
Jazz-Skizze
Jazz on Street I Hermann/Hofer/Herz
Jazz on Street I
Hermann/Hofer/Herz

https://youtu.be/bCKLXomdmdE

Öffnungszeiten der Galerie im Jazzinstitut: Mo, Di, Do 10-17 Uhr, Fr 10 bis 14 Uhr[:]

[:de]15. Darmstädter Jazzforum[:en]15th Darmstadt Jazzforum[:]

[:de]

Jazz @ 100 | (K)eine Heldengeschichte

Vorträge, Diskussionen, Dokumentationen & Musik zum 15. Darmstädter Jazzforum vom 28. bis 30. September 2017

Wissenschaftler, Journalisten, Musiker und Zuhörer diskutieren vor dem Hintergrund des 100sten Jubiläums der vermeintlich ersten Jazzaufnahme 1917 über verschobene Perspektiven der Jazzgeschichtsschreibung und warum es trotzdem so schwierig zu sein scheint, ohne name-dropping à la „New Orleans“, „Chicago“, „Louis Armstrong“, „Miles“, „Bird“ und „Ella“ über diese in der ganzen Welt verbreiteten und geliebten Musik zu schreiben und zu sprechen. Beim 15. Darmstädter Jazzforum sollen diese Themen aus unterschiedlichster Warte behandelt weden.

Dabei wollen wir die Jazzgeschichte nicht neu schreiben. In der internationalen  Konferenz, in Konzerten und einer Ausstellung hoffen wir allerdings auf eine lebendige Diskussion darüber, wie unser Verständnis von dieser Musik, ihrer Geschichte und ihrer Ästhetik geprägt wurde. Wir verstehen den Jazz als eine Musik mit einer mehr als hundertjährigen Geschichte, und wir wissen, dass diese weit komplexer ist, als die Geschichtsbücher uns das meistens wahrmachen wollen. Unser Ziel ist es, ein wenig von dieser Komplexität zu entwirren, wohl wissend, dass wir damit höchstens an der Oberfläche kratzen werden.

Daneben gewährt eine  Ausstellung mit Fotos von Arne Reimer einen Blick „hinter die Kulissen“ des „öffentlichen“ Jazzlebens von Musiker/innen und drei abendliche Konzerte von Musikern, die auch bei der Konferenz zu Wort kommen, runden die Veranstaltung ab. Die Konferenz selbst ist öffentlich und bei freiem Eintritt. Konfernzsprache ist Englisch. Um unverbindliche Anmeldung wird gebeten.

Details zur Konferenz „Jazz @ 100 | (K)eine Heldengeschichte“
Details zum Konzert mit dem Kirk Lightsey Quintet feat. Paul Zauner
Details zum Konzert mit dem Julia Hülsmann Oktett
Details zum Konzert mit Orrin Evans
Details zur Ausstellung „My Encounters with ‚American Jazz Heroes'“

Donnerstag, 28. bis Samstag, 30. September, Konferenz und Ausstellung im Literaturhaus, Konzerte in der Centralstation und in der Bessunger Knabenschule

Wir bedanken uns bei unseren Partnern und Förderern

Überregionale Medienpartner sind der Hessische Rundfunk mit seinem Kulturprogramm hr2-Kultur, der erneut das „Darmstädter Jazzforum“ präsentiert und unter anderem Mitschnitte und Sendungen zum Darmstädter Jazzforum plant sowie die Zeitschrift Jazzthetik.

Wie auch schon in den vergangenen Jahren unterstützt das Hessische Ministe­rium für Wissenschaft und Kunst and Kulturfonds Frankfurt RheinMain gGmbH das 15. Darmstädter Jazzforum. Weitere Förderung kommt von der Sparkassenkulturstiftung Hessen-Thüringen and Sparkasse Darmstadt. Dadurch werden z.B. zeitgemäße Produktions-, Werbe- und Dokumentationskonzepte umgesetzt, die mit dem üblichen Budget des Jazzinsti­tuts Darmstadt nicht realisiert werden können – bei einer national und international beachteten Veranstaltung wie dem Darmstädter Jazzforum aber unverzichtbar sind.[:en]

Jazz @ 100 | An alternative to a story of heroes

Conference, Concerts, exhibition, 28 – 30 September 2017

Details about the conference „Jazz @ 100 | An alternative to a story of heroes“
Details about the concert with the Kirk Lightsey Quintet feat. Paul Zauner
Details about the concert with the Julia Hülsmann Octet

Details about the concert with Orrin Evans
Details about the exhibition „My Encounters with ‚American Jazz Heroes'“

In the centenary of jazz ­– the recordings of the Original Dixieland Jass Band from 1917 are often cited as the first jazz recordings ever – the Darmstadt Jazzforum conference looks at the pitfalls of jazz historiography, which often relies on myths and legends that distort what is even more important: the multi-perspectivity of a music which is being created not only by great masters, but certainly by many individualists.

In all of this, the 15th Darmstadt Jazzforum does not plan to re-write jazz historiography. During the international conference, during concerts and an exhibition, however, we hope for a lively discussion about how our understanding of the music, its history and its aesthetic has been shaped. We see jazz as a music with a history of more than a hundred years, and we know that it’s much more complex than history books usually tell us. Our objective is to unravel some more of this complexity, even though we know that we will only be scratching at the surface. We do not just want to look at the past, either, but are just as much interested in papers that focus on today’s developments and their significance in the cultural discourse jazz always was a part of.

The Darmstadt Jazzforum will focus on different aspects of jazz historiography, such as:

Places:
Jazz historiography mostly talks of major cities, of New Orleans, Chicago or New York, of Paris, London or Berlin. An alternative reading might identify other places (such as Charleston, St. Louis, Los Angeles or Lyon, Leeds, Wuppertal) and link these to specific events, movements, or group activities. An alternative reading might also stress the fact that any fixation of cultural activity to a specific place forgets aspects of mobility which are important in a music dealing mostly with cultural encounters. How do „scenes“ and connections between scenes work? What does the historigraphic choice of focusing on a specific „place“ or the deliberate negation of geographical positioning mean for our understanding of jazz? And what are the specific connections between locations and the music itself?

People:
Jazz historiography often talks about successful or tragic heroes. An alternative reading might move other protagonists into the focus, might talk about temporary networks which enable artistic developments but are much more than mere musical relationships. An alternative reading should not necessarily question the importance of the great personalities but ask what kind of an example they set and/or what examples might have been alternatives from a very different direction. Focusing on people in jazz one needs to ask about the concept of artistic or commercial „success“; one needs to look at the processual aspects of improvisation (as opposed to the „Werk“ aesthetic which shines through in most artists‘ discographies); and one needs to look at the involvement of artists in the cultural discourses of their direct environments (community, city, scene, politics).

Style:
It seems like those lucky days when jazz history could easily be categorized with clear stylistic distinctions are over since the 1970s. And yet we often search for new descriptions to sum up more recent developments. The designation of stylistic names may be helpful for talking about music, but is it a suitable procedure in the internet era in which genre-hopping is the rule for a whole generation? The discussion about „genre“ or „style“ needs to take into consideration how such terms and categories have been canonized in the past and are being used in the present, by the music press, the industry, by fans as well as even by those pretending not to like jazz (Branford Marsalis: „People think if nobody sings it’s jazz.“). When questioning the illusion of genre purity, one has to ask about the general necessity  for categories in the first place and speculate about a future with no need to „file under…“

Presentations, Discussions, Concerts, Exhibition

At the 15th Darmstadt Jazzforum all of these topics are addressed by scholars from different disciplines, by journalists and by musicians. An exhibition with photos by Arne Reimer allows a „view behind the scenes“ of the public life of jazz musicians. Three concerts will complete the event (and some of the musicians will also talk at the conference). Attending the conference is free. We ask, though, for informal registration.

More about the 15th Darmstadt Jazzforum about „Jazz @ 100. An alternative to a story of heroes“ (concerence program, information about the concerts and the exhibition) will be online here in late May.

PS: The language at the Darmstadt Jazzforum conference is English.[:]

[:de]Neue Bücher 2016[:en]New Books 2016[:]

A Treasury of Rhode Island Jazz & Swing Musicians
Von Dennis Pratt & Tom Shaker
West Greenwich/Rhode Island 2016 (Consortium Publishing)
218 Seiten, 35 US-Dollar
ISBN: 978-0-940139-70-1

Dennis Pratt und Thom Shaker haben die Jazzliteratur mit diesem Buch um ein biographisches Personenlexikon erweitert, das Musiker:innen listet, die im amerikanischen Bundesstaat Rhode Island geboren oder aktiv sind. Dazu gehören bekannte Namen wie Frankie Carle, Hal Crook, Paul Gonsalves, Bobby Hackett, Scott Hamilton, George Masso, Dave McKenna oder Duke Robillard, daneben zahlreiche Musiker:innen, die wahrscheinlich außerhalb von Rhode Island kaum bekannt sind. Jeder Eintrag enthält eine kurze Biographie, insbesondere das Wer, Wann und Mit Wem, dazu jede Menge Fotos und eine kurze Zusammenfassung der Jazzszene in Rhode Island. Es ist ein auch optisch schönes Buch geworden, das vor allem Jazzfans im Land selbst ansprechen wird, allerdings kaum Informationen über Aufnahmen oder gar den Stil der gelisteten Musiker:innen gibt.

Wolfram Knauer (Januar 2021)


Murray Talks Music. Albert Murray on Jazz and Blues
herausgegeben von Paul Devlin
Minneapolis 2016 (University of Minnesota Press)
274 Seiten, 25,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8166-9955-1

Der 2013 verstorbene Albert Murray war ein bedeutender afro-amerikanischer Philosoph und Kulturtheoretiker, dessen Arbeit und Denken unter anderem Wynton Marsalis nachhaltig beeinflusste, mit dem zusammen er Jazz at Lincoln Center möglich machte. Jazzfans ist er vielleicht am ehesten als Co-Autor der Autobiographie Count Basies bekannt, des 1985 erschienenen Buchs „Good Morning Blues“. Paul Devlin hat nun etliche der Aufsätze und Interviews mit und von Albert Murray in einem Band versammelt, der einen Blick auf die ästhetischen Diskurse der 1980er bis 2000er Jahre gibt, in denen die Bedeutung des Jazz als des kulturellen Gedächtnisses Afro-Amerikas sich mit neuen Konnotationen, aber auch mit neuen Institutionen verfestigte.

Es geht los mit einem Interview, das Wynton Marsalis 1994 mit Murray führte, in dem die beiden über die Bedeutung des Blues für den Jazz sprechen und diese Musikform als wichtigste kulturelle Botschaft Amerikas definieren. Murrays Interview mit Dizzy Gillespie von 1985 ist ein Gespräch auf gleicher Augenhöhe, in dem Gillespie über seine Zeit bei Earl Hines spricht, über wichtige Trompeter, über die Bedeutung des Bebop und sein Interesse an lateinamerikanischer Musik. Konkret für sein Basie-Buch sprach Murray Anfang der 1980er Jahre mit dem Posaunisten Dan Minor darüber, wie Basie den Spitznamen „Count“ bekam, mit dem Sänger Billy Eckstine über die Birdland-Tourneen, die er mit der Basie-Band unternahm, sowie mit dem Impresario John Hammond über seinen Bezug zur Basie-Band.

Greg Thomas unterhält sich mit Murray über die Position afro-amerikanischer Literatur im Kanon der amerikanischen Literaturgeschichte. In Interviews mit Paul Devlin und Russell Neff äußert sich Murray sowohl über sein Bekenntnis zur Tradition wie auch über seine Neugier an der Avantgarde und darüber, dass der Blues für ihn die beiden verbinde. In einem weiteren Gespräch mit Paul Devlin erklärt Murray, wie stark Regionen, Städte und Landschaften die Musik und ihre Musiker beeinflussten. Es sei immer ein Fehler, argumentiert Murray in einem von Susan Page moderierten Call-In-Radiogespräch, Kunstformen nach Kriterien wie „Fortschritt“ zu beurteilen. Mit dem Literaturwissenschaftler Robert H. O’Meally unterhält er sich über den Schriftsteller Ralph Ellison und dessen Bezug zum Jazz. Loren Schoenberg lud Stanley Crouch und Murray 1989 in seine Radioshow, um mit ihnen über die Bedeutung Duke Ellingtons zu diskutieren und zwischendurch Aufnahmen zu spielen, auf die sie sofort reagieren. Schließlich findet sich zum Schluss des Buchs noch Murrays letzter veröffentlichter Aufsatz, „Jazz: Notes toward a Definition“, eine kluge Zusammenfassung Murrays Erklärung, was Jazz bedeutet, als afro-amerikanische, als amerikanische und irgendwie auch als globale Kunstform.

Paul Devlins ausführliches Vorwort ordnet Murrays Bedeutung für die Diskurse der 1980er und 190er Jahre ein, und Greg Thomas schreibt ein Nachwort, in dem er noch einmal herausstellt, wie einflussreich Murrays Verständnis von Blues und Jazz als einem ästhetischen Statement gewesen sei.

„Murray Talks Music“ ist also keine Jazzgeschichtsbuch. Auf jeder Seite geht es Murray darum zu hinterfragen oder zu erklären, wovon diese Musik handelt, warum sie so klingt wie sie klingt, und welche Bedeutung sie für die gesellschaftlichen, politischen und ästhetischen Diskurse des 20sten Jahrhunderts hatte. Es ist damit eine Fundgrube für jeden, den die Themen interessieren, mit denen Afro-Amerika sich im ausgehenden 20sten Jahrhundert neu definierte.

Wolfram Knauer (Mai 2018)


Listening to Jazz
von Benjamin Bierman
New York 2016 (Oxford University Press)
374 Seiten, 81,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-997561-7

Benjamin Biermans „Listening to Jazz ist eine Jazzgeschichte, die sich an Lehrerinnen und Lehrer richtet sowie an deren Schülerinnen und Schüler, und die dabei nicht bei den „Geschichten“ stehenbleibt, die man sonst oft in „textbooks“ liest, wie Schulbücher im Englischen genannt werden, sondern tiefer eindringt in die Materie. Bierman nutzt keine Notenbeispiele, wie dies sonst oft und gern getan wird, sondern sogenannte „listening guides“ oder „listening focuses“, also kurze textliche Annäherungen, um die Leser/innen durch das Hören konkreter improvisierter Musik zu führen.

Bierman beginnt mit den Elementen des Jazz, Improvisation, Komposition, die gebräuchlichsten Instrumente, die üblichen Bandbesetzungen. Dann erklärt er chronologisch die unterschiedlichen Phasen der Jazzgeschichte, von Vorformen wie Blues und Ragtime über New Orleans, Chicago, Swing, Cool Jazz, Hardbop bis zu Free Jazz, Fusion und den aktuellsten Ausprägungen. Er streut knapp den biographischen Hintergrund bedeutender Musiker ein; am wichtigsten aber ist ihm das gelenkte Hören der Aufnahmen, die man entweder im Internet findet, über eine Spotify-Playlist ansteuern oder über eine Website des Verlags downloaden kann. Seine Höranalysen bleiben oft an der Oberfläche, beschreiben in solchen Fällen reine Formabläufe, kommen aber auch als eingehende „listening guides“ daher, bei denen die Geschehnisse auf den verschiedenen Ebenen näher erläutert werden, Form, Stil, Melodie und Harmonik, Rhythmik und Begleitung. Immer wieder streut Bierman außerdem Themenböcke ein, die zu der besprochenen Zeit auch diskutiert wurden, etwa Rassismus, das wirtschaftliche Überleben von Musikern, die Klangqualität früher Aufnahmen oder das Thema von Frauen im Jazz. Überhaupt achtet er darauf, den Fokus immer wieder auf Musikerinnen zu legen, und das nicht nur, wenn es um Sängerinnen wie Billie Holiday oder Ella Fitzgerald geht. Jedes Kapitel endet mit einer knappen Zusammenfassung der Teilkapitel, mit Begriffen, die in dem Kapitel erklärt wurden, mit den wichtigsten Personen, die darin vorkamen, mit möglichen Gesprächs- und Diskussionsthemen, sowie mit Tipps für weiterführende Literatur.

Biermans Buch ist gut lesbar und stellt eine gelungene Handreichung für Lehrerinnen und Lehrer dar, die mithilfe der Kapitel Beispiele für ihren Unterricht aussuchen können und dabei nicht bei den üblichen „Hits“ der Jazzgeschichtsschreibung verharren müssen. Wo sonst wird etwa, wie im Kapitel New York, neben Coleman Hawkins‘ „Body and Soul“ auch Alberto Socarrás‘ „Masabi“ untersucht? Wo sonst finden neben Benny Goodman und Count Basie auch die International Sweethearts of Rhythm mit „Blue Lou“ Erwähnung? Schon hier zeigt sich, dass das Buch eher am Aufbrechen als am Festschreiben des Repertoirekanons im Jazz interessiert ist. Am erfrischendsten ist dies schließlich dort zu spüren, wo Bierman sich nicht scheut, bis in die jüngste Gegenwart zu gehen, und Aufnahmen etwa von Lionel Loueke, Robert Glasper, Brian Blade und anderen zu beleuchten.

Wenn dem Buch eines fehlt, ist dies herauszustreichen, wie international der Jazz über das Jahrhundert seines Bestehens geworden ist, wie sehr die Sprache des Jazz zu einer globalen geworden ist, und dass diese Tatsache zu ganz eigenen Idiomen außerhalb der USA geführt hat. Aber das wäre dann wahrscheinlich die Fortführung seines Anliegens – quasi für die Oberstufe.

Als „textbook“ zum amerikanischen Jazz ist „Listening to Jazz“ auf jeden Fall sehr empfehlenswert.

Wolfram Knauer (Februar 2018)


Jazzing. New York City’s Unseen Scene
von Thomas H. Greenland
Urbana/IL 2016 (University of Illinois Press)
247 Seiten, 28 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08160-6

Jazz ist … Musik! Überhaupt ist Musik zuallererst einmal Musik und wenig anderes. Das Publikum erlebt Jazzmusiker in der Regel als Geschöpfe aus einer anderen Welt, als kreative Erfinder, die allabendlich auf der Bühne stehen, um sich jeden Tag auf das Risiko der Improvisation einzulassen, jeden Tag etwas Neues zu spielen. Dass das Musikerdasein sehr viel komplexer ist, dass Musiker in der Regel in eine professionelle genauso wie ehrenamtliche Szene eingebunden sind, zu der die Kollegen genauso gehören wie die Veranstalter, die Kritiker, die Produzenten und das Publikum, darum geht es in Thomas Greenlands Buch „Jazzing. New York City’s Unseen Scene“. Greenland interessieren die Umstände, die das Musikmachen in New York erst ermöglichen, die „Szene“, die den Musikern sowohl Community ist als auch am Diskurs über die musikalische Bedeutung aktueller Projekte mitwirkt.

Tom Greenland basiert sein Buch auf mehr als 100 Interviews, die er mit Musikern, Veranstaltern, Kritikern und Fans zwischen 2002 und 2010 geführt hatte. 2013, erzählt er einleitend, sei er zu einem Gedenkkonzert für einen Jazzfan eingeladen worden und habe sich gefragt, was es bedeutet, dass so viele professionell mit der Musik Befasste den Verstorbenen als einen der ihren begriffen, als Teil der Welt, die sie dazu befähigt, kreativ tätig zu sein. Ausgehend von dieser Erfahrung entwickelt der Autor eine Vorstellung von Jazz, die nicht allein aus dem musikalisch Erklingenden besteht, sondern immer auch nach den Kontexten fragt, all das erst möglich werden lassen. Er beginnt mit einer Reflektion darüber, was genau wir denn eigentlich hören, wenn wir einer Jazz-Performance zuhören, wann wir Musik als „gelungen“ oder als „nicht gelungen“ empfinden, welchen Einfluss die virtuose Beherrschung eines Instruments auf unser Hören hat, wie wichtig uns Originalität der musikalischen Erfingung und die Erfahrung ist, überrascht zu werden? Und er will wissen, wie stark all solche Faktoren von der Umgebung beeinflusst sind, in der die Musik gemacht wird?

