Hartmut Geerken’s Sun Ra Archive

Im Mai 2021 übernahmen wir die das Sun Ra Archive des  Schriftstellers, Kulturkoordinators und Forschers Hartmut Geerken. Es handelt sich um das weltweit umfassendste Privatarchiv zu Leben und Werk des US-amerikanischen Free-Jazz-Pioniers und Vordenkers des Afrofuturismus. Die Sammlung umfasst Bandmitschnitte von knapp 500 bislang unveröffentlichten Konzerten, Interviews und Proben des Sun Ra Arkestra, Filmaufnahmen auf über 70 Videobändern bzw. DVDs, das gesamte dichterische Œuvre Sun Ras, zum Teil mit eigenhändigen Korrekturen, 1.200 Fotos, ein umfassendes Archiv an Sekundärliteratur, Korrespondenz mit führenden Sun Ra-Forschern sowie mit Sun Ra selbst, die Geerken für seine umfangreichen Bücher “Omniverse Sun Ra” und “The Immeasurable Equation” verwandte, und vieles mehr.

“Hartmut Geerkens Sun Ra-Archiv ist eine großartige und wichtige Ergänzung der Sammlung des Jazzinstituts”, erklärte damals unser Oberbürgermeister und Kulturdezernent Jochen Partsch. “Sun Ra war ein Vorreiter des Black Power-Movement der 1960er Jahre und damit auch der Black Lives Matter-Bewegung unserer Zeit. Die Sammlung Geerkens, der Sun Ra persönlich kannte und mit vielen Musikern seines Arkestra befreundet war, dokumentiert, wie Sun Ra den Afrofuturismus vorausgedacht hat, der in den 1970er Jahren in der Musik George Clintons nachhallte und ab den 1980er Jahren Teil des internationalen kulturkritischen Diskurses wurde.

Mittlerweile haben wir weit mehr als die Hälfte der riesigen Sammlung digitalisiert; Schriftstücke genauso wie Film- oder Audiomitschnitte seiner Konzerte. Und schon jetzt zieht das Archiv Forscher aus aller Welt an – im März 2023 etwa war der Researcher für einen Dokumentarfilm für mehrere Tage in Darmstadt, den der renommierte US-amerikanische Regisseur Stanley Nelson über Sun Ra plant (vgl. Hollywood Reporter). Geerken selbst war glücklich, dass seine Sammlung ausgerechnet in Darmstadt ihren Platz gefunden hat. Eine Rundfunksendung des Jazzexperten Joachim Ernst Berendts, dessen Nachlass den Grundstock des Archivs im Jazzinstitut bildet, habe ihn Anfang der 1960er Jahre auf Sun Ra aufmerksam gemacht, erzählte er uns in einem der letzten Telefonate, die wir mit ihm führten. Nur eine Woche später verstarb Geerken im Oktober 2021 völlig unerwartet im Alter von 82 Jahren in seinem Haus am Ammersee.

Sun Ra interessiert nicht nur Musikhistoriker:innen, sondern insbesondere auch junge Musiker:innen, die von den gelebten Visionen des Bandleaders und Komponisten fasziniert sind. Schon in den 1950er Jahren gelang es ihm Tradition und Avantgarde miteinander zu verbinden. Seine Wurzeln hatte Ra in der Bigbandmusik der Swingära, wurde aber schnell zu einem der Vordenker freierer Wege im Jazz. Die teilweise stundenlangen Konzerte seines Arkestra und die Besinnung auf alte afrikanische Rituale lebten von den bunten Kostümen, von der Performance, in die immer auch das Publikum mit eingebunden wurde, und von den mitreißenden Hymnen, die zwischen freien Improvisationen und swingenden Arrangements erklangen. Nicht zuletzt war Ra auch ein Pionier der elektronischen Musik, setzte als einer der ersten Musiker den Moog-Synthesizer für Live-Konzerte ein. Und 1986 traf er – noch ein Darmstadt-Bezug – bei einem gemeinsamen Konzert in New York auf den Vordenker Neuer Musik John Cage.

Sun Ras Musik begleitet uns seither, und auch inhaltlich erahnen wir, wie weitsichtig der Pianist, Komponist und Bandleader war: Wir haben nicht ohne Grund dem 18. Darmstädter Jazzforum, bei dem wir im September 2023 “die Zukunft des Jazz” einen Titel aus Sun Ras Diskographie gegeben: “Destination Unknown”.

“Space is the Place” hieß eine der nachhallenden Hymnen, die das Arkestra in seinen Konzerten sang. Das Darmstädter Jazzinstitut hat genügend “space” freigeräumt in seinen Regalen, um Platz zu schaffen für die Dokumente über eine der schillerndsten und herausragendsten Figuren afro-amerikanischer Musik.

