Archiv der Kategorie: Neue Bücher

[:de]Neue Bücher 2008[:en]New Books 2008[:]

[:de]Jazz Lives. Till We Shall Meet and Never Part
von Jaap van de Klomp & Scott Yanow
Utrecht 2008 (A.W. Bruna Uitgebers)
223 Seiten
ISBN: 978-90-229-9353-8
Freier Download über
www.jaapvandeklomp.nl/jazzlives.pdf

2008vandeklompEnzyklopädische Bücher über Jazz gibt es zuhauf, und sieht man sich das Inhaltsverzeichnis von Jaap van de Klomps opulentem “Jazz Lives” an, so scheint es sich nicht von anderen Werken zu unterscheiden, die knappe Biographien wichtiger Jazzinterpreten versammeln. Dann aber stolpert man über die Fotos, wobei die Wortwahl gefährlich ist, denn mit diesen Fotos “stolpert” man gewissermaßen über Grabsteine. Von denen nämlich handelt dieses Buch genauso wie von den Protagonisten des Jazz. Van de Klomp hat sich aufgemacht, das Gedächtnis an Jazzmusiker zu dokumentieren, wie es sich auf Friedhöfen insbesondere in den Vereinigten Staaten zeigt. Nach Instrumenten sortiert finden sich kurze biographische Skizzen des renommierten Jazzhistorikers Scott Yanow, vor allem aber Fotos und Angaben zur Grabstelle des betreffenden Künstlers. Von Buddy Bolden bis zu Michel Petrucciani und Niels-Henning Ørsted Pedersen reicht die Bandbreite der dabei berücksichtigten Musiker, und neben den großen Stars der Jazzgeschichte, Ellington, Armstrong, Miles, Bird, Coltrane, Basie, Goodman und vielen anderen finden sich etliche in der Öffentlichkeit weit weniger bekannte Sidemen.

Yanows Texte bieten Standardkost: kurze Einführungen in Leben und Wirken der betreffenden Musiker. Es sind die Bilder der Grabstätten, die tatsächlich eine neue Sicht auf die Musiker erlauben. Da sieht man auf Charlie Parkers aktuellem Grabstein ein Tenorsaxophon. Sun Ras Grabplatte ist fast von Gras zugewachsen; Billy Strayhorns Asche wurde über dem Wasser verstreut. Die Grabsteine von Tommy Dorsey und Vic Dickenson zeigen eine Posaune, der von W.C. Handy ein Kornett. Sarah Vaughans Stein verweist auf die Sängerin als “The Devine One”, Dinah Washingtons Stein zeigt eine Krone und ihren Geburtsnamen “Ruth Jones”. Es gibt Grabsteine mit Erinnerungen an das künstlerische Wirken der dort begrabenen Musiker, andere, die einfach nur schlicht den Namen und die Lebensdaten enthalten. Es gibt Gräber, in denen auch andere Familienmitglieder beigesetzt sind, sowie Ehrengräber der Armee der Vereinigten Staaten (Zutty Singleton, Willie ‘The Lion’ Smith, Joe Henderson, Paul Gonsalves). Es gibt Gräber, die einen zusätzlichen “historical marker” erhalten haben (Charlie Christian) und andere, die eher wie Monumente wirken (Django Reinhardt, Eddie Lang). Ein simples Holzkreuz markiert das Grab Joe Zawinuls, der während der Arbeiten an dem Buch gestorben und dessen Wiener Ehrengrab noch nicht fertig war; der Grabstein für Andrew Hill steht angelehnt noch in der Werkstatt des Steinmetzes. Lionel Hamptons Grab trägt einzig die Inschrift “Hampton. Flying Home”; Clifford Jordans Urne steht im Bücherregal seiner Witwe. Ben Websters Name steht auf einem großen Findling; Kid Ory wird als “Father of Dixieland Jazz” gepriesen. Miles Davis wird als “Sir Miles Davis” erinnert und sein Grabstein ist mit der Melodie von “Solar” verziert, dessen Urheber, wie jüngst entdeckt wurde, in Wahrheit der Gitarrist Chuck Wayne war.

In seinem eigenen Vorwort beschreibt Van de Klomp die zum Teil schwierige Suche nach den Gräbern. Anfangs war es eher ein kurioses Interesse, bald dann fast eine Obsession. Einige Gräber waren einfacher zu finden, andere benötigten intensiver Recherchen, Nachfragen bei Verwandten, Stadtverwaltungen oder Spezialisten. Die meisten der amerikanischen Fotos entstanden innerhalb von drei Monaten im Jahr 2007, die Van de Klamp damit verbrachte, einigermaßen systematisch die Vereinigten Staaten abzureisen. Er beschreibt anschaulich die durchaus emotionalen Momente, die das Entdecken vieler dieser Gedenksteine für ihn bedeutete.

“Jazz Lives” erschien in der opulenten Originalausgabe im Jahr 2008. Nachdem das Buch ausverkauft und dem Autor klar war, dass es keine Neuausgabe erfahren würde, entschloss Van de Klomp sich, eine PDF-Version online frei zugängig zu machen und gestattete uns, einen Link auf das Buch zu veröffentlichen.

Wolfram Knauer (Februar 2014)


 

Eric Dolphy
von Guillaume Belhomme
Marseille 2008 (Le mot et le reste)
136 Seiten, 15 Euro
ISBN: 978-2-915378-535

2008belhommeGuillaume Behommes Buch ist weniger Biographie als kommentiertes Plattenverzeichnis des Saxophonisten und Bassklarinettisten. Ein

kurzes Anfangskapitel verfolgt Kindheit und Jugend Dolphys, dann gliedert der Autor das Buch chronologisch nach den Aufnahmen, die Dolphy vorlegte: mit Chico Hamilton, Charles Mingus, John Coltrane, Gunther Schuller, vor allem aber unter eigenem Namen. Belhomme zitiert – leider ohne genaue Verweise – aus zeitgenössischen Kritiken, ordnet die Musik ins Gesamtwerk des Künstlers ein und beendet das Buch mit einer Chronologie seines Lebens.

Wer musikalisch tiefer in Dolphys Kunst einsteigen will, wird anderswo fündig etwa im Buch “Tender Warrior. L’eredita’ musicale di Eric Dolphy”; als grundständige Biographie ist Vladimir Simosko und Barry Teppermans Buch von 1974 unübertroffen.

Für den französisch lesenden Dolphy-Einsteiger ist Belhommes Büchlein aber sicher kein Fehler.

Wolfram Knauer (Juli 2013)


 

Sounds of the Metropolis. The 19th-Century Popular Music Revolution in London, New York, Paris, and Vienna
von Derek B. Scott
New York 2008 (Oxford University Press)
304 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-989187-0

2008scottAllgemein verbindet man das Aufkommen der Idee von Popularmusik mit der Erfindung der Tonaufzeichnung, mit der Industrialisierung der Musikvermarktung, datiert die große Zeit der Unterhaltungsmusik also in den Beginn des 20. Jahrhunderts. Tatsächlich aber begann die “Popularmusik-Revolution” bereits im 19. Jahrhundert und ist ein Nebeneffekt der sozialen Veränderungen, der Verstädterung der Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung.

Im ersten Kapitel untersucht der britische Musikwissenschaftler Derek B. Scott die Zusammenhänge zwischen Professionalisierung und Kommerzialisierung des Konzertlebens im 19. Jahrhundert. Er verweist auf die zunehmende Bedeutung von Hausmusik und Notenhandel, über die Entwicklung des Klavierhandels und die ersten Urheberrechtsvereine. Im zweiten Kapitel betrachtet er die neuen Märkte (also das neue Publikum) für Kultur, die auch zu neuen Präsentationsformen führten, etwa den Promenadenkonzerten, zur Music-Hall bzw. zum Café-Concert, zu Minstrelsy, Vaudeville und Operette. Die Popularisierung von Musik ließ Kritiker an der Moral der beliebten Stücke zweifeln, und so widmet Scott Kapitel 3 seines Buchs dem Thema “Musik, Moral und soziale Ordnung”. Die große Diskussion bis in unsere Tage ist die, dass das Auseinanderdriften von populärer und Kunstmusik zu einer Konkurrenz der beiden Bereiche führte, die Scott im vierten Kapitel behandelt. Er fragt danach, wie Kunst, Geschmack und Status zusammenhängen und betrachtet die Unterschiede zwischen Oper und Operette.

Im zweiten Teil des Buchs geht es dann um konkrete musikalische Stile: den Wiener Walzer (Kapitel 5), Blackface Minstrelsy und ihre Rezeption in Europa (Kapitel 6), die englische Music Hall (Kapitel 7) sowie das Pariser Cabaret (Kapitel 8). In diesen Kapiteln verweist Scott durchaus auf spätere Entwicklungen und die Bedeutung der spezifischen Genres für die Musikgeschichte des 20sten Jahrhunderts; dabei fehlt dem Buch allerdings ein abschließend zusammenfassendes Kapitel, das die Verbindungsstränge des vom Autor Aufgezeigten in die jüngere Vergangenheit des letzten Jahrhunderts aufzeigen könnte. Auch wäre durchaus zu diskutieren, inwieweit, die in den Metropolen entwickelten Präsentationsformen von Popularmusik ihren Widerhall in anderen Städten, im Land, über die Grenzen hinweg hatten und inwieweit sie sich gegenseitig beeinflussten bzw. bedingten – es gab schließlich im 19. Jahrhundert durchaus bereits grenzüberschreitende Tourneen.

Alles in allem präsentiert “Sounds of the Metropolis” einen wichtigen Blick auf die Vorgeschichte von Popmusik und Jazz; dem Leser bleibt es überlassen zu eruieren, wo spätere Entwicklungen populärer Musik auf diese Vorgeschichte aufsetzen, wie sie sich miteinander verzahnen. Ein ausführlicher Apparat inklusive Bibliographie und Index beschließt das Buch.

Wolfram Knauer (März 2012)


 

Backstory in Blue. Ellington at Newport ’56
von John Fass Morton
New Brunswick 2008 (Rutgers University Press)
304 Seiten, 34,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8135-4282-9

2008mortonIn Duke Ellingtons Karriere gab es Aufs und Abs, Erfolge und Missverständnisse. Vor allem aber ein Ereignis scheint sich ins kollektive Gedächtnis der Jazzgeschichte eingegraben zu haben: Paul Gonsalves’ legendäres Solo über “Crescendo and Decrescendo in Blue” vom 7. Juli 1956, live gespielt beim Openair-Festival in Newport, Rhode Island, eingefangen von den Mikrophonen der Voice of America und der Plattengesellschaft Columbia Records. Ellingtons Performance dieses alten Schlachtrosses und Gonsalves’ sagenumwobene 27 Chorusse umfassende Improvisation über den Blues rissen die Karriere der Band herum, machten einem großen Publikum deutlich, wie modern Ellington war und welche Kraft hinter seinem, Orchester steckte.

John Fass Morton hat sich in einem Buch aufgemacht, die verschiedenen Narrative hinter dem Newport-Auftritt von Duke Ellington zu erzählen, und sein Buch reiht sich ein in Studien über einflussreiche Alben, wichtige Kompositionen oder Improvisation, Monographien über akustische Momentaufnahmen der Jazzgeschichte.

Morton beginnt mit einem Rückblick auf Ellingtons Karriere, seine Bedeutung fürs schwarze Amerika, seine erste Aufnahme von “Diminuendo and Crescendo in Blue” von 1938, Erfolge in den 1920er und 1930er Jahren, ambitionierte Werke in den 1940ern und Schwierigkeiten in den 1950ern. 1955 hatte Ellington noch versucht, das langsam zum Rock ‘n’ Roll abdriftende Publikum davon zu überzeugen, dass dieser doch auch nur eine Art von Jazz sei. Im selben Jahr gelangte er am Tiefpunkt seiner Karriere an, als er ein Engagement im New Yorker Aquacades annehmen musste, um die Band am Leben zu halten, einen Gig, bei dem er unter anderem Kunstschwimmer und Eisläufer begleiten musste.

Morton betrachtet Ellingtons Band, “Dukes Instrument”, wie man sie gern bezeichnete, geht die Musiker durch, die 1956 im Orchester saßen und teilweise schon auf eine lange Zusammenarbeit mit dem Komponisten, Pianisten und Bandleader zurückblicken konnten. Er widmet ein eigenes Kapitel der Geschichte des Columbia-Labels, ein weiteres dem Produzenten George Avakian, der nicht nur einige der ersten Wiederveröffentlichungen klassischer Jazzaufnahmen für Columbia zu verantworten hatte, sondern auch an der Entwicklung des LP-Formats beteiligt war. George Wein und die Idee des Newport-Festivals sind natürlich ein Thema, und auch den Newport-Gastgebern Elaine und Louis Lorillard widmet Morton ein eigenes Kapitel. Er beschreibt das Festival von 1954 und 1955, musikalische Höhepunkte und die kritische Reflexion auf die Großveranstaltung.

Dann sind wir beim Programm für 1956, und Morton sortiert die Dramatis Personae noch einmal neu: die Rundfunkmikrophone, den Veranstalter, die auftretenden Bands, die Plattenfirma, das Publikum. Norman George Wein habe Duke gewarnt: Komm mir bloß swingend!, und die Abende zuvor hatten genau das geliefert: mitreißenden Swing, der selbst dem regnerischen Wetter trotzte. 20:30 Uhr: Ellington wird angesagt, die Band kommt auf die Bühne, wärmt sich mit ein paar Nummern auf, aber die Band blieb relativ steif. Bud Shank und Anita O’Day folgten, Friedrich Gulda und Chico Hamilton. Erst kurz vor Mitternacht kommt die Ellington-Band wieder dran, beginnt swingend, verliert dann aber langsam ihr Publikum, das Stück für Stück dem Ausgang zustrebt. Dann sagt der Duke das alte Schlachtross an, “Diminuendo in Blue” und “Crescendo in Blue”…

Morton versteht etwas von Dramaturgie, und so unterbricht er hier und schiebt erst einmal Biographisches zu Paul Gonsalves nach, bevor er schließlich die Spannung des Tenorsaxophonsolos beschreibt, das die beiden Stücke miteinander verbinden sollte und eigentlich nur als kurzes Interlude gedacht war, nicht als 27-chorus-langer Höhepunkt. Er beschreibt die Reaktionen der Zuhörer, wie Jo Jones mit der Zeitung auf die Bühne schlug und seinen Kollegen anfeuerte, wie eine junge Frau anfing zu tanzen und plötzlich auch andere im Publikum tanzten, wie das Publikum auf seine Plätze zurückstrebte, weil es merkte, dass hier irgend etwas Besonderes geschah.

Und wieder unterbricht er und erzählt die Geschichte jener unbekannten reichen Blondine, die damals Schlagzeilen machte, weil sie aufstand und einfach wild tanzte zu Gonsalves’ Solo.

Es folgt der Nachschlag: LP-Veröffentlichung; der soziale Abstieg jener reichen Blondine, die weitere Zusammenarbeit zwischen Ellington und Gonsalves, die Rolle der Voice of America für den Kalten Krieg, die weitere Entwicklung des Newport Jazz Festivals.

John Fass Morton gelingt es in seinem Buch mit den ganz unterschiedlichen Facetten, die er beleuchtet, ein lebendiges Bild der Dramatik jenes Solos zu zeichnen, dramatisch für Ellington genauso wie für die Anwesenden, für die Plattenfirma, die Fotografen und die Geschichte des Jazz. Man liest sich fest, und ich bin mir sicher, dass man im Laufe der Lektüre wiederholt die ganze Platte des Newport-Konzerts hören möchte, weil Fotos, Worte, Interviews einem das Gefühl der gemeinsamen Erinnerung geben. Als sei man dabei gewesen, damals, am 7. Juli 1956, als Paul Gonsalves die Karriere Ellingtons ein weiteres Mal drehte.

Wolfram Knauer (Oktober 2011)


 

Jazz für Kinder. Carla lernt Instrumente, Interpreten und Musikstile kennen
von Oliver Steger & Peter Friedl
Wien 2008 (Annette Betz)
29 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-219-11357-0

2008stegerÜber Musik, heißt es, sollte man in jungen Jahren lernen. Das Schaffen musikalischer Neugier ist in den ersten Lebensjahren so viel erfolgversprechender als später, wenn die Musikindustrie über musikalische Mode und Hitparaden den musikalischen Geschmack weit stärker bestimmt als die eigene Neugier. Der Verlag Annette Betz hat sich auf musikalische Kinderbücher spezialisiert, Bilderbücher mit Geschichten, die ihre jungen Leser erzählerisch in die Welt der Musik einführen. In Oliver Stegers “Jazz für Kinder” entdeckt die kleine Carla in einem Pavillon im Garten des neuen Hauses, in das sie mit ihrer Familie gezogen ist, lauter verstaubte Instrumente. Diese, erzählen sie Carla, spielen gerne Jazz, und Carla fragt nach: “Was ist denn das, Jazz?” Papa erzählt ihr auf ihre Frage von den Wurzeln des Jazz in Afro-Amerika, von Jazz als Musik der Freiheit und Musik zum Tanzen. Am nächsten Tag erklärt das Schlagzeug ihr die Geheimnisse des Rhythmus und des swing, das Klavier jene der Harmonik, der Bass die der Improvisation. Um ihr das alles näher zu bringen, improvisieren die drei ein wenig über “Bruder Jakob”, das Carla gerade in der Schule singt. Carlas Neugier ist geweckt, bald erfährt sie etwas über Bebop, das solistische Spiel, über Ragtime, Fats Waller, Louis Armstrong, Dizzy Gillespie, Ellington, Basie, die Bigband, den Wandel des Jazz von einer Unterhaltungsmusik zu einer Kunstform. Sie lernt das Blue-Note-Label kennen, den Unterschied zwischen Cool Jazz und Hard Bop, hört von Westcoast- und modalem Jazz, Free Jazz, der Fusion des JazzRock in den 1970er, dem New Bop in den 1980er und dem Nu Jazz in den 1990er Jahren – und den jeweiligen Protagonisten dieser Stile. Und weil es nun mal weit anschaulicher ist, all das auch zu hören, spielen die drei Instrumente “Bruder Jakob” in den unterschiedlichsten Stilarten. Die dem Buch beiheftende CD enthält all diese Varianten à la Charlie Parker, Louis Armstrong, Ellington, Chet Baker, John Coltrane, Bill Evans, Stan Getz, Charlie Haden, Herbie Hancock, Chick Corea, Dave Holland und sogar – “als “Bruder Manfred” – ECM. Die drei Musiker der CD sind die Pianistin Julia Siedl, der Schlagzeuger Hans Tanschek sowie der Autor selbst am Kontrabass; in zwei Stücken kommt noch der Trompeter Lorenz Raab hinzu. Das von Peter Friedl reich illustrierte Buch gibt dabei auf 29 Seiten weit eingehendere Informationen als sie viele dem Jazz nicht nahe stehende Erwachsene haben – das alles auf eine so angenehm spielerische und spannende Weise, dass zu hoffen ist, dass wer immer dieses Buch als Kind liest oder vorgelesen bekommt, dabei bleibt, dass ihm oder ihr die Türen zum Jazz damit geöffnet wurden.

Wolfram Knauer (Januar 2011)


 

Giorgio Gaslini. Lo Sciamano del jazz
von Lucrezia De Domizio Durini
Milano 2008 (Silvana Editoriale)
200 Seiten, 30,00 Euro
ISBN: 9-788836-612727

2008duriniGiorgio Gaslini ist einer der führenden italienischen Jazzer, ein Musiker, der seit den 1950er Jahren die afro-amerikanischen Traditionen des Jazz mit den eigenen Traditionen der italienischen Kultur, aber auch der italienischen und europäischen Moderne zu verbinden trachtete. Er ist Pianist, Komponist, Maler, Intellektueller und kreativ Suchender, und so ist das vorliegende Buch, eine von mehreren Publikationen, die um seinen 80sten Geburtstag im Jahr 2009 erschienen, nicht so sehr eine klassische Biographie als vielmehr ein Einlassen auf all die verschiedenen kreativen Eingriffe, die Gaslini durch seine Musik und seine Kunst ins Leben, in die Wirklichkeit vornehmen wollte. Gleich im ersten Satz stellt Lucrezia de Domizio Durini den Pianisten und Komponisten bewundernd in eine Reihe mit “großen Persönlichkeiten, denen ich in meinem Leben begegnet bin”: Pier Paolo Pasolini, Joseph Beuys, Hans Georg Gadamer, Harald Szeemann, Andy Warhol und Pierre Restany. Sie scheint so den Ton für die Biographie eines Intellektuellen zu setzen. Typische Jazzfotos fehlen fast gänzlich, Bilder von Gaslini in verrauchten Clubs etwa, bei Festivals, mit amerikanischen Kollegen oder ähnlichen jazz-typischen Themen. Stattdessen nahm die Autorin einen eigenen Fotografen mit zu den Gesprächen, Gino Di Paolo, dessen Bilder Gaslini am Schreibtisch zeigen, beim tiefen Gespräch, immer irgendwie entspannt-konzentriert, ob beim Essen, Lesen, Spazierengehen, Reden, Rauchen oder Komponieren. Am persönlichsten wirkt da noch ein gestelltes Bild mit Boxhandschuhen am Sparringball.

Das Interesse der Autorin an Gaslini aber beginnt erst einmal scheinbar abseits des Jazz: mit einem Essay über seine Aquarelle und mit der Abbildung einer jüngeren Aquarellserie von 1997. Die Autorin ist beeindruckt von dem Mann und ihren Begegnungen mit ihm, und ihr Kapitel über seine “charmante Physiognomie” liest sich wie eine Liebeserklärung, die, um nicht zu persönlich zu werden, plötzlich die Daten aus seinem Pass einstreuen muss, aber gleich darauf Querverbindungen zwischen Physiognomie und Geist zieht. Er sei wie ein Schamane, meint sie (so auch der Untertitel des Buchs), habe als Kind entdeckt, dass er durch das Klavier, dass er durch Musik Dinge ausdrücken konnte, die anders nicht zu formulieren waren. Musik sei für ihn therapeutisch gewesen, aber zugleich eine Möglichkeit, Menschen aller Nationen oder sozialer Gruppen ansprechen zu können.

Die Baroness Lucrezia De Domizio Durini, sollte man an dieser Stelle erwähnen,  ist von Haus aus keine Jazz-, sondern eine renommierte Kunstexpertin, Kuratorin vielbeachteter Ausstellungen, Kunstsammlerin mit Schwerpunkt aktueller Kunst sowie Autorin etwa von 20 Büchern über Joseph Beuys’ Philosophie. Und so nimmt es nicht Wunder, dass sie auf diesen immer wieder zurückkommt, nicht nur, wenn sie sich ausführlich mit Gaslini über ein neues Werk unterhält, das den Titel trägt “Il Bosco di Beuys” (Der Wald von Beuys) und auf dessen 7.000 Eichen bei der Dokumenta 1982 in Kassel Bezug nimmt. Ihr Text bleibt persönlich, wechselt zwischen Erinnerungen an andere Künstler, denen sie begegnet ist, detaillierten Beschreibungen der Gesprächssituationen (zu Hause, im Büro, im Restaurant), Einordnungen in die Kunstgeschichte (mehr als in die Jazzgeschichte, von der die Baroness Durini nicht ganz so viel versteht). Doch soll all das Giorgio Gaslini vor allem für das Interview vorbereiten, bei dem er dann recht offenherzig über seine Kindheit und seine Familie Auskunft gibt oder über das Kulturverständnis seines Vaters… Dann heißt es, um ihren Stil ein wenig zu erklären: “Wir entschlossen uns eine Pause zu machen. Lino bot uns einen guten Kaffee an, wir rauchten still eine Zigarette. Giorgio ging zum Fenster und schaute in das Tor der Träume…”

Gaslini berichtet über den Krieg und seine erste Faszination durch den Jazz. Vielleicht weil Durini von Jazz aber wirklich nicht so viel weiß, unterhalten sie sich lieber über Philosophie, über klassische Musik, Adorno, die Liebe, seine Frau, ein klein wenig über Stan Kenton. Ein kurzes Liebesbekenntnis zum Jazz folgt, wieder eingeleitet durch den Rückbezug auf Bach, Mozart, Wagner, und ein Benennen der afro-amerikanischen Einflüsse: Duke Ellington an erster Stelle, Max Roach, Lennie Tristano, Oscar Peterson, Bill Evans, Cecil Taylor, Ornette Coleman, Louis Armstrong, Ella Fitzgerald, John Coltrane, Miles Davis…

Vielleicht ist das Unwissen der Autorin über den Jazz Grund für die vielen seltsamen Schreib- (bzw. Transkriptions-)fehler, die sich in ihrem Buch finden, die aber gerade bei einem so renommierten Verlag eigentlich einem Lektor hätten auffallen müssen. So liest man etwa von “Buddy Golden” (statt “Buddy Bolden”, S. 24), von “Jene” statt “Gene” Krupa (S. 83), von “Hornet” Coleman (S. 88), einem gewissen Herrn “Shoemberg” (Arnold Schönberg, S. 103) oder einer (einer???) “Riga” Polillo (S. 145) – gemeint ist der italienische Joachim Ernst Berendt, Jazzautor Arrigo Polillo. Am lustigsten liest sich in dieser mehr zufällig zusammengestellten Liste von Schreibfehlern der offenbar berühmte Bigbandleiter “Towm Besi” (S. 129) – der Rezensent braucht eine Weile, um hinter diesem “Count Basie” zu erkennen. Von solchen Ärgernissen abgesehen ist das Buch eine liebevolle, äußerst literarische und in ihrer Art und Weise überaus persönliche Annäherung an den Menschen und Künstler Giorgio Gaslini, und wenn man der Autorin auch ein besseres Lektorat gewünscht hätte, so würde man sich unter Jazzautoren tatsächlich auch öfters “Fachfremde” wünschen, die offenbar ganz andere Dinge aus ihren Subjekten herauszukitzeln vermögen als wir Experten.

Wolfram Knauer (September 2010)


 

Jazz Lyrik Prosa. Zur Geschichte von drei Kultserien
Von Werner Josh Sellhorn
Berlin 2008 (Ch. Links Verlag)
158 Seiten, 14,90 Euro
ISBN: 978-3-86153-581-2

JLP_Cover.inddJazz, Lyrik und Prosa waren in DDR populäre Genres, sicher auch, weil in ihnen Befindlichkeiten mitteilbar waren, die offen auszudrücken im System eher schwierig, wenn nicht gar gefährlich war. Werner Josh Sellhorn arbeitete Anfang der 1960er Jahre als Lektor im Verlag Kultur und Fortschritt, dem führenden Verlag des Landes für internationale Literatur. 1964 kam der Verlag auf die Idee eine Veranstaltungsreihe “Lyrik und Jazz” zu etablieren, bei der etwa die Jazz-Optimisten auftraten und Schauspieler wie Manfred Krug, Angelika Domröse oder Eva-Maria Hagen. Der Auftritt Wolf Biermanns und eine ein Jahr später veröffentlichte Platte des Dichters und Sängers machten den Veranstaltern zwar Ärger, steigerten aber nur die Popularität der Reihe. Bald kam neben älterem auch zeitgenössischer Jazz hinzu (etwa in Person des Pianisten Joachim Kühn) und neben Lyrik auch Prosa. 1967/67 ging die Reihe “Lyrik – Jazz – Prosa” zu Ende und wurde von verschiedenen anderen Reihen gefolgt, etwa “Jazz und Tanz” oder “Jazz & Folksongs”. Nach einer Einführung in die eben beschriebene Genese der drei Reihen machen den Hauptteil des vom 2009 verstorbenen Reihengründers Sellhorn verfassten Buchs biographische Skizzen der beim Musikteil der Veranstaltung aufgetretenen Interpreten aus – Musiker und Bands genauso wie Schauspieler. Zum Schluss listet Sellhorn noch eine Übersicht über Sonderprogramme seit 1999 auf sowie LP- und CD-Veröffentlichungen, die aus der Reihe hervorgegangen sind. “Jazz Lyrik Prosa” wirft ein sehr direktes Licht auf die Jazzszene der DDR, die Möglichkeiten und die Probleme, mit denen Macher umzugehen hatten, wenn sie kreative Projekte realisieren wollten. Lesenswert und mit etlichen kleinen Informationen, die sich wahrscheinlich nirgends sonst finden.

Wolfram Knauer (August 2010)


 

Images of Live Jazz Performances
von Albert Kösbauer
Landsberg 2008 (Balaena Verlag)
214 Seiten, 19,80 Euro
ISBN: 978-3-00-024673-9

2008koesbauerAlbert Kösbauer erzählt im Vorwort seines Bildbandes, dass er seit langem bei Regensburger Jazzkonzerten fotografiere. Sein Platz sei in der vordersten Stuhlreihe, links oder rechts von der Bühne. Er wahre Abstand, halte sich im Hintergrund und habe immer wieder mit der Lichtsituation zu kämpfen. Auf Blitzlicht habe er dennoch immer verzichtet und lieber Geduld und wachsende Erfahrung genutzt, um von jedem Musiker “wenigstens ein brauchbares Bild einzufangen”. Auf über 200 Seiten sieht man derer etliche, “brauchbare”, aussagestarke Bilder, solche, die wie Stillleben wirken und solche, die Bewegung ausstrahlen – bis hin in verzerrte Details, weil die Künstler nun mal nicht stillhielten während der Belichtungsphase der Kamera. Ein buntes Buch ist es geworden, möchte man sagen, auch wenn alle Fotos schwarz-weiß sind und man beim Durchblättern eher den Eindruck von Grautönen erhält. Die abgelichteten Künstler aufzuzählen macht wenig Sinn, aber vielleicht gibt ein zufälliges Durchblättern etwas Aufschluss über den Inhalt: Aladar Pegè mit ruhigem Blick, aber augenscheinlich flinken Fingern am Kontrabass; Christy Doran mit konzentriertem Blick auf … Noten? die Technik am Boden?; Carsten Daerr am Flügel, den Blick lauschend zur Seite nach unten gerichtet; Carola Gray durch die Lichteffekte ihrer Beckenarbeit hindurch fotografiert; Joachim Ulrich, nicht spielend, zuhörend, das Instrument umarmend; Lajos Dudas mit angewinkeltem Knie; Arkady Shilkloper am nicht enden wollenden Alphorn; Lisa Wahlandt, skandinavische Schönheit ohne Schminke; William Parker, abgeklärt an Kontrabass und afrikanischer Gitarre (guimbri); Maria Joaos Intensität und so viele andere Momente, die den Live-Charakter des Konzerts einfangen, wie es Kösbauer ja auch im Buchtitel benennt. Keine Bilder abseits der Bühne – alle Musiker sind bei der Arbeit, konzentriert, nachdenklich, ekstatisch, mit befreitem Lachen, mit großen Ohren. Die Musiker, die man selbst erlebt hat, erkennt man wieder, man meint ihren Sound zu hören, weil Kösbauer die Erinnerung an genau jene Momente einfängt, die einen selbst fasziniert hatten. Für Fotoliebhaber also ein schönes Buch im quadratischen Softcoverumschlag, mit einem hilfreichen Namensindex der abgelichteten Künstler am Schluss und … mit jeder Menge Respekt vor der Musik.

Wolfram Knauer (Juli 2010)


 

Three Wishes. An Intimate Look at Jazz Greats
Von Pannonica de Koenigswarter
New York 2008 (Abrams Image)
ISBN 978-0-81097-2-353 (9,99 Dollar)

2008koenigswarterDiese Rezension stammt vom April 2007, aber da es sich sowohl bei der deutschen Fassung des Buchs von 2007 wie auch bei der englischen Fassung von 2008 um bloße Übersetzungen handelt, gilt das darin gesagte noch immer. Für die vorliegende englische Fassung kommt allerdings hinzu: Gary Giddins hat ein lesenswertes Vorwort geschrieben, und die Antworten hier in der Originalsprache gehalten sind. Albert Mangelsdorff, so lernen wir hier, wurde von der Baronin so notiert wie sie ihn gehört hatte, mit einem typisch deutschen Akzent (“I vish that people all over the vorld vould get smart enough that there vould be peace forever”).

Wenn man früh im Jahr ein Buch auf den Tisch bekommt, das man sofort als das Weihnachtsgeschenk des Jahres empfindet, dann ist das sicher beste Voraussetzung für eine positive Buchempfehlung. So jedenfalls ging es diesem Rezensenten, als das Buch der drei Wünsche von Pannonica de Koenigswarter auf seinem Schreibtisch landete. Die Baroness war Freundin und Muse vieler Jazzmusiker, allen voran Thelonious Monk, der ihr (wie andere Musiker auch) eine Komposition widmete. Die Baroness wurde 1913 in die Bankiersfamilie der Rothschilds hineingeboren. 1954 hörte sie Monk in Paris und zog bald darauf nach New York. Traurige Berühmtheit erlangte sie durch die Tatsache, dass Charlie Parker, ein weiterer ihrer guten Freunde, in ihrem Apartment verstarb. Über die Jahre blieb sie ihren Musikerfreunden treu, half, wo immer sie konnte, insbesondere Monk, dem sie bei Streits um die Cabaret Card und bei anderen Krisen beistand. Nica, wie sie von ihren Freunden genannt wurde, starb im November 1988. Über all die Jahre hatte sie ihren Musikerfreunden bei passender Gelegenheit jene legendäre Frage nach den drei Wünschen gestellt: Wenn Du drei Wünsche frei hättest, welche wären das. 300 Antworten finden sich in diesem Buch, teils kurz, teils etwas länger, teils lapidar, teils bezeichnend. Geld wünschen sich etliche, Gesundheit, Weltfrieden und privates Glück. Dass er sich nicht länger verpflichtet fühle, für Geld zu spielen (Dizzy Gillespie), dass er sich selbst besser kennenlerne (Johnny Griffin), dass seine Söhne sich endlich benehmen würden und Koenigswarter ihn heirate (Art Blakey), all das auf seinem Instrument zu erreichen, was er sich vorstelle (Sonny Rollins), ein Apartment mit einem guten Steinway und einer guten Stereoanlage (Barry Harris), Unsterblichkeit, Reichtum und ein Kind (Horace Silver), der weltbeste Künstler auf seinem Instrument zu sein (Hank Jones), dass er sein Asthma loswerde (Lou Donaldson), dass Charlie Parker wieder lebe (Art Taylor), sein Leben lang Musik spielen zu können, außerdem ein Apartment und ein Auto in New York (Eric Dolphy), eine Villa in Göteborg (Babs Gonsalves), dass die Clubs eine bessere Akustik und bessere Klaviere hätten (Mal Waldron), Reichtum, Glück und drei weitere Wünsche (Roy Brooks), ein neues Schlagzeug (Clifford Jarvis), die anstehenden Rechnungen auf ein absolutes Minimum zu reduzieren (Anita O’Day), der beste Trompeter der Welt zu sein (Lonnie Hollyer), das Genie von Thelonious Monk zu besitzen (Billy Higgins), eine Flasche kühlen Biers (Giggy Coggins), eine Zeitmaschine (John Ore), dass die Kriegsetats in die intellektuelle Bildung gesteckt würden (Steve Lacy), Gerechtigkeit, Wahrheit und Schönheit (Stan Getz), ein gutes Leben zu leben ohne Scheiße spielen zu müssen (Joe Zawinul), Freiheit für Südafrika (Miriam Makeba), weiß zu sein (Miles Davis), Drillinge (Dinah Washington), keine weitere Medizin einnehmen und nicht wieder ins Krankenhaus gehen zu müssen (Bud Powell), spielen, spielen, Liebe machen (Kenny Drew). Albert Mangelsdorff ist der einzige Deutsche (und einer der wenigen Europäer), die von der Baroness befragt wurden. Er antwortete: “Zuerst einmal möchte ich lang genug leben, um in meinem Spiel zu einem für mich befriedigenden Resultat zu gelangen. Ich wünsche mir, dass das Leben eines Musikers nicht sein Familienleben stört. Ich wünsche mir, dass die Menschen auf der Welt endlich vernünftig genug werden, Frieden für alle zu schaffen! (Und ich wünsche mir, dass dieser Wunsch als erster erfüllt wird!).” Angereichert sind die Texte mit Fotos aus dem Privatarchiv der Baroness – private Bilder vom tanzenden Monk, von Miles und Coltrane, Dexter Gordon und all den anderen Freunden der Autorin. Farbbilder und Schwarzweißfotos – oft sieht man den Bildern an, dass sie über Jahre in der Schublade gelegen haben. Aber gerade die Privatheit dieser Aufnahmen macht ihre Besonderheit aus, eine Intimität, in der man kaum sonst diese Jazzheroen gesehen hat.

Wolfram Knauer (April 2007)


 

Benny Goodman. The Famous 1938 Carnegie Hall Jazz Concert
von Jon Hancock
Shrewsbury 2008 (Prancing Fish)
218 Seiten, 24,99 Britische Pfund
ISBN: 978-0-9562404-08

2008hancockAshley Kahn hat mit seinen Büchern über Miles Davis’ “Kind of Blue” und John Coltranes “A Love Supreme” ein Beispiel gesetzt, wie man Jazzgeschichte auch aus dem Augenblick heraus schreiben kann, mit dem Fokus auf einen spezifischen Punkt des geschichtlichen Ablaufs. Er hat gezeigt, dass sich aus Archiven und Erinnerungen die komplexen Entwicklungen nachzeichnen lassen, die zu jenen legendären und einflussreichen Alben führten. Wenige Momente der Jazzgeschichte sind so genau beleuchtet worden – und außer spezifischen Alben handelt es sich bei solchen Fokus-Abhandlungen meist um besondere Konzerte: Paul Whitemans Aeolian Hall Concert erhielt erhöhte Aufmerksamkeit genauso wie Charlie Parkers Massey Hall Concert. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich jemand dem lange Jahre erfolgreichsten Livekonzert des Jazz annahm, dem Konzert, das Benny Goodman am 16. Januar 1938 in der New Yorker Carnegie Hall gab und bei dem er mit seiner Bigband, mit Trio und Quartett sowie mit renommierten Kollegen aus anderen Bands in einer Jam Session zu hören war. Das Konzert hat Jazzgeschichte geschrieben, auch deshalb, weil es damals mitgeschnitten und der Mitschnitt später in guter Qualität veröffentlicht wurde, so dass fast jeder Programmpunkt des Abends auch im hörenden Gedächtnis der Jazzgemeinde erhalten blieb. Immer wieder wurde über das Konzert geschrieben, doch mit diesem Buch hat Jon Hancock die ultimative Monographie zum 16. Januar 1938 verfasst. In seinem Buch finden sich jede Menge Originaldokumente, Fotos von Eintrittskarten genauso wie ein Faksimile des Programmheftes, Vertragsvereinbarungen über die Plattenveröffentlichung und wahrscheinlich sämtliche Fotos, die von jenem Abend in der Carnegie Hall aufzutreiben waren. Hancocks Kapitel beleuchten die Umstände des Konzerts. Er erzählt kurz die Geschichte des Konzertsaals, erklärt, wie Goodman überhaupt auf die Idee eines Konzerts im ehrwürdigen Saal kam und wie sich die Pläne langsam verdichteten. Er berichtet von Problemen und Diskussionen über den Ablauf genauso wie die Bühnenbeleuchtung. Er weiß Geschichten über die Proben zu erzählen (auch hiervon gibt es Fotos), über den Ticketverkauf und die Abendplanung: Auf die Frage, wie lang denn die Pause sein solle, antwortete Goodman damals angeblich: “Oh, ich weiß nicht… Wie lang macht denn Herr Toscanini gewöhnlich?” Schließlich das Konzert selbst, das Hancock Stück für Stück kommentiert und dabei sowohl auf zeitgenössische Kritiken wie auch auf spätere Berichte zurückgreift. Er erzählt die Geschichte des Konzertmitschnitts sowie eines Newsreel-Filmdokuments des Konzerts. Er diskutiert das Album-Design der in den 1950er Jahren erstveröffentlichten Aufnahmen und schreibt über das Restaurations-Projekt von Phil Schaap, dem es 1997 gelang, das Konzert in kompletter Länge zusammenzustellen. Zum Schluss wirft er noch einen Blick auf die Jubiläumsveranstaltungen von 1958, 1968, 1978, 1988, 1998 und 2008. Eine ausführliche Bibliographie zum Konzert folgt, die ausführlichen Programmnotizen von Irving Kolodin sowie eine Auflistung sämtlicher Auftritte Goodmans in der Carnegie Hall von 1938 bis 1982. Eingeleitet wird das Buch von einer liebevollen Würdigung ihres Vaters durch Rachel Edelson, die Tochter des Klarinettisten, die davon erzählt, wie ihr Vater immer auf der Suche nach dem perfekten Klarinettenblättchen gewesen sei. Alles in allem: Eine “labor of love”, kurzweilig geschrieben, reich bebildert und nicht nur für Goodman-Fans zu empfehlen.

(Wolfram Knauer, Februar 2010)


 

Ron Carter. Finding the Right Notes
von Dan Ouellette
New York 2008 (artistShare)
434 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-615-26526-1

2008oulletteBassisten sind die Grundstützen des Jazz, von Walter Page und Jimmy Blanton über Ray Brown, Charles Mingus bis zu Charlie Haden. Ron Carter, mittlerweile 72 Jahre alt, gehört mit zu den ganz großen seines Instruments: immer verlässlich im Hintergrund, immer präsent, wenn man ihn herausstellte, ein Musiker, der die Kollegen stützte, egal ob sie eigene Projekte realisieren wollten oder an seinen Projekten teilhatten. Dan Ouellette hat sich mit dem Bassisten zusammengesetzt, um seine Erinnerungen niederzuschreiben, die Erfahrungen eines der meistaufgenommenen Musiker des Jazz. Carter wuchs in Ferndale, einem Vorort von Detroit, auf, und wurde von seinem Vater ermutigt, Cello zu spielen. Er studierte Cello, dann Kontrabass an der Cass Technical High School und danach vier Jahre lang an der renommierten Eastman School of Music in Rochester, New York. Hier lernte er auch, dass, so gut er auch als Instrumentalist war, ihm in der klassischen Welt die Hautfarbe im Weg stand. Kein geringerer als Leopold Stokowski lobte ihn für sein Bassspiel, erklärte aber zugleich, dass er ihn als Schwarzen in Houston, wo er dirigierte, niemals im Orchester durchbringen könne. Neben dem Studium spielte Carter in einem lokalen Jazztrio, aber auch mit Gap und Chuck Mangione oder dem Saxophonisten Pee Wee Ellis, die alle damals in Rochester lebten. 1959 ging Carter nach New York, arbeitete mit Chico Hamilton, Randy Weston, Eric Dolphy, Benny Golson und vielen anderen. Er studierte an der Manhattan School of Music, und war abends ein gefragter Bassist in unterschiedlichsten Ensembles. 1963 engagierte ihn Miles Davis für seine Band, mit der Carter über die Jahre einflussreiche Alben einspielen sollte: “E.S.P.”, “Miles Smiles”, “Sorcerer”, “Nefertiti”, “Water Babies”, “Miles in the Sky” und “Filles de Kilimanjaro”. Carter erzählt über die Zeit bei Miles, über Aufnahmesitzungen und Konzerte und kommentiert einige der Einspielungen, die er mit Miles machte. In den 1970er Jahren spielte er mit dem Great Jazz Trio und mit Herbie Hancocks V.S.O.P., wirkte daneben über die Jahre immer wieder in Tributprojekten an seinen früheren Chef mit, ob auf Platte oder bei Konzerten. Daneben aber verfolgte er auch seine Karriere als Bandleader, insbesondere auf Alben, die er in den 1970er Jahren für das Label CTI aufnahm. 1976 wechselte er zu Milestone Records, später dann zu Blue Note. Ein eigenes Kapitel befasst sich mit Carter, dem Sideman, ein weiteres mit seiner Studioarbeit für Werbemusik sowie ein drittes mit seiner Mitwirkung bei Filmen wie “Bird” oder “Kansas City”. Carters Ausflüge in brasilianische Musik finden genauso Erwähnung wie jene in die Welt der klassischen Musik oder seine Arbeit als Jazzpädagoge. Sein Duo mit Jim Hall kommt genauso zur Sprache wie Carters jüngste eigene Bands, sein Cello Choir und sein Ausflug in des Welt des HipHop. Zum Schluss findet sich noch ein Live-Blindfold-Test, bei dem Carter 2007 bei der Tagung der International Association of Jazz Educators Aufnahmen von Kollegen kommentierte, sowie ausführliche Kommentare zu seinem gewählten Instrument, dem Kontrabass. Ein Appendix versammelt Interviewausschnitte anderer Musiker zu Ron Carter, etwa von Buster Williams, Chick Corea, Gonzalo Rubalcaba, Stanley Clarke, Esperanza Spalding, Charlie Haden, Dave Holland, Grady Tate, Javon Jackson, John Patitucci, Jacky Terrasson, Wynton Marsalis, Jimmy Heath und Billy Taylor. Ein zweiter Appendix erteilt Auskünfte aus dem eher privaten Bereich, etwa, welches Auto Carter fährt, welche Pfeife er raucht, wo er seine Kleidung kauft, welche Stereoanlage er zuhause hat und welche Platten er auf eine einsame Insel mitnehmen würde. Oullette greift auf Carters Erinnerungen zurück, zitiert aber auch ausführlich aus zuvor veröffentlichten Interviews. Das Buch ist eine würdige Hommage an einen der ganz Großen seines Instruments, überaus lesenswert, voll mit Insiderinformationen und jedem empfohlen, der sich für Carter, Miles Davis oder den Jazz der 60er bis 80er Jahre interessiert.

(Wolfram Knauer, Februar 2010)


 

Swing Is the Thing. Hengelo en de Jazz 1920-1960
von Henk Kleinhout
Hengelo 2008 (Uitgiverij Smit)
157 Seiten, 23,85 Euro
ISBN: 978-90-6289-626-4

2008kleinhoutHenk Kleinhout spielte Posaune in verschiedenen traditionellen Jazzbands, beschäftigte sich in seinen Studien allerdings genauso mit der Black-Power-Bewegung und der amerikanischen Jazzavantgarde. 2006 promovierte er sich mit einer Arbeit über die Rezeption des Jazz in den Niederlanden der Wiederaufbauzeit und legt in diesem Buch eine Geschichte des Jazz in Hengelo vor, einer Mittelstadt nahe Enschede, nicht weit von der deutschen Grenze. Ein Einleitungskapitel macht auf die erste Jazzrezeption in den Niederlanden aufmerksam, Konzerte Paul Whitemans in Scheveningen und Amsterdam, Tourneestops von Armstrong, Ellington, Benny Carter und Coleman Hawkins. Dann geht es in die Stadtgeschichte. Die ersten Belege für Jazz in Hengelo findet Kleinhout bereits 1916, als die “Timbertown Follies”, eine Varietégruppe, in Hengelo auftraten. 1919 stand das Wort Jazz (noch geschrieben als “jasz”) zum ersten Mal in der Lokalzeitung, in der Anzeige einer Tanzschule. (Kurz darauf erschien die Anzeige offenbar mit korrigierter Schreibweise, wie ein Faksimile im Buch deutlich macht). Von 1923 gibt es Anzeigen für “Jazz Band Balls”, also Tanzveranstaltungen, bei denen auch eine “Original Jazz-Band” zu hören war. Ob daran irgendwelche Hengelo’schen Musiker beteiligt waren, kann auch Kleinhout nicht beantworten. Es gab in den 1920er Jahren Konzerte und Tanzveranstaltungen und in der Tagespresse außerdem Berichte beispielsweise über britische Bands, die in Hengelo im Rundfunk zu hören waren. In den 1930er Jahren sah es dann bereits anders aus. Im Hotel Eulderink gastierte das Appleton Trio; andere Bands wie die Rhythm Kings aus Leeuwarden oder die Blue Ramblers waren ebenfalls viel in der Stadt zu hören. Kleinhout dokumentiert akribisch Engagements und Tanzveranstaltungen, immer mit einem Seitenblick auf anderswo in den Niederlanden stattfindende Jazzaktivitäten, die Ramblers etwa oder den landesweit spürbaren Eindruck, den Duke Ellingtons Orchester bei einem Konzert in Amsterdam auf die niederländische Jazzszene machte. In den 1940er Jahren war das Land von den Nazis besetzt, aber Jazz gab es trotzdem, gespielt etwa von den Bands von Ernst van’t Hoff oder Dick Willebrandts. Hengeloer Lokalmatadoren wie Manny Oets dürfen im Buch nicht fehlen, genauso wenig wie Verweise auf Gastspiele der Ramblers 1946 oder von Nat Gonella 1949. In den 1950er Jahren dann stellt Kleinhout Ensembles wie das Vokalensemble The Vocal Touches heraus, das Harry Banning Quartet, das sich in Besetzung und Repertoire am Modern Jazz Quartet orientierte, das Quartett des Pianisten Fred van de Ven oder die Band Hotclub d’Hengelo. “Swing Is the Thing” beschreibt, wie eine Musik langsam aber sicher Fuß fasst in einer Mittelstadt der Niederlande, wie aus Zuhörern und Unterhaltungssüchtigen Fans werden und wie sich eine Szene herausbildet, die nach wie vor zwischen Spaß und Bewusstsein um den Ernst der Musik schwankt. Kleinhout hat in nationalen Jazzblättern genauso wie in lokalen und regionalen Zeitungsarchiven recherchiert. Ein Personenregister rundet das vordergründig vielleicht vor allem für Hengeloer Jazzfreunde interessante Buch ab, das aber zugleich ein Puzzlestein zur Dokumentation des niederländischen jazz darstellt.

(Wolfram Knauer, Januar 2010)


 

Lutzemann’s Jatzkapelle. Alltag & Abenteuer einer “German Jazzband”
von Lutz Eikelmann
Berlin 2008 (Verlag Pro Business)
118 Seiten
ISBN: 978-3-86805-239-8

2008eikelmann“Lutzemanns Jatzkapelle” wurde 1993 gegründet und ist, wie schon der Bandname dem eingeweihten Jazzkenner verrät, in den traditionellen Stilarten des Jazz zu Hause. Eikelmann ist abwechselnd Tubist, Bassist und Schlagzeuger der Kapelle und erzählt in seinem Buch Anekdoten aus 15 Jahren Bandgeschichte. Es sind Anekdoten von Reisen in nähere und weiter entfernte Regionen, von musikalischen und menschlichen Höhepunkten und Zwischenfällen. Es sind Geschichten aus Clubs, von Festivals oder über Gigs in Einkaufszentren, von Kollegen wie etwa dem 2002 verstorbenen Saxophonisten Fitz Gore oder über den Posaunisten Hawe Schneider. Im Mittelpunkt des Buchs stehen eine Reise nach New Orleans, eine Jazzkreuzfahrt durch die Karibik und eine weitere (“Jazz Meets Klassik”) durchs Mittelmeer. Dann kommen Lobreden aus der Presse, Erinnerungen an die erste CD, an einen Drehtag für eine Fernsehsendung mit Marie-Luise Marjan (“Mutter Beimer”), und an das Lonnie Donegan Projekt, das Eikelmann 2003 nach dem Tod des britischen Gitarristen, Banjospielers und Sängers ins Leben rief. Das Buch ist ein Sammelsurium vieler unterschiedlich interessanter Anekdoten und damit vor allem für Freunde des “Oldtime-Jazz”, wie Eikelmann seine Musik selbst bezeichnet, ein nettes Erinnerungsbüchlein. Editorisch lässt es zu wünschen übrig; zu zusammenhanglos liegen die Anekdoten nebeneinander; zu banal (und zu pointenarm) sind etliche der Anekdoten, zu fragwürdig einige der Witzchen, die im Männergespräch vielleicht durchgehen und auch beim Erzählen am Stammtisch witzig wirken mögen , auf Papier gedruckt aber doch eher peinlich anmuten. Schließlich steckt zu wenig Struktur in dem allen; das Buch wirkt stellenweise mehr wie eine Werbebroschüre als wie eine Dokumentation. Wenn überhaupt, so macht “Lutzemann’s Jatzkapelle” allerdings eines bewusst: dass nämlich die Szene des traditionellen Jazz, ob New Orleans, Dixieland oder “Oldtime” in Deutschland einer kritischen Bestandsaufnahme harrt, die die Geschichten der Musiker, also auch Eikelmanns Erfahrungen, bündelt und in Beziehung setzt zu den politischen, kulturellen und ökonomischen Entwicklungen in Deutschland von 1945 bis heute, die die ästhetischen Implikationen des Stils vorbehaltlos analysieren und damit vielleicht eine ähnliche Neubewertung der Szene erreichen könnte wie sie George McKay in Kapiteln seines Buchs “Circular Breathing. The Cultural Politics of Jazz in Britain” gelungen ist.

(Wolfram Knauer, Januar 2010)


 

Ich hab den Blues schon etwas länger. Spuren einer Musik in Deutschland
Herausgegeben von Michael Rauhut und Reinhard Lorenz
Berlin 2008 (Ch. Links-Verlag)
412 Seiten, 29,90 Euo
ISBN 978-3-86153-495-2

2008rauhut2008 begaben sich Michael Rauhut und Reinhard Lorenz mit ihrem Buch “Ich hab den Blues schon etwas länger“ auf die “Spuren des Blues in Deutschland“ (Ch. Links-Verlag). Herausgekommen ist ein hervorragend lesbarer Reader mit Texten zu regionalen Bluesszenen in Ost und West, historischen Anrissen zur afroamerikanischen Musiktradition in Deutschland und persönlichen Anekdoten “Bluesbetroffener“.

Das meiste ist kurzweilig zu lesen, zwar selten wirklich neu, doch in der Kombination der Texte originell zusammengestellt. So folgen die einzelnen Kapitel den Wochentagen, beginnend bei Montag, um jedem Kapitel eine Textzeile des Bluesklassikers “Stormy Monday“ von T-Bone Walker voranzustellen. Das scheint zwar inhaltlich nicht sonderlich viel Sinn zu machen, ist aber – in der positiven Wendung, die die Strophe gegen Ende nimmt (“Eagle flies on Friday“) – vielleicht eine Allegorie für die Hoffnung, die die Herausgeber in Bezug auf die künftige Entwicklung des Blues in Deutschland hegen. Da verschmerzt man, dass viele der Texte Zweitverwertungen der Autoren sind, die so oder in leicht geänderter Form an anderer Stelle bereits veröffentlicht wurden. Besonders beachtlich darunter ohne Zweifel – und das Vergnügen beim Lesen erheblich steigernd – die kurzen Reminiszenzen prominenter, lebender oder bereits verstorbener Bluesfans wie Peter Maffay, Eric Burdon, Götz Alsmann, Wim Wenders (entrichtet ein Geleitwort), Joachim-Ernst Berendt, Olaf Hudtwalcker, Emil Mangelsdorff und anderer.

Analytische Artikel zur Situation des Blues in Deutschland in Vergangenheit und Gegenwart sucht man in diesem Buch allerdings meist vergebens, bekommt sie lediglich dort, wo man das auch erwarten darf – bei den Professoren Michael Rauhut (Vergleich der Blues-Diskurse in Ost und West) und Peter Wicke (Blues und Authentizität). Alles in allem handelt es sich bei diesem Werk um ein pralles Lesebuch für jene, die den Blues schon etwas länger haben und eigene Erinnerungen an ein Leben mit ihm gerne noch einmal aufwärmen möchten, und für jene, die immer schon einmal wissen wollten, was der Blues verdammt noch mal mit Deutschland zu tun hat.

(Arndt Weidler, Dezember 2011)


 

Barney Kessel. A Jazz Legend
von Maurice J. Summerfield
Blaydon on Tyne 2008 (Ashley Mark Publishing Company)
distributed by Hal Leonard Corporation
303 Seiten, 39,50 US-$
ISBN: 978-1-872639-69-7

2008summerfieldMit 12 Jahren faszinierte Barney Kessel die Gitarre im Fenster eines Musikgeschäfts in Muskogee, Oklahoma, so sehr, dass er sich das Instrument vom selbstverdienten Geld kaufte, obwohl sein Vater etwas dagegen hatte, weil Gitarre seiner Ansicht nach nur Bettler spielten. Er machte auf dem Instrument allerdings schnell solche Fortschritte, dass seine Mutter ihm 1939 eine elektrische Gitarre mit Verstärker kaufte. Er kaufte sich all die neuesten Platten Charlie Christians, und als der sich 1940 in Oklahoma City aufhielt, verbrachte Barney drei Tage mit seinem Idol, spielte mit ihm und ließ sich Tricks beibringen. 1942 zog es den 19-jährigen nach Los Angeles und wurde bald Gitarrist des Orchesters von Chico Marx, geleitet von Ben Pollack. Er teilte das Zimmer auf Tourneen meist mit Mel Torme, der nicht nur für die Band sang, sondern ab und zu auch Schlagzeug spielte. 1944 spielte er mit Charlie Barnet und machte 1945 seine erste Platte unter eigenem Namen. 1947 spielte er sowohl mit Benny Goodman wie auch mit den Charlie Parker All Stars. Ende der 1940er Jahre dann als Studiomusiker für Capitol Records in Hollywood, eine Funktion, in der er Jazz- genauso wie andere Stars begleitete, darunter auch Marlene Dietrich, Doris Day oder Maurice Chevalier. 1952 bat Norman Granz ihn, beim (klassischen) Oscar Peterson Trio mitzumachen; ansonsten wirkte er in den 50er Jahren bei vielen Alben für das Label Contemporary mit, die teilweise auch unter seinem Namen erschienen. Summerfield beschreibt Kessels Arbeit als Studiomusiker. Ende der 60er Jahre lebte Kessel eine Weile in London und kehrte in der Folge immer wieder zu Tourneen nach Europa zurück. 1974 trat er erstmals mit Charly Byrd und Herb Ellis in der Band “The Great Guitars” auf, die in wechselnden Besetzungen bis in die 190er Jahre bestand. Im Alter von 68 Jahren erlitt Kessel im Mai 1962 einen Schlaganfall, nach dem er nicht mehr Gitarre spielen konnte. 2004 starb er an den Folgen eines Gehirntumors. Summerfields Buch zeichnet Kessels Lebensgeschichte nüchtern nach, mit vielen Daten und Fakten sowie etlichen Interviewauszügen. Ein eigenes umfangreiches Kapitel ist seinen Gitarren und seiner Ausrüstung gewidmet. “Thoughts on Music & Life” ist ein Kapitel überschrieben, das Interviewausschnitte des Gitarristen sammelt. In einer Fotogalerie finden sich unzählige seltene Fotos, einschließlich seiner Geburts- und Todesurkunden. Schließlich enthält das Buch eine 150 Seiten umfassende Diskographie des Gitarristen. Für Kessel-Fans ein Muss, das in seinen biographischen Kapiteln vielleicht manchmal etwas trocken zu lesen ist, aber durch die vielen Einsprengsel von Auszügen aus Interviews genügend Stoff enthält, um ein umfassendes Bild des Wirkens von Barney Kessel geben zu können.

(Wolfram Knauer, Januar 2010)


 

The World That Made New Orleans. From Spanish Silver to Congo Square
von Ned Sublette
Chicago 2008 (Lawrence Hill Books)
360 Seiten
ISBN: 978-1-55652-730-2

2008subletteNew Orleans hat viele Geschichten. Da ist die Geschichte der nördlichsten Stadt der Karibik, die Geschichte der französischen Kolonie, die Geschichte einer gut funktionierenden Vielvölkerstadt, die Geschichte der Sklaverei, die Geschichte der Hafenstadt mit allen dazugehörigen Subgeschichten, von Schifffahrt bis Prostitution, und natürlich die Geschichte der Musik, von Oper, Gesangsvereinen, Marschkapellen, Ragtime und Jazz. Ned Sublette zeichnet in seinem Buch die Frühgeschichte der Stadt nach, von den Anfängen als französische Siedlung bis etwa 1820, als die Stadt mit ihren unterschiedlichen Traditionen fest in die Vereinigten Staaten von Amerika eingemeindet worden war. Ihm geht es um kulturelle Einflüsse, die sich nicht nur in der Musik niederschlagen (die allerdings immer wieder ausgiebig Erwähnung findet), sondern auch in Sitten und Gebräuchen, im Lebensgefühl der Menschen und auch in politischen Entscheidungen, die die Crescent City bis heute wie eine so gar nicht wirklich amerikanische Stadt erscheinen lassen. Straßennamen in New Orleans erzählen die Geschichte der Stadt, erklärt Sublette, Straßen, die nach Generälen und Präsidenten benannt seien, nach “Mystery”, “Music” und “Pleasure”. Sublette recherchiert die Geschichte der Stadt als Historiker, aber er erzählt sie als ein kritischer Geist von heute, verbindet die geschichtlichen Erkenntnisse immer mit den Erfahrungen der Gegenwart. Reisende hätten sich immer schon gewundert, wie man eine Stadt auf so unfestem Grund bauen könne, berichtet er. 1492 entdeckte Kolumbus teile Amerikas, und im 16. Jahrhundert kolonialisierten die Spanier viele Gebiete der Karibik. Sublette erzählt die Geschichte des Wettstreits der europäischen Mächte um die Kolonien in der Neuen Welt, insbesondere die wechselnden Erfolge der Spanier, der Briten und der Franzosen, und wie aus dieser Konkurrenz heraus der französische Gesandte Pierre Le Moyne, Sieur d’Iberville, verschiedene Posten nahe der Mississippi-Mündung gründete, bevor er in den frühen Jahren des 18. Jahrhunderts eine Siedlung gründete, die gegen 1718, dem Herzog zu Orléans zu Ehren, Nouvelle Orléans genannt wurde. Sublette beschreibt die wirtschaftliche Entwicklung der frühen französischen Siedlung und ihre politische Stellung, die etwa der “Sibiriens im 20. Jahrhunderts” glich. Er beschreibt, wie man versuchte neue Einwohner auch aus anderen Ländern als Frankreich anzuwerben, Deutsche beispielsweise, und wie dann, bereits ab 1719, der Sklavenhandel aufblühte. Man liest, woher die Sklaven anfangs kamen und welche Akkulturationsprozesse sie in der neuen Heimat durchmachten (durchmachen mussten). 1762 schenkte Louis XV Louisiana an seinen Cousin Carlos III von Spanien. Die Spanier führten neue Gesetze ein, die auch die Sklaven betrafen und weniger streng waren als der französische Code Noir. Schon damals hatte New Orleans ein ausgeprägtes Nachtleben und Bedarf an Musik. Sublette schreibt in diesem Zusammenhang auch über die Bedeutung des Congo Square, die noch auf französische Zeiten zurückging, über die Tänze der Schwarzen dort, die nicht nur von Durchreisenden wahrgenommen wurden, sondern auch von der spanischen Regierung geregelt wurden — übrigens unter dem Namen “tangos”; Grund genug, kurz auf die Verbindungen zwischen Habanera- und Tangorhythmen in der Karibik und New Orleans einzugehen, Louis Moreau Gottschalk, Jelly Roll Morton, W.C. Handy und den Spanish Tinge zu erwähnen, der bis heute in der Stadt eine wichtige Rolle spielt. Am Karfreitag 1788 fing ein Altar auf der Chartres Street Feuer und setzte nach und nach die ganze Stadt in Brand. Ihr Wiederaufbau geriet im spanischen Kolonialstil, der bis heute das Straßenbild der Stadt, auch ihres paradoxerweise als “French Quarter” bezeichneten berühmtesten Stadtteils, prägt. Sublette beschreibt die Sklavenrevolten in dem unter französischer Herrschaft stehenden Santo Domingo, die Auswirkungen auf New Orleans hatten, weil viele der ehemaligen Sklaven dorthin flohen, als nach der Französischen Revolution die Sklaverei in der gesamten französischen Einflusssphäre abgeschafftt wurde. Mit den vielen freien Schwarzen aus Santo Domingo kam auch die revolutionäre Idee von Freiheit für alle Sklaven in die Stadt. Die Französen wollten ihre ehemalige Kolonie zurück, und Napoleon Bonaparte bestand 1802 darauf, Louisiana wieder als französisches Gebiet zu akquirieren. Ein Jahr später allerdings bot er das ganze Land Louisiana bereits wieder dem amerikanischen Präsidenten Thomas Jefferson für 60 Millionen Francs zum Kauf an. Die USA mussten nun mit der Tatsache umgehen, dass aus historischen Gründen in Louisiana Schwarze verschiedener sozialer Klassen existierten: frisch “importierte” Sklaven, in Amerika geborene und bereits teilweise akkulturierte Sklaven sowie freie Schwarze insbesondere aus Santo Domingo. Sublette diskutiert kurz die Haltung des Präsidenten zur schwarzen Bevölkerung seines Landes — er war ein strikter Verfechter der Sklaverei, sah Sklaven als frei verfügbares Kapital, besaß selbst über die Zeit seines Lebens mehr als sechshundert Sklavenund hatte zugleich ein enges Verhältnis zu einer seiner Sklavinnen. Ihm war zugleich bewusst, dass die Tage der Sklaverei gezählt waren und eine kluge Regierung Gesetze in Angriff nehmen musste, um die Zeit danach vorzubereiten. Unter Jeffersons Regierung allerdings wurde New Orleans erst einmal zum größten Sklavenmarkt der Vereinigten Staaten. Sublette beschreibt, wie Sklaven für die weiße Bevölkerung sozialen Status bedeuteten und wie Louisiana nachgerade die “Züchtung” neuer Sklaven unterstützte. In New Orleans durchdrangen sich inzwischen die verschiedenen kulturellen Traditionen, insbesondere der französischen und britischen Bevölkerung. Es gab Bälle zuhauf; 1805 wurde die erste Oper in der Stadt aufgeführt; es gab zwei Theater und daneben ein lebendiges afro-amerikanisches religiöses Leben. Die schwarze Bevölkerung der Stadt war größer als die weiße, aber nach und nach wurden die neuen Gesetze der Vereinigten Staaten durchgesetzt, die weitaus strenger durchgriffen und insbesondere viele der freien Schwazen ihrer zuvor zugestandenen Rechte beraubten. 1809 erklärte Kuba sich solidarisch mit dem spanischen König, der gerade Frankreich den Krieg erklärt hatte. Kuba wies alle Franzosen aus, zählte dazu aber grundsätzlich all jene, die keinen Eid auf Spanien geschworen hatten, also auch viele der zuvor aus Santo Domingo nach Kuba gekommenen Schwarzen, die in der Folge vor allem nach New Orleans flüchteten. Diese meist französisch sprechenden Einwanderer wurden bald ein wichtiger Teil der Gesellschaft, politische Bürger mit Einfluss, Zeitungsverleger, Anwälte und Kaufleute. Hier nun ended Sublettes Geschichte, noch lang vor der Abschaffung der Sklaverei also, lang vor den musikalischen Auswirkungen, die der Melting Pot New Orleans im Jazz des 20sten Jahrhunderts zeitigen sollte. Doch Musik spielt überall in seinem Buch eine wichtige Rolle, und die Art, wie er historische Entwicklungen, ihre Auswirkungen auf die Menschen mit verschiedenem sozialen Status und letzten Endes auf den Lauf der Dinge bis heute schildert, erklärt viel auch über das Faszinosum des Jazz in späteren Jahren. Macht und vielfache Machtwechsel, Akkulturation auf verschiedenen Ebenen und die kulturelle Vermischung, die bei alledem zwangsweise geschah, sind die bunte kulturelle Mischung, die so großen Einfluss auf die afro-amerikanische Musik des 20sten Jahrhunderts haben sollte. Sublettes Buch ist dabei kenntnisreich und spannend geschrieben, erklärt Zusammenhänge und lässt nie die persönliche Betroffenheit außer Acht, auch die persönliche Betroffenheit des Autors, der in seiner Erzählung immer wieder auf eigene Vorfahren trifft.