Sein zweites Kapitel ist den Fans gewidmet, die einen wichtigen Teil der Jazz Community ausmachen. Greenland fragt – mit Bezug auf die New Yorker Situation -, wie solche Communities aus Fans entstehen, wie sie sich beispielsweise durch die digitale Revolution der letzten Jahre verändert haben, welche unterschiedlichen Hörgewohnheiten – und eng verbunden damit welche ästhetischen Vorstellungen – es unter ihnen gibt. Greenland überschreibt zwei Teilkapitel dieses Blocks mit „Listening In“, womit er die Hörbildung durch Schallplatten meint, und „Listening Out“, wie er das Bekenntnis zum Livekonzert beschreibt.

Wie sich aus Fan Communities eine Szene bildet umreißt das dritte Kapitel. Greenland beschreibt darin anhand von Interviewexzerpten, wie Fans ihren eigenen Platz innerhalb des regionalen Jazzlebens finden, wie sie sich mit Orten identifizieren und wie diese Identifikation mit einem Ort zugleich Einfluss auf ihre Hörgewohnheiten nimmt. Zugleich geht er der Frage nach, welche Rolle die gesellschaftliche Sanktion dessen spielt, was gerade als „hip“ angesehen wird. Im vierten Kapitel beschreibt er das Tagesgeschäft der Clubs und anderer Spielorte in der Stadt, unterscheidet dabei Geschäftsmodelle, die vom konventionellen Jazzclub, also etwa dem Village Vanguard oder dem Sweet Basil, bis zu Veranstaltungen reichen, die von Musikern selbst kuratiert werden. Im Zusammenhang hiermit reflektiert er auch auf den Einfluss der Publikumserwartung auf die Programmgestaltung der jeweiligen Spielorte.

Neben den Clubbetreibern machen aber noch andere Faktoren die „Szene“ aus. Im fünften Kapitel beleuchtet Greenland die Karriere etwa der Kritiker Gary Giddins und David Adler, des Plattenladen-Besitzers Bruce Gallanter, von Bildenden Künstlern und Fotografen, fragt, wie sie zum Jazz kamen, welche Zufälle dazu führten, dass aus ihrer Passion ein Beruf wurde, und welche Chancen und Schwierigkeiten mit ihre jeweiligen Tätigkeiten verbunden sind.

Während die ersten fünf Kapitel sich also damit auseinandersetzten, wie eigentlich die Nichtmusiker der Jazzszene Jazz „performen“, geht es im letzten Kapitel um die konkrete Beziehung der Künstler zu ihrem Publikum. Greenland spricht mit Musikern darüber, wie sie eine Beziehung zu ihren Hörern aufbauen, mit Clubbetreibern darüber, wie sie zu einer kommunikativen kreativen Atmosphäre beitragen, und mit Kritikern darüber, wie ihnen manchmal ihre professionelle Brille den Blick auf die Musik verstellt. Er beschreibt, wie die Kommunikation mit einem Livepublikum kreative Energie erzeugen und wie Musik, wenn denn alles richtig zusammenkommt und stimmt, für ein fast schon spirituelles Erlebnis bei allen Beteiligten sorgen kann.

Thomas Greenlands Buch ist gerade wegenb des ungewöhnlichen Blicks auf die Jazzszene ein überaus lesenswertes und kurzweilig geschriebenes Buch, das sich teilweise so spannend liest wie Paul Berliners epochales „Thinking in Jazz“ von 1994, das die Musik ähnlich weitsichtig innerhalb ihrer Kontexte darzustellen versuchte.

Wolfram Knauer (August 2017)


Ein schmaler Grat. Die Jazz-Sektion, zeitgenössische Kunst und Musik in der Tschechoslowakei
herausgegeben von Rüdiger Ritter & Martina Winkler
Bremen 2016 (Universität Bremen)
161 Seiten
ISBN: 978-3-00-053959-6

Ausgerechnet der Jazz wurde in der Tschechoslowakei in der 1980er Jahren als staats- und systemgefährdend angesehen, so sehr, dass das Regime 1987 einen Schauprozess anstrengte, der in langjährigen Haftstrafen für die Vorstandmitglieder der Jazz-Sektion endete. 2016 kuratierte der Historiker Rüdiger Ritter eine Ausstellung über die Jazz-Sektion. Das Begleitbuch zur Ausstellung stellt die Aktivitäten dieser Gruppe von Kulturaktivisten in den Kontext der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung der CSSR in jenen Jahren und dokumentiert damit ein faszinierendes Kapitel europäischer Jazz-, nein europäischer Kulturgeschichte.

Die Jazz-Sektion wurde 1971 gegründet und anfangs von allen Seiten als Win-Win-Lösung verstanden, war für die Regierung eine Unterabteilung der Musikergewerkschaft, die eine bessere Kontrolle der Jazzszene ermöglichte, wurde von den Musikern auf der anderen Seite als eine unabhängige Organisation angesehen, die helfen konnte, Konzerte und das Jazzleben noch besser zu organisieren.

In einem ersten Kapitel blickt Ritter auf die Geschichte des tschechoslowakischen Jazz seit den 1920er Jahren, fokussiert dabei schnell auf die Nachkriegszeit und die sich wandelnde Haltung der Kulturpolitik gegenüber dem Jazz. Er beschreibt, wie der Prager Frühling 1968 und der Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen auf der einen Seite die Situation aller kultureller Aktivitäten verschärfte, auf der anderen Seite 1971 zur Gründung der Jazz-Sektion führte. Zugleich beschreibt er, dass die überregionalen Prager Jazz-Tage eine Art Experimentierfeld für Jazz und populäre Musik waren, und dass genau diese stilistische Offenheit und das damit verbundene Interesse jugendlicher Hörer die Organisatoren des Events und die Vertreter der Jazz-Sektion zugleich verdächtig machten, „unterwanderte sie doch den staatlichen Monopolanspruch in der Jugendbildung und Freizeitgestaltung“. Anhand des von der Jazz-Sektion herausgegebenen Bulletins „Jazz“ zeigt Ritter, wie sich die ästhetische Haltung der Macher über die Jahre verändert, die dem Blatt ab der 20sten Ausgabe die Unterschrift „Bulletin für zeitgenössische Musik“ beigaben. Es war also zuvorderst der Interpretationswandel dessen, was unter Jazz zu subsumieren war, der die staatliche Repression herausforderte. Die zahlreichen Fotos im Buch dokumentieren die Begeisterung der Jazz-Tage unter vor allem jungen Zuhörern, und Ritters Text bietet den Kontext des gesellschaftlichen Diskurses, innerhalb dessen die Jazz-Sektion eine Art „Sammlungsbecken für alternatives Denken in der Kunst“ darstellte. Er beschreibt die zermürbenden, teilweise aber auch mit subversivem Spaß betriebenen Scharmützel zwischen Mitgliedern der Jazz-Sektion und der Geheimpolizei. Ende der 1970er Jahre wurde es ernster: die Jazz-Sektion wurde 1980 verboten, die Konzerte der 100. Prager Jazz-Tage fanden aber auch ohne offizielle Erlaubnis in der Illegalität statt. Trotz des Verbots ging es im Untergrund weiter, mit Konzerten und Veröffentlichungen. Ritter beschreibt die Zunahme der Repressionen und die Vorgehensweise der Jazz-Sektion, diese zu umgehen. Am Ende wurde der Vorstand wegen verbotener Geschäfte der Prozess gemacht und die beiden Vorsitzenden am 11. März 1987 zu 9 bzw. 16 Monaten Haft verurteilt. Es folgten Proteste aus aller Welt, auf die die tschechische Regierung nur mit dem Hinweis reagierte, es sei bei dem Prozess „keineswegs um die Verurteilung des Jazz oder die Diffamierung eines Kunstbegriffs gegangen, sondern man habe lediglich Steuersünder bestraft“. Zum Ende seines Aufsatzes betont Ritter, dass es beim Wirken der Jazz-Sektion um weit mehr gegangen sei als um Jazz, dass die Jazz-Sektion über die Jahre eine Art Fürsprecher für die Freiheit der aktuellen Kunst geworden sei und damit zu einer wichtigen Stimme im Versuch einer Veränderung des Systems von innen heraus.

Heidrun Hamersky schildert in ihrem Beitrag zum Buch die allgemeine Vorstellung der sozialistischen Regierung in der Tschechoslowakei davon, was Kunst und Kultur bewirken solle, beschreibt die Zentralisierung des Kulturbetriebs und die Praxis der Zensur, die Veränderungen aufgrund sich wandelnder politischer Haltungen über die Jahre und die Bedeutung der Jazz-Sektion und der Bürgerrechtsbewegung Charta 77 für die stärker werdende Opposition, die schließlich zur samtenen Revolution führte.

Jan Blüml schließlich beschreibt in seinem Beitrag die Funktion des Jazz und die der Jazz-Sektion als wichtigstem Organisationsgremium dieser Szene in der Zeit der sogenannten Normalisierung der 1970er und 1980er Jahre. Er betont, dass die Jazz-Sektion zwar vor allem in Prag aktiv war, ihr Einfluss sowohl im Jazz- und Rockbereich, in der Insistenz auf ihre Unabhängigkeit aber auch in der ganzen Tschechoslowakei zu spüren war.

„Ein schmaler Grat“ erschien als Begleitbuch zu einer Ausstellung über die Jazz-Sektion und ist entsprechend reich bebildert mit Faksimiles von Plakaten und Schriftstücken sowie mit vielen Fotos, in denen deutlich wird, welch enormes Feedback die Veranstaltungen zwischen Jazz und Rock insbesondere bei einem jüngeren Publikum fanden. Die Texte sind durchgängig zweisprachig auf Deutsch und Tschechisch gehalten und ungemein informativ. Jede Abbildung wird zudem mit einem kurzen Begleittext kontextualisiert. Rüdiger Ritter, den anderen Ausstellungsmachern und Autoren ist zu danken, diesen zwar durchaus bekannten, in dieser Detailliertheit bislang aber nicht zusammengefassten Aspekt osteuropäischer Jazzgeschichte festgehalten und dokumentiert zu haben. Es ist weit mehr als ein Katalog zu Ausstellung; „Ein schmaler Grat“ ist zugleich ein Lehrbuch darüber, dass Kultur und kultureller Diskurs immer auch politisch sind.

Wolfram Knauer (Juni 2017)


Jazz & the City. Jazz in Graz von 1965 bis 2015
von Michael Kahr
Graz 2016 (Leykam)
523 Seiten, 1 beiheftende CD, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-7011-0357-7

Michael Kahr ist Musiker und Musikwissenschaftler und hat in beiden Funktionen die verschiedenen Einrichtungen der Kunstuniversität Granz besucht und benutzt, die sich mit Jazz beschäftigen, das Institut für Jazz also genauso wie das Institut für Jazzforschung. In seinem Buch „Jazz & the City“ setzt er sich mit der Grazer Jazzgeschichte der Gegenwart auseinander und skizziert dabei zugleich den Einfluss einer so ausgewiesenen Jazzausbildung auf die Jazzszene einer Stadt.

Am 1. Januar 1965 nahm das Institut für Jazz an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Graz seine Arbeit auf; 1969 wurde die Internationale Gesellschaft für Jazzforschung und 1971 das Institut für Jazzforschung gegründet. Diese Institutionalisierung des Jazz in der Landeshauptstadt der Steiermark ist die Anfangsmarke für Kahrs Untersuchung, die er bis in die Gegenwart reichen lässt. Er stellt dabei keine konkrete Fragestellung vor, sondern skizziert den Jazz als einen wichtigen Teil der Grazer Kulturentwicklung. Seine Herangehensweise ist dabei eine vor allem beschreibende: In einem ersten Kapitel geht es um den Kontext, also die Geschichte des Jazz in Graz nach dem II. Weltkrieg. Ein eigenes Kapitel erhalten die Studien- und Forschungseinrichtungen der Universität für Musik und darstellende Kunst sowie die an ihrer Ausrichtung maßgeblich beteiligten Personen. Ein drittes Kapitel stellt wichtige Musiker der Grazer Jazzszene genauso vor wie Lehrende an der Hochschule und Studierende, die diese Szene über die Jahre mitgeprägt hatten. Und ein viertes Kapitel fokussiert auf die wichtigsten Veranstalter, Konzertreihen und Festivals. In all diesen Kapiteln finden sich unzählige Details, oft biographischer Natur, Hinweise auf Interaktion der Künstler/innen mit der Szene, auf besondere, in der Stadt verankerte oder auch international ausgerichtete Projekte, auf Bands, Ensembles und Orchester zwischen Dixieland, freier Improvisation und Balkan-Jazz. Dabei liefert Kahr eine Art Lexikon der Grazer Jazzszene von 1965 bis heute mit Informationen, die manchmal etwas stark ins Detail gehen mögen (wenn etwa jede Besetzungsänderung einzelner Bands nachvollzogen wird), gibt ab und an auch außermusikalische Informationen (etwa dass Eje Thelin ein ausgezeichneter Koch war), enthält sich in Bezug auf die Musik selbst zugleich jeder ästhetischen Wertung.

Aus dem allen ragt das letzte Kapitel des Buchs heraus, dem Kahr die nüchterne Überschrift gibt: „Künstlerische Forschung zur Grazer Jazzgeschichte“. „Basierend auf dem in der Forschungsarbeit für dieses Buch erworbenen historischen Wissen“, erklärt der Autor, „wurde ein Kompositionsvorhaben initiiert, mit dem Ziel, spezifische Erkenntnisse zu den künstlerischen Prozessen in der Grazer Jazzgeschichte aufzuarbeiten und strukturelle Merkmale in der Musik ausgewählter MusikerInnen und Ensembles zu dokumentieren.“ Kahr beschreibt, dass dieser sehr persönliche Zugang zu Jazztheorie oder Jazzreflektion an der Grazer Universität von etlichen Musikern gelehrt wurde, und bietet dann eine eigene Analyse seiner Komposition „Annäherung“, geschrieben in der Ich-Form des Komponisten und in einer Art Kompositionstagebuch. Er beschreibt die Gedankengänge bei der Auswahl musikalischer Ideen, die Beziehung, die er zwischen bestimmten musikalischen Interaktionsformen und Erkenntnissen seiner Recherchen sieht, begründet die Auswahl von Zitaten etwa aus Arbeiten von Dieter Glawischnig und Harald Neuwirth, aber auch aus dem „Erzherzog Johann-Lied“, „das im Ausdruck von kultureller Identität in der Steiermark eine wichtige Rolle einnimmt“. Er erklärt den Prozess der kompositorischen Entscheidungsfindung, warum er also einzelne Einfälle beibehält, andere dagegen verwirft, begründet schon mal, dass sich bestimmte Versionen für ihn als Pianisten „natürlicher“ anfühlten. Die drei-sätzige Komposition hängt dem Buch als Audiodatei auf einer Daten-CD bei, die auch eine PDF-Fassung der kompletten Partitur enthält.

Michael Kahr hat mit seinem Buch eine Art Stadtgeschichte des Jazz zwischen 1965 und heute verfasst. Er schildert zugleich den Einfluss der Institutionalisierung und der mit der Einrichtung der diversen Studien- und Forschungszweige für Jazz verbundenen Internationalisierung auf die bereits vorhandenen bzw. sich nach und nach verändernden Strukturen der Grazer Jazzszene. Ein Literaturverzeichnis, ein Block mit Fotos etlicher der behandelten Musiker/innen und Bands sowie ein Personenregister schließen den Band ab.

Wolfram Knauer (Juni 2017)


Flamingos und andere Paradiesvögel. 40 Jahre Leipziger Jazztage
herausgegeben von Stefan Heilig & Benjamin Heine & Laysa Herrlich
Leipzig 2016 (Jazzclub Leipzig)
368 Seiten, 39 Euro
ISBN: 978-3-00-054042-4

10. bis 12. Juni 1976: In Leipzig finden zum ersten Mal die Jazztage statt. Helmut Sachse spielt mit seinem Quartett, Ulrich Gumpert mit Günter Sommer im Duo, Luten Petrowski mit Sextet, Manfred Schulzes Ensemble und Synopsis, das spätere Zentralquartett. Es war ein identitätsstiftendes Festival, für die Musiker, die anfangs vor allem unter Landsleuten blieben, dann erste Kontakte in die „sozialistischen Bruderländer“ machten und ab 1978 immer auch Musiker aus dem Westen einluden.

Aus Anlass des 40-jährigen Jubiläums hat der Jazzclub Leipzig im letzten Jahr ein Buch vorgelegt, dass 40 Jahre Leipziger Musikgeschichte, ach was, ostdeutscher, tatsächlich aber gesamtdeutscher Musikgeschichte dokumentiert. Die Plakate, die kompletten Besetzungslisten, Erinnerungen von Musikern, Veranstaltern und Fans im Publikum, Antragsprosa für den Kulturbund der DDR und vieles mehr. Da berichtet Monika Spiller, wie es dazu kam, dass Musiker ab 1980 anstelle Blumen eine Originalgrafik verschiedener Leipziger Künstler erhielten. Immo Fitzsche erinnert sich, wie er dabei half, dass westliche Musiker ihre DDR-Mark, die im Westen ja weit weniger wert waren, während des Aufenthaltes auszugeben. Die Kulturdirektion Leipzig beschwert sich 1986 über die Planung eines Punkabends. Gerhard Schulz weiß noch, wie das Festival 1998 in ein Zirkuszelt verlegt wurde, weil die Kongresshalle wegen baulicher Mängel gesperrt war. Horst-Udo Försterling war dabei, als die ersten Jazztage im vereinten Deutschland abgehalten wurden. Steffen Pohle erinnert sich an ein Gespräch mit Keith Jarrett. Stephan Kämmerer erzählt, dass Stéphane Grappelli zuerst an Johann Sebastian Bachs Grab wollte. Stefan Heilig und Benjamin Heine unterhalten sich mit dem langjährigen künstlerischen Leiter der Jazztage, Bert Noglik, und Ulrich Steinmetzger spricht mit Stefan Heilig, der 2008 die Geschäfte des Jazzclubs und damit auch die Organisation des Festivals übernahm. Zum Schluss kommen dann Joe Sachse, der insgesamt 20 Mal bei den Leipziger Jazztagen auftrat, und zwei der größten Leipziger Jazzsöhne zu Wort, nämlich Rolf und Joachim Kühn.

„Flamingos und andere Paradiesvögel“ gelingt es mit vielen Fotos und Dokumenten nicht nur diejenigen Leser anzusprechen, die eine eigene Erinnerung an die Leipziger Jazztage haben, sondern darüber hinaus die Atmosphäre einer Veranstaltung heraufzubeschwören, die von einem mutigen Avantgardefestival zu einem etablierten Großereignis wurde, das die Grundingredienzien des Jazz, als Mut und Risiko, nie außer Acht ließ. Natürlich finden die großen Würfe Erwähnung, die Begegnung von Joachim Kühn mit Ornette Coleman etwa. Mehr noch aber liest man sich in den vielen Anekdoten und Erinnerungen von Machern und Auftretenden fest, die letztlich sowohl die professionelle Arbeit wie auch das ehrenamtliche Engagement feiern, eine Arbeit, die Jazzclubs und -vereine landein, landauf kennen, egal wie groß die Veranstaltungen sind, die sie zu verantworten haben. Das Buch ist damit mehr geworden als eine reine Festivalchronik. Ein würdiges Geburtstagsgeschenk: Zum Blättern mehr als zum Lesen. Zum Entdecken genauso wie zum Erinnern. Und immer wieder eine Anregung zum Hören jedweder Tondokumente, die einem die hier gelisteten Musiker und Bands vergegenwärtigen können.