Hier ein paar Beispiele aus der Sammlung:


Gefängnis-Korrespondenz

 

Die ersten 30 Jahre seines Lebens verbrachte Herman Poole Blount, wie er damals noch hieß, in Birmingham, Alabama, wo er 1914 geboren wurde. 1942 wurde er zum Wehrdienst eingezogen, der er unter anderem aus religiösen Gründen verweigerte. Er saß mehrere Monate erst in einem Gefängnis in Alabama, dann in einem Lager in Pennsylvania, wo ihm Suizidgefahr genauso attestiert wurde wie Homosexualität. Geerken sammelte Kopien von Blounts Korrespondenz aus jenen Jahren, in denen er freimütig über seine gesundheitlichen Probleme, aber auch seine Sexualität spricht.


The Sun Harp

In Geerkens Worten (Gizeh, Ägypten, Dezember 1971, aus: Omniverse Sun Ra):

the night they were to leave i watched sonny, the chief, sitting behind a little table in the hotel hall. a lit candle in front of him illuminated rows of numbers on a piece of paper. my first thought; magic nurnbers, astrology. but then i heard that there wasn’t enough money to pay the hotel bill. the telephone bill was immense, too. his 21 musicians had made lots of phone calls, like they always did when they were on tour. i know for a fact that once sonny paid the telepone bill amounting to over 1000 dollars with a professional tape, including the rights. – even though it was late at night, i tried to get arabian & german friends to participate in the bill so that sonny & his crew could leave for the airport. they had to pay to be able to leave the building. my friends were reluctant, so i chipped in as much as i could, but it wasn’t enough. one of them kept sneaking outside with something & returning without whatever it was & then handing a few money bills to sonny. sonny would then start adding again. i think june even sold some of her jewelry. she kept laughing & saying: ‘that’s too much! that’s too much!’ sonny didn’t seem too upset about the precarious situation. how often had he gone through this before? the intergalactic constellation cannot be measured by the standards of earthly time… at some point patrick arrived with a large string instrument, a ukrainian bandura & extra strings to replace the lower strings, handed them to sonny & sonny handed them to me, sort of as a security for the rnoney i had given to him. some tirne when he had rnoney, he said, he would ask me to return the instrument, it was his famous sun harp (“STRANGE STRINGS”).

Die Sun Harp ist auf zahlreichen Aufnahmen zu hören, beispielsweise in “Solar Symbols“. Geerken spielt sie 1996 auf seinem “Sun Ra Tribute” Album; “Sunny’s Sun Harp“.


Sun Ra Hot Dog Sauce

Chris Trent, der erheblich an der zweiten Auflage von “Omniverse – Sun Ra” mitgearbeitet hatte, schickte Geerken eines Tages diese Flasche. Sie hat nichts mit “unserem” Sun Ra zu tun, war in den 1940er Jahren eine beliebte Zutat zu … “Hot Dogs.


Maqsud Schukurwali

Geerkens Begegnung mit Sun Ra strahlte auf jeden aus, mit dem er zu tun hatte. Maqsud Schukurwali spielte Gitarre in Geerkens Rock and Free Jazz Group, als dieser 1976 für das Goethe-Institut in Afghanistan arbeitete. Schukurwali arbeitet ansonsten als Grafiker und Bildender Künstler; von 1977 stammt seine Maske mit dem Namen “Sun Ra”.


Diskographien

“Omniverse – Sun Ra” ist ja alles: Biographie, Diskographie, Gedichtesammlung, musikalische Einordnung, Reflexion über… Die Grundlagenforschung für all das aber war endlose Korrespondenz, die Geerken mit anderen Sun Ra-Sammlern aus aller Welt führte, die aktive Beteiligung an Mailinglisten, die Veranstaltung regelmäßiger Sun-Ra-Konferenzen. Robert Campbells “The Earthly Recordings of Sun Ra” (zweite Ausgabe: 2001) ist die “Bibel” für Sun Ra-Sammler, aber in Geerkens Sammlung finden sich auch alle Vorgänger bis zurück zu Otto Flückigers Diskographie in der Zeitschrift “jazz-statistics” von 1961. Ein besonders schön gestaltetes Werk ist Tilman Stahls privat veröffentlichte Publikation “Sun Ra Materialien / Sun Ra Materials” aus dem Jahr 1983.


Die Sun Ra Sammlung umfasst weit mehr – wir kommen darauf zurück und beschreiben bei Gelegenheit einzelne weitere Ordner und Kästen, das Konvolut an Noten etwa oder an Tonbandkassetten.  Ach, eines noch: Auch das bislang bereits digitalisierte Material ist nicht online verfügbar, sondern zu Recherchezwecken nur am Jazzinstitut selbst zu nutzen.

(Wolfram Knauer, März 2023)