Die geheimisvolle Kladde des Hans Blüthner

Ich lernte Hans Blüthner irgendwann Ende der 1990er Jahre kennen. Er lebte in einem Seniorenheim in Weinheim an der Bergstraße, wo ich ihn ein paar Mal besuchen durfte. Blüthner war Jazzgeschichte pur, ein Zeitzeuge der Berliner Jazzszene der 1920er bis 1960er Jahre, ein Brieffreund Louis Armstrongs, Sammler, Organisator, vor allem aber ein großer Jazzfan. „Meine Unterlagen habe ich leider vor vielen Jahren weggegeben“, sagte mir Blüthner etwas wehmütig. Der einzige Jazzbezug in seinem Zimmer waren CDs mit Wiederveröffentlichungen seiner Lieblingsmusik. Blüthner was schwer zu Fuß; der Körper machte nicht mehr mit, aber der Kopf war ganz da.

Hans Blüthner

Hans Blüthner (links 1952 mit Louis Armstrong) wurde am 23. Juni 1913 in Berlin-Charlottenburg geboren. Mit elf Jahren musste er wegen einer schweren Osteomyelitis monatelang im Bett bleiben. Sein Stiefvater bastelte ihm einen Detektor, mit dem er über Kopfhörer Radio hören konnte, und bald vertiefte er sich in die Schlager- und Tanzmusiksendungen auf „Welle 505 Berlin“, dem ersten deutschen Rundfunksender, der seit 1923 sendete, live aus dem Palais de Dance oder dem Pavillon Mascotte in der Berliner Friedrichstadt. Es war die populäre Musik der Zeit, die ihn anfixte und nicht mehr losließ und von der er zu Beginn wahrscheinlich noch gar nicht wusste, dass dies Jazz war und welche Rolle Jazz für sein Leben spielen sollte.

Ende der 1920er Jahre entdeckte Blüthner Alberti in der Rankestraße nahe der Gedächtniskirche, das seinerzeit modernste Musikfachgeschäft Berlins. „Hier“, erinnert er sich 1986, „gab es alles, was mit Hot-, Dance- und Jazzmusik zu tun hatte: Musikinstrumente, Noten, Schallplatten, Jazzliteratur inkl. Fachzeitschriften von hüben und drüben. Musiker gingen aus und ein. Für mich war das eine neue Welt.“ (Blüthner 1986: 9) Er hörte die internationalen Bands der Hauptstadt, Weintraub’s Syncopators, Efim Schachmeister, Sidney Bechet, Sam Wooding, Arthur Briggs. Er wurde endgültig zum Jazzfan.

Dann kam das „Dritte Reich“ und der Versuch, den Jazz zu verbannen, aber Bands wie die von Teddy Stauffer, Arne Hülphers und andere „brachten uns alles, was in den USA gespielt wurde“. Das Falk-Real-Gymnasium, das er besuchte, musste Blüthner im Herbst 1933, „fünf Monate vor dem Abitur aufgrund politischer Streitigkeiten“ verlassen. Im Herbst 1934 begann er eine Lehre als Bankkaufmann bei der Diskont- & Kredit-Aktiengesellschaft, die ihn danach als kaufmännischen Sachbearbeiter übernahm. Bis 1939 bezog Blüthner sowohl den britischen Melody Maker wie auch das amerikanische Down Beat per Post und blieb so auf dem Laufenden über die amerikanische Jazzszene.

Und er begann Platten zu sammeln. „Man bekam auf Electrola, Columbia, Odeon, Brunswick, Imperial usw. so ziemlich alles, was das Herz begehrte – mit bestimmten späteren Einschränkungen, was Nichtarier betraf.“ (Blüthner 1986: 10) Seit 1934 war er Mitglied im Melody Club (auch „Melodie Club“, später „Magische Note“), dessen Mitglieder sich jeden Donnerstag in einem Café am Kurfürstendamm trafen und sich gegenseitig ihre Plattenschätze vorführten.

Im März 1940 stürzte Blüthner bei Eisglätte und brach sich den Arm. Die Verletzung und seine Osteomyelitis bewahrten ihn vor dem Kriegsdienst. Inzwischen arbeitete er in der Massivbau-Gesellschaft m.b.H. seines Onkels, bald als kaufmännischer Geschäftsführer. 1944 verriet ihn ein Geschäftspartner des Onkels wegen verbotenen Hörens von Feindsendern (BBC); einer Inhaftierung entging er nur, weil die Gefängnisse bereits voll mit politischen Gefangenen waren. Zu Weihnachten jedenfalls war er wieder frei. Gegen Ende des Kriegs waren vom Freundeskreis des Melody Club nur Blüthner und Gerd Peter Pick noch in Berlin (Kater 1992: 76); der Rest hatte die Hauptstadt verlassen, wenn nicht gar das Land, oder war im Krieg umgekommen.