Wolfram Knauer (Juni 2017)


Sing! Inge, sing! Der zerbrochene Traum der Inge Brandenburg
von Marc Boettcher
Berlin 2016 (parthas berlin)
271 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-86964-113-3

Das Nachwort gehört eigentlich an den Beginn der Geschichte: Wie der Grafiker Thomas Rautenberg auf einem Münchner Flohmarkt ein Fotoalbum einer Sängerin vor unterschiedlichen Bands entdeckte und bei dem Händler weitere 500 Fotos und zahlreiche Tonbänder. Wie er, nachdem er eine Produktion über Bert Kaempfert im Fernsehen sah, den Filmemacher ausfindig machte und anschrieb, ob er sich nicht vorstellen könne, das Leben der Inge Brandenburg zu verfilmen. Dieser Filmemacher war Marc Boettcher, und der war nach kurzem fasziniert von der Sängerin, die zu den ganz Großen im deutschen Jazz zählte, aber weitgehend vergessen schien. Den inzwischen mehrfach preisgekrönten Film produzierte er trotz erheblicher Hürden, und weil das Material, das er für die Dokumentation ausgewertet hatte, so viel mehr hergab, entschloss er sich, ein Buch zu schreiben, das die vergessene Inge Brandenburg zumindest zurück auf die Bühne der Erinnerung holt.

Er erzählt die Geschichte einer traurigen Kindheit in Leipzig, der unglücklichen Ehe der Eltern, des Heimaufenthalts, erst in Dessau, dann in Bernburg. Nach dem Krieg flüchtet Inge Brandenburg nach Augsburg, arbeitete in einer Bäckerei und nahm nebenbei Klavierunterricht. Als sie in der Schwäbischen Landeszeitung eine Annonce liest, in der eine gut aussehende Sängerin gesucht wird, bewirbt sie sich und erhält im November 1949 zum ersten Mal die Gelegenheit vor Publikum aufzutreten. Sie arbeitet mit einer Tanzkapelle, die vor allem durch amerikanische Clubs tingelt, und sie lernt mehr und mehr Jazzmusiker kennen, die sie schätzten, weil sie so deutlich kein Schlagersternchen ist, sondern sich für den aktuellen Jazz der Zeit interessiert. Böttcher hat genügend O-Töne von Brandenburg, um sie von den GI-Clubs erzählen zu lassen, vom Frankfurter Jazzkeller, von einer Tournee nach Nordafrika, von ersten Erfolgen in Skandinavien, wo sie mit den bedeutendsten schwedischen Jazzmusikern zusammenarbeitete. Sie verliebt sich in Charles Hickman, der als Disc Jockey für den AFN in Frankfurt tätig ist, und sie wird mehr und mehr auch von der breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen, als eine Sängerin im Stil amerikanischer Vorbilder, die vom Jazz her kommen, aber sich vor der Popmusik nicht scheuen. Sie tritt beim Wettbewerb des Antibes/Juan-les-Pins-Festivals im Juli 1960 auf, ist dann beim Schlagerwettbewerb in Knokke dabei und gewöhnt sich langsam daran, zwischen den Genres zu agieren, „Schlager contra Jazz“.

Auf Anregung ihrer Plattenfirma singt sie bald auch deutschsprachige Schlager, die sie selbst für „das grausamste für mich“ hält. Sie würde lieber nur Jazz singen, aber vom Jazz, lautet eine Schlagzeile jener Jahre über sie, „wird man nicht satt“. Boettcher beschreibt die Wirrungen einer Künstlerkarriere der 1960er Jahre, hier eine Theaterrolle, dort ein Schlagerengagement, zwischendurch mal wieder Jazz; er weiß um Verehrer, Affären und um die Einsamkeit, die ihr steter Begleiter bleibt. Als Gegengewicht zu den Schlagerproduktionen entwickelt Brandenburg ein Programm mit dem Gunter Hampel Quartett und nahm mit ihm die Platte „It’s All Right With Me“ auf, die von der Kritik entweder hoch gelobt oder schrecklich verrissen wird. Zugleich bringt sie Beat-Platten heraus, aber auch selbstgetextete Chansons (etwa „Das Riesenrad“ oder „Wie ein Strohhalm im Wind“ mit Musik von Wolfgang Dauner). Sie nimmt ein paar Rollen für Fernsehfilme und fürs Theater an; ihre finanzielle Lage aber wird immer prekärer. Boettcher zitiert aus Polizeiberichten und Zeugenvernehmungen etwa eines Vorfalls, bei dem Inge Brandenburg nach einem streitvollen Abend in ihrer Stammkneipe einem Taxifahrer, der sie nicht weiterfahren wollte, in den Unterarm biss. Sie streitet – glücklos – mit ihrer Plattenfirma; ihre Auftritte, egal ob vor Publikum oder den Kameras, werden selten. Sie zieht von Frankfurt nach München, macht Fernsehunterhaltung, tritt bei Kirchentagen und Jugendveranstaltungen auf. George Tabori engagiert sie 1971 für sein Stück „Pinkville“ in Berlin. Gesundheitliche Probleme, beruflich aktive und ruhigere Zeiten wechseln einander ab, Depressionen und Alkohol bestimmen immer mehr ihren Alltag und behindern sie noch mehr als sonst in der beruflichen Zuverlässigkeit. 1991 veröffentlicht das Label Bear Family Records eine vielbeachtete Compilation früherer Aufnahmen und sorgt so für ein neues Interesse an der Sängerin; nach einer Stimmband-OP nimmt sie bei einer Gesangspädagogin Stimmtraining und wagt im Herbst 1993 mit dem Walter Lang Trio ein Comeback.

Als Inge Brandenburg im Februar 1999 im Alter von 70 Jahren an den Folgen des jahrzehntelangen Raubbaus stirbt, ist es schon lange einsam um sie geworden. Dem Journalist Marcus Woelfle gelingt es, wenigstens Teile des Nachlasses von Inge Brandenburg zu sichern, andere waren bereits vom Entrümpler weggeräumt worden. Und da sind wir wieder am Anfang, dort nämlich, wo Marc Boettcher ins Spiel kommt, der aus den Dokumenten erst einen großartigen Film, jetzt ein detailbesessenes Buch über eine Künstlerin gemacht hat, die zu Recht als Deutschlands größte Jazzsängerin gefeiert wurde, daneben aber am Leben und am Erfolg gescheitert ist.

„Sing, Inge sing!“ ist ein oft bedrückendes Buch. Die Wendungen in Inge Brandenburgs Karriere und die Verflechtung privater Ereignisse und musikalischer Entscheidungen bieten Stoff für eine ungemein spannende Lektüre, bebildert mit Fotos und Dokumenten aus einem Leben, dass trotz aller musikalischen Glücksmomente eben auch ein „zerbrochener Traum“ war.

Wolfram Knauer (März 2017)


Hobsbawm, Newton und Jazz. Zum Verhältnis von Musik und Geschichtsschreibung
herausgegeben von Andreas Linsenmann & Thorsten Hindrichs
Paderborn 2016 (Ferdinand Schöningh)
208 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-506-78295-3

Jazzfreunde kannten Eric Hobsbawm lange Jahre vor allem unter einem Pseudonym: Als Francis Newton veröffentlichte er 1959 seine Studie „The Jazz Scene“, die den Jazz einmal nicht einzig nach dem gängigen Muster einer klar gegliederten Stilgeschichte beschreibt, sondern daneben Themenfelder wie „Music, Business, People“ abdeckt und damit kulturgeschichtliche Ansätze vorlegt, die bis dahin in Bezug auf den Jazz kaum existierten.

Im November 2013 widmete sich eine Tagung an der Johann Gutenberg Universität in Mainz dem – wie es im Untertitel heißt – „Verhältnis von Musik und Geschichtsschreibung“ bei „Hobsbawm, Newton und Jazz“. In der Einleitung erzählen die Herausgeber die Publikationsgeschichte des Buchs und unterstreichen, warum sie die Ansätze Hobsbawms insbesondere in „The Jazz Scene“ für so wegweisend halten. Der britische Kulturwissenschaftler Peter Burke ordnet „The Jazz Scene“ in Hobsbawms unter Klarnamen veröffentlichte Publikationen ein. Anton Pelinka portraitiert ihn als „Intellektuellen der westlichen Gegenkultur“ und diskutiert sein Verhältnis zu Marxismus, Kommunismus und den USA.

Wolfram Knauer nimmt Hobsbawms Fokus auch auf das Politische zum Anlass, die Jazzgeschichte von genau dieser Seite zu beleuchten und das sich wandelndes Verhältnis zwischen Jazz und Politik in den USA des 20sten Jahrhunderts zusammenzufassen. Viola Rühse stellt Hobsbawms Ansätze den „Jazzanalysen“ Theodor W. Adornos aus den 1950er Jahren gegenüber. Martin Niederauer nimmt die Überlegungen Hobsbawms über die subversiven Aspekte des Jazz zum Anlass für einen Artikel über Herrschaft und Befreiung im Jazz, stellt fest, dass Hobsbawm in seiner Herrschaftskritik auf der politisch-sozialhistorischen Ebene verhaftet geblieben sei, verweist auf die zusätzliche musikalisch-ästhetische Ebene (Stichwort: Improvisation als emanzipatorischer Fortschritt) und resümiert, dass weder der einen noch der anderen Ebene Vorrang einzuräumen sei und wie Jazz dennoch „einen kleinen Beitrag zur Entwicklung einer Idee von Befreiung leisten“ könne. Christian Broecking nimmt seine Studien über die US-amerikanische Jazzszene der 1990er und 2000er Jahre zum Anlass danach zu fragen, wie wichtig politische Intentionen für insbesondere afro-amerikanische Künstler in jenen Jahren waren.

Daniel Schläppi schließlich versucht Hobsbawms Ansätze ins 21ste Jahrhundert zu transferieren, identifiziert dafür zuerst zentrale Aspekte in dessen Sicht auf den Jazz, aber auch „Leerstellen und Denkfehler in Hobsbawms Musikverständnis“, etwas sein Festhalten am „sich am Virtuosentum labenden Geniekult“, seine Vorstellung von Herrschafts- (und Kreativitäts-)Verhältnissen in den von ihm favorisierten Bigbands, seine Vernachlässigung der Interaktion in kleineren Ensembles, und sein etwas klischeehaftes Verständnis des Protestpotentials im Jazz und bei seinen Protagonisten. Dann fragt er, inwieweit einige der Voraussetzungen, die Hobsbawm für den Jazz als gegeben setzt, im 21sten Jahrhundert überhaupt noch gelten bzw. welche neue Faktoren für heute zu untersuchen wären. Gilt also Hobsbawms Fokussierung auf „Stellenwert und Funktion des Faktors ‚Rasse'“ noch? Ist sein Verständnis von Jazz als einer Art „idiomatische Leitkultur“ des 20sten Jahrhunderts noch gültig? Wie müsste man die elementar veränderten Produktions-, Vermarktungs- und Konsumstrategien heute diskutieren oder überhaupt die völlig veränderte Struktur der Jazzszene? Welche Auswirkungen hat zum einen die Professionalisierung, zum anderen die Akademisierung auf Musiker und ihre Musik? Er beschreibt eine gewisse Selbstreferentialität der Jazzszene, die auf der anderen Seite aber schon lange ihren Subkulturstatus verloren habe. Er fragt nach dem Kontrast zwischen lokaler Verankerung und globaler Vernetzung im internationalen Jazz. Und er betont, dass sich eine heutige Jazzforschung auch mit Fragen zu den mehr und mehr prekären Verhältnissen umgehen müsse, in welchen viele Musiker leben, sowie mit dem Zwang und der Tendenz zur Selbstvermarktung. Schläppi beendet das Buch damit mit der Aufforderung an eine interdisziplinäre Jazzforschung, sich an Hobsbawm ein Beispiel zu nehmen und weiter zu forschen, um die Relevanz dieser Musik, ihre künstlerischen wie materiellen Zukunftsperspektiven beschreiben zu können.

„Hobsbawm, Newton und Jazz“ ist bei alledem ein spannender Blick auf die weitsichtigen Ansätze des Historikers Eric J. Hobsbawm und ein gelungener Versuch, dessen Fragestellungen auf ihre Aktualität hin zu überprüfen.

Wolfram Knauer (Februar 2017)


Kontrollierter Kontrollverlust. Jazz und Psychoanalyse
herausgegeben von Konrad Heiland
Gießen 2016 (Psychosozial-Verlag)
340 Seiten, 32,90 Euro
ISBN: 978-3-8379-2530-2

Konrad Heiland ist Psychotherapeut, zugleich Autor von Musikfeatures für den Bayerischen Rundfunk. In seinem jüngsten Buch versammelt er Artikel, die sich mit beiden Bereichen seiner Tätigkeit befassen, der Psychotherapie, in der, wie es im Klappentext heißt, „freie Assoziationen fruchtbar gemacht“ werden, und dem Jazz, in dem sich „die musikalischen Möglichkeiten gerade durch die Improvisation“ entfalten, oder, wie er zusammenfasst: „beide profitieren von kreativer Freiheit innerhalb klarer Strukturen“.

Im Vorwort erklärt Heiland seinen eigenen Weg, zum Jazz genauso wie zur Musiktherapie. Im Eingangskapitel dann zeichnet er die parallele Entwicklung von Jazz und Psychoanalyse im 20sten Jahrhundert nach, thematisiert die stilistische Vielseitigkeit des Jazz und den Mythos der Authentizität, die Affektregulation und das Phänomen des Jazz-Kellers, die Heldenverehrung in der Musik und die „extreme Kurzlebigkeit zahlreicher Jazz-Künstler“. Theo Piegler skizziert in seinem Beitrag die Geschichte der Psychoanalyse von Siegmund Freud bis in die Gegenwart. Antje Niebuhr betrachtet die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen freier Assoziation und Improvisation, fragt, zuerst im Kontext der Psychoanalyse, dann in jenem der musikalischen Improvisation, „frei wovon und frei wofür?“, um zum Schluss ihre eigene Rolle näher zu betrachten, als Psychoanalytikerin, die ebenfalls einem seelischen Prozess unterliege, „der sich im Spannungsfeld zwischen Kontrolle und Kontrollverlust ereignet“. Um Analytiker zu sein, erklärt sie mit musikalischer Parabel, sollte man sich „seiner inneren Musik öffnen, um dann mit dem Patienten improvisieren zu können“.

Heiland spricht mit dem Geiger Uli Bartel über die Freiheiten, die über kontrollierten Kontrollverlust möglich sind, und die innerhalb konkreter Strukturen stattfinden, egal ob sich solche in musikalischer Form manifestieren oder in Spiritualität. Jörg Schaaf fragt danach, was Improvisation in der Interpretation von Mainstream-Jazz so spannend macht und betrachtet dafür nacheinander das Instrument, die Form, die melodische, rhythmische und harmonische Gestaltung. Hannes König macht sich Gedanken zur affektiven Wirkung von Jazz, fragt nach der emotionalen Tiefe, die Musik im Musizierenden genauso wie im Hörer auslösen kann und findet, das die „Atmosphäre der Freiheit“ den Jazz besonders dazu befähige emotionale Reaktionen hervorzurufen. Und auch er kommt zum Schluss, dass die Tatsache, dass man bei der Jazzimprovisation auf Kontrolle verzichte, um Kontrolle zu erlangen, dieser Musik ihre ganz besondere Magie verleihe.

Joachim Ernst Berendt war anfangs Journalist und Jazzkritiker, später Produzent, Konzert- und Festivalveranstalter, noch später „geradezu (…) ein Säulenheiliger der Musiktherapie“. Konrad Heiland versucht diese verschiedenen Seiten des „Jazzpapstes“ aus seiner Biographie heraus zu erklären und sie zugleich in seiner ästhetischen Haltung zum Jazz zu verorten, die immer eine suchende gewesen sei, eine Art „meditativer Versenkung, die Klangreise in die unerforschten Innenräume hinein“ – also durchaus selbst erlebte Musiktherapie. Daniel Martin Feige sieht Jazz als „Artikulation und Exemplifikation von Unverfügbarkeit“. Mit der Pianistin Laia Genc spricht Konrad Heiland schließlich über Improvisation sowie über die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Unterschiede im künstlerischen Ausdruck von Frauen und Männern.

Heiland diskutiert die Musik des Labels ECM als Alternative zur afro-amerikanischen Jazzerfahrung und vergleicht die Ästhetik von ECM mit der von John Zorns Tzadik-Label. Andreas Jacke untersucht Miles‘ Davis Musik zum Film „Fahrstuhl zum Schaffott“ sowie sein Album „Kind of Blue“ bzw. „bestehende Deutungsmuster und eigene Beschreibungen“ zu diesen Projekten, die er allerdings nicht überall gebührend hinterfragt, stattdessen teilweise sogar sehr eigenwillig interpretiert (Widerspruch etwa zu seiner Interpretationen von Miles‘ Aussage, es gäbe im Jazz keine falschen Töne, von Davis‘ Haltung zum Free Jazz, von angeblichen Konstanten in Davis‘ Spiel, oder zu seinem knappen Vergleich von Rassismus in den USA und Frankreich).

Sebastian Leikert versucht das von ihm selbst entwickelte Systems der kinestätischen Semantik, mit der sich musikalische Vorgänge psychoanalytisch beschreiben lassen, auf Miles Davis‘ „Bitches Brew“ anzuwenden. Andreas Jacke portraitiert den Schlagzeuger Robert Wyatt. Konrad Heiland befasst sich mit Charles Mingus und wagt dabei einige philosophisch-psychoanalytische Anmerkungen zum Thema Rassismus. Willem Strank fragt nach der Funktion von Jazz als Soundtrack zu zwei amerikanischen Film Noirs der 1950er Jahre. Christopher Dell plädiert für eine Technologie der Improvisation auch und gerade in der Architektur. Und zum Schluss erzählt Klaus Lumma von seiner persönlichen Beziehung zu New Orleans und wie der Jazz dort zwischen Begräbnisritualen, Karneval und dem Hurricane Katrina immer auch therapeutische Funktion besessen habe.

Alles in allem enthält der Band damit etliche, teils überzeugendere, teils mühsam zu lesende, teils zu Widerspruch ermutigende Beiträge. Der rote Faden ist die Aufgabe, die Heiland allen Autoren stellte, in ihrem gewählten Kapitel nämlich zumindest am Rande die Idee eines kontrollierten Kontrollverlustes in der Improvisation oder in der Psychoanalyse zu thematisieren. Am Ende mag man als Leser vielleicht nicht mit allen Facetten dessen einverstanden ist, was die Autoren da anreißen. Einen Beitrag zum Diskurs aber bieten sie allemal…

Wolfram Knauer (Februar 2017)


Categorizing Sound. Genre and Twentieth-Century Popular Music
von David Brackett
Berkeley/CA 2016 (University of California Press)
368 Seiten, 19,95 US-Dollar
ISBN: 9780520248717

Wenn etwas die Musik des 20sten Jahrhunderts bestimmte, dann die Kategorisierung von Genres. Von Anfang erhielten Schallplatten Empfehlungen dafür, in welcher Abteilung des Plattenladens sie stehen sollten, damit die Kundschaft sie auch gezielt suchen und finden kann. „File under“ aber ist eine Schublade, die einbezieht und zugleich ausschließt.

David Brackett beschäftigt sich in seinem Buch „Categorizing Sound“ mit ebenden Schubladen, in die populäre Musik im 20sten Jahrhundert gepresst wurde, fragt nach den Gründen solcher Zuordnung, aber auch nach ihren Auswirkungen. Er diskutiert dabei den Genre-Begriff im allgemeinen und die Unterschiede in der Darstellung populärer Musik etwa in Verkaufskatalogen der Plattenfirmen, weiß auch um den Einfluss der Charts, wie sie ab den späten 1930er Jahren zu finden sind, auf die Bedeutung von Genre-Klassifizierungen.

