Neue Bücher 2003New Books 2003

Horst Ansin & Marc Dröscher & Jürgen Foth & Gerhard Klußmeier (eds.):
Anglo-German Swing Club. Als der Swing zurück nach Hamburg kam… Dokumente 1945-1952
Hamburg 2003 (Dölling und Galitz Verlag)
532 Seiten, viele SW-Reproduktionen, 39.80 Euro
ISBN: 3-935549-36-9

Deutsche Jazzgeschichte begann zwar bereits in den 1920er Jahren, die Nazizeit aber sorgte dafür, dass eine intensive ernsthafte Beschäftigung mit dieser Musik erst in der Nachkriegszeit stattfinden konnte. Überall in Deutschland gründeten sich Hot Clubs, Kreise von Jazzfreunden, Plattensammlern, Musikern. Sie trafen sich, um gemeinsam die neu erstandenen Raritäten aus Amerika zu hören, Informationen auszutauschen, Vorträgen über einzelne Musiker oder Stile zu lauschen, Jam Sessions oder Konzerte zu organisieren. Ein besonders aktiver Club war der Anglo-German Swing Club in Hamburg, gegründet von britischen Jazzfreunden und angeschlossen an den britischen Soldatensender BFN, der sein Studio in Räumlichkeiten der Hamburger Musikhalle hatte. Die Besonderheit dieses Clubs ist es, dass zu den Mitgliedern sowohl britische Soldaten (also die Besatzer in der britischen Zone, zu der Hamburg gehörte) als auch deutsche Jazzfreunde waren. Von 1949 bis 1951 gab der Anglo German Swing Club eine eigene Clubzeitschrift heraus. Das News Sheet, zweisprachig in englisch und deutsch gehalten, informierte über das Jazzleben in der Welt und in Hamburg, über neue Platten, ästhetische Streits zwischen Modernisten und Traditionalisten, über Konzerte des Anglo German Swing Club und bedeutsame Konzerte wie jenes, das Duke Ellington im Mai 1950 in der Hamburger Musikhalle gab. Der AGSC war auch mit anderen Hot Clubs Deutschlands in Kontakt. 1950 rief er mehrfach zu einem Zusammenschluss deutscher Hot Clubs auf, zu einer Deutschen Jazz Föderation. Als dieser Vorschlag von Vertretern der deutschen Hot Clubs dann im Mai 1950 in Düsseldorf diskutiert wird, kommt es auch gleich zum Bruch zwischen der neuen DJF und dem AGSC: Die Hamburger schlagen den Briten Neville A. Powley als Präsidenten vor und wollen, das der Stationsdirektor des BFN Leslie Perowne das „Protektorat“ der Föderation übernimmt. Die Arbeitsgemeinschaft der westdeutschen Hot Clubs aber wollen zum einen einen loseren Verband, sich zum zweiten nicht der von ihnen so empfundenen „Reeducation“-Maßnahme der Briten unterwerfen. Dokumente dieses Bruchs gibt es in Artikeln, Briefen und Gegendarstellungen in den Reproduktionen der News Sheets, die Horst Ansion, Marc Dröscher und andere in diesem umfangreichen Buch vorgelegt haben. Beim Blättern gerät man unwillkürlich in die Zeit selbst, lernt über Organisationsprobleme der Zeit, über ästhetische Ansichten, über das Sich-Annähern der ehemaligen Kriegsgegner, die die Liebe zum Jazz eint. Ein kenntnisreiches Vorwort von Marc Gerrit Dröscher und eine historische Einordnung von Bernd Hoffmann runden das Bild ab. Das Buch schließt eine Lücke in der Dokumentation deutscher Jazzgeschichte, bietet schwer zugängliches Quellenmaterial, dokumentiert ein Stück spannender, aufschlussreicher Kulturgeschichte Deutschlands und lässt auch für den Jazzfreund Geschichte lebendig werden, der diese Zeit nur aus Erzählungen kennt.

(Wolfram Knauer)


 

Jazz in Österreich 1920-1960
Eine Bildchronik von Klaus Schulz
mit Hörbeispielen auf CD
132 Seiten, 100 Abbildungen, 35 Euro
Wien 2003
Album Verlag für Photographie
ISBN: 3-85164-136-1

Die Rezeption des Jazz in Europa ist ein spannendes Thema: Von kruder Nachahmung bis zu relativ eigenständiger Kreativität, von Faszination mit dem Fremden bis zur Selbstverständlichkeit – jedes europäische Land hat seine eigene Geschichte der Aneignung der afro-amerikanischen Musik. Klaus Schulz ist ausgewiesener Kenner der österreichischen Jazzgeschichte, sein Buch zur selbigen eine lang-erwartete und hoch willkommene Dokumentation. Schulz beleuchtet die Geschichte des Jazz im Alpenland zwischen den frühen 1920er Jahren bis Anfang der 1960er Jahre, ist damit ein rein historisch ausgerichtetes Buch. Viele weitgehend bislang unveröffentlichte Fotos von österreichischen Musikern und Bands, Spielorten, aber auch von durchreisenden amerikanischen Musikern erzählen eine spannende Geschichte. Schulz’s Buch aber ist mehr als eine bloße „Bild“-Chronik, sein Text nämlich mindestens ebenso wichtig wie die fotografischen Dokumente. Er berichtet von durchreisenden Showtruppen, von der musikalischen Salon- und Unterhaltungskultur des K&K-Österreichs, der Rezeption von Modetänzen und Schlagern, der Reaktion aus dem bürgerlichen genauso wie aus dem künstlerischen Lager. Arthur Briggs trat 1925 in der Weihburg Bar in Wiens Innenstadt auf. Im selben Jahr spielten die Chocolate Kiddies mit Sam Woodings Orchester in Wien – Wooding sollte 1928 und 1930 weitere Mal in der Stadt gastieren. Auch Paul Whiteman machte auf seiner Europatournee 1926 in Wien Station. Die 1930er Jahre waren für Österreich nicht weniger jazz-arm als für Deutschland: Die politische Annäherung ans Nazireich und der Anschluss im März 1938 machten jazzmusikalische Aktivitäten zumindest schwerer, Amerikaner und jüdische Musiker verließen das Land, so sie denn konnten. Wie in Deutschland gab es aber auch in Österreich nach wie vor eine Untergrund-Jazzszene, gab es „Swingheinis“, die hier als „Schlurf“ bezeichnet wurden, Fans amerikanischer Tanzmusik, deren Enthusiasmus eher einer Mode als musikalischem Expertentum zu verdanken war. Mit Kriegsende und Befreiung lebte die Jazzszene vor allem der großen Städte wieder auf, machten auch amerikanische Tourneen an der Donau Station, konnten sich österreichische Musiker frei weiter entwickeln. Der bedeutendste dieser Musiker war natürlich Hans Koller, dem im Buch gebührend Respekt gezollt wird. Wenn der deutsche Jazz der 1950er Jahre im englischen Melody Maker als „Jazz in Kollerland“ apostrophiert wurde, so nahm Österreich dieses Lob gern auch für sich in Anspruch. Koller war 1950 nach Deutschland übersiedelt, wirkte erst in München, dann in Frankfurt, Baden-Baden, später in Hamburg. Er kehrte erst 1970 wieder in seine Heimat zurück. Neben Wien war vor allem Graz das Zentrum des Jazz in Österreich. Friedrich Gulda behauptete gar einmal: „Wenn es um den Jazz geht, dann ist Wien bestenfalls ein Vorort von Graz.“ Die lebendige Szene der Stadt jedenfalls, die Schulz beschreibt, macht klar, dass es keinesfalls ein Zufall ist, dass Graz später zur Heimat des bedeutenden Instituts für Jazzforschung wurde. In den Fotos des Buchs wird bekannten und unbekannten Musikern gleichfalls ein Denkmal gesetzt; Koller, Gulda, Fatty George, Erich Kleinschuster, Joe Zawinul und vielen anderen. Eine Zeittafel zur Jazzgeschichte in Österreich listet die wichtigsten Daten zwischen 1896 und 1969, auf einen gerade in einem solchen Buch überaus nützlichen Personenindex hat der Verlag leider verzichtet. Dafür findet sich im Einband eine CD mit 26 überaus seltenen Aufnahmen aus den Jahren zwischen 1920 und 1954, Aufnahmen mit österreichischen band genauso wie mit durchreisenden amerikanischen Künstlern, Arthur Briggs, Sam Wooding oder Eddie South etwa. Die Fotos sind in sehr guter Qualität abgedruckt, und das Buch damit nicht nur für Spezialisten ein spannendes Dokument.