Nach dem Krieg wurde Blüthner (auf dem Foto rechts mit Lil Hardin-Armstrong, ca. 1954) Mitgründer des Hot Club Berlin, der 1947 eine Lizenz von der Militärregierung erhielt. Er arbeitete weiter in der Baufirma seines Onkels, bis diese 1969 Konkurs anmeldete. Danach war er als Disponent und Leiter der Programm-Abteilung bei der Theaterbesucher-Organisation der Freien Volksbühne angestellt, bis er sich 1980 mit 67 Jahren zur Ruhe setzte. Zusammen mit seiner Frau zog er nach Hemsbach an der Bergstraße. „Etwas Schwierigkeiten haben wir mit dem Verstehen des hiesigen Gebabbele“, schrieb er kurz nach dem Umzug an einen Freund. „Leider gibt es noch kein Wörterbuch für Badisch-Pfälzer Hessisch.“ (Blüthner 1981) Hans Blüthner starb am 9. April 2002 in einem Pflegeheim in Weinheim im Alter von 88 Jahren.

Die Kladde

Seine Unterlagen also hatte er vor vielen Jahren weggegeben, meinte Blüthner zu mir, und auf Nachfrage wusste er nicht mehr genau an wen ­­– jemanden, dem der deutsche Jazz am Herzen lag, sagte er. Fast forward in die frühen 2000er Jahre, ziemlich kurz nach Blüthners Tod: Wir erhielten einen Anruf aus Wuppertal, dort sei eine Wohnung aufzulösen, dessen Bewohner offenbar jede Menge an Information über Jazz gesammelt hatte. Vor allem Papier, hieß es, davon aber wirklich sehr, sehr viel. Wir mieteten einen kleinen LKW und fuhren an den Niederrhein. Und luden ein: Kisten um Kisten voll mit Zeitschriften, Aktenordnern mit Zetteln, Fotokopien, Büchern, Briefen, adressiert an den „Kulturellen Wirkungskreis Jazz“. Dahinter steckte der Sammler Martin Pecherstorfer, der in Kontakt mit anderen Fachleuten stand – auch mit dem Jazzinstitut Darmstadt hatte er zu Lebzeiten korrespondiert ­–, von denen er jede Menge an Informationen über die Jazzgeschichte Deutschlands wie Osteuropas erhielt. Insbesondere hatte Pecherstofer auch gute Kontakte hinter den Eisernen Vorhang, tauschte sich mit Sammlern wie Wolfgang Muth oder Jazzfreunden aus der CSSR oder Polen aus.

Nun also ging all das Material nach Darmstadt, und es dauerte lange, bis wir auch nur den Hauch eines Überblicks erhielten, um was es sich da handelte. Massenhaft Down Beats, Jazz Hots, aber eben auch Melodie und Rhythmus und andere osteuropäische Magazine. Daneben Ordner um Ordner mit den Rechercheunterlagen von Privatforschern und Diskographen, Aufzeichnungen, von denen diese meinten, sie lieber nach Wuppertal zu schicken als im Müll zu entsorgen.

Und dann waren da zwei Kisten mit der Aufschrift „Blüthner“. „Meine Unterlagen habe ich leider vor vielen Jahren weggegeben“, hatte der mir von seinem Bett aus wehmütig gesagt. Hier nun waren sie, hatten auf einem seltsamen Umweg über Wuppertal ihren Weg ins Darmstädter Jazzinstitut gefunden. Korrespondenz mit Armstrong aus den 1950er und 1960er Jahren, Erinnerungen, die Mitteilungen, eine von Dietrich Schulz-Köhn herausgegebene Zeitschrift, handgeschriebene Notenhefte mit Schlagern und Tanzmusik, ein Vortragsmanuskript von Dietrich Schulz(-Köhn) von 1936 über „Einführung in die Swing-Musik“ (gehalten im Delphi-Palast am 20. Januar 1936; Manuskript überarbeitet im Juni 1936).

Und eine seltsame Kladde mit einer Auflistung von Schallplatten, und hinter jeder Platte eine Reihe an Namen. Wir hatten anfangs keine Ahnung, worum es sich dabei handelte. Erst nach und nach verbanden wir die Namen hinter den Einträgen mit unserem Wissen um die Berliner Jazzszene der 1930er Jahre und erkannten: Dies war der Bestandskatalog der „Berliner Hotfreunde“, wie Blüthner die Gruppe in einer Erinnerung aus dem Jahr 1947 nannte.