Dann geht er kapitelweise die verschiedenen Klassifizierungen durch, die sich im Bereich der populären Musik finden. Zu Beginn des 20sten Jahrhunderts, stellt er fest, war die wichtigste Kategorie, die Musik als „anders“, als „ungewöhnlich“ herausstellte, jene der „foreign music“, unter der die Plattenindustrie in den USA alles zusammenfasste, was ethnische Zugehörigkeitsgefühle in ihrer Kundschaft hervorrufen könnte, die ja in einer Einwanderergesellschaft lebten. Das Kapitel „Forward to the Past“ widmet sich frühen Bluesaufnahmen der 1920er Jahre, diskutiert Aufnahmen von Mamie Smith, aber auch solche weißer Bluessängerinnen, und beschreibt den Einfluss der Marketingentscheidung für „race records“ auf die Plattenindustrie ganz allgemein.

Im Kapitel „The Newness of Old-Time Music“ fragt Brackett nach den Identifikationsstrategien früher Country-Music-Aufnahmen. In „From Jazz to Pop“ befasst er sich mit dem Aufstieg des Swing zur populären Musik des Tages. Dafür vergleicht er die musikalischen Vokabeln, die Musik beim Publikum „ankommen“ lassen, konkret am Beispiel von „Tuxedo Junction“ in der Interpretation durch Erskine Hawkins und durch Glenn Miller, wobei er ein Modell der parallelen Entwicklungen entwirft, in der es Musik gibt, die sich nach wie vor an einen speziellen (schwarzen) Käuferkreis wendet, solche, die er als „crossover race music“ bezeichnet und schließlich den „Mainstream, der auf ein breites Publikum abzielt. Das Kapitel „The Corny-ness of the Folk“ beschreibt einen ähnlichen Weg von „authentisch“ zu breitenwirksam im Bereich der folkloristisch abstammenden Hillbilly- und Countrymusik.

Im Kapitel „The Dictionary of Soul“ diskutiert Brackett die Etablierung eigener Rhythm ’n‘ Blues-Charts im Billboard-Magazin und den Aufstieg einer klar schwarz konnotierten Musik auch in die weißen Hitparaden Amerikas. „Crossover Dreams“ führt diese Geschichte weiter bis in die 1980er und 1990er Jahre und identifiziert dabei insbesondere sendbare musikalische Radioformate.

Ursprünglich habe er das Buch mit einem Kapitel über Musikvideos in den 1990er Jahren und ihren Einfluss auf Genrewahrnehmung fortsetzen wollten, schreibt Brackett im letzten Kapitel, und erwähnt auch die spannenden Änderungen in den Marketingstrategien, die sich durch die Entwicklung von Music Information Retrieval-Möglichkeiten ergeben hätten, durch die potentiellen Kunden zu ihrem jeweiligen Musikgeschmack passende Genres vorgeschlagen werden.

Brackett versucht in seinem Buch letztlich also weniger eine Geschichte der Kategorisierung selbst denn vielmehr eine Geschichte der Praxis der Kategorisierung. Er fragt nach dem Warum von Genrezuschreibungen und nach den Änderungen, die zum Teil musikalisch, zum Teil durch den Markt erfolgten. Er fragt nach den Diskursen, die die Wahrnehmung von Musikgenres in ihrer Popularität, ihrem künstlerischen Anspruch, ihrem kommerziellen Erfolg beeinflussten. Sein Buch bietet darin ein Beispiel, wie man sich der Komplexität dieser Materie nähern kann, selbst wenn das Aufdröseln aller Beziehungsgeflechte manchmal zu größerer Unübersichtlichkeit führen kann.

Wolfram Knauer (Februar 2017)


Brötzmann. Graphic Works 1959-2016
von Peter Brötzmann
Hofheim 2016 (Wolke Verlag)
368 Seiten, 49 Euro
ISBN: 978-3-95593-075-2

Ein großer schwarzer Klecks über einer dicken geschwungenen Linie. Darunter, rot, wie aufgestempelt auf den dicken packpapierfarbenen Umschlag: der Buchtitel. „Brötzmann. Graphic Works 1959-2016“. Reduktion, Abstraktion, Information; Kriterien also, die einen Rahmen geben und zugleich die Fantasie anregen. Peter Brötzmanns grafisches Werk ist das Thema dieses neuen Buchs, das pro Seite mindestens eine Abbildung enthält und nur von kurzen Texten unterbrochen ist. Im ersten dieser Beiträge stellt David Keenan Bezüge zwischen der grafischen Arbeit des Saxophonisten und seiner Musik her. Jost Gebers erinnert sich an ein Plakat fürs Total Music Meeting 1979 mit einem Foto, das Gebers anfangs absurd fand, das sich später aber als das nachgefragteste Poster des Festivals erwies. John Corbett diskutiert Brötzmanns „Design-Konzept“ und reißt die Frage an, inwieweit die Wahrnehmung des Musikers nicht auch durch seine bildnerische Kunst geprägt ist, da Brötzmann viele seiner Cover selbst gestalten konnte. Corbett beschreibt außerdem die Designanweisungen, die in der Regel mit den Entwürfen des Saxophonisten kommen. Und er fragt sich, was Brötzmann wohl von den Kopien seiner Entwürfe hält, die er beispielsweise in Klaus Untiets Design der JazzWerkStatt-Cover erkennt (nebenbei: Untiet ist auch für die Gestaltung dieses Buchs zuständig). Lasse Marhaug betont das Spielerische in Brötzmanns bildnerischen Arbeiten. Und im längsten Textbeitrag zum Buch nähert sich Karl Lippegaus erst der Plattencover-Gestaltung im Jazz seit Einführung der Langspielplatte, und erklärt dann, dass Brötzmanns Entwürfe für Platten und Poster durchaus auch die künstlerische Haltung seiner Musik widerspiegeln.

Der Hauptteil des Buchs aber sind die Bilder. Sie stehen im Vordergrund, mit zurückgenommenen Zusatzinformationen, also bei Postern Jahres- und Größenangabe, bei Covern die Angabe von Jahr, Label und Format, ganz unten in der Fußzeile, direkt neben der Seitenzahl. Den Anfang macht die Typographie – wichtiges Werkzeug für jeder Grafiker, gerade wenn er, wie Brötzmann in den späten 1950er Jahren, in der Werbebranche tätig ist. Es sind diese leicht ausgefransten Buchstaben und Zahlen, die sich immer wieder in seiner Arbeit finden und die, in einigen CD-Veröffentlichungen reduziert auf Material (Hintergrund) und Typographie sofort als „Brötzmannesk“ erkennbar sind. Ob er nämlich Fotos oder klar konturierte grafische Elemente benutzt; immer spielt die Typographie eine wichtige Rolle, fasst zusammen, erklärt, vermittelt.

Bei den Abbildungen seiner Poster fällt eine Werbegrafik für PUR-Zigaretten aus dem Rahmen, schon die nächste Seite aber enthält ein Plakat für das Konzert des Charles Mingus Sextet in Wuppertal im Jahr 1964. Immer wieder stehen künstlerisches Original (beispielsweise ein Holzschnitt oder eine mixed-media-Collage) und das daraus resultierende Ergebnis (Foto oder Cover) nebeneinander, lassen dabei auch das Mitdenken der Nutzung des Bildes erkennen. Einige seiner LP-Cover wirken geradezu ikonisch, „Machine Gun“ von 1968 insbesondere, aber auch Globe Unity’s „Improvisations“ von 1978. Fürs Label FMP entwickelte er verschiedene Linien, die sich teilweise auch in den Postern fürs Total Music Meeting wiederfinden lassen. Einzelfotos oder Fotostrecken stehen für das Dokumentarische dieser Veröffentlichungen, und wenn man sie mit einigen CD-Entwürfen aus den 1990er Jahren vergleicht, erkennt man in letzteren geradezu ein nostalgisch anmutendes Wiederaufgreifen jener früheren Elemente.

Zum Schluss gibt es einige Fotos aus der Werkstatt Brötzmanns, dem kreativen Studio, in dem seine Drucke entstehen (und in dessen Hintergrund man CDs von Coleman Hawkins und Lester Young ausmacht). Womit wir dann endlich bei der Musik wären. Obwohl: Um die geht es in diesem Buch eigentlich nur am Rande, so wie es bei seiner Musik (live) höchstens am Rande um die Gestaltung seiner Platten oder Ankündigungsplakate geht. In der Kunstgeschichte spricht man gern von „künstlerischen Doppelbegabungen“, doch wenn man sich aufmacht, nach Parallelen der Ergebnisse in Bild und Klang zu suchen, wird man weniger fündig als wenn man sich über die Parallelen im künstlerischen Ansatz Gedanken macht. Dazu findet sich etliches in Gérard Rouys 2014 ebenfalls bei Wolke erschienenen Buch “ We Thought We Could Change the World. Conversations with Gérard Rouy“ (siehe unsere damalige Rezension).

„Brötzmann. Graphic Works 1959-2016“ ist ein Kompendium Brötzmanns grafischer Arbeit (ein Katalog seiner Malerei und weiterer Druckgrafik erschien 2010). In den zahlreichen Abbildungen dokumentiert es auch Jazzgeschichte, präsentiert aber vor allem eine faszinierende weitere Perspektive eines der prägenden Saxophonisten unserer Zeit.

Wolfram Knauer (Januar 2017)


Die Stasi swingt nicht. Ein Jazzfan im Kalten Krieg
von Siegfried Schmidt-Joos
Halle (Saale) 2016 (Mitteldeutscher Verlag)
608 Seiten, 29,95 Euro
ISBN: 978-3-95462-761-5

Es sei keine Autobiographie, insistiert Siegfried Schmidt-Joos, angesprochen auf sein jüngstes Buch, das schließlich nur einen Teil seines Lebens beschreibe, von seiner Geburt, 1936 in Gotha, bis zum Beginn seiner Laufbahn bei der ARD, 1960 bei Radio Bremen. Es ist auch keine Jazzgeschichte Deutschlands – dafür ist der Ausschnitt genauso zu knapp. Und doch stimmt beides: Schmidt-Joos begleitete schließlich die Musik des 20sten Jahrhunderts durch eine Vielzahl and Genres und Stilen, und seine Liebe zur Musik war geprägt von seinen Erfahrungen in zwei (und in der Erinnerung sogar drei) Systemen. Diese Erinnerungen prägten seinen Blick auf den Jazz und die populäre Musik. Sein Buch ist damit eine Standortbestimmung im Rückblick, eine bewusst gewählte subjektive Perspektive auf die Stellung des Jazz und seine Rezeption in der DDR und im Westdeutschland der Nachkriegszeit. Und das ist, um es schon vorweg zu sagen, erhellend und lesenswert wie wenig, was bislang über die deutsche Jazzgeschichte geschrieben wurde.

Schmidt-Joos beginnt sein Buch 1957 und endet nur unwesentlich später, mit der Erfahrung seiner „Republikflucht“ also, mit dem Wechsel von Ost nach West. Dazwischen erzählt er von seiner Kindheit in Gotha, vom Unfall, als er beim Spielen im Sommer 1945 eine Panzerfaust fand, die explodierte und ihn seine rechte Hand kostete. Er erzählt vom Entdecken des Jazz und von der subversiven Kraft, die dieser Musik in den Kriegsjahren zugekommen sei, erinnert an die Ressentiments gegen den Jazz im Dritten Reich genauso wie an die Musiker und Fans, die dennoch zu „ihrer“ Musik standen. Er lässt seine Leser den Jazzbeginn auch in der sowjetischen Zone miterleben und zeigt, wie die anfängliche Offenheit langsam einer weltanschaulichen Skepsis wich. Und er beschreibt, mit welchen ideologischen Verrenkungen das System den Jazz bald zum Instrument des Klassenfeinds stilisierte.

1950 hörte der Oberschüler Siegfried Schmidt im AFN Frankfurt die Aufnahme „Trouble, Trouble“ mit Betty Roché und war gefangen. Er schildert, wie sein immer stärkeres Interesse an der Musik zumindest im Rückblick einherging mit einer kritischeren Auseinandersetzung mit den politischen Zuständen seines eigenen Landes. Bei einem Westbesuch in Heidelberg stieß er auf sein erstes Jazzbuch (Robert Goffins „Jazz – From the Congo to the Metropolitan“) und fing an, seine Liebe zu dieser Musik auch historisch zu untermauern. Er studierte Germanistik, der Jazz blieb ein Hobby, eine Liebhaberei, wie er schreibt, doch in dem großen Ernst, mit dem er diese betrieb, war er nicht allein. Schmidt-Joos erzählt von Reginald Rudorf, dem er im März 1954 zum ersten Mal begegnete, und der ihm erklärte, alle Jazzforscher seien Marxisten. Rudorf hielt Vorträge, leitete Diskussionen, ordnete die verschiedenen Jazzentwicklungen der Zeit ästhetisch ein. Die von ihm gegründete Interessengemeinschaft Jazz Leipzig, die eine Weile eng mit der Arbeitsgemeinschaft Jazz in Halle zusammenarbeitete, wurde nach nur vier Monaten aufgelöst, weil die Mitglieder nicht für die Kasernierte Volkspolizei werben wollten, und weil sie beabsichtigten westliche Musiker und Jazzkenner zu Ehrenmitgliedern zu machen.

Schmidt-Joos ist Zeitzeuge für die Jazzszenen in „beiden Deutschlands“ jener Jahre, und er macht nicht den Fehler, diese komplett voneinander zu treffen, sondern stellt nachvollziehbar die Diskurse dar, die sich zum Teil ähnelten und zum Teil völlig auseinandergingen. Dabei versucht er den Spagat, Innenansichten genauso zu liefern wie die historische Einordnung. Oder vielleicht eher andersrum: Das Gerüst der historischen Fakten, die er, später Spiegel-erprobter Journalist, mit Belegen aus zeitgenössischen Quellen oder Fachliteratur belegt, füllt er mit den eigenen Erinnerungen auf, die ihnen die persönliche Perspektive verleihen. „Die Lehrpläne“, schreibt er etwa über die Aktivitäten der (West-)Deutschen Jazz Föderation in den 1950er Jahren, „wie publizistisch und didaktisch mit dem Jazz umzugehen sei, waren in den Jazz-Clubs entwickelt worden“, um dann anhand konkreter Beispiele (Dietrich Schulz-Köhn, Horst Lippmann, Olaf Hudtwalcker) zu erläutern, was das konkret bedeutet. Er beschreibt die ästhetischen Diskussionen, die anhuben, als aus den ehrenamtlich organisierten Hot Clubs festere Institutionen wurden, DJF etwa oder die ersten Jazzredaktionen der ARD-Rundfunkanstalten.

Es sind solche Asides in die Details deutscher Jazzgeschichte, die Schmidt-Joos‘ Erinnerungen besonders wertvoll machen: Wie die Deutsche Jazzföderation der Musik zu ihrer ersten bundesdeutschen Lobby verhalf; oder wie Dieter Zimmerle strategisch klug die Zeitschrift Jazz Podium gründete und eng mit den verschiedenen Aktivitäten der Szene verzahnte. Er setzt sich ausführlich mit der „grauen Eminenz“ hinter all diesen Diskussionen auseinander, Joachim Ernst Berendt, beleuchtet dessen Debatte mit Theodor W. Adorno über die Relevanz des Jazz, und rückt etliche Legenden über die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Jazzmusikern in jener Zeit zurecht. Berendt habe bei solchen Legendenbildungen eine wichtige Rolle gespielt, argumentiert er, habe immer wieder Zusammenhänge vereinfacht – damit letztendlich aber auch verfälscht.

Seit 1955 konnte Schmidt-Joos diese Diskussionen bei regelmäßigen Westbesuchen auch persönlich mitverfolgen und weiß also um die Parallelen und die Unterschiede zu den Diskussionen, die seine Freunde und Kollegen im Osten Deutschlands zur selben Zeit führten. Schmidt-Joos war auf der einen Seite ein wichtiges Mitglied der Hallenser Jazzszene, wurde zunehmend aber auch zu einem Mittler zwischen den Szenen – Halle, Leipzig, Westdeutschland. Als Reginald Rudorf im Oktober zu einem geheimen Treffen der ihm bekannten Jazzkreise in der DDR einlud, ahnte Schmidt-Joos, dies könne vielleicht der Anfang einer DDR-Jazzföderation sein, in Anlehnung an die DJF im Westen. Tatsächlich handelte es sich um eine Art Konferenz, bei der darüber diskutiert wurde, wie die Jazzliebhaber mit den Reglementierungen durch den Staat umgehen sollten, dass es notwendig sei, den Jazz aus der „Illegalität“ zu holen. In der Folge kam man ins Gespräch mit den Staats-Funktionären und publizierte (in einer Auflage von 100 Exemplaren) ein Jazz-Journal, das allerdings nur dreimal erscheinen durfte. Im Zuge der damaligen politischen Tauwetter-Periode wurde Jazz also tatsächlich stärker öffentlich präsentiert und wahrgenommen, etwa in einer Sendung im DDR-Fernsehen Anfang 1956 oder beim ersten DDR-Jazzfestival in Halle im Dezember desselben Jahres.

Dann aber folgte der von Schmidt-Joos nicht weniger eindringlich beschriebene Backlash, etwa als Reginald Rudorfs Film „Vom Lebensweg des Jazz“ über die Entstehung und Geschichte des Jazz, 1956 für die DEFA gedreht, von 40 auf 20 Minuten heruntergekürzt wurde. Der Druck auf die Jazz-Aktiven nahm zu. Die Jazzwelt war eben auch eine Welt der Unangepassten und damit den Sicherheitsorganen der DDR suspekt. Die Stasi nahm die Aktivitäten der Wortführer des Jazz mehr und mehr unter Beobachtung, und als die ersten Verhaftungen und Anklagen erfolgten, entschieden sich Schmidt-Joos und sein Freund, der Gitarrist Alfons Zschockelt, die DDR zu verlassen.

Im letzten Viertel seines Buchs dann, Schmidt-Joos ist in Frankfurt gelandet, gelingt ihm eine bemerkenswerte Darstellung der Diskurse im westdeutschen Jazz der zweiten Hälfte der 1950er Jahre. Er berichtet vom Jazzkeller Frankfurt, vom hiesigen Musikhaus Glier als Umschlagplatz für Musiker und Fans, von seiner Zusammenarbeit mit Joachim Ernst Berendt bei der Neuausgabe des Jazzbuchs von 1958, oder mit Fritz Rau im „Konzertreferat Inland“ der DJF, der Keimzelle der späteren Konzertagentur Lippmann und Rau. Er schiebt ein Kapitel ein über die Bedeutung der Voice of America und ihres Moderators Willis Conover, schreibt über die Tourneen des amerikanischen State Department, die ausdrücklich als eine kultur-politische Waffe im Kalten Krieg gedacht waren, um dann seine eigene Mitarbeit in der Zeitschrift „schlagzeug“ zu thematisieren, herausgegeben vom Äquator-Verlag, dessen Ziel es war, mit Zeitschriften auch im Osten Deutschlands mehr oder weniger unterschwellige propagandistisch zu wirken. Im Januar 1960 erhielt Schmidt-Joos eine Festanstellung als Jazzredakteur bei Radio Bremen. Es ist eine neue Periode seines Lebens und seiner professionellen Auseinandersetzung mit der Musik.

„Die Stasi swingt nicht“ ist, wie eingangs gesagt, keine Autobiographie, auf jeden Fall aber ein autobiographisch gefärbter Blick auf eine Epoche. Schmidt-Joos zeigt sich darin als begnadeter Erzähler, dem es insbesondere gelingt, seinen Lesern viele der Macher jener Jahre mit sehr persönlichen Erinnerungen näherzubringen, den schon genannten Reginald Rudorf beispielsweise oder Karlheinz Drechsel, Günter Boas, Werner Wunderlich, Horst H. Lange, Theo Lehmann und viele andere. Seine Entscheidung, die Geschichte des Jazz in beiden Teilen Deutschlands der 1950er Jahre miteinander zu verzahnen, ist bei alledem nicht so sehr eine dramaturgische Entscheidung, sondern vielmehr die notwendige Reaktion auf seine eigene Biographie, in der sich die Erlebnisse im Osten mit den Erfahrungen im Westen immer gegeneinander befeuerten. Eine ungemein kurzweilige Lektüre, die, weit übers Autobiographische hinaus, Zeitgeschichte lebendig werden lässt.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Jazzistisches
Von Johannes Beringer
Berlin 2016 (Johannes Beringer / books on demand)
206 Seiten, 16,90 Euro
ISBN: 978-3-7412-3669-3

2016beringerJohannes Beringer ist ein Schweizer Publizist, Herausgeber und Übersetzer. Während er meist über Film schrieb, galt seine Leidenschaft nebenbei auch dem Jazz; im vorliegenden selbst-verlegten Band fasst er seine diesbezüglichen „unbeauftragten aber nicht nebenbei“ entstandenen Texte zusammen. In fünf Kapiteln lässt er Eindrücke von Aufnahmen, Konzerten, Erlebnissen mit der Musik Revue passieren, eigene, also durchaus autobiographisch lesbare Erfahrungen, gebrochen durch Autoren, die sein Jazzverständnis mit prägen halfen, durch Filme, die sein Bild der Musik beeinflussten, und durch Anekdoten, die verständlich machen, wie sich sein Jazzgeschmack entwickelte.