(Wolfram Knauer)


 

jazz in time
Fotos von Sebastian Berger, Christian Grayer, Gerhard Löser, Christian Pacher, Roland Schiebel, Christian Wurm
Kiel 2003
Nieswand Verlag
ISBN: 3-89567-021-9

Fotos dokumentieren Menschen. Jazzfotos dokumentieren Jazzmusiker. Jazzfotos aber dokumentieren meist noch mehr: Die Spannung nämlich, die in und aus der Musik heraus spricht, die Inspiration vielleicht, in der den Musikern ihre Ideen kommen, in denen sie realisiert werden, jenernMoment, in dem die Musik geschieht, vom Publikum gehört wird. Was fehlt den Fotos? Natürlich der Klang, die Musik selbst. Sie können höchstens den Augenblick des Schaffensprozesses einfangen, nicht die Musik selbst. Fotos von Menschen können Kunstwerke sein, Fotos von Jazzmusikern können auf ganz verschiedenen Ebenen gelesen werden: Als Zeitdokumente bekannter Künstler, als sehr persönliche Dokumente zum Beispiel eines Liveerlebnisses, bei dem die Betrachter selbst dabei waren, als künstlerische Abbilde von Menschen, als Fotokompositionen verschiedener Perspektive, Bildausschnitte, usw. Bei den Ingolstädter Jazztagen stehen – wie oft bei Festivals – etliche Fotografen am Bühnenrand, um ihre Eindrücke der Konzerte festzuhalten. Sechs von ihnen sind in dem vorliegenden Buch dokumentiert. Die Jazztage unterstützten ihre Arbeit von Anbeginn an, schmückten sich mit Ausstellungen früherer Festivals und jetzt mit der Buchdokumentation im für seine exzellenten Fotobände bekannten Nieswand-Verlag. Die Fotos stammen aus den Jahren 1990 bis 2003, zeigen großteils Portraits, am Instrument, In Aktion, beim Innehalten, beim Zuhören. Miles Davis wischt sich den Schweiß von der Stirn, man sieht nur das Weiße in seinen Augen, er wirkt ein wenig wie ein Alien; Aki Takase greift genau zielend in die Tasten; Rico McClarin schaut dirigierend hinter seinem Schlagzeug hervor; Cassandra Wilson schnippt mit den Fingern; Dean Brown erlebt emotionale Höhepunkte beim Gitarrespiel; Branford Marsalis horcht in sich hinein… Neben den amerikanischen Heroen sind auch deutsche und europäische Musiker abgelichtet, Till Brönner beispielsweise oder die Band Old Friends. Ein Buch zum Blättern, schwarz-weiß, aufs Bild reduziert. Die Musik – sie bleibt dem Ohr vorbehalten, die Atmosphäre: Hier kann man sie sich vergegenwärtigen… selbst wenn man nicht dabei war in Ingolstadt – denn das Erlebnis des Konzerts hatte schließlich jeder, der für Jazz schwärmt, eh schon mal.

(Wolfram Knauer)


 

Bielefelder Katalog Jazz 2003
Redaktion: Manfred Scheffner
Stuttgart 2003 (Vereinigte Motor-Verlage)
779 Seiten
ISBN: 3-89113-137-2
Preis: 24,50 Euro (inklusive CD-ROM)

Der „Bielefelder Jazz Katalog“ ist Tradition: Jedes Jahr im Frühjahr stellt das dicke, schwere Buch die aktuell auf dem CD-Markt erhältlichen Jazzproduktionen vor, ausführlich mit Besetzungs- und Aufnahmedaten, mit genauer Plattentitelung, Label und Labelnummer. Eigentlich ist der Katalog eine Hilfereichung für die CD-Fachläden, die anhand dieser Auflistung Produktionen bestellen können, die ihre Kunden beraten, ihnen sagen können, wo sich spezielle Aufnahmen finden lassen. Aber auch für jeden Jazzsammler ist der Bielefelder ein hilfreiches Nachschlagewerk, insbesondere, wenn er mehrere Jahrgänge des seit 1962 erscheinenden Katalogs besitzt. Der Personenindex erlaubt einen schnellen Überblick, auf welchen CDs einzelne Künstler vertreten sind, noch wertvoller ist der Stückeindex, in dem man verschiedene Versionen einzelner Titel finden kann. Im Bielefelder Katalog sind die meisten Labels vertreten. Der Katalog ist allerdings keine komplette Diskographie, sondern wirklich nur ein Überblick über die augenblickliche CD-Produktion. Neben den Major Labels finden sich viele kleine Labels, einige namhafte Labels aber sind auch nicht vertreten – hier klagt Herausgeber Scheffner zum wiederholten male über mangelnde Bereitschaft einiger Firmen, sich an der Aktualisierung ihrer Daten für den Bielefelder zu beteiligen. Der Bielefelder Jazz Katalog 2003 erscheint zusammen mit einer CD-ROM, auf der die Informationen auch in elektronischer Form abgefragt werden können.

(Wolfram Knauer)


 

Enzo Cormann:
Mingus, Cuernavaca
Pertuis/Frankreich 2003
Verlag: Rouge Profond, Collecton „Birdland“
56 Seiten, 8 Euro
ISBN: 2-915083-01-0

2003cormannDer 1953 geborene Dramatiker Enzo Cormann gehört zu den angesehensten Stimmen des zeitgenössischen französischen Theaters. In „Mingus, Cuernavaca“ setzt er sich mit den letzten Tagen des Charles Mingus auseinander, der sich, 56-jährig, schwer am Lou-Gehrig-Syndrom erkrankt, im mexikanischen Cuernavaca niederlässt, zum Sterben. Fiktive Szenen sind es, in denen Cormann Mingus in Gespräche mit seiner Krankenschwester verwickelt, über das Leben und den Tod, das Hinübergehen, den Ganges und den indische Totenkult. Mingus‘ Monologe reflektieren über seine Arbeit und seinen dauernden Kampf mit der Musik, mit sich selbst, mit den Kritikern, den Mitmusikern, den Clubbesitzern, der Welt. Er spricht über seine Bands, die Kompositionen, über Rassismus und die Frauen, über Eric Dolphy und Präsident Jimmy Carter, über Liebe, Glaube, Geburt und den kalten Atem des Todes, „The Chill of Death“. Das 1991 von Cormann verfasste Theaterstück ist für (mindestens) einen Schauspieler und einen Musiker gedacht. Es streicht auf lyrische Art und Weise die morbiden Tendenzen des Menschen Charles Mingus heraus, ohne die Stärke zu verleugnen, die in Mingus als Mann wie Musiker genauso vorhanden waren. Cormann macht die Dualität des Charakters deutlich, Kraft und Schmerz, Wut und Aussichtslosigkeit, wie sie sich auch in der Krankheit wiederfinden, an der Mingus letzten Endes starb.

(Wolfram Knauer)


 

Eric A. Dolphy. Die Freiheit der Klänge
Eine Chronik von Reinhardt Wendt
München 2003
Selbstverlag

Eric Dolphy ist einer dieser Musiker, die in einem kurzen Leben so ungemein viel bewirkten. Seine Spielhaltung war die Alternative zu Coleman und Coltrane der frühen 1960er Jahre. Seine Art des motivischen Sezierens, der fast analytischen, und dennoch so leicht klingenden Umspielungen, sein Ton als Saxophonist, Flötist und Bassklarinettist sind noch heute als Einfluss auf junge Musiker zu spüren. Reinholdt Wendt hat in seinem im Selbstverlag erschienenen Buch eine Hommage an den Musiker herausgebracht, die sich vor allem an Dolphy-Freunde wendet. Es ist keine literarisch ambitionierte Biographie, sondern eine Daten- und Quellensammlung mit Zitaten aus unterschiedlichsten Zeitungen und Zeitschriften, Hinweisen auf diskographische Daten, Bandbesetzungen, Gründe für Wandlungen in seiner Lebensplanung und vielem mehr. Wir erfahren von seiner Zeit mit Chico Hamilton, natürlich etliches über Mingus und seine Konzertattitüden, über eigene Bands, Clubabende in New York, Gastspiele in Europa, Third-Stream-Experimente mit John Lewis und dem Orchestra USA. Der Autor Reinhard Wendt ist Sammler und Dolphy-Kenner. Er hält sich mit wertenden Kommentaren zurück, lässt andere über die Musik urteilen, zeitgenössische Kritiker, Musikwissenschaftler, Musikerkollegen. Sein Buch ist kein Case-Book, keine Sammlung von Besprechungen anderer Autoren, sondern, wie der Untertitel besagt, eine Chronik, eine Chronologie von Dolphys Kindheit bis zu seinem Tod, und damit ein würdiges Nachschlagewerk für jeden, der sich über Dolphys musikalische Hinterlassenschaft informieren will.