(Wolfram Knauer)


60 ans de Jazz au Caveau de la Huchette
von Dany Doriz & Christian Mars
Paris 2008
l’Archipel
160 Seiten, 29,95 Euro
ISBN 978-2-8098-0033-3

2008caveauDie Caveau de la Huchette feierte 2006 seinen 60sten Geburtstag, und sie ist bis heute ein Unikum geblieben: einer jener Pariser Keller, in denen der Jazz zum Mittelpunkt der Existentialistenkultur wurde, mit Blues, Boogie und Tanz eine nächtliche Alternative zu den sonstigen Treffpunkten der Intellektuellen und Möchtegernintellektuellen darstellte. Wer nie in der Caveau de la Huchette gewesen ist, sollte dies nachholen, denn noch heute wird der Jazz dort auf jenes motorische Element zurückgeholt, aus dem er letzten Endes mit entstanden ist. Der Vibraphonist Dany Doriz hat oft genug im Club gespielt und jetzt zusammen mit dem Journalisten Christian Mars eine Dokumentation über die Geschichte des Clubs und seiner Atmosphäre vorgelegt. Jede Menge historische Fotos zeigen den Raum und die unterschiedlichen Acts, die über die Jahrzehnte dort auftraten. Neben den Jazzmusikern waren das durchaus auch mal Magier, die Tauben aus einer Cloche zauberten. Die Tänzer aber sind es vor allem, die neben den Musikern den Keller in der Rue de la Huchette beherrschten. Lindy Hop, R&B, Rock ‘n’ Roll, irgendwie ähnelten sich die Tänze, und neben den Paartänzen gab es auch Gruppentänze und Stepptanz. Die Musiker sind reichlich dokumentiert in Fotos und Geschichten, Boris Vian etwa oder Claude Luter, der mit seinen Lorientais hier und anderswo im Viertel zuhause war; Sidney Bechet, der in den 1950er Jahren als großer Star in Frankreich lebte; Claude Bolling, Maxim Saury, Raymon Fonsèque, Irakli und viele andere Musiker und Bands, für die die Caveau ein zweites Zuhause war. Ein eigenes Kapitel befasst sich mit dem Streit zwischen Traditionalisten und Modernisten. Natürlich erzählt auch Dany Doriz seine Geschichte; und auch die oft in der Caveau auftretenden Amerikaner kommen nicht zu kurz: Bill Coleman, Hal Singer, Benny Waters, Memphis Slim, Sam Woodyard, Milt Buckner, Art Blakey, Wild Bill Davis, Al Grey, Cat Anderson sowie Doriz’s Vorbild, der große Lionel Hampton, der 1976, zum 30sten Geburtstag des Clubs, zugegen war. Das Buch ist voller schöner und seltener Fotos, denen es gelingt die Atmosphäre im Kellergewölbe von Saint Germain-des-Pres widerzugeben. Am Schluss gibt es eine Programmliste der zwischen 1971 und 2007 im Club aufgetretenen Künstler. Ein schönes Andenken für jeden, der die Caveau schon einmal besucht hat — und für alle anderen eine Anregung, wenn auch spät, so wenigstens jetzt noch einmal in die Keller der Existentialisten abzutauchen.

(Wolfram Knauer)


 

Ben van Melick
Han Bennink. Cover Art for ICP and other labels

Rimburg/Niederlande 2008
Uitgeverij Huis Clos
64 Seiten, 15 Euro
ISBN: 90-1234-4568-9

2008benninkErstaunlich viele Schlagzeuger besitzen eine zweite künstlerische Ader als Maler — George Wettling, Daniel Humair, Joe Hackbarth, Ralf Hübner, Tony Oxley, Vladimir Tarasov sind bekannte Beispiele, aber auch der Niederländer Han Bennink gehört in diese Riege. Seine Cover Art prangt auf vielen Schallplattencovern für seine eigenen Projekte genauso wie für befreundete Musiker. Ben van Melick hat in diesem kleinen Büchlein die graphischen Ideen des Schlagzeugers für das ICP Label der Instant Composers Collective sowie für andere Labels gesammelt. In seinem Vorwort beschreibt van Melick biographische Stationen Benninks, der Grafik studiert und schon früh Bildende Kunst und Musik in seinen Performances gemischt habe, etwa bei einer Galerieeröffnung im Jahr 1966. Er habe sich dann lange Jahre vor allem um die Musik gekümmert und erst in den 1980er Jahren wieder verstärkt auch der visuellen Kunst zugewandt. Die Cover, die in dem Büchlein abgedruckt sind stammen aus den Jahren 1967 bis 2008. Witz, das Spiel mit der Irritation, künstlerische Rätsel und Vexierspiele finden sich darunter und erinnern im Charakter an den Schlagzeuger, der sein Publikum genauo gern in die Irre führt, bei dem oft scheinbar rein zufällige Gesten sich im Höreindruck als komplexe musikalische Statements entpuppen. Da bringt er Bilder aus einem Kindermalbuch in seltsam anmutende Bezüge zueinander, da arbeitet er mit Fotos und Collagen, mit Text und der Anordnung von Text (etwa dem rhythmischen Verteilen der Besetzungsnamen auf dem Plattencover). Collageartig zusammengeklebte Schreibmaschinentexte finden sich genauso wie kalligraphisch gestaltete Texte. Eine Schiedsrichterpfeife taucht öfters auf, und das “o” im letzen Wort des Albums “Bospaadje konijnehol” (Forest path rabbit hole) hat er im Original mit einem echten Hasenkötel markiert. Während anfangs Schwarz-Weiß-Cover überwiegen (sicher auch aus Kostengründen; die Auflage der Platten war gewiss nicht allzu hoch), finden sich spätestens ab dem neuen Jahrtausend Farbnuancen, die den Bildern noch mehr Tiefe und oft auch Doppeldeutigkeit verleihen. Immer wieder spielt Bennink dabei auch mit Selbstzitaten, erkennt man Elemente früherer Covergestaltungen wieder, ob dies nun konkrete Motive sind oder Gestaltungsmethoden. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass zwischen Bennink, dem Künstler, und Bennink, dem Musiker, gar kein so großer Unterschied besteht, dass die ästhetische Grundhaltung der hintersinnigen Umdeutung des Alltäglichen bei beiden eine ideelle Grundhaltung ist.

(Wolfram Knauer)


 

Michel Prodeau
La Musique de Don Ellis

Montalzat 2008
Éditions Boutik Pro
199 Seiten, 16 Euro
ISBN: 978-2-9532237-0-5

2008prodeauDer Trompeter Don Ellis hatte eine kurze, aber einflussreiche Karriere. Nur 20 Jahre dokumentieren Plattenaufnahmen den 1978 im Alter von gerade mal 44 Jahren verstorbenen Musiker, der immer mit zu den Experimentierern seines Metiers gehörte: ob mit ungeraden Metren, Zwölftonskalen, ethnischen Einflüssen aus indischer Musik oder solcher aus dem Balkan, elektronischer Klängen, dem Zusammenkommen von Jazz, Rock und Pop. Michel Prodeau versucht in seinem Buch eine Annäherung an den 1934 in Los Angeles geborenen Trompeter. Ihn interessieren dabei weniger biographische Details als vielmehr vor allem die auf Schallplatte dokumentierten Aufnahmen. Er erwähnt den Einfluss des Pianisten und Komponisten George Russell oder jenen der Third-Stream-Bewegung der 1950er und 1960er Jahre, die Experimente mit großem Orchester, neuen klanglichen wie metrischen Möglichkeiten, sein allgemeines Interesse am, Sprengen der Genregrenzen. Das Buch hangelt sich dabei von Album zu Album und wirkt damit wie eine gut kommentierte Diskographie, nennt Details der Kompositionsstrategien und Besonderheiten der Aufnahmesituationen, zieht allerdings nur wenig Querverweise und reicht auch in den angedeuteten Analysen nur selten über das hinaus, was auf den Platten zu hören und in den Plattentexten (in anderen Worten) nachzulesen wäre. Da merkt man dann Füllabsätze, etwa, wenn Prodeau sämtliche Aufführungsorte des Dokumentarfilms “Electric Heart, Don Ellis” auflistet und bleibt etwas enttäuscht zurück, dass die Aufzählung von namen im Text nicht mit Inhalt gefüllt wird, es also nicht nur wichtig ist, mit wem Ellis oder seine Mitmusiker zusammengespielt haben, sondern viel eher, welche musikalischen Erfahrungen sich mit solchen biographischen Details verbinden, die wiederum auf die Musik Ellis’ Einfluss haben. Eine Diskographie schließt das Buch ab; ein gerade in einer solch personen- und titelbetonten Monographie besonders nützlicher Namens- oder Titelindex fehlt leider. Auch in der Bibliographie fehlen Hinweise auf mehrere fachkundige amerikanische Dissertationen, die sich insbesondere mit Ellis’ metrisch-rhythmischen Experimenten, aber auch mit seinen weltmusikalischen Ansätzen und seiner Interpretation des Blues auseinandergesetzt haben. Prodeaus Buch ist allerdings zur Zeit die einzige auf dem Markt befindliche Monographie über den Trompeter.

(Wolfram Knauer)


 

Christian Béthune
Le Jazz et l’Occident
Paris 2008
Klinksieck
337 Seiten
ISBN: 978-2-252-03674-7

2008bethuneDer französische Philosoph und Jazzkritiker Christian Béthune beschäftigt sich in seinem neuesten Buch mit dem Verhältnis zwischen dem Jazz und der Philosophie und Ästhetik des 20sten Jahrhunderts.

Konkret fragt er danach, in welche philosophischen und ästhetischen Diskurse der westlichen Welt der Jazz im 20sten Jahrhundert gelangte, und welche philosophischen und ästhetischen Diskurse er beeinflusste. War der Erfolg des Jazz ein Zeichen dafür, dass die Kunst (im alten Sinne) an ihrem Ende angelangt sei oder aber war er eine Weltanschauung ganz eigener Art?

Der Jazz sei in eine ästhetische Welt geboren worden, an deren Zustandekommen er selbst zwar keinen Anteil hatte, die ihn aber in seiner eigenen Entwicklung nachhaltig beeinflussen sollte. Die Musik der schwarzen Amerikaner habe allerdings immer mit ihrer ganz eigenen historischen Situation gelebt, also der, eine Musik zu sein, deren Wurzeln sowohl in der westlichen Tradition wie auch im erzwungenen Traditionsverlust der Sklaverei steckten.

Die Schwarzen in Nordamerika hätten durch ihre Stellung als Sklaven, als eine Art “Untermenschen” zugleich auch eine Freiheit von Traditionen besessen oder zumindest die Chance der Umdeutung von Traditionen, wie dies auch Ralph Ellison in seinem Roman “Invisible man” angedeutet habe. Diese Negation der Menschlichkeit mache einen erheblichen Teil der Kraft des Jazz (und seiner Vorformen) aus, in dem die schwarzen Amerikaner nämlich genau diese ihre Menschlichkeit, ihre “humanité” deutlich manifestierten: Individualität als Beweis des Menschlich-Sein.

Und irgendwie, argumentiert, Béthune, sei der Erfolg des Jazz in Europa nach zwei Weltkriegen eben nicht nur der Präsenz amerikanischer Soldaten in Europa zu verdanken, sondern auch der Tatsache, dass auch die Europäer einer Negation von Geschichte ausgesetzt waren, einer Negation des Horrors. Für sie habe der Jazz eine essentiell humane Musik dargestellt, die es ihnen erleichterte, sich im Angesicht des Unmenschlichen wieder auf das Menschliche zu besinnen.

Jazz biete uns eine Art historischer Utopie, die Utopie der “zweiten Chance”. Für die Sklaven sei die Musik eine Überlebensstrategie gewesen. Und eine ähnliche Funktion räumt Béthune dem Jazz auch in seiner Beziehung zum Okzident ein. Ja, der Jazz besitze eine gewisse “Zeitlosigkeit” (hier wie anderswo nimmt Béthune deutlich Bezug auf Adorno), doch sei eben gerade diese Zeitlosigkeit höchst willkommen, wenn die Zeit selbst in ihrer Instabilität, ihrer Multiplizität, ihrer Endlichkeit in Frage stünde.

Inzwischen allerdings sei der Jazz selbst im Okzident angelangt, Teil der westlichen Kultur und Philosophie geworden. Diesen Weg verfolgt Béthune dann in seinem Buch in zwei Teilen. In ersten Teil versucht er eine Einordnung des “champ jazzistique”, wie er die Traditionen umschreibt, die im Jazz mündeten und den Jazz ausmachen. Seine Argumentation beschreibt die Auswirkungen der Sklaverei, die Arbeitsgesänge, Spirituals, Gospel und Blues, die Minstrelsy und das “Jazzzeitalter” der 1920er Jahre, die Ankunft des Jazz in Europa sowie seine Darstellung im Film und die langsame Entwicklung einer dezidierten Jazzästhetik (“De l’implicite à l’explicite”).

In einem zweiten Teil seines Buchs untersucht er dann die verschiedenen Bezüge jazzspezifischer Ausprägungen zur westlichen Tradition: Improvisation, Oralität, das gemeinschaftliche Entstehen von Kunst (also im Gegensatz zum uni-auktorialen Schaffensprozess), die verschiedenen Zeitkriterien, in die der Jazz eingreift (Form, Rhythmus, swing), das Verlangen danach, sich selbst auszudrücken, sowie nicht zuletzt die Körperlichkeit des Jazz sind Argumente für die vielfältigen Gegenmodelle, die der Jazz in die okzidentale Ästhetik und Philosophie einbringe.

Man muss sich sowohl auf Béthunes Thesen einlassen wie sie auch ein wenig vergessen bei der Lektüre, um ihnen zu folgen und vielleicht eigene Wege in der Deutung jazzhistorischer Entwicklungen und des Bezugs jazzspezifischer Herangehensweisen zur ästhetischen Tradition in Europa zu gehen. Das aber lohnt sich und zeigt, dass dieses Thema, so historisch Béthune es auch angeht (seine Beispiele stammen größtenteils aus der Vor-Free-Jazz, ja sogar noch Vor-Bebop-Zeit) ästhetisch ungemein aktuell und bei weitem nicht ausdiskutiert ist.

(Wolfram Knauer)


 

Mission Impossible. My Life in Music
von Lalo Schifrin: Mission Impossible. My Life in Music,
Lanham/MD 2008 (Scarecrow Press)
219 Seiten + 1 CD, 35 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-5946-3

2008schifrinDer Pianist Lalo Schifrin hat mindestens drei Karrieren hinter sich: als Jazzmusiker, als klassischer Komponist und als Komponist und Arrangeur für Film und Fernsehen. In allen drei Bereichen hat er Riesenerfolge gefeiert, spielte von 1958 bis 1963 mit Dizzy Gillespie, komponierte Werke für klassische Ensembles und schrieb die Musik etwa für “The Sting II”, “The Man from U.N.C.L.E.” oder eben “Mission Impossible”. In seiner Autobiographie erzählt er seine Geschichte. Er wurde 1932 in Buenos Aires in eine musikalische Familie geboren und war eine Art Kinderstar — mit neun Jahren spielte er Gershwins “Rhapsody in Blue” mit dem Philharmonischen Orchester unter Leitung von Erich Kleiber. In den 50er Jahren traf er oft mit Friedrich Gulda zusammen, den er als Bruder im geiste sieht, einen “Amphibienmusiker” zwischen Jazz und Klassik. 1954 zog es ihn nach Paris, wo er mit Bobby Jaspar und Chet Baker spielte. Zurück in Buenos Aires hörte Dizzy Gillespie ihn und lud ihn 1958 ein, Mitglied seiner Band zu werden. Schifrin erzählt einige schöne Anekdoten aus seinen Erlebnissen mit Gillespie, aber auch über Duke Ellington, Oscar Peterson, Sarah Vaughan, Stan Getz, Quincy Jones, Thelonious Monk, Miles Davis und John Coltrane, aber auch über Barbra Streisand und Luciano Pavarotti oder über Filmgrößen wie Orson Welles und Marlon Brando. 1964 schrieb Schifrin eine Jazzmesse für den Flötisten Paul Horn, bald folgten auch sinfonische Werke, die meist mit Jazz durchmischt waren. Seine Biographie wurde Richard Palmer in Form gebracht, aber etwas mehr editorische Arbeit hätte dem ganzen gut getan: Die Geschichten stehen manchmal etwas zusammenhanglos nebeneinander, und auch inhaltlich gibt es Unstimmigkeiten: falsche Schreibweisen (Frankfort), falsche Zuweisungen (Hugues Panassié habe angeblich die umfassendste Biographie Duke Ellingtons geschrieben) lassen das alles dann eben doch ein wenig zu sehr ins Unfaktische, rein Anekdotische abgleiten. Das liest sich leicht, ist aber eben auch mit Vorsicht zu genießen.

(Wolfram Knauer)


 

Jimmy Katz
Joe Lovano – The Cat with the Hat
(herausgegeben von Rainer Placke und Ingo Wulff
)

99 Duoton-Fotografien von Jimmy Katz. Mit Textbeiträgen
von Bruce Lundvall, Michael Cuscuna, John Scofield,
Greg Osby, Hank Jones, Gunther Schuller, Judi Silvano,
Joe Lovano u.a.
Bad Oeynhausen 2008 (Jazzprezzo)
deutsch/englisch, 152 Seiten, Fadenheftung, 22,5 x 27,5 cm
Zusammen mit einer CD “Joe’s Choice”
Preis: 52 Euro

ISBN: 978-3-9810250-6-4

2008lovanoIm Zentrum des diesjährigen „Weihnachtsfotobuches“ des Jazzprezzo-Verlages steht der amerikanische Tenorsaxophonist Joe Lovano fotografiert von Jimmy Katz, der bereits im letzten Jahr mit “Jimmy Katz in New York“ sein großes Debüt als amerikanischer Starfotograf hatte. Eine lange Freundschaft und Seelenverwandtschaft prägen die Beziehung dieser beiden Künstler. “Meine Sessions sind warm, entspannt und spirituell. Jimmy fängt diese Energie ein, dieses warme Gefühl, das auch in der Musik spürbar wird. Jimmy Katz hält die Freude fest, die in der Musik mitklingt.“ Diese gegenseitige Achtung und künstlerische Sensibilität kennzeichnet auch die Haltung von Jimmy Katz. “Als Fotograf veranstalte ich nie eine Fotosession im Studio, sondern halte fest, wie Musik gemacht wird. Mit meiner Arbeit möchte ich dem Betrachter das Gefühl geben, die Entstehung der Musik gemeinsam mir den Musikern zu erleben. Bei Joe Lovano waren dies insbesondere die “einzigartige Energie und Kreativität“, die Jimmy Katz beeindruckt haben.

…über den Mut zum Risiko, …über Lieblingsaufnahmen, …über Einflüsse, …über Unfälle, und über vieles mehr gibt Joe Lovano Auskunft. Diese über das Buch verstreuten, kurzen, unangestrengten Texte, bringen uns Joe Lavano als Künstler und Mensch sehr nahe.

Sessionfotografien, Gruppenaufnahmen, Aufnahmestudios: diese Foto-locations lassen den Betrachter hinter die Kulissen schauen. Sie machen den Part des Musikerlebens sichtbar, den sonst nur Eingeweihte erleben können. Jimmy Katz dokumentiert ganz unprätentiös die Tatsache, dass ein Jazzer eigentlich immer an seiner Musik arbeitet. Die Energie, Konzentriertheit, aber auch das starke Verbundensein der Musiker untereinander schleicht sich in die Szenenfotos von Jimmy Katz wie von selbst. Seine wahre Meisterschaft aber feiert er wie auch schon in seinem letztjährigen Bildband, in den Einzelaufnahmen. Hier zeigt sich seine Fotokunst in zeitlosem klassischem Charakter. Aus der Untersichtsperspektive verleiht er beispielsweise Joe Lovano im Duo mit Gonzalo Rubalcaba seine besondere Aura, als personifizierte Musik, die über den Dingen steht.

Der Jazzprezzo-Verlag ist gerade bei seinen Fotobüchern bekannt für außergewöhnlich gelungenes künstlerisches Design. Auch dieses Mal haben Rainer Placke und Ingo Wulff es wieder einmal geschafft, in kompaktem Format ein großes Fotobuch zu gestalten. Als Bonus gibt es dann auch noch eine CD mit den Lieblingsstücken Joe Lovanos, so dass dem Genuss mit allen Sinnen nichts mehr entgegensteht.

(Doris Schröder)


 

Jazz in Trier
von Karl-Heinz Breidt & Peter Heinbücher: Jazz in Trier,
Trier 2008 (Verlag Michael Weyand)
ISBN: 978-3-93528-61-4
Preis: 29,80 Euro

2008trier“Jazz ist nicht in Trier entstanden” lautet der erste Satz des Buches, das sich dennoch zum Ziel gesetzt hat, die Geschichte in der ältesten Stadt Deutschlands nachzuzeichnen. Es sammelt unterschiedliche Geschichten, wirft Schlaglichter auf verschiedene Szenen, dokumentiert Erinnerungen in Fotos, Schriftstücken und Interviews. Der erste Jazzkeller wurde 1953 im Keller der Schaabs-Villa gegründet und in dem sich der Jazzclub Evergreen traf. 1959 mussten die Jazzfans in andere Räumlichkeiten ausweichen. Andere Spielstätten kamen und gingen, und 1978 gründete sich der Jazz-Club Trier als eingetragener Verein und neuer Motor der Szene. 1999 kam es zum Bruch der Mitglieder des Vereins, und ein weiterer Club mit einem etwas sperrigeren Namen kam hinzu: der “Jazzclub EuroCore im Saar-Lor-Lux-Trier Musik e.V.”, der sich zum Ziel setzte, nicht nur lokale, sondern regionale, und zwar grenzübergreifend-regionale Jazzprojekte zu fördern. Thomas Schmitt war an der Gründung beider Clubs verantwortlich beteiligt. Die Luxemburger Jazzszene wird genauso beleuchtet wie die Jazzaktivitäten in Koblenz. Das Buch stellt Persönlichkeiten vor wie den Klarinettisten Klaus Muggel Weissroth, den Pianisten und Klarinettisten Gangold Brähler, den Posaunisten Michael Trierweiler, den Saxophonisten Joe Schwarz, den Trompeter Ralf Schmitt-Fassbinder, den Saxophonisten Stefan Reinholz, den Trompeter Helmut Becker, den trompeter Alb Hardy, den Pianisten Ben Heit, den Sänger Wolfgang Kernbach, den Bassisten Jürgen Laux oder den Schlagzeuger Benedikt Kündgen. Dieter Manderscheid und Georg Ruby erinnern sich an die 1970er Jahre in ihrer Heimatstadt. Die junge Jazzszene wird genauso beleuchtet wie die Schwierigkeiten, die sich anfangs aus der Existenz zweier Jazzclubs ergaben. Viele Fotos runden den aufwendig gestalteten Band ab. Ob man den kulturpolitischen Ansichten oder den jazzhistorischen Vereinfachungen der beiden Autoren überall folgen mag, die oft fast schon bezugslos ins Buch verstreut sind, bleibt jedem Leser selbst überlassen. Die Interviews und regionalen Geschichten wären allemal spannender als die Einordnung Trierer Jazzhistorie in die Weltgeschichte dieser Musik. Im Vorwort erklären die Breidt und Heinbücher etwas umständlich, wie Interviews die Grundlage für ihr Buch bildeten. Diese allerdings machen dann doch nur einen kleinen Ausschnitt des Textes aus und werden stilistisch eher holprig eingesetzt. Der Lektor hätte dem ganzen vielleicht ein wenig mehr an Lesefluss verleihen können. Ein Namensregister — für solche Bücher eigentlich Pflicht — fehlt aus unerklärlichen Gründen. Die allgemeine “Geschichte des Jazz als Kunstform des 20. Jahrhunderts”, das Kapitel über das “Phänomen Louis Armstrong” oder das seltsame Kapitel “Jazz als kulturelle Herausforderung” — in dem in der Hauptsache Ernst Jünger und Sidney Bechet zitiert werden, aber warum, weiß man nicht so genau –, hätte man sicher durch Trier-bezogenere Kapitel ersetzen können. Und statt einer seltsamen Plattenliste über “30 Jazz Tonträger, die in keiner Sammlung fehlen sollten” und in der Miles Davis und Duke Ellington neben Rod Mason und eher unbekannteren Trierer Musikern stehen, wäre eine Diskographie des Trierer Jazz dem Thema wahrscheinlich angemessener gewesen. So bleibt vor allem ein dokumentarische Wert der in dem Buch enthaltenen Daten, Fotos und sonstigen Dokumente. Immerhin dieses Buch eine weitere Lücke der Regionaldokumentation deutscher Jazzgeschichte. Nach Frankfurt, Hamburg, Köln, München, Wuppertal und etlichen anderen Städten nun also auch Trier: Glückwunsch!

Dass Trier nach wie vor eine lebendige Jazzstadt ist, lässt sich übrigens auch aus der Tatsache ersehen, das die Publikation des Buchs sofort für einigen Wirbel in der Trierer Musikszene sorgte. Dieser oder jener Musiker, diese oder jene Lokalität, diese oder jene Entwicklung seien zu stark, zu wenig oder falsch dargestellt, hieß es da. Fast wirkt das wie die Aufforderung zu einem zweiten Buch…

(Wolfram Knauer)


 

50 Jahre Jazzkeller Krefeld
herausgegeben von Günter Holthoff & Mojo Mendiola
Krefeld 2008 (Leporello Verlag)
ISBN 978-3-936783-29-2
208 Seiten, Preis: 16,80 Euro

2008krefeldLokalgeschichte ist für den Jazz mittlerweile fast genauso wichtig wie Globalgeschichte. Man lebt schließlich im eigenen Viertel und will auch da die Musik hören. Aber mehr noch: Man wird beeinflusst durch das, was um die Ecke geschieht, dadurch, wie die große weite Welt einem ganz nah bei zu Hause begegnet. So war es und so ist es selbst im Zeitalter des Internets nach wie vor. Mittlerweile gibt es viele Stadt-Jazz-Geschichten aus Deutschland, Bücher, in denen die lokalen und regionalen Entwicklungen nachverfolgt und dokumentiert werden.

Krefeld war auf jeden Fall ein gutes Pflaster für den Jazz. Vor 50 Jahren wurde dort der Jazzkeller Krefeld eröffnet, in dem unter wechselnder Leitung durchgängig Jazz erklang. Dieses Buch beleuchtet die Geschichte des Clubs und seiner Pächter und wirft Schlaglichter auf die vielen Musiker, die mindestens einen Abend hier zu Hause waren. Natürlich ist das zu allererst eine Namensschlacht, denn keiner soll vergessen werden, die Stars nicht und die lokalen Größen (oder weniger Großen) genausowenig. Das könnte die umfangreiche, liebevoll gestaltete und reich bebilderte Dokumentation zu einer etwas anstrengenden Lektüre machen. Aber so soll man es wohl auch gar nicht lesen, sondern lieber blättern und sich gefangen nehmen lassen von den sehr unterschiedlichen Eindrücken, die sich einem mitteilen. Eine bunte Jazzgeschichte ist das allemal, die sich in den Bildern und kurzen Texten wiederfindet: von Blueslegenden über TradJazz, Mainstream bis hin zur deutschen und europäischen Avantgarde. Spannend vor allem die vielen zeitgenössischen Konzertberichte, insbesondere von Dita von Szadkowski, die als Faksimile abgedruckt sind und einem auch als Außenstehender die Zeit, die Atmosphäre und auch die Probleme einer meist mit viel ehrenamtlichem Engagement organisierten Jazzszene näher bringen.

Happy Birthday, Jazzkeller Krefeld. Ein halbes Jahrhundert habt Ihr hinter Euch — da geht doch noch was!

(Wolfram Knauer)


Jazz Calendiary 2008
von Patrick Hinely
Mit einem Vorwort von Tad Hershorn;  deutsch/englisch
Bad Oeynhausen 2006 (jazzprezzo)
116 Seiten, fester Einband mit Wire-O-Bindung,
17,5 x 23,5 cm,  ISBN 978-3-9810250-3-3, 16,80 Euro
In Kooperation mit dem Nieswand Verlag

Hinely_Bezug.inddAuch in diesem Jahr beglückt uns der Jazzprezzo Verlag mit seinem neuen Jazz Calendiary 2008, das schon kultverdächtig ist. Man hat sich an das handliche, dank der Spiralbindung leicht zu blätternde Buch im täglichen Einsatz liebevoll gewöhnt. Auf der linken Seite finden sich wie gehabt  Schwarzweiß-Fotos, in diesem Jahr des amerikanischen Fotografen Patrick Hinely, für jede Woche eines, und auf der rechten Seite genügend Platz für Termine, Anmerkungen, Notizen. Dickes Papier haben die Kalendermacher benutzt, angenehm rauh und beschreibbar und zugleich hochwertig glossy und damit fotogerecht. Mit den eindrücklichen Jazzbildern von Patrik Hinely erlebt man die Persönlichkeit der Musiker, sowohl „on stage“, wie beispielsweise eine dynamische Dee Dee Bridgewater beim Berliner Jazzfest  oder Charlie Haden , der eins zu werden scheint mit seinem Bass. Aber es sind gerade auch die eher leiseren „Field-Fotos“, wie die eines nachdenklich-träumerischen Klaus Königs oder Lol Coxhill beim Kaffeetrinken in London, die einen mindestens für eine Woche in den Bann ziehen. Patrick Hinely arbeitet seit den 1970er Jahren als selbständiger Fotograf. Seine Bilder erscheinen in Zeitungen, Büchern, LPs und CDs weltweit.  Jazz Calendiary 2008 – ein Schmuckstück für den Schreibtisch und nicht nur zum Verschenken.

(Doris Schröder)


 

soeben erschienen:

2009kisslingRolf Kissling
Jazz Calendiary 2009

Kalenderbuch mit
53 Duoton-Fotografien

Mit einem Vorwort von Hans-Jürgen Schaal
deutsch/englisch, 114 Seiten, fester Einband mit Wire-O-Bindung,
17,5 x 23,5 cm, ISBN 978-3-9810250-5-7, 16,80 Euro

Zu beziehen über den Buchhandel oder über www.jazzprezzo.de


 

Ronnie Scott’s Jazz Farrago. Compilation of Features from Jazz at Ronnie Scott’s Magazine
Herausgegeben von Jim Godbolt
London 2008, Hampstead Press
ISBN 978-0-9557628-0-2, Preis: £ 19,95

2008godbolt

Der britische Jazzhistoriker Jim Godbolt ist seit 1979 Herausgeber der Clubzeitschrift des Londoner Ronnie Scott’s Club. Seine eigenen Kolumnen sind kenntnisreich genauso wie skuril-witzig und geizen nicht mit Selbstironie. Ein “Best of” der Anekdoten, Features und Interviews erschien nun in Buchform. “Jazz Farrago” enthält lesenswerte historische Berichte, etwa zum ersten Europabesuch Duke Ellingtons im Jahr 1933, zu Benny Goodmans Londoner Konzerten im Jahr 1949, zum legendären Club Eleven, in dem sich Ende der 1940er Jahre die Anhänger des modernen jazz in London trafen. Alun Morgan beleuchtet genau diese Szene in einem kurzen Beitrag, und Alain Presencer erinnert sich daran, wie er 1953 das legendäre Massey Hall Concert in Toronto besuchte, bei dem Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Bud Powell, Charles Mingus und Max Roach mitwirkten. Interviews mit George Melly, John Dankworth, Spike Milligan, Charlie Watts und anderen geben weitere Einblicke in die britische Jazzszene, und Godbolt druckt außerdem ein legendäres Interview mit Ruby Braff ab, in dem Braff, der eh keine Lust auf ein interview hatte, irgendwann den Spieß umdreht und Godbolt die Fragepistole auf die Brust setzt. Ronnie Scott kommt selbst etliche Male zu Wort, erzählt davon, wie er einmal eine Bigband geleitet habe, von einem Besuch in Hongkong oder wie er einmal den Buckingham-Palast besucht habe. Weitere Profile stellen Zoot Sims, Tubby Hayes, Tony Crombie, Alan Clare und Bruce Turner, Wally Fawkes, Cleo Laine und Humphrey Lyttelton vor. Ein buntes Sammelsurium ist das alles, auch im Layout des Buchs – kurze Notizen genauso wie ein Tratsch aus der Szene und launige Kommentare über Gott und den Jazz. Unterhaltsam, kurzweilig und gespickt mit seltenen Fotos und Karikaturen.

(Wolfram Knauer)


 

Inside British Jazz.
Crossing Borders of Race, Nation and Class

Von Hilary Moore
Aldershot/Hampshire 2007
Ashgate Popular and Folk Music Series
ISBN 978-0-7546-5744-6
157 Seiten, 50 Britische Pfund

2008mooreDie Aufarbeitung der europäischen Jazzgeschichte geschieht immer noch vor allem regional. Ein Buch über die europäische Jazzgeschichte in all ihrer Diversität steht bislang aus. Doch die unterschiedlichen Monographien zu nationalen Jazzentwicklungen sind mittlerweile recht seriös geworden. Es geht nicht mehr bloß um Nennung von Namen und den Abgleich des Spielenkönnens “wie die Amerikaner”. Die Autoren arbeiten mittlerweile die spezifischen Besonderheiten der Jazzentwicklungen heraus, diskutieren Unterschiede und legen das neue Selbstbewusstsein der jungen Jazzmusiker auch an die Jazzgeschichte ihrer Länder an.

“Inside British Jazz” ist ein Beispiel solch einer neuen, selbstbewussten Geschichtsschreibung. Die schottische Musik- und Kulturwissenschaftlerin Hilary Moore untersucht die Querbeziehungen afro-amerikanischer Musik mit der britischen Kultur des 20. Jahrhunderts. Sie fragt nach der sozialen Relevanz dieser Musik, nach Ansatzmöglichkeiten für jedwede Identifikation, nach der Bedeutung von Hautfarbe und Klassenzugehörigkeit für die musikalische Entwicklung der Protagonisten. Moore teilt ihr Buch dabei in vier Schwerpunktkapitel: Sie untersucht (1.) die frühen Jahre des Jazz in Großbritannien, fragt nach Konnotationen wie Umsturz, Befreiung und Krieg (den Folgen des I. Weltkriegs); (2.) die in der Arbeiterbewegung verankerte Trad-Jazz-Bewegung der Nachkriegszeit, die er auf Authentizität und Nostalgie abklopft; (3.) Free-Jazz-Versuche der 1960er Jahre, als Joe Harriott und andere sich in ihrer Art einer freien Improvisation deutlich von den amerikanischen Vorbildern wie beispielsweise Ornette Coleman unterschieden; und (4.) die Musiker des jungen Selbstbewusstseins der 1980er Jahre, insbesondere die Jazz Warriors um Courtney Pine, eine Bewegung junger schwarzer Musiker in Großbritannien mit oft afrikanischen oder karibischen Wurzeln. Moore hinterfragt die Behauptung, Hautfarbe würde heute doch keine Rolle mehr spielen und stellt insbesondere auch für die 1980er Jahre fest, dass Gruppenzugehörigkeit als Identifikationsfaktor nach wie vor sehr wichtig ist.

Moores Buch ist eine wenig veränderte Fassung ihrer Doktorarbeit, die sie 2004 an der University of Pennsylvania abgelegt hatte. Ihr Buch ist also ein Fachbuch, das immer wieder auf den wissenschaftlichen Diskurs verweist, innerhalb dessen auch sie sich bewegt. Moores Buch ergänzt zwei bereits veröffentlichte Studien – von Catherine Parsonage und von George McKay – zur Geschichte des Jazz in Großbritannien. Ihr gelingt es, einige neue Fäden zu spinnen, Verbindungen und Bedingtheiten aufzuzeigen. Und sie nimmt sich wenigstens ansatzweise einer Geschichte des aktuellen schwarzen Jazz in Großbritannien an, ein Thema, das sich zwangsläufig mit Rassismus, Kolonialismus und den sozial- und kulturpolitischen Entscheidungen der letzten Jahre beschäftigt. Eine willkommene Bereicherung der Literatur zum Jazz in Europa!

(Wolfram Knauer)


The Little Giant. The Story of Johnny Griffin
Von Mike Hennessey

London 2008 (Northway Publication)
19,99 Englische Pfund
ISBN: 978-0-9550908-5-1

2008griffin

Wenn er in Amerika geblieben wäre, wäre er schon lange tot, erzählt Johnny Griffin seinem Biographen Mike Hennessey in der neuen Biographie, die um den achtzigsten Geburtstag des Tenorsaxophonisten beim englischen Verlag Northway erschien. Er sei ein bekiffter Zombie gewesen, als er die USA verließ. Griffin lebt seit Mitte der 60er Jahre in Europa, hatte sich zusammen mit seiner Frau 1984 ein altes Schloss zwischen Poitiers und Limoges gekauft. Griffin gehört mit zu jenen amerikanischen Musikern, die Europa nicht nur als einen exzellenten Markt für ihre Musik, sondern auch als angenehmes Pflaster zum Leben entdeckten. Im Dezember 1962 war er zum ersten Mal nach Europa gekommen, auf einer Tour fürs Plattenlabel Riverside. In Paris traf er Bud Powell, und auch anderswo fühlte er sich wohl — er habe sich zum ersten Mal wirklich entspannen können. Die Europäer liebten ihn, und in Paris fand er auch jede Menge anderer Exilamerikaner vor, Musiker wie Kenny Clarke, Kenny Drew, Donald Byrd oder Jimmy Gourley. Er spielte in Schweden, Belgien, England und kehrte im März 1963 in die USA zurück und fragte sich sofort, was er dort eigentlich wolle. So entschied er sich, endgültig nach Europa zu ziehen und bestieg zusammen mit dem Sänger Babs Gonzales im Mai 1963 ein Schiff nach Rotterdam. Bis 1973 lebte er in Paris, dann zog er in die Nähe von Rotterdam, bis er 1984 ins schon erwähnte Chateau Bellevue zog. Mike Hennessey beschreibt das Leben Griffins lebendig und mit vielen Erinnerungseinschüben des Saxophonisten. Der berichtet über seine frühen Einflüsse und seine Jugend in Chicago, wo er an der DuSable High School Musikunterricht bei Captain Walter Henri Dyett erhielt, einem renomierten Lehrer, der auch etliche andere später berühmte Jazzmusiker auf ihren Weg gebracht hatte. Mit 15 arbeitete er mit dem Bluesgitarristen und -sänger T-Bone Walker, zwei Jahre später wurde er Mitglied in Lionel Hamptons Orchester. Er spielte mit Sonny Stitt, mit Gene Ammons und Lester Young, war in den 50er Jahren ein gefragter Saxophonist, gerade weil sein Stil als so antreibend und Kollegen herausfordernd rüberkam, insbesondere wenn er mit dem Eddie ‘Lockjaw’ Davis als “Tough Tenors” in Erscheinung trat. 1957 machte er Aufnahmen mit Art Blakey’s Jazz Messengers und wurde im März darauf Mitglied in der Band des Pianisten Thelonious Monk, den er bereits Ende der 40er Jahre kennengelernt hatte und der ihn für einen langen Gig im New Yorker Club Five Spot engagierte. Hennessey kann bei seinen Exkursen zu vielen Musikern, mit denen Griffin zusammengespielt hatte, zu Monk, Kenny Clarke und vielen anderen, auf eigene Interviews zurückgreifen. Auch Griffin spricht über diese Kollegen, die er bewundert. Und er spricht über Musik, die ihn eher abtörnt, die von Archie Shepp etwa oder von Ornette Coleman und Cecil Taylor. Und er äußert sich freimütig auch über die Tiefpunkte seines Lebens, vor allem über seine Probleme mit Alkohol, zeitweisen Gebrauch von Kokain und Heroin. Wäre er in Amerika geblieben, wäre er schon lange tot, sagt er (siehe oben). Glücklicherweise konnte Johnny Griffin am 24. April seine n 80sten Geburtstag feiern. Und Mike Hennesseys Buch feiert sein Leben. Eine Diskographie der Alben, bei denen Griffin als Bandleader verantwortlich zeichnet, ein Verzeichnis der Kompositionen des Saxophonisten sowie ein Namensregister beschließen das Buch, das weniger eine kritische Würdigung sein will als vielmehr faktische Lebensgeschichte eines Musikers zwischen den Welten.

(Wolfram Knauer)

 [:en]Jazz Lives. Till We Shall Meet and Never Part
von Jaap van de Klomp & Scott Yanow
Utrecht 2008 (A.W. Bruna Uitgebers)
223 Seiten
ISBN: 978-90-229-9353-8
Freier Download über
www.jaapvandeklomp.nl/jazzlives.pdf

2008vandeklompEnzyklopädische Bücher über Jazz gibt es zuhauf, und sieht man sich das Inhaltsverzeichnis von Jaap van de Klomps opulentem “Jazz Lives” an, so scheint es sich nicht von anderen Werken zu unterscheiden, die knappe Biographien wichtiger Jazzinterpreten versammeln. Dann aber stolpert man über die Fotos, wobei die Wortwahl gefährlich ist, denn mit diesen Fotos “stolpert” man gewissermaßen über Grabsteine. Von denen nämlich handelt dieses Buch genauso wie von den Protagonisten des Jazz. Van de Klomp hat sich aufgemacht, das Gedächtnis an Jazzmusiker zu dokumentieren, wie es sich auf Friedhöfen insbesondere in den Vereinigten Staaten zeigt. Nach Instrumenten sortiert finden sich kurze biographische Skizzen des renommierten Jazzhistorikers Scott Yanow, vor allem aber Fotos und Angaben zur Grabstelle des betreffenden Künstlers. Von Buddy Bolden bis zu Michel Petrucciani und Niels-Henning Ørsted Pedersen reicht die Bandbreite der dabei berücksichtigten Musiker, und neben den großen Stars der Jazzgeschichte, Ellington, Armstrong, Miles, Bird, Coltrane, Basie, Goodman und vielen anderen finden sich etliche in der Öffentlichkeit weit weniger bekannte Sidemen.

Yanows Texte bieten Standardkost: kurze Einführungen in Leben und Wirken der betreffenden Musiker. Es sind die Bilder der Grabstätten, die tatsächlich eine neue Sicht auf die Musiker erlauben. Da sieht man auf Charlie Parkers aktuellem Grabstein ein Tenorsaxophon. Sun Ras Grabplatte ist fast von Gras zugewachsen; Billy Strayhorns Asche wurde über dem Wasser verstreut. Die Grabsteine von Tommy Dorsey und Vic Dickenson zeigen eine Posaune, der von W.C. Handy ein Kornett. Sarah Vaughans Stein verweist auf die Sängerin als “The Devine One”, Dinah Washingtons Stein zeigt eine Krone und ihren Geburtsnamen “Ruth Jones”. Es gibt Grabsteine mit Erinnerungen an das künstlerische Wirken der dort begrabenen Musiker, andere, die einfach nur schlicht den Namen und die Lebensdaten enthalten. Es gibt Gräber, in denen auch andere Familienmitglieder beigesetzt sind, sowie Ehrengräber der Armee der Vereinigten Staaten (Zutty Singleton, Willie ‘The Lion’ Smith, Joe Henderson, Paul Gonsalves). Es gibt Gräber, die einen zusätzlichen “historical marker” erhalten haben (Charlie Christian) und andere, die eher wie Monumente wirken (Django Reinhardt, Eddie Lang). Ein simples Holzkreuz markiert das Grab Joe Zawinuls, der während der Arbeiten an dem Buch gestorben und dessen Wiener Ehrengrab noch nicht fertig war; der Grabstein für Andrew Hill steht angelehnt noch in der Werkstatt des Steinmetzes. Lionel Hamptons Grab trägt einzig die Inschrift “Hampton. Flying Home”; Clifford Jordans Urne steht im Bücherregal seiner Witwe. Ben Websters Name steht auf einem großen Findling; Kid Ory wird als “Father of Dixieland Jazz” gepriesen. Miles Davis wird als “Sir Miles Davis” erinnert und sein Grabstein ist mit der Melodie von “Solar” verziert, dessen Urheber, wie jüngst entdeckt wurde, in Wahrheit der Gitarrist Chuck Wayne war.

In seinem eigenen Vorwort beschreibt Van de Klomp die zum Teil schwierige Suche nach den Gräbern. Anfangs war es eher ein kurioses Interesse, bald dann fast eine Obsession. Einige Gräber waren einfacher zu finden, andere benötigten intensiver Recherchen, Nachfragen bei Verwandten, Stadtverwaltungen oder Spezialisten. Die meisten der amerikanischen Fotos entstanden innerhalb von drei Monaten im Jahr 2007, die Van de Klamp damit verbrachte, einigermaßen systematisch die Vereinigten Staaten abzureisen. Er beschreibt anschaulich die durchaus emotionalen Momente, die das Entdecken vieler dieser Gedenksteine für ihn bedeutete.

“Jazz Lives” erschien in der opulenten Originalausgabe im Jahr 2008. Nachdem das Buch ausverkauft und dem Autor klar war, dass es keine Neuausgabe erfahren würde, entschloss Van de Klomp sich, eine PDF-Version online frei zugängig zu machen und gestattete uns, einen Link auf das Buch zu veröffentlichen.

Wolfram Knauer (Februar 2014)


 

Eric Dolphy
von Guillaume Belhomme
Marseille 2008 (Le mot et le reste)
136 Seiten, 15 Euro
ISBN: 978-2-915378-535

2008belhommeGuillaume Behommes Buch ist weniger Biographie als kommentiertes Plattenverzeichnis des Saxophonisten und Bassklarinettisten. Ein

kurzes Anfangskapitel verfolgt Kindheit und Jugend Dolphys, dann gliedert der Autor das Buch chronologisch nach den Aufnahmen, die Dolphy vorlegte: mit Chico Hamilton, Charles Mingus, John Coltrane, Gunther Schuller, vor allem aber unter eigenem Namen. Belhomme zitiert – leider ohne genaue Verweise – aus zeitgenössischen Kritiken, ordnet die Musik ins Gesamtwerk des Künstlers ein und beendet das Buch mit einer Chronologie seines Lebens.

Wer musikalisch tiefer in Dolphys Kunst einsteigen will, wird anderswo fündig etwa im Buch “Tender Warrior. L’eredita’ musicale di Eric Dolphy”; als grundständige Biographie ist Vladimir Simosko und Barry Teppermans Buch von 1974 unübertroffen.

Für den französisch lesenden Dolphy-Einsteiger ist Belhommes Büchlein aber sicher kein Fehler.

Wolfram Knauer (Juli 2013)


 

Sounds of the Metropolis. The 19th-Century Popular Music Revolution in London, New York, Paris, and Vienna
von Derek B. Scott
New York 2008 (Oxford University Press)
304 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-989187-0

2008scottAllgemein verbindet man das Aufkommen der Idee von Popularmusik mit der Erfindung der Tonaufzeichnung, mit der Industrialisierung der Musikvermarktung, datiert die große Zeit der Unterhaltungsmusik also in den Beginn des 20. Jahrhunderts. Tatsächlich aber begann die “Popularmusik-Revolution” bereits im 19. Jahrhundert und ist ein Nebeneffekt der sozialen Veränderungen, der Verstädterung der Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung.

Im ersten Kapitel untersucht der britische Musikwissenschaftler Derek B. Scott die Zusammenhänge zwischen Professionalisierung und Kommerzialisierung des Konzertlebens im 19. Jahrhundert. Er verweist auf die zunehmende Bedeutung von Hausmusik und Notenhandel, über die Entwicklung des Klavierhandels und die ersten Urheberrechtsvereine. Im zweiten Kapitel betrachtet er die neuen Märkte (also das neue Publikum) für Kultur, die auch zu neuen Präsentationsformen führten, etwa den Promenadenkonzerten, zur Music-Hall bzw. zum Café-Concert, zu Minstrelsy, Vaudeville und Operette. Die Popularisierung von Musik ließ Kritiker an der Moral der beliebten Stücke zweifeln, und so widmet Scott Kapitel 3 seines Buchs dem Thema “Musik, Moral und soziale Ordnung”. Die große Diskussion bis in unsere Tage ist die, dass das Auseinanderdriften von populärer und Kunstmusik zu einer Konkurrenz der beiden Bereiche führte, die Scott im vierten Kapitel behandelt. Er fragt danach, wie Kunst, Geschmack und Status zusammenhängen und betrachtet die Unterschiede zwischen Oper und Operette.

Im zweiten Teil des Buchs geht es dann um konkrete musikalische Stile: den Wiener Walzer (Kapitel 5), Blackface Minstrelsy und ihre Rezeption in Europa (Kapitel 6), die englische Music Hall (Kapitel 7) sowie das Pariser Cabaret (Kapitel 8). In diesen Kapiteln verweist Scott durchaus auf spätere Entwicklungen und die Bedeutung der spezifischen Genres für die Musikgeschichte des 20sten Jahrhunderts; dabei fehlt dem Buch allerdings ein abschließend zusammenfassendes Kapitel, das die Verbindungsstränge des vom Autor Aufgezeigten in die jüngere Vergangenheit des letzten Jahrhunderts aufzeigen könnte. Auch wäre durchaus zu diskutieren, inwieweit, die in den Metropolen entwickelten Präsentationsformen von Popularmusik ihren Widerhall in anderen Städten, im Land, über die Grenzen hinweg hatten und inwieweit sie sich gegenseitig beeinflussten bzw. bedingten – es gab schließlich im 19. Jahrhundert durchaus bereits grenzüberschreitende Tourneen.

Alles in allem präsentiert “Sounds of the Metropolis” einen wichtigen Blick auf die Vorgeschichte von Popmusik und Jazz; dem Leser bleibt es überlassen zu eruieren, wo spätere Entwicklungen populärer Musik auf diese Vorgeschichte aufsetzen, wie sie sich miteinander verzahnen. Ein ausführlicher Apparat inklusive Bibliographie und Index beschließt das Buch.

Wolfram Knauer (März 2012)


 

Backstory in Blue. Ellington at Newport ’56
von John Fass Morton
New Brunswick 2008 (Rutgers University Press)
304 Seiten, 34,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8135-4282-9

2008mortonIn Duke Ellingtons Karriere gab es Aufs und Abs, Erfolge und Missverständnisse. Vor allem aber ein Ereignis scheint sich ins kollektive Gedächtnis der Jazzgeschichte eingegraben zu haben: Paul Gonsalves’ legendäres Solo über “Crescendo and Decrescendo in Blue” vom 7. Juli 1956, live gespielt beim Openair-Festival in Newport, Rhode Island, eingefangen von den Mikrophonen der Voice of America und der Plattengesellschaft Columbia Records. Ellingtons Performance dieses alten Schlachtrosses und Gonsalves’ sagenumwobene 27 Chorusse umfassende Improvisation über den Blues rissen die Karriere der Band herum, machten einem großen Publikum deutlich, wie modern Ellington war und welche Kraft hinter seinem, Orchester steckte.

John Fass Morton hat sich in einem Buch aufgemacht, die verschiedenen Narrative hinter dem Newport-Auftritt von Duke Ellington zu erzählen, und sein Buch reiht sich ein in Studien über einflussreiche Alben, wichtige Kompositionen oder Improvisation, Monographien über akustische Momentaufnahmen der Jazzgeschichte.

Morton beginnt mit einem Rückblick auf Ellingtons Karriere, seine Bedeutung fürs schwarze Amerika, seine erste Aufnahme von “Diminuendo and Crescendo in Blue” von 1938, Erfolge in den 1920er und 1930er Jahren, ambitionierte Werke in den 1940ern und Schwierigkeiten in den 1950ern. 1955 hatte Ellington noch versucht, das langsam zum Rock ‘n’ Roll abdriftende Publikum davon zu überzeugen, dass dieser doch auch nur eine Art von Jazz sei. Im selben Jahr gelangte er am Tiefpunkt seiner Karriere an, als er ein Engagement im New Yorker Aquacades annehmen musste, um die Band am Leben zu halten, einen Gig, bei dem er unter anderem Kunstschwimmer und Eisläufer begleiten musste.

Morton betrachtet Ellingtons Band, “Dukes Instrument”, wie man sie gern bezeichnete, geht die Musiker durch, die 1956 im Orchester saßen und teilweise schon auf eine lange Zusammenarbeit mit dem Komponisten, Pianisten und Bandleader zurückblicken konnten. Er widmet ein eigenes Kapitel der Geschichte des Columbia-Labels, ein weiteres dem Produzenten George Avakian, der nicht nur einige der ersten Wiederveröffentlichungen klassischer Jazzaufnahmen für Columbia zu verantworten hatte, sondern auch an der Entwicklung des LP-Formats beteiligt war. George Wein und die Idee des Newport-Festivals sind natürlich ein Thema, und auch den Newport-Gastgebern Elaine und Louis Lorillard widmet Morton ein eigenes Kapitel. Er beschreibt das Festival von 1954 und 1955, musikalische Höhepunkte und die kritische Reflexion auf die Großveranstaltung.

Dann sind wir beim Programm für 1956, und Morton sortiert die Dramatis Personae noch einmal neu: die Rundfunkmikrophone, den Veranstalter, die auftretenden Bands, die Plattenfirma, das Publikum. Norman George Wein habe Duke gewarnt: Komm mir bloß swingend!, und die Abende zuvor hatten genau das geliefert: mitreißenden Swing, der selbst dem regnerischen Wetter trotzte. 20:30 Uhr: Ellington wird angesagt, die Band kommt auf die Bühne, wärmt sich mit ein paar Nummern auf, aber die Band blieb relativ steif. Bud Shank und Anita O’Day folgten, Friedrich Gulda und Chico Hamilton. Erst kurz vor Mitternacht kommt die Ellington-Band wieder dran, beginnt swingend, verliert dann aber langsam ihr Publikum, das Stück für Stück dem Ausgang zustrebt. Dann sagt der Duke das alte Schlachtross an, “Diminuendo in Blue” und “Crescendo in Blue”…

Morton versteht etwas von Dramaturgie, und so unterbricht er hier und schiebt erst einmal Biographisches zu Paul Gonsalves nach, bevor er schließlich die Spannung des Tenorsaxophonsolos beschreibt, das die beiden Stücke miteinander verbinden sollte und eigentlich nur als kurzes Interlude gedacht war, nicht als 27-chorus-langer Höhepunkt. Er beschreibt die Reaktionen der Zuhörer, wie Jo Jones mit der Zeitung auf die Bühne schlug und seinen Kollegen anfeuerte, wie eine junge Frau anfing zu tanzen und plötzlich auch andere im Publikum tanzten, wie das Publikum auf seine Plätze zurückstrebte, weil es merkte, dass hier irgend etwas Besonderes geschah.

Und wieder unterbricht er und erzählt die Geschichte jener unbekannten reichen Blondine, die damals Schlagzeilen machte, weil sie aufstand und einfach wild tanzte zu Gonsalves’ Solo.

Es folgt der Nachschlag: LP-Veröffentlichung; der soziale Abstieg jener reichen Blondine, die weitere Zusammenarbeit zwischen Ellington und Gonsalves, die Rolle der Voice of America für den Kalten Krieg, die weitere Entwicklung des Newport Jazz Festivals.

John Fass Morton gelingt es in seinem Buch mit den ganz unterschiedlichen Facetten, die er beleuchtet, ein lebendiges Bild der Dramatik jenes Solos zu zeichnen, dramatisch für Ellington genauso wie für die Anwesenden, für die Plattenfirma, die Fotografen und die Geschichte des Jazz. Man liest sich fest, und ich bin mir sicher, dass man im Laufe der Lektüre wiederholt die ganze Platte des Newport-Konzerts hören möchte, weil Fotos, Worte, Interviews einem das Gefühl der gemeinsamen Erinnerung geben. Als sei man dabei gewesen, damals, am 7. Juli 1956, als Paul Gonsalves die Karriere Ellingtons ein weiteres Mal drehte.

Wolfram Knauer (Oktober 2011)


 

Jazz für Kinder. Carla lernt Instrumente, Interpreten und Musikstile kennen
von Oliver Steger & Peter Friedl
Wien 2008 (Annette Betz)
29 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-219-11357-0

2008stegerÜber Musik, heißt es, sollte man in jungen Jahren lernen. Das Schaffen musikalischer Neugier ist in den ersten Lebensjahren so viel erfolgversprechender als später, wenn die Musikindustrie über musikalische Mode und Hitparaden den musikalischen Geschmack weit stärker bestimmt als die eigene Neugier. Der Verlag Annette Betz hat sich auf musikalische Kinderbücher spezialisiert, Bilderbücher mit Geschichten, die ihre jungen Leser erzählerisch in die Welt der Musik einführen. In Oliver Stegers “Jazz für Kinder” entdeckt die kleine Carla in einem Pavillon im Garten des neuen Hauses, in das sie mit ihrer Familie gezogen ist, lauter verstaubte Instrumente. Diese, erzählen sie Carla, spielen gerne Jazz, und Carla fragt nach: “Was ist denn das, Jazz?” Papa erzählt ihr auf ihre Frage von den Wurzeln des Jazz in Afro-Amerika, von Jazz als Musik der Freiheit und Musik zum Tanzen. Am nächsten Tag erklärt das Schlagzeug ihr die Geheimnisse des Rhythmus und des swing, das Klavier jene der Harmonik, der Bass die der Improvisation. Um ihr das alles näher zu bringen, improvisieren die drei ein wenig über “Bruder Jakob”, das Carla gerade in der Schule singt. Carlas Neugier ist geweckt, bald erfährt sie etwas über Bebop, das solistische Spiel, über Ragtime, Fats Waller, Louis Armstrong, Dizzy Gillespie, Ellington, Basie, die Bigband, den Wandel des Jazz von einer Unterhaltungsmusik zu einer Kunstform. Sie lernt das Blue-Note-Label kennen, den Unterschied zwischen Cool Jazz und Hard Bop, hört von Westcoast- und modalem Jazz, Free Jazz, der Fusion des JazzRock in den 1970er, dem New Bop in den 1980er und dem Nu Jazz in den 1990er Jahren – und den jeweiligen Protagonisten dieser Stile. Und weil es nun mal weit anschaulicher ist, all das auch zu hören, spielen die drei Instrumente “Bruder Jakob” in den unterschiedlichsten Stilarten. Die dem Buch beiheftende CD enthält all diese Varianten à la Charlie Parker, Louis Armstrong, Ellington, Chet Baker, John Coltrane, Bill Evans, Stan Getz, Charlie Haden, Herbie Hancock, Chick Corea, Dave Holland und sogar – “als “Bruder Manfred” – ECM. Die drei Musiker der CD sind die Pianistin Julia Siedl, der Schlagzeuger Hans Tanschek sowie der Autor selbst am Kontrabass; in zwei Stücken kommt noch der Trompeter Lorenz Raab hinzu. Das von Peter Friedl reich illustrierte Buch gibt dabei auf 29 Seiten weit eingehendere Informationen als sie viele dem Jazz nicht nahe stehende Erwachsene haben – das alles auf eine so angenehm spielerische und spannende Weise, dass zu hoffen ist, dass wer immer dieses Buch als Kind liest oder vorgelesen bekommt, dabei bleibt, dass ihm oder ihr die Türen zum Jazz damit geöffnet wurden.

Wolfram Knauer (Januar 2011)


 

Giorgio Gaslini. Lo Sciamano del jazz
von Lucrezia De Domizio Durini
Milano 2008 (Silvana Editoriale)
200 Seiten, 30,00 Euro
ISBN: 9-788836-612727

2008duriniGiorgio Gaslini ist einer der führenden italienischen Jazzer, ein Musiker, der seit den 1950er Jahren die afro-amerikanischen Traditionen des Jazz mit den eigenen Traditionen der italienischen Kultur, aber auch der italienischen und europäischen Moderne zu verbinden trachtete. Er ist Pianist, Komponist, Maler, Intellektueller und kreativ Suchender, und so ist das vorliegende Buch, eine von mehreren Publikationen, die um seinen 80sten Geburtstag im Jahr 2009 erschienen, nicht so sehr eine klassische Biographie als vielmehr ein Einlassen auf all die verschiedenen kreativen Eingriffe, die Gaslini durch seine Musik und seine Kunst ins Leben, in die Wirklichkeit vornehmen wollte. Gleich im ersten Satz stellt Lucrezia de Domizio Durini den Pianisten und Komponisten bewundernd in eine Reihe mit “großen Persönlichkeiten, denen ich in meinem Leben begegnet bin”: Pier Paolo Pasolini, Joseph Beuys, Hans Georg Gadamer, Harald Szeemann, Andy Warhol und Pierre Restany. Sie scheint so den Ton für die Biographie eines Intellektuellen zu setzen. Typische Jazzfotos fehlen fast gänzlich, Bilder von Gaslini in verrauchten Clubs etwa, bei Festivals, mit amerikanischen Kollegen oder ähnlichen jazz-typischen Themen. Stattdessen nahm die Autorin einen eigenen Fotografen mit zu den Gesprächen, Gino Di Paolo, dessen Bilder Gaslini am Schreibtisch zeigen, beim tiefen Gespräch, immer irgendwie entspannt-konzentriert, ob beim Essen, Lesen, Spazierengehen, Reden, Rauchen oder Komponieren. Am persönlichsten wirkt da noch ein gestelltes Bild mit Boxhandschuhen am Sparringball.

Das Interesse der Autorin an Gaslini aber beginnt erst einmal scheinbar abseits des Jazz: mit einem Essay über seine Aquarelle und mit der Abbildung einer jüngeren Aquarellserie von 1997. Die Autorin ist beeindruckt von dem Mann und ihren Begegnungen mit ihm, und ihr Kapitel über seine “charmante Physiognomie” liest sich wie eine Liebeserklärung, die, um nicht zu persönlich zu werden, plötzlich die Daten aus seinem Pass einstreuen muss, aber gleich darauf Querverbindungen zwischen Physiognomie und Geist zieht. Er sei wie ein Schamane, meint sie (so auch der Untertitel des Buchs), habe als Kind entdeckt, dass er durch das Klavier, dass er durch Musik Dinge ausdrücken konnte, die anders nicht zu formulieren waren. Musik sei für ihn therapeutisch gewesen, aber zugleich eine Möglichkeit, Menschen aller Nationen oder sozialer Gruppen ansprechen zu können.

