Jazz in der Kammer (1965-1990)

Am 1. November 1965 spielte das Trio des Pianisten Joachim Kühn mit  Klaus Koch (Bass) und Reinhard Schwarz (Schlagzeug) in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Ost-Berlin. Das Konzert war zugleich der Beginn der Konzertreihe „Jazz in der Kammer“, die bis zum 10. November 1990 163 Konzerte mit mehr als 600 Musiker:innen vor allem der zeitgenössischen Jazzszene aus Ost- und Westeuropa, aber auch den USA oder Japan präsentierte.  Im Programmheft zum ersten Konzert erläutern die Organisatoren, man wolle „auch speziellere Wünsche  vor allem [der] jugendlichen Besucher erfüllen und gleichzeitig neue Besucherschichten für die Arbeit des Deutschen Theaters interessieren“.


Jazz in der Kammer Nr. 1 (1. November 1965) als pdf-Download

Jazz wurde in der DDR der 1950er Jahren von offizieller Seite eher argwöhnisch als Ausdruck „kapitalistischer Dekadenz“ und „Musik des Klassenfeinds“ beäugt. Mit dem Bau der Mauer 1961 änderte sich diese Haltung des Staates, wie Karlheinz Drechsel berichtet, und schien plötzlich vieles möglich, was früher verboten war. „Die in der DDR agierenden staatlichen Konzert- und Gastspieldirektionen wurden dazu angehalten“, erzählt er, „spezielle Jazzkonzerte für die Jugend zu veranstalten“ (Karlheinz & Ulf Drechsel: Zwischen den Strömungen. Mein Leben mit dem Jazz, Rudolstadt 2011: 91). Vor diesem Hintergrund ist auch der Ankündigungstext zum Kühn-Konzert von 1965 zu lesen, in dem es heißt: „‚Jazz in der Kammer‘ soll der Förderung und Popularisierung des modern jazz in unserer Republik dienen und jede Art von kommerzieller Tanzmusik, jeden Pseudojazz und unqualifizierte Amateurmusik ausschließen.“

Am 24. November 1969 gab es ein erstes Jubiläum zu feiern: 4 Jahre und 25 Konzerte „Jazz in der Kammer“. Im Programmzettel listen die Veranstalter mittlerweile 102 Musiker und 3 Musikerinnen auf, die bereits in der Reihe aufgetreten waren, mit wenigen Ausnahmen (ein Konzert mit den Leo Wright All-Stars im Oktober 1966) alle aus der DDR oder osteuropäischen Bruderstaaten. Sie erzählen noch einmal die Geschichte des Formats, das einer Idee zweier Schauspieler und eines Gartenarchitekten entsprang. Und sie zitieren aus Rezensionen vergangener Konzerte, etwa mit den Berlin-Leipzig-All-Stars, mit dem Kurylewicz-Nahorny Quintett aus Polen, mit der Zellula Combo aus Prag oder mit der amerikanischen Sängerin Rosita Thomas.

Während der Rückblick die Internationalität der Reihe betont, feiert das Jubiläumskonzert  selbst die zeitgenössische Szene im eigenen Lande. Das Friedhelm Schönfeld Trio mit Klaus Koch und Baby Sommer ist in zwei Stücken zu hören, das Günter Fischer Quartett in einem, Manfred Schulzes Bläserquintett (plus Schlagzeug) spielt seine Komposition „Hymne“, Ernst Ludwig Petrowsky betont in seinem Quartett die amerikanische Tradition („Oleo“) und mit dem Studio-4-Ensemble auch die europäische (den Choral „Es sungen drei Engel“, ein Stück, das auch Albert Mangelsdorff wenige Jahre eingespielt hatte). Zum Schluss trafen sich die Musiker zu einer Jam Session, und man möchte gern dabei gewesen sein.


Jazz in der Kammer Nr. 25 (24. November 1969) als pdf-Download

Im Jazzinstitut haben wir zahlreiche der Programmzettel  (immerhin 133 von 163), im Original und  für Recherchezwecke auch digitalisiert. Das Abschlusskonzert im November 1990 war wieder ein kleines Festival; neben vielen Namen, die bereits seit den 1960er Jahren mit dabei waren, tauchen jetzt auch jüngere Musiker:innen auf, und die Veranstalter resümieren: „Nach 25 Jahren, in denen sich die Jazz-Szene des Landes entscheidend verändert hat, sehen die ebenfalls älter gewordenen lnitiatoren der Reihe ihre Aufgabe als erfüllt an und verabschieden sich mit der heutigen Familien-Party, die noch einmal treue, langjährige Mitstreiter der KAMMER vereint, von ihrem treuen Publikum.“


Jazz in der Kammer Nr. 163 (10. November 1990) als pdf-Download

Die Programmzettel zu „Jazz in der Kammer“ sind nur ein Teil der Dokumente, die im Jazzinstitut über die Jazzgeschichte der DDR vorhanden sind. Daneben finden sich ähnliche Programmblätter zur Jazzwerkstatt Peitz, zur Jazzbühne Berlin, Presseclippings über das Dixieland Festival in Dresden oder die Leipziger Jazztage und Clippings über einzelne Konzerte im ganzen Land von 1965 bis zum Fall der Mauer.

Wolfram Knauer (April 2023)