(Wolfram Knauer)


 

Eddie Harris Sings the Blues
von Peter Tschirky
Dietlikon/Schweiz 2003
446 Seiten
ISBN: 3-9522609-0-8

Peter Tschirkys in Kleinstauflage von 100 Exemplaren erschienenes Buch über den Saxophonisten Eddie Harris ist eine wirkliche „labor of love“, Diskographie und Presseschau. Biographisches erschließt sich beim Blättern, alle diskographischen Angaben sind mit Abbildungen der Originalcover bebildert. Neben eigenen Beiträgen Tschirkys finden sich Artikel aus internationalen Jazzzeitschriften – komplett ins Deutsche übersetzt –, Biographien von Musikern, mit denen Harris zusammengearbeitet hat, und vieles mehr. Was fehlt, sind Indices, mit denen das dicke Buch besser erschließbar wäre. Ansonsten ist Tschirkys Hommage an Eddie Harris gewiss ein Standardwerk für jeden, der sich ernsthaft mit der Musik des Saxophonisten auseinandersetzt.

(Wolfram Knauer)


 

André Hodeir:
Le B-A-Be du Bop
Pertuis/Frankreich 2003
Verlag: Rouge Profond, Collecton „Birdland“
56 Seiten, 8 Euro
ISBN: 2-915083-02-9

2003hodeirAndré Hodeir ist einer der Väter der Jazzwissenschaft. Sein Buch „Hommes et problèmes du jazz“ von 1954 war vielleicht das erste wissenschaftlich angelegte analytische Buch zum Jazz überhaupt. Hodeir ist außerdem Komponist von Third-Stream-Werken, und seine schriftstellerischen Bemühungen gehen über analytische Bücher hinaus auch hinein ins literarische Oeuvre. „Le B-A-Be du Bop“ erschien zuerst Ende der 1980er Jahre in der Zeitschrift „Jazz Magazine“. Es sind seine Reflektionen über die Entstehung des Bebop, mit denen er – mit 50 Jahren Abstand – der Geburt des modernen Jazz ein weiteres Mal nähert. Der Bebop, so Hodeir, sei aus der Jam Session geboren. Hodeir hält dabei durchaus Legenden hoch: die beispielsweise von der Unzufriedenheit der jungen Musiker über ihre Arbeit in den Bigbands, in denen sie eben nicht genügend Raum für ihre Improvisationen gehabt hätten. Sie seien dann etwas gefrustet nach den Tanzveranstaltungen dieser Bigbands in die kleinen Clubs von Harlem gegangen und hätten dort ihren Experimenten frönen können: „le bebop est un enfant de la nuit“. Eine andere Legende, die Hodeir zitiert ist die, dass viele der komplexen harmonischen Umdeutungen von Standards auch zum Ziel gehabt hätten, unerwünschte Einsteiger bei Sessions fernzuhalten. Solche Geschichten sind bunt und besitzen gewiss auch ein Körnchen Wahrheit, aber man würde sich wünschen, Hodeir würde sie nicht so prominent wiederkäuen, da sie sich festsetzen und die Klischee-Geschichte von der Entstehung des Bebop als einer Art Revolte gegen Bigband und weiße Musiker festzurrt anstatt die Evolution aus der harmonischen, rhythmischen und improvisatorischen Entwicklung der Jahre zuvor näher zu beleuchten. Wichtiger sind da schon die Hinweise auf die afro-amerikanische Tradition des Wettstreits, der sich im Sport genauso wie in den Jam Sessions findet (obwohl auch hier zu fragen bliebe, in welchen Verbindungen diese Traditionen mit dem gesamtgesellschaftlichen Klima, oder genauer, mit dem Rassismus in den Vereinigten Staaten steht). Im zweiten Kapitel beschreibt Hodeir die Szene der 52sten Straße, die Auftrittsmöglichkeiten für kleine Bands, die steuerlichen Erschwernisse, die mit zum Niedergang der Bigbandmode führten, den Recording Bann der American Federation of Musicians. Er nennt die beiden herausragenden Namen: Dizzy Gillespie, den harmonischen Experimentator und Erneuerer des Trompetenspiels im Jazz, und Charlie Parker, der aus Kansas City nach New York kam und ein völlig neues Konzept mitbrachte: andere Ideen, ein andere Ton, eine andere Art der Phrasierung, und bald zum Vorbild einer ganzen Generaton von Saxophonisten wurde. Es sei durchaus auch ein glücklicher Zufall im Spiel gewesen, so meint Hodeir, dass Parkers Stil so gut zu Monks und Dizzys harmonischen Einfällen passte, dass sich zu all dem Kenny Clarkes perkussive Neuerungen so hervorragend eigneten. Ein Zufall, der die Musikgeschichte verändern sollte. Im dritten Kapitel geht Hodeir auf musikalische Änderungen ein. Er beschreibt zum einen die Änderung von Hörgewohnheiten, die Tatsache, dass Jazz Mitte der 40er Jahre plötzlich nicht mehr nur Tanz-, sondern auch Hör-, Konzertmusik war. Die Tänzer hatte der Jazz mit dem Aufkommen des Bebop für immer verloren, sie wandten sich nach anfänglicher Neugier dem Mambo zu oder dem Samba, dem Cha-Cha-Cha, bevor sie in den 50er Jahren im Rock ’n‘ Roll eine neue Mode-Tanzmusik fanden. Parker entwickelte in der Hochzeit des Bebop, der zweiten Hälfte der 40er Jahre, einen virtuos-kunstvollen eigenen Stil, Gillespie schuf mit seiner Bigband eine neue Klangästhetik, aber auch ein neues Bigbandrepertoire, sorgte außerdem mit dem Engagement des kubanischen Perkussionisten Chano Pozo für den Beginn des Afro Cuban Jazz-Movement. Sein viertes Kapitel widmet Hodeir Thelonious Monk, dem so unvergleichlichen Komponisten und Pianisten. Seine Beschreibung des Monkschen Klavierspiels zeigt, wie gut Hodeir, der Analytiker, hören kann: in wenigen Worten beschreibt er die Kantigkeit und doch Stringenz melodischern, harmonischer und rhythmischer Entwicklungen in Monks Spiel. Er analysiert „Misterioso“ und beschreibt die Modernität des Pianisten. Im fünften Kapitel geht Hodeir auf das Konzept der Rhythmusgruppe ein und wie es sich von Swing zum Bebop wandelte. Hier führt er die neuen Bebopthemen, die die jungen Musiker über Broadwayschlager schrieben, darauf zurück, dass sie die Tempo und Atmosphäre der Improvisationen der Themenatmosphäre angleichen wollten. Er beschreibt Charlie Parkers Improvisationsmanier – in „Koko“ beispielsweise oder in „Embraceable You“ und setzt sie in Vergleich zu Lester Youngs durchaus nicht minder epochaler Interpretation von „These Foolish Things“. Im letzten Kapitel schließlich beschreibt Hodeir die Gegenreaktion: den Cool Jazz der Four Brothers, Miles Davis‘, die kompositorischen Wege George Russells, Charles Mingus, die Ästhetik des Modern Jazz Quartet, den Weg zum Free Jazz der 60er Jahre. Alles in allem, eine kurze nachdenkenswerte Abhandlung über den Bebop. Man hätte sich stellenweise gewünscht, Hodeir hätte für die Buchpublikation weiter ausgeholt; auch lassen sich viele Dinge in seinen anderen Büchern ausführlicher nachlesen. Und doch zeigt Hodeir, dass zu einem guten Jazzkritiker mehr gehört als ein guter Schreiber: Das Ohr muss man besitzen, den Überblick und das Talent beides mit einer exzellenten Schreibe zusammenzubringen. Und dies gelingt André Hodeir besser als vielen anderen analytischen Autoren.

(Wolfram Knauer)


 

Ekkehard Jost:
Sozialgeschichte des Jazz (Aktualisierte Neuausgabe)
Frabkfurt/Main 2003 (Zweitausendeins)
448 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 3-86150-472-3

Ekkehard Josts „Sozialgeschichte des Jazz“ wurde erstmalig 1982 veröffentlicht. Die jetzt erschienene Neuausgabe enthält erhebliche Ergänzungen, in denen Jost versucht, seine etwas andere Geschichte des Jazz auf den neuesten Stand zu bringen. Josts Buch ist eine Fundgrube für Jazzneulinge genauso wie für Jazzkenner. Hier geht es nicht um Biographien und Anekdoten, sondern um die Hintergründe. Wir erfahren, wie und wieso der Jazz ausgerechnet in new Orleans geboren wurde, wie er in Chicago und New York mehr und mehr zur populären Musik der 20er und 30er Jahre wurde. Wir lesen über die ökonomischen Bedingungen, unter denen der Jazz sich vom Swing der Bigband-Ära zum bebop entwickeltte, über die Hintergründe des Drogenkonsums von Heroen wie Charlie Parker und anderen, über Rassismus und schwarzen Stolz, über Radikalisierung und Politisierung. Und in den neuen Kapitel beschäftigt sich Jost mit Fusion und Europa, mit Neokonservatismus und Neotraditionalismus (mit Wynton Marsalis also), mit den Veränderungen des Marktes zum Ende des 20. Jahrhunderts, mit John Zorn und Steve Colemans M-Base. Das alles in einer überaus kurzweiligen, lesenswerten Form, die Josts Buch zu einem der besten Jazzbücher macht – und aus unserer Kenntnis der Veröffentlichungen im Jazzbereich ergänzen wir: weltweit! Unbedingt empfohlen für jeden, der wissen will, warum der Jazz sich so entwickelte, wie er es tat.