Die Baroness Lucrezia De Domizio Durini, sollte man an dieser Stelle erwähnen, ist von Haus aus keine Jazz-, sondern eine renommierte Kunstexpertin, Kuratorin vielbeachteter Ausstellungen, Kunstsammlerin mit Schwerpunkt aktueller Kunst sowie Autorin etwa von 20 Büchern über Joseph Beuys’ Philosophie. Und so nimmt es nicht Wunder, dass sie auf diesen immer wieder zurückkommt, nicht nur, wenn sie sich ausführlich mit Gaslini über ein neues Werk unterhält, das den Titel trägt “Il Bosco di Beuys” (Der Wald von Beuys) und auf dessen 7.000 Eichen bei der Dokumenta 1982 in Kassel Bezug nimmt. Ihr Text bleibt persönlich, wechselt zwischen Erinnerungen an andere Künstler, denen sie begegnet ist, detaillierten Beschreibungen der Gesprächssituationen (zu Hause, im Büro, im Restaurant), Einordnungen in die Kunstgeschichte (mehr als in die Jazzgeschichte, von der die Baroness Durini nicht ganz so viel versteht). Doch soll all das Giorgio Gaslini vor allem für das Interview vorbereiten, bei dem er dann recht offenherzig über seine Kindheit und seine Familie Auskunft gibt oder über das Kulturverständnis seines Vaters… Dann heißt es, um ihren Stil ein wenig zu erklären: “Wir entschlossen uns eine Pause zu machen. Lino bot uns einen guten Kaffee an, wir rauchten still eine Zigarette. Giorgio ging zum Fenster und schaute in das Tor der Träume…”

Gaslini berichtet über den Krieg und seine erste Faszination durch den Jazz. Vielleicht weil Durini von Jazz aber wirklich nicht so viel weiß, unterhalten sie sich lieber über Philosophie, über klassische Musik, Adorno, die Liebe, seine Frau, ein klein wenig über Stan Kenton. Ein kurzes Liebesbekenntnis zum Jazz folgt, wieder eingeleitet durch den Rückbezug auf Bach, Mozart, Wagner, und ein Benennen der afro-amerikanischen Einflüsse: Duke Ellington an erster Stelle, Max Roach, Lennie Tristano, Oscar Peterson, Bill Evans, Cecil Taylor, Ornette Coleman, Louis Armstrong, Ella Fitzgerald, John Coltrane, Miles Davis…

Vielleicht ist das Unwissen der Autorin über den Jazz Grund für die vielen seltsamen Schreib- (bzw. Transkriptions-)fehler, die sich in ihrem Buch finden, die aber gerade bei einem so renommierten Verlag eigentlich einem Lektor hätten auffallen müssen. So liest man etwa von “Buddy Golden” (statt “Buddy Bolden”, S. 24), von “Jene” statt “Gene” Krupa (S. 83), von “Hornet” Coleman (S. 88), einem gewissen Herrn “Shoemberg” (Arnold Schönberg, S. 103) oder einer (einer???) “Riga” Polillo (S. 145) – gemeint ist der italienische Joachim Ernst Berendt, Jazzautor Arrigo Polillo. Am lustigsten liest sich in dieser mehr zufällig zusammengestellten Liste von Schreibfehlern der offenbar berühmte Bigbandleiter “Towm Besi” (S. 129) – der Rezensent braucht eine Weile, um hinter diesem “Count Basie” zu erkennen. Von solchen Ärgernissen abgesehen ist das Buch eine liebevolle, äußerst literarische und in ihrer Art und Weise überaus persönliche Annäherung an den Menschen und Künstler Giorgio Gaslini, und wenn man der Autorin auch ein besseres Lektorat gewünscht hätte, so würde man sich unter Jazzautoren tatsächlich auch öfters “Fachfremde” wünschen, die offenbar ganz andere Dinge aus ihren Subjekten herauszukitzeln vermögen als wir Experten.

Wolfram Knauer (September 2010)


 

Jazz Lyrik Prosa. Zur Geschichte von drei Kultserien
Von Werner Josh Sellhorn
Berlin 2008 (Ch. Links Verlag)
158 Seiten, 14,90 Euro
ISBN: 978-3-86153-581-2

JLP_Cover.inddJazz, Lyrik und Prosa waren in DDR populäre Genres, sicher auch, weil in ihnen Befindlichkeiten mitteilbar waren, die offen auszudrücken im System eher schwierig, wenn nicht gar gefährlich war. Werner Josh Sellhorn arbeitete Anfang der 1960er Jahre als Lektor im Verlag Kultur und Fortschritt, dem führenden Verlag des Landes für internationale Literatur. 1964 kam der Verlag auf die Idee eine Veranstaltungsreihe “Lyrik und Jazz” zu etablieren, bei der etwa die Jazz-Optimisten auftraten und Schauspieler wie Manfred Krug, Angelika Domröse oder Eva-Maria Hagen. Der Auftritt Wolf Biermanns und eine ein Jahr später veröffentlichte Platte des Dichters und Sängers machten den Veranstaltern zwar Ärger, steigerten aber nur die Popularität der Reihe. Bald kam neben älterem auch zeitgenössischer Jazz hinzu (etwa in Person des Pianisten Joachim Kühn) und neben Lyrik auch Prosa. 1967/67 ging die Reihe “Lyrik – Jazz – Prosa” zu Ende und wurde von verschiedenen anderen Reihen gefolgt, etwa “Jazz und Tanz” oder “Jazz & Folksongs”. Nach einer Einführung in die eben beschriebene Genese der drei Reihen machen den Hauptteil des vom 2009 verstorbenen Reihengründers Sellhorn verfassten Buchs biographische Skizzen der beim Musikteil der Veranstaltung aufgetretenen Interpreten aus – Musiker und Bands genauso wie Schauspieler. Zum Schluss listet Sellhorn noch eine Übersicht über Sonderprogramme seit 1999 auf sowie LP- und CD-Veröffentlichungen, die aus der Reihe hervorgegangen sind. “Jazz Lyrik Prosa” wirft ein sehr direktes Licht auf die Jazzszene der DDR, die Möglichkeiten und die Probleme, mit denen Macher umzugehen hatten, wenn sie kreative Projekte realisieren wollten. Lesenswert und mit etlichen kleinen Informationen, die sich wahrscheinlich nirgends sonst finden.

Wolfram Knauer (August 2010)


 

Images of Live Jazz Performances
von Albert Kösbauer
Landsberg 2008 (Balaena Verlag)
214 Seiten, 19,80 Euro
ISBN: 978-3-00-024673-9

2008koesbauerAlbert Kösbauer erzählt im Vorwort seines Bildbandes, dass er seit langem bei Regensburger Jazzkonzerten fotografiere. Sein Platz sei in der vordersten Stuhlreihe, links oder rechts von der Bühne. Er wahre Abstand, halte sich im Hintergrund und habe immer wieder mit der Lichtsituation zu kämpfen. Auf Blitzlicht habe er dennoch immer verzichtet und lieber Geduld und wachsende Erfahrung genutzt, um von jedem Musiker “wenigstens ein brauchbares Bild einzufangen”. Auf über 200 Seiten sieht man derer etliche, “brauchbare”, aussagestarke Bilder, solche, die wie Stillleben wirken und solche, die Bewegung ausstrahlen – bis hin in verzerrte Details, weil die Künstler nun mal nicht stillhielten während der Belichtungsphase der Kamera. Ein buntes Buch ist es geworden, möchte man sagen, auch wenn alle Fotos schwarz-weiß sind und man beim Durchblättern eher den Eindruck von Grautönen erhält. Die abgelichteten Künstler aufzuzählen macht wenig Sinn, aber vielleicht gibt ein zufälliges Durchblättern etwas Aufschluss über den Inhalt: Aladar Pegè mit ruhigem Blick, aber augenscheinlich flinken Fingern am Kontrabass; Christy Doran mit konzentriertem Blick auf … Noten? die Technik am Boden?; Carsten Daerr am Flügel, den Blick lauschend zur Seite nach unten gerichtet; Carola Gray durch die Lichteffekte ihrer Beckenarbeit hindurch fotografiert; Joachim Ulrich, nicht spielend, zuhörend, das Instrument umarmend; Lajos Dudas mit angewinkeltem Knie; Arkady Shilkloper am nicht enden wollenden Alphorn; Lisa Wahlandt, skandinavische Schönheit ohne Schminke; William Parker, abgeklärt an Kontrabass und afrikanischer Gitarre (guimbri); Maria Joaos Intensität und so viele andere Momente, die den Live-Charakter des Konzerts einfangen, wie es Kösbauer ja auch im Buchtitel benennt. Keine Bilder abseits der Bühne – alle Musiker sind bei der Arbeit, konzentriert, nachdenklich, ekstatisch, mit befreitem Lachen, mit großen Ohren. Die Musiker, die man selbst erlebt hat, erkennt man wieder, man meint ihren Sound zu hören, weil Kösbauer die Erinnerung an genau jene Momente einfängt, die einen selbst fasziniert hatten. Für Fotoliebhaber also ein schönes Buch im quadratischen Softcoverumschlag, mit einem hilfreichen Namensindex der abgelichteten Künstler am Schluss und … mit jeder Menge Respekt vor der Musik.

Wolfram Knauer (Juli 2010)


 

Three Wishes. An Intimate Look at Jazz Greats
Von Pannonica de Koenigswarter
New York 2008 (Abrams Image)
ISBN 978-0-81097-2-353 (9,99 Dollar)

2008koenigswarterDiese Rezension stammt vom April 2007, aber da es sich sowohl bei der deutschen Fassung des Buchs von 2007 wie auch bei der englischen Fassung von 2008 um bloße Übersetzungen handelt, gilt das darin gesagte noch immer. Für die vorliegende englische Fassung kommt allerdings hinzu: Gary Giddins hat ein lesenswertes Vorwort geschrieben, und die Antworten hier in der Originalsprache gehalten sind. Albert Mangelsdorff, so lernen wir hier, wurde von der Baronin so notiert wie sie ihn gehört hatte, mit einem typisch deutschen Akzent (“I vish that people all over the vorld vould get smart enough that there vould be peace forever”).

Wenn man früh im Jahr ein Buch auf den Tisch bekommt, das man sofort als das Weihnachtsgeschenk des Jahres empfindet, dann ist das sicher beste Voraussetzung für eine positive Buchempfehlung. So jedenfalls ging es diesem Rezensenten, als das Buch der drei Wünsche von Pannonica de Koenigswarter auf seinem Schreibtisch landete. Die Baroness war Freundin und Muse vieler Jazzmusiker, allen voran Thelonious Monk, der ihr (wie andere Musiker auch) eine Komposition widmete. Die Baroness wurde 1913 in die Bankiersfamilie der Rothschilds hineingeboren. 1954 hörte sie Monk in Paris und zog bald darauf nach New York. Traurige Berühmtheit erlangte sie durch die Tatsache, dass Charlie Parker, ein weiterer ihrer guten Freunde, in ihrem Apartment verstarb. Über die Jahre blieb sie ihren Musikerfreunden treu, half, wo immer sie konnte, insbesondere Monk, dem sie bei Streits um die Cabaret Card und bei anderen Krisen beistand. Nica, wie sie von ihren Freunden genannt wurde, starb im November 1988. Über all die Jahre hatte sie ihren Musikerfreunden bei passender Gelegenheit jene legendäre Frage nach den drei Wünschen gestellt: Wenn Du drei Wünsche frei hättest, welche wären das. 300 Antworten finden sich in diesem Buch, teils kurz, teils etwas länger, teils lapidar, teils bezeichnend. Geld wünschen sich etliche, Gesundheit, Weltfrieden und privates Glück. Dass er sich nicht länger verpflichtet fühle, für Geld zu spielen (Dizzy Gillespie), dass er sich selbst besser kennenlerne (Johnny Griffin), dass seine Söhne sich endlich benehmen würden und Koenigswarter ihn heirate (Art Blakey), all das auf seinem Instrument zu erreichen, was er sich vorstelle (Sonny Rollins), ein Apartment mit einem guten Steinway und einer guten Stereoanlage (Barry Harris), Unsterblichkeit, Reichtum und ein Kind (Horace Silver), der weltbeste Künstler auf seinem Instrument zu sein (Hank Jones), dass er sein Asthma loswerde (Lou Donaldson), dass Charlie Parker wieder lebe (Art Taylor), sein Leben lang Musik spielen zu können, außerdem ein Apartment und ein Auto in New York (Eric Dolphy), eine Villa in Göteborg (Babs Gonsalves), dass die Clubs eine bessere Akustik und bessere Klaviere hätten (Mal Waldron), Reichtum, Glück und drei weitere Wünsche (Roy Brooks), ein neues Schlagzeug (Clifford Jarvis), die anstehenden Rechnungen auf ein absolutes Minimum zu reduzieren (Anita O’Day), der beste Trompeter der Welt zu sein (Lonnie Hollyer), das Genie von Thelonious Monk zu besitzen (Billy Higgins), eine Flasche kühlen Biers (Giggy Coggins), eine Zeitmaschine (John Ore), dass die Kriegsetats in die intellektuelle Bildung gesteckt würden (Steve Lacy), Gerechtigkeit, Wahrheit und Schönheit (Stan Getz), ein gutes Leben zu leben ohne Scheiße spielen zu müssen (Joe Zawinul), Freiheit für Südafrika (Miriam Makeba), weiß zu sein (Miles Davis), Drillinge (Dinah Washington), keine weitere Medizin einnehmen und nicht wieder ins Krankenhaus gehen zu müssen (Bud Powell), spielen, spielen, Liebe machen (Kenny Drew). Albert Mangelsdorff ist der einzige Deutsche (und einer der wenigen Europäer), die von der Baroness befragt wurden. Er antwortete: “Zuerst einmal möchte ich lang genug leben, um in meinem Spiel zu einem für mich befriedigenden Resultat zu gelangen. Ich wünsche mir, dass das Leben eines Musikers nicht sein Familienleben stört. Ich wünsche mir, dass die Menschen auf der Welt endlich vernünftig genug werden, Frieden für alle zu schaffen! (Und ich wünsche mir, dass dieser Wunsch als erster erfüllt wird!).” Angereichert sind die Texte mit Fotos aus dem Privatarchiv der Baroness – private Bilder vom tanzenden Monk, von Miles und Coltrane, Dexter Gordon und all den anderen Freunden der Autorin. Farbbilder und Schwarzweißfotos – oft sieht man den Bildern an, dass sie über Jahre in der Schublade gelegen haben. Aber gerade die Privatheit dieser Aufnahmen macht ihre Besonderheit aus, eine Intimität, in der man kaum sonst diese Jazzheroen gesehen hat.

Wolfram Knauer (April 2007)


 

Benny Goodman. The Famous 1938 Carnegie Hall Jazz Concert
von Jon Hancock
Shrewsbury 2008 (Prancing Fish)
218 Seiten, 24,99 Britische Pfund
ISBN: 978-0-9562404-08

2008hancockAshley Kahn hat mit seinen Büchern über Miles Davis’ “Kind of Blue” und John Coltranes “A Love Supreme” ein Beispiel gesetzt, wie man Jazzgeschichte auch aus dem Augenblick heraus schreiben kann, mit dem Fokus auf einen spezifischen Punkt des geschichtlichen Ablaufs. Er hat gezeigt, dass sich aus Archiven und Erinnerungen die komplexen Entwicklungen nachzeichnen lassen, die zu jenen legendären und einflussreichen Alben führten. Wenige Momente der Jazzgeschichte sind so genau beleuchtet worden – und außer spezifischen Alben handelt es sich bei solchen Fokus-Abhandlungen meist um besondere Konzerte: Paul Whitemans Aeolian Hall Concert erhielt erhöhte Aufmerksamkeit genauso wie Charlie Parkers Massey Hall Concert. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich jemand dem lange Jahre erfolgreichsten Livekonzert des Jazz annahm, dem Konzert, das Benny Goodman am 16. Januar 1938 in der New Yorker Carnegie Hall gab und bei dem er mit seiner Bigband, mit Trio und Quartett sowie mit renommierten Kollegen aus anderen Bands in einer Jam Session zu hören war. Das Konzert hat Jazzgeschichte geschrieben, auch deshalb, weil es damals mitgeschnitten und der Mitschnitt später in guter Qualität veröffentlicht wurde, so dass fast jeder Programmpunkt des Abends auch im hörenden Gedächtnis der Jazzgemeinde erhalten blieb. Immer wieder wurde über das Konzert geschrieben, doch mit diesem Buch hat Jon Hancock die ultimative Monographie zum 16. Januar 1938 verfasst. In seinem Buch finden sich jede Menge Originaldokumente, Fotos von Eintrittskarten genauso wie ein Faksimile des Programmheftes, Vertragsvereinbarungen über die Plattenveröffentlichung und wahrscheinlich sämtliche Fotos, die von jenem Abend in der Carnegie Hall aufzutreiben waren. Hancocks Kapitel beleuchten die Umstände des Konzerts. Er erzählt kurz die Geschichte des Konzertsaals, erklärt, wie Goodman überhaupt auf die Idee eines Konzerts im ehrwürdigen Saal kam und wie sich die Pläne langsam verdichteten. Er berichtet von Problemen und Diskussionen über den Ablauf genauso wie die Bühnenbeleuchtung. Er weiß Geschichten über die Proben zu erzählen (auch hiervon gibt es Fotos), über den Ticketverkauf und die Abendplanung: Auf die Frage, wie lang denn die Pause sein solle, antwortete Goodman damals angeblich: “Oh, ich weiß nicht… Wie lang macht denn Herr Toscanini gewöhnlich?” Schließlich das Konzert selbst, das Hancock Stück für Stück kommentiert und dabei sowohl auf zeitgenössische Kritiken wie auch auf spätere Berichte zurückgreift. Er erzählt die Geschichte des Konzertmitschnitts sowie eines Newsreel-Filmdokuments des Konzerts. Er diskutiert das Album-Design der in den 1950er Jahren erstveröffentlichten Aufnahmen und schreibt über das Restaurations-Projekt von Phil Schaap, dem es 1997 gelang, das Konzert in kompletter Länge zusammenzustellen. Zum Schluss wirft er noch einen Blick auf die Jubiläumsveranstaltungen von 1958, 1968, 1978, 1988, 1998 und 2008. Eine ausführliche Bibliographie zum Konzert folgt, die ausführlichen Programmnotizen von Irving Kolodin sowie eine Auflistung sämtlicher Auftritte Goodmans in der Carnegie Hall von 1938 bis 1982. Eingeleitet wird das Buch von einer liebevollen Würdigung ihres Vaters durch Rachel Edelson, die Tochter des Klarinettisten, die davon erzählt, wie ihr Vater immer auf der Suche nach dem perfekten Klarinettenblättchen gewesen sei. Alles in allem: Eine “labor of love”, kurzweilig geschrieben, reich bebildert und nicht nur für Goodman-Fans zu empfehlen.

(Wolfram Knauer, Februar 2010)


 

Ron Carter. Finding the Right Notes
von Dan Ouellette
New York 2008 (artistShare)
434 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-615-26526-1

2008oulletteBassisten sind die Grundstützen des Jazz, von Walter Page und Jimmy Blanton über Ray Brown, Charles Mingus bis zu Charlie Haden. Ron Carter, mittlerweile 72 Jahre alt, gehört mit zu den ganz großen seines Instruments: immer verlässlich im Hintergrund, immer präsent, wenn man ihn herausstellte, ein Musiker, der die Kollegen stützte, egal ob sie eigene Projekte realisieren wollten oder an seinen Projekten teilhatten. Dan Ouellette hat sich mit dem Bassisten zusammengesetzt, um seine Erinnerungen niederzuschreiben, die Erfahrungen eines der meistaufgenommenen Musiker des Jazz. Carter wuchs in Ferndale, einem Vorort von Detroit, auf, und wurde von seinem Vater ermutigt, Cello zu spielen. Er studierte Cello, dann Kontrabass an der Cass Technical High School und danach vier Jahre lang an der renommierten Eastman School of Music in Rochester, New York. Hier lernte er auch, dass, so gut er auch als Instrumentalist war, ihm in der klassischen Welt die Hautfarbe im Weg stand. Kein geringerer als Leopold Stokowski lobte ihn für sein Bassspiel, erklärte aber zugleich, dass er ihn als Schwarzen in Houston, wo er dirigierte, niemals im Orchester durchbringen könne. Neben dem Studium spielte Carter in einem lokalen Jazztrio, aber auch mit Gap und Chuck Mangione oder dem Saxophonisten Pee Wee Ellis, die alle damals in Rochester lebten. 1959 ging Carter nach New York, arbeitete mit Chico Hamilton, Randy Weston, Eric Dolphy, Benny Golson und vielen anderen. Er studierte an der Manhattan School of Music, und war abends ein gefragter Bassist in unterschiedlichsten Ensembles. 1963 engagierte ihn Miles Davis für seine Band, mit der Carter über die Jahre einflussreiche Alben einspielen sollte: “E.S.P.”, “Miles Smiles”, “Sorcerer”, “Nefertiti”, “Water Babies”, “Miles in the Sky” und “Filles de Kilimanjaro”. Carter erzählt über die Zeit bei Miles, über Aufnahmesitzungen und Konzerte und kommentiert einige der Einspielungen, die er mit Miles machte. In den 1970er Jahren spielte er mit dem Great Jazz Trio und mit Herbie Hancocks V.S.O.P., wirkte daneben über die Jahre immer wieder in Tributprojekten an seinen früheren Chef mit, ob auf Platte oder bei Konzerten. Daneben aber verfolgte er auch seine Karriere als Bandleader, insbesondere auf Alben, die er in den 1970er Jahren für das Label CTI aufnahm. 1976 wechselte er zu Milestone Records, später dann zu Blue Note. Ein eigenes Kapitel befasst sich mit Carter, dem Sideman, ein weiteres mit seiner Studioarbeit für Werbemusik sowie ein drittes mit seiner Mitwirkung bei Filmen wie “Bird” oder “Kansas City”. Carters Ausflüge in brasilianische Musik finden genauso Erwähnung wie jene in die Welt der klassischen Musik oder seine Arbeit als Jazzpädagoge. Sein Duo mit Jim Hall kommt genauso zur Sprache wie Carters jüngste eigene Bands, sein Cello Choir und sein Ausflug in des Welt des HipHop. Zum Schluss findet sich noch ein Live-Blindfold-Test, bei dem Carter 2007 bei der Tagung der International Association of Jazz Educators Aufnahmen von Kollegen kommentierte, sowie ausführliche Kommentare zu seinem gewählten Instrument, dem Kontrabass. Ein Appendix versammelt Interviewausschnitte anderer Musiker zu Ron Carter, etwa von Buster Williams, Chick Corea, Gonzalo Rubalcaba, Stanley Clarke, Esperanza Spalding, Charlie Haden, Dave Holland, Grady Tate, Javon Jackson, John Patitucci, Jacky Terrasson, Wynton Marsalis, Jimmy Heath und Billy Taylor. Ein zweiter Appendix erteilt Auskünfte aus dem eher privaten Bereich, etwa, welches Auto Carter fährt, welche Pfeife er raucht, wo er seine Kleidung kauft, welche Stereoanlage er zuhause hat und welche Platten er auf eine einsame Insel mitnehmen würde. Oullette greift auf Carters Erinnerungen zurück, zitiert aber auch ausführlich aus zuvor veröffentlichten Interviews. Das Buch ist eine würdige Hommage an einen der ganz Großen seines Instruments, überaus lesenswert, voll mit Insiderinformationen und jedem empfohlen, der sich für Carter, Miles Davis oder den Jazz der 60er bis 80er Jahre interessiert.

(Wolfram Knauer, Februar 2010)


 

Swing Is the Thing. Hengelo en de Jazz 1920-1960
von Henk Kleinhout
Hengelo 2008 (Uitgiverij Smit)
157 Seiten, 23,85 Euro
ISBN: 978-90-6289-626-4

2008kleinhoutHenk Kleinhout spielte Posaune in verschiedenen traditionellen Jazzbands, beschäftigte sich in seinen Studien allerdings genauso mit der Black-Power-Bewegung und der amerikanischen Jazzavantgarde. 2006 promovierte er sich mit einer Arbeit über die Rezeption des Jazz in den Niederlanden der Wiederaufbauzeit und legt in diesem Buch eine Geschichte des Jazz in Hengelo vor, einer Mittelstadt nahe Enschede, nicht weit von der deutschen Grenze. Ein Einleitungskapitel macht auf die erste Jazzrezeption in den Niederlanden aufmerksam, Konzerte Paul Whitemans in Scheveningen und Amsterdam, Tourneestops von Armstrong, Ellington, Benny Carter und Coleman Hawkins. Dann geht es in die Stadtgeschichte. Die ersten Belege für Jazz in Hengelo findet Kleinhout bereits 1916, als die “Timbertown Follies”, eine Varietégruppe, in Hengelo auftraten. 1919 stand das Wort Jazz (noch geschrieben als “jasz”) zum ersten Mal in der Lokalzeitung, in der Anzeige einer Tanzschule. (Kurz darauf erschien die Anzeige offenbar mit korrigierter Schreibweise, wie ein Faksimile im Buch deutlich macht). Von 1923 gibt es Anzeigen für “Jazz Band Balls”, also Tanzveranstaltungen, bei denen auch eine “Original Jazz-Band” zu hören war. Ob daran irgendwelche Hengelo’schen Musiker beteiligt waren, kann auch Kleinhout nicht beantworten. Es gab in den 1920er Jahren Konzerte und Tanzveranstaltungen und in der Tagespresse außerdem Berichte beispielsweise über britische Bands, die in Hengelo im Rundfunk zu hören waren. In den 1930er Jahren sah es dann bereits anders aus. Im Hotel Eulderink gastierte das Appleton Trio; andere Bands wie die Rhythm Kings aus Leeuwarden oder die Blue Ramblers waren ebenfalls viel in der Stadt zu hören. Kleinhout dokumentiert akribisch Engagements und Tanzveranstaltungen, immer mit einem Seitenblick auf anderswo in den Niederlanden stattfindende Jazzaktivitäten, die Ramblers etwa oder den landesweit spürbaren Eindruck, den Duke Ellingtons Orchester bei einem Konzert in Amsterdam auf die niederländische Jazzszene machte. In den 1940er Jahren war das Land von den Nazis besetzt, aber Jazz gab es trotzdem, gespielt etwa von den Bands von Ernst van’t Hoff oder Dick Willebrandts. Hengeloer Lokalmatadoren wie Manny Oets dürfen im Buch nicht fehlen, genauso wenig wie Verweise auf Gastspiele der Ramblers 1946 oder von Nat Gonella 1949. In den 1950er Jahren dann stellt Kleinhout Ensembles wie das Vokalensemble The Vocal Touches heraus, das Harry Banning Quartet, das sich in Besetzung und Repertoire am Modern Jazz Quartet orientierte, das Quartett des Pianisten Fred van de Ven oder die Band Hotclub d’Hengelo. “Swing Is the Thing” beschreibt, wie eine Musik langsam aber sicher Fuß fasst in einer Mittelstadt der Niederlande, wie aus Zuhörern und Unterhaltungssüchtigen Fans werden und wie sich eine Szene herausbildet, die nach wie vor zwischen Spaß und Bewusstsein um den Ernst der Musik schwankt. Kleinhout hat in nationalen Jazzblättern genauso wie in lokalen und regionalen Zeitungsarchiven recherchiert. Ein Personenregister rundet das vordergründig vielleicht vor allem für Hengeloer Jazzfreunde interessante Buch ab, das aber zugleich ein Puzzlestein zur Dokumentation des niederländischen jazz darstellt.

(Wolfram Knauer, Januar 2010)


 

Lutzemann’s Jatzkapelle. Alltag & Abenteuer einer “German Jazzband”
von Lutz Eikelmann
Berlin 2008 (Verlag Pro Business)
118 Seiten
ISBN: 978-3-86805-239-8

2008eikelmann“Lutzemanns Jatzkapelle” wurde 1993 gegründet und ist, wie schon der Bandname dem eingeweihten Jazzkenner verrät, in den traditionellen Stilarten des Jazz zu Hause. Eikelmann ist abwechselnd Tubist, Bassist und Schlagzeuger der Kapelle und erzählt in seinem Buch Anekdoten aus 15 Jahren Bandgeschichte. Es sind Anekdoten von Reisen in nähere und weiter entfernte Regionen, von musikalischen und menschlichen Höhepunkten und Zwischenfällen. Es sind Geschichten aus Clubs, von Festivals oder über Gigs in Einkaufszentren, von Kollegen wie etwa dem 2002 verstorbenen Saxophonisten Fitz Gore oder über den Posaunisten Hawe Schneider. Im Mittelpunkt des Buchs stehen eine Reise nach New Orleans, eine Jazzkreuzfahrt durch die Karibik und eine weitere (“Jazz Meets Klassik”) durchs Mittelmeer. Dann kommen Lobreden aus der Presse, Erinnerungen an die erste CD, an einen Drehtag für eine Fernsehsendung mit Marie-Luise Marjan (“Mutter Beimer”), und an das Lonnie Donegan Projekt, das Eikelmann 2003 nach dem Tod des britischen Gitarristen, Banjospielers und Sängers ins Leben rief. Das Buch ist ein Sammelsurium vieler unterschiedlich interessanter Anekdoten und damit vor allem für Freunde des “Oldtime-Jazz”, wie Eikelmann seine Musik selbst bezeichnet, ein nettes Erinnerungsbüchlein. Editorisch lässt es zu wünschen übrig; zu zusammenhanglos liegen die Anekdoten nebeneinander; zu banal (und zu pointenarm) sind etliche der Anekdoten, zu fragwürdig einige der Witzchen, die im Männergespräch vielleicht durchgehen und auch beim Erzählen am Stammtisch witzig wirken mögen , auf Papier gedruckt aber doch eher peinlich anmuten. Schließlich steckt zu wenig Struktur in dem allen; das Buch wirkt stellenweise mehr wie eine Werbebroschüre als wie eine Dokumentation. Wenn überhaupt, so macht “Lutzemann’s Jatzkapelle” allerdings eines bewusst: dass nämlich die Szene des traditionellen Jazz, ob New Orleans, Dixieland oder “Oldtime” in Deutschland einer kritischen Bestandsaufnahme harrt, die die Geschichten der Musiker, also auch Eikelmanns Erfahrungen, bündelt und in Beziehung setzt zu den politischen, kulturellen und ökonomischen Entwicklungen in Deutschland von 1945 bis heute, die die ästhetischen Implikationen des Stils vorbehaltlos analysieren und damit vielleicht eine ähnliche Neubewertung der Szene erreichen könnte wie sie George McKay in Kapiteln seines Buchs “Circular Breathing. The Cultural Politics of Jazz in Britain” gelungen ist.

(Wolfram Knauer, Januar 2010)


 

Ich hab den Blues schon etwas länger. Spuren einer Musik in Deutschland
Herausgegeben von Michael Rauhut und Reinhard Lorenz
Berlin 2008 (Ch. Links-Verlag)
412 Seiten, 29,90 Euo
ISBN 978-3-86153-495-2

2008rauhut2008 begaben sich Michael Rauhut und Reinhard Lorenz mit ihrem Buch “Ich hab den Blues schon etwas länger“ auf die “Spuren des Blues in Deutschland“ (Ch. Links-Verlag). Herausgekommen ist ein hervorragend lesbarer Reader mit Texten zu regionalen Bluesszenen in Ost und West, historischen Anrissen zur afroamerikanischen Musiktradition in Deutschland und persönlichen Anekdoten “Bluesbetroffener“.

Das meiste ist kurzweilig zu lesen, zwar selten wirklich neu, doch in der Kombination der Texte originell zusammengestellt. So folgen die einzelnen Kapitel den Wochentagen, beginnend bei Montag, um jedem Kapitel eine Textzeile des Bluesklassikers “Stormy Monday“ von T-Bone Walker voranzustellen. Das scheint zwar inhaltlich nicht sonderlich viel Sinn zu machen, ist aber – in der positiven Wendung, die die Strophe gegen Ende nimmt (“Eagle flies on Friday“) – vielleicht eine Allegorie für die Hoffnung, die die Herausgeber in Bezug auf die künftige Entwicklung des Blues in Deutschland hegen. Da verschmerzt man, dass viele der Texte Zweitverwertungen der Autoren sind, die so oder in leicht geänderter Form an anderer Stelle bereits veröffentlicht wurden. Besonders beachtlich darunter ohne Zweifel – und das Vergnügen beim Lesen erheblich steigernd – die kurzen Reminiszenzen prominenter, lebender oder bereits verstorbener Bluesfans wie Peter Maffay, Eric Burdon, Götz Alsmann, Wim Wenders (entrichtet ein Geleitwort), Joachim-Ernst Berendt, Olaf Hudtwalcker, Emil Mangelsdorff und anderer.

Analytische Artikel zur Situation des Blues in Deutschland in Vergangenheit und Gegenwart sucht man in diesem Buch allerdings meist vergebens, bekommt sie lediglich dort, wo man das auch erwarten darf – bei den Professoren Michael Rauhut (Vergleich der Blues-Diskurse in Ost und West) und Peter Wicke (Blues und Authentizität). Alles in allem handelt es sich bei diesem Werk um ein pralles Lesebuch für jene, die den Blues schon etwas länger haben und eigene Erinnerungen an ein Leben mit ihm gerne noch einmal aufwärmen möchten, und für jene, die immer schon einmal wissen wollten, was der Blues verdammt noch mal mit Deutschland zu tun hat.

(Arndt Weidler, Dezember 2011)


 

Barney Kessel. A Jazz Legend
von Maurice J. Summerfield
Blaydon on Tyne 2008 (Ashley Mark Publishing Company)
distributed by Hal Leonard Corporation
303 Seiten, 39,50 US-$
ISBN: 978-1-872639-69-7

2008summerfieldMit 12 Jahren faszinierte Barney Kessel die Gitarre im Fenster eines Musikgeschäfts in Muskogee, Oklahoma, so sehr, dass er sich das Instrument vom selbstverdienten Geld kaufte, obwohl sein Vater etwas dagegen hatte, weil Gitarre seiner Ansicht nach nur Bettler spielten. Er machte auf dem Instrument allerdings schnell solche Fortschritte, dass seine Mutter ihm 1939 eine elektrische Gitarre mit Verstärker kaufte. Er kaufte sich all die neuesten Platten Charlie Christians, und als der sich 1940 in Oklahoma City aufhielt, verbrachte Barney drei Tage mit seinem Idol, spielte mit ihm und ließ sich Tricks beibringen. 1942 zog es den 19-jährigen nach Los Angeles und wurde bald Gitarrist des Orchesters von Chico Marx, geleitet von Ben Pollack. Er teilte das Zimmer auf Tourneen meist mit Mel Torme, der nicht nur für die Band sang, sondern ab und zu auch Schlagzeug spielte. 1944 spielte er mit Charlie Barnet und machte 1945 seine erste Platte unter eigenem Namen. 1947 spielte er sowohl mit Benny Goodman wie auch mit den Charlie Parker All Stars. Ende der 1940er Jahre dann als Studiomusiker für Capitol Records in Hollywood, eine Funktion, in der er Jazz- genauso wie andere Stars begleitete, darunter auch Marlene Dietrich, Doris Day oder Maurice Chevalier. 1952 bat Norman Granz ihn, beim (klassischen) Oscar Peterson Trio mitzumachen; ansonsten wirkte er in den 50er Jahren bei vielen Alben für das Label Contemporary mit, die teilweise auch unter seinem Namen erschienen. Summerfield beschreibt Kessels Arbeit als Studiomusiker. Ende der 60er Jahre lebte Kessel eine Weile in London und kehrte in der Folge immer wieder zu Tourneen nach Europa zurück. 1974 trat er erstmals mit Charly Byrd und Herb Ellis in der Band “The Great Guitars” auf, die in wechselnden Besetzungen bis in die 190er Jahre bestand. Im Alter von 68 Jahren erlitt Kessel im Mai 1962 einen Schlaganfall, nach dem er nicht mehr Gitarre spielen konnte. 2004 starb er an den Folgen eines Gehirntumors. Summerfields Buch zeichnet Kessels Lebensgeschichte nüchtern nach, mit vielen Daten und Fakten sowie etlichen Interviewauszügen. Ein eigenes umfangreiches Kapitel ist seinen Gitarren und seiner Ausrüstung gewidmet. “Thoughts on Music & Life” ist ein Kapitel überschrieben, das Interviewausschnitte des Gitarristen sammelt. In einer Fotogalerie finden sich unzählige seltene Fotos, einschließlich seiner Geburts- und Todesurkunden. Schließlich enthält das Buch eine 150 Seiten umfassende Diskographie des Gitarristen. Für Kessel-Fans ein Muss, das in seinen biographischen Kapiteln vielleicht manchmal etwas trocken zu lesen ist, aber durch die vielen Einsprengsel von Auszügen aus Interviews genügend Stoff enthält, um ein umfassendes Bild des Wirkens von Barney Kessel geben zu können.

(Wolfram Knauer, Januar 2010)


 

The World That Made New Orleans. From Spanish Silver to Congo Square
von Ned Sublette
Chicago 2008 (Lawrence Hill Books)
360 Seiten
ISBN: 978-1-55652-730-2

2008subletteNew Orleans hat viele Geschichten. Da ist die Geschichte der nördlichsten Stadt der Karibik, die Geschichte der französischen Kolonie, die Geschichte einer gut funktionierenden Vielvölkerstadt, die Geschichte der Sklaverei, die Geschichte der Hafenstadt mit allen dazugehörigen Subgeschichten, von Schifffahrt bis Prostitution, und natürlich die Geschichte der Musik, von Oper, Gesangsvereinen, Marschkapellen, Ragtime und Jazz. Ned Sublette zeichnet in seinem Buch die Frühgeschichte der Stadt nach, von den Anfängen als französische Siedlung bis etwa 1820, als die Stadt mit ihren unterschiedlichen Traditionen fest in die Vereinigten Staaten von Amerika eingemeindet worden war. Ihm geht es um kulturelle Einflüsse, die sich nicht nur in der Musik niederschlagen (die allerdings immer wieder ausgiebig Erwähnung findet), sondern auch in Sitten und Gebräuchen, im Lebensgefühl der Menschen und auch in politischen Entscheidungen, die die Crescent City bis heute wie eine so gar nicht wirklich amerikanische Stadt erscheinen lassen. Straßennamen in New Orleans erzählen die Geschichte der Stadt, erklärt Sublette, Straßen, die nach Generälen und Präsidenten benannt seien, nach “Mystery”, “Music” und “Pleasure”. Sublette recherchiert die Geschichte der Stadt als Historiker, aber er erzählt sie als ein kritischer Geist von heute, verbindet die geschichtlichen Erkenntnisse immer mit den Erfahrungen der Gegenwart. Reisende hätten sich immer schon gewundert, wie man eine Stadt auf so unfestem Grund bauen könne, berichtet er. 1492 entdeckte Kolumbus teile Amerikas, und im 16. Jahrhundert kolonialisierten die Spanier viele Gebiete der Karibik. Sublette erzählt die Geschichte des Wettstreits der europäischen Mächte um die Kolonien in der Neuen Welt, insbesondere die wechselnden Erfolge der Spanier, der Briten und der Franzosen, und wie aus dieser Konkurrenz heraus der französische Gesandte Pierre Le Moyne, Sieur d’Iberville, verschiedene Posten nahe der Mississippi-Mündung gründete, bevor er in den frühen Jahren des 18. Jahrhunderts eine Siedlung gründete, die gegen 1718, dem Herzog zu Orléans zu Ehren, Nouvelle Orléans genannt wurde. Sublette beschreibt die wirtschaftliche Entwicklung der frühen französischen Siedlung und ihre politische Stellung, die etwa der “Sibiriens im 20. Jahrhunderts” glich. Er beschreibt, wie man versuchte neue Einwohner auch aus anderen Ländern als Frankreich anzuwerben, Deutsche beispielsweise, und wie dann, bereits ab 1719, der Sklavenhandel aufblühte. Man liest, woher die Sklaven anfangs kamen und welche Akkulturationsprozesse sie in der neuen Heimat durchmachten (durchmachen mussten). 1762 schenkte Louis XV Louisiana an seinen Cousin Carlos III von Spanien. Die Spanier führten neue Gesetze ein, die auch die Sklaven betrafen und weniger streng waren als der französische Code Noir. Schon damals hatte New Orleans ein ausgeprägtes Nachtleben und Bedarf an Musik. Sublette schreibt in diesem Zusammenhang auch über die Bedeutung des Congo Square, die noch auf französische Zeiten zurückging, über die Tänze der Schwarzen dort, die nicht nur von Durchreisenden wahrgenommen wurden, sondern auch von der spanischen Regierung geregelt wurden — übrigens unter dem Namen “tangos”; Grund genug, kurz auf die Verbindungen zwischen Habanera- und Tangorhythmen in der Karibik und New Orleans einzugehen, Louis Moreau Gottschalk, Jelly Roll Morton, W.C. Handy und den Spanish Tinge zu erwähnen, der bis heute in der Stadt eine wichtige Rolle spielt. Am Karfreitag 1788 fing ein Altar auf der Chartres Street Feuer und setzte nach und nach die ganze Stadt in Brand. Ihr Wiederaufbau geriet im spanischen Kolonialstil, der bis heute das Straßenbild der Stadt, auch ihres paradoxerweise als “French Quarter” bezeichneten berühmtesten Stadtteils, prägt. Sublette beschreibt die Sklavenrevolten in dem unter französischer Herrschaft stehenden Santo Domingo, die Auswirkungen auf New Orleans hatten, weil viele der ehemaligen Sklaven dorthin flohen, als nach der Französischen Revolution die Sklaverei in der gesamten französischen Einflusssphäre abgeschafftt wurde. Mit den vielen freien Schwarzen aus Santo Domingo kam auch die revolutionäre Idee von Freiheit für alle Sklaven in die Stadt. Die Französen wollten ihre ehemalige Kolonie zurück, und Napoleon Bonaparte bestand 1802 darauf, Louisiana wieder als französisches Gebiet zu akquirieren. Ein Jahr später allerdings bot er das ganze Land Louisiana bereits wieder dem amerikanischen Präsidenten Thomas Jefferson für 60 Millionen Francs zum Kauf an. Die USA mussten nun mit der Tatsache umgehen, dass aus historischen Gründen in Louisiana Schwarze verschiedener sozialer Klassen existierten: frisch “importierte” Sklaven, in Amerika geborene und bereits teilweise akkulturierte Sklaven sowie freie Schwarze insbesondere aus Santo Domingo. Sublette diskutiert kurz die Haltung des Präsidenten zur schwarzen Bevölkerung seines Landes — er war ein strikter Verfechter der Sklaverei, sah Sklaven als frei verfügbares Kapital, besaß selbst über die Zeit seines Lebens mehr als sechshundert Sklavenund hatte zugleich ein enges Verhältnis zu einer seiner Sklavinnen. Ihm war zugleich bewusst, dass die Tage der Sklaverei gezählt waren und eine kluge Regierung Gesetze in Angriff nehmen musste, um die Zeit danach vorzubereiten. Unter Jeffersons Regierung allerdings wurde New Orleans erst einmal zum größten Sklavenmarkt der Vereinigten Staaten. Sublette beschreibt, wie Sklaven für die weiße Bevölkerung sozialen Status bedeuteten und wie Louisiana nachgerade die “Züchtung” neuer Sklaven unterstützte. In New Orleans durchdrangen sich inzwischen die verschiedenen kulturellen Traditionen, insbesondere der französischen und britischen Bevölkerung. Es gab Bälle zuhauf; 1805 wurde die erste Oper in der Stadt aufgeführt; es gab zwei Theater und daneben ein lebendiges afro-amerikanisches religiöses Leben. Die schwarze Bevölkerung der Stadt war größer als die weiße, aber nach und nach wurden die neuen Gesetze der Vereinigten Staaten durchgesetzt, die weitaus strenger durchgriffen und insbesondere viele der freien Schwazen ihrer zuvor zugestandenen Rechte beraubten. 1809 erklärte Kuba sich solidarisch mit dem spanischen König, der gerade Frankreich den Krieg erklärt hatte. Kuba wies alle Franzosen aus, zählte dazu aber grundsätzlich all jene, die keinen Eid auf Spanien geschworen hatten, also auch viele der zuvor aus Santo Domingo nach Kuba gekommenen Schwarzen, die in der Folge vor allem nach New Orleans flüchteten. Diese meist französisch sprechenden Einwanderer wurden bald ein wichtiger Teil der Gesellschaft, politische Bürger mit Einfluss, Zeitungsverleger, Anwälte und Kaufleute. Hier nun ended Sublettes Geschichte, noch lang vor der Abschaffung der Sklaverei also, lang vor den musikalischen Auswirkungen, die der Melting Pot New Orleans im Jazz des 20sten Jahrhunderts zeitigen sollte. Doch Musik spielt überall in seinem Buch eine wichtige Rolle, und die Art, wie er historische Entwicklungen, ihre Auswirkungen auf die Menschen mit verschiedenem sozialen Status und letzten Endes auf den Lauf der Dinge bis heute schildert, erklärt viel auch über das Faszinosum des Jazz in späteren Jahren. Macht und vielfache Machtwechsel, Akkulturation auf verschiedenen Ebenen und die kulturelle Vermischung, die bei alledem zwangsweise geschah, sind die bunte kulturelle Mischung, die so großen Einfluss auf die afro-amerikanische Musik des 20sten Jahrhunderts haben sollte. Sublettes Buch ist dabei kenntnisreich und spannend geschrieben, erklärt Zusammenhänge und lässt nie die persönliche Betroffenheit außer Acht, auch die persönliche Betroffenheit des Autors, der in seiner Erzählung immer wieder auf eigene Vorfahren trifft.

(Wolfram Knauer)


60 ans de Jazz au Caveau de la Huchette
von Dany Doriz & Christian Mars
Paris 2008
l’Archipel
160 Seiten, 29,95 Euro
ISBN 978-2-8098-0033-3

2008caveauDie Caveau de la Huchette feierte 2006 seinen 60sten Geburtstag, und sie ist bis heute ein Unikum geblieben: einer jener Pariser Keller, in denen der Jazz zum Mittelpunkt der Existentialistenkultur wurde, mit Blues, Boogie und Tanz eine nächtliche Alternative zu den sonstigen Treffpunkten der Intellektuellen und Möchtegernintellektuellen darstellte. Wer nie in der Caveau de la Huchette gewesen ist, sollte dies nachholen, denn noch heute wird der Jazz dort auf jenes motorische Element zurückgeholt, aus dem er letzten Endes mit entstanden ist. Der Vibraphonist Dany Doriz hat oft genug im Club gespielt und jetzt zusammen mit dem Journalisten Christian Mars eine Dokumentation über die Geschichte des Clubs und seiner Atmosphäre vorgelegt. Jede Menge historische Fotos zeigen den Raum und die unterschiedlichen Acts, die über die Jahrzehnte dort auftraten. Neben den Jazzmusikern waren das durchaus auch mal Magier, die Tauben aus einer Cloche zauberten. Die Tänzer aber sind es vor allem, die neben den Musikern den Keller in der Rue de la Huchette beherrschten. Lindy Hop, R&B, Rock ‘n’ Roll, irgendwie ähnelten sich die Tänze, und neben den Paartänzen gab es auch Gruppentänze und Stepptanz. Die Musiker sind reichlich dokumentiert in Fotos und Geschichten, Boris Vian etwa oder Claude Luter, der mit seinen Lorientais hier und anderswo im Viertel zuhause war; Sidney Bechet, der in den 1950er Jahren als großer Star in Frankreich lebte; Claude Bolling, Maxim Saury, Raymon Fonsèque, Irakli und viele andere Musiker und Bands, für die die Caveau ein zweites Zuhause war. Ein eigenes Kapitel befasst sich mit dem Streit zwischen Traditionalisten und Modernisten. Natürlich erzählt auch Dany Doriz seine Geschichte; und auch die oft in der Caveau auftretenden Amerikaner kommen nicht zu kurz: Bill Coleman, Hal Singer, Benny Waters, Memphis Slim, Sam Woodyard, Milt Buckner, Art Blakey, Wild Bill Davis, Al Grey, Cat Anderson sowie Doriz’s Vorbild, der große Lionel Hampton, der 1976, zum 30sten Geburtstag des Clubs, zugegen war. Das Buch ist voller schöner und seltener Fotos, denen es gelingt die Atmosphäre im Kellergewölbe von Saint Germain-des-Pres widerzugeben. Am Schluss gibt es eine Programmliste der zwischen 1971 und 2007 im Club aufgetretenen Künstler. Ein schönes Andenken für jeden, der die Caveau schon einmal besucht hat — und für alle anderen eine Anregung, wenn auch spät, so wenigstens jetzt noch einmal in die Keller der Existentialisten abzutauchen.

(Wolfram Knauer)


 

Ben van Melick
Han Bennink. Cover Art for ICP and other labels

Rimburg/Niederlande 2008
Uitgeverij Huis Clos
64 Seiten, 15 Euro
ISBN: 90-1234-4568-9

2008benninkErstaunlich viele Schlagzeuger besitzen eine zweite künstlerische Ader als Maler — George Wettling, Daniel Humair, Joe Hackbarth, Ralf Hübner, Tony Oxley, Vladimir Tarasov sind bekannte Beispiele, aber auch der Niederländer Han Bennink gehört in diese Riege. Seine Cover Art prangt auf vielen Schallplattencovern für seine eigenen Projekte genauso wie für befreundete Musiker. Ben van Melick hat in diesem kleinen Büchlein die graphischen Ideen des Schlagzeugers für das ICP Label der Instant Composers Collective sowie für andere Labels gesammelt. In seinem Vorwort beschreibt van Melick biographische Stationen Benninks, der Grafik studiert und schon früh Bildende Kunst und Musik in seinen Performances gemischt habe, etwa bei einer Galerieeröffnung im Jahr 1966. Er habe sich dann lange Jahre vor allem um die Musik gekümmert und erst in den 1980er Jahren wieder verstärkt auch der visuellen Kunst zugewandt. Die Cover, die in dem Büchlein abgedruckt sind stammen aus den Jahren 1967 bis 2008. Witz, das Spiel mit der Irritation, künstlerische Rätsel und Vexierspiele finden sich darunter und erinnern im Charakter an den Schlagzeuger, der sein Publikum genauo gern in die Irre führt, bei dem oft scheinbar rein zufällige Gesten sich im Höreindruck als komplexe musikalische Statements entpuppen. Da bringt er Bilder aus einem Kindermalbuch in seltsam anmutende Bezüge zueinander, da arbeitet er mit Fotos und Collagen, mit Text und der Anordnung von Text (etwa dem rhythmischen Verteilen der Besetzungsnamen auf dem Plattencover). Collageartig zusammengeklebte Schreibmaschinentexte finden sich genauso wie kalligraphisch gestaltete Texte. Eine Schiedsrichterpfeife taucht öfters auf, und das “o” im letzen Wort des Albums “Bospaadje konijnehol” (Forest path rabbit hole) hat er im Original mit einem echten Hasenkötel markiert. Während anfangs Schwarz-Weiß-Cover überwiegen (sicher auch aus Kostengründen; die Auflage der Platten war gewiss nicht allzu hoch), finden sich spätestens ab dem neuen Jahrtausend Farbnuancen, die den Bildern noch mehr Tiefe und oft auch Doppeldeutigkeit verleihen. Immer wieder spielt Bennink dabei auch mit Selbstzitaten, erkennt man Elemente früherer Covergestaltungen wieder, ob dies nun konkrete Motive sind oder Gestaltungsmethoden. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass zwischen Bennink, dem Künstler, und Bennink, dem Musiker, gar kein so großer Unterschied besteht, dass die ästhetische Grundhaltung der hintersinnigen Umdeutung des Alltäglichen bei beiden eine ideelle Grundhaltung ist.

(Wolfram Knauer)


 

Michel Prodeau
La Musique de Don Ellis

Montalzat 2008
Éditions Boutik Pro
199 Seiten, 16 Euro
ISBN: 978-2-9532237-0-5

2008prodeauDer Trompeter Don Ellis hatte eine kurze, aber einflussreiche Karriere. Nur 20 Jahre dokumentieren Plattenaufnahmen den 1978 im Alter von gerade mal 44 Jahren verstorbenen Musiker, der immer mit zu den Experimentierern seines Metiers gehörte: ob mit ungeraden Metren, Zwölftonskalen, ethnischen Einflüssen aus indischer Musik oder solcher aus dem Balkan, elektronischer Klängen, dem Zusammenkommen von Jazz, Rock und Pop. Michel Prodeau versucht in seinem Buch eine Annäherung an den 1934 in Los Angeles geborenen Trompeter. Ihn interessieren dabei weniger biographische Details als vielmehr vor allem die auf Schallplatte dokumentierten Aufnahmen. Er erwähnt den Einfluss des Pianisten und Komponisten George Russell oder jenen der Third-Stream-Bewegung der 1950er und 1960er Jahre, die Experimente mit großem Orchester, neuen klanglichen wie metrischen Möglichkeiten, sein allgemeines Interesse am, Sprengen der Genregrenzen. Das Buch hangelt sich dabei von Album zu Album und wirkt damit wie eine gut kommentierte Diskographie, nennt Details der Kompositionsstrategien und Besonderheiten der Aufnahmesituationen, zieht allerdings nur wenig Querverweise und reicht auch in den angedeuteten Analysen nur selten über das hinaus, was auf den Platten zu hören und in den Plattentexten (in anderen Worten) nachzulesen wäre. Da merkt man dann Füllabsätze, etwa, wenn Prodeau sämtliche Aufführungsorte des Dokumentarfilms “Electric Heart, Don Ellis” auflistet und bleibt etwas enttäuscht zurück, dass die Aufzählung von namen im Text nicht mit Inhalt gefüllt wird, es also nicht nur wichtig ist, mit wem Ellis oder seine Mitmusiker zusammengespielt haben, sondern viel eher, welche musikalischen Erfahrungen sich mit solchen biographischen Details verbinden, die wiederum auf die Musik Ellis’ Einfluss haben. Eine Diskographie schließt das Buch ab; ein gerade in einer solch personen- und titelbetonten Monographie besonders nützlicher Namens- oder Titelindex fehlt leider. Auch in der Bibliographie fehlen Hinweise auf mehrere fachkundige amerikanische Dissertationen, die sich insbesondere mit Ellis’ metrisch-rhythmischen Experimenten, aber auch mit seinen weltmusikalischen Ansätzen und seiner Interpretation des Blues auseinandergesetzt haben. Prodeaus Buch ist allerdings zur Zeit die einzige auf dem Markt befindliche Monographie über den Trompeter.

(Wolfram Knauer)


 

Christian Béthune
Le Jazz et l’Occident
Paris 2008
Klinksieck
337 Seiten
ISBN: 978-2-252-03674-7

2008bethuneDer französische Philosoph und Jazzkritiker Christian Béthune beschäftigt sich in seinem neuesten Buch mit dem Verhältnis zwischen dem Jazz und der Philosophie und Ästhetik des 20sten Jahrhunderts.

Konkret fragt er danach, in welche philosophischen und ästhetischen Diskurse der westlichen Welt der Jazz im 20sten Jahrhundert gelangte, und welche philosophischen und ästhetischen Diskurse er beeinflusste. War der Erfolg des Jazz ein Zeichen dafür, dass die Kunst (im alten Sinne) an ihrem Ende angelangt sei oder aber war er eine Weltanschauung ganz eigener Art?

Der Jazz sei in eine ästhetische Welt geboren worden, an deren Zustandekommen er selbst zwar keinen Anteil hatte, die ihn aber in seiner eigenen Entwicklung nachhaltig beeinflussen sollte. Die Musik der schwarzen Amerikaner habe allerdings immer mit ihrer ganz eigenen historischen Situation gelebt, also der, eine Musik zu sein, deren Wurzeln sowohl in der westlichen Tradition wie auch im erzwungenen Traditionsverlust der Sklaverei steckten.

Die Schwarzen in Nordamerika hätten durch ihre Stellung als Sklaven, als eine Art “Untermenschen” zugleich auch eine Freiheit von Traditionen besessen oder zumindest die Chance der Umdeutung von Traditionen, wie dies auch Ralph Ellison in seinem Roman “Invisible man” angedeutet habe. Diese Negation der Menschlichkeit mache einen erheblichen Teil der Kraft des Jazz (und seiner Vorformen) aus, in dem die schwarzen Amerikaner nämlich genau diese ihre Menschlichkeit, ihre “humanité” deutlich manifestierten: Individualität als Beweis des Menschlich-Sein.

Und irgendwie, argumentiert, Béthune, sei der Erfolg des Jazz in Europa nach zwei Weltkriegen eben nicht nur der Präsenz amerikanischer Soldaten in Europa zu verdanken, sondern auch der Tatsache, dass auch die Europäer einer Negation von Geschichte ausgesetzt waren, einer Negation des Horrors. Für sie habe der Jazz eine essentiell humane Musik dargestellt, die es ihnen erleichterte, sich im Angesicht des Unmenschlichen wieder auf das Menschliche zu besinnen.

Jazz biete uns eine Art historischer Utopie, die Utopie der “zweiten Chance”. Für die Sklaven sei die Musik eine Überlebensstrategie gewesen. Und eine ähnliche Funktion räumt Béthune dem Jazz auch in seiner Beziehung zum Okzident ein. Ja, der Jazz besitze eine gewisse “Zeitlosigkeit” (hier wie anderswo nimmt Béthune deutlich Bezug auf Adorno), doch sei eben gerade diese Zeitlosigkeit höchst willkommen, wenn die Zeit selbst in ihrer Instabilität, ihrer Multiplizität, ihrer Endlichkeit in Frage stünde.

Inzwischen allerdings sei der Jazz selbst im Okzident angelangt, Teil der westlichen Kultur und Philosophie geworden. Diesen Weg verfolgt Béthune dann in seinem Buch in zwei Teilen. In ersten Teil versucht er eine Einordnung des “champ jazzistique”, wie er die Traditionen umschreibt, die im Jazz mündeten und den Jazz ausmachen. Seine Argumentation beschreibt die Auswirkungen der Sklaverei, die Arbeitsgesänge, Spirituals, Gospel und Blues, die Minstrelsy und das “Jazzzeitalter” der 1920er Jahre, die Ankunft des Jazz in Europa sowie seine Darstellung im Film und die langsame Entwicklung einer dezidierten Jazzästhetik (“De l’implicite à l’explicite”).

In einem zweiten Teil seines Buchs untersucht er dann die verschiedenen Bezüge jazzspezifischer Ausprägungen zur westlichen Tradition: Improvisation, Oralität, das gemeinschaftliche Entstehen von Kunst (also im Gegensatz zum uni-auktorialen Schaffensprozess), die verschiedenen Zeitkriterien, in die der Jazz eingreift (Form, Rhythmus, swing), das Verlangen danach, sich selbst auszudrücken, sowie nicht zuletzt die Körperlichkeit des Jazz sind Argumente für die vielfältigen Gegenmodelle, die der Jazz in die okzidentale Ästhetik und Philosophie einbringe.

Man muss sich sowohl auf Béthunes Thesen einlassen wie sie auch ein wenig vergessen bei der Lektüre, um ihnen zu folgen und vielleicht eigene Wege in der Deutung jazzhistorischer Entwicklungen und des Bezugs jazzspezifischer Herangehensweisen zur ästhetischen Tradition in Europa zu gehen. Das aber lohnt sich und zeigt, dass dieses Thema, so historisch Béthune es auch angeht (seine Beispiele stammen größtenteils aus der Vor-Free-Jazz, ja sogar noch Vor-Bebop-Zeit) ästhetisch ungemein aktuell und bei weitem nicht ausdiskutiert ist.

(Wolfram Knauer)


 

Mission Impossible. My Life in Music
von Lalo Schifrin: Mission Impossible. My Life in Music,
Lanham/MD 2008 (Scarecrow Press)
219 Seiten + 1 CD, 35 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-5946-3

2008schifrinDer Pianist Lalo Schifrin hat mindestens drei Karrieren hinter sich: als Jazzmusiker, als klassischer Komponist und als Komponist und Arrangeur für Film und Fernsehen. In allen drei Bereichen hat er Riesenerfolge gefeiert, spielte von 1958 bis 1963 mit Dizzy Gillespie, komponierte Werke für klassische Ensembles und schrieb die Musik etwa für “The Sting II”, “The Man from U.N.C.L.E.” oder eben “Mission Impossible”. In seiner Autobiographie erzählt er seine Geschichte. Er wurde 1932 in Buenos Aires in eine musikalische Familie geboren und war eine Art Kinderstar — mit neun Jahren spielte er Gershwins “Rhapsody in Blue” mit dem Philharmonischen Orchester unter Leitung von Erich Kleiber. In den 50er Jahren traf er oft mit Friedrich Gulda zusammen, den er als Bruder im geiste sieht, einen “Amphibienmusiker” zwischen Jazz und Klassik. 1954 zog es ihn nach Paris, wo er mit Bobby Jaspar und Chet Baker spielte. Zurück in Buenos Aires hörte Dizzy Gillespie ihn und lud ihn 1958 ein, Mitglied seiner Band zu werden. Schifrin erzählt einige schöne Anekdoten aus seinen Erlebnissen mit Gillespie, aber auch über Duke Ellington, Oscar Peterson, Sarah Vaughan, Stan Getz, Quincy Jones, Thelonious Monk, Miles Davis und John Coltrane, aber auch über Barbra Streisand und Luciano Pavarotti oder über Filmgrößen wie Orson Welles und Marlon Brando. 1964 schrieb Schifrin eine Jazzmesse für den Flötisten Paul Horn, bald folgten auch sinfonische Werke, die meist mit Jazz durchmischt waren. Seine Biographie wurde Richard Palmer in Form gebracht, aber etwas mehr editorische Arbeit hätte dem ganzen gut getan: Die Geschichten stehen manchmal etwas zusammenhanglos nebeneinander, und auch inhaltlich gibt es Unstimmigkeiten: falsche Schreibweisen (Frankfort), falsche Zuweisungen (Hugues Panassié habe angeblich die umfassendste Biographie Duke Ellingtons geschrieben) lassen das alles dann eben doch ein wenig zu sehr ins Unfaktische, rein Anekdotische abgleiten. Das liest sich leicht, ist aber eben auch mit Vorsicht zu genießen.

(Wolfram Knauer)


 

Jimmy Katz
Joe Lovano – The Cat with the Hat
(herausgegeben von Rainer Placke und Ingo Wulff
)

99 Duoton-Fotografien von Jimmy Katz. Mit Textbeiträgen
von Bruce Lundvall, Michael Cuscuna, John Scofield,
Greg Osby, Hank Jones, Gunther Schuller, Judi Silvano,
Joe Lovano u.a.
Bad Oeynhausen 2008 (Jazzprezzo)
deutsch/englisch, 152 Seiten, Fadenheftung, 22,5 x 27,5 cm
Zusammen mit einer CD “Joe’s Choice”
Preis: 52 Euro

ISBN: 978-3-9810250-6-4

2008lovanoIm Zentrum des diesjährigen „Weihnachtsfotobuches“ des Jazzprezzo-Verlages steht der amerikanische Tenorsaxophonist Joe Lovano fotografiert von Jimmy Katz, der bereits im letzten Jahr mit “Jimmy Katz in New York“ sein großes Debüt als amerikanischer Starfotograf hatte. Eine lange Freundschaft und Seelenverwandtschaft prägen die Beziehung dieser beiden Künstler. “Meine Sessions sind warm, entspannt und spirituell. Jimmy fängt diese Energie ein, dieses warme Gefühl, das auch in der Musik spürbar wird. Jimmy Katz hält die Freude fest, die in der Musik mitklingt.“ Diese gegenseitige Achtung und künstlerische Sensibilität kennzeichnet auch die Haltung von Jimmy Katz. “Als Fotograf veranstalte ich nie eine Fotosession im Studio, sondern halte fest, wie Musik gemacht wird. Mit meiner Arbeit möchte ich dem Betrachter das Gefühl geben, die Entstehung der Musik gemeinsam mir den Musikern zu erleben. Bei Joe Lovano waren dies insbesondere die “einzigartige Energie und Kreativität“, die Jimmy Katz beeindruckt haben.

…über den Mut zum Risiko, …über Lieblingsaufnahmen, …über Einflüsse, …über Unfälle, und über vieles mehr gibt Joe Lovano Auskunft. Diese über das Buch verstreuten, kurzen, unangestrengten Texte, bringen uns Joe Lavano als Künstler und Mensch sehr nahe.

Sessionfotografien, Gruppenaufnahmen, Aufnahmestudios: diese Foto-locations lassen den Betrachter hinter die Kulissen schauen. Sie machen den Part des Musikerlebens sichtbar, den sonst nur Eingeweihte erleben können. Jimmy Katz dokumentiert ganz unprätentiös die Tatsache, dass ein Jazzer eigentlich immer an seiner Musik arbeitet. Die Energie, Konzentriertheit, aber auch das starke Verbundensein der Musiker untereinander schleicht sich in die Szenenfotos von Jimmy Katz wie von selbst. Seine wahre Meisterschaft aber feiert er wie auch schon in seinem letztjährigen Bildband, in den Einzelaufnahmen. Hier zeigt sich seine Fotokunst in zeitlosem klassischem Charakter. Aus der Untersichtsperspektive verleiht er beispielsweise Joe Lovano im Duo mit Gonzalo Rubalcaba seine besondere Aura, als personifizierte Musik, die über den Dingen steht.

Der Jazzprezzo-Verlag ist gerade bei seinen Fotobüchern bekannt für außergewöhnlich gelungenes künstlerisches Design. Auch dieses Mal haben Rainer Placke und Ingo Wulff es wieder einmal geschafft, in kompaktem Format ein großes Fotobuch zu gestalten. Als Bonus gibt es dann auch noch eine CD mit den Lieblingsstücken Joe Lovanos, so dass dem Genuss mit allen Sinnen nichts mehr entgegensteht.