Der Melody Club

„Seit 1934“ heißt es darin, „existiert in Berlin ein Kreis wirklicher Hot-Freunde, die sich s.Zt. wöchentlich einmal im Café Hilbrich am Kurfürstendamm (im blauen Zimmer) trafen, um sich gemeinsam an ihren Platten, die auf einem Kofferapparat gespielt wurden, zu erfreuen und darüber zu diskutieren. Damals war es Herr Adalbert Schalin vom Alberti-Verlag, dem Dorado aller Jazz-Begeisterten (hier gab es alle In- und ausländischen Platten, Noten, Jazz-Zeitungen, Instrumente usw), der diesen ‚Melody-Club‘, wie er sich nannte, aufzog.“ (Blüthner 1947) [Foto: Siegfried Schröter, Hans Friedemann, Hans Blüthner in den späten 1930er Jahren]

Noch ausführlicher erinnert er sich 1950: „Was lag da näher, als 1934 einen Hot-Club zu gründen, in dem man als Anhänger des authentischen Jazz die einmaligen und keiner Modeerscheinung unterworfenen Platten eines Louis Armstrong oder Bix Beiderbeckes zu spielen [sic!], diese zu vergleichen mit modernen Aufnahmen von Benny Goodman & Tommy Dorsey und immer wieder festzustellen, daß Kunst sowohl eine ideelle als auch eine materielle Seite haben kann. Natürlich konnte der Kreis um diesen Club nie an die Öffentlichkeit treten, denn die Anhängerschaft des Jazz war identisch mit Demokratie und Freiheit. Solche Ideale durfte es im 3. Reich nicht geben. So durfte der Hot Club Berlin, der damals „Melodie Club“ hiess, nicht laut werden und konnte nur in der Stille arbeiten. Die Aussichten, sich ein Ziel zu setzen, wurden immer geringer. Der Kreis, in dem man weder Rassen- noch Klassenhass kannte, wurde hervorgerufen durch Verfolgungen und den bevorstehenden Krieg, immer kleiner und reduzierte sich in kürzester Zeit auf ein Minimum. Könnte man es auch durchsetzen, die Jazzmusik und alles, was mit ihr in Zusammenhang stand, zu verbieten, den Geist und die Liebe zu dieser Musik und die Verbundenheit zwischen den einzelnen Anhängern untereinander innerhalb des Clubs, konnte man nicht verhindern. Unter großen Schwierigkeiten wurde sogar mitten im Krieg ein ‚Mitteilungsblatt‘ herausgebracht, welches eine Verbindung herstellen sollte zwischen allen Freunden des Jazz. Der nicht enden wollende Krieg machte aber schließlich alles zunichte, und so mußte schließlich auch alles intern gehaltene in Berliner Jazzkreisen eingestellt werden.“ (Blüthner 1950)

Aber zurück zur Kladde: Sie enthält letzten Endes eine Art Verzeichnis der Privatsammlungen des harten Kerns dieses Melody Clubs, zusammengestellt von Blüthner, der so Interessierte an die Eigentümer der Platten verweisen konnte, so nach dem Motto: „Wenn Du dies oder jenes suchst, wende Dich mal an xvz, der hat die Aufnahme, bei dem kannst du sie bestimmt hören.“ 1989 erwähnt Blüthner die Kladde im Gespräch mit Bernd Polster über die Club-Treffen im Café am Kurfürstendamm: „Wir tagten jeden Donnerstag in einem Café am Kurfürstendamm. Das existiert heute alles nicht mehr. In der ersten Etage hatten wir den Blauen Salon und hatten einen Nudelkasten [Plattenspieler]. Und dann wurden Platten gespielt, Schellack natürlich. Und einer war da, der hatte die Buchführung. Jeder, der in dem Club war, mußte einen Katalog abgeben über seinen Plattenbestand. Und der Buchführer übertrug das auf einen allgemeinen Katalog. Und wenn ein Programm gemacht wurde, dann sagte der ‚Bring doch mal die Platte mit. Die und die‘, und dann mußte jeder mal ’n Programm machen.“ (Polster 1989: 31-32) Buchprüfer war, scheint’s, Blüthner selbst, und was uns da mit der Kladde vorlag, war dieser „allgemeine Katalog“ des Plattenbestandes des Melody Clubs aus den Mitt-1930er Jahren.