(Wolfram Knauer)


 

Beneath the Underdog. Autobiographie
von Charles Mingus
Hamburg 3/2003 (Edition Nautilus)
320 Seiten
ISBN 3-89401-416-4

Charles Mingus‘ „Beneath the Underdog“ erschien ursprünglich 1971 und stieß sofort auf scharfe Kritik. Zu ausgeschmückt waren die Geschichten, zu scharf die erotischen Phantasien, zu pessimistisch der politische Anspruch, zu zornig der Ton dieses Buches, das nur dem (deutschen) Titel nach sich als Autobiographie gibt. Sicher, Autobiographisches ist der Anlass, wer „Beneath the Underdog“ aber als selbstgeschriebene Lebensgeschichte liest, als rein jazzgeschichtliches Dokument, wird sich schnell aufs Glatteis führen lassen. Mingus nimmt Momente seines Lebens, überhöht sie, gibt ihnen seltsame Wendungen, schmückt sie aus, verliert sich in Geschichten und Dialogen, Reflexionen über den Jazz und den Rassismus in Amerika. Das eigentliche Manuskript war über etliches länger, wurde, so klagte Mingus, gegen seinen Willen kräftig zusammengestrichen, das Ergebnis jedoch ist nach wie vor lesenswert, als ein Dokument der kräftigen Emotionen, die den Bassisten und Komponisten ja auch musikalisch antrieben. „Beneath the Underdog“ ist nicht bloß eine Autobiographie, sondern – zusammen mit Sidney Bechets „Treat It Gentle“ und Duke Ellingtons „Music Is My Mistress“ – eines der besten Beispiele von Jazzmusikern geschriebener afro-amerikanischer Literatur.

(Wolfram Knauer)


 

Politikens Leksikon
herausgegeben von Peter H. Larsen & Thorbjørn Sjøgren
Kopenhagen 2003
Politikens Forlag
409 Seiten
ISBN 87-567-6761-7

Jazzlexika sind die Nachschlagewerke zu Musikern – historisch wichtigen wie aktuell aktiven. Das englischsprachige Standardwerk „New Grove Dictionary of Jazz“ ist der Mercedes unter den Nachschlagewerken, in dessen zweiter Auflage neben den amerikanischen Größen immerhin jede Menge Musiker aus anderen Ländern berücksichtigt sind. Um sich allerdings über nationale Jazzszenen zu verständigen, sind Lexika in den jeweiligen Landessprachen die hilfreichsten Begleiter. Weder im Grove noch in deutschsprachigen Lexika wird man verständlicherweise über Musiker wie Kjeld Lauritsen, Kaspar Vadsholt oder Jeppe Gram erfahren (wahllos herausgesucht), wo Niels-Henning Ørsted Pedersen, Palle Mikkeborg oder Pierre Dørge durchaus Berücksichtigung finden mögen. Peter H. Larsens und Thorbjørn Sjøgrens „Politikens Leksikon“ schafft Abhilfe. Der größte Teil des Buchs ist internationalen, vor allem amerikanischen Musikern gewidmet. Immerhin 65 Seiten aber befassen sich nur mit dänischen Musikerinnen und Musikern, vom amerikanischen Schlagzeuger Emmanuel Abdul-Rahim, der 1977 nach Dänemark kam, bis zum Geiger und Vibraphonisten Finn Ziegler. Sjøgren liefert außerdem eine 25-seitige Jazzgeschichte für Dänemark von 1950 bis 2003 (mit einer knappen Einleitung über die Frühzeit dänischer Jazzgeschichte). Dafür – wie fürs ganze Buch – sollte man etwas Dänisch lesen können, wobei die Biographien dem Jazzkenner sicher auch ohne tiefe Dänischkenntnisse weiterhelfen, da die Lebensläufe sich aus den Namen von Kollegen, Mitmusikern und Jahresdaten leicht erahnen lassen. Nationale Jazzgeschichten wie diese sind eine wichtige Ergänzung zum umfassenderen Bild einer europäischen Jazzgeschichte. Die kritische Auseinandersetzung mit der Aneignung des amerikanischen Jazz und der Emanzipation einer eigenen Szene kann Besonderheiten erklären. In Sjøgrens Reflexionen finden sich vor allem historische Fakten und Zusammenhänge, weniger stilistische Erklärungen. Da sind der Grove oder auch Martin Kunzlers ro-ro-ro-Lexikon anderen Büchern voraus: dass sie sowohl in allgemeinen wie auch in biographischen Artikeln nicht nur auf Lebenslinien, sondern auch auf die Besonderheiten im musikalischen Stil hinweisen.

(Wolfram Knauer)


 

Bob Willoughby:
Frank Sinatra. Fotografien von Bob Willoughby
Berlin 2003 (Schwarzkopf & Schwarzkopf)
208 Seiten, viele Schwarzweiß- und Farbfotos
ISBN: 3-89602-442-6

Der legendäre Hollywood-Fotograf Bob Willoughby war einer der wenigen, dem es gelungen ist, mit seinen Bildern den Charme und das Charisma des geradezu gefährlich coolen Showstars Frank Sinatra, aber auch seine zärtliche, gefühlvolle Seite als Vater und Freund einzufangen. Angefangen mit Fotos von Sinatra am Set des Films „Der Mann mit dem goldenen Arm“ (The Man with the Golden Arm), in dem er einen Jazz-Schlagzeuger verkörperte und dafür auf geheiß des Regiseurs Otto Preminger von Shelly Manne angeleitet wurde, über seine wilde Zeit in Las Vegas mit dem „Rat Pack“ bis hin zu Dreharbeiten von „Ocean’s Eleven“, zeigt dieser wunderbare Bildband Momentaufnahmen von Sinatra und vielen seiner Freunde und Filmpartner, darunter Dean Martin, Sammy Davis Jr., Montgomery Clift, Burt Lancaster, Shirley MacLaine und Judy Garland. In ihrer Gesamtheit geben diese Fotos einen aufschlussreichen Einblick in das Leben und Werk Frank Sinatras während der Glanzjahre seiner Karriere.

(Verlagsmitteilung)


 

Jazzstadt Zürich. Von Louis Armstrong bis Zurich Jazz Orchestra
herausgegeben von Ueli Staub
Zürich 2003 (Verlag Neue Zürcher Zeitung)
169 Seiten, 40 Euro
ISBN: 3-03823-012-X

Die Schweiz hat eine lange und vielschichtige Jazzgeschichte. Nicht wenige Musiker machten das Alpenland schon in den 30er Jahren zu ihrem Domizil. Louis Armstrong spielte im November 1934 in Zürich, Coleman Hawkins gastierte ab Dezember 1935 über längere Zeit in der Schweizer Metropole. Wie anderswo in Europa auch begann der richtige Jazzboom allerdings erst nach dem II. Weltkrieg. Clubs, Festivals belebten das Konzertleben, aber nicht nur amerikanische Gäste waren zu hören, sondern mehr und mehr auch hervorragende Schweizer Jazzmusiker. Eine Ausstellung über die Zürcher Jazzgeschichte ermöglichte diese Dokumentation, die auf knapp 170 hochformatigen Seiten eine Menge seltener Fotos, kurzer Dokumente über das vielfältige Jazzleben Zürichs bringt. Biographien der wichtigsten auf dieser Szene aktiven Musiker – historischer wie aktueller –, Beschreibungen der Clubs, Festivals und Initiativen und jede Menge exzellenter Fotos machen die Dokumentation zum Schmöker, den man durchblättert, um hängenzubleiben, zurückzublättern, bekannte und unbekannte Gesichter zu sehen und zu entdecken. Das Spektrum deckt den gesamten Jazz ab, von traditionellen Dixiebands bis zu experimentellen Avantgardekünstlern. In dieser Bandbreite und in der Lesbarkeit der einzelnen Beiträge ist das Buch nicht nur für die der Zürcher Szene verbundenen Fans interessant sondern ein veritabler Beitrag zur Schweizer Jazzgeschichte.