Beringer, 1941 in Winterthur geboren, schaute 1963 im Zürcher Club „Africana“ vorbei, wo Dollar Brand ein Engagement hatte und Irène Schweizer Einflüsse der südafrikanischen Energie aufschnappte und in ihre Musik übertrug. Später zog er nach Berlin, wo er noch heute lebt. Sein Buch greift auf Erlebnisse in beiden Ländern zurück, wechselt dabei wie eine Improvisation von Thema zu Thema, angestoßen mal durch Musikernamen, dann durch spezielle Aufnahmen, durch die Erinnerung an ein Konzert, durch die Reflexion über ein Instrument und ähnliches mehr. Da geht es im zweiten Kapitel in fast elliptischer Form etwa von der Unmittelbarkeit der Musik zu einer Reflexion über schwarze und weiße Bassisten, zu Charles Mingus‘ „Scenes in the City“, zu einem Auftritt des Mingus Quintett im Quartier Latin 1976, zu Bill Evans, Paul Bley und Keith Jarrett, zu Steve Lacy, Ornette Coleman und Jimmy Giuffre, um schließlich bei der Frage zu landen, ob all diese (und andere) Musik Trost oder Besänftigung erzeugt, ob sie Seelenmusik oder Seelenmassage sei. Kapitel 3 widmet sich Joe Hendersons „Recorda me“, dem Thema der Jazz-Zeitschriften, der Verbindung von Ekstase und Technik in der Musik von Joachim Kühn, um mit der Erinnerung an ein Konzert von Lee Konitz zu enden. Kapitel 4 beginnt mit der Überlegung, welche Musik wohl vom ’68er Lebensgefühl tangiert sei, fragt nach dem gesellschaftlichen Bewusstsein von Jazzmusikern, blickt auf Jazzstandards und freie Improvisation. In Kapitel 5 schließlich nimmt Beringer Jacques Rédas Einlassungen zur „einzigen Farbe“ (nämlich der blauen) zum Ausgangspunkt, erinnert daran, wie der Jazz nach Europa gelangte, hört Aufnahmen von Chet Baker (1955) und macht sich Gedanken zur Gestik von Miles Davis, lauscht Andrew Hill und Steve Kuhn, liest Martin Williams, Whitney Balliett und Nat Hentoff, und versichert, dass es nie falsch sei, eine Platte zu kaufen, auf der Paul Motian mitspiele.

Johannes Beringers Buch ist also wie eine ausgedehnte Improvisation – man muss sich schon drauf einlassen, den Gedankenspiralen des Autors zu folgen, die selten chronologisch angelegt sind und auch thematische Blöcke immer wieder sprengen. Das macht die gezielte Lektüre, die es insbesondere einem Rezensenten einfacher macht, etwas schwierig, weil es immer leichter ist, einen Faden zu verfolgen als immer neu sich formierenden Themensträngen. Also sollte man das Buch gerade nicht als Rezensent lesen, sondern es eher als eine Art Gesprächsangebot verstehen, bei dem man sich festquatscht und die Themen wechselt, die eine oder andere Aufnahme gemeinsam hört, um dann in besonders eindrucksvollen Erinnerungen zu schwelgen. Johannes Beringers Buch handelt vom Jazz. Es ist kein Jazz, aber etwas „Jazzistisches“ hat es in dieser Grundhaltung allemal.

Wolfram Knauer (Oktober 2016)


Jazz im Film, 1927-1965
von Klaus Huckert & Edgar Huckert
Saarbrücken 2016 (35 MM. Das Retro-Film-Magazin. Sonderausgabe)
76 Seiten, 6 Euro
Web: 35MM Retrofilmmagazin

2016huckert„Jazz im Film“, das ist eine ganz eigene Thematik. Es gibt Filme, die das Thema „Jazz“ behandeln, Filmbiographien realer oder fiktiver Musiker, Filme, in denen Jazz eine dramaturgische Rolle spielt, oder Filme, die sich vor allem durch ihre Soundtrack als Jazzfilme definieren. Klaus Huckert und Edgar Huckert, die seit langem die Website Jazz im Film betreiben, haben ihr Wissen für eine Sonderausgabe des Filmmagazins „35MM“ zusammengefasst.

Sie beginnen ihren Überblick im Jahr 1927 und mit dem Film „The Jazz Singer“, der als einer der ersten Tonfilme des Genres gilt, dessen Titel aber, wie die Autoren schreiben, irreführend ist, weil es sich bei der von Al Jolson dargestellten Figur eher um einen Minstrelsänger handelt.

Sie behandeln Kurzfilme wie „St. Louis Blues“ mit Bessie Smith oder „Black and Tan“ mit Duke Ellington, und Cartoons der 1930er Jahre, in denen Jazz immer wieder eine Rolle spielte. Ein umfassendes Kapitel ist den Filmen der 1930er Jahre gewidmet, bei denen es sich oft um Revuefilme handelte, aber auch Kurzfilmen, in denen Swingorchester der Zeit im Mittelpunkt standen. Neben Hollywood findet dabei auch das französische und deutsche Kino Erwähnung. Für die 1940er Jahre fügen die Autoren „Spielfilme mit Bezug zur Geschichte des Jazz“ hinzu, also etwa Victor Schertzingers „Birth of the Blues“ oder Arthur Lubins „New Orleans“, außerdem die ersten Biopics über die Dorsey Brothers, Bojangles Robinson und Bix Beiderbecke. Für die 1950er Jahre kommen Anmerkungen über Kriminalfilme und Streifen aus dem Umkreis der Nouvelle Vague hinzu, aber auch wichtige deutsche Filme wie „Liebe, Jazz und Übermut“ mit Peter Alexander oder „Das Brot der frühen Jahre“ mit Musik von Attila Zoller. Ein eigenes Kapitel erhält die „Jazz im Film“-Literatur. Geraldine Monika Stratemann erzählt von der Leidenschaft ihres verstorbenen Mannes, des Zahnarztes und Jazz-Filmografen Klaus Stratemann, dessen Bücher etwa zu Duke Ellington und Louis Armstrong zu den Standardwerken der Jazzfilm-Literatur gehören. Die Gegenwart (was hier die Zeit von 1966 bis 2018 (!) bedeutet) wird in einem zweiten Band behandelt, auf den die Autoren zum Schluss ihrer Abhandlung verweisen. Eine Filmografie der wichtigsten Streifen von 1921 bis 1965 beschließt die Publikation.

„Jazz im Film 1927-1965“ gibt einen schnellen Überblick über die verschiedenen Aspekte des Themas. Es ist leicht lesbar und richtet sich dabei an Film- und Jazzfans gleichermaßen. Es enthält vereinzelte Wertungen, die dem Leser aber durchaus die eigene Meinung freistellen. Am meisten haben diesen Rezensenten die etwas schablonenhaften musikalischen Stilbeschreibungen irritiert, die dem Jazzlaien Begriffe wie New Orleans-Jazz, Dixieland, Swing oder Bebop näherbringen wollen, sich dabei aber stark in Klischees genügen. Tatsächlich wäre statt solche Beschreibungen vielleicht eine Einordnung der Atmosphäre hilfreicher gewesen, für die Jazz in jenen Jahren stand. Und schließlich fehlt in dem Büchlein ein Kapitel über die Rezeption der beschriebenen Filme und dessen, wofür sie standen – in den USA genauso wie zumindest in Deutschland.

Doch mag solche Kritik zu viel verlangen von einem Büchlein, das vor allem einen komprimierten Überblick zum Ziel hat und schließlich in seinem Literaturüberblick auf genügend Veröffentlichungen hinweist, die genau solche Kontextualisierungen zum Thema haben. „Jazz im Film 1927-1965“ ist im Din-A-4-Format mit vielen farbigen Abbildungen von Filmplakaten oder Szenenfotos allemal eine lobenswerte Publikation, die neugierig macht auf einige Streifen, die man bereits kennt, und auf viele, die man immer schon mal sehen und hören wollte.

Wolfram Knauer (August 2016)


Dieses unbändige Gefühl der Freiheit. Irène Schweizer – Jazz, Avantgarde, Politik
von Christian Broecking
Berlin 2016 (Broecking Verlag)
479 Seiten, 34,99 Euro
ISBN: 978-3-938763-43-8

This Uncontainable Feeling of Freedom. Irène Schweizer – European Jazz and the Politics of Improvisation
by Christian Broecking (translation: Jeb Bishop)
Berlin 2021
471 Seiten, 19,99 (E-Book)
ISBN: 978-3-75411-017-1

UmschlagIm Februar 2013 fuhr Christian Broecking erstmals nach Zürich, um sich mit Irène Schweizer zu unterhalten. Die Pianistin zeigt sich eher wortkarg; da gäbe es doch ein paar schöne Artikel, sagt sie und gibt Broecking einige Zeitungsausschnitte, mehr bräuchte es doch nicht. Überhaupt, über sie zu erzählen, das könnten andere doch viel besser als sie. In den folgenden Jahren ist Broecking immer wieder bei ihr, und nach und nach öffnet sich Schweizer, erzählt von ihrem langen Musikerleben, daneben aber auch von ihren politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen. Zwischendurch trifft sich der Autor mit vielen ihrer Kolleg/innen über die Jahre, fragt sie nach der Pianistin aus, konfrontiert Schweizer dann mit diesen Erinnerungen und gelangt schließlich zu einer umfassenden Biographie, die tatsächlich viel mehr ist: nämlich eine Geschichte des europäischen Jazz seit den 1960er Jahren, erzählt aus der Perspektive eine seiner wichtigsten Protagonistinnen.

Broecking wählt den Ansatz der Oral History, unterhält sich mit Weggefährt/innen, mit der Schwester, mit Veranstaltern und Produzenten, vor allem aber mit Musikerkolleg/innen. Wir erfahren von der Kindheit Schweizers in der Gastwirtschaft der Familie in Schaffhausen und dem Klavier im Festsaal, von der ersten Begegnung mit dem Jazz und der ersten Band, den Crazy Stokers, die bereits ganz ohne stilistische Einschränkungen traditionellen und modernen Jazz mischten.

Ende der 1950er Jahre nahm Irène mit den Modern Jazz Preachers, die Art Blakeys Jazz Messengers nacheiferten, mehrfach am Amateur-Jazz-Festival Zürich teil. Mit ihrem eigenem Trio trat sie ab 1963 auf, wurde bald von der südafrikanischen Exil-Musiker-Szene in Zürich beeinflusst, und wechselte nach und nach vom Amateur- ins Profilager. Schweizer traf auf Peter Brötzmann und Peter Kowald, und sie hörte Cecil Taylor, der sie erst in eine Krise stürzte, letzten Endes aber zur Neubesinnung des eigenen Stils brachte. Sie wurde Teil einer europäischen Free-Music-Szene, wirkte im Kreis um das Label Free Music Production (FMP) mit, spielte auf den großen Festivals von Berlin oder Willisau. 1976 begann sie neben der Ensemblearbeit ihre „Solo-Karriere“, wirkte daneben in Bands und bei Veranstaltungen mit, die der Frauenbewegung nahestanden, etwa der Feminist Improvising Group FIG.

Neben der Musik war Irène Schweizer dabei immer eine politische Frau, interessierte sich für gesellschaftliche Diskurse der Zeit, arbeite – selbst eine bekennende Lesbe – in der Homosexuellen Frauengruppe Zürich mit. Irgendwann fand die Selbstorganisation auch in der Szene statt: beim Festival Fabrikjazz etwa oder beim Label Intakt Records. Schweizer engagierte sich, auch musikalisch, in der Anti-Apartheid-Bewegung, und sie wurde vom Schweizer Geheimdienst überwacht.

1991 fand das erste Konzert des Trios Les Diaboliques mit Maggie Nicols und Joëlle Léandre statt, im selben Jahr erhielt Schweizer den Kunstpreis der Stadt Zürich. Sie wurde mehr und mehr zur Grande Dame des Schweizer Jazz, und Christian Broecking dokumentiert ausführlich ihre Reisen, Konzerte, Begegnungen, die ästhetischen Diskurse, in denen sie mitmischte und zu denen sie durchaus eine Meinung hat.

Eine kurze Einschätzung ihrer Musik und eine Transkription der „Jungle Beats II“ von Olivier Senn und Toni Bechtold beschließen das Buch, das außerdem eine Diskographie, einen umfangreiches Fotokapitel sowie ein akribisches Register enthält.

Dass Broecking selbst, aber auch so viele andere, Irène Schweizer als eher wortkarg schildern, mag man am Ende der lebendigen Lektüre gar nicht glauben. Tatsächlich erfährt man am meisten von Schweizers Freundinnen und Freunden, von den Kolleginnen und Kollegen, die sie zum Teil seit langem kennen, die freimütig über ihre Marotten, ihre Stärken wie Schwächen berichten und dabei eine Künstlerin präsentieren, die einen eigenen und doch recht klaren Lebensweg gegangen ist. „Christian Broecking“, heißt es im Covertext des Buchs „hat eine der ungewöhnlichsten Musikerinnenbiografien der europäischen Nachkriegszeit rekonstruiert.“ Dass ihm dies mit sorgfältigen Hintergrundrecherchen und Zeitzeugeninterviews so ungemein lebendig gelungen ist, ist ein Verdienst an sich. Sein Buch handelt von Irène Schweizer, tatsächlich aber beschreibt es eine ganz spezifische Perspektive der Entwicklung improvisierter Musik in Europa seit den 1960er Jahren. Und ist damit weit mehr als eine Biographie…

Wolfram Knauer (Juli 2016)

Nachtrag Mai 2021:

Es waren einige der letzten Telefonate, die wir mit Christian Broecking führten, in denen er eine englischsprachige Ausgabe seines Buchs visionierte. Die Suche nach einem adäquaten Übersetzer führte ihn zu Jeb Bishop, den Chicagoer Posaunisten und professionellen Übersetzer. Das Erscheinen dieser englischsprachigen Ausgabe seines Buchs hat Broecking nicht mehr erlebt – er verstarb Anfang 2021 in Berlin.


Für Augen & Ohren. Schallplatte und Kunst – Edition Longplay
von Rainer Haarmann
Schülp 2016 (Edition Longplay)
152 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3-00-051925-3

2016haarmannRainer Haarmann ist ein Überzeugungstäter. Er gründete und leitete über lange Jahre das Festival Jazz Baltica, mit dem er jedes Jahr die verschlafene schleswig-holsteinische Provinz für ein paar Tage zum Zentrum des internationalen Jazzlebens machte. Nachdem Haarmann Im Sommer 2011 sein letztes Festival leitete, überlegte er, wie es nun weiter gehen könnte. Der Zufall kam ihm zu Hilfe, aber eigentlich war es gar kein Zufall, sondern eher das lange überfällige Zusammenfallen der unterschiedlichen Interessen, die ihn immer schon umtrieben: die Musik, die Bildende Kunst und die Leidenschaft für das Medium der Langspielplatte. Im Herbst 2011 also traf Haarmann zusammen mit der Pianistin Clara Haberkamp bei einer Kunstmesse in Berlin die Malerin Rosilene Ludovico, die ihn auf die Idee brachte, Kunst, Musik und Schallplatte miteinander zu verbinden. Er machte sich mit dem Procedere der Vinyl-Plattenherstellung vertraut und produzierte im Frühjahr 2012 die erste LP der neuen Edition Longplay: „Don Friedman Plays Don Friedman“, aufgenommen bei der letzten von Haarmann verantworteten Jazz Baltica. Es folgen 14 weitere Platten, und ein Ende ist nicht in Sicht.

Jetzt hat Rainer Haarmann ein Buch herausgegeben, in dem er die Genese seines Plattenlabels beschreibt. Er beginnt mit einem allgemeinen Kapitel über die Geschichte der Schallplatte von Schellack bis Download, an das sich ein zweites anschließt, das – vor allem anhand von Fotos – die Vielfalt der Covergestaltung in der Jazzgeschichte dokumentiert. Die meisten dieser Albumcover stammen – wie anhand der zahlreichen Autogramme unschwer zu erkennen ist – aus der eigenen Sammlung des Autors. Haarmann schildert die Idee zur ungewöhnlichen Vinyl-Reihe, in der er Musiker und Bildende Künstler paarte, und Wolfgang Sandner nobilitiert das Ganze mit einem Essay, der betont, wie sich Musik und Bildende Kunst auf vielfältige Art und Weise ergänzen können, der aber auch auf die konkreten Beispiele der Edition Longplay eingeht. Den größten Teil des Buchs macht dann ein Durchgang durch alle 15 Alben aus, jeweils eingeleitet mit der Abbildung des Covers, mit Interviewausschnitten oder kurzen Texten zu den Künstlern (also den Musikern sowie den Malern), mit Fotos aus beiden Bereichen und weiteren Abbildungen des künstlerischen Schaffens der Maler. Die meisten dieser Texte entstammen fremden Quellen, Plattenrezensionen etwa, Kunstkatalogen, Redemanuskripten, ab und an aber auch eigens für das Buch verfassten Texten der Künstler. Zu finden sind dabei Kapitel über: Don Friedman & Rolf Rose; Clara Haberkamp & Rosilene Ludovico; Martin Wind & Max Neumann; Hank Jones, Don Friedman & Dietrich Rünger; Kate McGarry, Keith Ganz & Theo Bleckmann; Jonathan Kreisberg & Gabriele Worgitzki; Edmar Castaneda, Joe Locke & Christine Streuli; Rainer Böhm, Johannes Enders & Julia Schmidt; Martin Wind & Max Neumann; Katja Riemann, Christopher Dell & Etel Adnan; Alan Broadbent & Martina Geist; Charlotte Greve, Keisuke Matsuno & Julia Schmidt; Axel Schlosser & Martina Geist.