Die Mitglieder des Clubs, erinnert sich Blüthner, wurden eingehend nach Fachwissen durchleuchtet. Es sei „ein gemischter Kreis“ gewesen, „auch viele jüdische junge Herren“ (Polster 1989: 32). Im Café tagte der Club vielleicht zwei Jahre lang, danach schob der Besitzer vor, ein Skatclub hätte den Blauen Salon gemietet, sie müssten raus. Eine Weile trafen sie sich in einer Tanzschule gleich nebenan, zogen dann in ein anderes Café um, dessen Besitzer aber mit dem Verzehr der jungen Leute nicht zufrieden war (Polster 1989: 32). Schließlich trafen sie sich bei einem der Mitglieder in dessen Privatwohnung. Der Melody Club (Magische Note) bestand bis in den Krieg hinein, wenn auch die Mitgliederzahl immer mehr abnahm: Blüthner: „Die jüdischen Herren waren dann weg, die anderen mußten zum Militär. Im Krieg war’n wir zuletzt nur noch zwei, drei Mann.“ (Polster 1989: 33)

„Die Berliner Hotfreunde“, 17. Januar 1947
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„Berlin und Jazz“, 22. September 1950
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Die Kladde
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Die Mitglieder

Wer also waren die Sammler des Melody Clubs, die in dieser Kladde verewigt sind? Es waren, alphabetisch sortiert: Auerbach, Blüthner, Boger, Cornfield, Gittermann, Petruschka, Pfrötschner, Robert, Sternberg, v. Drenkmann sowie Wolff. Wir haben ein wenig recherchiert:

Heinz Auerbach war ein Berliner Jude (Kater 1992: 74) und zusammen mit Franz Wolff ein Befürworter vor allem des schwarzen Jazz (Kater 1992: 85) – ja, das war unter Jazzfreunden durchaus ein ästhetisches Politikum in jenen Jahren. Er verließ Deutschland 1938, gründete in Brasilien den Hot Club de Janeiro in Rio (Blüthner 1950) und landete schließlich in Buenos Aires (Lange 1966: 71), wo er den dortigen Hot Club leitete, der ganz ähnliche Aktivitäten verfolgte wie der Melodie-Club: „meet to compare, discuss, and argue over recorded music“ (Crosby 1953: 23), sich aber vor allem auf älteren Jazz beschränkte (Thiers 1960: 262).

Hans Blüthner haben wir bereits kennengelernt. Als er im Herbst 1934 auf Einladung Adalbert Schalins Mitglied des Melody Clubs wurde, stellte er zum Einstand im Kreis seiner neuen Freunde Jimmie Luncefords Platte „Swingin’Uptown“ vor (Kater 1992: 85; in der Kladde verzeichnet auf Seite 33). Blüthner ging ganz selbstbewusst mit seiner Jazzliebe um. Er hatte den britischen Melody Maker abonniert und las diese Zeitung in der U-Bahn – Englisch konnte da ja sonst eh kaum einer lesen. Nazis, erklärt er, habe es in den Jazzkreisen nicht gegeben: „Das ist so eine Regel, möcht‘ ich sagen, wer sich für Jazz interessiert, kann kein Nazi sein.“ (Polster 1989: 34)

Carlo Boger (1911-1943) war als Bühnenbildner, Schauspieler, Zeichner und Cartoonist aktiv in Weimar, Wien (1928), Stuttgart (1929), Leipzig (1932-33) und Berlin. In Leipzig war er im Kammerspiel von Bruno Tuerschmann als Bühnenbildner und Schauspieler tätig gewesen, im März/April 1933 außerdem im Literarischen Kabarett Litfaßsäule aufgetreten (https://www.buchprojekt1.de/produkt/c-boger-1911-1943-das-mistvieh-n-2-karikatur-um-1930-tusche-figuerlich/). Michael Kater beschreibt ihn als „Alkoholiker, Autor von Kurzgeschichten, Grafiker, Liebhaber von Literatur und Theater“ (Kater 1992: 97). 1933 heiratete Boger Else Eichler, eine zwölf Jahre ältere Schriftstellerin und Publizistin für Frauenfragen. Bogers Grafiken hatten oft den Jazz zum, von 1936 etwa datiert ein Porträt der Sängerin und Trompeterin Valaida Snow (https://www.pinterest.at/pin/400187116881463220/). Boger galt nach dem Krieg als vermisst, Kater erklärt, er sei an der Front gestorben (Kater 1992: 97).

Robert Kornfilt [Bob Cornfield] war ein enger Freund Blüthners. Er stammte ursprünglich aus der Türkei [Kater 1992: 75]. Horst H. Lange schreibt in seiner Jazzgeschichte Deutschlands, Kornfilt habe die Gründung dieses „erste[n] bedeutende[n] deutsche[n] Jazzclubs […] bereits im Jahre 1932“ angeregt (Lange 1966: 69), bevor dieser dann „mit Hilfe des rührigen Alberti-Musikhaus-Prokuristen, Adalbert Schalin, regelrecht gegründet“ wurde (Lange 1966: 69-70). Kornfilt war Amateur-Arrangeur, gut genug immerhin, dass der populäre Bandleader Erhard Bauschke eines seiner Arrangements ins Repertoire aufnahm (Kater 1992: 89). Nach dem Krieg kehrte er in die Türkei zurück.