(Wolfram Knauer)Horst Ansin & Marc Dröscher & Jürgen Foth & Gerhard Klußmeier (eds.):
Anglo-German Swing Club. Als der Swing zurück nach Hamburg kam… Dokumente 1945-1952
Hamburg 2003 (Dölling und Galitz Verlag)
532 Seiten, viele SW-Reproduktionen, 39.80 Euro
ISBN: 3-935549-36-9

Deutsche Jazzgeschichte begann zwar bereits in den 1920er Jahren, die Nazizeit aber sorgte dafür, dass eine intensive ernsthafte Beschäftigung mit dieser Musik erst in der Nachkriegszeit stattfinden konnte. Überall in Deutschland gründeten sich Hot Clubs, Kreise von Jazzfreunden, Plattensammlern, Musikern. Sie trafen sich, um gemeinsam die neu erstandenen Raritäten aus Amerika zu hören, Informationen auszutauschen, Vorträgen über einzelne Musiker oder Stile zu lauschen, Jam Sessions oder Konzerte zu organisieren. Ein besonders aktiver Club war der Anglo-German Swing Club in Hamburg, gegründet von britischen Jazzfreunden und angeschlossen an den britischen Soldatensender BFN, der sein Studio in Räumlichkeiten der Hamburger Musikhalle hatte. Die Besonderheit dieses Clubs ist es, dass zu den Mitgliedern sowohl britische Soldaten (also die Besatzer in der britischen Zone, zu der Hamburg gehörte) als auch deutsche Jazzfreunde waren. Von 1949 bis 1951 gab der Anglo German Swing Club eine eigene Clubzeitschrift heraus. Das News Sheet, zweisprachig in englisch und deutsch gehalten, informierte über das Jazzleben in der Welt und in Hamburg, über neue Platten, ästhetische Streits zwischen Modernisten und Traditionalisten, über Konzerte des Anglo German Swing Club und bedeutsame Konzerte wie jenes, das Duke Ellington im Mai 1950 in der Hamburger Musikhalle gab. Der AGSC war auch mit anderen Hot Clubs Deutschlands in Kontakt. 1950 rief er mehrfach zu einem Zusammenschluss deutscher Hot Clubs auf, zu einer Deutschen Jazz Föderation. Als dieser Vorschlag von Vertretern der deutschen Hot Clubs dann im Mai 1950 in Düsseldorf diskutiert wird, kommt es auch gleich zum Bruch zwischen der neuen DJF und dem AGSC: Die Hamburger schlagen den Briten Neville A. Powley als Präsidenten vor und wollen, das der Stationsdirektor des BFN Leslie Perowne das „Protektorat“ der Föderation übernimmt. Die Arbeitsgemeinschaft der westdeutschen Hot Clubs aber wollen zum einen einen loseren Verband, sich zum zweiten nicht der von ihnen so empfundenen „Reeducation“-Maßnahme der Briten unterwerfen. Dokumente dieses Bruchs gibt es in Artikeln, Briefen und Gegendarstellungen in den Reproduktionen der News Sheets, die Horst Ansion, Marc Dröscher und andere in diesem umfangreichen Buch vorgelegt haben. Beim Blättern gerät man unwillkürlich in die Zeit selbst, lernt über Organisationsprobleme der Zeit, über ästhetische Ansichten, über das Sich-Annähern der ehemaligen Kriegsgegner, die die Liebe zum Jazz eint. Ein kenntnisreiches Vorwort von Marc Gerrit Dröscher und eine historische Einordnung von Bernd Hoffmann runden das Bild ab. Das Buch schließt eine Lücke in der Dokumentation deutscher Jazzgeschichte, bietet schwer zugängliches Quellenmaterial, dokumentiert ein Stück spannender, aufschlussreicher Kulturgeschichte Deutschlands und lässt auch für den Jazzfreund Geschichte lebendig werden, der diese Zeit nur aus Erzählungen kennt.

(Wolfram Knauer)


 

Jazz in Österreich 1920-1960
Eine Bildchronik von Klaus Schulz
mit Hörbeispielen auf CD
132 Seiten, 100 Abbildungen, 35 Euro
Wien 2003
Album Verlag für Photographie
ISBN: 3-85164-136-1

Die Rezeption des Jazz in Europa ist ein spannendes Thema: Von kruder Nachahmung bis zu relativ eigenständiger Kreativität, von Faszination mit dem Fremden bis zur Selbstverständlichkeit – jedes europäische Land hat seine eigene Geschichte der Aneignung der afro-amerikanischen Musik. Klaus Schulz ist ausgewiesener Kenner der österreichischen Jazzgeschichte, sein Buch zur selbigen eine lang-erwartete und hoch willkommene Dokumentation. Schulz beleuchtet die Geschichte des Jazz im Alpenland zwischen den frühen 1920er Jahren bis Anfang der 1960er Jahre, ist damit ein rein historisch ausgerichtetes Buch. Viele weitgehend bislang unveröffentlichte Fotos von österreichischen Musikern und Bands, Spielorten, aber auch von durchreisenden amerikanischen Musikern erzählen eine spannende Geschichte. Schulz’s Buch aber ist mehr als eine bloße „Bild“-Chronik, sein Text nämlich mindestens ebenso wichtig wie die fotografischen Dokumente. Er berichtet von durchreisenden Showtruppen, von der musikalischen Salon- und Unterhaltungskultur des K&K-Österreichs, der Rezeption von Modetänzen und Schlagern, der Reaktion aus dem bürgerlichen genauso wie aus dem künstlerischen Lager. Arthur Briggs trat 1925 in der Weihburg Bar in Wiens Innenstadt auf. Im selben Jahr spielten die Chocolate Kiddies mit Sam Woodings Orchester in Wien – Wooding sollte 1928 und 1930 weitere Mal in der Stadt gastieren. Auch Paul Whiteman machte auf seiner Europatournee 1926 in Wien Station. Die 1930er Jahre waren für Österreich nicht weniger jazz-arm als für Deutschland: Die politische Annäherung ans Nazireich und der Anschluss im März 1938 machten jazzmusikalische Aktivitäten zumindest schwerer, Amerikaner und jüdische Musiker verließen das Land, so sie denn konnten. Wie in Deutschland gab es aber auch in Österreich nach wie vor eine Untergrund-Jazzszene, gab es „Swingheinis“, die hier als „Schlurf“ bezeichnet wurden, Fans amerikanischer Tanzmusik, deren Enthusiasmus eher einer Mode als musikalischem Expertentum zu verdanken war. Mit Kriegsende und Befreiung lebte die Jazzszene vor allem der großen Städte wieder auf, machten auch amerikanische Tourneen an der Donau Station, konnten sich österreichische Musiker frei weiter entwickeln. Der bedeutendste dieser Musiker war natürlich Hans Koller, dem im Buch gebührend Respekt gezollt wird. Wenn der deutsche Jazz der 1950er Jahre im englischen Melody Maker als „Jazz in Kollerland“ apostrophiert wurde, so nahm Österreich dieses Lob gern auch für sich in Anspruch. Koller war 1950 nach Deutschland übersiedelt, wirkte erst in München, dann in Frankfurt, Baden-Baden, später in Hamburg. Er kehrte erst 1970 wieder in seine Heimat zurück. Neben Wien war vor allem Graz das Zentrum des Jazz in Österreich. Friedrich Gulda behauptete gar einmal: „Wenn es um den Jazz geht, dann ist Wien bestenfalls ein Vorort von Graz.“ Die lebendige Szene der Stadt jedenfalls, die Schulz beschreibt, macht klar, dass es keinesfalls ein Zufall ist, dass Graz später zur Heimat des bedeutenden Instituts für Jazzforschung wurde. In den Fotos des Buchs wird bekannten und unbekannten Musikern gleichfalls ein Denkmal gesetzt; Koller, Gulda, Fatty George, Erich Kleinschuster, Joe Zawinul und vielen anderen. Eine Zeittafel zur Jazzgeschichte in Österreich listet die wichtigsten Daten zwischen 1896 und 1969, auf einen gerade in einem solchen Buch überaus nützlichen Personenindex hat der Verlag leider verzichtet. Dafür findet sich im Einband eine CD mit 26 überaus seltenen Aufnahmen aus den Jahren zwischen 1920 und 1954, Aufnahmen mit österreichischen band genauso wie mit durchreisenden amerikanischen Künstlern, Arthur Briggs, Sam Wooding oder Eddie South etwa. Die Fotos sind in sehr guter Qualität abgedruckt, und das Buch damit nicht nur für Spezialisten ein spannendes Dokument.