(Doris Schröder)


 

Jazz in Trier
von Karl-Heinz Breidt & Peter Heinbücher: Jazz in Trier,
Trier 2008 (Verlag Michael Weyand)
ISBN: 978-3-93528-61-4
Preis: 29,80 Euro

2008trier“Jazz ist nicht in Trier entstanden” lautet der erste Satz des Buches, das sich dennoch zum Ziel gesetzt hat, die Geschichte in der ältesten Stadt Deutschlands nachzuzeichnen. Es sammelt unterschiedliche Geschichten, wirft Schlaglichter auf verschiedene Szenen, dokumentiert Erinnerungen in Fotos, Schriftstücken und Interviews. Der erste Jazzkeller wurde 1953 im Keller der Schaabs-Villa gegründet und in dem sich der Jazzclub Evergreen traf. 1959 mussten die Jazzfans in andere Räumlichkeiten ausweichen. Andere Spielstätten kamen und gingen, und 1978 gründete sich der Jazz-Club Trier als eingetragener Verein und neuer Motor der Szene. 1999 kam es zum Bruch der Mitglieder des Vereins, und ein weiterer Club mit einem etwas sperrigeren Namen kam hinzu: der “Jazzclub EuroCore im Saar-Lor-Lux-Trier Musik e.V.”, der sich zum Ziel setzte, nicht nur lokale, sondern regionale, und zwar grenzübergreifend-regionale Jazzprojekte zu fördern. Thomas Schmitt war an der Gründung beider Clubs verantwortlich beteiligt. Die Luxemburger Jazzszene wird genauso beleuchtet wie die Jazzaktivitäten in Koblenz. Das Buch stellt Persönlichkeiten vor wie den Klarinettisten Klaus Muggel Weissroth, den Pianisten und Klarinettisten Gangold Brähler, den Posaunisten Michael Trierweiler, den Saxophonisten Joe Schwarz, den Trompeter Ralf Schmitt-Fassbinder, den Saxophonisten Stefan Reinholz, den Trompeter Helmut Becker, den trompeter Alb Hardy, den Pianisten Ben Heit, den Sänger Wolfgang Kernbach, den Bassisten Jürgen Laux oder den Schlagzeuger Benedikt Kündgen. Dieter Manderscheid und Georg Ruby erinnern sich an die 1970er Jahre in ihrer Heimatstadt. Die junge Jazzszene wird genauso beleuchtet wie die Schwierigkeiten, die sich anfangs aus der Existenz zweier Jazzclubs ergaben. Viele Fotos runden den aufwendig gestalteten Band ab. Ob man den kulturpolitischen Ansichten oder den jazzhistorischen Vereinfachungen der beiden Autoren überall folgen mag, die oft fast schon bezugslos ins Buch verstreut sind, bleibt jedem Leser selbst überlassen. Die Interviews und regionalen Geschichten wären allemal spannender als die Einordnung Trierer Jazzhistorie in die Weltgeschichte dieser Musik. Im Vorwort erklären die Breidt und Heinbücher etwas umständlich, wie Interviews die Grundlage für ihr Buch bildeten. Diese allerdings machen dann doch nur einen kleinen Ausschnitt des Textes aus und werden stilistisch eher holprig eingesetzt. Der Lektor hätte dem ganzen vielleicht ein wenig mehr an Lesefluss verleihen können. Ein Namensregister — für solche Bücher eigentlich Pflicht — fehlt aus unerklärlichen Gründen. Die allgemeine “Geschichte des Jazz als Kunstform des 20. Jahrhunderts”, das Kapitel über das “Phänomen Louis Armstrong” oder das seltsame Kapitel “Jazz als kulturelle Herausforderung” — in dem in der Hauptsache Ernst Jünger und Sidney Bechet zitiert werden, aber warum, weiß man nicht so genau –, hätte man sicher durch Trier-bezogenere Kapitel ersetzen können. Und statt einer seltsamen Plattenliste über “30 Jazz Tonträger, die in keiner Sammlung fehlen sollten” und in der Miles Davis und Duke Ellington neben Rod Mason und eher unbekannteren Trierer Musikern stehen, wäre eine Diskographie des Trierer Jazz dem Thema wahrscheinlich angemessener gewesen. So bleibt vor allem ein dokumentarische Wert der in dem Buch enthaltenen Daten, Fotos und sonstigen Dokumente. Immerhin dieses Buch eine weitere Lücke der Regionaldokumentation deutscher Jazzgeschichte. Nach Frankfurt, Hamburg, Köln, München, Wuppertal und etlichen anderen Städten nun also auch Trier: Glückwunsch!

Dass Trier nach wie vor eine lebendige Jazzstadt ist, lässt sich übrigens auch aus der Tatsache ersehen, das die Publikation des Buchs sofort für einigen Wirbel in der Trierer Musikszene sorgte. Dieser oder jener Musiker, diese oder jene Lokalität, diese oder jene Entwicklung seien zu stark, zu wenig oder falsch dargestellt, hieß es da. Fast wirkt das wie die Aufforderung zu einem zweiten Buch…

(Wolfram Knauer)


 

50 Jahre Jazzkeller Krefeld
herausgegeben von Günter Holthoff & Mojo Mendiola
Krefeld 2008 (Leporello Verlag)
ISBN 978-3-936783-29-2
208 Seiten, Preis: 16,80 Euro

2008krefeldLokalgeschichte ist für den Jazz mittlerweile fast genauso wichtig wie Globalgeschichte. Man lebt schließlich im eigenen Viertel und will auch da die Musik hören. Aber mehr noch: Man wird beeinflusst durch das, was um die Ecke geschieht, dadurch, wie die große weite Welt einem ganz nah bei zu Hause begegnet. So war es und so ist es selbst im Zeitalter des Internets nach wie vor. Mittlerweile gibt es viele Stadt-Jazz-Geschichten aus Deutschland, Bücher, in denen die lokalen und regionalen Entwicklungen nachverfolgt und dokumentiert werden.

Krefeld war auf jeden Fall ein gutes Pflaster für den Jazz. Vor 50 Jahren wurde dort der Jazzkeller Krefeld eröffnet, in dem unter wechselnder Leitung durchgängig Jazz erklang. Dieses Buch beleuchtet die Geschichte des Clubs und seiner Pächter und wirft Schlaglichter auf die vielen Musiker, die mindestens einen Abend hier zu Hause waren. Natürlich ist das zu allererst eine Namensschlacht, denn keiner soll vergessen werden, die Stars nicht und die lokalen Größen (oder weniger Großen) genausowenig. Das könnte die umfangreiche, liebevoll gestaltete und reich bebilderte Dokumentation zu einer etwas anstrengenden Lektüre machen. Aber so soll man es wohl auch gar nicht lesen, sondern lieber blättern und sich gefangen nehmen lassen von den sehr unterschiedlichen Eindrücken, die sich einem mitteilen. Eine bunte Jazzgeschichte ist das allemal, die sich in den Bildern und kurzen Texten wiederfindet: von Blueslegenden über TradJazz, Mainstream bis hin zur deutschen und europäischen Avantgarde. Spannend vor allem die vielen zeitgenössischen Konzertberichte, insbesondere von Dita von Szadkowski, die als Faksimile abgedruckt sind und einem auch als Außenstehender die Zeit, die Atmosphäre und auch die Probleme einer meist mit viel ehrenamtlichem Engagement organisierten Jazzszene näher bringen.

Happy Birthday, Jazzkeller Krefeld. Ein halbes Jahrhundert habt Ihr hinter Euch — da geht doch noch was!

(Wolfram Knauer)


Jazz Calendiary 2008
von Patrick Hinely
Mit einem Vorwort von Tad Hershorn; deutsch/englisch
Bad Oeynhausen 2006 (jazzprezzo)
116 Seiten, fester Einband mit Wire-O-Bindung,
17,5 x 23,5 cm, ISBN 978-3-9810250-3-3, 16,80 Euro
In Kooperation mit dem Nieswand Verlag

Hinely_Bezug.inddAuch in diesem Jahr beglückt uns der Jazzprezzo Verlag mit seinem neuen Jazz Calendiary 2008, das schon kultverdächtig ist. Man hat sich an das handliche, dank der Spiralbindung leicht zu blätternde Buch im täglichen Einsatz liebevoll gewöhnt. Auf der linken Seite finden sich wie gehabt Schwarzweiß-Fotos, in diesem Jahr des amerikanischen Fotografen Patrick Hinely, für jede Woche eines, und auf der rechten Seite genügend Platz für Termine, Anmerkungen, Notizen. Dickes Papier haben die Kalendermacher benutzt, angenehm rauh und beschreibbar und zugleich hochwertig glossy und damit fotogerecht. Mit den eindrücklichen Jazzbildern von Patrik Hinely erlebt man die Persönlichkeit der Musiker, sowohl „on stage“, wie beispielsweise eine dynamische Dee Dee Bridgewater beim Berliner Jazzfest oder Charlie Haden , der eins zu werden scheint mit seinem Bass. Aber es sind gerade auch die eher leiseren „Field-Fotos“, wie die eines nachdenklich-träumerischen Klaus Königs oder Lol Coxhill beim Kaffeetrinken in London, die einen mindestens für eine Woche in den Bann ziehen. Patrick Hinely arbeitet seit den 1970er Jahren als selbständiger Fotograf. Seine Bilder erscheinen in Zeitungen, Büchern, LPs und CDs weltweit. Jazz Calendiary 2008 – ein Schmuckstück für den Schreibtisch und nicht nur zum Verschenken.

(Doris Schröder)


 

soeben erschienen:

2009kisslingRolf Kissling
Jazz Calendiary 2009

Kalenderbuch mit
53 Duoton-Fotografien

Mit einem Vorwort von Hans-Jürgen Schaal
deutsch/englisch, 114 Seiten, fester Einband mit Wire-O-Bindung,
17,5 x 23,5 cm, ISBN 978-3-9810250-5-7, 16,80 Euro

Zu beziehen über den Buchhandel oder über www.jazzprezzo.de


 

Ronnie Scott’s Jazz Farrago. Compilation of Features from Jazz at Ronnie Scott’s Magazine
Herausgegeben von Jim Godbolt
London 2008, Hampstead Press
ISBN 978-0-9557628-0-2, Preis: £ 19,95

2008godbolt

Der britische Jazzhistoriker Jim Godbolt ist seit 1979 Herausgeber der Clubzeitschrift des Londoner Ronnie Scott’s Club. Seine eigenen Kolumnen sind kenntnisreich genauso wie skuril-witzig und geizen nicht mit Selbstironie. Ein “Best of” der Anekdoten, Features und Interviews erschien nun in Buchform. “Jazz Farrago” enthält lesenswerte historische Berichte, etwa zum ersten Europabesuch Duke Ellingtons im Jahr 1933, zu Benny Goodmans Londoner Konzerten im Jahr 1949, zum legendären Club Eleven, in dem sich Ende der 1940er Jahre die Anhänger des modernen jazz in London trafen. Alun Morgan beleuchtet genau diese Szene in einem kurzen Beitrag, und Alain Presencer erinnert sich daran, wie er 1953 das legendäre Massey Hall Concert in Toronto besuchte, bei dem Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Bud Powell, Charles Mingus und Max Roach mitwirkten. Interviews mit George Melly, John Dankworth, Spike Milligan, Charlie Watts und anderen geben weitere Einblicke in die britische Jazzszene, und Godbolt druckt außerdem ein legendäres Interview mit Ruby Braff ab, in dem Braff, der eh keine Lust auf ein interview hatte, irgendwann den Spieß umdreht und Godbolt die Fragepistole auf die Brust setzt. Ronnie Scott kommt selbst etliche Male zu Wort, erzählt davon, wie er einmal eine Bigband geleitet habe, von einem Besuch in Hongkong oder wie er einmal den Buckingham-Palast besucht habe. Weitere Profile stellen Zoot Sims, Tubby Hayes, Tony Crombie, Alan Clare und Bruce Turner, Wally Fawkes, Cleo Laine und Humphrey Lyttelton vor. Ein buntes Sammelsurium ist das alles, auch im Layout des Buchs – kurze Notizen genauso wie ein Tratsch aus der Szene und launige Kommentare über Gott und den Jazz. Unterhaltsam, kurzweilig und gespickt mit seltenen Fotos und Karikaturen.

(Wolfram Knauer)


 

Inside British Jazz.
Crossing Borders of Race, Nation and Class

Von Hilary Moore
Aldershot/Hampshire 2007
Ashgate Popular and Folk Music Series
ISBN 978-0-7546-5744-6
157 Seiten, 50 Britische Pfund

2008mooreDie Aufarbeitung der europäischen Jazzgeschichte geschieht immer noch vor allem regional. Ein Buch über die europäische Jazzgeschichte in all ihrer Diversität steht bislang aus. Doch die unterschiedlichen Monographien zu nationalen Jazzentwicklungen sind mittlerweile recht seriös geworden. Es geht nicht mehr bloß um Nennung von Namen und den Abgleich des Spielenkönnens “wie die Amerikaner”. Die Autoren arbeiten mittlerweile die spezifischen Besonderheiten der Jazzentwicklungen heraus, diskutieren Unterschiede und legen das neue Selbstbewusstsein der jungen Jazzmusiker auch an die Jazzgeschichte ihrer Länder an.

“Inside British Jazz” ist ein Beispiel solch einer neuen, selbstbewussten Geschichtsschreibung. Die schottische Musik- und Kulturwissenschaftlerin Hilary Moore untersucht die Querbeziehungen afro-amerikanischer Musik mit der britischen Kultur des 20. Jahrhunderts. Sie fragt nach der sozialen Relevanz dieser Musik, nach Ansatzmöglichkeiten für jedwede Identifikation, nach der Bedeutung von Hautfarbe und Klassenzugehörigkeit für die musikalische Entwicklung der Protagonisten. Moore teilt ihr Buch dabei in vier Schwerpunktkapitel: Sie untersucht (1.) die frühen Jahre des Jazz in Großbritannien, fragt nach Konnotationen wie Umsturz, Befreiung und Krieg (den Folgen des I. Weltkriegs); (2.) die in der Arbeiterbewegung verankerte Trad-Jazz-Bewegung der Nachkriegszeit, die er auf Authentizität und Nostalgie abklopft; (3.) Free-Jazz-Versuche der 1960er Jahre, als Joe Harriott und andere sich in ihrer Art einer freien Improvisation deutlich von den amerikanischen Vorbildern wie beispielsweise Ornette Coleman unterschieden; und (4.) die Musiker des jungen Selbstbewusstseins der 1980er Jahre, insbesondere die Jazz Warriors um Courtney Pine, eine Bewegung junger schwarzer Musiker in Großbritannien mit oft afrikanischen oder karibischen Wurzeln. Moore hinterfragt die Behauptung, Hautfarbe würde heute doch keine Rolle mehr spielen und stellt insbesondere auch für die 1980er Jahre fest, dass Gruppenzugehörigkeit als Identifikationsfaktor nach wie vor sehr wichtig ist.

Moores Buch ist eine wenig veränderte Fassung ihrer Doktorarbeit, die sie 2004 an der University of Pennsylvania abgelegt hatte. Ihr Buch ist also ein Fachbuch, das immer wieder auf den wissenschaftlichen Diskurs verweist, innerhalb dessen auch sie sich bewegt. Moores Buch ergänzt zwei bereits veröffentlichte Studien – von Catherine Parsonage und von George McKay – zur Geschichte des Jazz in Großbritannien. Ihr gelingt es, einige neue Fäden zu spinnen, Verbindungen und Bedingtheiten aufzuzeigen. Und sie nimmt sich wenigstens ansatzweise einer Geschichte des aktuellen schwarzen Jazz in Großbritannien an, ein Thema, das sich zwangsläufig mit Rassismus, Kolonialismus und den sozial- und kulturpolitischen Entscheidungen der letzten Jahre beschäftigt. Eine willkommene Bereicherung der Literatur zum Jazz in Europa!

(Wolfram Knauer)


The Little Giant. The Story of Johnny Griffin
Von Mike Hennessey

London 2008 (Northway Publication)
19,99 Englische Pfund
ISBN: 978-0-9550908-5-1

2008griffin

Wenn er in Amerika geblieben wäre, wäre er schon lange tot, erzählt Johnny Griffin seinem Biographen Mike Hennessey in der neuen Biographie, die um den achtzigsten Geburtstag des Tenorsaxophonisten beim englischen Verlag Northway erschien. Er sei ein bekiffter Zombie gewesen, als er die USA verließ. Griffin lebt seit Mitte der 60er Jahre in Europa, hatte sich zusammen mit seiner Frau 1984 ein altes Schloss zwischen Poitiers und Limoges gekauft. Griffin gehört mit zu jenen amerikanischen Musikern, die Europa nicht nur als einen exzellenten Markt für ihre Musik, sondern auch als angenehmes Pflaster zum Leben entdeckten. Im Dezember 1962 war er zum ersten Mal nach Europa gekommen, auf einer Tour fürs Plattenlabel Riverside. In Paris traf er Bud Powell, und auch anderswo fühlte er sich wohl — er habe sich zum ersten Mal wirklich entspannen können. Die Europäer liebten ihn, und in Paris fand er auch jede Menge anderer Exilamerikaner vor, Musiker wie Kenny Clarke, Kenny Drew, Donald Byrd oder Jimmy Gourley. Er spielte in Schweden, Belgien, England und kehrte im März 1963 in die USA zurück und fragte sich sofort, was er dort eigentlich wolle. So entschied er sich, endgültig nach Europa zu ziehen und bestieg zusammen mit dem Sänger Babs Gonzales im Mai 1963 ein Schiff nach Rotterdam. Bis 1973 lebte er in Paris, dann zog er in die Nähe von Rotterdam, bis er 1984 ins schon erwähnte Chateau Bellevue zog. Mike Hennessey beschreibt das Leben Griffins lebendig und mit vielen Erinnerungseinschüben des Saxophonisten. Der berichtet über seine frühen Einflüsse und seine Jugend in Chicago, wo er an der DuSable High School Musikunterricht bei Captain Walter Henri Dyett erhielt, einem renomierten Lehrer, der auch etliche andere später berühmte Jazzmusiker auf ihren Weg gebracht hatte. Mit 15 arbeitete er mit dem Bluesgitarristen und -sänger T-Bone Walker, zwei Jahre später wurde er Mitglied in Lionel Hamptons Orchester. Er spielte mit Sonny Stitt, mit Gene Ammons und Lester Young, war in den 50er Jahren ein gefragter Saxophonist, gerade weil sein Stil als so antreibend und Kollegen herausfordernd rüberkam, insbesondere wenn er mit dem Eddie ‘Lockjaw’ Davis als “Tough Tenors” in Erscheinung trat. 1957 machte er Aufnahmen mit Art Blakey’s Jazz Messengers und wurde im März darauf Mitglied in der Band des Pianisten Thelonious Monk, den er bereits Ende der 40er Jahre kennengelernt hatte und der ihn für einen langen Gig im New Yorker Club Five Spot engagierte. Hennessey kann bei seinen Exkursen zu vielen Musikern, mit denen Griffin zusammengespielt hatte, zu Monk, Kenny Clarke und vielen anderen, auf eigene Interviews zurückgreifen. Auch Griffin spricht über diese Kollegen, die er bewundert. Und er spricht über Musik, die ihn eher abtörnt, die von Archie Shepp etwa oder von Ornette Coleman und Cecil Taylor. Und er äußert sich freimütig auch über die Tiefpunkte seines Lebens, vor allem über seine Probleme mit Alkohol, zeitweisen Gebrauch von Kokain und Heroin. Wäre er in Amerika geblieben, wäre er schon lange tot, sagt er (siehe oben). Glücklicherweise konnte Johnny Griffin am 24. April seine n 80sten Geburtstag feiern. Und Mike Hennesseys Buch feiert sein Leben. Eine Diskographie der Alben, bei denen Griffin als Bandleader verantwortlich zeichnet, ein Verzeichnis der Kompositionen des Saxophonisten sowie ein Namensregister beschließen das Buch, das weniger eine kritische Würdigung sein will als vielmehr faktische Lebensgeschichte eines Musikers zwischen den Welten.

(Wolfram Knauer)

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Neue Bücher 2009New Books 2009

Swing from a Small Island. The Story of Leslie Thompson
von Leslie Thompson & Jeffrey Green
London 2009 (Northway)
203 Seiten, 19,99 Britische Pfund
ISBN: 978-0-9557888-2-6

2009thompsonLeslie Thompson gehört zu den bedeutendsten britischen Jazzmusikern der 1930er Jahre. 1985 setzte er sich mit dem Musikhistoriker Jeffrey Green zusammen, um seine Lebensgeschichte aufzuzeichnen, die Green später redigierte und in lesbare Form brachte. Die erste Ausgabe der Autobiographie erschien 1985; die Wiederveröffentlichung ist ein willkommenes Dokument zur europäischen Jazzgeschichte.

Thompson kam 1901 in Jamaika zur Welt. Er erzählt über das Leben auf der Insel und seinen Wunsch Musiker zu werden. 1919 schiffte er sich mit einigen Mitmusikern nach England ein, wo er bald darauf Musik studierte. Zurück in Jamaika spielte er Trompete in Tanzkapellen und wurde Leiter einer Kapelle, die Stummfilme im Kino begleitete. Als der Tonfilm aufkam, sah er seine Arbeitsmöglichkeiten schwinden, kaufte eine Schiffspassage und setzte sich 1929 endgültig nach England ab.

Anfangs ohne Arbeit, traf Thompson nach einer Weile auf Will Garland, einen amerikanischen Konzertveranstalter, der verschiedene afro-amerikanische oder auch afrikanische Show-Acts managte und ihn engagierte. Thompson berichtet vom Alltag eines Unterhaltungsmusikers im London der frühen 1930er Jahre, von rassistischen Vorbehalten und von Überlebensstrategien. Er beschreibt einige der Acts, die er begleitete, aber auch die Szene der Theaterorchester, in der er bald einen Platz einnahm, so etwa in Noel Cowards Show “Words and Music” von 1932.

Im selben Jahr hörte er Louis Armstrong während dessen Londoner Konzerten, und als Armstrong im nächsten Jahr allein zu einem längeren Europaaufenthalt zurückkam, wurde Thompson Teil seiner europäischen Begleitband. Später spielte der Trompeter mit Ken Johnsons Jamaican Emperors of Jazz und andere schwarzen britischen Bands. 1942 wurde Thompson eingezogen, schnell aber zur Leitung einer Armeekappelle abgestellt. Nach dem Krieg schrieb er sich in der Guildham School of Music ein, entschied sich dann 1954, das Musikgeschäft ganz zu verlassen. In einer weiteren Karriere arbeitete er bis 1971 als Bewährungshelfer und danach noch fünf Jahre als Gefängniswärter.

Thompsons Autobiographie ist jazzhistorische Zeitgeschichte, ein wichtiges und wenig dokumentiertes Kapitel des europäischen Jazz, im Stil sehr persönlich gehalten und von Jeffrey Green in einen flüssig zu lesenden Text redigiert. Ein Anmerkungsapparat erklärt historische Sachverhalte; ein weiterer Anhang Aussagen von Zeitgenossen über Thompson. Ein Namensindex schließt das Buch ab, in dem außerdem etliche seltene Fotos abgedruckt sind.

Wolfram Knauer (Dezember 2013)


 

When Swing Was the Thing. Personality Profiles of the Big Band Era
von John R. Tumpak
Milwaukee 2009 (Marquette University Press)
264 Seiten, 35 US-Dollar
ISBN: 978-0-87462-024-5

2009tumpakAls in Kalifornien ansässiger Jazzjournalist beschäftigt sich John Tumpak sich seit langem mit der Bigband-Ära, den Jahren zwischen  1935 und 1946, als der Jazz die populäre Musik Amerikas war. Sein Buch “When Swing Was the Thing” enthält Profilen über und Interviews mit vierzehn Bandleadern, fünfzehn Sidemen, elf Vokalisten, fünf Arrangeuren und vier sonst mit dem Bandbusiness der Swingära befassten Personen. Tumpaks Auswahl umfasst bedeutende Stars wie Benny Goodman, Glenn Miller, Artie Shaw, Chick Webb, aber auch weniger nachhaltig wirkende Bands wie Horace Heidt, Alvino Rey, Orrin Tucker und andere.

Die Kapitel gehen knappe biographische Abrisse und widmen sich dann vor allem den Zwängen des Bandbusiness der 1930er und frühen 1940er Jahre. Nebenbei stellt Tumpak einige der wichtigen Spielstätten vor, bietet einen Einblick in die Agenturtätigkeit, die notwendig war, um solch große Orchester im ganzen Land zu buchen, benennt Rundfunk und Fernsehen als wichtige PR-Standbeine neben der Schallplatte. Von nachhaltiger Wirkung für den späteren Jazz sind unter den von ihm ausgewählten Bandleadern neben Goodman, Webb und Shaw vor allem John Kirby und Gerald Wilson.

Den für diesen Rezensenten spannendste Teil des Buchs bilden die Porträts ehemaliger Swingband-Sidemen, die in ihren Interviews mit Tumpak oft genug vom Alltag erzählen, aber auch von den Auswirkungen der stilistischen Umbrüche nach dem Bebop. Milt Bernhart, Buddy Childers, John LaPorta und Jake Hanna sind in diesem Teil die vielleicht bekanntesten Namen. Jack Costanzo mag man als Anfang der 1950er Jahre recht präsenten Bongospieler zumindest dem Sound nach kennen, der außerdem etlichen Hollywood-Stars das Bongospiel beibrachte. Rosalind Cron gehörte zu den International Sweethearts of Rhythm, mit denen sie 1945/46 auch durch die US-Armeebasen in Europa tourte. Den Gitarristen Roc Hillman, der mit den Dorsey Brothers spielte, oder den Trompeter Legh Knowles, der bei Glenn Miller seine Karriere begann und später ein erfolgreicher Weinbauer im Napa Valley wurde, wird selbst unter Jazzexperten kaum jemand kennen. Gleiches gilt für den Posaunisten Chico Sesma, der seit den frühen 1940er Jahren auf der Latin-Szene Süd-Kaliforniens aktiv ist, oder den Saxophonisten und Sänger Butch Stone, der in der Van Alexander Band als “der weiße Louos Jordan” bekannt wurde. Unter den von Tumpak vorgestellten Sidemen ist schließlich einer, der es in anderer Funktion zu weltweiter Bekanntheit brachte: Der Saxophonist Alan Greenspan gab seine vielversprechende Musikerlaufbahn auf, um sich der Ökonomie zu widmen und später von 1987 bis 2007 Chef der US-Notenbank zu werden.

Die Bigbandära war reich an Sängerinnen und Sängern, und Tumpak stellt auch diese vor. Bob Eberly wurde vor allem als Vokalist der Dorsey Brothers bekannt; Herb Jeffries sang sowohl mit Earl Hines als auch mit Duke Ellington. Jack Leonard erzählt über seine Zeit bei Tommy Dorsey, wo er durch keinen geringeren als Frank Sinatra ersetzt wurde. Jo Stafford und Kay Starr legten auch nach der Swingära anhaltende Karrieren hin; die Namen Dolores O’Neill oder Bea Wain dagegen muss der durchschnittliche Jazzfan wahrscheinlich eher googeln.

Frank Comstock berichtet über seine Arrangierarbeit für Les Brown, aber auch für die Zusammenarbeit mit Doris Day. Johnny Mandel erzählt, dass er in den 1940er Jahren zusammen mit Miles Davis und anderen in Gil Evans’ Apartment auf der 55sten Straße in Manhattan rumhing. Die drei Arrangeure Fletcher Henderson, Don Redman und Sy Oliver schließlich werden in einem Kapitel zusammengefasst, bevor der letzte Teil des Buchs die Radio-DJs Chuck Cecil und Henry Holloway, den Promoter Tom Sheils und den Kritiker George T. Simon vorstellt.

“When Swing Was the Thing” zeichnet sich dadurch aus, dass der Autor die bekannten Pfade der Swingära zwar nicht außer Acht lässt, seinen Fokus aber insbesondere auf weniger bekannte Persönlichkeiten legt, Musiker, deren Arbeit notwendig war, um die Swingindustrie am Leben zu halten. Tumpak kategorisiert nicht, und auch die Rollenverteilung schwarz-weiß, die politische oder wirtschaftliche Situation, in der sich die Musik in jenen Jahren abspielte, werden von ihm kaum kritisch hinterleuchtet. Man mag die Auswahl an Porträt-Subjekten hinterfragen, bei denen ein deutliches Schwergewicht auf weißen Bands und Musikern liegt; man mag sich wünschen, dass der Autor in seinen Gesprächen tiefer in Details über den musikalischen Alltag eingedrungen wäre. Das aber war nie seine Intention gewesen, wie Tumpak gleich in seinem Vorwort erklärt: Er wollte vor allem den persönlichen Hintergrund der von ihm porträtierten Musiker vorstellen, Charakterstudien erstellen. Das ist ihm auf jeden Fall gelungen, und weit über 100 seltene Fotos runden das Buch ab, das damit einen etwas anderen Einblick in die Swingära erlaubt.

Wolfram Knauer (November 2013)


 

New Orleans Trumpet in Chicago
von Christopher Hillman & Roy Middleton & Clive Wilson
Tavistock/England 2009 (Cygnet Productions)
100 Seiten, 12 Britische Pfund (inclusive Porto innerhalb Europas)
Bestellungen über gooferdust@hotmail.com

2009hillmanDie Jazzforschung hat wissenschaftliche Studien immer genauso gebraucht wie Recherchen von musikalischen Laien, die dieser Musik aber mit Herzblut verbunden waren. Von Jazzfans in ihrer Freizeit erstellte Diskographien entsprechen dabei oft genug dem, was in der klassischen Musik als Werkverzeichnis bezeichnet wird und Musikforschern früher durchaus einen akademischen Grad einbringen konnte. Dies sei vorausgeschickt, denn die Würdigung der nicht-akademischen Beiträge zur Jazzforschung ist nicht zu unterschätzen.

Christopher Hillman ist einer der aktiven Forscher dieses Metiers. Ein Spezialist für frühen New-Orleans-Jazz hat er seit den frühen 1970er Jahren regelmäßig über die Heroen aus New Orleans publiziert, in Magazinen wie Storyville, dem Jazz Journal, Footnote und anderen Publikationen, die nicht so sehr journalistische Aspekte als vielmehr eine ernsthafte Recherche in den Vordergrund stellten.

Im vorliegenden Band finden sich Recherchen, die Hillman, Roy Middleton und Clive Wilson zu fünf Trompetern machten, die aus New Orleans stammte, die durch ihre Karriere aber bald nach Chicago verschlagen wurden. Jedes der Kapitel beginnt mit einer biographischen Würdigung und einem kurzen Abriss über die Tätigkeit des betreffenden Musikers im Chicago der 1930er (bis 1950er) Jahre. Die herausgestellten Künstler sind die Trompeter Lee Collins, Punch Miller, Herb Morand und Guy Kelly, die in der Chicagoer Jazzszene der 1930er Jahre besonders aktiv waren sowie der Schlagzeuger Snags Jones, der viel mit Punch Miller arbeitete, mit Lee Collins befreundet war und ein wenig im Schatten seines bekannteren Kollegen Baby Dodds stand.

Das Buch genauso wie andere Publikationen in dieser Reihe ist sicher vor allem für Sammler interessant. Die Verbindung der biographischen Darstellung und Diskographie ist allemal eine sinnvolle Kombination, die eine historische Einordnung der verzeichneten Aufnahmen erlaubt. Die Autoren runden das alles mit zum Teil seltenen Fotos der Bands sowie der Plattenlabels ab. Als Dreingabe gibt es eine CD mit seltenen Aufnahmen von Lee Collins aus den frühen 1950er Jahren sowie mit Punch Miller und Snags Jones aus dem Jahr 1941.

Wolfram Knauer (September 2013)


 

100+1 Saxen. De collectie van Leo van Oostrom
von Leo van Oostrom
Amsterdam 2009 (Edition Sax)
160 Seiten, 30 Euro
ISBN: 978-09-90-24403-7

2009oostromLeo van Oostrom ist als Saxophonist Mitglied des Metropole Orckestra, leitet außerdem das Dutch Saxophone Quartet und sammelt Instrumente. 101 Sammlerstücke aus seinem Fundus stellt er nun in einem exklusiven Fotoband vor.

Nach einleitenden Kapiteln zu den verschiedenen Herstellern,  Adolphe Sax selbst etwa, Adolphe Edouard Sax, Henri Selmer,  oder Ferdinant August Buescher finden sich Instrumente aller Tonlagen und Größen, mit instrumentenspezifischen Angaben zum Baujahr, zur Größe, zum Tonumfang.

Am exotischsten sind die Abbildungen seltener Saxophonvarianten wie des Couenophons oder des Saxettes des Playasax oder des Mellosax, des Swanee-Sax, des Oktavins und einiger Nicht-Saxophon-Varianten, des Tarogato etwa, des JeTeL-Sax. Zu einigen dieser Sonderfabrikate erhält man nüchterne Informationen in Van Oostroms dreisprachigem Text (Niederländisch, Englisch, Französisch), zu vielen der Instrumente wünschte man sich darüber hinaus, sie einmal in Aktion zu hören.

Van Ostroms Buch ist sicher vor allem ein Geschenk für Saxophon-Narren; die exzellenten, gestochen scharfen Abbildungen haben darüber hinaus einen enormen ästhetischen Reiz.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

Jazz Notes. Interviews across the Generations
von Sanford Josephson
Santa Barbara/CA 2009 (Praeger)
209 Seiten, 34,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-313-35700-8

2009josephsonSanford Josephson portraitiert in seinem Buch 22 Musiker, die er in biographischen Artikeln, oft mit Exzerpten selbst geführter Interviews vorstellt, um dann mit Kollegen zu sprechen, die mit diesen Musikern gespielt hatten oder stark von ihnen beeinflusst wurden. Sein Buch “Jazz Notes” ist damit eine atmosphärehaltige Lektüre, die einem die Künstler vor allem als hart arbeitende Menschen näher bringt, versucht, ihrer Musik ihren Charakter zuzugesellen. Das gelingt zumeist gut, zumal sämtliche Personen, die in Josephsons Buch eine Hauptrolle spielen, ein eigenes Buch verdienten – sofern es nicht schon geschrieben wurde.

Die dramatis personae seiner “Jazz-Notizen” heißen: Hoagy Carmichael, Fats Waller, Joe Venuti, Count Basie, Jonah Jones, Art Tatum, Earle Warren, Howard McGhee, Milt Hinton, Helen Humes, Dizzy Gillespie, George Shearing, Dave Brubeck, Norris Turney, Jon Hendricks, Arvell Shaw, Gerry Mulligan, Dick Hyman, Maynard Ferguson, Stanley Cowell, David Sanborn und Billy Taylor. Josephsons Beobachtungen über ihre Persönlichkeit sind journalistisch und einfühlsam, seine Gespräche mit Zeitzeugen aufschlussreich, etwa, wenn Jeanie Bryson über ihren Vater Dizzy Gillespie berichtet, wenn Butch Miles über seine Zeit bei Basie erzählt, Barbara Carroll oder Marian McPartland über den Einfluss Art Tatums und so weiter und so fort.

Ab und zu kommen dabei über die bereits bekannten Eigenschaften der so Gefeierten auch eher wenig bekannte Geschichten zutage. Neu geschrieben werden muss die Jazzgeschichte deshalb sicher nicht, dafür geht Josephson denn auch nicht tief genug in seine Materie. Sein Buch bietet auf jeden Fall eine flotte und anekdotenreiche Lektüre, die man am besten bei swingender Musik genießt.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

Jazz Diplomacy. Promoting America in the Cold War Era
von Lisa E. Davenport
Jackson/MS 2009 (University Press of Mississippi)
219 Seiten, 50,00 US-Dollar
ISBN: 978-1-60473-268-9

2009davenportIn den 1950er Jahren wurde der Jazz politisch. Nein, natürlich war Jazz bereits zuvor eine politische Musik, nicht nur in den Werken Duke Ellingtons, die sich schwarzer Musik- und Sozialgeschichte annahmen. Aber in den 1950er Jahren entdeckte die amerikanische Politik den Jazz als politisches Instrument im Rahmen des Kalten Kriegs. Musiker wie Louis Armstrong, Duke Ellington, Benny Goodman und Dizzy Gillespie sollten der Welt ein Amerika der Demokratie und Freiheit präsentieren, sollten für eine weltoffene, tolerante Gesellschaft werben.

Lisa E. Davenport untersucht in ihrem aus ihrer Dissertation entstandenen Buch die Intentionen hinter der Entscheidung, Jazz als Instrument der amerikanischen Außenpolitik einzusetzen, aber auch die Probleme der Umsetzung. Zugleich fragt sie nach der Schere zwischen Außenwirkung und insbesondere dem immer noch währenden Rassismus in den Vereinigten Staaten. Davenport recherchierte für ihr Buch in Archiven, schaute sich Pläne, Protokolle, Regierungsentscheidungen in Bezug auf Jazzprojekte an, beleuchtet die Erfahrungen insbesondere schwarzer Musiker im Ausland und die tatsächliche Wahrnehmung ihrer Konzerte und Tourneen in Ländern hinter dem Eisernen Vorhang. Ihr Blick auf die ausländischen Aktivitäten richtet sich dabei aber auch immer wieder auch auf die Reaktionen im eigenen Land, auf politische, ideologische und gesellschaftliche Veränderungen, an denen die Außenwahrnehmung der USA durchaus beteiligt war.

Der Jazz wird von den USA immer noch als Mittel der Außenpolitik benutzt. Lisa Davenports Buch erklärt die Genese dieser politischen Qualität des Jazz und die alles andere als eindimensionalen Resultate dieser Jazz-Diplomatie.

Wolfram Knauer (November 2012)


 

“Ja, der Kurfürstendamm kann erzählen.” Unterhaltungsmusik in Berlin in Zeiten des Kalten Krieges
von Martin Lücke
Berlin 2009 (B&S Siebenhaar Verlag)
192 Seiten, 24,80 Euro
ISBN: 978-3-936962-46-8

2009lueckeBerlin war eines der wichtigsten Zentren europäischer Unterhaltungskultur in den 1920er Jahren, wie man etwa aus Klaus Manns autobiographischem Roman “Der Wendepunkt” erfährt. Martin Lückes Sachbuch zitiert andere Quellen, um die Unterhaltungsmusik der Kaiserzeit, der Weimarer Republik und des Dritten Reichs zu beschreiben. Das alles ist allerdings nur die Vorgeschichte zu Lückes eigentlichem Thema, das dann tatsächlich mit der “Stunde Null” anfängt  und fragt, wie sich im kriegszerstörten Berlin eine neue Musikszene aufbauen konnte, welche Rolle die Unterhaltungsmusik bei der Bewältigung von Krieg und Naziherrschaft spielte. Lücke schildert die ersten Konzerte im Nachkriegsberlin, schaut auf behördliche Regeln und die Arbeitssituation der Musiker. Er betrachtet die Geburt der GEMA und die Programmpolitik der öffentlichen Rundfunksender (RIAS, AFN). Das RBT-Orchester und der Schlagersänger Bully Buhlan erhalten ausführliche Würdigungen. Die wiederauflebende Kabarettszene um Günter Neumanns Insulaner erhält ein eigenes Kapitel, in dem auch Rex Stewarts Besuch beim Hot Club Berlin erwähnt wird. Einer der Hauptprotagonisten seines Buchs aber ist Hans Carste, der bereits in den 1930er Jahren erfolgreiche Filmmusiken geschrieben hatte und nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft 1948 wieder in Berlin von sich Reden machte. Carste dient Lücke als Musterbeispiel für eine Musik zwischen Schlager, Filmmusik und Bigbandjazz, dessen Erinnerungen und Dokumente die folgenden Seiten (und übrigens auch eine dem Buch beiheftenden CD) füllen. Carste wurde 1949 Abteilungsleiter Leichte Musik beim RIAS, der zwischen 1949 und 1961, als Berlin Zentrum des Kalten Kriegs war, zu einem der wichtigsten Propagandainstrumente in der Konkurrenz zwischen West und Ost wurde. Clubs wie die Badewanne und Hallen wie der Sportpalast erwähnt Lücke am Rande ebenfalls. Sein letztes Kapitel ist “Nach dem Mauerbau” überschrieben, befasst sich aber nur kurz mit den auseinander divergierenden Szenen. Lücke begleitet Hans Carste noch bis zu seinem Tod im Mai 1971, aber da ist der Berliner Kalte Krieg, von dem er erzählen will, bereits weitgehend vorbei.

Kurz zusammengefasst erkennt man in Martin Lückes Buch also eigentlich zwei Themen. Das Anfangsthema ist tatsächlich das der Berliner Unterhaltungsmusikszene der Jahre 1945-1961. Daneben aber schiebt sich etwa ab der Hälfte des Textes das zweite Thema immer mehr in den Mittelpunkt des Buchs, nämlich Leben und Wirken Hans Carstes. Da verliert man dann als Leser schon mal den Roten Faden, weiß zwar, dass die Wahl Carstes durchaus ein geschickter Schachzug ist, um die historischen Fakten mit konkreten Inhalten zu füllen, vermisst aber gerade hier die allgemeinen Einordnungen, die Lücke in seinem ersten Teil so gut gelingen.  Mit diesen Einschränkungen, die eher editorische sind – man hätte den Text auch im selben Buch deutlicher aufsplitten und den Leser damit eben nicht den roten Faden verlieren lassen können – bietet Lückes Buch eine hervorragende Dokumentation einer Szene, die eben nie “nur” eine Jazzszene war, sondern in Funktion und Selbstverständnis weit populärer angelegt als reine Jazzmusiker das hätten wahrhaben wollen.

Wolfram Knauer (Juli 2012)


 

1959. the Year Everything Changed
von Fred Kaplan
Hoboken, New Jersey 2009 (John Wiley & Sons, Inc.)
322 Seiten, 27,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-470-38781-8

2009kaplanEs ist gefährlich, zu viel Last auf einzelne Ereignisse zu legen, und nicht minder gefährlich scheint es, Schicksalsjahre auszurufen, auch wenn dies im Nachhinein geschieht. Gut, 1968 prägte tatsächlich nicht nur eine Generation, sondern steht, länderübergreifend für einen Wandel des sozialen und gesellschaftlichen Bewusstseins. Aber 1959? Fred Kaplan betrachtet in seinem Buch dieses Jahr als ein nicht minder schicksalsschweres Jahr. Er versammelt Fidel Castro, Malcolm X, Miles Davis, Ornette Coleman, Kalter Krieg, Independent Filme, Computer-Revolution, Mikrochips, Wettrennen im Weltall und vieles mehr in einem unterhaltsamen Buch, das einen tatsächlich in jenes Jahr verpflanzt und in der Vielseitigkeit der Darstellung durchaus Querverweise impliziert.

Aus der Jazzseite sind etwa die Kapitel über Norman Mailer, Allan Ginsberg und Lenny Bruce interessant, vor allem aber die Kapitel “The Assault on the Chord”, das sich mit den harmonischen Experimenten George Russells und ihrer Umsetzung etwa durch Miles Davis befasst; “The Shape of Jazz to Come”, das Ornette Colemans neue Ästhetik beleuchtet; sowie “The New Language of Diplomacy”, das die Tourneen amerikanischer Jazzmusiker im Dienste des State Department beleuchtet.

Das alles ist kurzweilig dargestellt und unterhaltsam zu lesen. In der Nebeneinanderstellung ganz disparater Ereignisse öffnen sich durchaus interessante Querverbindungen, doch auch nach der Lektüre kommt 1959 weder an 1968 noch an andere Welt-Schicksalsjahre (1918, 1945, 1989) heran.

Lesenswert…

Wolfram Knauer (Mai 2012)


 

Roads of Jazz
Von Peter Bölke & Rolf Enoch
Hamburg 2009 (Edel Books)
156 Seiten, 6 CDs im Buchdeckel, 39,95 Euro
ISBN: 978-3940004-31-4

2009boelkeDas dicke Buch im Hardcovereinband und mit den vielen Fotos ist in Wahrheit – aber das merkt man erst, wenn man mitten drin ist im Schmökern – ein überdimensioniertes Begleitheft zu den sechs CDs, die in seinen Buchdeckeln heften. “Roads to Jazz” heißt es, und Autor Peter Bölke sowie Musikredakteur Rolf Enoch haben die Titel der CDs nach den wichtigsten Städten der Jazzgeschichte sortiert: New Orleans, Chicago, Kansas City, New York und Los Angeles. Die CDs wiederum sind chronologisch und stilistisch geordnet und heißen “Classic Jazz”, “New York Swing”, “New York Be-Bop”, “New York Modern Jazz”, “Cool & Westcoast Jazz” sowie “Jazz in Europe”. Alle Texte sind zweisprachig auf Deutsch und Englisch; im Anhang des Buchs befindet sich eine ausführliche Diskographie der Aufnahmen mit kompletten Besetzungsangaben und Daten.

Über die Auswahl solcher Sampler kann man natürlich trefflich streiten – für Bölke und Enoch hört der amerikanische Jazz mit dem frühen Coltrane auf; die CD “Jazz in Europe” dagegen stellt gerade mal fünf  Tracks von europäischen Musikern vor – alles andere sind Aufnahmen US-amerikanischer Jazzer, die in London, Paris oder Berlin eingespielt wurden.

Das Buch selbst besticht durch von Sven Grot wunderbar gestaltete Seiten mit knappen Texten zu den Musikern, die auf den CDs spielen und zu den Umständen, die sich mit der betreffenden historischen Situation verbindet. Allgemeinen Absätze zum Bebop oder zum Hardbop, zu V-Discs oder zu den Städten, in denen die Musik spielte und ausgesuchten Spielorten wie dem Cotton Club oder dem Birdland stehen kurze biographische Absätze gegenüber, in denen Bölke auf kürzestem Raum eine angemessene Würdigung der Künstler versucht. Das gelingt mal besser, lässt manchmal zu wünschen übrig, ist aber alles in allem eine kurzweilige Geschichte. Und als Text Book für Studenten ist dieses Buch eh nicht gedacht, sondern eher – siehe oben – als eine Art überdimensioniertes Begleitheft zu den CDs. Und da blättert man gern, zumal der Verlag wirklich schöne Fotos ausgewählt hat, Portraits der Musiker, aber auch Stadtlandschaften, Albumcovers, Plattenlabels etc.

Und natürlich ist das Buch wie alle Bücher in der Reihe “ear books” des Verlags Edel dazu gedacht, beim Hören der CDs durchblättert zu werden. Die kurzen Absätze hindern da nicht, sondern lassen im Gegenteil die wunderbare Musik auf den CDs im Mittelpunkt stehen.

“Roads of Jazz” ist ein ideales Geschenk selbst für Jazzfans, die schon einiges besitzen. Die werden die meisten der Titel zwar bereits in ihrer Sammlung haben und dennoch – gleich dem Rezensenten – neu hinhören, wenn die Mischung der Sampler-CDs und der Blick auf die Fotos die Neugier fokussiert.

Wolfram Knauer (Januar 2012)


 

The Ashgate Research Companion to Popular Musicology
herausgegeben von Derek B. Scott
Furnham, Surrey 2009 (Ashgate)
557 Seiten, 75 Britische Pfund
ISBN: 978-1-4094-2321-8

2009scottEine ernsthafte Jazzforschung gibt es bereits seit den 1950er Jahren; in den 1970er Jahren begann auch die Rock- und Popmusik Eingang in den musikwissenschaftlichen Kanon zu finden. Das alles aber war eine langsame Entwicklung, und auch heute beschäftigt sich der “gemeine” Musikologe eher noch Bach, Brahms oder Schönberg als mit Ellington, Zappa oder Madonna. Dennoch: Die Zeiten haben sich geändert, und auch wenn eine Theorie der populären Musikwissenschaft (wenn man den Buchtitel “popular musicology” so übersetzen will) bislang nicht gibt, so gibt es doch genügend Beispiele, welche wissenschaftliche Ansätze unterschiedliche Musikgenres gerecht zu werden vermögen. Wer vom Ashgate Research Companion ein Musterbuch für die Herangehensweise an populäre Musik erwartet, wird allerdings enttäuscht werden. Das Buch ist weit weniger generell als der Titel es erwarten lässt. Es enthält in erster Linie Case Studies, Aufsätze, die populäre Musik von unterschiedlichen Seiten angehen, so aber genauso in einer der Fachzeitschriften zur populären Musikforschung stehen könnten (etwa im Popular Music Research). Vor allem zwei Forschungsbereiche seien im Feld der populären Musikwissenschaft besonders virulent, erklärt der Herausgeber Derek B. Scott in seinem Vorwort: zum einen die Frage nach Identität, Ethnizität, Raum und Ort, zum anderen der Bereich Alben, Künstler, spezifische musikalische Genres. Als nächstes werde gern und oft nach Gender und Sexualität gefragt, aber auch nach Filmmusik, technologischen Entwicklungen, dem Thema Performance und dem Musikgeschäft. Schließlich gäbe es auch noch den Bereich der Popmusikpädagogik. Entsprechend gliedert Scott das Buch nach Überthemen: “Film, Video and Multimedia”, “Technology and Studio Production”, “Gender and Sexuality”, “Identity and Ethnicity”, “Performance and Gesture”, “Reception and Scenes” sowie “The Music Industry and Globalization”. Der Jazz spielt übrigens wahrscheinlich ganz zu Recht kaum eine Rolle in den Beiträgen des Buchs. Seine analytischen Modelle sind denn doch andere als die der Popmusik; seine Theorie wäre immer noch ein eigenes Buch wert. Was Scott dabei allerdings gelingt in diesem schwergewichtigen Opus, ist sehr unterschiedliche Approaches zu versammeln und so Studenten wie Forscher mit der Diversität nicht nur der populären Musik, sondern auch ihrer fachlichen Erforschung zu konfrontieren.

Wolfram Knauer (Dezember 2011)


 

Jazzkritik in Österreich. Chronik / Dokumentationen / Stellungnahmen
von Wolfgang Lamprecht
Wien 2009 (Löcker)
253 Seiten, 22 Euro
ISBN: 978-3-85409-528-6

2009lamprechtEs gehört quasi zum guten Ton (den wir durchaus auch im Jazzinstitut pflegen), gleichzeitig die Qualität der aktuellen Entwicklungen im Jazz hoch zu loben und über den Zustand der Jazzkritik zu klagen. Sowohl in Fachzeitschriften wie in Tageszeitungen sei die Jazzkritik immer mehr zu “Fanprosa” verkommen, zitiert Wolfgang Lamprecht in seiner Studie Peter Niklas Wilson und zeichnet daraufhin in seinem Buch in einem überschaubaren geographischen Bereich, nämlich Österreich, die Entwicklung ebendieser Jazzkritik nach.

Er beginnt mit der Frage danach, welche Beweggründe Kritiker eigentlich für ihren Beruf haben und welches Bewusstsein sie für ihr Publikum, also ihre Leser besitzen. Er benennt (und zwar tatsächlich mit Namen) die Verfilzung, die es auch im Jazzbereich zwischen Kritikern und Produzenten von Musik gibt, und gelangt dabei zu zehn Regeln, die einer jeden ernsthaften Jazzkritik zugrunde liegen sollten.

Im weit umfangreicheren historischen Teil des Buchs betrachtet Lamprecht dann, wie der Jazz seit der Zeit des Ragtime in der österreichischen Presse betrachtet, verstanden oder missverstanden wurde. Er unterhält sich ausführlich mit Günther Schifter, dem vor drei Jahren verstorbenen Schellacksammler und Zeitzeugen österreichischer Jazzgeschichte, sowie mit dem Musiker Ludwig Babinsky und belegt mit beiden Interviews eine seltsam unpolitische Haltung des Jazz vor dem Krieg. Dann geht er im Gallopp durch die Nachkriegszeit, beschreibt die Reibungen zwischen Traditionalisten, Modernisten und einer jungen Szene, die durchaus eine neue Art der künstlerischen Professionalität mit sich brachte. Ein schneller Überblick über die Entwicklung der Jazzkritik im 20sten Jahrhundert mündet in Fallbeispielen: Josephine Baker in den 1920er Jahren, die Verdammung des Jazz bereits Anfang der 30er, die Haltung des österreichischen Rundfunks zum Jazz in den 1930er Jahren. Lamprecht schaut dabei oft auf Vorurteile mehr als auf kritische Reflexionen in der Nachkriegszeit und macht es sich dabei doch etwas leicht: Über lange Strecken ließt sich sein Buch jetzt wie eine amüsante Sammlung von Stilblüten, über die man, aufgeklärter Bürger des 21sten Jahrhunderts, nur milde schmunzelnd den Kopf schütteln kann.

Man lernt über die Ursprünge des ersten österreichischen Jazzmagazines “Jazzlive”, weiß die Verdienste der jazzhistorischen Publikationen von Klaus Schulz gewürdigt und ist etwas abrupt im Jahr 2009, als das letzte voll und ganz dem Jazz gewidmete Magazin Jazzzeit als Folge der Wirtschaftskrise und zurückgehender Anzeigenkunden eingestellt werden musste.

Gerade zum Schluss scheint bei Lamprecht die Frustration durch, die sich bei ihm in seiner Betrachtung einer halt doch reichlich unprofessionellen Jazzpresselandschaft in Österreich offenbar einstellte. Dieser Frust macht Teile des Buchs durchaus zu einer amüsanten Lektüre, gerade dort, wo de Autor mit seiner eigenen Meinung nicht hinterm Berg hält. Er polemisiert gern und hat keine Probleme damit, inner-österreichische Streits zu benennen. Leider bleiben diese für den uneingeweihten Leser allerdings ein wenig undurchschaubar, auch deshalb, weil Lamprecht gern Position bezieht und damit keineswegs der objektive Beobachter ist, den man anhand des Titels und des großen Fußnotenapparats vielleicht erwartet.

Was am Ende fehlt ist ein Ausblick, sind die Lehren, die Lamprecht selbst gezogen hat aus dem sehr differenzierten Blick auf fast 100 Jahre Jazzkritik. Im Buchrückentext heißt es: “Die eigentliche Aufgabe von Kritik, eine nachvollziehbare Lesart des Hörens, eine Brücke zum Verständnis zu schaffen, ist damit nie wirklich erfüllt worden.” Die Definition allerdings, was Jazzkritik im 21sten Jahrhundert wirklich leisten kann, was sie leisten sollte, muss sich der Leser dann aber letztlich selber zurechtschneidern aus den vielfachen Anregungen, die Lamprecht gerade mit seinen Negativbeispielen zuhauf gibt.

Eine durchaus gemischt Lektüre also: Ungemein viel Anregendes, eine gehörige Prise Streitlust und doch am Ende ein wenig zu unstrukturiert. Aber vielleicht kann ein Buch über Jazzkritik nur genau das sein: eine Einladung zum Diskurs, nicht aber der Diskurs selbst.

Wolfram Knauer (August 2011)


 

Analyzing Jazz. A Schenkerian Approach
von Steve Larson
Harmonologia. Studies in Music Theory, No. 15
Hillsdale/NY 2009 (Pendragon Press)
204 Seiten, 99 US-Dollar
ISBN: 978-1-576471-86-9

2009larsonDas vorliegende Buch setzt sich mit der Jazzanalyse auseinander, also damit, wie man sich der auf Schallplatte festgehaltenen Aufnahme einer Jazzimprovisation mit dem traditionellen musikwissenschaftlichen Handwerkszeug nähern kann. Steve Larson will dabei zeigen, wie sich das System der Schenkerschen Analyse auf den Jazz anwenden lässt. Heinrich Schenker entwickelte seine Reduktionsanalyse, die vor allem tonale Musik auf die Hierarchie ihrer harmonischen und motivischen Entwicklung reduziert. Die Schenkersche Analyse hat vor allem in der US-amerikanischen Musikwissenschaft viele Anhänger gefunden, während sie in Deutschland selten und für den Jazz hierzulande meines Wissens bislang noch gar nicht verwendet wurde.

Eines der größten Probleme der Anwendung von Schenkers Methodik auf den Jazz ist die Tatsache, dass seine Methode einen Notentext zugrunde legt. Man brauche also, erläutert Larson in seiner Einleitung, möglichst genaue Transkriptionen der besten aufgenommenen Interpretationen. Lead-Sheets oder selbst die meisten der kommerziell veröffentlichten Transkriptionen reichten da nicht aus. Entsprechend macht sich der Autor selbst ans Werk, transkribiert verschiedene Interpretationen des Klassikers “Round Midnight” in der Interpretation von Thelonious Monk, Oscar Peterson und Bill Evans. Ihm ist dabei bewusst, dass jede Transkription in sich bereits eine Art der Analyse ist.

In Kapitel 2 seiner Arbeit hinterfragt er die Anwendbarkeit der Schenkerschen Analyse auf eine improvisierte Musik wie den Jazz und kommt für sich zum Schluss: (1.) dass diese durchaus nützlich sei, obwohl sie ursprünglich im Hinblick auf komponierte Musik entworfen wurde; (2.) dass sich auch von Schenker nicht vorgesehene komplexe Eigenheiten des Jazz in seine Methodik einpassen ließen; und (3.) dass die Ergebnisse komplexer Strukturen, die durch die Schenkersche Analyse darstellbar werden, von den Musikern durchaus intendiert seien. Hier liefert er sich ein paar Schattengefechte, etwa mit Wilhelm Furtwängler, der 1947 über den Jazz urteilte, ihm fehle der Sinn fürs Große, der Zusammenhalt über lange Strecken, im Jazz denke man nur von Moment zu Moment. Larson stellt dem die im Jazz übliche Metapher des “story telling” gegenüber, des Geschichtenerzählens, das von jedem Musiker gefordert werde.

Dann folgen die Hauptkapitel: Formale Analysen, Stimmführungsanalysen, Analysen des motivischen und des harmonischen Rhythmus und mehr in den Interpretationen von Monk, Peterson und Evans. Hardcore-Analysen, deren Resultat vor allem den großen Bogen der Aufnahmen herausarbeiten sollen, die Geschlossenheit von kreativem Einfall und formaler Gestaltung. Mit Bezug auf Evans vergleicht Larson darüber hinaus zwei Aufnahmen von “Round Midnight”, die zum einen im Studio, zum anderem bei einem Livekonzert entstanden sind. Immerhin fast die Hälfte des Buchs nehmen schließlich die Transkriptionen ein, keine Schenkersch-analytischen Zusammenfassungen, sondern ausgeschriebene Notentexte der Aufnahmen

Steve Larson will mit seinem Buch ein Argument für die Anwendbarkeit des Schenkerschen Analyseverfahrens auf den Jazz vorlegen. Bei anderen als den von ihm ausgewählten Titeln, insbesondere bei anderen Besetzungen, wäre die Analyse wahrscheinlich weit schwerer zu bewerkstelligen, so dass seine Quintessenz: Ja, die Schenkersche Analyse eignet sich auch für den Jazz, ein wenig schwach wirkt. Das überzeugendste Argument schließlich liefert er nicht: Zu erklären, warum er ausgerechnet für die von ihm ausgesuchten Stücke die Schenkersche Methode wählte und zugleich zu erklären, dass Analyse immer im Dienste der Erkenntnis stehen sollte, man also zuerst die Frage benötigt, um dann die Methode zu wählen, die zu einer sinnfälligen Antwort führt. Dementsprechend braucht es gewiss keiner allumfassenden Analysemethode für den Jazz – an Soloaufnahmen von Peterson, Monk und Evans kann man völlig anders herangehen als etwa an Ellingtons Orchestereinspielungen, an Soli von Charlie Parker oder die Unit Structures von Cecil Taylor. Es ist letzten Endes die Aufgabe des Analysierenden, dasjenige analytische Handwerkszeug zu wählen, das am ehesten geeignet ist, eine sinnvolle Aussage zu machen.

Wolfram Knauer (April 2011)


 

The Birth of Cool of Miles Davis and His Associates
von Frank Tirro
CMS Sourcebooks in American Music, No. 5
Hillsdale/NY 2009 (Pendragon Press)
196 Seiten, 1 Beilage-CD, 45 US-Dollar
ISBN: 978-1-57647-128-9

2009tirroIn der “Sourcebook in American Music”-Reihe des Pendragon-Verlags erscheint mit einer Monographie über die legendären Capitol-Nonet-Aufnahmen von Miles Davis der zweite Band, der sich mit einer klar umrissenen Besetzung auseinandersetzt und damit quasi ein abgeschlossenes Werk untersucht (der erste solche Band widmete sich den Hot-Five-Aufnahmen Louis Armstrongs.

Jazz-Spezialist Frank Tirro beginnt mit einer generellen Einführung in die Bedeutung der Capitol-Aufnahmen des Trompeters. Im zweiten Kapitel beleuchtet er die grundsätzliche Idee des “Cool” – sowohl als Begriff und Lebenshaltung wie auch als Jazzstil. In Kapitel 3 geht er den Vorläufern dieses Stils auf den Grund, benennt die Spielhaltung etwa im Spiel und in den Kompositionen von Bix Beiderbecke, im Sound von Stan Getz und den Arrangements von Ralph Burns, aber auch in den Kompositionen und Interpretationen Dave Brubecks und insbesondere seines Octets (also einer dem Nonet vergleichbaren Besetzung). Nur kurz erwähnt Tirro die Bedeutung Duke Ellingtons (und Billy Strayhorns) sowie Lennie Tristanos als weitere Ausprägungen (a) kompositorischer Durchformung und (b) eines anderen Ansatzes von Cool Jazz.

Vor allem aber widmet der Autor sich im ersten Teil seines Buchs den Aufnahmen von Claude Thornhill, dessen Orchesterklang Miles angeblich zum Vorbild seines Nonet genommen habe. Er untersucht drei Aufnahmen Thornhills, Bill Bordens Arrangement über “Ev’rything I Love” sowie die beiden Gil-Evans-Arrangements über Charlie Parkers “Thriving On a Riff” und Miles Davis’ “Donna Lee”.

Der Hauptteil des Buchs dann widmet sich den Aufnahmen des Capitol Nonet, die Tirro den Arrangeuren gemäß ordnet. Er beschreibt die Aufnahmesituation (also Rundfunksendungen und Studiosessions) und analysiert dann nacheinander die Arrangements von Gil Evans (“Moon Dreams”; “Boplicity”), Gerry Mulligan (“Jeru”, “Godchild”, Venus de Milo”, “Rocker”), John Lewis (“Move”, “Budo”, “Rouge”), Johnny Carisi (“Israel”) sowie Davis selbst (“Deception”). Seine Analysen erklären den formalen Ablauf, stellen teilweise Seiten der Originalpartituren neben Transkriptionen, beleuchten, wie die Arrangeure zu bestimmten Klangfiguren gelangten und lenken den Leser auch immer wieder auf das “Außergewöhnliche”, das diese Klänge in der Zeit des Bebop ausmachten. So vergleicht er die Arrangement, die Mulligan über “Jeru” sowohl für Thornhill als auch für Davis schrieb, oder verweist er für den Beginn von “Godchild” auf die ungewöhnlichen Klangfiguren im Zusammengehen von Baritonsaxophon und Tuba.

Im Schlusskapitel beleuchtet Tirro den Nachhall der kurzlebigen Studioband, etwa in der Musik von J.J. Johnson und Kai Winding, in diversen Bands von Gerry Mulligan oder in der Musik von Shorty Rogers und anderen West-Coast-Musikern.

Frank Tirros Buch richtet sich vor allem an Studenten, ist aber auch für jeden Davis-Fan, der sich von Transkriptionen und musikalischen Fachbegriffen nicht verschrecken lässt, ein guter “Wieder”-Einstieg in die legendären Aufnahmen des “Birth of the Cool”.

Wolfram Knauer (April 2011)


 

Time and Anthony Braxton
Von Stuart Broomer
Toronto 2009 (The Mercury Press)
176 Seiten, 19,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-55128-144-5

2009braxtonAnthony Braxtons Musik mag, scheint es, die erklärungsbedürftigste Variante des Jazz zu sein, was sich allein darin zeigt, dass Braxton selbst in seinen umfangreichen “Tri-Axium Writings” ausführliche Erläuterungen dazu verfasste, die seine Musik in Zusammenhang stellen mit philosophischen, musikästhetischen und ethischen Gedanken.

Der kanadische Journalist und Musikschriftsteller Stuart Broomer hat sich für sein Buch ein spezifisches Moment in Braxtons Musik herausgegriffen, das er von allen Seiten abklopft, um so der Philosophie und der Musik des Saxophonisten und Komponisten ein Stück näher zu kommen. “Time”, was im Englischen genauso für Zeit wie für Metrik und Rhythmus steht, und in jeder dieser unterschiedlichen Lesarten wiederum ganz verschiedene Bedeutungen besitzt, spiele im Verständnis von Braxtons Musik eine große Rolle (was jedem, der die große Sanduhr kennt, die den Ablauf seiner Sets in Konzerten markiert kennt, wohl bewusst ist). Zwischen diesen unterschiedlichen Lesarten von “Time” schwenkt sich Broomer hin und her. In Bezug auf die Musik sei Zeit, schreibt er etwa im Vorwort, nicht nur die Substanz, aus der diese bestehe, sondern zugleich Teil unserer eigenen Erfahrung, sei Musik damit wichtig für unsere eigene Art, Zeit zu konzeptualisieren. In Bezug auf Braxtons Karriere andererseits verweist er darauf, wie dieser in den 1970er Jahren als die “Zukunft” des Jazz begriffen wurde, wie er dagegen in seiner Arbeit immer wieder auf die Traditionen hingewiesen habe, von Jelly Roll Morton über Lennie Tristano und Charlie Parker bis zu John Coltrane and beyond.