„Für Augen & Ohren“ ist eine Ermutigung, beide zu öffnen, Augen wie Ohren, auch wenn bei der Lektüre das Hören zu kurz kommt, da die Musik diesem Buch nun mal nicht beiliegt. Doch das Konzept, das sich Rainer Haarmann für sein Label vorgestellt hat, kommt deutlich rüber und überzeugt gerade auch in der Dokumentation dieses Buchs. Stellenweise weiß man dabei nicht genau, was man gerade vor sich hat: Mal liest es sich wie eine Reflexion über Kunst und Musik, mal wie ein etwas ausführlich geratener Labelprospekt einschießlich Rezensionsauszügen, mal wie eine Hommage an die Künstler, dann aber auch wieder wie eine stolze Selbsterklärung des Autors. Vielleicht ist es tatsächlich von allem ein bisschen. Textlich mag man sich an ein paar zu vielen Wiederholungen stören, vielleicht auch an den dauernden Ich-Bezügen („mein Festival“, „mein Label“, „meine Neugierde“, „mein Bemühen“). Statt der Katalog- und Zeitungsausrisse mag man sich mehr Texte wie den von Wolfgang Sandner wünschen, dem es auf nur vier Seiten gelingt einen Gedankenkosmos über die Durchlässigkeit der Gattungsgrenzen (Malerei, Skulptur, Musik, Tanz) auszubreiten. Und schließlich hätte dem Buch ein ordentliches Lektorat gut getan, um ärgerliche Fehler insbesondere bei Namen zu verhindern („Scott Joblin“, „Kid Oliver“, „Marry Records“, „Jobst Gebers“, „Johnathan Blake“ [OOPS, und da erwischen Sie den Rezensenten bei einem „ärgerlichen Fehler“, denn dieser Name (Johnathan) ist völlig korrekt geschrieben, was nur beweist, das Fehler überall passieren, auch in Rezensionen], oder gar den LP-Titel „One Hundret Dreams“, in dem die Orthographie sogar bei einer Edition Longplay-eigenen Produktion versagt hat). Davon abgesehen aber macht „Für Ohren & Augen“ neugierig, darauf nämlich beide aufzusperren, egal, ob man eine LP des Haarmann’schen Labels sieht oder hört, oder aber sich andere Cover und ihren Inhalt vornimmt, die oft genug in Beziehung zueinander stehen.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Essener Beiträge. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen, Band 128
herausgegeben von (Schriftleitung): Thomas Dupke
Essen 2015 (Historischer Verein für Stadt und Stift Essen e.V.)
341 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978-3-8375-1347-9

2016raberDie Jazzgeschichte Deutschlands wurde über lange Jahre vor allem von Sammlern und Jazzfans erzählt. Das hat viel für sich, waren doch gerade die Sammler lange Jahre die wirklichen Experten für dieses Thema. Horst H. Lange erstmals 1966 erschienenes Buch „Jazz in Deutschland“ war insofern ein Pionierwerk. Wo diese Privatforscher anfangs vor allem auf ihre eigene Sammlung sowie auf Dokumente von Sammlerfreunden zurückgriffen, entwickelte sich über die Jahre und meist in sehr speziellen Sammlergazetten (die britische Zeitschrift „Storyville“ ist dafür wahrscheinlich das beste Beispiel) ein weniger persönlicher und dafür historisch-nüchternerer Zugang zur Jazzgeschichte, für den neben den Anekdoten und den diskographischen Angaben auch die Quellenforschung immer wichtiger wurde.

Inzwischen ist die Jazzgeschichte in der etablierten Geschichtswissenschaft angekommen. Immer noch gibt es von Fans geschriebene Rückblicke etwa auf die Clubgeschichte einzelner Regionen, oft liebevoll, aber ziemlich distanzlose Publikationen, die höchstens wegen der sehr individuellen Perspektive der Autoren und vielleicht noch wegen des Abdrucks historischer Dokumente (am besten mit Quellenangabe) interessant sind. Daneben aber sehen es immer mehr Stadt- und Landesarchive als ihre Pflicht an, die lokale Jazzszene zu dokumentieren, und auch historische Vereine haben ein offenes Ohr etwa für Jazz-, Rock-, Folk- oder Popgeschichte ihrer Region. Stück für Stück kommt durch solche lupenhaften Blicke auf einzelne Szenen eine Art Überblick über den Jazz in Deutschland zustande, der vielleicht nicht den großen Bogen, dafür aber auf jeden Fall den kleinen wagt.

Ralf Jörg Rabers Beitrag in der vom Historischen Verein für Stadt und Stift Essen herausgegebenen Schriftenreihe „Essener Beiträge“ ist ein guter case in point. Überschrieben „Als der Jazz nach Essen kam“ behandelt Raber auf 50 Seiten die Frühgeschichte dieser Musik von Anfang der 1920er Jahre bis zum Beginn des Nationalsozialismus.

Er erzählt, wie bereits vor 1920 afro-amerikanische Künstler und solche aus den deutschen Kolonien vor allem in Varieté- oder Zirkusshows auftraten. Mit dem Ende der Tanzverbote der Kriegsjahre dann, schreibt Raber, „schossen auch in Essen Tanzlokale wie Pilze aus dem Boden“. Die neue Musik aus Amerika, das, was bald unter dem Begriff „Jazz“ zusammengefasst wurde, stand anfangs vor allem noch für die Beschreibung verschiedener Tanzarten; spätestens ab 1921 aber, als im Weinlokal Fürstenhof „Gottys (Excentric) original-American-Jazz-Band“ angekündigt wurde, nahm die Öffentlichkeit „Jazz“ offenbar auch als Musik wahr. Raber hat die Essener Allgemeine Zeitung der Jahre genauso durchgeackert wie die städtischen Akten, in denen sich etwa ein Antrag des Besitzers des Lokals für Musikdarbietungen findet. Wenig ist bekannt über diese oder ähnliche Bands, die höchstens in Werbeanzeigen präsent waren, von denen es aber weder Bilder noch gar Tonaufnahmen gibt. Wahrscheinlich, schlussfolgert Raber nicht ganz zu Unrecht, waren die ersten Jazzbands in Essen wohl eher Salonkapellen mit leicht verändertem Outfit, um der neuen Mode Rechnung zu tragen.

Bald waren, schreibt Raber, auch amerikanische Schallplattenaufnahmen in Deutschland erhältlich, obwohl, wie er Horst H. Lange zitiert, mehr als die Hälfte der für das Plattenlabel Odeon gepressten Jazzplatten ins Ausland exportiert wurden. Ab 1924 findet er in den Tageszeitungen vermehrt Hinweise auf Jazzprogramme, die entweder zum Tanz erklangen oder als Rahmenprogramm etwa für die Diseuse Claire Waldorf. Raber zählt die unterschiedlichen Ensembles auf und nennt die wichtigsten Auftrittsorte, insbesondere das Arkadia (ab 1924) und die Casanova (ab 1928). Außer den Annoncen allerdings findet sich in der zeitgenössischen Tagespresse kaum etwas über die Bands, ihr Repertoire oder gar die Qualität ihrer Musik. Vom November 1925 stammt der erste ausführliche Artikel des Essener Anzeigers über Jazz als Soundtrack der modernen Großstadt. Und im September 1926 wurde ein Ensemble, nämlich Onkel Heinrich und sein Viel harmonisches Orchester, näher vorgestellt, wobei der Rezensent allerdings die Band allerdings eher als abschreckendes Beispiel sieht und klagt, „der Leidtragende ist der moderne Jazz“.

Ein kurzes Unterkapitel widmet Raber dem Rundfunk, in dem eigentlich erst ab 1930 regelmäßig Aufnahmen deutscher oder auch ausländischer Bands zu hören waren. Etwa zur selben Zeit war der Jazz auch im Tourneeprogramm der Ballsäle und Varietébühnen angelangt. Im Arkadia, in der Casanova oder der Scala traten Heinz Wehner, die Weintraub Syncopators oder Ben Berlin auf, letzterer mit einer verjazzten „Carmen“-Suite. Mit den Bon-John Girls und den 12 Musical Ladies waren 1929 und 1931 erstmals US-amerikanische Kapellen zu hören, beides übrigens Frauenbands, was uns einiges über die Rolle von Musikerinnen im frühen Jazz sagt und die verfälschende Wahrnehmung durch die Jazzgeschichtsschreibung.

Sam Woodings Band war seit 1925 in Europa unterwegs; in Essen spielten der Pianist und sein Ensemble erstmals im März 1931. Der Lokalreporter überschlägt sich: „Natürlich macht das Negerorchester Negermusik. Kultivierte Negermusik, aber Negermusik“, um dann zu empfehlen, „Wer sich darüber aufklären lassen möchte, was Jazz ist und Negermusik, der besuche in diesen Tagen die Casanova.“ Derselbe Reporter lässt uns auch an seinem eigenen Erstaunen teilhaben, darüber nämlich, dass die Musik der Wooding Band so völlig anders klingt als die von Paul Whiteman oder Jack Hylton, die demgegenüber „beinahe klassische Musik“ machten.

Zum Abschluss seines Essays vergleicht Raber die Präsenz des Jazz in Essen mit der in anderen Städten. Verglichen mit Berlin sei Essen sicher Provinz gewesen, urteilt er, den Vergleich mit umliegenden Großstädten brauche die Stadt allerdings nicht zu scheuen; auch in Köln, Dortmund oder Wuppertal sei authentischer Jazz schließlich frühestens Anfang der 1930er Jahre zu hören gewesen. Er bedauert die mangelnden Bildzeugnisse über die Szene und begründet die mangelnde Quellenlage auch aus seiner Erfahrung heraus, dass er in seinen Recherchen immer wieder auf die Meinung gestoßen sei, vor 1945 habe es in Deutschland ja gar keinen „richtigen Jazz“ gegeben.

Rabers Fazit: (1.) Eine tiefere Untersuchung zum Phänomen von Jazz und als Jazz annoncierter Musik in den 1920er Jahren ist dringend notwendig. (2.) Es ist überraschend und in der Jazzgeschichtsschreibung kaum dokumentiert, wie viele Frauenkapellen in jenen Jahren aufgetreten sind. Und (3.) Rassistische Ausfälle habe er zumindest aus seiner Sichtung der Lokalpresse heraus kaum feststellen können.

Ich habe Ralf Jörg Rabers Essay in den „Essener Beiträgen“ insbesondere als Ermutigung für Historiker auch anderer Städte gelesen, die Dokumente in ihren örtlichen Stadt- und Zeitungsarchiven auf Quellen zu durchforsten, in welchen Kontexten in jenen Jahren annonciert und wahrgenommen wurde. Dabei kommt es eben gerade nicht auf die Sicht von heute an, die weiß, wohin der Jazz sich entwickeln sollte, sondern auf die Darstellung jener ersten Begegnung mit einem Phänomen, das irgendwo zwischen Staunen und Ergriffenheit, zwischen Unterhaltung und „vielleicht doch Kunst“ angelegt wurde.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


A Listener’s Guide to Free Improvisation
von John Corbett
Chicago 2016 (University of Chicago Press)
172 Seiten, 15 US-Dollar
ISBN: 978-0-226-35380-7

2016corbettGroßartig! Anders kann man dieses Büchlein nicht preisen. John Corbett schreibt ein Buch nicht etwa über Free Jazz oder freie improvisierte Musik, sondern eine aufmerksame, selbstironische und dabei ungemein nützliche Anleitung, wie man selbst ohne weitere Vorkenntnisse freier Improvisation näher kommen kann. Und seine Anleitung allein öffnet die Ohren und macht neugierig, nicht nur auf die Musik, sondern – eigentlich vor allem – auf das eigene Hören und Hörvermögen, auf die vielen Experimente, die er vorschlägt, um sich des Hörsinns neu zu versichern und sich von den Routinen des gewohnt strukturellen Hörens zu befreien. Und damit ist sein „Listener’s Guide to Free Improvisation“ eigentlich viel mehr: nämlich eine Anleitung zum Hören – ganz allgemein!

Aber der Reihe nach: Der Jazz und insbesondere die Szene der improvisierten Musik ziehe schon gern mal Cliquenzirkel an, schreibt Corbett, deren vermeintliches Fachwissen, dass sie in einem Patois wiedergeben, das ihn an das eines Comic-Book-Salesman erinnert, deren vermeintliches Fachwissen also die Tatsache überdeckt, dass es tatsächlich keinerlei Vorwissens bedarf, um freie Improvisation zu hören. Gerade diese Nicht-Erwartungshaltung grenze freie Improvisation schließlich sowohl von den Hörtraditionen der klassischen Musik wie auch von denen des Jazz ab. Und dabei sei jede Hörfähigkeit willkommen: Menschen mit einem guten Langzeitgedächtnis werden bestimmte Aspekte der Performance hören, während andere ihren Spaß daran haben, sich im Moment zu verlieren.

Aber bloß keine Angst, beruhigt Corbett: Mit dem Hören improvisierter Musik sei es ein wenig wie mit dem Beobachten wilder Vögel: Jeder kann es tun, und eigentlich gibt es keine Fehler dabei. Mit der Zeit stelle sich das Fachwissen quasi automatisch ein: Je mehr man hört, desto mehr will man wissen, je mehr man weiß, desto mehr will man hören.

Und dann beginnt er bei Null. Nichts mitbringen solle man zum Konzert, empfiehlt er, außer einem freien Kopf, höchstens einem Notizbuch, einem Stift und einer Uhr. Er erklärt grob den Unterschied zwischen freier Improvisation, strukturierter Improvisation (Zettel auf dem Notenpult), Free Jazz (optionale runde Sonnenbrillen), Noise Music und Improv. Letzteres sei ja eigentlich ein Theater- und Comedy-Genre, bei dem die Beteiligten angehalten sind, nie mit „Nein“ zu reagieren, sondern immer mit „Ja, und…“, um den Flow nicht zu unterbrechen. In der Musik allerdings, schreibt Corbett augenzwinkernd, sei ein „Nein“ oft schon ganz hilfreich, weil es sonst keine Spannung gäbe und man in die Gefahr gerät, dass sich alles wie New Age Music anhöre – und hier folgt dann sein eigenes erschrockenes „NEIN!!!“

Wie also kann man als ungeübter Hörer auf die Tatsache reagieren, dass freie Improvisation üblicherweise ohne Puls auskommt, ohne klare rhythmische Strukturen, die einem wie gewohnt Halt geben. Es sei sicher eine Sache des Trainings, meint Corbett, aber wenn man sich drauf einlässt – und er gibt Tipps, wie man das am besten tut –, dann öffneten sich einem tiefere Ebenen des musikalischen Geschehens. Auf keinen Fall solle man sich vor der Dauer eines Konzerts fürchten – es wird schon nicht ewig sein, beruhigt Corbett, außerdem stünde es jedem frei einfach zu gehen.

In der Ornithologie genauso wie beim Musikhören gäbe es drei Herangehensweisen, schreibt er: Beobachtung, Vergleich und Analyse, die aber nur in exakt dieser Reihenfolge funktionierten. Er ermutigt seine Leser, den sogenannten Cocktail-Party-Effekt auszunutzen, der es uns erlaubt, uns auf einzelne Spieler zu konzentrieren, um unterscheiden zu lernen und dadurch zu einem differenzierteren Gesamteindruck zu gelangen. Er empfiehlt Notizen zu machen, um ein Gefühl für den Verlauf des improvisatorischen Zusammenspiels zu erhalten – wobei es nicht wirklich auf die Notizen selbst ankomme, sondern vor allem um den Konzentrationsprozess, der damit verbunden ist. Verfolge die Interaktion, fordert er seine Leser auf, um bewusst auf die verschiedenen Zusammenstellungen zu horchen: Dialog, unabhängige simultane Aktion, Imitation, Konsens und Streit, Unterstützung und Herausstellen, Raum lassen und zurückhaltend sein, Kontrapunkt.

Die Improvisation „im Hier und Jetzt“ (die Momentform, wie Stockhausen sie nennt) sei für die meisten Improvisatoren genauso schwierig zu spielen wie es für die Hörer sei, diese zu verfolgen, weil beiden meist die Erinnerung dazwischenfunkt. Mit etwas Übung aber könne man seinen eigenen Weg finden, Strukturen zu erkennen und persönliche Vokabeln zu identifizieren.

Corbett weiß, dass solch eine Musik live besser zu erleben ist als auf Tonträger, gibt dennoch Plattentipps für Beispiele freie Improvisation, darunter Aufnahmen von Derek Bailey, Cecil Taylor, Irène Schweizer, Peter Brötzmann, Anthony Braxton, Barry Guy, dem Schlippenbach Trio, Evan Parker und anderen. Er erklärt, worauf man in unterschiedlichen Zusammenstellungen achten könne, im Solospiel etwa, im Duo, Trio, Quartett oder größeren Besetzungen. Er weist auf die Extreme hin, also die Situation auf der einen Seite, in der alles improvisiert ist, und jene, in der nichts improvisiert ist, und er diskutiert das trügerische Konzept von „Freiheit“, bei der man ja immer fragen müsse, „frei wovon…?“ und „frei wofür…?“.

Er erklärt Haltungen von Musikern, die sich der totalen Improvisation verschrieben haben („hermetic free“) und von jenen, die, wie Steve Lacy dies nannte, „poly-free“ spielen, sich also die Freiheit nehmen, alles zu machen, was ihnen in den Sinn kommt, und sich nicht durch den Zwang zur totalen Improvisation einengen zu lassen. Auch für diese Spielhaltung gibt er Plattenempfehlungen, nennt etwa Sun Ra, Muhal Richard Abrams, ICP, Anthony Braxton, Wadada Leo Smith, Henry Threadgill, Anthony Davis, John Zorn, William Parker, Tim Berne, Tobias Delius, die Vandermark 5 und andere.

Zum Schluss hält Corbett noch ein schönes und von fleißigen Konzertgängern zu bestätigendes Plädoyer dafür, dass man beim Eindösen besonders gut aufnahmebereit sei. Das könne einem im Konzert als mangelnder Respekt ausgelegt werden, außerdem solle man vorsichtig sein, wenn man zum Schnarchen neige. Last not least aber bekräftigt Corbett, dass man sich nicht einreden lassen solle, improvisierte Musik sei besser als irgendeine andere Form an Musik. Die besten Hörer, fasst er zusammen, sind letzten Endes auch hier solche, die neugierig sind und die neugierig bleiben.

John Corbetts „Listener’s Guide to Free Improvisation“ ist eine flüssig lesbare Einführung ins Musikhören, die dem interessierten „Anfänger“ genauso hilfreich sein kann wie dem erfahrenden „Profihörer“. Letzterer mag sich wünschen, so etwas zu Anfang seiner eigenen Hörerfahrung zur Hand gehabt zu haben. Dass Corbett bei allen Tipps immer wieder den ganz individuellen Zugang betont, kann nicht hoch genug bewertet werden. Corbett ist eben kein Oberlehrer, sondern jemand, der aus eigener Erfahrung berichtet und dabei ziemlich gut abbildet, welche unterschiedlichen Haltungen man beim Hören entwickeln kann.

Eine schnelle, höchst vergnügliche und anregende Lektüre also, Tipps, die man am liebsten gleich morgen bei einem Konzert mit freier Improvisation ausprobieren möchte.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Berlin, 1920-1950. Sounds of an Era
von Marco Paysan
Hamburg 2016 (Edel earBook)
348 Seiten, 3 CDs, 49,95 Euro
ISBN: 978-3-943573-17-6

2016paysanMarco Paysan ist Historiker, Plattensammler und Autor etlicher Aufsätze über die Frühzeit von Jazz und Tanzmusik in Deutschland. Jetzt hat er ein umfassendes Kompendium über Berlin zwischen den Jahren 1920 und 1950 vorgelegt. Das LP-große, durchgängig zweisprachig (deutsch und englisch) gehaltene Buch mit seinen beiheftenden drei CDs will nichts weniger als eine historische Einordnung jener Epoche, in der Jazz noch als Tanzmusik fungierte.

Im ersten Kapitel seines Buchs beschreibt Paysan Berlin als Medienhauptstadt, als kulturelle Mitte Europas, als eine „Metropole zwischen den politischen Welten“. Es folgt eine lange Bildstrecke mit Fotos, Postkarten und Zeitschriftenausrissen, die Berlin als Reisemetropole dokumentieren (Bahnhöfe, Züge, Hotels) und das reichhaltige und sich wandelnde Nachtleben der Weimarer Republik zeigen (Bars, Revuetheater, Tanzsäle, aber auch Kaufhäuser und Prominenz). Etwa 60 Seiten des Buchs machen die Liner Notes zu den drei beiheftenden CDs aus, die „sachkundige Kommentare zur Musik“ sowie Gründe für die Auswahl der betreffenden Titel geben und darüber hinaus „auf künstlerische, medien- und sozialhistorische Zusammenhänge“ hinweisen. Die Auswahl der Musik umfasst die Größen der Szene, Efim Schachmeister, Eric Borchard, Dajos Béla, Julian Fuhs, die Weintraub Syncopators, Barbabas von Géczy, Hans Bund, James Kok, Ilja Livschakoff, Berhard Etté, Albert Vossen, Kurt Hohenberger, Teddy Stauffer, Heinz Wehner, Erhard Bauschke, Willy Berking, Teddy Kleindin, Benny de Weille, Horst Winter und andere, sowie schließlich das Radio-Berlin-Tanzorchester, Kurt Widmann und Werner Müller für die direkte Nachkriegszeit. „Krise, Umgestaltung und Untergang“ lautet die Überschrift über eine Fotostrecke, die das Dritte Reich dokumentiert, „Trümmer, Tatkraft und Teilung“ schließlich jenes weit kürzere Kapitel, in dem Paysan dokumentiert, wie die Menschen sich auch im zerstörten Nachkriegs-Berlin noch an das Lebensgefühl der Jahre zuvor erinnerten.