(Wolfram Knauer)


 

jazz in time
Fotos von Sebastian Berger, Christian Grayer, Gerhard Löser, Christian Pacher, Roland Schiebel, Christian Wurm
Kiel 2003
Nieswand Verlag
ISBN: 3-89567-021-9

Fotos dokumentieren Menschen. Jazzfotos dokumentieren Jazzmusiker. Jazzfotos aber dokumentieren meist noch mehr: Die Spannung nämlich, die in und aus der Musik heraus spricht, die Inspiration vielleicht, in der den Musikern ihre Ideen kommen, in denen sie realisiert werden, jenernMoment, in dem die Musik geschieht, vom Publikum gehört wird. Was fehlt den Fotos? Natürlich der Klang, die Musik selbst. Sie können höchstens den Augenblick des Schaffensprozesses einfangen, nicht die Musik selbst. Fotos von Menschen können Kunstwerke sein, Fotos von Jazzmusikern können auf ganz verschiedenen Ebenen gelesen werden: Als Zeitdokumente bekannter Künstler, als sehr persönliche Dokumente zum Beispiel eines Liveerlebnisses, bei dem die Betrachter selbst dabei waren, als künstlerische Abbilde von Menschen, als Fotokompositionen verschiedener Perspektive, Bildausschnitte, usw. Bei den Ingolstädter Jazztagen stehen – wie oft bei Festivals – etliche Fotografen am Bühnenrand, um ihre Eindrücke der Konzerte festzuhalten. Sechs von ihnen sind in dem vorliegenden Buch dokumentiert. Die Jazztage unterstützten ihre Arbeit von Anbeginn an, schmückten sich mit Ausstellungen früherer Festivals und jetzt mit der Buchdokumentation im für seine exzellenten Fotobände bekannten Nieswand-Verlag. Die Fotos stammen aus den Jahren 1990 bis 2003, zeigen großteils Portraits, am Instrument, In Aktion, beim Innehalten, beim Zuhören. Miles Davis wischt sich den Schweiß von der Stirn, man sieht nur das Weiße in seinen Augen, er wirkt ein wenig wie ein Alien; Aki Takase greift genau zielend in die Tasten; Rico McClarin schaut dirigierend hinter seinem Schlagzeug hervor; Cassandra Wilson schnippt mit den Fingern; Dean Brown erlebt emotionale Höhepunkte beim Gitarrespiel; Branford Marsalis horcht in sich hinein… Neben den amerikanischen Heroen sind auch deutsche und europäische Musiker abgelichtet, Till Brönner beispielsweise oder die Band Old Friends. Ein Buch zum Blättern, schwarz-weiß, aufs Bild reduziert. Die Musik – sie bleibt dem Ohr vorbehalten, die Atmosphäre: Hier kann man sie sich vergegenwärtigen… selbst wenn man nicht dabei war in Ingolstadt – denn das Erlebnis des Konzerts hatte schließlich jeder, der für Jazz schwärmt, eh schon mal.

(Wolfram Knauer)


 

Bielefelder Katalog Jazz 2003
Redaktion: Manfred Scheffner
Stuttgart 2003 (Vereinigte Motor-Verlage)
779 Seiten
ISBN: 3-89113-137-2
Preis: 24,50 Euro (inklusive CD-ROM)

Der „Bielefelder Jazz Katalog“ ist Tradition: Jedes Jahr im Frühjahr stellt das dicke, schwere Buch die aktuell auf dem CD-Markt erhältlichen Jazzproduktionen vor, ausführlich mit Besetzungs- und Aufnahmedaten, mit genauer Plattentitelung, Label und Labelnummer. Eigentlich ist der Katalog eine Hilfereichung für die CD-Fachläden, die anhand dieser Auflistung Produktionen bestellen können, die ihre Kunden beraten, ihnen sagen können, wo sich spezielle Aufnahmen finden lassen. Aber auch für jeden Jazzsammler ist der Bielefelder ein hilfreiches Nachschlagewerk, insbesondere, wenn er mehrere Jahrgänge des seit 1962 erscheinenden Katalogs besitzt. Der Personenindex erlaubt einen schnellen Überblick, auf welchen CDs einzelne Künstler vertreten sind, noch wertvoller ist der Stückeindex, in dem man verschiedene Versionen einzelner Titel finden kann. Im Bielefelder Katalog sind die meisten Labels vertreten. Der Katalog ist allerdings keine komplette Diskographie, sondern wirklich nur ein Überblick über die augenblickliche CD-Produktion. Neben den Major Labels finden sich viele kleine Labels, einige namhafte Labels aber sind auch nicht vertreten – hier klagt Herausgeber Scheffner zum wiederholten male über mangelnde Bereitschaft einiger Firmen, sich an der Aktualisierung ihrer Daten für den Bielefelder zu beteiligen. Der Bielefelder Jazz Katalog 2003 erscheint zusammen mit einer CD-ROM, auf der die Informationen auch in elektronischer Form abgefragt werden können.

(Wolfram Knauer)


 

Enzo Cormann:
Mingus, Cuernavaca
Pertuis/Frankreich 2003
Verlag: Rouge Profond, Collecton „Birdland“
56 Seiten, 8 Euro
ISBN: 2-915083-01-0

2003cormannDer 1953 geborene Dramatiker Enzo Cormann gehört zu den angesehensten Stimmen des zeitgenössischen französischen Theaters. In „Mingus, Cuernavaca“ setzt er sich mit den letzten Tagen des Charles Mingus auseinander, der sich, 56-jährig, schwer am Lou-Gehrig-Syndrom erkrankt, im mexikanischen Cuernavaca niederlässt, zum Sterben. Fiktive Szenen sind es, in denen Cormann Mingus in Gespräche mit seiner Krankenschwester verwickelt, über das Leben und den Tod, das Hinübergehen, den Ganges und den indische Totenkult. Mingus‘ Monologe reflektieren über seine Arbeit und seinen dauernden Kampf mit der Musik, mit sich selbst, mit den Kritikern, den Mitmusikern, den Clubbesitzern, der Welt. Er spricht über seine Bands, die Kompositionen, über Rassismus und die Frauen, über Eric Dolphy und Präsident Jimmy Carter, über Liebe, Glaube, Geburt und den kalten Atem des Todes, „The Chill of Death“. Das 1991 von Cormann verfasste Theaterstück ist für (mindestens) einen Schauspieler und einen Musiker gedacht. Es streicht auf lyrische Art und Weise die morbiden Tendenzen des Menschen Charles Mingus heraus, ohne die Stärke zu verleugnen, die in Mingus als Mann wie Musiker genauso vorhanden waren. Cormann macht die Dualität des Charakters deutlich, Kraft und Schmerz, Wut und Aussichtslosigkeit, wie sie sich auch in der Krankheit wiederfinden, an der Mingus letzten Endes starb.

(Wolfram Knauer)


 

Eric A. Dolphy. Die Freiheit der Klänge
Eine Chronik von Reinhardt Wendt
München 2003
Selbstverlag

Eric Dolphy ist einer dieser Musiker, die in einem kurzen Leben so ungemein viel bewirkten. Seine Spielhaltung war die Alternative zu Coleman und Coltrane der frühen 1960er Jahre. Seine Art des motivischen Sezierens, der fast analytischen, und dennoch so leicht klingenden Umspielungen, sein Ton als Saxophonist, Flötist und Bassklarinettist sind noch heute als Einfluss auf junge Musiker zu spüren. Reinholdt Wendt hat in seinem im Selbstverlag erschienenen Buch eine Hommage an den Musiker herausgebracht, die sich vor allem an Dolphy-Freunde wendet. Es ist keine literarisch ambitionierte Biographie, sondern eine Daten- und Quellensammlung mit Zitaten aus unterschiedlichsten Zeitungen und Zeitschriften, Hinweisen auf diskographische Daten, Bandbesetzungen, Gründe für Wandlungen in seiner Lebensplanung und vielem mehr. Wir erfahren von seiner Zeit mit Chico Hamilton, natürlich etliches über Mingus und seine Konzertattitüden, über eigene Bands, Clubabende in New York, Gastspiele in Europa, Third-Stream-Experimente mit John Lewis und dem Orchestra USA. Der Autor Reinhard Wendt ist Sammler und Dolphy-Kenner. Er hält sich mit wertenden Kommentaren zurück, lässt andere über die Musik urteilen, zeitgenössische Kritiker, Musikwissenschaftler, Musikerkollegen. Sein Buch ist kein Case-Book, keine Sammlung von Besprechungen anderer Autoren, sondern, wie der Untertitel besagt, eine Chronik, eine Chronologie von Dolphys Kindheit bis zu seinem Tod, und damit ein würdiges Nachschlagewerk für jeden, der sich über Dolphys musikalische Hinterlassenschaft informieren will.