Broomers erstes Kapitel, überschrieben “Groundings and Airings” beginnt in Chicago, der Stadt, in die, wie Braxton es formuliert, sogar Louis Armstrong gehen musste, um dort das Solo zu erfinden. In diesem Kapitel befasst sich Broomer vor allem mit den Jazztraditionen, mit denen sich – bewusst oder unbewusst – jeder Jazzmusiker auseinanderzusetzen hat, der in Chicago und mit dessen Musiktradition groß wird.

Das zweite Kapitel setzt sich mit Braxtons Solo-Performances auseinander, angefangen mit “For Alto”, das er 1970 für Delmark Records aufnahm. Als Braxton sich erstmals auf ein Solokonzert vorbereitet habe, habe er schnell gelernt, dass er die Beherrschung seiner eigenen “Sprache” verbessern müsse, da er sonst Gefahr liefe, dass ihm die Ideen ausgingen. Die Solostücke seien also eine Beweggrung für seine Auseinandersetzung mit komplexen Kompositionsmethoden gewesen. Und die “Sprache”, die er da ausarbeitete, umfasste Verweise auf Tradition genauso wie rein instrumentalspezifische und klangtechnische Details, unterschiedliche Timbres etwa oder die Varianten des lauten Ins-Instrument-Atmens.

Das dritte Kapitel befasst sich mit formbildenden Aspekten in Braxtons Werk, der Verwendung von Marschanklängen in seiner Musik etwa, seiner schon als Kind ausgeprägten Faszination von Paraden und Paradebands. Je mehr Broomer in die Musik eindringt, umso mehr enthüllt er aber auch seine eigene Erklärung als reine Annäherungen an seine Interpretationen komplexer Verstrickungen unterschiedlichster Einflüsse, Erinnerungen und Zeichen.

Kapitel vier ist überschrieben mit “The Quartet and Composition as Autobiography”. Er beschreibt das kompositorische Dilemma Braxtons: “Wie kann man in Klängen die komplexe Erfahrung von Bewusstsein und dem dauernd sich wandelnden Fokus des Bewusstseins, von der Kombination von Subjekten und Bedeutungen und Prozessen ausdrücken?” Zugleich stellt sich hier die Frage nach Komposition und Ausführung: Gerade im Quartett ging Braxton ja mit Kollegen an seine kompositorische Ausführung heran, denen er das, was er meinte, vermitteln wollte. Broomer beschreibt, wie die Titel immer kryptischer wurden, Ziffernfolgen nur noch oder Diagramme, und wie lange Interpretationen oft aus der Zusammenstellung verschiedener “Stücke” bestanden, so dass sich ihre Überschriften oft wie eine mathematische Gleichung lasen.

Kapitel fünf beschäftigt sich mit den Traditionsreminiszenzen in Braxtons Arbeit, den Verweisen auf Jazztradition, die schon in der Repertoireauswahl immer wieder auftauchen. Gershwin, Morton, Parker, Mingus, Joplin, Brubeck – Braxton stellt sich mit diesen Interpretationen immer wieder in die Reihe des Kontinuums, dessen Teil er selber ist, vielleicht auch (aber das ist nur unsere Interpretation), um hier die Kraft der Herkunft tanken zu können, mit der er seinen eigenen Weg weiterzugehen vermag, auch wenn viele Jazzfreunde außer der Improvisation in seinem Weg oft kaum Verweise an die Tradition mehr zu erkennen meinen.

Das sechste Kapitel widmet sich den kombinatorischen Kompositionen und Braxtons Conduction-Versuchen; Kapitel sieben dann den “Ghost Trance Musics”, jenen Stücken, die er nach 1995 für unterschiedliche Ensembles und Instrumentationen schrieb und die jeweils eine kontinuierliche, rhythmisch gleichmäßige, sich nicht wiederholende Melodie besaßen. Dieses Kapitel beinhaltet außerdem ein Interview, das Broomer 2007 mit Braxton führte und in dem er erklärt, wie er auf die Idee der Ghost Trance Musics kam und in welchen Traditionen er sich dabei sieht, der indianischer Musik etwa, Wagners, Sun Ras…

Das letzte Kapitel schließlich beleuchtet die nächste Phase in Braxtons Arbeit, die sogenannte “Diamond Curtain Wall Music”, in der Braxton sich auch ins Feld elektronischer Komposition begibt. Broomer konzentriert sich dabei vor allem auf Braxtons “Sonic Genome”-Projekt, aufgeführt bei der Winterolympiade in Vancouver im Januar 2010. Eine Timeline des Lebens und Schaffens des Saxophonisten, eine Diskographie, Literaturliste und ein ausführliches Register beschließen das Buch.

Stuart Broomers “Time and Anthony Braxton” beleuchtet immer wieder biographische Einflüsse auf Braxtons Musik; trotzdem steht Biographisches hier aber eher im Hintergrund. Broomer will sich mit seiner Fokussierung auf “Time” in allen verschiedenen Verständnisformen der Philosophie und der Entwicklung des kompositorischen Denkens Braxtons nähern. Das ist zum Teil ausgesprochen erhellend, zumal Broomer immer wieder von den doch recht abstrakten philosophischen Erklärungen zurück in die Realität des Musikdenkens und -machens blendet. Nicht nur für Braxton-Fans ist dieses Buch also lesenswert, sondern darüber hinaus für jeden, der sich mit aktuellen Diskursen im Feld zwischen Improvisation und Komposition befasst.

Wolfram Knauer (Februar 2011)


 

The Hearing Eye. Jazz & Blues Influences in African American Visual Art
Herausgegeben von Graham Lock & David Murray
New York 2009 (Oxford University Press)
366 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-534051-8

2009lock2Musik und Kunst, die abstrakteste und die zugänglichste aller Künste, haben sich immer wieder gegenseitig beeinflusst. Beispiele aus der europäischen Musik- und Kunstgeschichte gibt es zuhauf. Die Interdependenzen zwischen Jazz/Blues und afro-amerikanischer Kunst aber wurden nur selten untersucht. Alfred Appel wagte in seinem Buch “Jazz Modernism. From Ellington and Armstrong to Matisse and Joyce” eher einen großen Rundumschlag über die Verbindungen von Jazz und die Kunst der westlichen Welt, und auch das von Howard Becker, Robert R. Faulkner und Barbara Kirshenblatt-Gimblett herausgegebene Buch “Art from Start to Finish. Jazz, Painting, and other Improvisations” oder der von Daniel Soutif kuratierte Ausstellungskatalog “Le Siècle du Jazz. Art, cinema, musique et photographie de Picasso à Basquiat” zeigen die Verbindung zwischen Musik- und Kunstgeschichte eher allgemein und ohne einen konkreten Fokus auf Afro-Amerika.

Die beiden britischen Autoren Graham Lock und David Murray haben sich nun auf die Suche zwischen Jazz, Blues und afro-amerikanischen Künstlern und Kunstgattungen gemacht, die vielleicht nicht ganz so bekannt sind. Das Buch ist quasi der zweite Teil eines größeren Forschungsprojektes, dessen erster Teil unter dem Titel “Thriving on a Riff” veröffentlicht wurde und das, wie die Herausgeber im Vorwort erinnern, den etwas grandiosen Projekttitel trug: “Criss Cross. Confluence and Influence in Twentieth-Century African-American Music, Visual Art, and Literature”.

Dieser Band also ist den bildenden Künsten gewidmet. Er beginnt mit einem Beitrag Paul Olivers zur Visualisierung von Anzeigen für Bluesplatten in den 1920er Jahren. Oliver untersucht die Texte der Anzeigen genauso wie die bildnerische Umsetzung, die Verwendung von Fotos, speziellen Reizworten (“race records” beispielsweise), aber auch die Ikonographie, mit der Zeichnungen den Inhalt der beworbenen Stücke wiedergeben, etwa in der Anzeige für den “First Degree Murder Blues” von Lil Johnson oder für Peetie Wheatstraws “Kidnappers Blues”.

Graham Lock beschreibt die Blues- und Negro-Folk-Songs-Gemälde von Rose Piper, eine Reihe an Bildern, die im Herbst 1947 in der New Yorker RoKo Galery ausgestellt wurden und von Aufnahmen etwa von Bessie Smith, Trixie Smith, Ma Rainey und anderen beeinflusst waren.

Lock interviewt außerdem den Quiltmacher Michael Cummings, dessen Quilts meist afro-amerikanische Themen haben und oft genug auf Jazz und Blues rekurrieren. Sie unterhalten sich vor allem über Cummings’ “African Jazz”-Reihe von zwölf Quilts, die von einem Poster inspiriert waren, das er in New Yorks Greenwich Village fand und das überschrieben war “Africans Playing Jazz, 1954”. Jeder der Quilts sei eine Art Variation des Grundmotivs von drei Musikern, und jeder Quilt erzähle dennoch eine andere Geschichte, ein wenig wie jeder Chorus einer Improvisation eine andere Geschichte erzählt. Einige der Quilts sind abgebildet, das inspirierende Poster aber leider nicht (auch nicht auf Michael Cummings’ Website, auf die im Artikel für den Fall verwiesen wird, dass man die komplette Quiltserie sehen will).

Sara Wood betrachtet die Malerei Norman Lewis’, der etliche Bilder mit konkretem Titelverweis auf den Jazz malte, in Hinblick auf den Einfluss des Bebop. Lock unterhält sich mit dem Collage-Künstler Sam Middleton über den “Maler als improvisierenden Solisten” und über Parallelen zwischen den Künsten. Richard H. King schreibt über Bob Thompson, dessen Bilder immer wieder konkrete musikalische Eindrücke wiederzugeben versuchten. Lock spricht außerdem mit Wadsworth Jarrell über die Künstlergruppe AFRICOBRA (African Commune of Bad Relevant Artists), eine AACM der Bildenden Kunst.

Zu den herausragenden afro-amerikanischen Künstlern, die sich immer wieder mit dem Jazz befassten, zählt Romare Bearden, dem Robert G. O’Meally einen Aufsatz widmet, in dem er Beardens Werk mit den Interpretationen seiner Kunst durch Albert Murray und Ralph Ellison vergleicht und im Diskurs der drei eine Art call-and-response quer durch die Kunstsparten feststellt. Auch Johannes Völz nimmt sich Bearden zum Thema und fragt, ob denn Bearden wirklich den Jazz gemalt habe bzw. wo genau in Beardens Gemälden wohl dieser Jazz zu finden sei. Natürlich sind da die Titel der Bilder, und sie sowie weitere Analogien, die gern in Bezug auf Beardens Werk mit dem Jazz gezogen werden, unterzieht Völz einer kritischen Betrachtung. Er warnt dabei vor der Interpretation wörtlicher Übersetzungen von einem künstlerischen Medium ins andere, weil sie meist zu oberflächlich blieben und die tatsächlich darunter liegenden kulturellen Diskurse über Blackness verschleierten.

Lock spricht mit Joe Overstreet, dessen Arbeit in den letzten Jahren immer stärker mit Licht und Schatten experimentiert, über seine abstrakte Phase und die Gründe der Rückkehr zur Gegenständlichkeit, über kubistische und andere Einflüsse und die Jazztitel und -themen einiger seiner Gemälde. Robert Farris Thompson liest die Kunst von Jean-Michel Basquiat als biographische Annäherung an Jazzgeschichte und die soziale Gegenwart New Yorks. Lock unterhält sich mit Ellen Banks, die postuliert, Musik sei ihr Stillleben, ihre Landschaft, ihr Akt. Banks ist das einzige Beispiel des Buchs eines Künstlers, der (also: die) Musik als einziges Thema ihrer Kunst sieht. Meist zeigen ihre Arbeiten abstrakte Formen, manchmal mit Worten durchsetzt, und ihr Einflüsse ist nicht nur der Jazz, sondern auch die europäische Barock- und klassische Musik.

Der letzte der gewürdigten Künstler ist der Fotograf Roy DeCarava, dessen “the sound i saw. improvisation on a jazz scene” Richard Inks näher begutachtet. Das Spiel mit Licht und Schatten lässt auch DeCaravas Bildern teilweise die Figuren wie Scherenschnitte oder Ikonen einer schwarzen Bildgeschichte erscheinen, etwa im Foto “Dancers” von 1956, das im Buch abgebildet ist. Zugleich versucht Inks, die Bilder aus “the sound i saw” als Narrativ zu lesen und die Geschichte(n) zu enträtseln, die dahinter steckt/en. Im letzten Kapitel schließlich spricht Graham Lock mit dem Saxophonisten Marty Ehrlich über den Maler Oliver Jackson und mit der Saxophonistin Jane Ira Bloom über Jackson Pollock, letzteres damit der einzige Nicht-Afro-Amerikaner der im Buch diskutierten Künstler.

In der Fokussierung auf schwarze amerikanische Künstler erlaubt “The Hearing Eye” einen Blick auf genreüberschreitende Einflüsse afro-amerikanischer Kultur. Dass Lock und Murray bestimmte Aspekte dabei völlig außer Acht lassen – sowohl Bildhauer als auch Installationskünstler, die sich von Blues und Jazz beeinflussen ließen, aber auch das ganze Genre der Graffiti- und HipHop-Szene – schränkt den Blick auf ein … sagen wir … “galerie-kompatibles” Themensegment ein. Die Ansätze der portraitierten Künstler sind dennoch so unterschiedlich wie die Ansätze der Autoren, sich ihrer Kunst und den Einflüssen durch die Musik zu nähern. Das ganze ist reich bebildert und wird ergänzt durch eine eigens eingerichtete Website, auf der noch einige weitere Bilder zu sehen sowie einige Hörbeispiele zu hören sind. Das klingt modern und up-to-date, ergänzt das Buch aber nur marginal – immerhin ist schon hier zu ahnen, wie ein eventueller dritter Band zum Thema des kulturellen Criss Cross aussehen könnte, in dem auf der dazugehörigen Website Videos und sonstige buch-unkompatible Medien geschaltet würden.

Wolfram Knauer (Februar 2011)


 

Digging. The Afro-American Soul of American Classical Music
Von Amiri Baraka
Berkeley 2009 (University of California Press)
411 Seiten, 18,95 US-$
ISBN: 978-0-520-25715-3

2009barakaEs hat eine Weile gedauert, bis ich mich mit diesem Buch anfreunden konnte. Ich war höllisch neugierig auf das neueste Werk von Amiri Baraka, einst LeRoi Jones, dem großen afro-amerikanischen Poeten und Denker, einem Sprecher des New Thing in allen Künsten, damals in den 1960er Jahren, einem wortgewaltigen und zugleich ungemein streitbaren Fürsprecher schwarzer Kultur und nebenbei einem wirklich netten und humorvollen Menschen, wenn man ihn nicht in Bühnenpose oder Kampfesrhetorik vor sich hat.

Ich blätterte also und blieb bei der Plattenbesprechung eines Albums von Peter Brötzmann hängen, ziemlich am Schluss des Buches, dem Baraka unterstellt, sich nur auf marginale Seiten der Free-Jazz-Revolution zu konzentrieren, ihre Explosivität nämlich, ohne dabei ihre tieferen philosophischen und ästhetischen Einbindungen zu berücksichtigen, und so die Kraft und das raue Timbre des Originals zu benutzen, es aber seiner tieferen kompositorischen und improvisatorischen Aussage zu berauben. Was Baraka nicht begreift – obwohl ich annehme, dass er es durchaus begreift, er ist viel zu schlau, um es nicht zu wissen, aber er verfolgt nun mal in seinen Schriften durchaus auch eine politische Agenda – ist, dass Brötzmann und andere Künstler, die nicht der Great Black Music-Ästhetik mit all ihrer Geschichte und Tradition unterworfen sind, die Musik nun mal für sich umdeuten müssen, dass Aneignung zugleich auch Ver-Fremdung bedeutet und das das Maßanlegen der Ästhetik schwarzer Avantgarde an Brötzmann scheitert, wenn man die persönliche Betroffenheit, die individuelle Aneignung des Saxophonisten und seine Entwicklung aus dem Geiste der afro-amerikanischen Musik, aber eben in einer anderen Umgebung, außer acht lässt.

Aber da sind wir schon ganz beim Thema, warum es ein wenig dauerte, bis ich mich mit diesem Buch anfreunden konnte: Zu holzschnittartig und einseitig sind oft genug Barakas Thesen, seine vorausgesetzten ästhetischen Urteile, als dass ich sie auch nur als Diskussionsgrundlage unterschreiben möchte: Wenn wir über die Faktenbasis uneins sind, wie kann man dann diskutieren. Es dauerte also, bis ich seine Statements als solche durchaus auch polemische Aussagen akzeptieren konnte, mich von Kapitel zu Kapitel ein wenig aufregte, dabei dann aber jedes Mal selbst gefordert wurde Stellung zu beziehen – ganz so wie man zu Thilo Sarrazin Stellung beziehen muss, indem man die Fakten genauso wie die Thesen auf den eigenen, ganz persönlichen Prüfstand stellt.

Baraka fordert seine Leser also heraus; das hat er immer getan, in seinen Gedichten genauso wie in seinen Schriften, zu Musik, Theater oder zur Politik. Mit diesem Vorwissen muss man an das Buch herangehen: Es ist kein Schmöker für gemütliche Stunden; es ist keine Sammlung netter Anekdoten (obwohl es die auch gibt): Man begibt sich stattdessen in den Ring mit dem Autoren, in dem seine Linke und seine Rechte immer wieder dazu führen, dass man seine Deckung überprüft, dass man überlegt, ob die eigenen Einschätzungen richtig oder falsch sind, vor allem aber, wie diese eigenen Einschätzungen eigentlich sind und durch was sie beeinflusst wurden.

Persönlich sind etwa Kapitel über Miles Davis, Bill Cosby, besonders das über Nina Simone, David Murray, John Coltrane, Albert Ayler (als Coltrane ihn zum ersten Mal hörte, sei seine Respektbezeugung gewesen ihn zu fragen: “Mann, was für ein Blättchen benutzt du?”), Max Roach, Thelonious Monk, Abbey Lincoln (eines der wenigen Interviews im Buch).

Natürlich wettert Baraka gegen die weiße Besitznahme von Jazzstilen, gegen die mediale Hochstilisierung weißer Musiker zu Kings, Queens und sonstigen Hoheiten des Jazz. Die wenigen weißen Musiker, die bei ihm regelmäßig Erwähnung finden, ohne dass Baraka auch nur adjektivisch über sie herfällt sind etwa Stan Getz, Roswell Rudd oder Bruce Springsteen (letztere erhielten eigene kurze Kapitel im Buch). Bei Wynton Marsalis windet sich Baraka ein wenig. Eigentlich ist ihm dessen Ästhetik viel zu konservativ, aber dann hat Marsalis schließlich (wenn auch auf denkbar andere Art und Weise) Dinge erreicht, für die er, Baraka, in den 1960er Jahren gekämpft hatte. Also lautet sein Diktum: “Es gibt Hoffnung, denn Marsalis, ‘on fire’, kann wirklich sehr, sehr heiß sein.” On Fire!

Ein weiteres Thema, bei dem sich Baraka sichtlich windet, dem er dann aber auch nicht allzu viel Platz einräumt, ist das Thema Rap und aktuelle afro-amerikanische Popmusik: Wo sie politisch ist, schwarze Rots bewusst widerspiegelt, wunderbar; wo das fehlt oder ihm nicht glaubwürdig genug rüberkommt: Daumen runter.

Spannend sind auf jeden Fall seine Erinnerungen an Newark als einen wichtigen kulturellen Spielort knapp außerhalb New Yorks, Lebensmittelpunkt vieler Künstler mit einer eigener Szene, von der aber selten die Rede ist, weil nun mal Manhattan immer die Scheinwerfer auf sich zog. Lesens- und streitenswert auch sein Kapitel über “Jazz and the White Critic – thirty years later”, eine Fortsetzung eines Artikels, den er in den 1960er Jahren in der Zeitschrift Metronome veröffentlicht hatte. In zwei aufeinander folgenden Aufsätzen weist er darauf hin, welchen wichtigen Einfluss Jackie McLean auf die Auflösung formaler und harmonischer Strukturen vom Hardbop hin zum Free Jazz hatte – eine Rolle, die viel zu selten betont wird.

Und und und… immerhin 84 Kapitel umfasst das Buch, kurze Konzert- und Plattenrezensionen zum Teil, aber auch längere Features und Reflektionen. Wie gesagt: Man muss nicht (und wird kaum) mit allem seiner Meinung sein, um durch Baraka Anstöße zum Nachdenken und zum Die-eigene-Meinung-Überprüfen zu finden. Allein deshalb: Lesenswert”

Wolfram Knauer (Januar 2011)


 

Visiting Jazz. Quand les jazzmen américains ouvrent leur porte
von Thierry Pérémarti
Gémenos/France 2009 (Le Mot et le Reste)
376 Seiten, 23 Euro
ISBN 978-2-915378-96-2

2009peremartiThierri Pérémarti hat eine erfolgreiche Kolumne in der französischen Zeitschrift “Jazzman” (seit wenigen Jahren fusioniert mit “Jazz Magazine”), in der er Musiker besucht und ihr Zuhause beschreibt. Die kurzen Essays werfen ein etwas anderes, oft persönlicheres Licht auf die Musiker, auf ihre Hobbies, Autos und geben oft genug kurze Interviewausschnitte wider, die sich bei diesen Besuchen ergeben und die sich mal um Musik, mal aber auch um Alltägliches drehen. Die 78 Interviews reichen von Gato Barbiero bis Joe Zawinul, daneben finden sich Namen wie Ray Ellis, Chico Hamilton, Freddie Hubbard, Michel Petrucciani, Pharoah Sanders, Lalo Schifrin, Diane Schuur und viele andere. Ein kurzweiliges Buch mit jeweils einem persönlichen Foto im Umfeld des Musiker-Zuhauses, das hier leider nur schwarzweiß abgedruckt ist (im Original der Zeitschrift war es meist in Farbe).

Wolfram Knauer (Dezember 2010)


 

Jazz in der Nachkriegszeit. Frankfurt am Main. Die Begegnungen zwischen Amerikanern und Deutschen
Von Anja Gallenkamp
München 2009 (AVM)
75 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-89975-832-0

2009gallenkampDie Rezeption des Jazz in Deutschland ist immer auch eine Rezeption der Amerikaner in Deutschland – so eng waren letzten Endes die amerikanischen Besatzungskräfte mit der Jazzentwicklung hierzulande verbunden. Es hat seinen Grund, warum Frankfurt am Main nach dem Krieg für lange Zeit als (moderne) Jazzhauptstadt der Republik galt: Hier saß das Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte; hier gab es die meisten amerikanischen Soldaten und – eng damit verbunden – auch die meisten Soldatenclubs, in denen die US-amerikanischen Kunden nach der Musik verlangten, die sie von zuhause her gewohnt waren. Anfang der 1950er Jahre war das noch der Jazz, später ließ die Jazzliebe der Soldaten (wie auch ganz allgemein der amerikanischen Bevölkerung) nach; die Kapellen, die in den GI-Clubs aufspielten, mussten bald eine andere Musik spielen. Die Begegnungen zwischen Amerikanern und Deutschen jedenfalls waren ausschlaggebend für eine ganz spezifische Spielweise all jener Musiker, die das Glück hatten, in dieser Region zu arbeiten. Anja Gallenkamp hinterfragt in ihrer Studie die Kontakte zwischen Amerikanern und Deutschen, befragt Zeitzeugen und wertet Zeitschriften der Nachkriegszeit aus. Sie interessiert sich dafür, inwieweit das amerikanische Vorbild einen Dialog überhaupt noch ermöglichte bzw. inwieweit es über lange Jahre die Ausbildung eines eigenen Stils vielleicht eher verhinderte. Die Zeit, die sie dabei vor allem interessiert, sind die Jahre 1945 bis 1951/52, ihre Quellen etwa das von Horst Lippmann herausgegebene Hot Club Journal, die Zeitschrift Jazz Home sowie Interviews mit Joki Freund oder Ulrich Olshausen. Ihre Recherchen stellte Gallenkamp für ihre Magisterarbeit an, was vielleicht den etwas trockenen Stil erklären mag, der das Buch stellenweise zu einer etwas beschwerlichen Lektüre werden lässt. Viel Information hat sie zusammengetragen, wenig Neues entdeckt, Altbekanntes mit Quellenverweisen untermauert. Im ersten Kapitel wimmelt es ein wenig von jazzhistorischen Gemeinplätzen, die in ihrer Vereinfachung eher verwirren als erklären. Die benutzte Literatur ist in diesem Bereich recht begrenzt; insgesamt würde man sich – wenn man sich schon durch ein wissenschaftlich angelegtes Werk kämpft, eine etwas kritischere Herangehensweise an die Quellen wünschen. Noch mehr allerdings wünschte man, dass die Autoren sich weniger auf bekannte Quellen verlassen und dafür vielleicht selbst im einen oder anderen Archiv gestöbert hätte, dem Archiv der Stars and Stripes etwa, der amerikanischen Armeezeitung. Man wünschte sich, dass die Begegnung zwischen Amerikanern und Deutschen als eine wirkliche Begegnung dargestellt würde, nicht nur als eine einseitig bewundernde Verehrung, dass die Autorin also neben den deutschen Beispielen auch amerikanische gebracht hätte, Interviews etwa mit damals in Deutschland stationierten Soldaten und/oder Musikern geführt hätte. Das ist, zugegeben, mit der Zeit immer schwieriger, aber auch solche Zeitzeugen lassen sich noch finden, und diese Aufarbeitung wäre ungemein wichtig. Im letzten Kapitel merkt Gallenkamp immerhin an, was noch zu tun sei in der Erforschung des deutsch-amerikanischen Jazzdialogs. Schade, dass sie die Chance nicht selbst ergriffen hat, neben der durch einige Zeitzeugengespräche aufgelockerten Literaturarbeit in eine tiefere Recherche einzusteigen. So ist die wichtigste Erkenntnis ihres Buchs vielleicht, dass dieser Teil deutscher Jazzgeschichtsschreibung immer noch mehr Aufgaben enthält als Resultate.

Wolfram Knauer (Oktober 2010)


 

Some Liked It Hot. Jazz Women in Film and Television, 1928-1959
Von Kristin A. McGee
Middletown/CT 2009 (Wesleyan University Press)
336 Seiten, 27,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8195-6908-0

2009mcgeeKristin A. McGee verbindet in diesem aus ihrer Dissertation hervorgegangenen Buch gleich zwei Themen: die Stellung der Frau im Jazz und die Repräsentation des Jazz im Film – ihr Thema also ist dementsprechend die Repräsentation der Frau im Jazz, dargestellt in Film und Fernsehen in den Jahren zwischen 1928 und 1959. Sie fragt dabei neben historischen Fakten danach, wie es in beiden Genres – Jazz wie Film – aufgenommen wurde, Frauen als professionelle Akteure zu erleben. Ihr Handwerkszeug dabei zu eruieren, wie Frauen, ob weiß oder schwarz, entgegen dem üblichen Frauenbild in der Gesellschaft ihre (alternative) Identität im Beruf als Jazzmusiker schufen, ist neben der Musikethnologie das der Gender Studies und der allgemeinen Kulturwissenschaften.

McGee beginnt ihr Buch mit einer Diskussion der Feminisierung der Massenkultur und der Mode von Frauenbands in den 1920er Jahren. Natürlich bezieht sich dieses Kapitel noch weit stärker auf die Bühne als auf den Film, aber genau das ist es, was McGee aufzeigen will, wie viele der auch im Film der 30er bis 50er Jahre enthaltenen Klischees sich auf der Varieté-Bühne der 1920er Jahre entwickelt hatten. Sie betrachtet Frauenensembles wie die Ingenues, die schon mal als die “Female Paul Whitemans of Syncopation” angekündigt wurden, oder die Harlem Playgirls, die in den schwarzen Zeitungen der 1930er Jahre gefeiert wurden. Da es in den meisten Teilen des Buchs die Darstellung der Musik im Film geht, macht es Sinn, sich, wo vorhanden, beim Lesen die entsprechenden Videos auf YouTube anzusehen, etwa Ausschnitte von Phil Spitalny and His Musical Queens oder der Bandleaderin Ina Ray Hutton. McGee erklärt, was in den Filmausschnitten zu sehen, aber auch, wie die diversen Bands in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden – als Bands genauso wie in ihrer Weiblichkeit. Sie findet vor allem, dass die Berichte selbst in den 1930er und 1940er Jahren nach wie vor das Ungewöhnliche einer reinen Frauenband stärker in den Vordergrund stellen als die musikalische Stärke der Ensembles. Hutton kommt dabei besonderes Gewicht zu, da ihre Band auch in Musikerkreisen einen exzellenten Ruf besaß.

Der dritte Teil des Buchs beschäftigt sich mit einem neuen Genre des Musikvideos in den 1940er Jahren, in dem schwarze Bands eine größere Rolle spielten. Themenschwerpunkte sind Hazel Scott, Lena Horne und eine neue Form der Erotisierung weiblicher Bands in den Soundies jener Zeit. Frauenbands erfuhren besonders während des Krieges einen Aufschwung, weil ihre männlichen Kollegen eingezogen wurden, eine Tatsache, auf die etwa im Film “When Johnny Comes Marching Home” auch thematisch eingegangen wird. Die International Sweethearts of Rhythm waren wahrscheinlich die bekannteste Frauenkapelle jener Jahre, und ihnen sowie ihrer Darstellung im Film widmet McGee ein eigenes Kapitel.

Im viertel Teil ihres Buches schließlich beleuchtet McGee die 50er Jahre, als Jazz in Musiksoundies immer weniger eine Rolle spielte, das Fernsehen dagegen zu einem allgegenwärtigen Medium wurde. So fragt sie nach Varietéshows im Fernsehen und der Präsenz weiblicher musikalischer Entertainer – Sängerinnen wie Peggy Lee und Lena Horne sowie Bandleaderinnen wie Ina Ray Hutton und Hazel Scott.

McGees Buch fokussiert den Blick des Lesers auf einen sehr speziellen Aspekt der Jazzgeschichte, und sie vermag jede Menge interessanter Backgroundinformationen dazu zu geben. Eine klare Storyline gibt es allerdings nicht in ihrem Buch, dem dann doch eher eine recht allgemein gehaltene Fragestellung zugrunde liegt und das sich stattdessen manchmal in Details verliert, bei denen sie letzten Endes mehr Fragen aufzuwerfen als Antworten zu geben scheint.

Wolfram Knauer (September 2010)


 

Fats Waller
von Igort & Carlos Sampayo
Bologna 2009 (Coconino Press)
152 Seiten, 17,50 Euro
ISBN: 978-8876-18159-7

2009igortIgort und Carlos Sampayo sind in der Comicszene gefeierte Zeichner, deren “Fats Waller”-Buch bereits 2004 veröffentlicht und mittlerweile in etliche Sprachen übersetzt wurde (eine deutsche Ausgabe erschien 2005). Nun liegt uns die italienische Übersetzung des Buchs vor, Grund genug, hineinzusehen und einen Eindruck zu vermitteln. Es ist keine Comic-Biographie, wie man vermuten könnte, sondern ein an der Musik und am großen Fats Waller aufgehängtes Buch über Zeitgeschichte. Wir erleben den Pianisten im Plattenstudio, den Faschismus in Deutschland und Spanien, Liebe, Krieg, Leid und swingende Musik, durcheinandergewirbelt in hinreißenden Zeichnungen der Autoren, die den Jazz als Begleitmusik der schlimmsten Jahre des 20sten Jahrhunderts interpretieren. Das gelingt ihnen glänzend. Zum Schluss finden sich, quasi als Bonus Tracks, einige Skizzen zum Buch, auf zwei Blättern aber auch Hinweise auf die musikalischen Auswirkungen, wenn Fats Waller Thelonious Monk über die Schulter schaut.

Wolfram Knauer (August 2010)


 

Thriving On a Riff. Jazz & Blues Influences in African American Literature and Film
herausgegeben von Graham Lock & David Murray
New York 2009 (Oxford University Press)
296 Seiten, 24,95 US-Dollar (oder 13,99 Britische Pfund)
ISBN: 978-0-19-533709-9

2009lockDer Einfluss zwischen den Künsten ist immer wieder Thema für wissenschaftliche Symposien und Sammelbände, und der Einfluss des Jazz auf Literatur und Film insbesondere wegen der improvisatorischen Grundhaltung des Jazz ein gern behandeltes Thema. Doch machen es sich viele Autoren zu einfach mit den Wechselbeziehungen zwischen den Künsten, suchen nach augenfälligen Parallelen statt nach gemeinsamen künstlerisch-ästhetischen Ansätzen. Ein einfaches Übertragen künstlerischer Ideen oder Ästhetiken von einem Genre aufs andere ist in der Regel eh nicht möglich, und oft genug sind im Nachhinein festgestellte Parallelen oder Wechselbeziehungen theoretisch aufgepfropfte Interpretationsmodelle, nicht immer aber originär gewollt. Graham Lock und David Murray versuchen in dem von ihnen herausgegebenen Buch, eine Menge unterschiedlicher Ansätze einer Betrachtung des Zusammenspiels zwischen Jazz und Literatur, Jazz und Lyrik sowie Jazz und Film zu versammeln. Das Buch, das als Fortsetzung des Buchs “The Hearing Eye” zu lesen ist, hatte seinen Ursprung in einem Forschungsprojekt über wechselseitige Einflüsse zwischen afro-amerikanischer Musik des 20. Jahrhunderts, den visuellen Künsten und der Literatur.

Nick Heffernan macht den Anfang mit einer Analyse der Romane “The Autobiography of an Ex-Colored Man” von James Weldon Johnson (1912) und “Mojo Han. An Orphic Tale” von J.J. Phillips (1916) und untersucht insbesondere, wie in beiden Romanen die Wurzeln schwarzer Musik für die Identität der Protagonisten und für ihr Selbstverständnis als Afro-Amerikaner eine Rolle spielen. Corin Willes wirft einen Blick auf die Blackface Minstrelsy und fragt, wo sich Überreste dieser Gattung im frühen Tonfilm finden lassen. Steven C. Tracy untersucht Folk-Einfüsse (insbesondere aus dem Blues) auf Sterling Browns Gedichte. Graham Lock interviewt den Dichter Michael S. Harper über den Einfluss des Jazz auf seine Arbeit sowie über sein Gedicht “Dear John, Dear Coltrane” von 1970. Bertram D. Ashe untersucht Paul Beattys Roman “White Boy Shuffle Blues” auf die darin vorkommenden Bezüge zu Jazz, afro-amerikanischer Musik und sonstige Volkstraditionen. Graham Lock unterhält sich mit der Dichterin Jayne Cortez über ihren eigenen Bezug zu Musik, Politik und frühe Jazz-und-Lyrik-Projekte mit Horace Tapscott, über Ornette Coleman, mit dem sie kurzzeitig verheiratet war und über Jazzprojekte mit ihrem Sohn Denardo Coleman. Außerdem druckt er ihr Gedicht “A Miles Davis Trumpet” ab, das als von Cortez gelesenes Soundbeispiel auch auf der von der Oxford University Press eigens eingerichtete Website abrufbar ist. David Murray befasst sich mit Musik und Spiritualität in den Schriften von Nathaniel Mackey und Amiri Baraka, diskutiert insbesondere Barakas “Blues People” (1963) und “Black Music” (1967), die, wie er darstellt, auch auf seine Dichtung Einfluss hatten (etwa “Black Dada Nihilismus”).

John Gennari untersucht Ross Russells Charlie-Parker-Biographie “Bird Lives!” auf die wechselvolle Beziehung der beiden, nachdem Russell Parker 1945 für sein Dial-Label aufgenommen hatte. Er fragt nach den Schwierigkeiten, mit denen sich der Autor für sein Parker-Buch herumschlagen musste und vergleicht Russells Biographie schließlich mit seinem Roman “The Sound” und dessen Rezeption durch die Jazzkritik. Krin Gabbard beschäftigt sich mit dem Genre der Jazzautobiographie, vergleicht entsprechende Publikationen von Billie Holiday, Charles Mingus, Art Pepper, Sidney Bechet, Louis Armstrong, Duke Ellington, konzentriert sich dann aber vor allem auf Miles Davis’ “Miles. The Autobiography”. Er fragt nach dem “wahren” Miles Davis hinter den von Stuart Troupe edierten Gesprächen, aus denen das Buch entstanden war, danach, wie Miles gesehen werden wollte und wie die Person hinter dem Bild, das Miles da erschaffen wollte, wirklich aussah.

Mit Bezug zum Film macht sich Ian Brookes Gedanken über Filme wie “To Have and Have Not” oder “Casablanca”, über die narrative Ikonographie der Kriegszeit und die Darstellung schwarzer Menschen und die Funktion der Musik in diesen Filmen. David Butler untersucht die Rolle der Filmmusik, die John Lewis 1959 für “Odds Against Tomorrow” geschrieben hat. Er vergleicht Lewis’ Arbeit mit der Verwendung von Jazz in früheren Filmen und verweist darauf, dass Lewis der Überzeugung war, dass Jazz weit mehr als Nebenbeimusik sein könnte, dass Jazz als Filmmusik das gesamte Spektrum emotionalen Ausdrucks wiedergeben könne. Lewis’ Partitur habe jede Menge an Improvisation mit einbezogen, was bislang in Hollywood überhaupt nicht üblich gewesen sei, schreibt Brookes, und sie vermeide die typischen Jazzklischees. Brookes erzählt die Handlung des Films, diskutiert die Rolle des schwarzen Protagonisten (gespielt von Harry Belafonte) und bedauert, dass Lewis trotz der exzellenten Arbeit für diesen Film nicht die Gelegenheit erhielt, weiter in dem Metier der Filmmusik zu arbeiten. Mervyn Cooke nimmt sich das andere große Beispiel jazziger Filmmusik von 1959 vor: Otto Premingers “Anatomy of a Murder” für das Duke Ellington die Musik schrieb. Er analysiert einzelne Filmsequenzen und die sie begleitende Musik, vergleicht den Einsatz von Musik hier mit Filmen wie “The Man With the Folden Arm”, “Ascenceur pur l’échafaud” (mit seinen kongenialen Miles-Davis-Improvisationen), “Sait-on jamais” (mit Musik von John Lewis), “À bout de souffle” (mit einer Partitur von Martial Solal) und Roman Polanskis “Knife in the Water”, für das Krzysztof Komeda die Filmmusik schrieb.

In einem abschließenden Kapitel reflektiert Michael Jarrett dann über das grundsätzliche Missverständnis, Einfluss sei grundsätzlich ein bewusster Vorgang. Dann nimmt sich Jarrett ein konkretes Einflussthema vor: Er stellt auf seiner Website einen Klangmix verschiedener Titel zusammen, die auf das Eisenbahn-Thema rekurrieren, das sich in afro-amerikanischer Musik zwischen Jazz, Blues, Soul und Gospel so häufig findet. Er fragt nach unterschiedlichen Einflussmöglichkeiten: Soundimitaten, Repräsentation von Zugmetaphern, Reduktion eines Songs auf Zuggeräusche etc. “Conduction” nennt Gregory Ulmer das neue Verständnis von Einflusssträngen, auf das Jarrett hiermit hinaus will, und das weit weniger zielgerichtet ist als es das Wort “Einfluss” vermuten lässt, und Jarrett überträgt Ulmers Modell beispielhaft auf Einflüsse in afro-amerikanischer Musik und Jazz.

Insgesamt ein Buch, das vom Großen zum Kleinen fortschreitet, anhand konkreter Beispiele jede Menge Anregungen für weitere Forschung über die die gegenseitigen Befruchtungen zwischen Jazz, Literatur und Film gibt. Spannende, anregende Lektüre.

Wolfram Knauer (August 2010)


 

Werkschau. 20 Jahre Schaffhauser Jazzfestival. Ein Rückblick
Herausgegeben von Daniel Fleischmann & Peter Pfister
Zürich 2009 (Chronos Verlag)
144 Seiten, 46 Schweizer Franken
ISBN: 978-3-0340-0961-4

2009werkschauFür wen ist ein Buch, das auf ein Festival zurückblickt? Wohl tatsächlich vor allem für diejenige, die dieses Festival über die Jahre besucht haben, für die dieses Festival zur eigenen Geschmacksbildung beigetragen hat, die sich in der Dokumentation an die Atmosphäre, an musikalische Höhepunkte erinnern möchten. Das von Daniel Fleischmann redaktionell betreute und von Peter Pfister koordinierte Buch zum 20jährigen Jubiläum des Schaffhauser Festivals vertraut bei der Erinnerung in erster Linie auf Fotos, in zweiter Linie auf einige Texte, die die Bedeutung eines Schweizer Festivals beleuchten, auf organisatorische Probleme, auf ästhetische Diskussionen und auf das Überwinden von Schwierigkeiten eingehen. Die Fotos sind teils schwarzweiß, teils in Farbe gehalten, geben Spielsituationen genauso wieder wie das konzentriertes Aufanderhören der Musiker oder aber vor- bzw. nachbereitende Gespräche. Sie sind auf gutem, schwerem Papier gedruckt, und in ein angenehm voll-aufschlagbares Hardback gebunden. Am Schluss findet sich eine Übersicht der 20 Festivalplakate, leider aber kein Personenindex, auch keine Programmübersicht dieser Zeit. Dabei machen die Bilder neugierig genug darauf, wie denn die Abende programmiert wurden, von denen die Fotos stammen. Trotzdem, ein dankbar durchblätterbares Buch mit vielen sehenswerten Fotodokumenten zum zeitgenössischen Jazz aus der Schweiz, aus Europa und der ganzen Welt.

Wolfram Knauer (August 2010)


 

50 Jahre Jazzkeller Hofheim. 1959-2009 Kellertexte
herausgegeben von Roswitha Schlecker
Hofheim 2009 (Stadtmuseum Hofheim am Taunus)
120 Seiten; 10 Euro
ISBN: 978-3-933735-38-6

2009schleckerAm 22. August 1959 eröffnete der Club der Jazzfreunde den ersten Jazzkeller in Hofheim am Taunus. 2009 feierte das Stadtmuseum das halbe Jahrhundert mit einer Ausstellung und einer Buchdokumentation über 50 Jahre bürgerschaftliches Engagement im Club der Jazzfreunde Hofheim. Die Dokumentation ist reich bebildert und schildert die Entwicklung des Clubs aus Beteilgtensicht: Von den Anfängen im Café Staab über Aufbruch, Jugendkultur und Politisierung der 1960er Jahre, sportliche Aktivitäten um den Club, ästhetische Diskussionen und schließlich das Hofheimer Jazzfest, das zwischen 1975 und 1995 zwanzigmal stattfand und über die Jahre wegen seiner künstlerischen Qualität zu einem deutschlandweit wahrgenommenen Festival wurde. Der Club war sozialer Treffpunkt, das wird schnell klar, und er hatte eine wichtige Funktion im Leben der aktiven Clubmitglieder, von denen eine überdurchschnittlich große Zahl beruflich mit der Musik verbunden blieb (als Verleger, als Buchhändler mit Jazzspezialsortiment, als Musikagent). Über die Musik selbst erfährt man dabei allerdings wenig, kriegt eher am Rande mit, dass Debatten um Free Jazz stattgefunden haben müssen, der im Club eine “große Minderheit” an Befürwortern hatte. Die Clubmitglieder jedenfalls engagierten sich nicht nur für ihren Verein, sondern auch in der Stadt, demonstrierten gegen Missstände, ja stellten 1980 sogar einen eigenen Kanzlerkandidaten auf, der die Partei G.A.F.N. (Gegen Alles Für Nichts) zur Macht bringen sollte. Hofheim, am Rande der Spontistadt Frankfurt gelegen, kriegte eben einiges mit an Ideen und Einfällen der Szene um Joschka Fischer und Daniel Kohn-Bendit. 1995 fand das 20. Hofheimer Jazzfest statt; der Jazzkeller macht weiter Konzerte, weiterhin mit Improvisationslust, wenn auch mit genauso unsicheren Mitteln. Zum 50sten Geburtstag schenkte der Verein sich selbst sein 21. Jazzfest. Die Dokumentation seiner Aktivitäten gibt ein lesenswertes Stimmungsbild einer aktiven Jazzgemeinde.

Wolfram Knauer (August 2010)


 

Whisky & Jazz
von Hans Offringa (& Jack McCray)
Charleston/SC 2009 (Evening Post Publishing Company)
206 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-615-28155-1

2009offringaWenn man nach Verbindungen zwischen Whisky und Jazz sucht, dann fallen einem wahrscheinlich als erstes die Trunkenbolde der Jazzgeschichte ein, von Bix Beiderbecke über Bunny Berigan bis zu Billie Holiday oder Lester Young und etlichen anderen, die oft genug mit Alkohol begannen und mit härteren Drogen endeten. Dies vorausgeschickt, mag man ein wenig ratlos vor diesem opulenten Coffeetable-Book stehen, das so unverblümt behauptet, die beiden hätten etwas gemeinsam. Jazz müsse swingen und Whisky müsse einen gewissen Nachgeschmack besitzen, schreibt Offringa. Für beide müsse man einen Geschmack entwickeln, beide würden von Experten und passionierten Handwerkern hergestellt. Naja, da fielen einem dann allerdings noch etliche andere mögliche Buchprojekte ein. Doch es ist nun mal Whisky… Hans Offringa also heißt der niederländische Whiskykenner, der schon etliche Bücher über den goldenen Stoff geschrieben hat und der sich diesmal mit Jack McCray einen ausgewiesenen Jazzexperten ins Boot geholt hat. Sie suchen zehn Musiker aus, die Jazzgeschichte geschrieben haben, sowie zehn gleichermaßen wichtige Single Malts. Nach einer Einführung in sowohl die Jazz- als auch die Whiskygeschichte gibt es dann kurze Essays zu Leben und Werk der Protagonisten bzw. Entstehung und Sein der Whiskysorten, beide Teile reich bebildert mit Fotos der jeweiligen Themenschwerpunkte. Die ausgewählten Jazzer sind keine Randfiguren: Cannonball Adderley, Chet Baker, John Coltrane, Miles Davis, Stan Getz, Dexter Gordon, Milt Jackson, Hank Mobley, Charlie Parker und Art Tatum. Jack McCray stellt sie in kurzen, liebevollen Artikeln vor, die sich ihrer Biographie genauso wie ihrer musikalischen Ästhetik widmen. An den Beginn des Buchs stellt McCray außerdem eine Einführung in die Jazzgeschichte, die auch alternative Narrative, also beispielsweise die Bedeutung seiner Heimatstadt Charleston, mit berücksichtigt. Zum Schluss kommen die beiden Erzählstränge des Buchs, der zum Whisky und der zum Jazz, dann zusammen, wenn den Musikern Whiskysorten zugeordnet werden, quasi wie eine Art Hör-und-Trink-Anleitung: Mit Jackson mit Balblair, Miles Davis mit Bruichladdich, Charlie Parker mit Springbank und so weiter. Über die Lieblingsgetränke der Musiker erfährt man eher wenig. Vielleicht hätten sie dem Single Malt einen Bourbon vorgezogen. Oder Milch, wie ein Foto im Hank-Mobley-Kapitel suggeriert.

Das Buch ist sicher vor allem eine Geschenkidee an jemanden, der beidem zugetan ist: dem Whisky und dem Jazz. Über beide Seiten seines Hobbies wird der so Beschenkte einiges Interessante erfahren, blättern, und vielleicht noch andere, eigene Getränke-Musik-Kombinationen entdecken.

Wolfram Knauer (Juli 2010)


 

Insights in Jazz. An Inside View of Jazz Standard Chord Progressions
von John A. Elliott
London 2009 (Jazzwise Publications)
306 Seiten, 25 Britische Pfund (Buch) bzw. 12 Britische Pfund (PDF-Download)
ISBN: 978-0-9564031-1-7

2009elliiotJohn Elliott, Jazzpianist und -lehrer aus Edinburgh, fasst sein Buch im Vorwort in einer Grafik zusammen: Er hat den gesamten Text in “wordle.-net” eingegeben, eine Website, die die Häufigkeit von im Text auftauchenden Worten analysiert und in eine Grafik umwandelt, in der besonders oft benutzte Worte größer und herausgehobener dargestellt werden als weniger oft benutzte Worte. “Cadence”, “Chord” und das Akkordsymbol “C∆” sind demnach die wichtigsten Wörter des Buchs, gefolgt von “Love”, “songs”, “chords”, “bridge”. “Love” fällt heraus; es taucht so oft auf, weil viele der Songs, die Elliott für sein Buch analysiert, nun mal “Love” im Titel führen. Elliott stellt in seinem Buch eine Methode auf, die Musikern helfen soll, die harmonische Struktur von Jazzstücken im Gedächtnis zu behalten. “Insights in Jazz” ist also keine neue Improvisationslehre, kein neues Harmonielehrebuch, sondern bietet eine Analyse ausgewählter Standards, die es Musikern und Musikstudenten leichter machen soll, diese zu memorieren. Sie baut auf Conrad Corks “New Guide to Harmony with LEGO Bricks” auf, einem Lehrbuch, das seit 1985 in mehreren Auflagen veröffentlicht wurde. Cork fasste oft vorkommende Akkordprogressionen in “bricks”, also Bausteinen, zusammen und definierte darüber hinaus eine Reihe an Verbindungspassagen (“joins”) zwischen solchen Bausteinen. Elliott ergänzt, er sei der Überzeugung, dass sich Standards am besten lernen ließen, wenn man sie grafisch darstelle. Harmoniesymboltechnisch hält er sich weitgehend zurück, beschränkt sich auf grundlegende Harmoniesymbole. Ansonsten präsentiert er die ausgesuchten Standards in einer Grafik, in der die formale Struktur angegeben ist, darin die Bausteine und Verbindungsstücke gemäß dem Lehrbuch von Cork sowie seine grundlegenden Akkordsymbole. Schließlich arbeitet er mit Farbe, um Passagen zu kennzeichnen, die nach Moll wechseln oder solche, in denen es zu erhöhter oder gar besonders erhöhter harmonischer Spannung kommt. Die “bricks” haben klar definierte Namen, etwa “Hover”, wenn sich die zugrunde liegende Harmonie über mehr als einen Takt erstreckt, “Dropback” für eine Kadenz von einem Dominantseptakkord zur Tonika etc., aber auch “Night and Day Cadence” für einer Drei-Akkord-Folge oder “Rainy Cadence” oder “Yardbird Cadence” für Akkordfolgen, wie sie in den gleichnamigen Titeln zu finden sind. Es gibt spezielle Namen für Turnarounds, für längere Akkordfolgen sowie für zwölf Verbindungspassagen, die quasi die zwölf möglichen Intervallpassagen kennzeichnen. Ein Ratschlag, den Elliott zu Beginn mitgibt, entnimmt er dem Studienhandbuch der Manhattan School of Music: “12 tunes say it all”: Man müsse nicht Hunderte Stücke auswendig kennen, sondern sei schon mal ganz gut bedient, wenn man zwölf Stücke kennen würde, die jede Menge an Grundstruktur und an harmonischen Phrasen enthalten, die auch in anderen Stücken immer wieder auftauchen. Elliott ergänzt die Liste um den Blues und hat damit 13 “beispielhafte” Titel, mit denen der Leser/Musiker anfangen könne: den Blues, “I’ve Got Rhythm”, “Cherokee”, “Sweet Georgia Brown”, “Indiana”, “How High the Moon”, “Out of Nowhere”, “Perdido”, “Honeysuckle Rose”, “Whispering”, “All the Things You Are”, “Night and Day” sowie “Lover”. Er beschreibt die am meisten üblichen Bausteine und gibt Tipps, wo man sein Pensum beginnen und wie man es fortsetzen könne. In “Insights in Jazz” führt Elliott einige neue Bausteine ein, etwa für spezielle Substitutakkorde oder Kadenzen. Er analysiert Titel, deren Schluss sich dem Schluss aus “Pennies from Heaven” bedient, besondere Kadenzen, etwa die “Rainbow”-Kadenz, die allerdings in “Over the Rainbow” gar nicht zu finden sei, sondern nur in Corks Analyse des Stücks. Ein Vorteil der Baustein-Methode sei, dass man auch dann leicht wieder in die Struktur eines Stücks hereinfinde, wenn man sich kurzzeitig musikalisch verlaufen habe, meint Elliott. Der erklärende Teil des Buchs umfasst knapp 60 Seiten, dann folgen die Anhänge, die die Theorie für den Musiker umsetzbar machen sollen: eine Übersicht über die verschiedenen “bricks”, “turnarounds” und “metabricks”, sowie die “Straßenkarte” zu über 200 Songs, einschließlich der meisten der 180 Standards, die von der Manhattan School of Music als Pflichtstücke vorausgesetzt werden, die man also während eines sechsjährigen Studiums lernen müsse. Melodien enthalten diese Übersichten nicht, aus Urheberrechtsgründen, wie Elliott anmerkt, aber auch, weil man Melodien seiner Meinung nach am besten von Platten abhören und lernen solle anstatt nach Noten. Es folgen 238 “Roadmaps” von “A Train” bis “Yours Is My Heart Alone”.

Ob das alles dem Musikstudenten oder Amateurmusiker (an beide richtet sich dieses Buch wohl vor allem) wirklich hilft, muss jedem selbst überlassen bleiben. Fürs Memorieren von Stücken gibt es schließlich von Musiker zu Musiker unterschiedliche Strategien. Elliotts auf dem “Brick”-System Corks aufbauendes System ist sicher eine hilfreiche Ergänzung und kann dem einen oder anderen Musiker damit helfen, sein Repertoire zu erweitern. Das Buch ist als Printversion über den Verlag Jazzwise zu beziehen oder aber direkt beim Autoren als personalisierte pdf-Version.

Link: Insights in Jazz.

Wolfram Knauer (Juli 2010)


 

Flow, Gesture, and Spaces in Free Jazz. Towards a Theory of Collaboration
von Guerino Mazzola & Paul B. Cherlin
Berlin 2009 (Springer)
141 Seiten, 53,45 Euro
ISBN: 978-3-540-92194-3

Es sei der Jazzforschung bislang nur unangemessen gelungen, die unterschiedlichen Aspekte des Free Jazz zu analysieren, merkt G2009mazollauerino Mazzola im Vorwort seines Buches, das in der Reihe “Computational Music Science” erschien, und erklärt, dass er damit nicht einfach nur die komplexen Improvisationsmechanismen meine, sondern auch die dahinter liegende kulturelle Bedeutung dieser Musik. Sein Buch entstand aus einem Seminar an der University of Minnesota heraus, und das merkt man auch der Kapitelaufteilung des Buchs an, das sich ein wenig wie das Curriculum eines Semesters liest. Er und seine Mitautoren (zum Teil Studenten des Seminars, zum Teil mit dem auch als Pianist aktiven Mazzola assoziierte Musiker) beginnen mit grundlegenden Definitionen über die gesellschaftlichen, politischen und musikalischen Ursprünge der Free-Jazz-Bewegung. Mazzola untersucht ausgewählte Dokumente – Artikel, Interviews, Konzertmitschnitte –, um aus ihnen die Diskurse der 1960er Jahre herauszuarbeiten, wobei er sowohl auf Dokumente aus den USA wie aus Deutschland zurückgreift (letzteres in einer legendären Fernsehsendung von 1967, bei der Klaus Doldingers Quartett auf Peter Brötzmanns Trio traf), die unterschiedlichen Bedingungen für die Entstehung des Free Jazz in den USA und in Europa (Deutschland) allerdings weder hier noch später im Buch thematisiert. Im zweiten Kapitel (man fühlt sich versucht zu sagen, “In der zweiten Woche”) behandelt er vier Beispiele: Archie Shepps “Donaueschingen”, John Coltranes “Love Supreme”, Cecil Taylors “Candid Recordings”; und Bill Evans’ “Autumn Leaves” – letzteres ein Beispiel für die Ausweitung konventioneller Rahmenstrukturen des Jazz und die Entwicklung neuer Vokabeln im Jazzidiom, die Mazzola als musikalische “Gesten” bezeichnet. In weiteren Beispielen (etwa von Sun Ra oder dem Art Ensemble of Chicago), fragt er nach den Formen der musikalischen Kommunikation, der gestischen Interaktion und der daraus entstehenden “collective vibration”. Hier nun wird es philosophisch, wenn er “collaboratorive spaces” postuliert, die sich aus dem Flow der Interaktion und der gestischen Kommunikation ergäben. Im Free Jazz veranschaulicht er dies anhand Ornette Colemans Album “Free Jazz” sowie John Coltranes “Ascension”. Er spricht über die Faszination von “Time” und den Umgang von Free-Jazz-Musikern mit ihr sowie über die musikalische Geste als probates Mittel der musikalischen Entwicklung und als einer der wichtigsten Einflüsse auf die Wirkung der Musik beim Zuhörer. Und schließlich untersucht er die Bedeutung des Flow für das Entstehen oder besser für das Resultat einer intensiven Gruppendynamik. In einem Schlusskapitel propagiert Mazzola eine Zukunft für den Free Jazz, wobei er noch einmal klar macht, dass er diesen offenbar als ein recht klar umgrenztes Genre innerhalb der Jazzentwicklung zu begreifen scheint, und nicht als eine historische Etappe, und sagt dieser Stilrichtung eine Zukunft selbst in akademischer Umgebung voraus – vielleicht weil sich der Free Jazz, wie das Seminar, aus dem dieses Buch entstand, zeigt, mit interessanten Fragestellungen untersuchen lässt. Dem Buch hängt eine CD mit Improvisationen des Quartetts Tetrade bei, dem Mazzola (Klavier, Jeff Kaiser (Trompete), der kürzlich verstorbene Sirone (Bass) und Heinz Geissler (Schlagzeug) angehören.

(Wolfram Knauer, Juni 2010)


 

Il chitarrista di jazz. Charlie Christian e dintorni
Von Roberto G. Colombo
Genova 2009 (Erga Edizioni)
367 Seiten, 1 beiheftende CD, 25 Euro
ISBN: 978-88-8163-472-4

2009colomboCharlie Christian war einer der wichtigsten Gitarristen der Jazzgeschichte, weil er sein Instrument aus der reinen Begleitfunktion herauslöste und mit Melodieinstrumenten wie Saxophon oder Trompete auf eine Stufe stellte. Nur Django Reinhardt mag ähnlich einflussreich gewesen sein. Roberto G. Colombo hat nun ein Buch vorgelegt, in dem er dem Stil Charlie Christians auf die Spur kommen möchte, noch mehr aber dessen Einfluss auf andere Gitarristen des modernen Jazz. Eine analytische Beschreibung des Stils seines Helden mitsamt einzelner Transkriptionen findet sich seltsamerweise erst im letzten Kapitel, in dem Colombo Christians melodische, harmonische und rhythmische Sprache etwas näher untersucht. Der Hauptteil seines Buchs bezieht sich vor allem auf den Einfluss, den Christian etwa auf Musiker wie Barney Kessel und Tal Farlow, Jim Raney und Jim Hall, Kenny Burrell und Wes Montgomery und andere hatte, wobei er die hier genannten bewusst in Opposition zueinander bringt, um die unterschiedlichen stilistischen Wege herauszuarbeiten, die sie gegangen sind. Der gemeinsame Nenner, so Colombo, sei Charlie Christian gewesen, dessen Einfluss neben Django Reinhardts auch in Europa deutlich spürbar gewesen sei. In einem eigenen Kapitel über die elektrische Gitarre beschreibt er die Geschichte der elektrischen Verstärkung des Instruments und geht daneben auf andere frühe Vertreter der E-Gitarre ein, etwa die Hot String Bands des Western Swing jener Jahre oder den Posaunisten und Gitarristen Eddie Durham, die alle ihren eigenen Nachhall in Charlie Christians Spiel fanden. Das Buch bleibt eine eher trockene Lektüre, eine beiheftende CD enthält 42 Track Charlie Christians mit Benny Goodman genauso wie in diversen Jam Session-Zusammenhängen, in denen seine Nähe zum Bebop besonders gut zur Geltung kommt.

Wolfram Knauer (Mai 2010)


 

All That Swedish Jazz. Zwölf schwedische Jazzstars erobern die Welt
von Lisbeth Axelsson
Bad Oeynhausen 2009 (jazzprezzo)
223 Seiten, 1 beiheftende CD, 35,00 Euro
ISBN: 978-3-9810250-9-5

2009axelssonHilfe die Schweden kommen! Oder die Norweger, die Dänen, die Finnen… Skandinavier jedenfalls, meint man, machen einen Großteil des Hypes, des Erfolgs des europäischen Jazz in den letzten Jahren aus. Nun, auf jeden Fall haben sie eine exzellente Musikerziehung von klein auf und bringen so hervorragende Musiker hervor, und auf jeden Fall verstehen sie sich aufs Marketing. Und so blättert es sich in diesem Buch, das im Original in schwedischer Sprache im Stockholmer Votum-Verlag erschienen ist, ein wenig wie im Katalog eines international sich erfolgreich vermarktenden Möbelhauses: bunt, lebendig, witzig. Lisbeth Axelsson hat für ihre Portraits von zwölf durchwegs jungen Musikerinnen und Musikern Fotos gesammelt, die diese nicht nur als Musiker, sondern auch als Privatmenschen zeigen: Viktoria Tolstoy etwa im Kreis ihrer Familie oder bei einem Treffen aller Tolstoy-Nachfahren (sie stammt ja bekanntlich tatsächlich aus der Familie des großen Schriftstellers), Lisen Rylander auf dem Segelboot, Magnus Coltrane Price mit Motorradhelm, Magnus Lindgren beim Wasserskifahren, Anders Öberg beim Joggen, Rigmor Gustafsson auf dem Fahrrad, Jon Fält beim Kücheputzen oder Karin Hammar im Fitnessstudio. Das Buch böte genügend Soff für eine Magisterarbeit darüber, wie die Musikerinnen und Musiker sich hier wohl darstellen wollen oder dargestellt worden, welche Inhalte allein die Ikonographie der Bilder vermittelt. Daneben stellt Lisbeth Axelsson biographische Texte, von O-Tönen durchzogen, Erinnerungen der Musiker darüber, wie sie zur Musik und wie zum Jazz kamen, was besonders herausfordernd ist am gewählten Beruf des Jazzmusikers und wo sie vielleicht noch hinwollen. Ach ja, die noch nicht genannten sind: Nils Landgren, Jan Lundgren, Peter Asplund und Martin Tingvall. Lesenswert ist das allemal, und, wie gesagt, ein Spaß machendes Bilderbuch außerdem. Der Verlag erkennt man kaum in Gestaltung und Papier – jazzprezzo macht sonst andere Bücher –: Dies ist deutlich eine Lizenzausgabe, bunt, gesund, frisch und … Lebst du noch, oder hörst du schon schwedischen Jazz?!