Gittermann: Zu diesem Namen konnten wir leider nichts herausfinden.

Sigmund Petruschka (1903-1997) war Trompeter und Arrangeur. Gebürtig in Leipzig hatte er als Kind Klavier- und Cellounterricht erhalten und im Gewandhaus-Chor unter Arthur Nikisch gesungen. 1923 zog er zum Studium des Maschinenbaus nach Berlin, besuchte daneben das Stern’sche Konservatorium, wo er Trompeten- und Kontrabassunterricht nahm (https://www.nli.org.il/en/a-topic/987007266398905171). Zusammen mit Kurt Kaiser war er Mitgründer der Band Sid Kay’s Fellows, in der unter anderem Friedrich Holländer als Pianist und Arrangeur wirkte. In den 1930er Jahren schrieb Petruschka unter Pseudonymen für die Deutsche Gramophone Gesellschaft, für UFA-Filme, aber auch für populäre Bands wie die von James Kok (Lange 1966: 52). 1938 emigrierte er nach Palästina (Kater 1992: 39-40) und leitete bald das Orchester des Palestine Broadcasting Service. Petruschka starb 1997 in Jerusalem. Er wird in Blüthners Kladde nur zwei Mal erwähnt: offenbar war er großer Fan des Casa Loma Orchestra, dessen Platten „Ol’Man River“ / „I Got Rhythm“ sowie „Dallas Blues“ / „Limehouse Blues“ er besaß.

Es ist gut möglich, dass sich hinter „Pfrötschner“ der Autor Gerhard E. Pfrötzschner verbirgt, der in den 1930er Jahren als Deutschland-Redakteur des Londoner Melody Maker und des British Metronome schrieb. Als „Rasender Reporter“ berichtete Pfrötzschner seit den Mitt-1930er Jahren für die Zeitschrift Der Artist von der Berliner Jazzszene und schrieb Plattenrezensionen. Vom September 1934 verfasste er den Artikel: „Wie steht der deutsche Musiker zur Jazzmusik? Bedeutet nicht Verwerfen derselben Arbeitslosigkeit?“ (vgl. Jockwer 2004: 298). 1935 besuchte Prötschner Konzerte des britischen Bandleaders Jack Hylton in Berlin (Jockwer 2004: 300). Über Pfrötschners Verbleib nach dem Krieg ist nichts bekannt.

Robert: Zu diesem Namen konnten wir leider nichts herausfinden.

Dieter Sternberg: Zu diesem Namen konnten wir leider nichts herausfinden. Den Vornamen entnahmen wir der Beschriftung des ganz unten abgebildeten Fotos.

Günter von Drenkmann, genannt „Bobby“ (1910-1974) entstammte einer Juristenfamilie und studierte auch selbst Rechtswissenschaften. Er wollte Richter werden, hatte aber in den 1930er Jahren keine Chance, weil er sich weigerte irgendeiner NS-Organisation beizutreten (Schmid 2010). Nach dem Krieg allerdings machte Drenkmann schnell Karriere, als Richter beim Landgericht, dann Landgerichtsrat, dann Kammergerichtsrat, schließlich ab 1967 Präsident des Kammergerichts Berlin. Hans Blüthner schrieb aus Anlass der Ernennung zum letzten Karriereschritt im Januar 1967 an Drenkmann: „Im stillen muß ich – unter uns gesagt – immer daran denken, daß wir mal vor ca. 30 Jahren meinten, alle höheren einflußreichen Posten müßten Leute mit ein wenig Hang und Liebe zu unserem gemeinsamen Hobby bekleiden! Nun, Du hast es realisiert und geschafft.“ (Blüthner 1967) Am 10. November wurde Drenkmann von Terroristen der Bewegung 2. Juni bei einem Entführungsversuch ermordet.

Jakob Franz Wolff, genannt „Franny“ (1907-1971) machte in Berlin eine Fotografenlehre. 1925 hatte er zusammen mit seinem Freund Alfred Löw die Band des Pianisten Sam Wooding im Admiralspalast gesehen, danach war er lebenslanger Jazzfan. Löw war bereits 1936 nach New York ausgewandert, Wolff folgte ihm zwei Jahre später auf einem der letzten Passagierdampfer, die aus Nazideutschland in Richtung des Big Apple verlassen konnten. Danach schrieben die beiden Geschichte, gründeten das Plattenlabel Blue Note, das erst traditionellen Jazz und Boogie-Boogie, bald aber auch die jungen moderneren Musiker des Jazz aufnahm und seit den 1950er Jahren stilbildende Platten herausbrachte. Löw, der sich in den USA Alfred Lion nannte, war der Geschäftsmann unter ihnen, und Wolff, der jetzt als Francis Wolff firmierte, ebenbürtiger Partner. Beide nahmen die Musiker, die für sie aufnahmen, als Künstler ernst, vergüteten ihnen sogar die Probezeiten (bislang völlig unüblich in dieser Musik), und Wolff machte sich außerdem einen Namen als meisterhafter Fotograf, dessen Bilder geradezu ikonisch wurden, nicht nur, aber auch, weil sie die Platten des eigenen Labels schmückten.