(Wolfram Knauer)


 

Eddie Harris Sings the Blues
von Peter Tschirky
Dietlikon/Schweiz 2003
446 Seiten
ISBN: 3-9522609-0-8

Peter Tschirkys in Kleinstauflage von 100 Exemplaren erschienenes Buch über den Saxophonisten Eddie Harris ist eine wirkliche „labor of love“, Diskographie und Presseschau. Biographisches erschließt sich beim Blättern, alle diskographischen Angaben sind mit Abbildungen der Originalcover bebildert. Neben eigenen Beiträgen Tschirkys finden sich Artikel aus internationalen Jazzzeitschriften – komplett ins Deutsche übersetzt –, Biographien von Musikern, mit denen Harris zusammengearbeitet hat, und vieles mehr. Was fehlt, sind Indices, mit denen das dicke Buch besser erschließbar wäre. Ansonsten ist Tschirkys Hommage an Eddie Harris gewiss ein Standardwerk für jeden, der sich ernsthaft mit der Musik des Saxophonisten auseinandersetzt.

(Wolfram Knauer)


 

André Hodeir:
Le B-A-Be du Bop
Pertuis/Frankreich 2003
Verlag: Rouge Profond, Collecton „Birdland“
56 Seiten, 8 Euro
ISBN: 2-915083-02-9

2003hodeirAndré Hodeir ist einer der Väter der Jazzwissenschaft. Sein Buch „Hommes et problèmes du jazz“ von 1954 war vielleicht das erste wissenschaftlich angelegte analytische Buch zum Jazz überhaupt. Hodeir ist außerdem Komponist von Third-Stream-Werken, und seine schriftstellerischen Bemühungen gehen über analytische Bücher hinaus auch hinein ins literarische Oeuvre. „Le B-A-Be du Bop“ erschien zuerst Ende der 1980er Jahre in der Zeitschrift „Jazz Magazine“. Es sind seine Reflektionen über die Entstehung des Bebop, mit denen er – mit 50 Jahren Abstand – der Geburt des modernen Jazz ein weiteres Mal nähert. Der Bebop, so Hodeir, sei aus der Jam Session geboren. Hodeir hält dabei durchaus Legenden hoch: die beispielsweise von der Unzufriedenheit der jungen Musiker über ihre Arbeit in den Bigbands, in denen sie eben nicht genügend Raum für ihre Improvisationen gehabt hätten. Sie seien dann etwas gefrustet nach den Tanzveranstaltungen dieser Bigbands in die kleinen Clubs von Harlem gegangen und hätten dort ihren Experimenten frönen können: „le bebop est un enfant de la nuit“. Eine andere Legende, die Hodeir zitiert ist die, dass viele der komplexen harmonischen Umdeutungen von Standards auch zum Ziel gehabt hätten, unerwünschte Einsteiger bei Sessions fernzuhalten. Solche Geschichten sind bunt und besitzen gewiss auch ein Körnchen Wahrheit, aber man würde sich wünschen, Hodeir würde sie nicht so prominent wiederkäuen, da sie sich festsetzen und die Klischee-Geschichte von der Entstehung des Bebop als einer Art Revolte gegen Bigband und weiße Musiker festzurrt anstatt die Evolution aus der harmonischen, rhythmischen und improvisatorischen Entwicklung der Jahre zuvor näher zu beleuchten. Wichtiger sind da schon die Hinweise auf die afro-amerikanische Tradition des Wettstreits, der sich im Sport genauso wie in den Jam Sessions findet (obwohl auch hier zu fragen bliebe, in welchen Verbindungen diese Traditionen mit dem gesamtgesellschaftlichen Klima, oder genauer, mit dem Rassismus in den Vereinigten Staaten steht). Im zweiten Kapitel beschreibt Hodeir die Szene der 52sten Straße, die Auftrittsmöglichkeiten für kleine Bands, die steuerlichen Erschwernisse, die mit zum Niedergang der Bigbandmode führten, den Recording Bann der American Federation of Musicians. Er nennt die beiden herausragenden Namen: Dizzy Gillespie, den harmonischen Experimentator und Erneuerer des Trompetenspiels im Jazz, und Charlie Parker, der aus Kansas City nach New York kam und ein völlig neues Konzept mitbrachte: andere Ideen, ein andere Ton, eine andere Art der Phrasierung, und bald zum Vorbild einer ganzen Generaton von Saxophonisten wurde. Es sei durchaus auch ein glücklicher Zufall im Spiel gewesen, so meint Hodeir, dass Parkers Stil so gut zu Monks und Dizzys harmonischen Einfällen passte, dass sich zu all dem Kenny Clarkes perkussive Neuerungen so hervorragend eigneten. Ein Zufall, der die Musikgeschichte verändern sollte. Im dritten Kapitel geht Hodeir auf musikalische Änderungen ein. Er beschreibt zum einen die Änderung von Hörgewohnheiten, die Tatsache, dass Jazz Mitte der 40er Jahre plötzlich nicht mehr nur Tanz-, sondern auch Hör-, Konzertmusik war. Die Tänzer hatte der Jazz mit dem Aufkommen des Bebop für immer verloren, sie wandten sich nach anfänglicher Neugier dem Mambo zu oder dem Samba, dem Cha-Cha-Cha, bevor sie in den 50er Jahren im Rock ’n‘ Roll eine neue Mode-Tanzmusik fanden. Parker entwickelte in der Hochzeit des Bebop, der zweiten Hälfte der 40er Jahre, einen virtuos-kunstvollen eigenen Stil, Gillespie schuf mit seiner Bigband eine neue Klangästhetik, aber auch ein neues Bigbandrepertoire, sorgte außerdem mit dem Engagement des kubanischen Perkussionisten Chano Pozo für den Beginn des Afro Cuban Jazz-Movement. Sein viertes Kapitel widmet Hodeir Thelonious Monk, dem so unvergleichlichen Komponisten und Pianisten. Seine Beschreibung des Monkschen Klavierspiels zeigt, wie gut Hodeir, der Analytiker, hören kann: in wenigen Worten beschreibt er die Kantigkeit und doch Stringenz melodischern, harmonischer und rhythmischer Entwicklungen in Monks Spiel. Er analysiert „Misterioso“ und beschreibt die Modernität des Pianisten. Im fünften Kapitel geht Hodeir auf das Konzept der Rhythmusgruppe ein und wie es sich von Swing zum Bebop wandelte. Hier führt er die neuen Bebopthemen, die die jungen Musiker über Broadwayschlager schrieben, darauf zurück, dass sie die Tempo und Atmosphäre der Improvisationen der Themenatmosphäre angleichen wollten. Er beschreibt Charlie Parkers Improvisationsmanier – in „Koko“ beispielsweise oder in „Embraceable You“ und setzt sie in Vergleich zu Lester Youngs durchaus nicht minder epochaler Interpretation von „These Foolish Things“. Im letzten Kapitel schließlich beschreibt Hodeir die Gegenreaktion: den Cool Jazz der Four Brothers, Miles Davis‘, die kompositorischen Wege George Russells, Charles Mingus, die Ästhetik des Modern Jazz Quartet, den Weg zum Free Jazz der 60er Jahre. Alles in allem, eine kurze nachdenkenswerte Abhandlung über den Bebop. Man hätte sich stellenweise gewünscht, Hodeir hätte für die Buchpublikation weiter ausgeholt; auch lassen sich viele Dinge in seinen anderen Büchern ausführlicher nachlesen. Und doch zeigt Hodeir, dass zu einem guten Jazzkritiker mehr gehört als ein guter Schreiber: Das Ohr muss man besitzen, den Überblick und das Talent beides mit einer exzellenten Schreibe zusammenzubringen. Und dies gelingt André Hodeir besser als vielen anderen analytischen Autoren.

(Wolfram Knauer)


 

Ekkehard Jost:
Sozialgeschichte des Jazz (Aktualisierte Neuausgabe)
Frabkfurt/Main 2003 (Zweitausendeins)
448 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 3-86150-472-3

Ekkehard Josts „Sozialgeschichte des Jazz“ wurde erstmalig 1982 veröffentlicht. Die jetzt erschienene Neuausgabe enthält erhebliche Ergänzungen, in denen Jost versucht, seine etwas andere Geschichte des Jazz auf den neuesten Stand zu bringen. Josts Buch ist eine Fundgrube für Jazzneulinge genauso wie für Jazzkenner. Hier geht es nicht um Biographien und Anekdoten, sondern um die Hintergründe. Wir erfahren, wie und wieso der Jazz ausgerechnet in new Orleans geboren wurde, wie er in Chicago und New York mehr und mehr zur populären Musik der 20er und 30er Jahre wurde. Wir lesen über die ökonomischen Bedingungen, unter denen der Jazz sich vom Swing der Bigband-Ära zum bebop entwickeltte, über die Hintergründe des Drogenkonsums von Heroen wie Charlie Parker und anderen, über Rassismus und schwarzen Stolz, über Radikalisierung und Politisierung. Und in den neuen Kapitel beschäftigt sich Jost mit Fusion und Europa, mit Neokonservatismus und Neotraditionalismus (mit Wynton Marsalis also), mit den Veränderungen des Marktes zum Ende des 20. Jahrhunderts, mit John Zorn und Steve Colemans M-Base. Das alles in einer überaus kurzweiligen, lesenswerten Form, die Josts Buch zu einem der besten Jazzbücher macht – und aus unserer Kenntnis der Veröffentlichungen im Jazzbereich ergänzen wir: weltweit! Unbedingt empfohlen für jeden, der wissen will, warum der Jazz sich so entwickelte, wie er es tat.