„Berlin 1920-1950. Sounds of an Era“ ist ein Dokument dafür, dass die großen Metropolen dieser Welt immer auch einen eigenen Soundtrack haben. Die Musik führt uns in die klingenden Träume, denen sich die Berliner und ihre Besucher in jenen Jahren hingeben konnten; die mehr als 250 Schwarz-weiß- und Farbabbildungen machen deutlich, was diese Musik die Stadt beschallte. Die Fotos wirken mal nostalgisch, scheinen eine vergangene Welt heraufzubeschwören, lassen daneben aber auch die Begeisterung für die Musik verstehen machen, die selbst von den Nazis nicht zum Verstummen gebracht werden konnte. Paysan will den „Mythos Berlin“ analysieren, indem er seine Symbole für sich stehen lässt. Er weiß, dass dieser Mythos sich nicht allein aus der Hochkultur erschuf, sondern seine hauptsächlichen Wurzeln in der populären Kultur der Zeit hatte. Seine Erfahrung, dass nämlich die „Programmhefte von Luxus-Bars oder Ballhäusern oder alte Werbe- und Kundenzeitschriften von Schallplattenfirmen“ lange nicht als bewahrungswürdig galten, waren einer der Beweggründe für dieses Buch, in dem er einen großen Teil seiner privaten Sammlung angezapft hat. Im Vorwort zur Diskographie der auf den CDs enthaltenen Titel weist Paysan zu Recht darauf hin, wie wichtig für die Absicherung der Besetzungsangaben seine eigenen Interviews mit Musikern jener Zeit waren.

Die Aufgabe, die Sammler wie Paysan, zumal, wenn sie so akribisch an das Thema herangehen, wahrnehmen, ist dabei nicht überzubewerten. Dass dem Historiker Paysan insbesondere in seinen Linernotes, deren musikalische Beschreibungen schon mal irgendwo zwischen poetisch überhöht und Sammlerjargon changieren, der Enthusiasmus anzumerken ist, mit dem er selbst diese Musik hört, tut dem dokumentarischen Anspruch des Werks keinen Abbruch. Schließlich handelt es sich hier weder eine Geschichte des frühen Jazz in Deutschland, noch überhaupt um den Versuch, sich konkret auf die Musik zu fokussieren. Paysan ist die Kontextualisierung eines Lebensgefühls wichtig, jenes „Mythos Berlin“ eben, der sich aus dem Zusammenspiel von Musik, Architektur, Mode, Kunst, gesellschaftlichem Leben und anderem mehr ergibt und in diesem Buch auch für die Leser deutlich erahnen lässt.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Hans Dulfer. The Story of My Life, Young & Foolish. Part I
von Nathalie Lans
Schiedam/Niederlande 2016 (Scriptum)
400 Seiten, 49,90 Euro
ISBN: 978-90-5094-988-5

2016dulferDulfer… Dulfer…. Candy Dulfer? – in Deutschland kennt man seine Tochter besser als ihren Vater. Hans Dulfer aber ist ein in den Niederlanden überaus beliebter und einflussreicher Saxophonist, ein Musiker, der die offenen Ohren unserer holländischen Nachbarn in seiner Musik und in Projekten verkörpert, in denen er seine ursprüngliche Liebe, den Jazz, mit Rock, Soul oder gar Punk verbindet. Nun ist ein schwergewichtiges Buch erschienen, das seine Tochter im Vorwort schlicht „das große Hans Dulfer Buch“ nennt, und das ist es fürwahr. 400 schwere Seiten im LP-Format, mehr als 4 cm dick das Ganze, Hochglanzfotos.

Der Inhalt folgt chronologisch seinem Leben, ab 1955 tatsächlich jährlich, und stellt dabei Bilder aus dem Familienalbum solchen wichtiger Ereignisse oder Platten gegenüber. Da finden sich Bilder von Hans als Fußballspieler und solche, die ihn als Leichtmatrosen zeigen. Dulfer selbst bekennt, dass er zum Jazz vor allem gefunden habe, um sich von anderen zu unterscheiden. Ende der 1950er Jahre hatten er und seine Freunde genügend Gelegenheit, die großen amerikanischen Vorbilder live im Konzert in Amsterdam zu hören, Chet Baker, Gerry Mulligan, Quincy Jones und andere. 1960 wird Dulfer sogar Fotomodell, zündet sich für eine Zeitungswerbung eine Winfield-Zigarette an, Saxophon auf den Knien.

Wehrdienst, Hochzeit und der Schock, Albert Ayler live zu hören. 1965 tut Dulfer sich mit Willem Breuker und anderen Musikern zu einer Band zusammen, die vielleicht die erste Free-Jazz-Besetzung des Landes war. Er gründet mit Heavy Soul Music ein eigenes Plattenlabel und die Konzertreihe Jazz in Parasdiso, in dem neben Dulfers eigenen Besetzungen auch Ben Webster, Dexter Gordon oder Don Byas vorbeischauen. Seine Band Ritmo-Natural verbindet Jazz, Rock, und kubanische Rhythmen. Mit Boy Edgar reist er nach New York, 1972 spielt er als einer der ersten Musiker im neu eröffneten Bimhuis. Er erhält Preise und tourt mit Roswell Rudd, spielt auf internationalen Festivals und engagiert sich für politische Ziele. Er bereist die Welt und steht mit Legenden aus Jazz und Blues auf der Bühne.

Dulfers Art von Jazz sorgt dabei durchaus auch für Unmut unter Kollegen, die entscheiden, der „starke Pop-Charakter“ seiner Musik rechtfertige keine öffentliche Förderung. Er macht tatsächlich immer weniger Unterschiede, tritt mit Jazzkollegen genauso auf wie mit Rock- oder Popsängern oder Musikern aus der Punkszene. Seine Tochter Candy wird erwachsen und fängt an, sich selbst einen Namen als Musikerin zu machen. Prince und Madonna werden auf sie aufmerksam, und aus der Jazzlegende Hans Dulfer wird mehr und mehr der „Vater von Candy Dulfer“. Dennoch: Auch in den folgenden Jahren tourt er durch die Welt, spielt in Japan, den USA, in Kanada und vor Präsident Bill Clinton, als dieser die Niederlande besucht.

Das dicke Buch „Hans Dulfer. The Story of My Life, Young & Foolish“ hält all dies minutiös fest. Hunderte Fotos, schwarzweiß und farbig dokumentieren ein reiches Musikerleben. Die verbindenden Texte (auf Niederländisch) sind knapp gehalten, das Layout aber macht selbst diese eher kurzen Texte äußerst schwer lesbar. Was nutzt eine riesige Schriftgröße, wenn der verantwortliche Grafiker alle paar Seiten Zitate in Großbuchstaben einblendet, oft genug noch verschiedenfarbig gesetzt oder unterlegt?!?

Es ist also tatsächlich ein reichhaltiges Buch, bei dem man sich fragen mag, ob hier nicht weniger mehr gewesen wäre. Eine sorgfältigere Auswahl der Fotos (die nun wirklich nicht alle qualitativ gut oder auch nur dokumentarisch notwendig sind), ein leichter lesbarer Text, eine weniger unkritische Haltung der Autorin, vielleicht etwas mehr O-Töne von Dulfer selbst (der in der holländischen Zeitschrift Jazzism eine überaus lesenswerte Kolumne hat) oder seinen Mitstreitern. Aber dann muss man das Buch wohl als das nehmen was es ist: eben keine kritische Biographie, sondern ein Dokument, das Dulfer zu seinem 75sten Geburtstag vor allem feiern will.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Gender and Identity in Jazz
Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 14
herausgegeben von Wolfram Knauer
Hofheim 2016 (Wolke Verlag)
320 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3-95593-014-1
www.wolke-verlag.de/knauer_14.html

2016knauerFull disclosure vorneweg: Dies ist natürlich keine Buchbesprechung, sondern parteiische Werbung. Wir sind stolz auf die jüngste Publikation in der vom Jazzinstitut herausgegebenen Reihe „Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung“, die wie immer das letzte Darmstädter Jazzforum dokumentiert. Als Thema hatten wir uns im Oktober 2015 „Gender und Identität im Jazz“ vorgenommen und dazu Referent/innen eingeladen, um das Thema von möglichst unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten.

Es ging um die Wahrnehmung von Instrumentalistinnen, um „männlichen“ oder „weiblichen“ Sound, um Homosexualität, Körperlichkeit und die Verleugnung des erotischen Moments in der Musik, um Jutta Hipp, Ivy Benson, Clare Fischer, Sun Ra und andere. Die Teilnehmer der Konferenz reflektierten über Jazzgeschichte und schauten selbstbewusst auf die Gegenwart. Sie diskutierten Wege, wie sich Vorurteile überwinden lassen und wie man den Gender-Diskurs des 21sten Jahrhunderts im Jazz angemessen beschreiben kann. Dass der Blick auf den Jazz verfälscht wird, wenn man seine Protagonisten auf einzelne Teile ihrer vielfältigen Identität reduziert, ist klar. Diese jedoch in Jazzgeschichte und -gegenwart völlig außer Acht zu lassen, ist ein genauso großes Versäumnis. In diesem Buch wollen wir somit einen Diskurs fortführen, der auch in unserer bereits erheblich veränderten Welt wichtig bleibt.

Wir finden: Es ist gut gelungen. Nichts wurde ausdiskutiert, aber viele Themen wurden angerissen. Viele der Teilnehmer/innen der Konferenz spiegelten uns zurück, wie angenehm der offene und inspirierte Austausch war. Ein wenig davon spürt man auch in der Schriftform, nicht nur in den 17 Essays selbst, sondern auch in den Fotos, die einen Teil der Lebendigkeit der Veranstaltung ausstrahlen.

Wir sind also stolz. Lassen Sie uns wissen, was Sie meinen!

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Conversations in Jazz. The Ralph J. Gleason Interviews
von Ralph J. Gleason
herausgegeben von Ted Gioia
New Haven 2016 [book: Yale University Press]
276 Seiten, 20 Britische Pfund
ISBN: 978-0-300-21452-9

2016gleasonaRalph Gleason gehört zu den Legenden der amerikanischen Jazzkritik. Früh entdeckte er, dass die neuen Medien, also Rundfunk und Fernsehen, zu mehr taugten als die Musik „nur“ zu spielen. In der inzwischen auf DVD wiederveröffentlichten Fernsehserie „Jazz Casual“ bittet er die Musiker zwischendrin zum Gespräch, um mit ihnen über ihre Erfahrungen, aber auch die Besonderheit ihres eigenen Stils zu sprechen. In diesem Buch versammelt Ted Gioia aus dem Nachlass Gleasons vierzehn Interviews, die dieser in erster Linie aus persönlichem Interesse führte, die meisten in seinem Haus in Berkeley bei San Francisco. Alle Interviews stammen aus den Jahren 1959 bis 1961, einer Zeit also, in welcher der Jazz sich im Wandel befand. Gioia versieht jedes der Interviews mit einer kurzen Einleitung, die das folgende Gespräch kontextualisiert.

Und dann folgen mal bekannte, mal neue, mal wichtige, mal nebensächliche Informationen. John Coltrane etwa erzählt, dass er seinen Sound auf dem Altsaxophon überhaupt nicht möge und wie er dazu kam, „My Favorite Things“ aufzunehmen. Quincy Jones fragt sich, warum eine Bigband auf Platte nicht so klingt wie eine Bigband live und zeigt sein frühes Bewusstsein dafür, was sich auf dem Markt verkauft und was nicht. Dizzy Gillespie erzählt von seinen Anfängen im Jazz und dass er versuche, möglichst an nichts zu denken, wenn er spiele.

John Lewis spricht über seine Einflüsse und die Genese des Modern Jazz Quartet. Milt Jackson verrät, dass sein aufregendstes Erlebnis die Arbeit mit Dizzy Gillespie und Charlie Parker 1945 gewesen sei. Percy Heath erinnert sich an die Jazzszene in Philadelphia und beschreibt die Jazzbegeisterung in Europa. Connie Kay erinnert sich an seine Zeit mit Lester Young und erklärt, dass die Disziplin im Modern Jazz Quartet ihn in keiner Weise einschränke. Sonny Rollins spricht über Coleman Hawkins und über das tägliche Üben.

Philly Joe Jones verrät, dass er eigentlich lieber mit einer Bigband spiele. Bill Evans nennt Earl Hines als einen wichtigen Einfluss und findet die Publikumsresonanz auf sein Spiel unglaublich wichtig. Horace Silver erklärt seine Herangehensweise an eine Komposition und erklärt, dass eine akute Sehnenscheidenentzündung ihm eine Weile zu schaffen gemacht habe. Les McCann windet sich um eine Beschreibung für seine Art von Musik herum und findet das Wort „Soul“ sei etwas zu überfrachtet.

Jon Hendricks erzählt, dass Art Tatum nur fünf Häuser von seinem Elternhaus entfernt wohnte und über seinen Ansatz beim Vocalese. Und Duke Ellington findet im einzigen Interview, das nicht bei Gleason zuhause, sondern vor den Kameras von „Jazz Casual“ entstand, dass sich das amerikanische Publikum ziemlich weit entwickelt habe, was ihm Dinge ermögliche, die er 20 Jahre zuvor nicht erfolgreich hätte aufführen können

Die meisten dieser Interviews sind Erstveröffentlichungen, und auf jeden Fall lesenswert. Gleason war einer der einfühlsamsten und kenntnisreichsten Journalisten seiner Zeit, und man merkt, dass seine Interviewpartner sich bei ihm in ihrem ästhetischen Anspruch an ihre Kunst ernst genommen fühlten.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


American Jazz Heroes, Volume 2. Besuche bei 50 Jazz-Legenden
von Arne Reimer
Köln 2016 (Jazz Thing Verlag)
240 Seiten, 55 Euro
ISBN: 978-3-9815858-1-0

2016reimerDer vor drei Jahren erschienene erste Band von „American Jazz Heroes“ war bereits ein großer Wurf: Einer der renommiertesten deutschen Jazzfotografen fährt zu Musikerlegenden in die USA, um sie in ihrem heimischen Umfeld abzulichten und zu interviewen. Die begeisterten Rezensionen animierten Arne Reimer dazu, ein zweites Buch nachzuschieben. Wieder machte er sich auf in die USA, reiste von der Ost- bis zur Westküste, vom hohen Norden bis in den tiefen Süden und bringt seinen Lesern eine Sammlung der wohl menschlichsten Einblicke in die Welt all dieser Jazzlegenden mit, wie sie in der Jazzliteratur so bislang nirgends zu finden ist. Die Portraits der Musiker in ihrer vertrauten Umgebung stehen im Vordergrund, daneben aber gibt es reichlich atmosphärische Eindrücke, von Haus oder Wohnung, von Musikecken, Plattensammlungen, von Menschen, für die Musik zwar im Mittelpunkt ihres Wirkens steht, die darüber hinaus aber ein Leben wie jeder andere führen, die in ihrer Karriere mal mehr, mal weniger erfolgreich waren, sich ganz unterschiedliche Lebensstandards erarbeiten konnten, die mal optimistisch, mal frustriert auf die komplexe Gegenwart reagieren.

Da erwähnt etwa Eddie Henderson, dass er einst einer der besten Eiskunstläufer im Land und später als Arzt gearbeitet habe. Sonny Rollins betont die politische Bedeutung seines Irokesenschnitts, mit dem er auf das Schicksal der amerikanischen Ureinwohner aufmerksam machen wollte. Charles Lloyd macht klar, dass er eigentlich nicht gern rede, weil er mit seiner Musik alles doch so viel besser sagen könne, um dann zu erzählen, wie sehr die Kompromisslosigkeit Ornette Colemans ihn ermutigt habe. Auch Al Foster gibt sich erst wortkarg, um dann angeregt zu berichten, wie Miles Davis ihm Selbstvertrauen geschenkt habe. Ahmad Jamal lässt sich ungern ohne Sonnenbrille fotografieren, weil er auf einem Auge schielt. Man spürt gleichsam, wie er im langen Gespräch nach und nach Vertrauen zum Fotografen gewinnt, dem er am Ende einen seiner Pullover bringt, weil es draußen kalt geworden ist.

Es sind solche menschlichen Momente, die sich durch alle der Interviews ziehen. Freddie Redds Bescheidenheit meint man in den Portraits förmlich zu sehen. Horace Parlan lebt in einem Pflegeheim und erzählt, dass seine Entscheidung, nach Dänemark zu ziehen, vielleicht sein Leben gerettet habe. In Paris trifft Reimer auf Sunny Murray, der das französische Sozialsystem lobt, das ihm wenigstens die Miete, Krankenversicherung und kostenfreie Medikamente zahlt. Auch Kirk Lightsey erzählt von den Vorzügen in Paris zu leben. Billy Cobham holt Arne Reimer am Bahnhof in Bern ab und fährt mit ihm aufs Dorf, wo er im Keller eines Holzfabrikanten zwei Lagerräume für seine Schlagzeuge angemietet hat.

In Philadelphia trifft Arne Reiner auf Odean Pope, der einen persönlichen Sound jeder technischen Meisterschaft vorzieht. Mickey Roker erzählt von der Eifersucht zwischen Stanley Turrentine und Shirley Scott. Und Marshall Allen bittet den Fotografen in sein Haus, das wie ein Museum wirkt, und in dem auch Sun Ra in den 1970er Jahre lebte, um ihm dann seine Philosophie zu erklären: „Wenn du eine bessere Welt willst, musst du bessere Musik spielen. So einfach ist das!“

Zurück in New York betont Amina Claudine Myers die Vielseitigkeit des Blues. Muhal Richard Abrams erklärt die Idee hinter der von ihm mit-gegründeten AACM. Roscoe Mitchell verrät, dass er während seiner Army-Zeit Unterricht bei einem Klarinettisten der Heidelberger Symphoniker nahm. Oliver Lake betont die Bedeutung von Musikernetzwerken wie der Black Artist Group.

Hubert Laws wohnt in einem Haus mit Swimmingpool und Tennisplatz in Hollywood und lädt Reimer zu einem Hauskonzert mit Freunden ein. Bobby Hutcherson erinnert sich, wie Marilyn Monroe einmal in den Club in L.A. kam, in dem er gerade spielte. Ernie Watts erklärt wieso er 1981 mit den Rolling Stones auftrat. Billy Harper telefoniert erst einmal mit seinem Anwalt, weil er sich mit seiner Ex-Frau um ein Apartment streitet, und erzählt dann, dass er dabei war, als Lee Morgan von seiner Frau erschossen wurde. Kenny Barron ist sich sicher, dass er von Saxophonisten genauso stark beeinflusst worden sei wie von Pianisten. Kenny Burrell verrät das Geheimnis hinter dem Sound der Blue-Note-Produktionen. Roy Haynes hat zwar sein Kurzzeitgedächtnis verloren, weiß aber, dass er „old school with a hip attitude“ ist.