Die Kladde stammt, wie wir unten sehen werden, aus dem Jahr 1936. Jazzfreunde, die danach zum Kreis des Melody Club bzw. der Magischen Note wurden,  finden sich hier deshalb nicht. Blüthner erwähnt sie in seinen Erinnerungen aus dem Jahr 1947: Zur Olympiade 1936 etwa verzeichnet er Besuche von Gästen wie dem amerikanischen Posaunisten Herb Fleming, dem Frankfurter Saxophonisten Eugen Henkel, dem Pianisten Fritz Schulz-Reichel, von Dietrich Schulz-Köhn, aber auch von Duncan McLougald, einem „Freund von Benny Goodman und Helen Ward“.

Ab 1938 traf man sich privat, meist bei Blüthner selbst, und als häufige Gäste nennt er Gerd Pick, Folke Johnson aus Schweden, den belgischen Pianisten Coco Collignon, Varvavar Varasiri aus Siam. „Fräulein Thieme und Herr von Drenkmann“, schreibt er, seien 1947 aus dem Kreis der „Alten“, also von vor 1936 übrig. Ein „Herr Edelscharf“ sei 1938 dazu gekommen. Und dann erwähnt er noch, was aus den anderen Mitgliedern geworden sei: „Es ist sehr bedauerlich, daß die Atmosphäre des alten ‚Hot-Kreises‘ nie wieder wird, zumal fast alle damaligen Mitglieder von Wichtigkeit Berlin den Rücken gekehrt haben. Franz Wolff ist Anfang des Krieges nach New York gegangen, Heinz Auerbach ging nach Süd-Amerika, Bob Cornfield ging in die Türkei zurück, Gerd Pick ist in Frankfurt, Olaf Hudtwalcker in Mannheim, Hans Friedemann in Luckenwalde,  Vasiri in Washington, Wilfried von Weselstedt und Hans Horseck sind an der Ostfront gefallen, Carlo Boger gilt als vermißt, Egon Wilrich fiel einem Fliegerangriff zum Opfer. Es bleibt nur noch zu hoffen, daß der eine oder andere aus der Gefangenschaft nach Berlin zurückfindet.“ (Blüthner 1947)

Ab 1945 gründete Blüthner zusammen mit alten und neuen Freunden den Hot-Club Berlin der sein erstes Treffen am 27. Oktober 1945 hatte (Blüthner 1947).

Die Musik

Die Kladde also enthält eine Auflistung der Platten im Besitz der Melody Club-Mitglieder. Aufgelistet werden sie nach den Bandleadern, darunter jeweils zwei Titel pro Platte, dahinter die Besitzer; mal einer, mal mehrere. Der Compiler (also Blüthner) ließ so viel Platz, wie er meinte, das die jeweiligen Bands benötigten, für bekannte und populäre Bands also mehr als für weniger bekannte. Gleich auf der ersten Seite gibt es schon einen der Hits, der nämlich gleich bei sechs der Mitglieder vorhanden ist: Duke Ellingtons „Tiger Rag I u. II“ (Wolff, Sternberg, Cornfield, Robert, Blüthner, Boger). Blüthner verzeichnet einzig die Titel auf den Platten, keine weiteren diskographischen Details, etwa Label oder Plattennummern. Er gruppiert die jeweils zwei Titel einer Schellackplatte mit geschweiften Klammern. Und wenn auf einer Platte mal Titel von unterschiedlichen Bands veröffentlicht wurden, verzeichnet er sie zweimal, nämlich unter den Namen der jeweiligen Bandleader, aber mit einem Verweis auf die jeweilige Rückseite.

Konkret, und alphabetisch geordnet nach den Bandnamen:

  • Henry Red Allen: 5 Platten
  • Pauline Alpert: 1 Platte
  • Bert Ambrose: 15 Platten
  • Louis Armstrong:  31 Platten.
  • Gus Arnheim: 1 Platte
  • Artiphon Orchester: 1 Platte
  • Harry Ascher: 1 Platte
  • DeFord Bailey: 1 Platte
  • Balalaika Orchester: 1 Platte
  • Billy Barton: 1 Platte
  • Bix Beiderbecke: 4 Platten
  • Benson Orchestra of Chicago: 1 Platte
  • Ben Bernie: 5 Platten
  • Bluejeans: 1 Platte
  • Boswell Sisters: 15 Platten
  • Arthur Briggs mit seinen Savoy Syncopators: 1 Platte
  • Buddy’s Brigade: 1 Platte
  • Hans Bund: 1 Platte
  • Rev. J.B. Burnett: 1 Platte
  • Cab Calloway: 12 Platten
  • Francisco Camaro: 2 Platten
  • Benny Carter: 4 Platten
  • Casa Loma Orchestra: 21 Platten
  • Castlewood Marimba Band: 1 Platte
  • Cellar Boys: 1 Platte
  • The Charleston Chasers: 1 Platte
  • Chicago Feetwarmers: 1 Platte
  • Chocolate Dandies: 7 Platten
  • Junie Cobb: 1 Platte
  • Oliver Cobb: 1 Platte
  • Eddie Condon: 2 Platten
  • Coon-Sanders Orchestra: 3 Platten
  • Charles Creath’s Jazz O’Maniacs: 1 Platte
  • Zez Confrey: 1 Platte
  • The Cotton Pickers: 3 Platten
  • Julio de Caro: 2 Platten
  • The Decca Dance Band: 1 Platte
  • Dickson’s Harlem Orchestra: 1 Platte
  • Dixie Rhythm Kings: 2 Platten
  • Vance Dixon: 1 Platte
  • Johnny Dodds: 2 Platten
  • Dorsey Brothers: 1 Platte
  • Duke Ellington: 91 Platten
  • Reginald Foresythe: 1 Platte
  • Caroll Ginnons: 3 Platten
  • Lud Gluskin: 2 Platten
  • Benny Goodman: 1 Platte
  • Stéphane Grappelli: 2 Platten
  • Henry Hall: 1 Platte
  • Coleman Hawkins: 3 Platten
  • Fletcher Henderson: 26 Platten
  • Horace Henderson: 1 Platte
  • Earl Hines: 9 Platten
  • Sol Hoopie: 1 Platte
  • Claude Hopkins: 2 Platten
  • Brigitte Horney: 1 Platte
  • Spike Hughes: 11 Platten
  • Jack Hylton: 4 Platten
  • Isham Jones: 1 Platte
  • Jack Jones: 2 Platten
  • Oskar Joost: 1 Platte
  • Greta Keller: 1 Platte
  • Eddie Lang: 1 Platte
  • Layton & Johnstone: 1 Platte
  • Ted Lewis: 2 Platten
  • Guy Lombardo: 1 Platte
  • Jimmie Lunceford: 10 Platten
  • Cecil Mack: 1 Platte
  • Wingy Manone: 1 Platte
  • Clyde McCoy: 1 Platte
  • McKinney’s Cotton Pickers: 5 Platten
  • Mills Blue Rhythm Band: 5 Platten
  • Mills Brothers: 3 Platten
  • Emmett Miller and his Georgia Crackers: 1 Platte
  • Irving Mills & His Hotsy Totsy Gang: 5 Platten
  • Borrah Minevitch: 1 Platte
  • Miff Mole: 1 Platte
  • Jelly Roll Morton: 11 Platten
  • Bennie Moten: 29 Platten
  • New Orleans Rhythm Kings: 1 Platte
  • Red Nichols: 10 Platten
  • Ray Noble: 2 Platten
  • King Oliver: 10 Platten
  • Raymond Parige: 1 Platte
  • Jack Payne: 2 Platten
  • Louis Prima: 1 Platte
  • Don Redman: 5 Platten
  • Leo Reisman: 1 Platte
  • Harry Roy: 4 Platten
  • Valaida Snow: 1 Platte
  • Lew Stone: 2 Platten
  • Joe Venuti: 5 Platten
  • Fats Waller: 4 Platten
  • Washboard Rhythm Band: 1 Platte
  • Washboard Rhythm Boys: 2 Platten
  • Washboard Rhythm Kings: 1 Platte
  • Washboard Serenaders: 3 Platten
  • Chick Webb: 1 Platte
  • Paul Whiteman: 2 Platten
  • Jay Wilbur: 1 Platte
  • Sam Wooding: 6 Platten

Und noch ein paar Besonderheiten: Franz Wolff ist hier der offenbar der begeistertste Sammler Duke Ellingtons (und anderer vorrangig afro-amerikanischer Künstler, zum Beispiel auch King Oliver). Die drei Platten von Coleman Hawkins stammen alle aus dem Jahr 1933, also vor seinem langen Europaaufenthalt, und natürlich fehlt „Body and Soul“, einfach, weil er es offenbar noch gar nicht eingespielt hatte, als Blüthner die Kladde erstellte. Die sechs Platten Sam Woodings stammen alle aus seiner europäischen Periode, wurden zwischen 1925 und 1929 in Berlin, Paris und Barcelona aufgenommen. Von Benny Goodman ist nur eine Aufnahme dabei. Carlo Boger hatte eine Vorliebe für Red Nichols und Spike Hughes, wie Blüthner sich erinnerte (Polster 1989: 33), was auch an seinem Plattenbestand zu ersehen ist: Von zehn Red Nichols-Platten besaß er acht, außerdem alle elf Spike Hughes-Platten. Zu den Exoten der Liste zählt insbesondere Sol Hoopii, ein Vertreter von Hawai-Gitarren-Musik, der mit zwei Aufnahmen verzeichnet ist („Farewell Blues“, „Stack O’Lee Blues“), die sich zumindest in den üblichen Jazzdiskographien nicht finden lassen.