(Wolfram Knauer)


 

Beneath the Underdog. Autobiographie
von Charles Mingus
Hamburg 3/2003 (Edition Nautilus)
320 Seiten
ISBN 3-89401-416-4

Charles Mingus‘ „Beneath the Underdog“ erschien ursprünglich 1971 und stieß sofort auf scharfe Kritik. Zu ausgeschmückt waren die Geschichten, zu scharf die erotischen Phantasien, zu pessimistisch der politische Anspruch, zu zornig der Ton dieses Buches, das nur dem (deutschen) Titel nach sich als Autobiographie gibt. Sicher, Autobiographisches ist der Anlass, wer „Beneath the Underdog“ aber als selbstgeschriebene Lebensgeschichte liest, als rein jazzgeschichtliches Dokument, wird sich schnell aufs Glatteis führen lassen. Mingus nimmt Momente seines Lebens, überhöht sie, gibt ihnen seltsame Wendungen, schmückt sie aus, verliert sich in Geschichten und Dialogen, Reflexionen über den Jazz und den Rassismus in Amerika. Das eigentliche Manuskript war über etliches länger, wurde, so klagte Mingus, gegen seinen Willen kräftig zusammengestrichen, das Ergebnis jedoch ist nach wie vor lesenswert, als ein Dokument der kräftigen Emotionen, die den Bassisten und Komponisten ja auch musikalisch antrieben. „Beneath the Underdog“ ist nicht bloß eine Autobiographie, sondern – zusammen mit Sidney Bechets „Treat It Gentle“ und Duke Ellingtons „Music Is My Mistress“ – eines der besten Beispiele von Jazzmusikern geschriebener afro-amerikanischer Literatur.

(Wolfram Knauer)


 

Politikens Leksikon
herausgegeben von Peter H. Larsen & Thorbjørn Sjøgren
Kopenhagen 2003
Politikens Forlag
409 Seiten
ISBN 87-567-6761-7

Jazzlexika sind die Nachschlagewerke zu Musikern – historisch wichtigen wie aktuell aktiven. Das englischsprachige Standardwerk „New Grove Dictionary of Jazz“ ist der Mercedes unter den Nachschlagewerken, in dessen zweiter Auflage neben den amerikanischen Größen immerhin jede Menge Musiker aus anderen Ländern berücksichtigt sind. Um sich allerdings über nationale Jazzszenen zu verständigen, sind Lexika in den jeweiligen Landessprachen die hilfreichsten Begleiter. Weder im Grove noch in deutschsprachigen Lexika wird man verständlicherweise über Musiker wie Kjeld Lauritsen, Kaspar Vadsholt oder Jeppe Gram erfahren (wahllos herausgesucht), wo Niels-Henning Ørsted Pedersen, Palle Mikkeborg oder Pierre Dørge durchaus Berücksichtigung finden mögen. Peter H. Larsens und Thorbjørn Sjøgrens „Politikens Leksikon“ schafft Abhilfe. Der größte Teil des Buchs ist internationalen, vor allem amerikanischen Musikern gewidmet. Immerhin 65 Seiten aber befassen sich nur mit dänischen Musikerinnen und Musikern, vom amerikanischen Schlagzeuger Emmanuel Abdul-Rahim, der 1977 nach Dänemark kam, bis zum Geiger und Vibraphonisten Finn Ziegler. Sjøgren liefert außerdem eine 25-seitige Jazzgeschichte für Dänemark von 1950 bis 2003 (mit einer knappen Einleitung über die Frühzeit dänischer Jazzgeschichte). Dafür – wie fürs ganze Buch – sollte man etwas Dänisch lesen können, wobei die Biographien dem Jazzkenner sicher auch ohne tiefe Dänischkenntnisse weiterhelfen, da die Lebensläufe sich aus den Namen von Kollegen, Mitmusikern und Jahresdaten leicht erahnen lassen. Nationale Jazzgeschichten wie diese sind eine wichtige Ergänzung zum umfassenderen Bild einer europäischen Jazzgeschichte. Die kritische Auseinandersetzung mit der Aneignung des amerikanischen Jazz und der Emanzipation einer eigenen Szene kann Besonderheiten erklären. In Sjøgrens Reflexionen finden sich vor allem historische Fakten und Zusammenhänge, weniger stilistische Erklärungen. Da sind der Grove oder auch Martin Kunzlers ro-ro-ro-Lexikon anderen Büchern voraus: dass sie sowohl in allgemeinen wie auch in biographischen Artikeln nicht nur auf Lebenslinien, sondern auch auf die Besonderheiten im musikalischen Stil hinweisen.

(Wolfram Knauer)


 

Bob Willoughby:
Frank Sinatra. Fotografien von Bob Willoughby
Berlin 2003 (Schwarzkopf & Schwarzkopf)
208 Seiten, viele Schwarzweiß- und Farbfotos
ISBN: 3-89602-442-6

Der legendäre Hollywood-Fotograf Bob Willoughby war einer der wenigen, dem es gelungen ist, mit seinen Bildern den Charme und das Charisma des geradezu gefährlich coolen Showstars Frank Sinatra, aber auch seine zärtliche, gefühlvolle Seite als Vater und Freund einzufangen. Angefangen mit Fotos von Sinatra am Set des Films „Der Mann mit dem goldenen Arm“ (The Man with the Golden Arm), in dem er einen Jazz-Schlagzeuger verkörperte und dafür auf geheiß des Regiseurs Otto Preminger von Shelly Manne angeleitet wurde, über seine wilde Zeit in Las Vegas mit dem „Rat Pack“ bis hin zu Dreharbeiten von „Ocean’s Eleven“, zeigt dieser wunderbare Bildband Momentaufnahmen von Sinatra und vielen seiner Freunde und Filmpartner, darunter Dean Martin, Sammy Davis Jr., Montgomery Clift, Burt Lancaster, Shirley MacLaine und Judy Garland. In ihrer Gesamtheit geben diese Fotos einen aufschlussreichen Einblick in das Leben und Werk Frank Sinatras während der Glanzjahre seiner Karriere.

(Verlagsmitteilung)


 

Jazzstadt Zürich. Von Louis Armstrong bis Zurich Jazz Orchestra
herausgegeben von Ueli Staub
Zürich 2003 (Verlag Neue Zürcher Zeitung)
169 Seiten, 40 Euro
ISBN: 3-03823-012-X

Die Schweiz hat eine lange und vielschichtige Jazzgeschichte. Nicht wenige Musiker machten das Alpenland schon in den 30er Jahren zu ihrem Domizil. Louis Armstrong spielte im November 1934 in Zürich, Coleman Hawkins gastierte ab Dezember 1935 über längere Zeit in der Schweizer Metropole. Wie anderswo in Europa auch begann der richtige Jazzboom allerdings erst nach dem II. Weltkrieg. Clubs, Festivals belebten das Konzertleben, aber nicht nur amerikanische Gäste waren zu hören, sondern mehr und mehr auch hervorragende Schweizer Jazzmusiker. Eine Ausstellung über die Zürcher Jazzgeschichte ermöglichte diese Dokumentation, die auf knapp 170 hochformatigen Seiten eine Menge seltener Fotos, kurzer Dokumente über das vielfältige Jazzleben Zürichs bringt. Biographien der wichtigsten auf dieser Szene aktiven Musiker – historischer wie aktueller –, Beschreibungen der Clubs, Festivals und Initiativen und jede Menge exzellenter Fotos machen die Dokumentation zum Schmöker, den man durchblättert, um hängenzubleiben, zurückzublättern, bekannte und unbekannte Gesichter zu sehen und zu entdecken. Das Spektrum deckt den gesamten Jazz ab, von traditionellen Dixiebands bis zu experimentellen Avantgardekünstlern. In dieser Bandbreite und in der Lesbarkeit der einzelnen Beiträge ist das Buch nicht nur für die der Zürcher Szene verbundenen Fans interessant sondern ein veritabler Beitrag zur Schweizer Jazzgeschichte.

(Wolfram Knauer)