(Wolfram Knauer)


 

W.C. Handy. The Life and Times of the Man Who Made the Blues
von David Robertson
New York 2009 (Alfred A. Knopf)
286 Seiten, 27,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-307-26609-5

2009robertsonW.C. Handy wurde als der Mann gefeiert, der den Blues erfunden habe, als “Father of the Blues”. Natürlich hat er das nicht getan – aber er hatte große Ohren, er hörte, was um ihn herum gesungen und gespielt wurde, er entwickelte ein Gespür für den populären Musikmarkt und er schrieb (oder kompilierte) einige der erfolgreichsten Blueskompositionen vor 1920. Er ist einer der großen Helden afro-amerikanischer Kulturgeschichte, ein Denkmal zu Lebzeiten, und bis heute präsent in den Titeln aus seiner Feder, den “St. Louis Blues”, “Beale Street Blues”, “Memphis Blues” und anderer Stücke, die weit über das Genre hinaus wirkten. David Robertson macht sich in seinem Buch auf die Suche nach dem Menschen William Christopher Handy und nach dem Umfeld, aus dem heraus er seiner Arbeit nachging. Er beschreibt ihn als Geschäftsmann, der sich nach Respekt von schwarzer wie weißer Seite sehnt, sein Geld aber im Vermarkten einer Musik verdient, die sich bewusst auf schwarze Roots stützt, der also quasi die “beiden Seelen” personifizierte, von denen W.E.B. Du Bois in seinem Buch “The Souls of Black Folk” schrieb. Handy wurde 1873 in einer Kleinstadt in Alabama geboren, acht Jahre nach der Emanzipation der schwarzen Sklaven. Sein Vater war Farmer und Pastor der lokalen AME Church. In der Schule erhielt er Musikunterricht, aber im richtigen Leben lernte er die wirkliche Musik kennen. Jim Turner, ein oft betrunkener Fiedler, machte ihn mit der Folk-Tradition der Gegend vertraut, Prototypen des späteren Blues. Er lernte heimlich Kornett, was von der Familie nicht gern gesehen wurde, die Musik, wenn überhaupt, nur in der Kirche duldete, und begann nach seinem High-School-Abschluss als Schulassistent im schwarzen Schulsystem seines County. 1892 machte er sich auf nach Chicago, wo damals die Weltausstellung stattfand und verdiente sich mit Freunden in einem Barbershop-Gesangsquartett ein wenig Geld. Im darauf folgenden Jahr zog er erst nach St. Louis, dann in andere Kleinstädte, schlug sich erst mit gelegentlichen Jobs, dann immerhin hauptberuflich mit Musik durch, als er in Evansville, Indiana, eine Brassband gründete. Von 1896 bis 1900 reiste er mit einer Minstrel-Show durch die Lande, und Robertson berichtet über einige der Szenen in der Show, in der sich weiße Schauspieler ihre Gesicht schwarz anmalten und sich über das Alltagsleben in der amerikanischen Provinz lustig machten. Aus heutiger Sicht war das alles eine herabwürdigende, rassistisch anmutende Show, an der sich schwarze Musiker gezwungenermaßen beteiligen mussten, um Geld zu verdienen. Daneben aber lernte Handy hier das Handwerkszeug für sein späteres Geschäft: Er lernte, was beim Publikum ankam, und wie man die Bedürfnisse eines ganz unterschiedlichen Publikums befriedigen konnte. 1900 spielte Handy ein Konzert im State Agricultural and Mechanical College for Negroes in Normal, Alabama, einer Reformschule im Sinne Booker T. Washingtons, und der Schulleiter engagierte ihn als Lehrer für Englisch und Musik. Als Handy in einem Schulkonzert Ragtimes und andere Titel spielte, die vielleicht eher in eine Minstrelshow gepasst hätten, bat man ihn, sich einen anderen Job zu suchen. Er ging wieder auf Minstrel-Tournee, und ließ sich dann in Clarksdale, Mississippi nieder, wo ihm ein Posten als Bandleader angeboten wurde. Diese Zeit war wohl besonders wichtig für Handy, den Melodiensammler, der sich die Musik der Farmarbeiter anhörte und viel davon in seinen späteren Kompositionen verwendete. 1905 zog er nach Memphis, spielte auf den Riverboats des Mississippi und schrieb sein erstes eigenes Stück, “Mr. Crump” (später “The Memphis Blues”). Dessen Copyright verkaufte er da noch für 50 Dollar; wenige Jahre später gründete er, klug geworden, zusammen mit Harry H. Pace den Musikverlag Pace & Handy. Robertson zeichnet den geschäftlichen Erfolg des Verlags nach und damit auch die erfolgreichen Kompositionen, die Handy in jenen Jahren veröffentlichte. 1917 hatte Handy ein Büro in Chicago eröffnet, aber tatsächlich zog es ihn nach New York, die Hauptstadt der amerikanischen Unterhaltungsindustrie. Als Musikverlag musste man ein Büro in New York haben, wo das Publikum in Musicals oder den Revuebühnen über Erfolg und Misserfolg der aktuellen Hits entschied. In seinem Büro trafen sich Bert Williams und Clarence Williams, Wilbur Sweatman und andere Größen des afro-amerikanischen Showbusiness. In den 1920er Jahren kam zum einträglichen Notengeschäft zusätzlich das neue Geschäft mit Schallplatten, Harry Pace entschied sich 1921, seinen eigenen Plattenverlag aufzumachen, und etliche der bislang bei beiden unter Vertrag stehenden Künstlern, darunter auch Fletcher Henderson, folgten ihm, statt bei Handy zu bleiben. Der wirkte auf die jungen Musiker inzwischen altbacken, unmodern; das Geschäft ging schlecht, und er profitierte kaum vom Boom schwarzer Musik in den frühen 1920er Jahren. 1924 traf er auf den Wall-Street-Anwalt Abbe Niles, der Handys und andere Blueskompositionen der Zeit liebte und an einem Artikel über den Blues arbeitete. Niles stand hinter dem Buchprojekt “Blues. An Anthology”, das 1926 erschien und Handy endgültig als “Father of the Blues” etablierte. Handy hatte noch weitere Ambitionen. Er, dessen Weg durch die Ideale sowohl Booker T. Washingtons wie auch W.E.B. Du Bois geprägt war, wollte eine veritable Kunstmusik schaffen, eine afro-amerikanische Symphonie. George Gershwin hatte ihm die Partitur seiner “Rhapsody in Blue” mit der Widmung versehen :”Für Mr. Handy, dessen frühe ‘Blue’ die Vorfahren für dieses Werk sind”. 1926 hörte Handy in der Aeolian Hall symphonische Arrangements über “St. Louis Blues” und “Beale Street Blues”; 1927 dirigierte er selbst George Antheils “Jazz Symphony” in der Carnegie Hall. In den 1930er Jahren wandte er sich in seiner Verlagsarbeit Negro Spirituals zu, trat ab und zu als Gast im Cotton Club auf (und spielte dort dann meist den “St. Louis Blues”) und veröffentlichte 1941 seine Autobiographie, “Father of the Blues”. 1943 hatte er einen folgenschweren Unfall, als er von der U-Bahn-Plattform stürzte und sich den Kopf verletzte. Danach war er blind, was ihn aber nicht davon abhielt, in der New Yorker Gesellschaft mitzumischen und sich, wo immer es ging, als Vater des Blues feiern zu lassen. 1956 wirkte er bei einem letzten öffentlichen Auftritt im Lewisohn Stadium in New York City mit, bei dem Leonard Bernstein ein Orchesterarrangement über den “St. Louis Blues” dirigierte. Zwei Jahre später starb W.C. Handy im Alter von 84 Jahren. Zur Trauerfeier kamen 150.000 Menschen, die die 138ste Straße in Harlem säumten, als Handys Sarg in die Abyssinian Baptist Church gebracht wurde. Robertsons Buch zeichnet Handys Lebensgeschichte mit allen Hochs und Tiefs nach, ist dabei, wie der Untertitel verspricht: eine Biographie mit Blick auf Leben und Zeit des W.C. Handy, nicht so sehr auf die Besonderheiten seiner Musik. Er erzählt die Ereignisse mit dem Blick für Einzelheiten (wenn er auch die immerhin nicht ganz unbedeutsame Identifikation zweier Personen auf einem Foto unterlässt, das Handy und seine zweite Frau zeigen, wie Handy unter dem Kichern und dem belustigten Grinsen von Dizzy Gillespie und Leonard Feather Dizzys gebogene Trompete befingert). Das Buch ist allemal eine lesenswerte Lektüre und gibt mit einem umfassenden Anmerkungsapparat die Möglichkeit zum weiteren Einstieg in die Erforschung beispielsweise des afro-amerikanischen Pubikationswesens im frühen 20sten Jahrhundert.

Wolfram Knauer (Mai 2010)


 

Die unheimliche Maschine. Rasse und Repräsentation im Weimarer Kino
von Tobias Nagl
München 2009 (edition text + kritik)
827 Seiten, 49,00 Euro
ISBN: 798-3-88377-910-2

2009naglIn Jazzbüchern liest man oft vom Reiz des Exotischen, wenn von der Rezeption des frühen Jazz in Europa die Rede ist. Man verweist auf Bildende Künstler, Komponisten der klassischen Musiktradition und auch auf Schriftsteller, die afrikanischen oder asiatischen Einflüssen gegenüber offen standen, weil sie in ihnen Erweiterungsmöglichkeiten ihres eigenen künstlerischen Vokabulars sahen. Was dabei oft vergessen wird, ist ein differenzierter Blick darauf, wie Menschen anderer Hautfarbe tatsächlich in Europa wahrgenommen wurden und welche Mechanismen und/oder politischen Entwicklungen diese Wahrnehmung mit steuerten. Tobias Nagl stellt gleich in der Einleitung seines Buchs klar (und beruft such dabei auf Katrin Sieg): “Gerade die Extremität des wissenschaftlichen Rassismus in der deutschen Geschichte war es, die zusammen mit den widersprüchlichen Imperativen während der Demokratisierung des Landes den Diskurs um ‘Rasse’ und die Untersuchung seiner Nachwirkungen in offiziellen Kontexten tabuisierte.” Daher habe man es in Deutschland vorgezogen, mit Konzepten des “Anderen” oder auch des “Fremden” zu arbeiten, die allerdings seltsam unscharf blieben. Nagl arbeitet sich durch die Literatur zu Termini wie “Rasse” und “Rassismus”, stellt die relativ kurze koloniale Kultur Deutschlands und die postkoloniale Theorie gegenüber, und versteht seine eigene Arbeit, die Filmgeschichte, dabei als “Archäologie sozialer Praxis”. Dann arbeitet er sich anhand konkreter (Film-)Beispiele durch das wechselvolle Verhältnis der Deutschen zu Mitmenschen anderer Hautfarbe. Er thematisiert “Kolonialismus, Geschlecht und Rasse” im Film “Die Herrin der Welt” von 1919, den er in Verbindung zur Völkerschautradition jener Zeit setzt. Er referiert den Inhalt des Films sowie seine Rezeption in Deutschland und den missglückten Export des Films nach USA, berichtet aber auch über Rassismusproteste aus den Reihen des “Vereins chinesischer Studenten” in Berlin. Der Film “Die Schwarze Schmach” von 1921-23 dient Nagl zur Diskussion der Darstellung von Sexualität und der Reaktion von Zensur. Hier thematisiert er die Rheinlandbesetzung durch koloniale Regimenter der Franzosen nach dem Ersten Weltkrieg, die reichlich Stoff für eine rassistische deutsche Propaganda geliefert hatte, und vor dessen Hintergrund der Film zu sehen ist. Die Zensur kritisierte im Film genannte Fakten und Zahlen sah den Film als gefährliche rassistische Propaganda, die dazu führen könne, dass das deutsche Ansehen im Ausland Schaden nähme. Nagl zeigt Beispiele solcher Propaganda, etwa Briefverschlussmarken mit der Aufschrift “Versuchte Mutter m. Mischlingskind” oder mit der Abbildung dreier dürrer Kinder vor einem großen schwarzen Mann und der Aufschrift “Um einen Besatzungssoldaten zu ernähren müssen vier deutsche Kinder hungern!”. Weitere Kapitel befassen sich mit dem kolonialen Propagandafilm, mit Kulturfilmen über Afrika (Nebentitel “Kolonialrevisionismus und romantische Ethnografie” — hier geht es auch um das “Spektakel der Differenz”), mit dem Geschlechterverhältnis im kolonialen Spielfilm, dabei insbesondere schwarzen Frauenrollen im Weimarer Kino. Neben Menschen schwarzer Hautfarbe auf der Leinwand aber gab es auch eine schwarze deutsche Bevölkerung, gab es schwarze Schauspieler in Deutschland, denen Nagl ein eigenes Kapitel widmet. Er schildert den Alltag in der Filmbörse, in der koloniale Migranten sich als Komparsen fürs Kino bewarben. Ein Exkurs innerhalb dieses Kapitels zeichent die Karriere des Schauspielers Louis Brody in den 1920er genauso wie den 1930er Jahren nach, als er auch an Propagandafilmen des NS-Staats mitwirkte, etwa dem Film “Jud Süss” von 1940. Ein erster Jazzschwenk geschieht im kurzen Kapitel über den Schauspieler und Schlagzeuger Willy Allen, geboren als Wilhelm Panzer in Berlin, der im Film “Einbrecher” von 1930 mit Sidney Bechet zu sehen und hören ist. Das letzte Kapitel dann ist das Jazzforscher am direktesten ansprechende Kapitel, überschrieben “‘Afrika spricht!’ Modernismus, jazz und Minstrelsy”. Hier schildert Nagl den Erfolg schwarzer Revuen in der Folge der “Revue Nègre” mit Josephine Baker, Louis Douglas und der Claude Hopkins Band sowie der “Chocolate Kiddies Negro Revue” mit dem Orchester des Pianisten Sam Wooding. Beide Revue, schreibt Nagl, “boten keinen unvermittelten Ausdruck afroamerikanischer Kultur, sondern standen in der Tradition der bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Minstrel-Shows”, eine Aussage, die zumindest musikalisch in Frage zu stellen ist. Nagl beschreibt denunziatorische Attacken auf den Jazz als wilde und zu sexuellen Ausschweifungen einladende Musik, stellt aber auch fest, dass Jazz in deutschen Filmen eher eine geringe Rolle spielte. Afroamerikanische Musiker habe es in Deutschland zahlreich bereits seit den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts gegeben; und im Kaiserreich habe die Cakewalk-Mode auch Deutschland erfasst. “Die meisten Unterhaltungsmusiker, die in den unmittelbaren Nachkriegsjahren Jazz zu spielen versuchte, wussten jedoch nicht einmal genau, wie die Musik klang”, konstantiert Nagl und zeichnet dann die zunehmende Ernsthaftigkeit nach, mit der der Jazz rezipiert wurde, irgendwo zwischen Abscheu und exotischer Begeisterungswelle. Jazz spielte immerhin ab den Mitt-1920er Jahren eine größer werdende Rolle bei der Filmbegleitung, allerdings nicht in der “authentischen” Tradition des Hot-Jazz amerikanischer Prägung, sondern vor allem in der Tradition eines sinfonischen Jazz George Gershwins oder Paul Whitemans, wie er in Deutschland von Bands etwa um Bernard Etté oder Ernö Rapée gespielt wurde. Nagl beschreibt Josephine Bakers Siegeszug in Berlin und ihren Einfluss auf intellektuelle Verehrer und Schriftsteller. Anhand von Ernst Kreneks Jazz-Oper “Jonny spielt auf” thematisiert er die der Oper inheränte “Bedrohungsphantasie”: Ernst Krenek habe mit ihr alles andere als eine Verherrlichung des Jazz im Sinn gehabt. Im Jazzhass gehe es nicht nur um Musik und “rassische Invasion”, sondern auch um Ängste, die mit “Vorstellungen ausschweifender, transgressiver Sexualität” verbunden seien. Nagl verfolgt die Tiraden auf den Jazz von der Neuen Musik-Zeitung 1928 über Theodor W. Adorno bis zu Alfred Rosenberg und Wilhelm Fricks berüchtigtem Erlass ‘Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum’. Er beschreibt die Rezeption einiger amerikanischer Filme mit afroamerikanischen Themen/Schauspielern sowie weitere Assoziationen, die mit Hilfe schwarzer Schauspieler transportiert werden sollten, etwa “moderne Exzentrik”. Schließlich wirft er noch einen Blick auf den Boxsport, in dem schwarze Athleten eine wichtige Rolle spielten, und seine Reflektion im Weimarer Kino. Und anhand des Tänzers Louis Douglas diskutiert er, wie die deutsche Linke mit dem Thema Hautfarbe / Rassismus umgeht. Nagls eindrucksvoll umfassendes Buch ist ein Standardwerk zur Rezeption afrikanischer wie afro-amerikanischer Kultur in Deutschland und erlaubt viele Erkenntnisse auch über die Bedingungen, in denen im Deutschland der 1920er und frühen 1930er Jahre Jazz gespielt und gehört wurde. Höchst empfehlenswert!

(Wolfram Knauer, April 2010)


 

Musikszene Schweiz. Begegnungen mit Menschen und Orten
herausgegeben von Christoph Merki
Zürich 2009 (Chronos Verlag)
692 Seiten, 38 Euro
ISBN: 978-3-0340-0942-3

2009merki“Musikszene Schweiz” will die Schweiz als Musikland darstellen, in seiner ganzen Fülle zwischen Volks-, Pop- und Kunstmusik, und auf sehr direktem Wege über Gespräche mit Musikmachern und -ermöglichern und Reportagen über Orte, an denen Musik stattfindet. Der Rundumschlag ist weit: Musical; Gregorianik; Mundart-Rap; volkstümliche Musik (wobei dieser Begriff hier offenbar anders als in Deutschland gebraucht wird, wo er mehr für die Schlagervariante der Volksmusikindustrie steht, während Franz-Xaver Nager, der sich in diesem Buch mit dem Thema beschäftigt, die ursprüngliche Volksmusik und ihre heutige Pflege meint); Oper; Worldmusic (bei der sich Marianne Berner in ihrem Bericht über Afropfingsten-Festival nicht die “Vorläufer” afrikanischer Musik in der Schweiz erwähnt, als das Land in den frühen 1960er Jahren Anlaufstelle für viele südafrikanische Musiker im Exil war); Internetsounds; Fußballgesänge; Alte Musik; “Jazz und anderes mehr” (über das Montreux Jazz Festival); Schlager; Punk; Filmmusik; Jodelgesang; Berner Mundartrock; Musiktherapie; Neue Musik; Blues; Operette; “Megarock und Pop”, Chorgesang; Free Jazz (ein Interview mit Patrik Landolf über das Unerhört-Festival in Zürich); “Die andere Musik” (über aktuelle alternative Musikformen); Gospel; Klassik am Lucerne Festival; Unterhaltungs- und Tanzmusik; “Jazz aus der Schweiz” (über das Schaffhauser Jazzfestival); Theatermusik; Rock/Pop bei Musicstar (über den gleichnamigen SF DRS-Sender); Reggae; Alpentöne; “Traditioneller Jazz” (über das Festival JazzAscona); Country Music; “Immigrantenmusik (Balkan)”; Blasmusik; Chanson und frankophone Musik; Techno; Orgelmusik; sowie “Musik der Kulturen der Welt”. Das Buch ist ein gelungener Überblick über ganz unterschiedliche Seiten eines bunten Musiklebens, eine Dokumentation des Status Quo einer Szene zwischen Tradition und Avantgarde, zwischen Etabliertheit und Suche nach dem eigenen Platz.

(Wolfram Knauer, April 2010)


 

Swingingly yours Ilse Storb. Love and Peace
von Ute Büchter-Römer
Duisburg 2009 (NonEM Verlag)
112 Seiten + beigeheftete CD, 15,00 Euro
ISBN: 978-3-935744-09-6

2009storb1Ilse Storb war nie eine stille, sondern immer eine laute Kämpferin für den Jazz: als “Europas einzige Jazzprofessorin”, wie sie sich selbst gern bezeichnete, als Autorin mehrerer Sachbücher zum Jazz, als Gründerin des Jazzlabors an der Gesamthochschule, später Universität Duisburg, als Verfechterin eines musikalischen Dialogs der Kulturen, und als Workshopleiterin, die sich sicher war, dass man von Menschen anderer Herkunft viel lernen kann und die immer auf die Offenheit drängte, das “Fremde” als Einfluss auf sich wirken zu lassen. Ute Büchter-Römer hat aus den Daten und Fakten ihres Lebens eine Biographie zusammenstellt, in der der Weg von der klassischen Pianistin zur Jazzprofessorin allerdings nur halb so begeisternd nachvollzogen wird wie auf der beiheftenden CD, einer WDR5-Sendung aus dem Jahr 2002, in der die ganze Wucht der weit über die Jazzgrenzen bekannten Musikwissenschaftlerin zu spüren ist. Büchter-Römer rekapituliert die Lebensgeschichte, fasst die wichtigsten Veröffentlichungen Storbs zusammen, schreibt über Medienauftritte in Rundfunk wie Fernsehen (ja, auch über jene legendäre Stefan-Raab-Sendung), über Konzertreisen und Festivals, über Storbs Liebe zu zwei ihrer wichtigsten Sujets: der Musik von Louis Armstrong und Dave Brubeck. Die Biographie ist ein Geschenk zum 80sten Geburtstag; dementsprechend ist kritische Distanz weniger gefragt. Aber Ilse Storb ist eh, wie man schnell merkt, ein Gesamtkunstwerk, dem man in einem Buch allein kaum beikommt. Eine CD muss mindestens dabeiheften, besser noch hätte wahrscheinlich eine DVD dazugehört. Parallel erschien außerdem eine Festschrift (siehe den nächsten Beitrag).

(Wolfram Knauer, März 2010)


 

Rastlose Brückenbauerin. Festschrift zum 80. Geburtstag von Ilse Storb
herausgegeben von Ulrich J. Blomann & Hans-Joachim Heßler
Duisburg 2009 (NonEM Verlag)
437 Seiten, 45 Euro
ISBN: 978-3-935744-10-2

2009storb2Ulrich J. Blomann und Hans-Joachim Heßler stellten zum 80. Geburtstag von “Europas einziger Jazzprofessorin” eine Sammlung von Aufsätzen zusammen, die sich mit unterschiedlichen Themenfeldern auseinandersetzen, die Ilse Storb in ihrer langen Berufskarriere als Pianistin, Musikwissenschaftlerin, Pädagogin und Hochschullehrerin irgendwann einmal gestreift hat. Für den Bereich ihrer größten Liebe, nämlich die Jazz- und Popularmusikforschung, befasst sich Ute Büchter-Römers mit der Änderung des Stimmideals von “Belcanto zum Rap”, schreibt Alfons Michael Dauer über die “Lineare Mehrstimmigkeit im alten Gospel” und Franz Kerschbaumer über impressionistische Strukturen (Strukturen?) im Jazz. Karsten Mützelfeldt trägt zwei Sendemanuskripte bei, eines über Jazz in Vietnam, das andere über Gunther Schuller; und Gudrun Endress ein Interview mit McCoy Tyner. Es gibt Beiträge zur Neuen Musik, zur Musikethnologie (erwähnenswert insbesondere Gerhard Kubiks Beitrag über “Das ‘Eigene’ und das ‘Fremde'”) und zur Musiksoziologie sowie einen ausführlichen theologischen Exkurs von Ute Ranke-Heinemann zum Thema “Die Hölle”. Schließlich finden sich jede Menge persönliche Gratulationen von Freunden, Kollegen, Mitstreitern über viele Jahrzehnte. Nicht alles hat mit Musik zu tun, aber alles irgendwie mit Ilse Storb, und vieles mit dem Titel des Buchs, dem “Brückenbauen” zwischen Stilen, Genres, Kulturen. Das Buch endet mit einem Interview mit der Jubilarin darüber, warum es in Deutschland für Frauen so schwer ist, eine Karriere zu machen, wie sie, Ilse Storb, sie gemacht hatte. Es ist bezeichnend, und durchaus ein Kompliment, dass dabei auch auf dem Papier die Lebendigkeit durchkommt, die Ilse Storb auszeichnet.

(Wolfram Knauer, März 2010)


 

From Harlem to Hollywood. My Life in Music
von Van Alexander & Stephen Frattalone
Albany/GA 2009 (BearManor Media)
197 Seiten, 19,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-59393-451-4

2009alexanderVan Alexander gehört nicht gerade zu den bekannten Namen der Jazzgeschichte. Man hat von ihm als Bandleader gehört, und wenn man sich gut auskennt, weiß man, dass er einst Arrangeur für Chick Webbs Band war und das Arrangement zu “A-Tisket, A-Tasket” geschrieben hat. In seiner Autobiographie erzählt Alexander nun seine Geschichte im Musikgeschäft. Alexander wurde 1915 in der Mitte Harlems geboren, das damals noch nicht wie wenige Jahre später Zentrum des schwarzen Amerikas war. Sein Vater war ein aus Ungarn emigrierter Jude, seine Mutter entstammte einer ursprünglich aus Rotterdam eingewanderten Familie und war regelmäßig als Pianistin in einem frühen lokalen Rundfunksender zu hören. Sie war zugleich Vans erste Klavierlehrerin. Er ging zur George Washington High School, und hörte abends die populären Swing-Bigbands im Radio, Paul Whiteman, Benny Goodman, die Casa Loma Band mit Glen Gray, Louis Armstrong, und hätte sich nicht träumen lassen später einmal für all diese Arrangements zu schreiben. Bald stellte er eine achtköpfige Band zusammen und machte seine ersten Gehversuche als Arrangeur. Nach seinem Schulabschluss war klar, dass dies seine Profession sein würde. Er nahm zusätzlichen Unterricht an der Columbia University sowie bei einigen Privatlehrern, die ihn in die Geheimnisse von Arrangement und Orchestrierung einweihten. Im Savoy Ballroom hörte er einige der angesagtesten Bands seiner Zeit und traute sich im Februar 1936, Chick Webb ein paar Arrangements mitzubringen. Webbs Band aber probte nicht etwa vor, sondern nach dem Job, und bis sie andere Arrangements von Musikern in der Band geprobt hatten, wurde es 5 Uhr morgens. Webb kaufte zwei Arrangements für 20 Dollar und engagierte Alexander kurz darauf für 75 Dollar pro Woche, jeweils drei Arrangements zu schreiben und für die Band zu kopieren. Webb empfahl ihn außerdem an Benny Goodman weiter, und Alexander erinnert sich lebhaft an die legendäre Big Band Battle zwischen Goodmans und Webbs Bands im Mai 1937. Wer den Namen Alexanders in den Diskographien Webbs vermisst, dem sei erklärt, dass Alexander damals noch unter seinem richtigen Namen Al Feldman firmierte und erst mit der Gründung seines eigenen Orchesters aus seinen zwei Vornamen seinen neuen Namen zusammensetzte. Ein eigenes Kapitel widmet Alexander der Entstehungsgeschichte seines All-Time-Greatest-Hits, “A-Tisket, A-Tasket”. Alexander erzählt von seinen Erfahrungen als weißer Arrangeur für eine schwarze Band, von Bandmusikern wie Taft Jordan oder Louie Jordan. Noch vor Webbs Tod verließ Alexander allerdings die Band und startete ein eigenes Orchester. Alexanders Vorbild war die Band von Isham Jones, und bald spielte die Band in den großen Ballsälen der Ostküste. Alexanders Orchester gehörte sicher nicht zu den großen Bands der Swingära, aber seine Darstellung wirft dennoch ein wenig Licht auf die Realität des Musikgeschäfts jener Jahre. Nach dem Krieg zog es Alexander nach Kalifornien, wo er für Bing Crosbys Bruder Bob eine neue Band aufzog. Nach nur drei Monaten feuerte Crosby ihn aus persönlichen Gründen und Alexander verklagte ihn und erhielt ein Jahresgehalt Entschädigung. In Kalifornien erhielt Alexander bald Arbeit als Arrangeur für das Plattenlabel Capitol sowie für Film und Fernsehen. Unter anderem schrieb er Musik für erfolgreiche Shows wie “I Dream of Jeannie” und “Bewitched”. Für seinen Freund Les Brown schrieb er in außerdem Arrangements für die “Dean Martin Show”. Alexander erzählt amüsante Anekdoten über all die Größen des Jazz und Showbusiness, mit denen er über die Jahrzehnte gearbeitet hat, und am Ende noch ein paar Stories von seinem Hobby, dem Golfspielen. Eine Diskographie der Aufnahmen seiner eigenen Bands, von Charles Garrod und Bill Korst bereits 1991 veröffentlicht, beschließt das Buch, das einen etwas anderen, sehr persönlichen, sicher auch sehr subjektiven und oft rosaroten Blick auf die Welt von Jazz und Entertainment wirft.

(Wolfram Knauer, Februar 2010)


 

Analyser le Jazz
von Laurent Cugny
Paris 2009 (Outre Mesure)
576 Seiten, 44 Euro
ISBN: 978-2-907891-44-2

2009cugnyLaurent Cugny ist Pianist, Arrangeur und Musikwissenschaftler und hat mit seinem Buch “Analyser le Jazz” ein Werk vorgelegt, in dem er versucht, die musikwissenschaftliche Herangehensweise an den Jazz zu strukturieren. Was ist überhaupt Jazz, fragt er zu Beginn, wie ist er zu definieren und wie kann man seine verschiedenen Komponenten analysieren. Wie lassen sich die Wandlungen der Jazzgeschichte analytisch beschreiben, welche Begriffe sind angemessen, welche müssen einer spezifischen Definition unterworfen werden? Wie geht man mit analytischen Begriffen um, die bereits von der konventionellen Musikwissenschaft belegt sind, etwa Komposition, Improvisation, Form, Struktur etc. In welcher Beziehung steht die Oralität der Überlieferung in afro-amerikanischer Musik zur Schriftlichkeit einer jeden analytischen Herangehensweise?

Cugnys Ziel ist es eine Art Fahrplan zur analytischen Herangehensweise an Jazz zu geben. Weder die Methoden der klassischen Musikwissenschaft noch die der Musikethnologie, meint er, seien dem Jazz als einer improvisierten Musik wirklich angemessen. Um Jazz zu analysieren, reiche es nicht aus, bloß auf musikalische Strukturen oder motivische Beziehungen zu schauen; man müsse daneben jede Menge weiterer expressiver Techniken berücksichtigen.

In einem ersten Großkapitel untersucht Cugny das Jazz-Œuvre, wie man also Musik als “Text” behandeln kann, wie sich komponierte Strukturen, die Bedeutung von Improvisation und analytische Strukturen beschreiben lassen. Er unterscheidet zwischen der Analyse vorausbestimmter Faktoren (“moment avant”), etwa der Herkunft und Geschichte der zugrunde liegenden Komposition und ihrer formalen und harmonischen Struktur, sowie der Analyse progressiver Faktoren (“moment après”), unter denen er die Entwicklung einer Interpretation und/oder Improvisation versteht. In einem zweiten Großkapitel betrachtet Cugny dann die verschiedenen Parameter, die sich analysieren lassen: Harmonik, Rhythmik, Melodik, Form und Sound. Im dritten Teil schließlich beschäftigt sich Cugny mit der Geschichte der Jazzanalyse. Er unterscheidet rein harmonische, melodische, rhythmische oder formale Analysen, Analysen, die sich auf einzelne Soli beschränken, vergleichende Analysen und so weiter, und gibt dem Leser einen Leitfaden an die Hand, wie er unterschiedliche analytischen Werkzeuge für seine eigenen Zwecke verwenden kann. Er beschreibt die Möglichkeiten und Probleme der Transkription für die musikalische Analyse und gibt Beispiele für stilistische, semiotische und beschreibende Analysen.

Cugnys Buch ist mit weit über 500 Seiten keine leichte Lektüre, sondern eher eine trockene Studie, für die wenigsten Leser in einem Stück zu konsumieren. Man kann darüber streiten, ob eine Strukturierung analytischer Ansätze, wie er sie anbietet, überhaupt sinnvoll ist oder ob es nicht viel mehr Sinn macht, auf die zu analysierende Musik von Fall zu Fall zu reagieren und dabei auf diejenigen konkreten Dinge Bezug zu nehmen, die die Fragestellung hergibt, mit der man an das jeweilige Stück Musik herangeht. Hier scheint Cugnys Methodik eher ein Leitfaden für angehende Jazzanalytiker zu sein, der diese aber schnell auf die falsche Fährte bringen kann, wenn sie vor lauter Analyse nämlich die Notwendigkeit der Fragestellung außer Acht lassen. Ein Problem des Buchs ist auch die Literaturlage, auf die sich Cugny bezieht: größtenteils französische und ein paar amerikanische musikwissenschaftliche Bücher und Aufsätze und eben gerade nicht jene Ansätze, die mit konkreten Fragestellungen an die Musik herangehen. Auch fehlt eine Diskussion der unterschiedlichen Möglichkeiten klassischer musikwissenschaftlicher und musikethnologischer Werkzeuge, gewiss auch eine Darstellung der Diskussionen, die aus der afro-amerikanischen Literaturwissenschaft einen geänderten Blick auf den Jazz entwickelten. Schließlich bekommt man schnell den Eindruck, als zöge Cugny die musikimmanente Analyse auf jeden Fall einer der Einbeziehung außermusikalischer Komponenten in die Diskussion vor – was mir eine im 21sten Jahrhundert eher erstaunliche Sicht der Dinge scheint.

(Wolfram Knauer, Februar 2010)


 

Bohuslav Martinů
herausgegeben von Ulrich Tadday
München 2009 (edition text + kritik)
160 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-3-86916-017-7

2009taddayDer Komponist Buhuslav Martinů wurde 1890 in Böhmen geboren, lebte und arbeitete in Prag, Paris und New York und starb im August 1959 in der Schweiz. Im Mai 1959 fand in Dresden ein Symposium über den Komponisten statt; der vorliegende Band enthält die dort gehaltenen Referate. Die Beiträge befassen sich mit Martinůs Kammermusik seinen sinfonischen Kompositionen und seinem Opernschaffen, außerdem mit seiner Rezeption in den USA sowie in Böhmen. Martinůs “Jazz-Suite” von 1928 widmet Daniela Philippi eine ausführliche analytische Diskussion, in der sie sich allerdings vor allem auf die Behandlung der Klavierstimme konzentriert und die Idee von “Jazz”, die Martinů dabei vorschwebte, nicht weiter thematisiert. Wolfgang Rathert reiht Martinůs Sinfonien in die Tradition einer amerikanischen Sinfonik ein, in der seit den 1920er Jahren (eigentlich schon seit Dvorak) versucht wurde, eine eigenständige Musiksprache auch durch die Verwendung originärer Themen zu kreieren, eine “amerikanische Moderne”, für die sich das Vokabular des Jazz besonders gut eignete. Anders aber als Dvorak, der in seiner amerikanischen Zeit mit “Aus der Neuen Welt” eine ur-amerikanische Sinfonie schrieb, waren Martinůs sechs Sinfonien “ganz tschechische Symphonien aus der Tradition der Nationalromantik”, wie Rathert schreibt. Zum Jazz und seiner Rezeption bei Martinů also nicht wirklich viel in diesem Bändchen, das eine musikwissenschaftliche Annäherung an den Komponisten und sein Werk bietet.

(Wolfram Knauer, Februar 2010)


 

Miles on Miles. Interviews and Encounters with Miles Davis
herausgegeben von Paul Maher Jr. & Michael K. Dorr
Chicago 2009 (Lawrence Hill Books)
342 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-55652-706-7

2009maher“Miles on Miles” folgt der musikalischen Entwicklung des Trompeters in seinen eigenen Worten, in Interviews, die Davis zwischen 1957 und 1998 gegeben hat. Paul Maher und Michael K. Dorr haben sich dabei vor allem auf solche Interviews gestütz, die relativ schwer zugänglich, selten oder gar bislang nie veröffentlicht wurden, darunter auch Transkripte einiger Radiointerviews. Den biographischen Anfang macht ein Interview, das George Avakian für die PR-Abteilung der Plattenfirma Columbia mit dem Trompeter machte und in dem er knapp über seine Kindheit und seine musikalische Entwicklung bis in die 1950er Jahre spricht. Nat Hentoffs “Afternoon with Miles Davis” von 1958 ist bereits anderswo erschienen und präsentiert Davis, wie er nachdenklich seine musikalische Ästhetik offenlegt, Platten aus seiner Sammlung kommentiert, von Billie Holiday und Louis Armstrong über das Modern Jazz Quartet bis zu Thelonious Monk und zurück zu Bessie Smith. Der Schlagzeuger Arthur Taylor brachte den eher öffentlichkeitsscheuen und Journalisten gegenüber oft abweisenden Miles Davis zum Reden, über Musik genauso wie über die Businessseiten seiner Karriere. Wenn ein Journalist wie Les Tompkins ihn tatsächlich auch zum Reden bringt, erkennt Miles das auch an: “Du hast Dir ein gutes Interview gekriegt. Das erste in drei Jahren”. Immer wieder wehrt er sich gegen das Wort “Jazz”, das er als rassistische Bezeichnung für die Musik ansieht. Al Aronowitz ist mit zwei Essays vertreten, in denen er über Miles, den Privatmann, den Partygänger und den Einfluss Jimi Hendrix’s auf Miles spricht. Ein langes Interview mit Leonard Feather präsentiert ihn eher zahm; in anderen Interviews gifted er über die Plattenfimen, die Tourbosse und die weiße Jazzkritik. Peinlich wird’s, als ein Radiomoderator, der wirklich nichts von Musik versteht, ihn zuhause erwischt und Miles mit Ihm Katz und Maus spielt, um ihn am Schluss einfach liegen zu lassen. Mit Cheryl McCall spricht Miles 1982 offen über Gesundheitsprobleme und Drogen. Drei nicht identifizierte Interviewausschnitte lassen ihn über Lippenproblemen, Mode und die Gründe sprechen, warum er die Plattenfirma Columbia verließ. Ben Sidran gelingt es, die ganze Zeit über nur über Musik mit Miles zu sprechen und den Trompeter am Ende mit der Bemerkung zu beeindrucken, dass sein Stück “Nardis” sein Name rückwärts sei. Mit Nick Kent spricht Miles unter anderem über Wynton Marsalis und die ästhetischen Unterschiede dessen und seiner musikalischen Welt. Robert Doerschuk spricht mit ihm für die Zeitschrift Keyboard über die Verwendung von Synthesizern in seinen Bands. Der Gitarrist Foley interviewt seinen gut gelaunten Chef anlässlich einer Fernsehshow. Das Buch schließt mit drei Features, die Mike Zwerin für die International Herald Tribune schrieb: über Miles, den “Prince of Silence”, Miles, den Maler, und Miles, den Filmschauspieler. “Miles on Miles” ist ein Case Book mit gut ausgewählten Interviews des Trompeters, die versuchen, die ganze Bandbreite seines musikalischen wie sozialen Lebens zu berühren. Ein Namensindex schließt den Band ab, der vielleicht nichts Neues bringt, in den O-Tönen aber überaus lebenswert ist.

(Wolfram Knauer, Februar 2010)


 

The Ghosts of Harlem. Sessions with Jazz Legends. Photographs and Interviews
von Hank O’Neal
Nashville 2009 (Vanderbilt University Press)
488 Seiten + CD, 75 US-$
ISBN: 978-0-8265-1627-5

2009onealHank O’Neal ist ein Tausendsassa: In den 1970er Jahren hatte er das Label Chiaroscuro gegründet, auf dem er insbesondere Musiker der älteren Generation produzierte, die auch im Alter noch hervorragend spielten. Er organisierte Konzerte und Jazz Festivals und machte sich auch als Fotograf einen Namen. Bei all dem war er immer ein guter Freund der Musiker, und das kommt diesem opulenten Buch zugute, das reich bebildert Interviews mit 42 Veteranen des Jazz enthält. Sie erzählen aus ihrem Leben und ihrer musikalischen Karriere, doch der das alles zusammenhaltende Faden ist der New Yorker Stadtteil Harlem, dem das Buch gewidmet ist.

O’Neal beginnt mit einem umfangreichen Kapitel über Harlem, das Zentrum schwarzer Musik in den 1920er bis 1940er Jahren und verfolgt den Niedergang des Musikgeschäfts im nördlichen Manhattan, bebildert das ganze mit Fotos davon, wie es heute aussieht an den Schauplätzen ehemaliger Band-Battles und Jam Sessions und entdeckt mit Freude, dass seit den 1990er Jahren der Stadtteil seine Musik wiederentdeckt hat. Das Kapitel “Discovering Lost Locations” allein ist den Kauf des Buchs wert, das versucht, Geschichte vor dem völligen Verschwinden aus dem kollektiven Gedächtnis zu bewahren.

Aber die Interviews sind nicht minder spannend. Andy Kirk erzählt darüber, wie  er 1920 zum ersten Mal nach New York kam, lässt uns an einigen Geschichten über seinen ehemaligen Manager Joe Glaser teilhaben (der dem Titel “Little Joe from Chicago” den Namen gab), schließlich über musikferne Berufe, die er in Harlem ausübte, etwa als Manager des Hotel Theresa auf der 125sten Straße. Benny Waters berichtet über Small’s Paradise in den 20er Jahren, über Piano-Cutting-Sessions im Reuben’s, in dem er an einem Abend Fats Waller, Art Tatum und Earl Hines hörte. Auch Doc Cheatham spricht über Small’s sowie über den Cotton Club, in dem er mit Cab Calloway spielte. Eddie Durham, weiß von Jimmie Luncefords Band zu berichten, mit der er seit 1935 spielte, erzählt vom Savoy Ballroom und von seiner Zeit bei Count Basie. Cab Calloway selbst berichtet über sein Engagement im Cotton Club, sowohl Uptown, wie auch Downtown; er spekuliert außerdem darüber, warum die Musikszene Uptown in den späten 1940er Jahren den Bach runter ging. Benny Carter erinnert sich an Clubs wie Leroy’s und an seine Zeit mit Chick Webb im Savoy Ballroom. Larence Lucie spricht über Gitarristenkollegen und über seine Aufnahmen mit Teddy Wilson und Billie Holiday. Jonah Jones erinnert sich an den Onyx Club, an Stuff Smith und seine Zeit mit Cab Calloway. Sammy Price berichtet, wie er den Produzenten Mayo Williams in seiner Heimatstadt Dallas getroffen hatte, der ihm später half, einen Vertrag mit der Plattenfirma Decca zu erhalten. Er habe immer in Harlem gelebt, auch wenn er selten Uptown gespielt habe. Danny Barker verrät, warum er aus seiner Heimatstadt New Orleans fortgegangen sei, um in New York heimisch zu werden und wie es in New York eine Art Club der New Orleanser Musiker gab.

Weitere Interviews etwa mit Sy Oliver, Buck Clayton, Maxine Sullivan, Franz Jackson, Al Casey, Buddy Tate, Dizzy Gillespie, J.C. Heard, Panama Francis, Joe Williams, Clark Terry, Billy Taylor, Illinois Jacquet und vielen anderen geben ein sehr persönliches und doch auch sehr professionell beleuchtetes Bild des Stadtteils. Sie alle erzählen von den Gigs, von den Arbeitsbedingungen, von verschiedenen Bands, der Lebendigkeit Harlems und vom Niedergang der Swingära, der quasi mit dem Niedergang Harlems als kulturellem Zentrum des Jazz einherging. O’Neal stellt Fragen zur Karriere und endet meist mit der Frage: Weißt Du noch, wann Du das letzte Mal in Harlem gespielt hast”, und die meisten der Musiker erinnern sich, dass das irgendwann Anfang der 1940er Jahre gewesen sein muss. Dizzy Gillespie und einige andere geben schließlich noch ein Bild des moderneren Harlem, des Bebop-Harlem mit Verweisen auf Minton’s Playhouse und Montroe’s Uptown House.

Alles in allem ist das ganze ein wunderbares Buchprojekt, ein “Coffetable book”, wie man so schön sagt, das sich trotz seiner Dicke leicht und schnell liest und einen hineinzieht in den Bann Harlems in den 20er bis 40er Jahren. Dem Buch heftet eine CD mit Aufnahmen Musikern aus dem Chiaroscuro-Stall bei, aufgenommen zwischen 1992 und 1996; swingender Mainstream-Jazz und zwischendurch auch ein paar O-Töne der Musiker.

(Wolfram Knauer)


 

I Feel a Song Coming On. The Life of Jimmy McHugh
von Alyn Shipton
Urbana 2009 (University of Illinois Press)
273 Seiten; 35,00 US-$
ISBN: 978-0-252-03465-7

2009shiptonAlyn Shipton hat seit Jahren eine erfolgreiche Radioshow. Im Juli 2003 fiel einer seiner Kollegen aus, und er wurde gebeten, eine Show mit einem gewissen Jimmy McHugh” zu machen. Doch nicht der Songwriter!, meinte Shipton, wohl wissend, dass der weit über 100 sein müsste. Tatsächlich handelte es sich um den Enkel des Komponisten, und nach einer lebhaften Show entschieden die beiden, dass Shipton mit dem material, das sich im Privatarchiv der McHughs befand, leicht eine Biographie schreiben ließe. Er beginnt mit McHughs Kindheit in Boston, seine Erfahrungen im Bostoner Opernhaus, wo er ab 1910 als Office Boy arbeitete und dabei Stars wie Caruso, Calli-Curci, John McCormack und andere hörte. Nebenbei nahm er Klavierunterricht und interessierte sich neben der klassischen auch für die populäre Musik des Tages. Bald arbeitete er als Song Plugger für verschiedene Musikverlage, zuletzt Irving Berlins Verlag, und lernte dabei, was einen erfolgreichen Song ausmachte. 1920 zog es ihn nach New York, wo er auf der Tin Pan Alley dem Song-Plugger-Beruf weiter nachging, dabei aber neben den Kompositionen anderer auch begann, seine eigenen Titel zu promoten. Für eine Weile hatte er quasi drei Berufe: Musiker, Song-Plugger und Komponist, bis er mit “Everything Is Hotsy Totsy Now” und “I Can’t Believe That You’re In Love With Me” erste größere Hits einfuhr. Shipton beschreibt die Überschneidungen zwischen dem Geschäft eines Komponisten im Geschäft des American Popular Song und der Jazzszene jener Jahre — und zwar sowohl der weißen wie auch der schwarzen Jazzszene. 1927 erhielt Duke Ellington seit legendäres Engagement im New Yorker Cotton Club, und Jimmy McHugh war bald einer der Co-Komponisten für die regelmäßig wechselnden Revuen. Er traf die Textdichterin Dorothy Fields, und bald schrieben die beiden ihre Titel zusammen. “I Can’t Give You Anything But Love, Baby” war eine ihrer frühesten Kollaborationen, später dann “Diga Diga Doo” und andere Songs für die Revue “Blackbirds of 1928”. 1929 verließen beide New York und zogen nach Hollywood, wo der aufkommende Tonfilm ihnen viel einträgliche Arbeit versprach. Aus dieser Zeit stammen “Exactly Like You” und “On the Sunny Side of the Street”. 1931 teilten sie ihre Arbeit zwischen Broadway und Hollywood auf und schrieben 1933 eine Operette ein wenig im Stil von Gilbert and Sullivan. Oft wurden die beiden von der Öffentlichkeit wie ein verheiratetes Paar angesehen, obwohl sie beide anderweitig verheiratet waren. Shipton berichtet über das Einkommen, das McHugh mit seinen unterschiedlichen Aktivitäten erzielte. 1935 folgte “I’m in the Mood for Love”; aber etwa zur selben Zeit tat sich Field mit Jerome Kern für ein paar Shows zusammen und die langjährige Zusammenarbeit Fields/McHugh war vorbei. Bald schrieb er für Filme mit dem Kinderstar Shirley Temple, aber auch für die für Carmen Miranda. In den späten 1930er Jahren tat er sich mit dem Textdichter Johnny Mercer zusammen und schrieb Hits wie “That Old Black Magic” oder “Blues in the Night”. Immer noch war es ihm wichtig, dass seine Songs nicht nur auf der Leinwand zu hören waren, sondern auch von Jazz- und Swingbands gespielt wurden. Nach dem Krieg war McHugh weiterhin einer der Stars der New Yorker High Society, insbesondere, da er nun mit der Klatschreporterin Louella Parsons ging. In den 1960er Jahren lebte er vor allem vom vergangenen Ruhm. Shipton portraitiert McHugh als einen zielstrebigen Fließbandarbeiter an der Maschinerie des American Show Business, macht genügend Ausflüge ins Private, um das Bild eines erfolgreichen, aber mit den üblichen privaten Problemen zu kämpfenden Prominenten zu zeichnen und hält sich mit musikalischen Bewertungen oder auch nur Beschreibungen der Musik McHughs zurück. Eine Auflistung der Kompositionen seines Helden fehlt leider, dafür gibt es etliche seltene Fotos aus dem Familienarchiv der McHughs. Das ganze ist in der Detailverliebtheit manchmal etwas langwierig zu lesen, dennoch eine hilfreiche Biographie, in der jede Menge Informationen über die Broadway- und Hollywood-Szene gegeben werden.

(Wolfram Knauer, Februar 2010)


 

Traveling Blues. The Life and Music of Tommy Ladnier
Von Bo Lindström und Dan Vernhettes
Paris 2009 (Jazz ‘Edit)
216 Seiten
ISBN 978-2-9534-8310-9

2009ladnierTommy Ladnier ist eine Art Rätsel der Jazzgeschichte. Der Ruhm des Trompeters, der mit extrem schönem und antreibendem Sound spielte, seit 1923 auf Platten dokumentiert ist, mehrfach Europa bereiste, sich in den 1930er Jahren zurückzog, um mit einem Schneider- und Bügelgeschäft sein Geld zu verdienen und 1939 an den Folgen von Alkohol und eventuell einer Geschlechtskrankheit verstarb, geht vor allem auf Hugues Pannasié zurück, der ihn zusammen mit Mezz Mezzrow 1938 quasi wiederentdeckte, aus seinem musikalischen Exil holte und erneut Aufnahmen mit ihm machte.

Bo Lindström und Dan Vernhettes sind Jazzfans und Privatforscher und haben mit ihrem Buch über Tommy Ladnier eine unglaublich sorgfältig recherchierte und bebilderte Biographie des Trompeters vorgelegt, die in 500 Exemplaren erschienen ist und neben Details zum Leben und zur Musik Ladniers jede Menge Information über die Rahmenbedingungen präsentiert, innerhalb derer Ladnier Musik machte.

Die Autoren beginnen mit der Kolonialgeschichte Louisianas und dem wechselvollen Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß, beschreiben die unterschiedlichen Gesetze, die das Zusammenleben der Sklavenbesitzer und ihrer Sklaven seit Zeiten Louis XIV regeln sollten und das reale Leben in Mandaville, einer Kleinstadt am nordöstlichen Ufer des Lake Pontchatrain, quasi gegenüber von New Orleans, wo Tommy Ladnier 1900 geboren wurde. Sie recherchieren die Familie des Trompeters, deren weiße Linie sie bis in die Schweiz zurückverfolgen, von wo Christian L’Adner stammte, der von Ludwig XV 1719 wegen Schmuggels und Schwarzmarkthandel in die Übersee-Strafkolonien verbannt worden war, und der als Urvater vieler Ladniers in Louisiana gilt. Eine Geburtsurkunde des Trompeters existiert nicht, und Lindström und Vernhettes spekulieren darüber, ob Willa Ladnier, die Frau seines Vaters, wohl wirklich die leibliche Mutter war oder ob Ladnier nicht vielleicht Kind einer Mischbeziehung und seine leibliche Mutter eine Weiße gewesen sei.

Sie beschreiben die Musik, die Ladnier in Mandaville gehört haben mag, den Einfluss durch Trompeter wie Bunk Johnson und Buddy Petit und begleiten Ladnier 1917 nach Chicago, wo er sich auf den Schlachthöfen verdingte, aber nebenbei all die großen Jazzmusiker hörte, die dort spielten, allen voran King Oliver. Ladnier war auch selbst bald als Musiker gefragt und machte 1923 seine ersten Plattenaufnahmen mit der Sängerin Monnette Moore; etwa zur gleichen Zeit außerdem Aufnahmen mit Jelly Roll Morton. Im Herbst des Jahres wurde er Mitglied der Blues Serenaders der Pianistin Lovie Austin, einer Band, mit der er Sängerinnen wie Ida Cox, Ma Rainey, Edmonia Henderson, Edna Hicks und Ethel Waters begleitete und im Dezember 1924 auch einige Instrumentaltitel einspielte.

1925 stieg Ladnier beim Sam Wooding Orchestra in New York ein, das sich kurz darauf zu einer Tournee nach Europa einschiffte. Die Tour begann im Admiralspalast Berlin, dann folgte das Thalia Theater in Hamburg, Stockholm, Kopenhagen, Prag, Budapest, Wien, Barcelona, Madrid, Paris, Zürich, wieder Berlin und schließlich Russland. Erst im Juli 1926 kehrte Ladnier von Danzig aus nach New York zurück. Dort jobbte er eine Weile, bis er als Ersatz von Rex Stewart ins Fletcher Henderson Orchestra engagiert wurde, mit dem er einige Platten einspielte, darunter den “The Chant”. Er reiste mit Henderson durchs Land, nahm nebenher ein paar Seiten mit Bessie Smith auf, und kündigte schließlich, um im Februar 1928 wieder bei Sam Wooding anzufangen. Der hatte bereits neue Europa-Pläne, und Ladnier reiste mit. Es begann ein weiteres Mal in Berlin, führte die Band, der diesmal auch der Trompeter Doc Cheatham angehörte, über Wien nach Konstantinopel, dann nach Hamburg, Bern, Mailand, Florenz und Nizza, wo Ladnier Wooding verließ. In der Folge spielte er mit Benny Peyton’s Band, mit Harry Fleming und in einer Revue des Tänzers Louis Douglas. Immer wieder kehrte er bei seinen Tourneen nach Paris zurück, wo er sich unter anderem mit Hugues Panassié anfreundete, dem französischen Jazzfan und -experten.

1930 stieg Ladnier in die Bigband des Sängers und Bandleaders Noble Sissle ein, der damals in Paris gastierte und mit dem er im Dezember des Jahres in die USA zurückkehrte. Dort gesellte sich der Band auch der Sopransaxophonist Sidney Bechet zu, der ähnliche europäische Erfahrungen gesammelt hatte wie Ladnier und mit dem sich der Trompeter daher schnell anfreundete. Mit Bechet gründete der Ladnier 1932 die Band “The New Orleans Feetwarmers”, die im Savoy Ballroom auftrat und auch Platteneinspielungen machten.Das Geschäft aber war schwer in jenen Jahren kurz nach dem Börsencrash, und 1933 eröffneten Bechet und Ladnier als Alternative zur Musik ein Schneider- und Bügelgeschäft in Harlem. Bechet zog sich bald wieder aus diesem “weltlichen” Beruf zurück, und das Geschäft existierte wohl gerade mal ein Jahr.

Zwischen 1934 und 1938 wird es dunkel in der Biographie Ladniers. Er habe sich nach Connecticut zurückgezogen, heißt es, wo er bei einem Freund gelebt habe. Über musikalische Aktivitäten in diesen Jahren ist jedenfalls nichts bekannt.1938 kam Hugues Panassié nach New York und wollte Aufnahmen im klassischen New-Orleans-Stil produzieren. Er tat sich mit dem Klarinettisten Mezz Mezzrow zusammen, und ihre erste Wahl für die Trompete war Tommy Ladnier. Sie fanden ihn, Pannasié unterhielt sich lange mit ihm, um die Aufnahmesitzung vorzubereiten (und einige Fotos auf der Straße in Harlem zu schießen); dann ging die Band im November und Dezember 1938 für insgesamt drei Plattensitzungen ins Studio. Am 23. Dezember organisierte John Hammond sein “From Spirituals to Swing”-Konzert in der Carnegie Hall und bat Sidney Bechet, eine New-Orleans-Besetzung zusammenzustellen, für die Bechet Ladnier engagierte. Glücklicherweise sind Mitschnitte des Konzerts gemacht und später veröffentlicht worden.

Am 1. Februar 1939 ging Ladnier zum letzten Mal ins Studio, wieder mit Mezz Mezzrow, um die Sängerin Rosetta Crawford zu begleiten. Er wohnte zeitweise bei Bechet, später dann bei Mezzrow in Harlem. Der fand ihn am 3. Juni tot im Sessel sitzend in seiner Wohnung. Ladnier wurde auf dem Frederick Douglas Cemetery in Staten Island, New York, beigesetzt.

Lindström und Vernhettes ist es gelungen, so viel Information wie irgend möglich über Tommy Ladnier zusammenzutragen, um aus den puzzlestein-artigen Versatzstücken ein eindrucksvolles Gesamtbild des Lebens und Wirkens eines schwarzen Musikers in den 1920er und frühen 1930er Jahren zusammenzubasteln. Sie bebildern das ganze mit teilweise seltenen Fotos, beschreiben neben den biographischen Details die Umstände, in denen Ladnier seine Musik machte und gehen mit knappen analytischen Absätzen und einzelnen Transkriptionen seiner Soli auch auf die Musik ein. Beide Autoren sind Fans, aber sie schreiben keine Hagiographie ihres Helden. Ihr Buch ist eine Fundgrube kleiner Informationen, die die Szenen jener Jahre beschreibt, durch die Tommy Ladnier gereist ist: New Orleans, Chicago, Europa, New York. Zum Schluss findet sich eine ausführliche Diskographie des Trompeters, in dem alle 191 Einspielungen, an denen Tommy Ladnier beteiligt war, aufgelistet sind.

Das Buch fast in LP-Format ist eine “labor of love”, eine opulente Dokumentation des Lebens eines Musikers, der scheinbar immer auf Reisen war: “Traveling Blues”.

(Wolfram Knauer, Januar 2010)


 

Jazz et société sous l’Occupation
von Gérard Régnier
Paris 2009 (L’Harmattan)
296 Seiten, 28,00 Euro
ISBN: 978-2-296-10134-0

2009regnierZusammen mit London und Berlin war Paris in den 1920er Jahren die wichtigste Stadt für den noch jungen europäischen Jazz. Frankreich hatte die afro-amerikanische Musik bereits kurz nach dem I. Weltkrieg umarmt, als James Reese Europe mit seiner Hellfighters Band in den befreiten Dörfern und Städten gefeiert wurde. Viele Künstler ließen sich in Paris nieder, das nicht nur eine amerikanische, sondern daneben auch eine afro-amerikanische Szene besaß. Sie lebten dort auch in den 1930er Jahren und planten Tourneen ins benachbarte Ausland, wobei Deutschland mehr und mehr umrundet werden musste, weil die Nazis hier den Jazz unterdrückten und seinen Künstlern die Auftrittsmöglichkeiten nahmen.

Am 10. Mai 1940 begannen die deutschen Streitkräfte ihre Westoffensive; am 25. Mai wurden die “dancings”, Tanzsäle und Cabarets in Paris, geschlossen; am 14. Juni marschierten die Deutschen in Paris ein; am 4. Juli wurde ein fester Wechselkurs zwischen Franc und Reichsmark eingeführt; am 11. Juli waren die meisten Tanzhallen und Cabarets bereits wieder geöffnet. Jazz stand zwar auf der Bannliste der Nazis, aber in den besetzten Gebieten gab es wohl dringendere Aufgaben als ein Verbot dieser Musik durchzusetzen. Auch während der Besatzung jedenfalls konnte man in Frankreich Jazz hören, im Konzert, beim Tanzen, im Radio oder von Schallplatten. Auch hier allerdings wurden die Titel oft genug abgeändert, um die neuen Machthaber nicht zu provozieren. Aus “Lady Be Good” wurde dann “Les Bigoudis” oder “Soyez bonne madame”, aus “In the Mood” “Ambiance” oder “Dans l’ambiance”, aus “Blue and Sentimental” einfach “Bleu et sentimental”.

Eine Überlebensstrategie, die französische Jazzfans sich gleich zu Beginn der Besatzung ausdachten, war die Auslobung eines spezifischen “jazz français”. Gérard Régnier verfolgt die Aktivitäten der Szene um Charles Delaunay, den Hot Club de France und die bisherigen Spielstätten für Jazz insbesondere in Paris. Er beschäftigt sich damit, wie Jazz im Radio präsentiert wurde, beschreibt, wie das Vichy-Regime im Oktober 1942 einen Jazzbann aussprach, woraufhin die regelmäßigen Jazzsendungen etwa von Hugues Panassié von Marseille aus ausgestrahlt wurden. Auch im Schweizer Rundfunk ließen sich Jazzsendungen hören, und Radio Nimes brachte etwa am 18. Mai 1943 eine Sondersendung mit Musik von Django Reinhardt. Es gab zwar Tanzverbote, die aber nicht lange anhielten, wie Régnier aus einer zeitgenössischen Quelle zitiert: “Die Pariser mögen auf Essen und Rauchen verzichten und ein bisschen weniger Wein trinken. Aber sie gehen weiterhin ins Kino und ins Theater.” Die Erlasse trieben den Jazz höchstens noch mehr in die Keller als schon zuvor, in private Clubs, zu sogenannten “Tanzkursen” und subkulturellen Überraschungsparties. Letzten Endes aber verzeichnete das Moulin Rouge 1942 mehr als 60 Prozent mehr Zuschauer als noch 1941. Selbst in der deutschsprachigen “Pariser Zeitung” wurde 1941 “Der weltberühmte  Django Reinhardt und das Quintett des Französischen Hot-Club” angekündigt.

Régnier verfolgt die Aktivitäten der beiden Hot-Club-Lenker Hugues Panassié, der auch während der Besatzung weiterhin Rundfunksendungen moderierte und Bücher publizierte (zum Schluss, 1944, in Genf), und Charles Delaunay, der versuchte, das Jazzleben in Paris mit unzähligen Konzerten am Laufen zu halten. Neben der Hauptstadt schaut Régnier aber auch auf andere Zentren, deren Jazzclubs sich im Hot Club de France zusammengeschlossen hatten, auf Bordeaux etwa oder Rennes, auf Le Mans, Angers, Troyes, Valenciennes, Marseille und Strasbourg, das ja nicht nur besetzt, sondern von den Deutschen annektiert worden war. Er wirft einen Blick auf die Konzentrationslager der Deutschen, in denen auch Jazzmusiker inhaftiert waren (die wohl als Soldaten gegen die Deutschen gekämpft hatten). Er berichtet über die Zazous und die “petits swings”, also die Swingfans, die dem Jazz vor allem als Modeerscheinung anhingen.

Ein eigenes Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, ob der Jazz denn nun wirklich offiziell verboten war oder ob es sich dabei vor allem um eine Legende handelt. Régnier schaut sich die Erlasse der Besatzungsmacht durch, beleuchtet die Kontrollen der “Propagandastaffel” bei Konzerten und in Cabarets, berichtet über Zensur im Radio und Behinderungen bei Plattenaufnahmen. Ein eigenes Kapitel beschäftigt sich mit den jüdischen Musikern in Frankreich, mit der Judenverfolgung in den besetzten Gebieten genauso wie im Vichy-Regime, die viele Menschen – darunter auch Musiker – dazu zwang, sich zu verstecken oder abzusetzen. Einige schwarze amerikanische Musiker waren in Frankreich geblieben; der Trompeter Arthur Briggs etwa wurde verhaftet und leitete in der Kaserne von Saint-Denis ein Orchester britischer Gefangener.

Schließlich befasst sich Régnier auch mit Django Reinhardt, in einem Kapitel, das er “Le cas Django Reinhardt” überschreibt”, “Der Fall Django Reinhardt”. Die Nazis hatten auch die “Zigeuner” in ihr “Endlösungs”-Programm einbeschlossen und Tausende Roma ermordet. Django Reinhardt aber war selbst bei Wehrmachtsoffizieren beliebt. Angeblich wollte der deutsche Kommandant, das Reinhardt auf eine Deutschlandtournee gehen solle, aber der Gitarrist weigerte sich, was ein Grund für seine Verhaftung im November 1943 gewesen sei, als er versuchte, die Schweizer Grenze zu passieren.

Kapitel 4 wendet sich den ideologischen Diskursen zu, die in jenen Jahren um den Jazz geführt wurden. Das Vichy-Regime sah im Jazz ein Zeichen des moralischen Verfalls und hielt ihm die heimische Folklore entgegen. Musiker, die für die deutschen Machthaber spielten oder gar Tourneen durch Deutschland absolvierten wie etwa Raymond Legrand, Charles Trenet oder Édith Piaf, wurden in der Szene schnell als Kollaborateure abgestempelt. Der Jazz war nie formell verboten, schlussfolgert Régnier; wenn überhaupt, dann stellte Jazz vielleicht eine Art “passiver Résistance” dar. 1944 wurde Paris von den Amerikanern befreit, Régnier wirft einen Blick auf die neue musikalische Freiheit, auf Konzerte der Royal Air Force Band, Glenn Millers Aufenthalt in Frankreich und die Sendungen auf AFN.Das Buch endet mit einer chronologischen Zeittafel der Ereignisse, einer ausführlichen Bibliographie sowie Quellendokumenten im Faksimile.

Régniers Arbeit ist ohne Zweifel Grundlagenforschung erster Güte – hervorragend recherchiert, lesenswert geschrieben und bei aller Nüchternheit der Fakten durchaus spannend zu lesen.

(Wolfram Knauer, Januar 2010)


 

Herbie Nichols. A Jazzist’s Life
von Mark Miller
Toronto 2009 (Mercury Press)
224 Seiten, 19,95 US-$
ISBN: 978-1-55128-146-9

2009millerDer Pianist Herbie Nichols war ein “musicians’ musician”, ein Musiker, der vor allem bei  seinen Kollegen bewundert war, aber in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt wurde. Bei einem Kneipenbesuch habe er dessen Musik Jahren zufällig gehört, erzählt Miller in seinem Vorwort, und dann Frank Kimbraugh in New York angerufen, von dem er wusste, dass er viel Material über den Pianisten, sein Leben und seine Musik gesammelt hatte, um zu fragen, ob irgendwer sonst dessen Biographie schreibe. Nur wenig schriftliche Quellen standen ihm zur Verfügung und auch von den Musikern, die mit Nichols enger zusammengearbeitet hatten, lebten nicht mehr viele. Die Fakten, die Miller  findet, verbindet er in seinem Buch mit einer Einordnung in die gesellschaftlichen und lokalen Verhältnisse der Zeit. Er erzählt, wie Nichols als Sohn von Eltern zur Welt kam, die aus Trinidad in die USA immigriert waren. Nichols nahm Klavierunterricht, entwickelte eine Liebe für russische Komponisten — Tschaikowski, Strawinsky, Rachmaninow — hörte aber auch die Jazzpianisten seiner Zeit, Jelly Roll Morton, Earl Hines, Duke Ellington, und spielte etwa ab 1937 mit den Royal Barons, einer Tanzkapelle. In den frühen 1940er Jahren war er in den Bebop-Kneipen präsent, auch wenn er, wie Leonard Feather berichtete, von den jungen Beboppern nicht ganz anerkannt und schon mal vom Klavierhocker vertrieben wurde. Von 1941 bis 1942 war er in der Army, spielte danach in einem Cabaret in Harlem und schrieb außerdem eine Kolumne für die Zeitschrift “The Music Dial”, in der er die Szene kommentierte und Thelonious Monks seltsame Musik lobte. Es dauerte nicht lang und auch Nichols gehörte zu dem Kreis, der sich um Monk bildete. In den späten 1940er Jahren arbeitete er mit Illinois Jacquet und John Kirby, gab außerdem Unterricht in “Jazz Theory – Bebop”. Er freundete sich mit Mary Lou Williams an, die drei seiner Kompositionen einspielte. Nichols selbst nahm erst im März 1952 sein erstes Album für das Label Hi-Lo auf, das eigentlich den Gospel- und R&B-Markt anpeilte. Seiner Karriere half das wenig — er musste Dixieland- und R&B-Gigs spielen, um sich über Wasser zu halten. 1955 nahm er seine erste Platte für das Blue-Note-Label auf und bekam damit endlich eine größere Sichtbarkeit sowohl in der Fachpresse als auch auf der New Yorker Szene — und zwar mit seiner eigenen Musik. Das Magazin Metronome brachte einen ausführlichen Artikel, in dem Nichols seine musikalische Ästhetik darlegen und erklären konnte, dass seine Definition des Jazz eher eine lockere sei: Jazz sei jede Art von Musik, die mit einem Swing-Beat gespielt werde und irgendeine Art von Improvisation enthalte. 1956 begleitete er für kurze Zeit Billie Holiday, die seinen Song “Serenade” als “Lady Sings the Blues” aufnahm. Nebenbei schrieb er Gedichte, die er an Freunde schickte und von denen Miller einige abdruckt. 1958 war Nichols allerdings schon wieder weitgehend von der Szene verschwunden, tauchte noch einmal kurz bei einer Mainstream-Session des Trompeters Joe Thomas auf, die zugleich seine letzte Einspielung sein sollte. Er trat mit Sheila Jordan auf und gab Roswell Rudd informellen Unterricht. 1961 zeichnete sich allerdings bereits ab, dass es mit seiner Gesundheit nicht zum Besten bestellt war. Immerhin reiste er 1962 zum ersten Mal nach Europa, wo er mit seinem Trio in Helsinki beim Festival “Young America Presents” mitwirkte. Anfang 1963 ging es ihm immer schlechter, und die Ärzte diagnostizierten Leukämie. Herbie Nichols starb am 12. April. Miller erzählt die Geschichte des Pianisten entlang der Quellen — Zeitungsberichten, Zeitzeugeninterviews, Plattenaufnahmen, Liner Notes. Er beschreibt ein Leben zwischen Avantgarde-Ästhetik und Entertainment zum Brotverdienen, das Leben eines klugen, selbstbewussten Mannes, dem dennoch der populäre Erfolg und die große Anerkennung zu Lebzeiten versagt blieben. Nach seinem Tod wurde er irgendwann wiederentdeckt, von Misha Mengelberg etwa, der zeitlebens ein Nichols-Fan war oder vom New Yorker Pianisten Frank Kimbraugh, der ein eigenes Nichols-Projekt auf die Beine stellte, aber auch von Roswell Rudd und vielen anderen Musikern — aus der ganzen Welt. Millers Buch ist gerade deshalb lesenswert, weil über Nichols so wenig bekannt ist. .A.B. Spellman hatte in seinem Buch “Black Music. Four Lives” die bislang ausführlichste Würdigung Nichols’ verfasst, auf die sich auch Miller immer wieder stützt. Dazu aber sammelt Miller genügend weiteres Material, um seine Biographie zu einem neuen Standardwerk über den Pianisten zu machen. Die musikalische Bewertung überlässt er dabei Musikerkollegen; hier also wäre noch einiges zu leisten, obwohl Roswell Rudd da bereits selbst ein spannendes Büchlein vorgelegt hat. Zum Schluss seines Buchs gibt es eine Diskographie der Aufnahmen, an denen Nichols selbst beteiligt war, sowie von Platten anderer Künstler, auf denen Nichols-Kompositionen gespielt wurden.