Nach dem Eintrag über Emmett Miller and his Georgia Crackers folgt ein deutlicher Hinweis auf die Datierung der Kladde: „Samstag, 1. März 1936“. Auf den Seiten 71-75 scheint Blüthner detaillierte Notizen über Musik gemacht zu haben, die er im März und April des Jahres im Radio gehört hatte. BBC? Wir wissen es nicht.

Es war, kann man nach Durchsicht der Kladde feststellen eine Sammlung, die sich sehen lassen konnte. Vor allem afro-amerikanischer Jazz, daneben einige britische Bandleader und relativ wenige deutsche Bands. Man kann sich vorstellen, wenn man Blüthners Veröffentlichungen nach dem Krieg liest, die zum Beispiel an die Mitglieder des Hot Clubs Berlin gingen, wie sich sein Geschmack entlang dieser Aufnahmen gebildet hat.

Und dann erinnere ich mich wieder an meinen letzten Besuch bei ihm, bei dem er irgendwann eine CD einlegte, Jimmie Lunceford, sofern ich mich richtig erinnere. Er wusste nach wie vor alles über diese Musik. „Mein Kopf ist klar, nur der Körper macht nicht mit“, klagte er. Hans Blüthner hat nicht mehr erfahren, dass Teile seiner Papiere schließlich auf Umwegen doch im Jazzinstitut Darmstadt landen sollten. Aber ich bin mir sicher, es hätte ihn gefreut. (Foto: Hans Blüthner, Dieter Sternberg und Egon Wilrich, ca. 1936)

Blüthners Kladde, die einen kleinen Einblick in die Berliner Jazzszene der 1930er Jahre erlaubt und in die Gewissenhaftigkeit, mit der junge Jazzfans in dieser Zeit sich allen Widrigkeiten zum Trotz mit der Musik befassten, war bereits in mehreren Ausstellungen zu sehen, darunter einer mit Fotos von Francis Wolff für das Blue Note-Label im Jüdischen Museum Berlin.

Wolfram Knauer (18. Dezember 2023)


Zitierte Quellen:

Blüthner 1947: Hans Blüthner: Die Berliner Hotfreunde, 17. Januar 1947 (Manuskript im Jazzinstitut Darmstadt)

Blüthner 1950: Hans Blüthner: Berlin und Jazz, 22. September 1950 (Manuskript im Jazzinstitut Darmstadt)

Blüthjner 1967: Hans Blüthner: Brief an Günter von Drenkmann, 23. Januar 1967 (Briefkopie im Jazzinstitut Darmstadt)

Blüthner 1981: Hans Blüthner: Brief an Hans Berry, 14. Juli 1981 (Briefkopie im Jazzinstitut Darmstadt)

Crosby 1953: Barney Crosby. Foreign Extraction, in: Theme, 1/3 (Oktober 1953): 23

Jockwer 2004: Axel Jockwer: Unterhaltungsmusik im Dritten Reich, Konstanz 2004 (PhD thesis: Universität Konstanz)

Lange 1966: Horst H. Lange: Jazz in Deutschland. Die deutsche Jazz-Chronik, 1900-1960, Berlin 1966 (Colloquium Verlag)

Kater 1992: Michael H. Kater: Different Drummers. Jazz in the Culture of Nazi Germany, New York 1992 (Oxford University Press)

Polster 1989: Bernd Polster: Swing Heil. Jazz im Nationalsozialismus, Berlin 1989 (Transit Buchverlag)

Schmid 2010: Thomas Schmid: Ein vergessenes Verbrechen. Der Berliner Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann war das erste Opfer des Linksterrorismus in der Geschichte der Bundesrepublik. In dieser Woche wäre er 100 Jahre alt geworden. Rückblick auf ein deutsches Leben, in: Die Welt, 13. November 2010 <https://www.welt.de/print/die_welt/vermischtes/article10904029/Ein-vergessenes-Verbrechen.html>

Thiers 1960: Walter Thiers: Argentinien liebt Hot Jazz, in: Jazz Podium, 9/12 (Dec.1960): 262-263