Curtis Fuller trifft Reimer im Altenheim, Ben Riley gar in einem Zimmer im Pflegeheim, das er sich mit einem Zimmergenossen teilt. Die Bilder eines eingeschweißten Käsebrots und einer Nährlösungsdose mit Strohhalm sprechen Bände. Mike Mainieri erzählt von seiner Krebserkrankung seiner Frau, und Billy Hart bittet Reimer erst einmal, ihm mit den Augentropfen zu helfen. Die Fotos von Les McCann, der nach einem Schlaganfall vor drei Jahren nicht mehr laufen kann und sich auf seinem Bett ablichten lässt, wirken voyeuristisch, würde der Pianist nicht selbstbewusst in die Kamera lächeln. Noch verstörender sind die Fotos von Charli Persip. Da gibt es ein Bild, das Armut und Trostlosigkeit ausstrahlt wie wenige sonst in diesem Buch. Der Schlagzeuger sitzt, nur mit kurzer Hose und Sandalen bekleidet, auf einem kaputten Drehstuhl, der Teppichboden unter seinen Füßen übersäht mit Dreck. „Wenn ich mir meinen Kontostand ansehe“, zitiert Reimer ihn, „fühle ich mich nicht wie eine Legende.“

Bunky Green holt den Fotografen am Flughafen von Jacksonville ab. Jack DeJohnette kommt mit seinem weißen Audi A5. Sonny Simmons erzählt von den Problemen, die seine Ehe mit der weißen Trompeterin Barbara Donald mit sich brachten. Steve Swallow und Carla Bley verraten das Geheimnis einer erfolgreichen Musikerbeziehung – „Wir komponieren nie zusammen, aber wir sprechen drüber“ – und geben Reimer eine Tüte mit selbstgezüchteten Tomaten mit auf die Rückreise im Bus. Junior Mance beschwört, wie wichtig es sei, in seiner Musik auch für aktuelle Einflüsse offen zu bleiben. Randy Brecker erzählt über die nie enden wollende Suche nach dem perfekten Mundstück. Archie Shepp erklärt die Tradition eleganter Kleidung im amerikanischen Musikgeschäft. Jon Hendricks erinnert sich, wie Charlie Parker ihn ermutigte Jazzsänger zu werden. Lee Konitz berichtet von der Herausforderung auch vielfach gespielte Stücke neu klingen zu lassen. Gary Burton erzählt von seinem Coming-Out als Schwuler. James Blood Ulmer erinnert sich daran, wie es war, mit Ornette Coleman zu spielen. Diesen, also Ornette Coleman selbst, besuchte Reimer gleich mehrere Male, und sein Artikel über ihn liest sich wie ein warmer Nachruf auf einen entfernten und doch sehr nahen Freund.

Dr. Lonnie Smith lädt Arne Reimer ein, im Gästezimmer zu übernachten. George Coleman sieht während des Interviews aus den Augenwinkeln ein Baseball-Spiel im Fernseher. Gunther Schuller erlaubt Reimer ausdrücklich zu fotografieren, was immer er wolle: „Hier gibt es keine Geheimnisse“. Bob Dorough nimmt den Fotografen mit in sein Anwesen in Mount Bethel in Pennsylvania. Richard Davis lebt, mit Gehhilfe und Treppenlift, in Madison, Wisconsin. Roy Ayers freut sich, dass HipHop-Musiker Samples seiner Musik benutzen, weil das ein bisschen Geld in die Kasse bringe. Eugene Wright schließlich erinnert sich an Buddy DeFranco und Dave Brubeck und freut sich über Reimers Besuch, da sonst nur selten jemand vorbeischaut.

Kein Vorwort des Fotografen und Autors, ganz hinten eine kurze Biographie. Tatsächlich aber ist Arne Reimer in diesen Portraits in jeder Zeile präsent, weil er es ist, der die Musiker besucht, und weil die Geschichten von der Begegnung zwischen ihm und seinen Gastgebern leben. Man ahnt, dass die Reisen großer Vorbereitung bedurften, und in seinen Berichten über die Hausbesuche erfährt man weit mehr als in üblichen Musikerinterviews. Arne Reimer gelingt es sowohl fotografisch wie auch sprachlich, die Atmosphäre seiner Verabredungen mit den Jazzlegenden rüberzubringen. Er beschreibt, mal in Worten, mal in Bildern, wie freundlich, wie verschlossen, wie fröhlich oder wie einsam die meist älteren Herren sind (mit Amina Claudine Myers und Carla Bley sind tatsächlich nur zwei Frauen unter den Gesprächspartnern). Und fast nebenbei erfährt Reimer dabei mehr über Jazzgeschichte, als man gemeinhin liest.

Das ist vielleicht der besondere Wert dieses Buchs: Arne Reimer hat das Auge eines guten Fotografen und die Geduld, sich auf sein Gegenüber einzulassen. Er lässt seine Gesprächspartner erzählen, holt sie bei den Themen an, die ihnen wichtig sind, sei es ihre Jugend, seien es Begegnungen mit großen Kollegen, seien es die Beschwernisse des Alltags, Medizin und Augentropfen einbegriffen. Es gelingt ihm dabei auf tief berührende Weile, der Seele dieser Musiker nahe zu kommen. Er erzählt die wahre Geschichte der Menschen hinter der Musik, eine Geschichte, die von ästhetischen Selbstzweifeln genauso handelt wie von der Notwendigkeit zu überleben.

„American Jazz Heroes, Vol. 2“ ist damit weit mehr als ein gutes Fotobuch mit atmosphärischen Beschreibungen. In seinen Texten genauso wie in seinen Bildern erzählt Arne Reimer von genau dem, was im Jazz am wichtigsten ist: von der Individualität, von der Konsequenz des Musikmachens, aber auch vom Alltag alternder Künstler im Amerika des 21sten Jahrhunderts. Absolut empfehlenswert!

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Saxofone. Ein Kompendium
von Uwe Ladwig
4. Auflage, Wahlwies 2016(Buchwerft)
292 Seiten, 74 Euro
Zu bestellen über www.ladwig-oldtime-saxophone.de

2016ladwigUwe Ladwig hat die 4. Auflage seines Saxophon-Kompendiums veröffentlicht. Im Vergleich zur ersten Auflage wurden alle Artikel überarbeitet und zum Teil neu angeordnet. Insbesondere die Geschichte einzelner Saxophonbauer wurde ergänzt; neu sind zusätzliche Kapitel zum Saxophonbau in Rumänien und den Niederlanden. Außerdem enthält die neue Auflage eine CD mit Klangbeispielen vom Sopranino bis zum Subkontrabasssaxophon, vom Couenophone in C und dem Slide-Saxophon.

Ansonsten gilt die Empfehlung, die wir im Juli 2012 für die erste Ausgabe des Kompendiums machten:

Alles, aber auch wirklich alles, was man über das Saxophon wissen will, kann man aus Uwe Ladwigs umfangreichen, sehr schön gestalteten und mit über 350 [in der neuen Auflage über 460] teils farbigen Fotos reich bebilderten Buch erfahren. Anders als in Ralf Dombrowskis „Portrait Saxofon“ geht es dem Autor dabei allerdings nicht um die Interpreten, die hier nur eine kleine Nebenrolle spielen, sondern einzig um das Instrument selbst, in allen üblichen und unüblichen Bauarten und Varianten, vom Sopran- bis zum Basssaxophon.

Ladwig beginnt – wie sollte es anders sein – mit Adolphe Sax, der das Instrument 1846 zum Patent einreichte (bereits vier Jahre zuvor hatte Hector Berlioz das Instrument in einem Zeitungsartikel erwähnt). Neben der Skizze zum Patentantrag und einer Diskussion zu Bohrungsvarianten finden sich detaillierte Ansichten eines frühen Instruments und Instrumentenkoffers.

Der Hauptteil des Buchs dekliniert dann die verschiedenen Hersteller durch. Ladwig beginnt in den USA mit Conn, Buescher, Martin etc. und benennt genauso ausführlich Firmen aus Europa, Asien und Südamerika. Neben kurzen Firmengeschichten klassifiziert er dabei die produzierten Instrumente und liefert zugleich einen Seriennummernkatalog, anhand dessen sich Instrumente datieren lassen. Neben den großen Firmen finden sich kleine, neben alteingesessenen neue Hersteller, jeweils mit detaillierten Beschreibungen und, wo immer möglich, Abbildungen.

Ladwig diskutiert Erfindungen und zusätzliche Patente zu Klappen oder Klappenverbindungen, zeigt Fabrikräume etwa der Firma Keilwerth, aber auch viele aussagekräftige Werbeseiten der Hersteller über die Jahrzehnte. In einem Appendix werden Sonderformen des Saxophons besprochen, etwa Kunststoffinstrumente (man denke an Charlie Parkers Massey-Hall-Konzert oder an Ornette Colemans Auftritte – beide spielten übrigens ein Instrument der Firma Grafton) und Saxophone aus Holz. Ladwig listet sogenannte „Stencils“ auf, also Produktionen einer eingesessenen Firma für andere, oft kleinere Hersteller, und er beschreibt Werkzeuge und übliche Arbeitsvorgänge in der Saxophonwerkstatt, von der Instrumenten-Instandhaltung bis zur Koffer-Restaurierung. Zum Schluss gibt er noch Tipps zur Mikrophonierung von Saxophonen.

Ein ausführliches Register beschließt das Buch, das ohne Übertreibung als ein Standardbuch für Saxophonsammler und -bauer beschrieben werden kann. Neben all dem Wissen, das Ladwig in die Seiten packt, liest man sich dabei immer wieder an kuriosen Aspekten von Firmen- oder Baugeschichten fest.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Sweet Home Chicago | Calendar 2016
Rare Vintage Photographs by Martin Feldmann
Attendorn 2016 (Pixelbolide)
15,95 Euro
zu bestellen über www.blueskalender.de

2016feldmannIn den 1980er Jahren war Martin Feldmann immer wieder in den USA unterwegs. seit einigen Jahren stellt er aus den Blues-Erkundungen seiner Reisen Fotokalender zusammen, die den Blues als eine Musik des schwarzen Amerikas dokumentieren. Der vierte Kalender dieser Art zeigt für 2016 zwölf Fotos von der Maxwell Street sowie vor Blues-Clubs in der South und der West Side Chicagos. der exzentrische Tänzer und Sänger Muck Muck Man ist dabei, J.B. Hutto, Andrew Odom , Jimmy Davis, Little Pat Rushing, John Hendry Davis Jr. sowie weitere, unbekannte Musiker und wichtige Sites der so bedeutenden Chicagoer Bluesszene.

(Wolfram Knauer, Dezember 2015)


 

 

[:de]14. Darmstädter Jazzforum[:en]14th Darmstadt Jazzforum [:]

[:de]

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Konferenz, Ausstellung, Workshop, Konzerte
Gender und Identität im Jazz

Die Referent/innen und die Themen ihrer Vorträge sind hier zu finden.

Einführung

Der Jazz war lange Zeit eine Männermusik. Nicht nur waren die meisten der stilbildenden Musiker männlichen Geschlechts, auch seine Ästhetik und sein soziales Umfeld waren männlich dominiert und männlich besetzt. Frauen spielten in der öffentlichen Wahrnehmung des Jazz, aber auch im Selbstverständnis dieser Musik bei den ausübenden Künstlern eine genauso geringe Rolle wie andere, dem männerbündnerischen Ursprung dieser Musik nicht passende Identitätsbilder. Starke, individuelle, ihre eigene Stimme suchende und findende Frauen oder gar Musiker oder Musikerinnen, die nicht dem anderen, sondern dem eigenen Geschlecht zugeneigt waren, wurden lange Zeit entweder ausgegrenzt, als Ausnahme abgetan oder als Feigenblatt für eine postulierte Offenheit dieser Musik genutzt.

Das 14. Darmstädter Jazzforum, das zugleich ein Vierteljahrhundert Jazzinstitut feiert, will sich dem Thema „Gender“, von verschiedenen Seiten nähern. Uns ist bewusst, dass es genauso wenig „weiblichen Jazz“ gibt wie „männlichen“, dass Musik an und für sich weder Geschlecht noch sexuelle Orientierung besitzt. Und doch spielt die Identität, die wir in unser jeweiligen Umwelt entwickelt haben und leben, eine wichtige Rolle sowohl dabei, wie wir kreativ tätig sind, als auch, wie wir über Kunst oder Musik nachdenken, welche Assoziationen wir mit verschiedenen Genres, wenn nicht gar spezifischen Klängen haben. „I don’t care whom you’re screwing“, stellte der Pianist Orrin Evans im September letzten Jahres beim ersten „Queer Jazz Festival“ in Philadelphia fest, „as long as you’re screwing somebody“ – Musik handle nun mal vom Zwischenmenschlichen; sie sei also nichts für Eremiten.

Wie aber bestimmt unsere Identität unser Verhältnis zur Musik bzw. zum Jazz? Oder noch konkreter: Ist Jazz wirklich eine Männermusik? Und wenn, woher kommen dann seine scheinbaren maskulinen Attribute? Spielt die Betonung von „masculinity“ in der afro-amerikanischen Gesellschaft eine Rolle bei der Ausprägung maskuliner Haltungen im Jazz? Wie lässt sich eine solche Haltung näher festmachen – und wie übersetzt sie sich in andere Kultursphären? Warum beispielsweise wirkt sich die Auflösung maskuliner Werteschemata in der globalen Popkultur seit den 1970er Jahren nicht stärker auf die Wahrnehmung des Jazz aus? Oder tut sie genau dies und es fällt uns im Wandel der Werte einfach nicht genügend auf? Welche musikalischen Qualitäten sind denn tatsächlich identitätsbestimmt (um es vorsichtig auszudrücken und etwa nicht von „geschlechterspezifisch“ zu sprechen)? Dass es unterschiedliche geschlechterspezifische Herangehensweisen an Projekte genauso wie an Problemlösungen gibt, ist ja hinreichend bekannt, wie aber drücken solche sich in Musik aus? Spielen Männer konfrontativer, Frauen eher auf Konsens bedacht? Sind Begriffe wie „einfühlsam“ oder „kraftvoll“ automatisch auch geschlechterbestimmte Vokabeln? Wie sieht die Selbst- und die Fremdsicht auf dieses Thema aus? Wie diskutiert man das Phänomen, dass ein Musiker wie Gary Burton erkläre, er mache selbstverständlich keinen „gay jazz“, und dennoch erzählt, nach seinem Coming Out hätten ihm viele Kollegen gesagt, er spiele jetzt viel „freier?

Wie also nimmt man die Rollen, die man in der realen Welt spielt, mit in eine Kunst, die zum einen davon handelt, „sich selbst“ zu spielen, zum anderen auf offene Kommunikation klarer Individuen angelegt ist? Denn ausgerechnet im Jazz, dieser über-individualisierten Musik, zu argumentieren, dass es doch völlig egal sei, woher man käme, wirkt seltsam. „Where you come from is where you go to“, lautet zumindest zum Teil die Devise: Wer du bist, bestimmt, was und wie du spielen wirst.

Für unser 14. Darmstädter Jazzforum wollen wir diesen komplexen Themenkreis von sehr unterschiedlichen Warten betrachten. Wir haben dafür drei Themenblöcke vorgesehen. (1) Zum einen wollen wir uns allgemein mit der Thematik Maskulinität / Gender / Intersektionalität / Identität befassen. (2) Wir laden Referenten und Referentinnen ein, sich in analytischen Case Studies an die musikalische Aktivität einzelner Musiker oder Musikerinnen anzunähern, ohne von vornherein nur auf den Genderaspekt ihrer Kunst zu blicken. (3) In einem dritten Block wollen wir schließlich Schlaglichter auf gelebte Wirklichkeit in Geschichte wie Gegenwart werfen, uns dafür fokussierte Blicke in die Jazzgeschichte erlauben, aber auch aktuelle Zeitzeugen zu Worte kommen lassen.

Dass der Blick auf den Jazz verfälscht wird, wenn man seine Protagonisten auf einzelne Teile ihrer vielfältigen Identität reduziert, ist klar. Diese jedoch in Jazzgeschichte und -gegenwart völlig außer Acht zu lassen, ist ein genauso großes Versäumnis. Beim 14. Darmstädter Jazzforum wollen wir einen Diskurs fortführen, der auch in unserer bereits erheblich veränderten Welt wichtig bleibt.

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„GENDER_IDENTITY“ ist eine Veranstaltung des Jazzinstituts Darmstadt, eines Kulturinstituts der Wissenschaftsstadt Darmstadt.

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Das 14. Darmstädter Jazzforum wird gefördert vom Kulturfonds Frankfurt Rhein-Main, vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst und der Jubiläumsstiftung der Sparkasse Darmstadt.

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hr2 Kultur, JAZZTHETIK und MELODIVA sind Medienpartner des 14. Darmstädter Jazzforums

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Kooperationspartner des 14. Darmstädter Jazzforums sind „Frauen machen Musik e.V.“, das Kulturzentrum Bessunger Knabenschule, WAGGONG Frankfurt e.V., die Centralstation Darmstadt und die Frankfurter Romanfabrik

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Conference, exhibition, workshop, concerts
Gender and Identity in Jazz

Darmstadt Jazzforum 2015 GENDER_IDENTITY from Jazzinstitut Darmstadt on Vimeo.

The speakers have been chosen; here is an overview of the papers.

Introduction

Jazz used to be a predominantly male music. Not only were most of the musicians male, but its aesthetics and social environment was dominated by male ideals and male players as well. In the public perception of this music women as well as other groups or identities not compliant with the male orientation of jazz’s origins played only a minor role. Strong female instrumental voices, for instance, or musicians with a LGBT background were marginalized both by the media and by the jazz scene, seen as an exception or celebrated as a fig-leaf for the alleged openness of the music.

Celebrating the Jazzinstitut’s 25th anniversary, the 14th Darmstadt Jazzforum will approach the gender topic from different sides. We are aware of the fact that there is no „female jazz“ or „male jazz“, that music in itself does neither have a gender nor a sexual orientation. And yet our identity which we acquired in our respective environments are highly influential on how we express our creativity, how we think about art and music, which associations we may have with specific genres if not even with specific sounds. „I don’t care whom you’re screwing“, said the pianist Orrin Evans in September 2014 at the first „Queer Jazz Festival“ in Philadelphia, „as long as you’re screwing somebody“ – music, after all, is a taking place between people, it’s not a hermit’s art.

How, then, is our identity forming our understanding of jazz? Or to be even more precise: Is jazz really a man’s music? And if so, where exactly do its male attributes come from? Is some kind of emphasis on masculinity in the African-American community one of the reasons for the stereotype of jazz as a male art form? How can such an attitude be described – and how does it translate into other cultures? Why, for instance, doesn’t the slow softening of masculine values in global pop music since the 1970s have a stronger effect on jazz? Or is this actually happening and we just don’t notice it because of the general changes we experience around us? Are there musical qualities which are determined through identity (if not through gender)? We know about and acknowledge gender-typical approaches and methods of problem-solving in many other fields; can we identify such in music? Do men play more aggressively, are women more anxious to reach a consensus? Are words such as „empathetic“ or „forceful“ clearly linked to specific gender characteristics? What is the difference between the self-view and the independent view of this topic? How does one deal with the phenomenon that a musician such as Gary Burton makes clear that, of course, he does not play „gay jazz“, yet acknowledges that after his coming-out many of his colleagues told him he sounded much „freer“?

How, then, does one take the roles one is playing in the real world along into an art form which is about „playing yourself“ on the one hand and which deals with an open kind of communication of specific individuals on the other hand? Jazz, after all, is one of the most individual approaches in the music field; it seems odd to argue that one’s personal background has no influence whatsoever on the musical result. „Where you come from is where you go to“, is at least part of the rule: Whoever you are, will define what and how you will play and perform.

At our 14th Darmstadt Jazzforum we plan to look at different views on this complex field of topics. We will focus on three thematic blocks. (1) We will discuss topics such as masculinity / gender / intersectionality / identity. (2) We will invite some analytical case studies, in which the art of specific musicians is being approached without first looking at the gender aspect of their music. (3) A third block is to bring us into the lived-in reality both of days gone by and of today’s world, allow for focused views into jazz history and for conversations with men and women active on today’s jazz scene.

The view of jazz musicians and their art may be distorted if we reduce them to any parts of their identity, be it their gender, their sexual orientation, their ethnicity, or anything else. However, to ignore these facets, be it in jazz history or today’s jazz scene, is a proof of neglect as well. At the 14th Darmstadt Jazzforum we hope to contribute to a discourse which is and remains important in our changing modern world.

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„GENDER_IDENTITY“ is hosted by the Jazzinstitut Darmstadt, a cultural institution of the City of Science Darmstadt.

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