(Wolfram Knauer, Januar 2010)


 

Das große Buch der Trompete, Band 2
von Friedel Keim
Mainz 2009 (Schott)
482 Seiten, 39,95 Euro
ISBN: 978-3-7957-0677-7

2009keimFriedel Keim veröffentlichte 2005 sein “Großes Buch der Trompete”, das auch auf dieser Website gewürdigt wurde. Nur vier Jahre später legt er einen Ergänzungsband vor, der mehr als halb so dick wie der ursprüngliche Band ist und den in Band 1 enthaltenen 2.043 Biographien noch einmal 757 Kurzbiographien hinzufügt. Wieder ist Keim genreübergreifender Detektiv, forscht nach Geburts- und Sterbedaten selbst von Musikern, die nicht in der ersten Reihe standen, sondern vielleicht eher zu den zweitrangigen Musikern ihres Faches gehörten bzw. gehören. Seine Liebe gilt deutlich dem Jazz, aber klassische Trompeter finden genauso ausführlich Erwähnung wie Musiker aus dem Showgeschäft oder aus dem Rock- und Popbusiness. In Band 2 gibt es nicht mehr die anz großen Stars — die wurden bereits im ersten Band abgefeiert. Dafür finden sich viele Musiker, die einem kaum ein Begriff sind, deren Namen man aber von den Besetzungslisten großer Bands erinnert, wenn man ihre Biographie liest. Außerdem gibt es Ergänzungen und Korrekturen zum ersten Band und einige lesenswerte Kapitel etwa über die Trompete im (insbesondere deutschen) Fernsehen, die Trompete in der Literatur, Weiterentwicklungen des Instruments, eine ausführliche Bibliographie von Trompetenschulen sowie ein “Trompeten-Kuriositäten” überschriebenes Kapitel, in dem Keim etwa über Trompetenärmel in der Mode sinniert oder eine Trompetenwette aus “Wetten Dass…?” beschreibt, ein Lippenmassagegerät vorstellt und über einen Zwischenfall am Pariser Flughafen berichtet, bei dem Valery Ponomarev seine Trompete nicht aufgeben,. sondern als Handgepäck mitnehmen wollte, worauf es zu einem Handgemenge kam, bei dem er sich den Arm brach. Keim ist Mainzer, also ist der Schelm nicht weit, und ein paar Witze gibt’s auch, etwa diesen: “Ein Trompeter übt jeden Tag volle acht Stunden lang. Da sagt ein Kollege zu ihm: ‘Wie schaffst du das nur? Also ich könnte das nicht.’ ‘man muss eben wissen, was man will.’ ‘Und was willst du?’ ‘Die Wohnung nebenan!'” Ein Nachschlagewerk, das es also nicht an Abwechslung mangeln lässt, spannend zu durchblättern und für Trompetenliebhaber — wie schon Band 1 — ein absolutes Muss.

(Wolfram Knauer, Januar 2010)


 

Clarinet Bird. Rolf Kühn. Jazzgespräche
von Maxi Sickert
Berlin 2009 (Christian Broecking Verlag), passim (F)
242 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-938763-10-0

2009sickertEs ist vielleicht das spannendste deutsche Jazzbuch des Jahres 2009, und man wundert sich, warum niemand früher auf die Idee gekommen ist, die Geschichte des Klarinettisten Rolf Kühn festzuhalten, der in den späten 1940er und den 1950er Jahren als junger Star des deutschen Jazz gefeiert wurde, den es dann nach New York verschlug, wo er mit Benny Goodman und Billie Holiday spielte, bevor er in den 1960er Jahren wieder zurück nach Deutschland kam, sich — auch angespornt durch das Zusammenspiel mit seinem jüngeren Bruder Joachim — avancierteren Stilrichtungen zuwandte, bevor er in den 1980er Jahren vor allem als Dirigent und Filmkomponist in Erscheinung trat. Die Liebe zum Jazz aber ließ ihn nie los, und von ihr handelt dieses Buch. Maxi Sickert lässt Rolf Kühn erzählen, über seine Kindheit in Leipzig, seinen Onkel und seine Tante, die als Juden in Auschwitz ermordet wurden, über seine Eltern und die Arbeit seines Vaters als Zirkusakrobat, über die ersten Klarinettenstunden und den ersten Jazz, über Jutta Hipp, den RIAS und das 1. Deutsche Jazz Festival in Frankfurt. Er traf den amerikanischen Klarinettisten Buddy De Franco und entschied sich, nach Amerika zu gehen, traf dort auf Friedrich Gulda und John Hammond, der seine erste amerikanische Platte produzierte. Ein langes Kapitel befasst sich mit Benny Goodman, in dessen Orchester Kühn von 1958 bis 1960 saß. 1960 spielte er mit Jimmy Garrison im Small’s Paradise; damals wohnte er auf der 87sten Straße im selben Haus wie Billie Holiday. Für Cannonball Adderley schrieb er Streicherarrangements und war danach auch sonst als Arrangeur für Platten und Werbefilme aktiv. 1961 kehrte Kühn zurück nach Deutschland. In den 1960er Jahren trat er oft bei den legendären NDR Jazz-Workshops auf, lernte außerdem Dirigieren. 1966 war Kühn bei der Uraufführung von Gunther Schullers Oper “The Visitation” in Hamburg mit von der Partie, die neben dem klassischen Klangkörper auch ein Jazzensemble verwandte (und hier erzählt neben Kühn auch Schuller persönlich). Ebenfalls 1966 floh Joachim Kühn aus der DDR und die beiden Brüder taten sich in einer neuen Band zusammen. Sie traten 1967 beim Newport Jazz Festival auf und nahmen die Platte “Impressions of New York” auf. (Auch Joachim Kühn kommt ausführlich zu Wort im Buch.) Rolf Kühn erzählt über Joachim Ernst Berendt und das Plattenkabel MPS, über die Tücken seines Instruments, der Klarinette, und seine Begegnung mit Ornette Coleman. Schließlich erzählt er von seiner jüngsten Band, einem Trio mit dem Schlagzeuger Christian Lillinger, dem Gitarristen Ronny Graupe und dem Bassisten Johannes Fink. Und in einem “Letze Fragen” überschrieben Rundumschlag äußert er sich über Drogen, Rassismus, Musicals und die Eigenständigkeit des deutschen Jazz. Ausgespart sind seine Zeiten als musikalischer Leiter des Theater des Westens, Informationen über seine Filmmusiken oder persönlichere Erfahrungen, etwa in seiner Ehe mit der Schauspielerin Judy Winter. Aber dann heißt der Untertitel des Buchs ja auch “Jazzgespräche”. 35 Seiten mit seltenen Fotos runden das Buch ab, das von Maxi Sickert zu einer äußerst lesenswerten und unterhaltsamen Reise durch die deutsche Jazzgeschichte und die Entwicklung eines vielschichtigen Musikers zusammengefasst wurde, ein Buch das vieles erklärt, was in vielleicht sachlicheren Büchern zur Jazzgeschichte nicht erwähnt wird, was aber die Schubladen ein wenig durcheinander rüttelt, weil sich Jazzbiographien nun mal selten in einer einzigen ästhetischen Schublade abspielen. Es ist ein Musterbeispiel einer von der Herausgeberin mit sicherer Hand geführten Autobiographie, die am Schluss neugierig macht auf den Klang des Protagonisten, der dankenswerter Weise zum 80sten Geburtstag Kühns auf etlichen CD-Wiederveröffentlichungen wieder greif- und hörbar ist.

(Wolfram Knauer (Januar 2010)


 

The Year Before the Flood. A Story of New Orleans
von Ned Sublette
Chicago 2009 (Lawrence Hill Books)
452 Seiten
ISBN: 978-1-55652-824-8

2009sublette2Wo Ned Sublette in seinem bereits besprochenen, vielgerühmten Buch zur Kolonialisierung von New Orleans die Frühgeschichte der Stadt erzählt, in der der Jazz geboren wurde, da beleuchtet er in seinem neuesten Buch die Stadt in der Gegenwart des Jahres 2005, im Jahr vor dem Hurricane Katrina, der die Stadt in ihren Grundfesten erschütterte, nicht nur die architektonische Schäden anrichtete, sondern die Struktur der Stadt als soziales Gebilde, ja sogar ihre bloße Existenz in Frage stellte. Das Manuskript über das Leben in New Orleans war ebreits weit forgeschritten, als der Hurricane am 27. August 2005 auf die Stadt am MississippiDelta zustürmte.Jeder in New Orleans habe gewusst, dass eine Katastrophe bevorstand, und jeder habe es offenen Auges verdrängt. Auch die Armen hätten es gewusst, und sie hätte es am stärksten getroffen. Sie seien schließlich mit OneWayTickets aus der Stadt gebracht worden und ihre Rückkehr sei durch Bürokratie oder die Dampfwalzen der Regierung erschwert oder unmöglich gemachtt worden. Das Buch entstand parallel zu seinen Forschungen zu den kulturellen Verbindungen zwischen New Orleans, Kuba und Santo Domingo im 18. und 19. Jahrhundert. Nach Katrina lag das Manuskript auf seinem Schreibtisch; die Folgen des Hurricanes waren so enorm, dass Sublette das Buchthema änderte und neben den sozialen und kulturellen Bedingungen der Stadt auch deren Bezug zur Gegenwart aufzeigen wollte, zur Zeit vor und zur Zeit nach Katrina. Das Buch enthält viele autobiographische Notizen — Sublette lebte bis zu seinem neunten Lebensjahr in New Orleans — hier finden sich die meisten und eindringlichsten historischen Informationen über den alltäglichen Rassismus der 50er, 60er und 70er Jahre und die Probleme ihn zu überkommen. Ein längerer Exkurs erzählt die Geschichte des rassistischen Films “The Birth of a Nation” von 1915, daneben aber auch Sublettes eigenen Erlebnisse mit dem Rassismus des amerikanischen Süden oder über die Arbeitsmöglichkeiten für schwarze Musiker im New Orleans der 1950er Jahre. Er erzählt Geschichten über seinen Aufenthalt für die Recherchen zu dem Buch, im jahr vor Katrina, über die sozialen Ungleichheiten der Stadt, über den Kulturschock, den er als mittlerweile New Yorker bei der Rückkehr in den Süden empfand, über alte Jazzmusiker und die Hip-Hop-Szene der Stadt, über Mardi Gras und die karribischen Verbindungen, über das JazzFest, Super Sunday und den “mörderischen Sommer” vor dem Hurricane. Schließlich der kürzere dritte Teil des Buchs, geschrieben nach Katrina, im Schock der Ereignisse und der hilflosen Versuche einer Rettung der Stadt. New Orleans sei immer anders als alle anderen Großstädte der USA gewesen, schreibt Sublette: Die Stadt mit dem unsichersten Boden des Landes wurde bewohnt von den Menschen mit den tiefsten Wurzeln. Die meisten der Menschen, die in New Orleans lebten, waren sein Generationen in der Stadt verwurzelt. Genau das ist es, was er in seinem Buch nachzuzeichnen evrsucht, und die persönliche Betroffenheit, mit der er Gegenwart, Geschichte und Autobiographisches verwebt macht das Buch zu einer spannenden Lektüre, die einen zurückläßt einw enig wie der Blues: traurig, aber hoffend und in jedem Fall beeindruckt vond er Stärke der in die Geschichte verwickelten Menschen.

(Wolfram Knauer)


 

Ellington Uptown. Duke Ellington, James P. Johnson, and the Birth of Cool Jazz
von John Howland
Ann Arbor 2009 (University of Michigan Press)
340 Seiten, 28,95 US-$
ISBN: 978-0-472-03316-4

2009howlandWenn man von “sinfonischem jazz” spricht, so tut man das in Jazzerkreisen meist etwas herablassend und denkt an die Aufnahmen Paul Whitemans, der eine “Lady” aus dem Jazz machen wollte, die raue Musik der Afro-Amerikaner in schöne Kleider verpacken, sie aus den Kaschemmen nehmen und in die Konzertsäle des Landes bringen wollte. Nun ist das schon mit der Verteufelung Paul Whitemans so eine Sache: Nicht nur hatte er in seiner Band immer hervorragende Jazzsolisten (Bix Beiderbecke etwa oder Frank Trumbauer, aber auch Joe Venuti, Jack Tegarden und viele andere). Vor allem aber gehörchte sein ästhetisches Konzept völlig anderen Gesetzen als das des Jazz derselben Zeit — ihn also nach den Maßstäben zu messen, die man an Armstrong, Morton, Ellington, Henderson und andere anlegte, wäre beiden Seiten gegenüber völlig unangemessen. John Howland beleuchtet in seinem Buch eine oft vergessene Seite dieses “sinfonischen Jazz”, die Annäherung von schwarzen Jazzkomponisten ans Oeuvre ihrer klassischen Kollegen. Schon ältere Musiker wie Will Marion Cook, Will Vodery, James Reese Europe und andere hatten mit ihrer Musik nicht nur auf die Tanz-, sondern auch auf die Konzertsäle gezielt, wollten eine Musik schreiben, die nicht nur in die Beine ging, sondern auch als Konzertmusik überdauern konnte. Vor allem der Pianist und Komponist James P. Johnson sowie der Pianist und Bandleader Duke Ellington nahmen sich des Oeuvres eines Konzertjazz ernsthaft und langfristig an und schrieben Kompositionen, die die üblichen formalen und ästhetischen Modelle des Jazz durchbrachen. Howland diskutiert die grundsätzliche Idee eines “sinfonischen Jazz”, wie sie sich erstmals in Paul Whitemans Aeolian-Hall-Konzert “First Experiment in Modern Music” von 1924 zeigte und die Reaktionen auf Jazz und “Kunst-Jazz” von ganz unterschiedlichen Seiten: jener der klassischen Kritiker genauso wie jener der Wortführer der Harlem Renaissance, die jedem künstlerischen Konzept gegenüber weitaus aufgeschlossener waren als einer schwarzen Folklore. In einem ersten Kapitel beschreibt Howland das vielfältige Beziehungsgeflecht zwischen Jazz, Blues und schwarzem Entertainment, innerhalb dessen auch Johnson und Ellington ihre oft für die Bühne konzipierten Werke erarbeiteten. Ein zweites Kapitel ist Johnsons “Yamekraw” gewidmet, einer Komposition, die auf volksmusikalischen Melodien aus den amerikanischen Südstaaten (Georgia, South Carolina) basiert. Im dritten Kapitel beschreibt er, wie die Konzertambitionen und die Bühnenmusikerfahrungen beider Komponisten, Johnson und Ellington, sich gegenseitig beeinflussten, analysisert Ellingtons Cotton-Club-Shows oder seinen Kurzfilm “Symphony in Black”, um dann im vierten Kapitel die “extended compositions” des Duke zu untersuchen, von “Rhapsody Junior” (1926) bis zu “Black, Brown and Beige” (1943) und sie mit Kompositionen aus dem Whiteman’schen Oeuvre zu vergleichen. Für ein Kapitel über Johnsons “Harlem Symphony” greift Howland auf bislang unbekanntes Material im Johnson-Nachlass zurück und betrachtet in einem sechsten Kapitel Ellingtons Carnegie-Hall-Konzerte über die Jahre und die programmatischen Ideen, die ihnen zugrunde lagen. Sein Schlusskapitel vergleicht die unterschiedlichen ästhetischen Ansätze seiner beiden protagonisten und diskutiert ihren ästhetischen wie kompositorischen Einfluss. Howlands Buch deckt damit eine vielfach vernachlässigte Seite der Jazzgeschichte auf, in gründlich recherchierten, mit Notenbeispielen und Formanalysen durchsetzten Argumentationssträngen, die einmal mehr klar machen, dass viele Jazzmusiker, die man allgemein vor allem für ihre gutgelaunte Musik schätzt, ganz andere Motivationen hatten, dass noch hinter dem swingendsten Stück Musik jede Menge ästhetischen Wollens stecken kann — wenn man nur weiß, wo man schauen muss.

(Wolfram Knauer)


 

Jazz und seine Musiker im Roman. “Vernacular and Sophisticated”
von Alexander Ebert
Hamburg 2009 (Verlag Dr. Kovac)
326 Seiten, 68 Euro
ISBN: 978-3-8300-4567-0

2009ebertDer Jazz war immer wieder Thema der Literatur, ob in seiner improvisatorischen Faszination oder in der Persönlichkeit von Jazzmusikern, also als ein Idealbild des Künstlers, wie es eh gern in Romanen thematisiert wird. Alexander Ebert untersucht in seiner im Fachbereich Amerikanistik verfassten Dissertation sieben Romane, in denen Jazz oder Jazzmusikern eine wichtige Rolle zukommt: Langston Hughes’ “Not Without Laughter” (1930), Dorothy Bakers “Young Man With a Horn” (1938), Ralph Ellisons “Invisible Man” (1952), John Clellon Holmes “The Horn” (1958), Albert Murrays “Train Whistle Guitar” (1974), Michael Ondaatjes “Coming Through Slaughter” (1979), Toni Morrisons “Jazz” (1992) sowie als Einleitung F. Scott Fitzgeralds “The Great Gatsby”. Ebert untersucht sie auf die unterschiedliche Bedeutung des “vernacular”, also eines spezifisch afro-amerikanischen Umgangs mit Sprache (und Musik) und auf die Beziehung dieses “vernacular” mit Aspekten des Blues oder des Jazz (bzw. besser: des Blues- oder des Jazzspielens, oder gar: des Blues- oder des Jazzlebens). Es ist eine Dissertation, also keineswegs Einführungsliteratur zum Thema, und Eberts Bezüge auf Sekundärliteratur können den ungeübten Leser leicht stärker irritieren als sie ihm die Dinge veranschaulichen, zumal sie in der Regel unkommentiert und höchstens zur Unterstreichung der eigenen Argumentation übernommen werden. Es ist das alte Probelm deutscher Dissertationsordnungen, die Doktoranden dazu verdonnern ihre Dissertationen im Ton der Doktorarbeit zu veröffentlichen statt sie für die Publikation “leserlicher” zu machen. In den USA läuft das anders: Aus Dissertationen entstandene Buchpublikationen müssen grundsätzlich in eine Schriftfassung gebracht werden, von der der Verlag der Meinung ist, dass sie sich sich auch auf dem (Fach-)Markt behaupten kann. Das allerdings wird schwierig mit Sätzen wie: “Die durch das blues idiom transformierten, in das Verhaltensschema der einzelnen Charaktere implantierten affirmativen Selbstdarstellungscharakteristika werden von den hier behandelten afroamerikanischen Autoren in ihrer Wirkung stets basierend auf Erfahrungen der Adoleszenzphase vorgestellt.” Was Ebert in seiner Studie nur am Rande behandelt, ist die Tatsache, dass “Jazz” und “Jazz” auch in Afro-Amerika durchaus unterschiedliche Dinge sind, dass es nicht nur Wechsel im musikalischen, sondern auch im ästhetischen Ansatz gab und damit verbunden Änderungen in der Wahrnehmung sowohl in der Fachwelt wie auch in der breiteren Öffentlichkeit, dass schließlich die Bedeutung von “Jazz” je nach Position des Betrachtenden eine komplett andere sein konnte und selbst bei einzelnen Autoren (Ellison und Murray insbesondere) laufend Positionsverschiebungen stattfinden. Seine Studien belegen, wie Ebert schreibt, “welche unterschiedlichen Annäherungsweisen an den Jazz als Kultur möglich” seien. Sein Buch ist auf jeden Fall eine große Fleißarbeit, die vor allem herausfindet, wie sprachliche Aspekte (also das “vernacular”, für das mir auch bei Ebert aber dann doch noch eine bessere Definition fehlt) unterschiedlich eingesetzt werden, ob als störender Impuls, als eine “sich selbst aus dem Unterbewusstsein heraus ebnende Größe”, als eine prägende Erfahrung oder aber auf abstrakterer Ebene.

(Wolfram Knauer, Januar 2010)


 

Fats Waller on the Air. Additions and Corrections
von Stephen Taylor
“Additions and Corrections” update

Stephen Taylors hat Ergänzungen und Korrekturen zu seiner umfassenden Discographie von Livemitschnitten Fats Wallers, “Fats Waller on the Air. The Radio Broadcasts & Discography”, online gestellt. Die 73-seitige pdf-Datei kann direkt auf der Website seines Buchs runtergeladen werden.

Stephen Taylor has updated his comprehensive discography of radio broadcasts, “Fats Waller on the Air. The Radio Broadcasts & Discography”, with “additions and corrections” which can be downloaded for free on the website of his book.


The Jazz Composer. Moving Music Off the Paper
von Graham Collier
London 2009 (Northway Publications)
338 Seiten, 19,99 £
ISBN: 978-09557888-0-2

2009collierGraham Collier war immer ein streitbarer Beobachter der Jazzszene, in der er selbst seit über mehr als vier Jahrzehnten aktiv teilnimmt. Er begann als Kontrabassist, machte sich dann auch als Komponist und Bandleader einen Namen, durch dessen Ensembles viele der wichtigsten britischen Musiker gingen. Er unterrichtete an der Royal Academy in Music, gibt bis heute viele Workshops und schreibt Kompositionen für unterschiedliche Ensembles von kleineren Besetzungen bis hin zur Bigband. Daneben war er immer auch schriftstellerisch tätig, verfasste mehrere Bücher zur Jazzpädagogik sowie eine regelmäßige Kolumne für das Magazin “Jazz Changes” der International Association of Schools of Jazz. Sein neuestes Buch befasst sich in erster Linie mit der Rolle des Jazzkomponisten und seinen Möglichkeiten innerhalb des Metiers. Er fragt, was Arrangements bewirken können und sollen, welche unterschiedlichen Arten von “Komposition” es im Jazz gibt, zwischen originärer Erfindung, Kompilation und Arrangement, geht auf konkrete Beispiele ein, vorrangig Duke Ellington und Miles Davis, daneben aber auch auf Kollegen wie Charles Mingus, Ornette Coleman, Wayne Shorter, Gil Evans, die Idee des Third Stream oder im letzten Kapitel auf seine eigenen Kompositionen. Dazwischen aber, und das macht das Buch wirklich lesenswert, gibt Collier jede Menge Ansichten zum Jazz, seiner Ästhetik, seiner Rezeption und erzählt aus seinen eigenen Erfahrungen. Das Kapitel “It Ain’t Who You Are (It’s the Way That You Do It)” beispielsweise beschäftigt sich sowohl mit den Erfahrungen eines europäischen Musikers in einer ursprünglich amerikanischen Musik, mit sexistischen und homophoben Ansichten von Musikern und Kritikern (Collier ist selbst lebt offen schwul) sowie mit einer seltsamen Art von Rassismus, der man als weißer Musiker in der afro-amerikanischen Musiksprache des Jazz schon mal begegnen kann. Die kleinen polemischen Asides seines Buchs laden zum Nachdenken und Mitargumentieren ein, darüber etwa, welche Rolle die Tradition im Jazz spielt, inwiefern Komponisten im Jazz Kontrolle über ihre Solisten ausüben wollen, wie wichtig und wie frei Improvisation wirklich ist und vieles mehr. Collier schreibt lesens- und nachdenkenswert, nicht aus der Position des Allwissenden Jazzhistorikers, sondern aus der des kritischen Komponisten, des nachfragenden Hörers mit offenen Ohren, des an der Musik und dem Warum hinter ihr Interessierten. Er lässt genüdem Leser genügend Raum, seine eigenen Antworten auf viele der Fragen zu finden. Und komponiert damit quasi einen Diskurs zu Jazzästhetik und Komposition, dessen Solisten im besten Fall seine Leser sind. Absolut empfehlenswert!

(Wolfram Knauer)

Weblink: www.jazzcontinuum.com.
Weblink: www.thejazzcomposer.com.


 

Jazz
von Gary Giddins & Scott DeVeaux
New York 2009 (W.W. Norton)
704 Seiten, 39,95 US-$
ISBN: 978-0-39306-861-0

2009giddinsEs ist schon mutig, auf den weiß Gott nicht kleinen Jazzbuchmarkt ein neues dickes Buch zur gesamten Jazzgeschichte zu werfen. Gary Giddins, langjähriger Kritiker amerikanische für Zeitungen und Zeitschriften und Autor etlicher Bücher sowie Scott DeVeaux, Musikwissenschaftler und Autor des vielgelobten Buchs “The Birth of Bebop” haben sich für ihr neues Jazzbuch mit dem simplen Titel “Jazz” daher ein etwas anderes Konzept ausgedacht. Statt die Jazzgeschichte als eine Geschichte von Biographien zu erzählen, erzählen sie sie anhand von konkreten Stücken, von Aufnahmen. Biographische Kommentare sind durchaus auch vorhanden; die Titel aber stehen im Vordergrund, die Giddins und DeVeaux analysieren, beschreiben und in die Jazzgeschichte einordnen. Ihre Analysen bedienen sich dabei keiner Notenbeispiele und auch keiner allzu komplizierten Fachtermini — das Buch wendet sich an interessierte Fans, aber nicht dezidiert an Studenten oder Musikwissenschaftler. Analytische Anmerkungen zu Aufnahmen bestehen vor allem aus kurz gehaltenen Ablaufbeschreibungen, Chorus für Chorus mit vorgeschalteter Sekundenzahl, damit man die Beschreibungen beim Hören mitlesen kann. Das ist eine durchaus sinnvolle Herangehensweise, schult sie doch das Ohr des Lesers und richtet seine Aufmerksamkeit auf das, was in der Musik geschieht. Konkret sieht das dann so aus, dass ein Kapitel mit einer biographischen Einordnung des Künstlers beginnt, dann die Umstände des besprochenen Titels und/oder Albums erlöutert werden, bevor eine übersichtlich-tabellarische Ablaufbeschreibung den Leser zum Mithören/Mitlesen auffordert. Dem schließt sich in der Regel eine kurze Beschreibung des Einflusses des betreffenden Künstlers an. Pro Künstler findet sich meist ein besprochener Titel; und es sind nicht immer die “wichtigsten”, sondern oft solche, die Giddins und DeVeaux einfach als besonders gelungen für das hielten, was sie darstellen wollten. Armstrong, Ellington, Parker, Miles und einige andere Künstler sind mit mehr als einem Titel vertreten, meist, weil sie in ihrem Schaffen so unterschiedliche Seiten zeigten, dass die Beschränkung auf einen einzelnen Titel ihnen nicht gerecht würde. Über die Auswahl sowohl der so herausgestellten Künstler wie auch der Stücke mag man sich streiten; das Problem der Auswahl aber stellt sich bei jedem (insbesonders enzyklopädischen) Werk. Und neben den punktuellen Blicken auf einzelne Entwicklungen des Jazz gelingt es den beiden auch immer wieder Verbindungsschnüre zu ziehen, musikalische Entwicklungen oder Personalstile miteinander zu verknüofen, auf Einflüsse, parallele Entwicklungen etc. hinzuweisen. Natürlich nutzt das Buch so vor allem dann, wenn man die Musik auch wirklich vor sich hat — und am besten eine Auswahl, die genau die im Buch besprochenen Titel enthält. Das aber wird keine noch so gut bestückte Plattensammlung leisten — und so haben die Autoren zusätzlich auch gleich eine CD-Edition kuratiert, in der die 45 im Buch näher analysierten Titel enthalten sind, die allerdings separat erstanden werden muss und fast doppelt so teuer wie das Buch ist. Wer sich beides zulegt hat allerdings wirklich einen erstklassigen “Primer” zur Jazzgeschichte in der Hand: von der Original Dixieland Jass Band über King Oliver, Louis Armstrong, Bessie Smith, Ellington, Basie und Goodman, Parker, Gillespie und Monk, das Modern jazz Quartet und Dave Brubeck, den Free Jazz Ornette Colemans oder Cecil Taylors bis hin zur Avantgarde der 80er und 90er Jahre und selbst Beispielen aus jüngster Zeit. Was fehlt, ist Europa: Einzig Django Reinhardt und Jan Garbarek fanden Eingang in den Olymp von Giddins’ und Deveaux’s Gnaden. Aber dann ist diese Entscheidung wohl verständlich — hier wählten sie zwei Musiker aus, die auch auf den amerikanischen Jazz von nicht unerheblichem Einfluss waren. Und die europäische Jazzgeschichte sollte vielleicht tatsächlich von anderer Seite aufgearbeitet werden … wir arbeiten dran.

(Wolfram Knauer)

Weblink: www.garygiddins.com.


 

Jade Visions. The Life and Music of Scott LaFaro
von Helene LaFaro-Fernández
Denton/TX 2009 (University of North Texas Press)
322 Seiten, 24,95 US-$
ISBN: 978-1-57441-273-4

2009lafaroNeben Miles Davis, John Coltrane, Wayne Shorter und einigen anderen der großen Namen des modernen Jazz ist Scott LaFaro einer der Musiker, über die am häufigsten Diplomarbeiten geschrieben werden — so zumindest scheint es uns im Jazzinstitut, wo wir regelmäßig mit Anfragen zu dem früh verstorbenen Bassisten konfrontiert werden. Jetzt legt seine Schwester eine Biographie vor, die das nur fünfundzwanzigjährige Leben des Kontrabassisten beleuchtet. LaFaro wurde in eine italienisch-schottische Familie geboren, die früh erkannte, dass ihr Sohn musikalisch begabt war. Er spielte bereits mit drei Jahren Mandoline und nahm seine ersten Geigenstunden mit fünf. Im College nahm er Klarinettenunterricht, mit 18 dann kaufte sein Vater ihm einen Kontrabass. Schon in den ersten Bands, mit denen er spielte, wurde klar, dass seine Art Bass zu spielen von dem abwich, was man sonst so hörte; statt nur die Time zu markieren, setzte er Akzente, spielte Linien, setzte Töne zwischen die Beats. In der Band des Posaunisten Buddy Morrow machte er 1956 seine ersten Aufnahmen mit Swing- und Tanzmusik. Bei einer Session traf er auf Chet Baker, der ihn einlud, bei der nächsten Tour seiner Band mitzuwirken. Hier beginnt der Teil der Biographie, in der Helene LaFaro-Fernández auf Zeitzeugen zurückgreift und insbesondere Kollegen interviewt, Walter Norris etwa, Gary Peacock oder Paul Motian. LaFaro arbeitete in der Band von Pat Moran und mit Victor Feldman und spielt 1958 u.a. in Stan Getz’s Quintett an der Westküste. Er nahm Platten auf mit Hampton Hawes, Buddy DeFranco und anderen. 1959 arbeitete er als Bassist des Stan Kenton Orchestra, bis ihm Herb Geller einen Job in der Benny Goodman Band besorgte. Vor allem aber begann in diesem Jahr LaFaros Zusammenarbeit mit Bill Evans. Außerdem er wurde als “Bass New Star” im Down Beat gewürdigt. 1960 trat er vor allem mit Evans’ Trio auf, aber auch mit Ornette Coleman, Booker Littler und Thelonious Monk. Vom Januar 1961 stammen die legendären Trioaufnahmen aus dem Village Vanguard, die bis zum heutigen Tag zu den einflussreichsten Klaviertrioeinspielungen zählen. Am 6. Juli schlief LaFaro am Steuer seines Wagens ein und fuhr gegen einen Baum. Er und sein Freund Frank Ottley waren sofort tot. LaFaros Schwester erzählt die Geschichte ihres Bruders mit vielen Fakten, aber auch mit dem Wissen um seine Bedeutung für die Jazzgeschichte. Sie sammelt Erinnerungen von Mitmusikern und Freunden und bat Gene Lees, Marc Johnson, Jeff Campbell und Phil Palombi um eine musikalische Einschätzung. Barrie Kolstein berichtet im Anhang, wie das Instrument, das beim Autounfall erheblich beschädigt worden war, restauriert wurde und gibt genaue eine Beschreibung des Kontrabasses. Chuck Ralston ergänzt das alles um eine Diskographie, der Aufnahmen, an denen LaFaro teilhatte, von Buddy Morrow über Clifford Brown und Chet Baker, Victor Feldman, Stan Getz, Hampton Hawes, Buddy DeFranco, Harold Land, Pat Moran, Marty Paich, Stan Kenton, Herb Geller, Booker Little, Steve Kuhn, Gunther Schuller, Ornette Coleman bis hin zum legendären Bill Evans Trio. Helene LaFaro-Fernández hat ihrem Bruder mit diesem Buch, in dem auch viele private Fotos enthalten sind, ein würdiges Denkmal gesetzt, persönlich und doch sachlich, die biographischen Detials genauso berücksichtigend wie seine musikalische Entwicklung und seinen Einfluss auf Bassisten bis zum heutigen Tag.

(Wolfram Knauer)


 

Bitches Brew. Genesi del capolavoro di Miles Davis
von Enrico Merlin & Veniero Rizzardi
Milano 2009 (ilSaggiatore)
318 Seiten, 35 Euro
ISBN: 978-8-84281-501-3

2009merlinAshley Kahn hat mit seinen Büchern über Miles Davis’ Album “Kind of Blue” und John Coltranes “A Love Supreme” quasi ein neues Genre der Jazzliteratur begonnen: Bücher, die einzelne Plattensitzungen des Jazz von allen Seiten beleuchten. Das Beispiel hat Schule gemacht: Enrico Merlin und Veniero Rizzardi legen jetzt ein durchaus vergleichbares Werb über Miles’ Album “Bitches Brew” von 1969 vor, sicher ein Meilenstein der Jazzgeschichte, ein großer Wurf, der aufzeigte, wie eine weitsichtige Fusion aus Jazz- und Rockelementen musikalisch spannende Ergebnisse zeitigen konnte. Die beiden Autoren zeichnen Entstehungsgeschichte und Einflüsse auf. Miles sei es immer besonders um Sound gegangen, von seinen Capitol-Nonett-Aufnahmen über die Zusammenarbeit mit Gil Evans bis zum elektrischen Miles. Sie diskutieren einige Vorgängeralben zu “Bitches Brew”, darunter “Circle in the Round” und “Directions”, analysieren die Schneidetechnik etwa auf dem Album “In a Silent Way”, indem sie die ursprünglich veröffentlichte Aufnahmemit den Basterbändern vergleichen. Die Teo Macero-Sammlung landete nach dem Tod des Produzenten in der New York Library for the Performing Arts. Ihr ist zu verdanken, dass die Lead-Sheets für die Plattensitzung genauso erhalten sind wie Notizen, Korrespondenz, Schneideanweisungen und vieles mehr, dass die Autoren zur Analyse der Aufnahmegenese genauso nutzten wie Strudiomitschnitte, auf denen neben der Musik auch die Gespräche zwischen Miles und seinen Musikern und dem Produzenten zu hören sind. Sie vergleichen die verschiedenen Takes der einzelnen Stücke und mutmaßen über Gründe für Änderungen oder Zusammenschnitte. Viele Fotos machen das alles lebendig; Notenbeispiele und analytische Formskizzen führen den Leser näher an den musikalischen Ablauf heran; eine Chronologie der Jahre 1967 bis 1973 fasst die mit dem Album “Bitches Brew” zusammenhängenden Aktivitäten Miles’ übersichtlich zusammen. Das Buch ist bislang nur auf italienisch erhältlich; eine zumindest englische Übersetzung wäre sicher wünschenswert.

(Wolfram Knauer)


 

We Want Miles
herausgegeben von Vincent Bessières
Paris 2009 (Cité de la Musique)
223 Seiten, 39 Euro
ISBN: 978-2-84597-340-4

2009bessieres“We Want Miles” heißt die oppulente Ausstellung die Vincent Bessières für die Cité de la Musique in Paris zusammengestellt hat, wo sie von Oktober 2009 bis Januar 2010 gezeigt wird (danach von April bis August 2010 im Montréal Museum of Fine Arts. Die Ausstellung in Paris umfasst zwei Stockwerke voll mit Material, das sich auf Miles bezieht: Klangkabinen, in denen man Musik aus den verschiedenen Schaffensperioden seines Lebens hören kann, seltene Filmausschnitte von Konzerten oder Interviews, in denen er über seine Musik spricht, seine Kleidung und Gemälde, vieler seiner Instrumente, originale Notenblätter etlicher Aufnahmesessions, einschließlich der legendären Capitol-Nonett-Aufnahmen von 1949, sowie handschriftliche Notizen über die Aufnahmesitzungen, die oft von seinem langjährigen Produzenten Teo Macero stammen. Dem Kurator der Ausstellung Vincent Bessières und seinen Mitarbeitern von der Cité de la Musique ist es gelungen, ein wenig vom Geist des Trompeters einzufangen, den Besucher langsam in Miles’ Welt eintauchen zu lassen. Sie zeichnen seine musikalische und persönliche Entwicklung über die Jahre in Saal nach Saal nach und geben selbst seinem Rückzug von Musik und Öffentlichkeit in den späten 1970er Jahren einen eigenen Raum: einen dunklen Durchgang mit wenigen Dokumenten an den schwarzen Wänden, die knappe Einblicke in seine Probleme der Zeit geben. Am Anfang der Ausstellung mag man noch meinen, dieses Foto sei einem doch eh bekannt, diese Platten ebenfalls oder jener Zeitungsartikel. Mehr und mehr aber wird man in den Sog der Ausstellung gezogen und erlebt bestimmte Phasen in Miles’ Entwicklung anders als man sie zuvor erlebt hat, einfach durch die Art und Weise, wie die Ausstellungsstücke einander gegenübergestellt sind, wie die Musik aus den Klangkabinen, die Videos und all die anderen Dokumente einander ergänzen und einen die Musik und das Leben von Miles Davis neu entdecken, neu sehen, neu hören lassen. Der Ausstellungskatalog zeigt viele der in der Cité de la Musique zu sehenden Exponate und enthält daneben einen ausführlichen Text von Franck Bergerot sowie kürzere Texte von George Avakian, Laurent Cugny, Ira Gitler, David Liebman, Francis Marmande, John Szwed und Mike Zwerin. Noch ist er nur in Französisch erhältlich; eine englische Fassung wird aber spätestens zur Ausstellung in Montréal erhältlich sein.

(Wolfram Knauer)


 

Satchmo. The Wonderful World and Art of Louis Armstrong
von Stephen Brower
New York 2009 (Abrams)
256 Seiten, 35 US-Dollar
ISBN: 978-0-8109-9528-4

2009browerLouis Armstrong war ein großartiger Musiker, das ist bekannt. Schon weniger bekannt ist, dass er zeitlebens mit seiner Schreibmaschine reiste und ein fleißiger Briefeschreiber war — viele seiner Briefe erzählten Autobiographisches und waren Grundlage für seine beiden Autobiographien, die 1936 und 1954 erschienen. Vor zehn Jahren brachte Thomas Brothers etliche dieser Briefe und maschienenschriftlichen Manuskripte, die heute im Armstrong Archive in Queens, New York, lagern, in Buchform heraus (“Louis Armstrong In His Own Words”, Oxford University Press, 1999). Im Armstrong Archive aber findet sich noch eine weitere, unerwartete künstlerische Seite des Trompeters. Dieser nämlich war ein großer Tonbandfreund und schnitt Sendungen aus dem Rundfunk genauso mit wie Gespräche zwischen sich und Freunden oder Nachbarn oder auch sich selbst beim Üben oder beim Mitspielen mit Plattenaufnahmen (zum Teil sogar von sich selbst). Ausschnitte aus diesen Bändern sind im letzten Jahr veröffentlicht worden; spannend aber ist an ihnen nicht nur die darauf enthaltene Musik. Armstrong sorgte sich sich nämlich auch um die Verpackung, bastelte mit Schere, Klebstoff und Scotch Tape (der amerikanischen Variante unseres Tesafilms) seltsame Collagen, die teilweise Bezug zu dem auf den Bändern enthaltenen Aufnahmen besaßen, zum Teil aber auch nicht. Fotos von ihm selbst mit bekannten Stars des Jazz oder Showbusiness sind darauf ebenso zu sehen wie Zeitungsausrisse, Fotos, die ihm von Fans zugeschickt wurden, handschriftliche oder maschinenschriftliche Kommentare, die er teilweise Zeile für Zeile, teilweise gar Wort für Wort ausgeschnitten und aufgeklebt hatte. Das alles hatte früh begonnen, mit Scrapbooks, die Clippings, Zeitungsausschnitte über seine Arbeit enthielten. Browers Buch enthält eine Vielzahl an Beispielen, aus den Scrapbooks, aus seinen Briefen, vor allem aber von den beklebten Reel-to-Reel-Tapes aus der Sammlung des Armstrong Archive. Brower setzt die darauf zu sehenden Szenen in seinem Text in Relation zu Armstrongs Leben und Karriere. Das ganze in einem wunderschönen großformatigen, durchwegs farbig gehaltenen, auf Mattglanzpapier gedruckten Buch, das Einblicke in die spielerische Kreativität erlaubt, die Grundlage seiner Musik genauso war wie offenbar überhaupt seines Lebens.

(Wolfram Knauer)


 

Go man, go! In de coulissen van de jazz
von Jeroen de Valk
Amsterdam 2009 (Van Gennep)
174 Seiten, 17,50 Euro
ISBN: 978-90-5515-0847

2009devalkJeroen de Valk ist ein international renommierter Jazzjournalist, der bislang zwei wegweisende Biographien vorgelegt hat, eine über Chet Baker sowie eine über Ben Webster. In seinem neuen Buch versammelt er Artikel und Interviews, die er vor allem für die holländische Zeitschrift Jazz Nu geführt hatte. Akkordeonist Johnny Meijer blick ein wenig wehmütig auf die gute alte Zeit zurück, auf die guten Musiker, mit denen er zusammengespielt hat, genauso wie auf die schlechten. Jimmy Rowles erzählt, wie er einst Marilyn Monroe begleitet habe, Dave Brubeck davon, wie Darius Milhaud ihn auf seinem musikalischen Weg ermutigt habe. Illinois Jacquet berichtet, dass er immer noch sein “Flying Home”-Solo spielen müsse, zu dem ihn einst Lionel Hampton angefeuert habe. Sonny Rollins gibt Einblick in seine künstlerischen Selbstzweifel. Branford Marsalis macht deutlich, dass das Wichtigste im Spiel seines Vaters Ellis dessen “Sound” sein, nicht sein Anschlag, nicht seine Voicings, sondern sein “Sound! Sound! SOUND!”. Charlie Haden spricht über seine Zeit bei Ornette Coleman und seine frühere Drogensucht. Weitere Interviews geben Einblick in die musikalische Welt von Künstlern wie Ray Brown, Biig Jay McNeely, Tommy Flanagan, Joe Zawinul, Woody Shaw, Michael Brecker, aber auch von Rita Reys, Cees Slinger, Pim Jacobs, Ruud Brink, Rinus Groeneveld, Hein Van de Geyn und Joris Teepe.

(Wolfram Knauer)


 

Han Bennink. De wereld als trommel
von Erik van den Berg
Amsterdam 2009 (Uitgeverij Thomas Rap)
239 Seiten plus eine beigeheftete CD, 19,90 Euro
ISBN: 978-90-600-5671-4

2009benninkWer international über Jazz in Holland spricht, kommt schnell auf die drei vielleicht einflussreichsten, sicher aber eigenständigsten Musiker des Landes: Willem Breuker, Misha Mengelberg und Han Bennink. Bennink ist seit mehr als 50 Jahren auf der Szene, einer der bedeutendsten europäischen Schlagzeuger des freien Jazz, daneben aber (wie durchaus auch andere große Perkussionisten dieser Richtung) ein begnadeter Swinger, denn er hat in seiner Laufbahn alles durchgemacht, vom traditionellen Jazz über den Swing, Bebop und modene Stilrichtungen bis zur freien Improvisation mit Brötzmann und Konsorten. Eric van den Berg hat nun eine Biographie des Schlagzeugers vorgelegt. Er beginnt mit der Familiengeschichte: Benninks Vater Rein war selbst Jazzmusiker gewesen, spielte Schlagzeug und Saxophon. Han wurde die Musik also quasi in die Wiege gelegt, und mit 15 Jahren trat er bereits mit seinem Vater auf, wie u.a. vier Aufnahmen auf der dem Buch beiliegenden CD belegen. 1959 errang das Quintett des Pianisten Eric van Trigt bei einem Wettbewerb in Bussum den zweiten Platz, dank auch des Schlagzeugsolos des 19jährigen Han Bennink. Bennink hörte amerikanische Bands und ließ sich von deren Schlagzeugern beeinflussen, etwa von Kenny Clarke, Louis Hayes oder Elvin Jones. 1961 fuhr er als Teil einer Schiffscombo nach New York und war von der Musik dieser Stadt beeidnruckt. Ein Jahr später begann seine Zusammenarbeit mit dem Pianisten Misha Mengelberg. Er spielte mit der Sängerin Rita Reys und begleitete amerikanische Stars wie Johnny Griffin und andere. 1964 spielte er mit Eric Dolphy, orientierte sich immer mehr an Musikern des amerikanischen “New Thing”. 1966 trat das Misha Mengelberg Quartet beim Newport Jazz Festival auf. Nebenbei war Bennink immer auch als Maler aktiv; bei seiner ersten Soloausstellung in einer Amsterdamer Galerie spielte auch Willem Breuker mit. Breuker, Mengelberg und Bennink gründeten den Instant Composers Pool (ICP), um der neuen Musik Spielorte zu verschaffen. Mehr und mehr arbeitete Bennink auch mit europäischen Kollegen zusammen, 1966 etwa mit Gunter Hampel und später mit Peter Brötzmann, bei dessen “Machine Gun”-Album von 1968 er mit von der Partie war, wie auch bei späteren Aufnahmen zwischen Duo, Trio und großer Besetzung. 1969 gehörte er zur europäischen Besetzung für Manfred Schoofs “European Echoes”. Die 70er Jahre waren die Zeit der europäischen Zusammenarbeit, ob im Rahmen von ICP oder bei Konzerten oder Aufnahmen für das FMP-Label. Wechselnde Besetzungen auch später, und keine stilistischen Berührungsängste: ob Free Jazz mit Cecil Taylor, freie improvisierte Musik mit Derek Bailey, traditionelle Gigs etwa mit Art Hodes oder Soul mit Percy Sledge. Zusammen mit dem Klarinettisten Michael Moore und dem Cellisten Ernst Reijseger bildete Bennink in den 1990er Jahren das Clusone Trio. Van den Berg beschreibt Benninks Instrumentarium, aber auch den theatralischen Klamauk, den Bennink auf ihnen vollführen kann, ohne jemals den musikalischen Sinn aus dem Blick zu verlieren, etwa wenn er in einer Performance im Museum of Contemporary Art in Toronto 2005 auf Käsetrommeln spielt, was ihm eine Einladung in Jay Lenos Talkshow einbrachte (die er allerdings ablehnte). Van den Berg greift auf Interviews mit Bennink und seinen Musikerkollegen zurück, aber auch auf Benninks Tagebuch. Am Schluss findet sich ein Blindfold Test, eine Liste (nur) der wichtigsten Platten sowie eine Literaturliste. Die beiligende CD enthält neben Aufnahmen mit seinem Vater von 1955 einen Mitschnitt des Zaans Rhythme Quartet von 1960, des Misha Mengelberg/Pieter Noordijk Quartet von 1966, Benninks Schlagzeugsolo vom Newport Jazz Festival 1966, eine Trioaufnahme mit Sonny Sollins, drei Titel mit Art Hodes sowie ein Live-Duomitschnitt mit Misha Mengelberg aus dem Jahr 1978. Ein lobens- und lohnenswertes Buch über einen der spannendsten Schlagzeuger Europas. Zur Lektüre braucht es bislang noch ordentlicher niederländischer Sprachkenntnisse; wir hoffen auf eine englische Übersetzung des Buchs.

(Wolfram Knauer)


 

Pop. Geschichte eines Konzepts 1955-2009
von Thomas Hecken
Bielefeld 2009 (transkript)
563 Seiten, 35,80 Euro
ISBN: 978-3-89942-982-4

2009heckenMit dem Begriff “Pop” verbinden sich alle möglichen kulturellen Phänomene und Tendenzen, angefangen bei der Popmusik über die Pop-Art, die Popkultur bis hin zu Phänomenen in Underground, New Journalism, Postmoderne und Lifestyle. Thomas Hecken, germanist an der Ruhr-Universität in Bochum, versucht in seinem Buch die verschiedenen Seiten von “Pop” zwischen Underground und Kommerz zu beleuchten. Er beginnt weit vor der Popkultur (nach unserem Verständnis), nämlich bei Herder, Schiller, Kant und dem Reiz des Populären, klopft außerdem Baudelaire, Huysmans, Wilde und Nietzsche mit ihrer Tendenz künstlich zu erregen, den Futurismus, den Expressionismus, den Dadaismus und den Surrealismus sowie das Jazz Age und die Neue Sachlichkeit daraufhin ab, inwiefern sie als Vorläufer oder Einflussgeber der Pop-Idee dienen könnten. In seinem zweiten Kapitel arbeitet er heraus, wie diese Pop-Idee in den 50er und 60er Jahren aus der Pop Art herausgelöst wurde. Er diskutiert Begriffe wie “Massenkultur” und “populäre Kultur”, reflektiert über die englische Independent Group und das Verhältnis von Pop Art zur Tradition der Dekadenz und Avantgarde. Mitte der 60er Jahre also setzte sich der Begriff “Pop” für ein neues Konzept durch, das aber immer noch weit stärker im bildnerisch künstlerischen Bereich als etwa in der Musik angesiedelt war. Daneben wurde “Pop” immer mehr synonym als Träger des zeitgenössisch vorherrschenden Geschmacks verstanden und damit als ein auch jugendkulturelles Phänomen. Hier nun kommt mehr und mehr auch die Musik ins Spiel, von Beatles über Rolling Stones bis The Who, die nicht nur in ihrer Musik, sondern auch in der Reflektion den Pop-Diskurs beeinflussten. Pop bestimmt mit seiner positiv-jungen Belegung dabei auch die Ästhetik anderer Genres, ob Film, Literatur oder Feuilleton. Parallel entwickelte sich in den 1960er Jahren aber auch eine Art Underground-Popästhetik. In seinem diesbezüglichen Kapitel versucht Hecken eine ausführliche Abgrenzung zwischen Pop und Rock und der mit beiden verbundenen künstlerischen wie ästhetischen Konnotationen. Neben den üblichen anglo-amerikanischen bemüht Hecken auch deutsche Beispiele. War man in den 60er Jahren damit beschäftigt, die ästhetischen Konzepte überhaupt zu entwickeln, so konnte man in den 70er Jahren bereits über sie reflektieren, wie Hecken in seinem Kapitel über die “Pop-Theorie” darlegt. Dieser Diskurs handelt von Oberflächlichkeit oder Gegenkultur, von Kommerz und Konsum-Freiheit, von Manipulation und Populismus. Ein eigenes Kapitel widmet Hecken der Diskussion, wie sich “Pop” in der Postmoderne-Diskussion der 70er Jahre wiederfindet. Konkrete Beispiele liefert der Eklektizismus im Rock (Zappa), Glam (David Bowie) und Punk. In den 80er Jahren dann stellt Hecken die “Vollendung der Pop-Affirmation” fest. Schließlich beschäftigt er sich im Schlusskapitel (aber auch immer wieder zwischendurch) mit seiner eigenen Rolle und der seiner Kollegen: mit der Akademisierung von Pop und der Theoriebildung über Poptheorie. Ein ausführliches Literaturverzeichnis beendet das Buch. Alles in allem: ein dicker Brocken “Pop”, in dem Hecken die Debatten um Begriff und Inhalt nachzeichnet, ein spannendes Buch und ein exzellentes Nachschlagwerk zur Idee des “Pop”-Konzepts, das historisch erläutert und doch auch laufend zum Hinterfragen und zum Selbst-Stellungnehmen auffordert.. Der Jazz übrigens kommt innerhalb des Buchs kaum vor, doch berühren sich die (auch ästhetischen) Welten von Jazz und Pop in den 60er und 70er Jahren so oft, dass Hecken einem auch da den Weg weisen kann, wenn man wieder einmal unreflektiert über “Pop” spricht und ahnt, dass das Phänomen weit vielfältiger ist als der griffige Name.

(Wolfram Knauer)


 

tell no lies, claim no victories
herausgegeben von Philipp Schmickl & Hans Falb
Nickelsdorf 2009 (Verein Impro 2000)
208 Seiten, 25 Euro

2009nickelsdorfGerade in den experimentellen Seiten des Jazz und der improvisierten Musikbedarf es Veranstalter, die vor allem ihrem eigenen Ohr folgen und nicht auf Publikum schielen müssen. Macht man das lang genug und bleibt sich selbst, den Musikern und dem Publikum gegenüber (ästhetisch) ehrlich, dann erreicht man im Idealfall ein eingeschworenes Publikum, das das Möglichmachen von Experimenten zu schätzen weiß. Ein solcher Fall ist das Konfrontationen-Festival im österreichischen Nickelsdorf, das seit 30 Jahren das Experiment eines Festivals improvisierter Musik wagt und damit weit über die Grenzen Österreichs bekannt wurde. Konfrontationen-Gründer Hans Falb und Philipp Schmickl haben nun ein Buch vorgelegt, das verschiedene Seiten der improvisierten Musik dokumentiert, daneben aber immer auch eine Homage an die Freiheit der Performance und damit an das Nickelsdorfer Festival selbst ist. Joe McPhee verneigt sich darin vor Clifford Thornton; Georg Graewe reflektiert über die Spielstätten, in denen Jazzmusiker arbeiten; Hans Falb schreibt über den Klarinettisten John Carter. Falb unterhält sich außerdem mit Roscoe Mitchell über die AACM, und Alexandre Pierrepont reflektiert über jüngere Aktivitäten der AACM. Paul Lovens erzählt übers Schlagzeugspielen, über sein Instrument, über (nicht mur musikalische) Einflüsse auf seine Kunst, über das Gedächtnis,und warum er beim Spielen meist ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte trägt. Auch Hamid Drake erzählt über seine Einflüsse, insbesondere über die Bedeutung Fred Andersons und der Chicagoer Community für seine Entwicklung. Joelle Léandre erklärt, dass das Improvisieren eine ernsthafte Kunst sei, die man nicht improvisiere. Evan Parker reflektiert über aktuelle improvisierte Musik und wie sich ihre Ästhetik ändere. Mircea Streit berichtet über improvisierte Musik in Rumänien. Dazwischen gibt es viele Fotos, die ein wenig den Geist Nickelsdorfs beschwören: musikalisch, nachdenklich, beschaulich, intensiv, kreativ. Eine Labor of Love, ganz wie das Festival. Konfrontationen…

(Wolfram Knauer)

Das Buch kann hier bestellt werden: www.konfrontationen.at/ko09/nolies.html


 

Man of the Light. Życie I twórczość Zigniewa Seiferta,
Aneta Norek
Krakow 2009 (Musica Iagellonica)
168 Seiten plus eine beigeheftete CD, 45 PLN
ISBN: 978-83-7099-166-1

2009seifertAneta Norek schrieb ihre Magisterarbeit über den Einfluss der Musik von Karol Szymanowski auf den Jazzgeiger Zbigniew Seifert. Bei den Recherchen traf sie auf so viele Musiker, die von Seiferts Musik nachhaltig beeinflusst waren, dass sie sich entschloss, eine Biographie des 1979 an Krebs verstorbenen polnischen Violinisten zu schreiben. Sie kontaktierte viele der Musiker, mit denen Seifert seit den frühen 1960er Jahren zusammengespielt hatte, forschte in Archiven vor Ort in Krakau genauso wie beispielsweise beim Jazzinstitut Darmstadt und legt jetzt ein Buch vor, das sein Leben und seine musikalische Entwicklung verfolgt, gespickt ist mit seltenen Fotos und Dokumenten. Diese machen das Buch sicher auch für Leser interessant, die des Polnischen nicht mächtig sind. Auch ohne die notwendigen Sprachkenntnisse merkt man schnell, welch akribische Arbeit in Noreks Recherchen ging, und hofft, dass vielleicht doch eines Tages eine zumindest englische Übersetzung des Buches möglich wird. Die Buchvorstellung fand übrigens im Rahmen eines Seifert gewidmeten Festivals in Krakau statt, bei dem unter anderem Seiferts “Jazzkonzert für Violine, Sinfonieorchester und Rhythmusgruppe” aufgeführt wurde, mit Mateusz Smoczynski (Geige), Joachim Kühn (Piano), Bronislaw Suchanek (Bass), Janusz Stefanski (Drums) und dem Philharmonischen Orchester Krakau. Eine CD mit der Originalaufnahme dieser Komposition heftet dem Buch bei. Kühn war 1974 ebenfalls mit von der Partie, daneben spielten außer Seifert Eberhard Weber, Daniel Humair und das Runfkunkorchester Hannover des NDR.

(Wolfram Knauer)


 

Art Tatum. Eine Biographie
von Mark Lehmstedt
Leipzig 2009 (Lehmstedt Verlag)
319 Seiten, 39,90 Euro
ISBN: 978-3-937146-80-5

2009tatumÜber Art Tatum ist viel geschrieben worden. Es existiert eine umfassende Diskographie (von Arnold Laubich & Ray Spencer, 1982) und eine Biographie (von James Lester, 1994), außerdem eine Dissertation, die seine frühe Zeit in Toledo untersucht (von Imelda Hunt, 1995). Nun legt ausgerechnet ein deutscher Autor eine umfassende Tatum-Biographie vor, für die er in Archiven gestöbert und alles an Informationen über den Pianisten zusammengeklaubt hat, was er finden konnte. Herausgekommen ist ein überaus lesenswertes Buch, die Lebensgeschichte eines Mannes, der in eine Mittelklassefamilie geboren wurde, mit nur geringster Sehkraft durchs Leben kam und seit den frühen 1930er Jahren zu den bewundertsten Pianisten des Jazz gehörte. “Ich spiele nur Klavier”, soll Fats Waller einmal gesagt haben, als Art Tatum einen Club betrat, in dem er spielte, “aber heute ist Gott im Raum.” Lehmstedt nimmt die veröffentlichten Biographien zum Ausgangspunkt und baut auf ihnen auf, verflicht die Informationen, die er über Tatum erhält, mit denen über andere Musiker oder über soziale oder Lebensumstände der Zeit. Er durchsetzt die Geschichte vor allem stark mit Zeitzeugenberichten, Ausschnitten aus Interviews mit Tatum oder anderen Musikern und muss sich damit nur selten mit eigenen Mutmaßungen begnügen. Er beschreibt den Ruhm, den Tatum als Solist hatte, und zwar nicht nur in der Welt des Jazz, er schreibt über das schlagzeuglose Klaviertrio, das Tatum zwar nicht erfunden, aber ganz sicher besonders bekannt gemacht hatte, über Konzerte in Kaschemmen, mondänen Nightclubs und auf großen Konzertbühnen, über Jam Sessions mit Kollegen, seine Plattenaufnahmen für Norman Granz und über die unendliche Bewunderung, die Tatum, von Musikern aus allen Stilbereichen des Jazz, aber auch aus der Klassik und von anderswo entgegengebracht wurde. Lehmstedt gelingt es, all diese Puzzleteilchen seiner Recherche zu einen spannend zu lesenden Text zusammenzufügen, in dem seine eigene Bewunderung durchscheint ohne zu dominieren. Die Musik kommt bei alledem manchmal etwas kurz: Lehmstedt ist kein Musikschriftsteller, dem es gelingen könnte, die Musik mit Worten zum Klingen zu bringen. Seine musikalischen Einlassungen lassen es meist beim oft-gelesenen Klischeehaften, ohne tiefer in die Musik einzudringen, ohne zu hinterfragen, was genau an Tatums Tastenvirtuosität so fesselnd ist. Er muss sich auf Kollegen stützen, um dies zu tun, aber dafür hat er genügend — und zwar genügend gute — Schriftsteller, die er zitieren kann. Diese Tatsache ist also keineswegs als Kritik zu werten, und eigentlich fehlt die musikalische Einlassung auch nicht wirklich, denn das Buch heißt nun mal “Eine Biographie”, und es ist am besten mit einer Tatum CD (oder zwei oder drei) zu lesen. Und anzuschauen: Viele Fotos nämlich sind auch dabei, wunderbar reproduziert und oft genug großformatig abgedruckt. Am Ende finden sich eine Diskographie sowie eine ausführliche Literaturliste und ein Personenindex. Das ganze ist eindeutig eine “labor of love”, daneben eine Fleißarbeit und schließlich eine spannende Lektüre für jeden, der dem Klaviergott des Jazz näher kommen will.

(Wolfram Knauer)


 

The Music and Life of Theodore “Fats” Navarro. Infatuation
von Leif Bo Petersen & Theo Rehak
Lanham/MD 2009 (Scarecrow Press)
378 Seiten, 34,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-6721-5

2009navarroLeif Bo Petersen und Theo Rehak (der Bruder des Posaunisten Frank Rehak) sind beide Amateurtrompeter und seit langem von der Musik Fats Navarros fasziniert. Rehak war 1966 durch den Kritiker George Hoefer, der ein Freund der Familie war, auf Navarro aufmerksam geworden und hatte seither Interviews und Informationen über den Trompeter gesammelt. In der vorliegenden Biographie vereinen sie ihr Fachwissen in einem beispielhaften Unterfangen, biographische Details, musikalische Analyse und diskographische Recherche zusammenzubringen. Rehak fand 1969 die Mutter Navarros und konnte so die Kindheit und Jugend des Trompeters sorgfältig recherchieren. Navarro wurde 1923 in Key West geboren. In der Schule begann er Trompete zu spielen, tourte mit Freunden und spielte in Hotels und Kaschemmen. 1941 wurde er Mitglied der Territory Band von Sol Albright in Orlando, später im selben Jahr spielte er in der Band von Snookum Russell in Indianapolis, in der er neben dem Posaunisten J.J. Johnson saß. Von 1943 bis 1945 wirkte er in Andy Kirks Band, in der auch Howard McGhee spielte, und war 1945 mit Coleman Hawkins auf der 52nd Street in New York zu hören. In New York hörte er Dizzy Gillespie, von dem er so begeistert war, dass er dessen Soli Ton für Ton nachspielen konnte. Im Frühjahr 1945 ersetzte er Gillespie in der Band Billy Eckstines. Nach diversen Bigbands war er ab 1946 in kleineren Besetzungen zu hören, etwa von Hawkins, Kenny Clarke oder Eddie Lockjaw Davis. Anfang 1947 spielte er mit der Illinois Jacquet Big Band, ab Herbst des Jahres erschienen dann seine ersten Aufnahmen unter eigenem Namen, die er für das Blue Note-Label einspielte. Er war mit Tadd Dameron zu hören und mit Allstar-Bands um Hawkins oder Lionel Hampton und wurde 1948 Mitglied des Septetts Benny Goodmans, der damals versuchte auf den Zug des modernen Jazz aufzuspringen. 1949 war Navarro bei Bud Powells legendärer Plattensitzung für Blue Note mit dabei und trat 1949 im Birdland mit Charlie Parker auf. Er war damals bereits schwer heroin-abhängig und litt außerdem an fortgeschrittener Tuberkulose, an der er am 6. Juli 1950 verstarb. Petersen und Rehak teilen sich die Arbeit: Rehak erzählt die Lebensgeschichte, sorgfältig recherchiert, gewürzt mit Interviews von Zeitzeugen und Musikerkollegen, Petersen liefert die zwischen die Kapitel geschaltete Diskographie, die allerdings weit mehr ist als eine herkömmliche Diskographie, nämlich zugleich analytische Anmerkungen und Transkriptionen vieler Soli des Trompeters enthält. Für jeden ist etwas dabei, und besser ist es wohl kaum zu machen. Ein mehr als lobenswerter jazzhistorischer Wurf der Buchrreihe, die vom Institute of Jazz Studies an der Rutgers University betreut und herausgegeben wird.

(Wolfram Knauer)


 

Die Stimme im HipHop. Untersuchungen eines intermedialen Phänomens
Herausgegeben von Fernand Hörner & Oliver Kautny
Bielefeld 2009 (transcript)
Reihe Studien zur Popularmusik
210 Seiten, 22,80 Euro
ISBN: 978-3-89942-998-5

2009hoernerSchon lange ist HipHop kein Jugendphänomen allein mehr, schon lange spielt er nicht mehr nur in der Subkultur Afro-Amerikas ab. HipHop ist ein weltweites genreübergreifendes Phänomen geworden, das insbesondere jungen Menschen die Möglichkeit gibt, ihre Kreativität in musikalische Äuzßerungen umzusetzen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes untersuchen, welche Rolle dabei die Stimme spielt, und was Stimme über die Worte hinaus, die mit ihr gesungen und gerapt werden, an Informationen gibt. Murray Forman untersucht dabei, wie vokale Intonation im Rap mit der Konstruktuon symbolischer Werte und sozialer Bedeutungen korreliert. Christian Bielefeldt geht auf die konkreten Inhalte ein, die sich klischeehaft in vielen Rap-Lyrics finden und stellt die beiden Narrative von Black Dandy und Bad Nigga gegenüber. Johannes Ismaiel-Wendt und Susanne Stemmler befassen sich mit der Musik des kanadisch-somalischen MCs K’Naan, dessen Lieder den Hörer im Ineinandergreifen von Stimme, Text, Musik und biographischer Information mit einer Vorstellung von Afrika verbinden, die dem Sänger vorschwebt. Fernand Hörner analysiert den Videoclip “Authentik” der französischen HipHop-Band Suprême NTM. Stefan Neumann schaut auf die HipHop-Skits, die gesprochenen Worte, die sich oft zwischen den Tracks von HipHop-Alben finden. Oliver Lautny untersucht “Flow” als ein rhythmisches Phänomen zwischen Worten, Reimen und Musik. Dietmar Elflein untersucht fünf HipHop-Beats auf die Beziehungen zwischen Beat, Sound und Stimme. Das Buch versammelt dabei sowohl musikwissenschaftliche wie auch allgemein kulturwissenschaftliche und soziologische Ansätze, ist nicht als Einführung ins Thema gedacht, bietet stattdessen jede Menge interessanter Einblicke in ein Forschungsgebiet, das dem Jazz gar nicht ganz so entfernt ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.

(Wolfram Knauer)


 

Jazz behind the dikes. Vijfenachtig jaar schrijven over jazz in Nederland
von Walter van de Leur
Amsterdam 2009
Vossiuspers UvA / Amsterdam University Press
28 Seiten, 8,50 Euro
ISBN: 978-9-056-29555-4

2009vandeleurDas kleine Büchlein der Amsterdam University Press enthält die Antrittsvorlesung Walter van de Leurs als Professor für Jazz und Improvisationsmusik an der Universität Amsterdam im Juni 2008. In ihr beleuchtet er 85 Jahre Schreiben über Jazz in den Niederlanden. Es begann alles Mitte der 1920er Jahre, als erst James Meyer, später die Original Ramblers in Holland zu Popularität gelangten und der Jazz mehr und mehr zu einem berichtenswerten Thema wurde. 1931 rief der Altsaxophonist Ben Bakema die Zeitschrift “De Jazzwereld” ins Leben, die bis 1940 erschien und sich selbst als holländischer “Melody Maker” verstand. 1949 erschien Hans de Vaals Buch “Jazz, van Oerwoudrhythme tot Hollywoodsymphonie”, das doch eine recht eingeschränkte Vorstellung von dem widerspiegelt, was Jazz ausmacht und insbesondere den Bebop als definitive Degeneration der ursprünglichen Jazzmusik verteufelte. Solche Sichtweisen, meint Van de Leur, sagen dabei ja durchaus etwas über Rezeptionshaltungen und ästhetische Diskussionen der Zeit aus. Zwei jüngere Studien zum Jazz in den Niederlanden von Kees Wouters und Henk Kleinhout untersuchen die Früh- und Nachkriegsgeschichte des Jazz in den Niederlanden; eine Studie zur Jazzkritik in den Niederlande allerdings, die dem entsprechen könnte, was John Gennari in seinem Buch “Blowing Hot and Cool. Jazz and its Critics” für die USA vorgelegt hat, fehle bislang noch. Die letzten vierzig Jahre des niederländischen Jazzlebens seien aber überhaupt kaum wissenschaftlich (oder mit der notwendigen kritischen Distanz) bearbeitet worden, auch Kevin Whitehead’s “New Dutch Swing” enthalte nicht viel mehr als ein atmosphärisches Bild der Amsterdamer Szene. Jazzjournalistik sei in den Niederlanden wie anderswo auch ein oft von Laien und Liebhabern beackertes Feld; Journalisten, die mit tatsächlichem journalistischem Ethos an ihre Arbeit gehen, von der Sache etwas verstehen und zugleich die notwendige kritische Distanz besitzen, seien eher selten. Aber wie solle das auch anders sein, wo doch selbst die Musiker des Jazz anfangs höchstens in anderen Bands, Workshops etc. Unterricht erhalten haben, ihren eigenen Weg aber selbst suchen mussten. Auch auf der Hochschule lerne man höchstens das Handwerk, den eigenen Weg müsse man auch hier selber finden. Nicht anders, scheint sein Fazit, sei es wohl, wenn man über Jazz schreiben wolle. Der Lehrstuhl jedenfalls, den Van de Leur an der Universität von Amsterdam angetreten hat, soll auch dabei helfen, das Denken, Forschen und Schreiben über Jazz und improvisierte Musik in den Niederlanden zu verbessern.

(Wolfram Knauer)


 

Blue Note Photography: Francis Wolff / Jimmy Katz
herausgegeben von Rainer Placke & Ingo Wulff
Bad Oeynhausen 2009
jazzprezzo
204 Seiten, 2 CDs, 70 Euro
ISBN: 978-3-9810250-8-8

2009bluenoteVor 70 Jahren erschien die erste Platte des Labels Blue Note, gegründet von den beiden in Deutschland geborenen Exilanten Alfred Lion und Francis Wolff. In diesem Jahr häufen sich also die Jubelfeierlichkeiten, und es ist irgendwie vielleicht ganz passend, dass das Hauptwerk hierzu aus einem deutschen Verlag stammt, herausgegeben von zwei ästhetischen Überzeugungstätern, die darin den gründern von Blue Note ganz ähnlich sind, die auch nur aufnahmen, was ihnen gefiel. Francis Wolff war nicht nur Eigner des Labels, sondern zugleich Fotograf, und seine sicht der Musiker bestimmt bis zum heutigen Tag die visuelle Vorstellung jener legendären Aufnahmen insbesondere aus den 1950er und 1960er Jahren. Placke und Wulff sichteten hunderte von Kontaktbögen und wählten Fotos aus, in denen sich entweder die Atmosphäre der Aufnahmesitzungen besonders gut mitteilt oder aber in denen Francis Wolff Musiker inner- oder außerhalb des Studios in ungewöhnlichen Settings zeigte. Es sind Fotos, die Jazzgeschichte schrieben, Fotos, die aussehen wie solche, die Jazzgeschichte schrieben (weil sie von derselben Fotosession stammen) und Fotos, die man noch nie gesehen hat, die aber gerade in der Bündelung dieses Buchs die Menschen dahinter, die Musiker, ihre Kunst und künstlerische Verletzlichkeit näherbringen. Eine Aufnahmesitzung von 1946, bei der sich Sidney Bechet und Albert Nicholas gegenüberstehen, aufmerksam, konzentriert, aber offensichtlich noch nicht bei der Aufnahme. Miles Davis mit übereinandergeschlagenen Beinen und leicht zur Seite gelegtem Kopf. Davis, der J.J. Johnson eine Stelle auf dem Klavier vorspielt. Clifford Brown, konzentriert in die Trompete blasend, Bud Powell, aufmerksam zuhörend. Jimmy Smith, rauchend und lachend (einem Playback zuhörend?). Thad Jones in die Ferne blickend zwischen parkenden Autos oder, in einem anderen Bild, an ein Straßenschild lehnend. Paul Chambers mit Bass vor dem Alvin Hotel. Max Roach, konzentriert Stöcke balancierend hinter seinem Schlagzeugset. Sonny Rollins, ein wenig ermüdet im Rudy van Gelder Studio. Mittagsause auf dem Hof des Studios mit Clifford Jordan, Lee Moran und anderen. Donald Byrd, der einem kleinen Kind seine Trompete zeigt. John Coltrane, konzentriert zuhörend. Bud Powell im Auto, Noten studierend, mit seinem Sohn. Lou Donaldson im Park, Jackie McLean mit einem Kapuzineräffchen oder an einer Pariser Metrostation, Dexter Gordon in der Kutsche. Der blutjunge Tony Williams hinterm Schlagzeug, Wayne Shorter, nachdenklich auf seinem Instrumentenkoffer sitzend, Dexter Gordon mit einer Zeitungsverkäuferin flirtend. Elvin Jones mit nacktem Oberkörper und sichtichem Spaß an der Musik, Herbie Hancock auf dem Boden liegend, rauchend, entspannend. Cecil Taylor, Ornette Coleman, Don Cherry, Pharoah Sanders. Namen, Gesichter, Instrumente, Sounds. Es ist erstaunlich von welcher bildlichen Qualität diese Fotos zeugen, die die Musiker als Menschen zeigen, kritisch, meditativ, reflexiv, in einem kreativen Prozess, der dauernde Aufmerksamkeit erfordert. Jimmy Katz hat seit den frühen 1990er Jahren Fotos für das wiederbelebte Blue-Note-Label gemacht. Und auch wenn er nicht vom Fotografen Francis Wolff beeinflusst ist, so stammen seine Bilder doch aus einem ähnlichen Geiste: Auch er versucht die Persönlichkeit einzufangen, die Magie der Musik, wie sie sich in der Haltung und den Gesichtern der Musiker widerspiegelt. Einige Musiker begegnen uns in seinen Bildern wieder, etwa Elvin Jones, Andrew Hill oder Max Roach. Andere lassen uns vergegenwärtigen, dass diese lange Tradition noch immer lebt: dass der Jazz fortbestehen wird, solange es kreative Musiker gibt. Das Buch wird angerundet durch Artikel von Michael Cuscuna, Ashley Kahn, Bruce Lundvall, Rudy Van Gelder und Jimmy Katz. Zwei CDs geben einen Querschnitt durch die Blue-Note-Plattengeschichte von Albert Ammons und Meade Lux Lewis über Sidney Bechet, Thelonious Monk, Bud Powell, Art Blakey, John Coltrane, Herbie Hancock bis zur jungen Blue-Note-Generation, Cassandra Wilson, Jacky Terrasson, Joe Lovano, Greg Osby oder Dianne Reeves. Ein mächtiges Buch, ein schweres Buch, und irgendwie schon jetzt ein Buch des Jahres. Mit Liebe zusammengestellt; von Ingo Wulff verlässlich hervorragend gestaltet, auf schwerem Papier gedruckt. Weihnachtsgeschenk? Weihnachtsgeschenk!

(Wolfram Knauer)


 

Heiko Ueberschaer (Herausgeber)
The German Real Book Vol. I
Schiffdorf Wehdel 2009
Nil Edition
keine Seitenzählung, 39,90 Euro
keine ISBN-Nummer

2009germanrealbookDas Real Book ist seit Jahrzehnten unverzichtbares Hilfsmittel für Jazzmusiker, wenn sie erfolgreich Gigs oder Jam Sessions bestreiten wollen. Ursprünglich war es eine klug zusammengestellte Sammlung der wichtigsten Standards; bald aber gab es spezielle Real Books, die insbesondere versuchten neben den althergebrachten Musical-Kompositionen auch Kompositionen aktueller Musiker zu präsentieren und so vielleicht auch das allgemein verwendete Repertoire des Jazz ein weing zu aktualisieren und erneuern. Es gab spezielle Real Books, die sich besonderen Stilen zuwandten (Latin Real Book) und solche, die Kompositionen von regionalen Musikern vorstellten. Einige Beispiele für nationale Real Books existieren auch bereits, so etwa ein Swiss Real Book und selbst ein Hamburg Real Book. Nun hat der Nil Verlag mit dem German Real Book nachgezogen. Wo man im originalen Real Book jeden der Titel kennt, weil er sich über Generationen ins Repertoire gebrannt hat, da gehen solche Spezial Real Books den genau umgekehrten Weg: Die in ihnen enthaltenen Kompositionen sind wahrscheinlich den wenigsten bekannt, sollen ja erst durch die Sammlung die Hoffnung darauf, dass das Repertoire bei Sessions oft gespielt wird und sich dadurch Lieblingstitel herausmendeln zu zumindest nationalen Standards werden. Die Komponisten des German Real Books stammen zumeist aus der jüngeren Generation; die Heroen des deutschen Jazz der 1950er, 1960er oder 1970er Jahre also sucht man vergebens. Clemens Orth Jan Klare, Jörg Widmoser, Marco Piludu, Achim Kück, Peter Autschbach, Martin LeJeune, Massoud Goudemann, Dirik Schilgen, Ralph Abelein, Christian Ammann, Andreas Hertel, Michael breotenbach und etliche andere sind mit bis zu drei Titeln vertreten; insbesamt umfast das Buch immerhin 125 Kompositionen deutscher Komponisten und Komponistinnen. Nur elf davon übrigens haben einen deutlich als deutsch erkennbaren Titel; der rest meist englische Überschriften. Es gibt, wie nicht anders zu erwarten, Lead Sheets mit Harmoniesymbolen und einige kleine Arrangements, einfachere Themen, die den üblichen Formschemata gehorchen (Blues, 32-Takte etc.), aber auch komplexere, mehrteilige Stücke, die allerdings eher den kleineren Teil des Buchs ausmachen. Wie gesagt: Was davon wirklich zu deutschen Standards werden kann bleibt abzuwarten und wird sich aus der Akzeptanz bei den Jazz Sessions in den Clubs ergeben. Eine gelungene Edition ist das Buch allemal und es bleibt zu hoffen, dass verschiedene Clubs vielleicht ab und an German Real Book Jam Sessions einführen, bei denen dieses Buch als Vorlage für den Abend dient und die Musiker sich der Musik ihrer Kollegen annehmen.

(Wolfram Knauer)


 

Heinz Protzer
Attila Zoller. Sein Leben – Seine Zeit – Seine Musik. Mit einer Diskographie von Dr. Michael Frohne

Erftstadt 2009
Selbstverlag des Autors
334 Seiten, 22,50 Euro
ISBN: 978-3-00-026568-6
zu beziehen über den Buchhandel oder direkt beim Autor: zollerbuch@prohei.de.

2009protzerAttila Zoller gehört zu wichtigsten europäischen Gitarristen der 1950er und 1960er Jahre und hat auch nach seinem Umzug in die USA konsequent eine ästhetisch suchende Haltung verfolgt, die das Risiko und das Suchen nach neuen Wegen der Sicherheit und den ausgetretenen Pfaden vorzog. Heinz Protzer würdigt Leben und Musik dieses ungaro-austro-deutsch-amerikanischen Musikers in einem umfangreichen Buch, in dem auch Kollegen und Zeitzeugen ausführlich zu Wort kommen. Bis 1948 lebte der 1927 geborene Attila Zoller in Ungarn, wo er traditionelle Musik spielte, aber etwa um 1946/47 auch zum ersten Mal Jazz hörte. 1948 ging er nach Wien, wo er endgültig zum Jazz konvertierte. Er spielte mit Joe Zawinul, Hans Koller und vor allem mit der Vibraphonistin Vera Auer, in deren Quartett er einige Jahre lang mitwirkte. 1954 zog es ihn nach Deutschland, wo es vor allem in den US-Army-Clubs viel Arbeit gab. Zoller wurde in die Frankfurter Jazzszene aufgebommen, mit deren Musikern er auch ästhetisch einiges gemeinsam hatte: das Interesse an musikalischen Experimenten à la Lennie Tristano beispielsweise. Bald spielte er mit Jutta Hipp, dann mit dem New Jazz Ensemble Hans Kollers, lebte ein Nomadenleben im Untergrund der Jazzszene. 1958 gründete er ein Quartett zusammen mit dem damals in Baden-Baden lebenden Bassisten und Cellisten Oscar Pettiford, dem außerdem Koller und der Schlagzeuger Jimmy Pratt angehörten. 1959 erhielt Zoller durch Fürsprache seines Kollegen Jim Hall ein Stipendium für die School of Jazz in Lenox, eine Art Jazz-Sommerakademie und erreichte das Ursprungsland des Jazz im Spätsommer 1959. Dort war er auch seiner Verlobten Jutta Hipp wieder nahe — die Beziehung ging allerdings bald darauf in die Brüche und er spielte sogar mit dem Gedanken, nach Deutschland zurückzukehren. Allerdings lernte er bald darauf eine andere Frau kennen, die er im Februar 1960 heiratete. Er spielte in den New Yorker Clubs, arbeitete als Vertreter für die Gitarrenbaufirma Framus, wirkte in den Bands von Herbie Mann und Dave Pike mit. Zwischendurch reiste er immer wieder mal nach Europa, erhielt 1965 einen Preis für seine Musik zum Film “Das Brot der frühen Jahre” nach Heinrich Böll und spielte die vielgerühmte Platte “Heinrich Heine – Lyrik und Jazz” ein. Ende der 1960er Jahre nahm er ein vielbeachtetes Album mit Albert Mangelsdorff und Martial Solal auf und baute in den 1970er Jahren in Vermont, wo er sich niedergelassen hatte, eine Art Jazzschule auf. In den 1970er bis 1990er Jahren arbeitete er mit vielen unterschiedlichen Musikern, litt aber nach 1994 stark unter einer Krebserkrankung, an der er am 25. Januar 1998 verstarb. Protzer hat die Lebensgeschichte des Gitarristen sorgfältig recherchiert und reichert sie um Interviewausschnitte sowohl mit Zoller als auch ihm verbundenen Musikern an. Ein als “Chronik” überschriebener Teil des Buch stellt die Biographie in Beziehung zu allgemein- und musikgeschichtlichen Ereignissen und Entwicklungen der Zeit. Im Kapitel über seine Musik zitiert er vor allem Kritiken und andere Literaturl, die Zollers musikalische Leistungen würdigt, beschreibt aber nicht wirklich die musikalischen Besonderheiten in seinem Spiel. Es gibt ein Kapitel zur Filmmusik — neben dem “Brot der frühen Tage” schrieb Zoller etwa auch die Musik zu “Katz und Maus” nach Günter Grass –, ein Kapitel über Zoller, den Innovator, und eines über den Pädagogen und Gründer des Vermont Jazz Center. Außerdem finden sich Originalbeiträge von Zeitzeugen und Musikern, Würdigungen von Alexander Schmitz, Gudrun Endress, Jimmy Raney, Sandor Szabo, Klaus Doldinger, Lajos Dudas, Willi Geipel, Helmut Nieberle, Fritz Pauer, Aladar Pege, Werner Wunderlich, Matthias Winckelmann und Ingeborg Drews. Am Ende des Buchs steht eine von Michael Frohne zusammengestellte umfassende Zoller-Diskographie, die Aufnahmen von 1950 bis 1998 verzeichnet. Ein Personenindex und etliche zum Teil seltene und bislang unveröffentlichte Fotos runden das Buch ab, das nicht nur eine große Verbeugung vor Attila Zoller, dem innovativen Gitarristen darstellt, sondern auch ein Beitrag zur europäischen Jazzgeschichte und zur (noch ungeschriebenen) Geschichte europäischer Expatriates in den USA ist.

(Wolfram Knauer)


 

Andrew Wright Hurley
The Return of Jazz. Joachim-Ernst Berendt and West German cultural change

New York 2009
Berghahn Books
296 Seiten, 58 US-Dollar
ISBN: 978-1-84545-566-8

2009hurleyJoachim Ernst Berendt wurde oft als der “Jazzpapst” beschrieben, und tatsächlich war sein Einfluss so allumfassend, dass über all die Jahre keine Veröffentlichung aus Deutschland sich kritisch würdigend mit seiner Rolle in der deutschen Nachkriegs-Jazzgeschichte befasst hat. Vielleicht bedurfte es des Blicks von außen, und vielleicht ist es symptomatisch, dass das erste Buch, die erste Studie über Berendt den Kritiker, Produzenten, Macher und Philosophen von einem Forscher stammt, dessen Arbeitsmittelpunkt so weit von Deutschland entfernt liegt wie nur irgend möglich: vom Australier Andrew Hurley. Hurley hat das Jazzinstitut Darmstadt für das vorliegende Buch öfters und ausgiebig besucht, in Berendts Papieren und Korrespondenz gewühlt und mit vielen Musikern und Kollegen des Jazzpapstes gesprochen. Ihm ist dabei eine Studie gelungen, die sich mit fast allen Aspekten des Berendtschen Schaffens auseinandersetzt: mit Religion, Politik, Rassismus, Antifaschismus, Weltoffenheit, mit musikalischer Neugier, Machtbewusstsein und einem durchaus manchmal übersteigerten Selbstbewusstsein, mit seiner Selbsteinschätzung als Neuerer und Ermöglicher, als Verteidiger einer neuen Kunst gegen den Zopf der alten Meinungen Europas. Hurley beschäftigt sich dabei mit Berendt genauso wie mit seinen Kritikern, klopft die Argumente auf beiden Seiten auf die tatsächlichen Entwicklungen und ihre Folgen ab und zeichnet dabei das Bild eines kreativen Musikimpresarios, dessen Entwicklung folgerichtig von seinen Jugenderfahrungen im kirchlichen Elternhaus und mit den Folgen des Nazi-Reichs über die Entdeckung einer Individualismus predigenden Musik hin zu weltmusikalischer Neugier und schließlich zu einer körper-klang-orientierten Suche nach dem Sinn von Leben und Sein führt, alle Etappen tief in musikalischen Erfahrungen getränkt, aus denen er seine eigenen Erklärungsversuche abzuleiten verstand. Das Buch ist eine historische Dissertation und dennoch spannend zu lesen, vielleicht gerade wegen des Blicks von außen, der manchmal mehr Klarheit erlaubt als es vielleicht uns möglich ist, deren aller erstes Jazzbuch das Berendtsche war. Das Jazzinstitut wird des öfteren erwähnt, weil es Berendt verbunden bleibt und hier der Berendtsche Nachlass seinen Platz fand. Das Vorwort stammt von Dan Morgenstern, dem Direktor des Institute of Jazz Studies, der zugleich Berendts Jazzbuch ins Englische übersetzte. Das Nachwort stammt von Wolfram Knauer, der einen Blick auf die Bedeutung Berendts für den deutschen Jazz bis heute wirft.

(Wolfram Knauer)


 

Roy Nathanson
subway moon

Köln 2009
buddy’s knife jazzedition
135 Seiten, 16,00 Euro
ISBN: 978-3-00-025376-8

2009nathansonDer kleine Kölner Verlag buddy’s knife hat sich darauf spezialisiert, poetische Texte insbesondere amerikanischer Musiker herauszubringen, die eine andere Seite ihrer Kreativität zeigen. Nach Bänden mit Gedichten von Henry Grimes sowie Gedichten und Texten von William Parker ist jetzt ein Band erschienen, in dem der Saxophonist Roy Nathanson zu Worte kommt. Seine Musik, schreibt Jeff Friedman im Vorwort, sei ohne seine Lyrik nicht vorstellbar und seine Lyrik lebe von den Rhythmen seiner Musik. Man denkt ein wenig an Lester Youngs Diktum, er kenne alle Texte zu den Songs, die er interpretiere und könne sich gar nicht vorstellen, wie man ohne die Kenntnis der Texte kongeniale Geschichten darüber improvisieren könne. Wenn Musik nun das Leben widerspiegelt, dann sind die Texte der Improvisationen Nathansons vielleicht die Worte, die er hier anordnet, um sie lyrisch seine eigene Befindlichkeit beschreiben zu lassen. Nathanson, der aus der Knitting-Factory-Szene New Yorks stammt und mit den Jazz Passengers, mit Projekten mit Anthony Coleman und eigenen Bands arbeitete, schreibt Gedichte über sein Instrument, darüber, wie er Drittklässler unterrichtet oder über die Soundanlagen in Clubs. Er fragt in einem seiner Gedichte, ob es wohl eine Formel gibt, wie man eine Geschichte entwickeln kann, wenn sie sich bereits in voller Geschwindigkeit befindet. Oder er fragt sich, auf welche Tonhöhe wohl die U-Bahn gestimmt sein möge. Andere Gedichte spiegeln sein privates Leben wider oder die politischen Entwicklungen in Nah und Fern. Der Tod seines Bruders, die Bombadierung des Libanons, Freundschaft, geliebte Städte, Menschen, Kollegen. Ein Gedicht ist der Zirkularatmung gewidmet, und am Schluss steht ein längerer Text über seinen Vater, wenige Wochen nach dessen Tod geschrieben. Der war an Alzheimer erkrankt, und Nathanson beschreibt, wie er ihm, der früher selbst als Musiker gearbeitet hatte, bei einem Besuch ein Saxophon mitgebracht habe. Er habe geswingt und die Melodie auf eine Art und Weise gespielt, wie Nathanson es selten gehört habe. Diese Konzentration auf die Melodie, die Reduktion aufs Lyrische, das Zusammenspiel zwischen Lyrik, Rhythmik und Melodie — all das spürt man auch in diesem Buch, das überaus persönlich ist und dabei in jeder Zeile auch der Musik verbunden bleibt.

(Wolfram Knauer)


 

Kai Lothwesen
Klang, Struktur, Konzept. Die Bedeutung der Neuen Musuik für Free Jazz und Improvisationsmusik
Bielefeld 2009
transcript Verlag (Studien zur Popularmusik)
261 Seiten, 27,80 Euro
ISBN: 978389942-930-5

2009lothwesenKai Lothwesens musikwissenschaftliche Dissertation befasst sich mit den Einflüssen der europäischen Kunstmusik auf den Free Jazz und die improvisierte Musik. Er untersucht damit eine musikalische Ausprägung, die immer ein wenig in ihrem Bezug auf die afro-amerikanische Tradition und die europäische zeitgenössische Musik schwankte und schon in ihrer Benennung (Free Jazz, improvisierte Musik) leichte identitätsprobleme andeutete. Er beschreibt die Merkmale der europäischen Improvisationsmusik, untersucht das Verhältnis von Komposition und Improvisation, analysiert die Traditionen der Neuen Musik und des Jazz und wagt eine Positionsbestimmung des Free Jazz und der Improvisierten Musik. Einem theoretisch analysierenden Kapitel folgen dann konkrete praktische Fallbeispiele, namentlich die Pianisten Georg Graewe und Alexander von Schlippenbach sowie der Bassist Barry Guy. Zum Schluss vergleicht er die Parameter “Klang”, “Struktur” und “Konzept” auf Parallelen zwischen Neuer Musik und Free Jazz / Improvisierter Musik. Das Buch bietet eine theoretische Grundlage zur weiteren Auseinandersetzung mit den gegenseitigen Einflüssen zwischen Jazz und Neuer Musik.

(Wolfram Knauer)


 

Erik Kjellberg
Jan Johansson – tiden och musiken

Hedemora – Möklinta/Sweden 2009
Gidlunds förlag
442 pages, accompanying CD
ISBN: 978-91-7844-753-4

2009kjellbergJan Johansson gehört zu den einflussreichsten schwedischen Musikern des modernen Jazz. In Kopenhagen begleitete er Ende der 1950er Jahre Stan Getz und andere amerikanische Musiker, beschäftigte sich daneben aber auch damit, einen schwedischen Klang in seiner Musik zu verfolgen. Sein Album “Jazz på Svenska” nutzte alte schwedische Volksweisen für die Arrangements und Improvisationen, die in der Stimmung und Klangästhetik bereits viel von dem vorwegnahmen, was später Musiker wie Esbjörn Svensson als neuen schwedischen Sound populär machen sollten. Erik Kjellbergs Biographie verfolgt Johanssons Leben von seinen Anfängen bis zu seinem frühen Tod durch einen Autounfall. Er beschreibt die musikalische Emanzipation und Selbstbewusstwerdung des schwedischen Musikers, aber auch seine Ausflüge in die Filmmusik (etwa als Komponist von Astrid-Lindgren-Verfilmungen), seine Arbeit fürs schwedische Radio und seine Kompositionen für Besetzungen zwischen Trio, Combo und Sinfonieorchester. Der Fließtext, der das Leben des Pianisten und Komponisten chronologisch und die Musik nach Gattungen getrennt beleuchtet verbindet biographische Forschung, Interviews mit Zeitgenossen und Musikerkollegen sowie musikalische Analysen ausgewählter Stücke, die mit leräuternden Notenbeispielen verbunden sind. Bislang unveröffentlichte Fotos, eine ausführliche Diskographie sowie ein Namens- und Titelindex und schließlich eine CD mit Aufnahmen zwischen 1963 und 1968 runden das Buch ab, für das der Leser des Schwedischen schon einigermaßen mächtig sein sollte. Eine eindrucksvolle und beispielhafte Monographie eines bis heute nachwirkenden Musikers.

(Wolfram Knauer)Swing from a Small Island. The Story of Leslie Thompson
von Leslie Thompson & Jeffrey Green
London 2009 (Northway)
203 Seiten, 19,99 Britische Pfund
ISBN: 978-0-9557888-2-6

2009thompsonLeslie Thompson gehört zu den bedeutendsten britischen Jazzmusikern der 1930er Jahre. 1985 setzte er sich mit dem Musikhistoriker Jeffrey Green zusammen, um seine Lebensgeschichte aufzuzeichnen, die Green später redigierte und in lesbare Form brachte. Die erste Ausgabe der Autobiographie erschien 1985; die Wiederveröffentlichung ist ein willkommenes Dokument zur europäischen Jazzgeschichte.

Thompson kam 1901 in Jamaika zur Welt. Er erzählt über das Leben auf der Insel und seinen Wunsch Musiker zu werden. 1919 schiffte er sich mit einigen Mitmusikern nach England ein, wo er bald darauf Musik studierte. Zurück in Jamaika spielte er Trompete in Tanzkapellen und wurde Leiter einer Kapelle, die Stummfilme im Kino begleitete. Als der Tonfilm aufkam, sah er seine Arbeitsmöglichkeiten schwinden, kaufte eine Schiffspassage und setzte sich 1929 endgültig nach England ab.

Anfangs ohne Arbeit, traf Thompson nach einer Weile auf Will Garland, einen amerikanischen Konzertveranstalter, der verschiedene afro-amerikanische oder auch afrikanische Show-Acts managte und ihn engagierte. Thompson berichtet vom Alltag eines Unterhaltungsmusikers im London der frühen 1930er Jahre, von rassistischen Vorbehalten und von Überlebensstrategien. Er beschreibt einige der Acts, die er begleitete, aber auch die Szene der Theaterorchester, in der er bald einen Platz einnahm, so etwa in Noel Cowards Show “Words and Music” von 1932.

Im selben Jahr hörte er Louis Armstrong während dessen Londoner Konzerten, und als Armstrong im nächsten Jahr allein zu einem längeren Europaaufenthalt zurückkam, wurde Thompson Teil seiner europäischen Begleitband. Später spielte der Trompeter mit Ken Johnsons Jamaican Emperors of Jazz und andere schwarzen britischen Bands. 1942 wurde Thompson eingezogen, schnell aber zur Leitung einer Armeekappelle abgestellt. Nach dem Krieg schrieb er sich in der Guildham School of Music ein, entschied sich dann 1954, das Musikgeschäft ganz zu verlassen. In einer weiteren Karriere arbeitete er bis 1971 als Bewährungshelfer und danach noch fünf Jahre als Gefängniswärter.

Thompsons Autobiographie ist jazzhistorische Zeitgeschichte, ein wichtiges und wenig dokumentiertes Kapitel des europäischen Jazz, im Stil sehr persönlich gehalten und von Jeffrey Green in einen flüssig zu lesenden Text redigiert. Ein Anmerkungsapparat erklärt historische Sachverhalte; ein weiterer Anhang Aussagen von Zeitgenossen über Thompson. Ein Namensindex schließt das Buch ab, in dem außerdem etliche seltene Fotos abgedruckt sind.

Wolfram Knauer (Dezember 2013)


 

When Swing Was the Thing. Personality Profiles of the Big Band Era
von John R. Tumpak
Milwaukee 2009 (Marquette University Press)
264 Seiten, 35 US-Dollar
ISBN: 978-0-87462-024-5

2009tumpakAls in Kalifornien ansässiger Jazzjournalist beschäftigt sich John Tumpak sich seit langem mit der Bigband-Ära, den Jahren zwischen 1935 und 1946, als der Jazz die populäre Musik Amerikas war. Sein Buch “When Swing Was the Thing” enthält Profilen über und Interviews mit vierzehn Bandleadern, fünfzehn Sidemen, elf Vokalisten, fünf Arrangeuren und vier sonst mit dem Bandbusiness der Swingära befassten Personen. Tumpaks Auswahl umfasst bedeutende Stars wie Benny Goodman, Glenn Miller, Artie Shaw, Chick Webb, aber auch weniger nachhaltig wirkende Bands wie Horace Heidt, Alvino Rey, Orrin Tucker und andere.

Die Kapitel gehen knappe biographische Abrisse und widmen sich dann vor allem den Zwängen des Bandbusiness der 1930er und frühen 1940er Jahre. Nebenbei stellt Tumpak einige der wichtigen Spielstätten vor, bietet einen Einblick in die Agenturtätigkeit, die notwendig war, um solch große Orchester im ganzen Land zu buchen, benennt Rundfunk und Fernsehen als wichtige PR-Standbeine neben der Schallplatte. Von nachhaltiger Wirkung für den späteren Jazz sind unter den von ihm ausgewählten Bandleadern neben Goodman, Webb und Shaw vor allem John Kirby und Gerald Wilson.

Den für diesen Rezensenten spannendste Teil des Buchs bilden die Porträts ehemaliger Swingband-Sidemen, die in ihren Interviews mit Tumpak oft genug vom Alltag erzählen, aber auch von den Auswirkungen der stilistischen Umbrüche nach dem Bebop. Milt Bernhart, Buddy Childers, John LaPorta und Jake Hanna sind in diesem Teil die vielleicht bekanntesten Namen. Jack Costanzo mag man als Anfang der 1950er Jahre recht präsenten Bongospieler zumindest dem Sound nach kennen, der außerdem etlichen Hollywood-Stars das Bongospiel beibrachte. Rosalind Cron gehörte zu den International Sweethearts of Rhythm, mit denen sie 1945/46 auch durch die US-Armeebasen in Europa tourte. Den Gitarristen Roc Hillman, der mit den Dorsey Brothers spielte, oder den Trompeter Legh Knowles, der bei Glenn Miller seine Karriere begann und später ein erfolgreicher Weinbauer im Napa Valley wurde, wird selbst unter Jazzexperten kaum jemand kennen. Gleiches gilt für den Posaunisten Chico Sesma, der seit den frühen 1940er Jahren auf der Latin-Szene Süd-Kaliforniens aktiv ist, oder den Saxophonisten und Sänger Butch Stone, der in der Van Alexander Band als “der weiße Louos Jordan” bekannt wurde. Unter den von Tumpak vorgestellten Sidemen ist schließlich einer, der es in anderer Funktion zu weltweiter Bekanntheit brachte: Der Saxophonist Alan Greenspan gab seine vielversprechende Musikerlaufbahn auf, um sich der Ökonomie zu widmen und später von 1987 bis 2007 Chef der US-Notenbank zu werden.

Die Bigbandära war reich an Sängerinnen und Sängern, und Tumpak stellt auch diese vor. Bob Eberly wurde vor allem als Vokalist der Dorsey Brothers bekannt; Herb Jeffries sang sowohl mit Earl Hines als auch mit Duke Ellington. Jack Leonard erzählt über seine Zeit bei Tommy Dorsey, wo er durch keinen geringeren als Frank Sinatra ersetzt wurde. Jo Stafford und Kay Starr legten auch nach der Swingära anhaltende Karrieren hin; die Namen Dolores O’Neill oder Bea Wain dagegen muss der durchschnittliche Jazzfan wahrscheinlich eher googeln.

Frank Comstock berichtet über seine Arrangierarbeit für Les Brown, aber auch für die Zusammenarbeit mit Doris Day. Johnny Mandel erzählt, dass er in den 1940er Jahren zusammen mit Miles Davis und anderen in Gil Evans’ Apartment auf der 55sten Straße in Manhattan rumhing. Die drei Arrangeure Fletcher Henderson, Don Redman und Sy Oliver schließlich werden in einem Kapitel zusammengefasst, bevor der letzte Teil des Buchs die Radio-DJs Chuck Cecil und Henry Holloway, den Promoter Tom Sheils und den Kritiker George T. Simon vorstellt.

“When Swing Was the Thing” zeichnet sich dadurch aus, dass der Autor die bekannten Pfade der Swingära zwar nicht außer Acht lässt, seinen Fokus aber insbesondere auf weniger bekannte Persönlichkeiten legt, Musiker, deren Arbeit notwendig war, um die Swingindustrie am Leben zu halten. Tumpak kategorisiert nicht, und auch die Rollenverteilung schwarz-weiß, die politische oder wirtschaftliche Situation, in der sich die Musik in jenen Jahren abspielte, werden von ihm kaum kritisch hinterleuchtet. Man mag die Auswahl an Porträt-Subjekten hinterfragen, bei denen ein deutliches Schwergewicht auf weißen Bands und Musikern liegt; man mag sich wünschen, dass der Autor in seinen Gesprächen tiefer in Details über den musikalischen Alltag eingedrungen wäre. Das aber war nie seine Intention gewesen, wie Tumpak gleich in seinem Vorwort erklärt: Er wollte vor allem den persönlichen Hintergrund der von ihm porträtierten Musiker vorstellen, Charakterstudien erstellen. Das ist ihm auf jeden Fall gelungen, und weit über 100 seltene Fotos runden das Buch ab, das damit einen etwas anderen Einblick in die Swingära erlaubt.

Wolfram Knauer (November 2013)


 

New Orleans Trumpet in Chicago
von Christopher Hillman & Roy Middleton & Clive Wilson
Tavistock/England 2009 (Cygnet Productions)
100 Seiten, 12 Britische Pfund (inclusive Porto innerhalb Europas)
Bestellungen über gooferdust@hotmail.com

2009hillmanDie Jazzforschung hat wissenschaftliche Studien immer genauso gebraucht wie Recherchen von musikalischen Laien, die dieser Musik aber mit Herzblut verbunden waren. Von Jazzfans in ihrer Freizeit erstellte Diskographien entsprechen dabei oft genug dem, was in der klassischen Musik als Werkverzeichnis bezeichnet wird und Musikforschern früher durchaus einen akademischen Grad einbringen konnte. Dies sei vorausgeschickt, denn die Würdigung der nicht-akademischen Beiträge zur Jazzforschung ist nicht zu unterschätzen.

Christopher Hillman ist einer der aktiven Forscher dieses Metiers. Ein Spezialist für frühen New-Orleans-Jazz hat er seit den frühen 1970er Jahren regelmäßig über die Heroen aus New Orleans publiziert, in Magazinen wie Storyville, dem Jazz Journal, Footnote und anderen Publikationen, die nicht so sehr journalistische Aspekte als vielmehr eine ernsthafte Recherche in den Vordergrund stellten.

Im vorliegenden Band finden sich Recherchen, die Hillman, Roy Middleton und Clive Wilson zu fünf Trompetern machten, die aus New Orleans stammte, die durch ihre Karriere aber bald nach Chicago verschlagen wurden. Jedes der Kapitel beginnt mit einer biographischen Würdigung und einem kurzen Abriss über die Tätigkeit des betreffenden Musikers im Chicago der 1930er (bis 1950er) Jahre. Die herausgestellten Künstler sind die Trompeter Lee Collins, Punch Miller, Herb Morand und Guy Kelly, die in der Chicagoer Jazzszene der 1930er Jahre besonders aktiv waren sowie der Schlagzeuger Snags Jones, der viel mit Punch Miller arbeitete, mit Lee Collins befreundet war und ein wenig im Schatten seines bekannteren Kollegen Baby Dodds stand.

Das Buch genauso wie andere Publikationen in dieser Reihe ist sicher vor allem für Sammler interessant. Die Verbindung der biographischen Darstellung und Diskographie ist allemal eine sinnvolle Kombination, die eine historische Einordnung der verzeichneten Aufnahmen erlaubt. Die Autoren runden das alles mit zum Teil seltenen Fotos der Bands sowie der Plattenlabels ab. Als Dreingabe gibt es eine CD mit seltenen Aufnahmen von Lee Collins aus den frühen 1950er Jahren sowie mit Punch Miller und Snags Jones aus dem Jahr 1941.

Wolfram Knauer (September 2013)


 

100+1 Saxen. De collectie van Leo van Oostrom
von Leo van Oostrom
Amsterdam 2009 (Edition Sax)
160 Seiten, 30 Euro
ISBN: 978-09-90-24403-7

2009oostromLeo van Oostrom ist als Saxophonist Mitglied des Metropole Orckestra, leitet außerdem das Dutch Saxophone Quartet und sammelt Instrumente. 101 Sammlerstücke aus seinem Fundus stellt er nun in einem exklusiven Fotoband vor.

Nach einleitenden Kapiteln zu den verschiedenen Herstellern, Adolphe Sax selbst etwa, Adolphe Edouard Sax, Henri Selmer, oder Ferdinant August Buescher finden sich Instrumente aller Tonlagen und Größen, mit instrumentenspezifischen Angaben zum Baujahr, zur Größe, zum Tonumfang.

Am exotischsten sind die Abbildungen seltener Saxophonvarianten wie des Couenophons oder des Saxettes des Playasax oder des Mellosax, des Swanee-Sax, des Oktavins und einiger Nicht-Saxophon-Varianten, des Tarogato etwa, des JeTeL-Sax. Zu einigen dieser Sonderfabrikate erhält man nüchterne Informationen in Van Oostroms dreisprachigem Text (Niederländisch, Englisch, Französisch), zu vielen der Instrumente wünschte man sich darüber hinaus, sie einmal in Aktion zu hören.

Van Ostroms Buch ist sicher vor allem ein Geschenk für Saxophon-Narren; die exzellenten, gestochen scharfen Abbildungen haben darüber hinaus einen enormen ästhetischen Reiz.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

Jazz Notes. Interviews across the Generations
von Sanford Josephson
Santa Barbara/CA 2009 (Praeger)
209 Seiten, 34,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-313-35700-8

2009josephsonSanford Josephson portraitiert in seinem Buch 22 Musiker, die er in biographischen Artikeln, oft mit Exzerpten selbst geführter Interviews vorstellt, um dann mit Kollegen zu sprechen, die mit diesen Musikern gespielt hatten oder stark von ihnen beeinflusst wurden. Sein Buch “Jazz Notes” ist damit eine atmosphärehaltige Lektüre, die einem die Künstler vor allem als hart arbeitende Menschen näher bringt, versucht, ihrer Musik ihren Charakter zuzugesellen. Das gelingt zumeist gut, zumal sämtliche Personen, die in Josephsons Buch eine Hauptrolle spielen, ein eigenes Buch verdienten – sofern es nicht schon geschrieben wurde.

Die dramatis personae seiner “Jazz-Notizen” heißen: Hoagy Carmichael, Fats Waller, Joe Venuti, Count Basie, Jonah Jones, Art Tatum, Earle Warren, Howard McGhee, Milt Hinton, Helen Humes, Dizzy Gillespie, George Shearing, Dave Brubeck, Norris Turney, Jon Hendricks, Arvell Shaw, Gerry Mulligan, Dick Hyman, Maynard Ferguson, Stanley Cowell, David Sanborn und Billy Taylor. Josephsons Beobachtungen über ihre Persönlichkeit sind journalistisch und einfühlsam, seine Gespräche mit Zeitzeugen aufschlussreich, etwa, wenn Jeanie Bryson über ihren Vater Dizzy Gillespie berichtet, wenn Butch Miles über seine Zeit bei Basie erzählt, Barbara Carroll oder Marian McPartland über den Einfluss Art Tatums und so weiter und so fort.

Ab und zu kommen dabei über die bereits bekannten Eigenschaften der so Gefeierten auch eher wenig bekannte Geschichten zutage. Neu geschrieben werden muss die Jazzgeschichte deshalb sicher nicht, dafür geht Josephson denn auch nicht tief genug in seine Materie. Sein Buch bietet auf jeden Fall eine flotte und anekdotenreiche Lektüre, die man am besten bei swingender Musik genießt.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

Jazz Diplomacy. Promoting America in the Cold War Era
von Lisa E. Davenport
Jackson/MS 2009 (University Press of Mississippi)
219 Seiten, 50,00 US-Dollar
ISBN: 978-1-60473-268-9

2009davenportIn den 1950er Jahren wurde der Jazz politisch. Nein, natürlich war Jazz bereits zuvor eine politische Musik, nicht nur in den Werken Duke Ellingtons, die sich schwarzer Musik- und Sozialgeschichte annahmen. Aber in den 1950er Jahren entdeckte die amerikanische Politik den Jazz als politisches Instrument im Rahmen des Kalten Kriegs. Musiker wie Louis Armstrong, Duke Ellington, Benny Goodman und Dizzy Gillespie sollten der Welt ein Amerika der Demokratie und Freiheit präsentieren, sollten für eine weltoffene, tolerante Gesellschaft werben.

Lisa E. Davenport untersucht in ihrem aus ihrer Dissertation entstandenen Buch die Intentionen hinter der Entscheidung, Jazz als Instrument der amerikanischen Außenpolitik einzusetzen, aber auch die Probleme der Umsetzung. Zugleich fragt sie nach der Schere zwischen Außenwirkung und insbesondere dem immer noch währenden Rassismus in den Vereinigten Staaten. Davenport recherchierte für ihr Buch in Archiven, schaute sich Pläne, Protokolle, Regierungsentscheidungen in Bezug auf Jazzprojekte an, beleuchtet die Erfahrungen insbesondere schwarzer Musiker im Ausland und die tatsächliche Wahrnehmung ihrer Konzerte und Tourneen in Ländern hinter dem Eisernen Vorhang. Ihr Blick auf die ausländischen Aktivitäten richtet sich dabei aber auch immer wieder auch auf die Reaktionen im eigenen Land, auf politische, ideologische und gesellschaftliche Veränderungen, an denen die Außenwahrnehmung der USA durchaus beteiligt war.

Der Jazz wird von den USA immer noch als Mittel der Außenpolitik benutzt. Lisa Davenports Buch erklärt die Genese dieser politischen Qualität des Jazz und die alles andere als eindimensionalen Resultate dieser Jazz-Diplomatie.

Wolfram Knauer (November 2012)


 

“Ja, der Kurfürstendamm kann erzählen.” Unterhaltungsmusik in Berlin in Zeiten des Kalten Krieges
von Martin Lücke
Berlin 2009 (B&S Siebenhaar Verlag)
192 Seiten, 24,80 Euro
ISBN: 978-3-936962-46-8

2009lueckeBerlin war eines der wichtigsten Zentren europäischer Unterhaltungskultur in den 1920er Jahren, wie man etwa aus Klaus Manns autobiographischem Roman “Der Wendepunkt” erfährt. Martin Lückes Sachbuch zitiert andere Quellen, um die Unterhaltungsmusik der Kaiserzeit, der Weimarer Republik und des Dritten Reichs zu beschreiben. Das alles ist allerdings nur die Vorgeschichte zu Lückes eigentlichem Thema, das dann tatsächlich mit der “Stunde Null” anfängt und fragt, wie sich im kriegszerstörten Berlin eine neue Musikszene aufbauen konnte, welche Rolle die Unterhaltungsmusik bei der Bewältigung von Krieg und Naziherrschaft spielte. Lücke schildert die ersten Konzerte im Nachkriegsberlin, schaut auf behördliche Regeln und die Arbeitssituation der Musiker. Er betrachtet die Geburt der GEMA und die Programmpolitik der öffentlichen Rundfunksender (RIAS, AFN). Das RBT-Orchester und der Schlagersänger Bully Buhlan erhalten ausführliche Würdigungen. Die wiederauflebende Kabarettszene um Günter Neumanns Insulaner erhält ein eigenes Kapitel, in dem auch Rex Stewarts Besuch beim Hot Club Berlin erwähnt wird. Einer der Hauptprotagonisten seines Buchs aber ist Hans Carste, der bereits in den 1930er Jahren erfolgreiche Filmmusiken geschrieben hatte und nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft 1948 wieder in Berlin von sich Reden machte. Carste dient Lücke als Musterbeispiel für eine Musik zwischen Schlager, Filmmusik und Bigbandjazz, dessen Erinnerungen und Dokumente die folgenden Seiten (und übrigens auch eine dem Buch beiheftenden CD) füllen. Carste wurde 1949 Abteilungsleiter Leichte Musik beim RIAS, der zwischen 1949 und 1961, als Berlin Zentrum des Kalten Kriegs war, zu einem der wichtigsten Propagandainstrumente in der Konkurrenz zwischen West und Ost wurde. Clubs wie die Badewanne und Hallen wie der Sportpalast erwähnt Lücke am Rande ebenfalls. Sein letztes Kapitel ist “Nach dem Mauerbau” überschrieben, befasst sich aber nur kurz mit den auseinander divergierenden Szenen. Lücke begleitet Hans Carste noch bis zu seinem Tod im Mai 1971, aber da ist der Berliner Kalte Krieg, von dem er erzählen will, bereits weitgehend vorbei.

Kurz zusammengefasst erkennt man in Martin Lückes Buch also eigentlich zwei Themen. Das Anfangsthema ist tatsächlich das der Berliner Unterhaltungsmusikszene der Jahre 1945-1961. Daneben aber schiebt sich etwa ab der Hälfte des Textes das zweite Thema immer mehr in den Mittelpunkt des Buchs, nämlich Leben und Wirken Hans Carstes. Da verliert man dann als Leser schon mal den Roten Faden, weiß zwar, dass die Wahl Carstes durchaus ein geschickter Schachzug ist, um die historischen Fakten mit konkreten Inhalten zu füllen, vermisst aber gerade hier die allgemeinen Einordnungen, die Lücke in seinem ersten Teil so gut gelingen. Mit diesen Einschränkungen, die eher editorische sind – man hätte den Text auch im selben Buch deutlicher aufsplitten und den Leser damit eben nicht den roten Faden verlieren lassen können – bietet Lückes Buch eine hervorragende Dokumentation einer Szene, die eben nie “nur” eine Jazzszene war, sondern in Funktion und Selbstverständnis weit populärer angelegt als reine Jazzmusiker das hätten wahrhaben wollen.

Wolfram Knauer (Juli 2012)


 

1959. the Year Everything Changed
von Fred Kaplan
Hoboken, New Jersey 2009 (John Wiley & Sons, Inc.)
322 Seiten, 27,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-470-38781-8

2009kaplanEs ist gefährlich, zu viel Last auf einzelne Ereignisse zu legen, und nicht minder gefährlich scheint es, Schicksalsjahre auszurufen, auch wenn dies im Nachhinein geschieht. Gut, 1968 prägte tatsächlich nicht nur eine Generation, sondern steht, länderübergreifend für einen Wandel des sozialen und gesellschaftlichen Bewusstseins. Aber 1959? Fred Kaplan betrachtet in seinem Buch dieses Jahr als ein nicht minder schicksalsschweres Jahr. Er versammelt Fidel Castro, Malcolm X, Miles Davis, Ornette Coleman, Kalter Krieg, Independent Filme, Computer-Revolution, Mikrochips, Wettrennen im Weltall und vieles mehr in einem unterhaltsamen Buch, das einen tatsächlich in jenes Jahr verpflanzt und in der Vielseitigkeit der Darstellung durchaus Querverweise impliziert.

Aus der Jazzseite sind etwa die Kapitel über Norman Mailer, Allan Ginsberg und Lenny Bruce interessant, vor allem aber die Kapitel “The Assault on the Chord”, das sich mit den harmonischen Experimenten George Russells und ihrer Umsetzung etwa durch Miles Davis befasst; “The Shape of Jazz to Come”, das Ornette Colemans neue Ästhetik beleuchtet; sowie “The New Language of Diplomacy”, das die Tourneen amerikanischer Jazzmusiker im Dienste des State Department beleuchtet.

Das alles ist kurzweilig dargestellt und unterhaltsam zu lesen. In der Nebeneinanderstellung ganz disparater Ereignisse öffnen sich durchaus interessante Querverbindungen, doch auch nach der Lektüre kommt 1959 weder an 1968 noch an andere Welt-Schicksalsjahre (1918, 1945, 1989) heran.

Lesenswert…

Wolfram Knauer (Mai 2012)


 

Roads of Jazz
Von Peter Bölke & Rolf Enoch
Hamburg 2009 (Edel Books)
156 Seiten, 6 CDs im Buchdeckel, 39,95 Euro
ISBN: 978-3940004-31-4

2009boelkeDas dicke Buch im Hardcovereinband und mit den vielen Fotos ist in Wahrheit – aber das merkt man erst, wenn man mitten drin ist im Schmökern – ein überdimensioniertes Begleitheft zu den sechs CDs, die in seinen Buchdeckeln heften. “Roads to Jazz” heißt es, und Autor Peter Bölke sowie Musikredakteur Rolf Enoch haben die Titel der CDs nach den wichtigsten Städten der Jazzgeschichte sortiert: New Orleans, Chicago, Kansas City, New York und Los Angeles. Die CDs wiederum sind chronologisch und stilistisch geordnet und heißen “Classic Jazz”, “New York Swing”, “New York Be-Bop”, “New York Modern Jazz”, “Cool & Westcoast Jazz” sowie “Jazz in Europe”. Alle Texte sind zweisprachig auf Deutsch und Englisch; im Anhang des Buchs befindet sich eine ausführliche Diskographie der Aufnahmen mit kompletten Besetzungsangaben und Daten.

Über die Auswahl solcher Sampler kann man natürlich trefflich streiten – für Bölke und Enoch hört der amerikanische Jazz mit dem frühen Coltrane auf; die CD “Jazz in Europe” dagegen stellt gerade mal fünf Tracks von europäischen Musikern vor – alles andere sind Aufnahmen US-amerikanischer Jazzer, die in London, Paris oder Berlin eingespielt wurden.

Das Buch selbst besticht durch von Sven Grot wunderbar gestaltete Seiten mit knappen Texten zu den Musikern, die auf den CDs spielen und zu den Umständen, die sich mit der betreffenden historischen Situation verbindet. Allgemeinen Absätze zum Bebop oder zum Hardbop, zu V-Discs oder zu den Städten, in denen die Musik spielte und ausgesuchten Spielorten wie dem Cotton Club oder dem Birdland stehen kurze biographische Absätze gegenüber, in denen Bölke auf kürzestem Raum eine angemessene Würdigung der Künstler versucht. Das gelingt mal besser, lässt manchmal zu wünschen übrig, ist aber alles in allem eine kurzweilige Geschichte. Und als Text Book für Studenten ist dieses Buch eh nicht gedacht, sondern eher – siehe oben – als eine Art überdimensioniertes Begleitheft zu den CDs. Und da blättert man gern, zumal der Verlag wirklich schöne Fotos ausgewählt hat, Portraits der Musiker, aber auch Stadtlandschaften, Albumcovers, Plattenlabels etc.

Und natürlich ist das Buch wie alle Bücher in der Reihe “ear books” des Verlags Edel dazu gedacht, beim Hören der CDs durchblättert zu werden. Die kurzen Absätze hindern da nicht, sondern lassen im Gegenteil die wunderbare Musik auf den CDs im Mittelpunkt stehen.

“Roads of Jazz” ist ein ideales Geschenk selbst für Jazzfans, die schon einiges besitzen. Die werden die meisten der Titel zwar bereits in ihrer Sammlung haben und dennoch – gleich dem Rezensenten – neu hinhören, wenn die Mischung der Sampler-CDs und der Blick auf die Fotos die Neugier fokussiert.

Wolfram Knauer (Januar 2012)


 

The Ashgate Research Companion to Popular Musicology
herausgegeben von Derek B. Scott
Furnham, Surrey 2009 (Ashgate)
557 Seiten, 75 Britische Pfund
ISBN: 978-1-4094-2321-8

2009scottEine ernsthafte Jazzforschung gibt es bereits seit den 1950er Jahren; in den 1970er Jahren begann auch die Rock- und Popmusik Eingang in den musikwissenschaftlichen Kanon zu finden. Das alles aber war eine langsame Entwicklung, und auch heute beschäftigt sich der “gemeine” Musikologe eher noch Bach, Brahms oder Schönberg als mit Ellington, Zappa oder Madonna. Dennoch: Die Zeiten haben sich geändert, und auch wenn eine Theorie der populären Musikwissenschaft (wenn man den Buchtitel “popular musicology” so übersetzen will) bislang nicht gibt, so gibt es doch genügend Beispiele, welche wissenschaftliche Ansätze unterschiedliche Musikgenres gerecht zu werden vermögen. Wer vom Ashgate Research Companion ein Musterbuch für die Herangehensweise an populäre Musik erwartet, wird allerdings enttäuscht werden. Das Buch ist weit weniger generell als der Titel es erwarten lässt. Es enthält in erster Linie Case Studies, Aufsätze, die populäre Musik von unterschiedlichen Seiten angehen, so aber genauso in einer der Fachzeitschriften zur populären Musikforschung stehen könnten (etwa im Popular Music Research). Vor allem zwei Forschungsbereiche seien im Feld der populären Musikwissenschaft besonders virulent, erklärt der Herausgeber Derek B. Scott in seinem Vorwort: zum einen die Frage nach Identität, Ethnizität, Raum und Ort, zum anderen der Bereich Alben, Künstler, spezifische musikalische Genres. Als nächstes werde gern und oft nach Gender und Sexualität gefragt, aber auch nach Filmmusik, technologischen Entwicklungen, dem Thema Performance und dem Musikgeschäft. Schließlich gäbe es auch noch den Bereich der Popmusikpädagogik. Entsprechend gliedert Scott das Buch nach Überthemen: “Film, Video and Multimedia”, “Technology and Studio Production”, “Gender and Sexuality”, “Identity and Ethnicity”, “Performance and Gesture”, “Reception and Scenes” sowie “The Music Industry and Globalization”. Der Jazz spielt übrigens wahrscheinlich ganz zu Recht kaum eine Rolle in den Beiträgen des Buchs. Seine analytischen Modelle sind denn doch andere als die der Popmusik; seine Theorie wäre immer noch ein eigenes Buch wert. Was Scott dabei allerdings gelingt in diesem schwergewichtigen Opus, ist sehr unterschiedliche Approaches zu versammeln und so Studenten wie Forscher mit der Diversität nicht nur der populären Musik, sondern auch ihrer fachlichen Erforschung zu konfrontieren.

Wolfram Knauer (Dezember 2011)


 

Jazzkritik in Österreich. Chronik / Dokumentationen / Stellungnahmen
von Wolfgang Lamprecht
Wien 2009 (Löcker)
253 Seiten, 22 Euro
ISBN: 978-3-85409-528-6

2009lamprechtEs gehört quasi zum guten Ton (den wir durchaus auch im Jazzinstitut pflegen), gleichzeitig die Qualität der aktuellen Entwicklungen im Jazz hoch zu loben und über den Zustand der Jazzkritik zu klagen. Sowohl in Fachzeitschriften wie in Tageszeitungen sei die Jazzkritik immer mehr zu “Fanprosa” verkommen, zitiert Wolfgang Lamprecht in seiner Studie Peter Niklas Wilson und zeichnet daraufhin in seinem Buch in einem überschaubaren geographischen Bereich, nämlich Österreich, die Entwicklung ebendieser Jazzkritik nach.

Er beginnt mit der Frage danach, welche Beweggründe Kritiker eigentlich für ihren Beruf haben und welches Bewusstsein sie für ihr Publikum, also ihre Leser besitzen. Er benennt (und zwar tatsächlich mit Namen) die Verfilzung, die es auch im Jazzbereich zwischen Kritikern und Produzenten von Musik gibt, und gelangt dabei zu zehn Regeln, die einer jeden ernsthaften Jazzkritik zugrunde liegen sollten.

Im weit umfangreicheren historischen Teil des Buchs betrachtet Lamprecht dann, wie der Jazz seit der Zeit des Ragtime in der österreichischen Presse betrachtet, verstanden oder missverstanden wurde. Er unterhält sich ausführlich mit Günther Schifter, dem vor drei Jahren verstorbenen Schellacksammler und Zeitzeugen österreichischer Jazzgeschichte, sowie mit dem Musiker Ludwig Babinsky und belegt mit beiden Interviews eine seltsam unpolitische Haltung des Jazz vor dem Krieg. Dann geht er im Gallopp durch die Nachkriegszeit, beschreibt die Reibungen zwischen Traditionalisten, Modernisten und einer jungen Szene, die durchaus eine neue Art der künstlerischen Professionalität mit sich brachte. Ein schneller Überblick über die Entwicklung der Jazzkritik im 20sten Jahrhundert mündet in Fallbeispielen: Josephine Baker in den 1920er Jahren, die Verdammung des Jazz bereits Anfang der 30er, die Haltung des österreichischen Rundfunks zum Jazz in den 1930er Jahren. Lamprecht schaut dabei oft auf Vorurteile mehr als auf kritische Reflexionen in der Nachkriegszeit und macht es sich dabei doch etwas leicht: Über lange Strecken ließt sich sein Buch jetzt wie eine amüsante Sammlung von Stilblüten, über die man, aufgeklärter Bürger des 21sten Jahrhunderts, nur milde schmunzelnd den Kopf schütteln kann.

Man lernt über die Ursprünge des ersten österreichischen Jazzmagazines “Jazzlive”, weiß die Verdienste der jazzhistorischen Publikationen von Klaus Schulz gewürdigt und ist etwas abrupt im Jahr 2009, als das letzte voll und ganz dem Jazz gewidmete Magazin Jazzzeit als Folge der Wirtschaftskrise und zurückgehender Anzeigenkunden eingestellt werden musste.

Gerade zum Schluss scheint bei Lamprecht die Frustration durch, die sich bei ihm in seiner Betrachtung einer halt doch reichlich unprofessionellen Jazzpresselandschaft in Österreich offenbar einstellte. Dieser Frust macht Teile des Buchs durchaus zu einer amüsanten Lektüre, gerade dort, wo de Autor mit seiner eigenen Meinung nicht hinterm Berg hält. Er polemisiert gern und hat keine Probleme damit, inner-österreichische Streits zu benennen. Leider bleiben diese für den uneingeweihten Leser allerdings ein wenig undurchschaubar, auch deshalb, weil Lamprecht gern Position bezieht und damit keineswegs der objektive Beobachter ist, den man anhand des Titels und des großen Fußnotenapparats vielleicht erwartet.

Was am Ende fehlt ist ein Ausblick, sind die Lehren, die Lamprecht selbst gezogen hat aus dem sehr differenzierten Blick auf fast 100 Jahre Jazzkritik. Im Buchrückentext heißt es: “Die eigentliche Aufgabe von Kritik, eine nachvollziehbare Lesart des Hörens, eine Brücke zum Verständnis zu schaffen, ist damit nie wirklich erfüllt worden.” Die Definition allerdings, was Jazzkritik im 21sten Jahrhundert wirklich leisten kann, was sie leisten sollte, muss sich der Leser dann aber letztlich selber zurechtschneidern aus den vielfachen Anregungen, die Lamprecht gerade mit seinen Negativbeispielen zuhauf gibt.

Eine durchaus gemischt Lektüre also: Ungemein viel Anregendes, eine gehörige Prise Streitlust und doch am Ende ein wenig zu unstrukturiert. Aber vielleicht kann ein Buch über Jazzkritik nur genau das sein: eine Einladung zum Diskurs, nicht aber der Diskurs selbst.

Wolfram Knauer (August 2011)


 

Analyzing Jazz. A Schenkerian Approach
von Steve Larson
Harmonologia. Studies in Music Theory, No. 15
Hillsdale/NY 2009 (Pendragon Press)
204 Seiten, 99 US-Dollar
ISBN: 978-1-576471-86-9

2009larsonDas vorliegende Buch setzt sich mit der Jazzanalyse auseinander, also damit, wie man sich der auf Schallplatte festgehaltenen Aufnahme einer Jazzimprovisation mit dem traditionellen musikwissenschaftlichen Handwerkszeug nähern kann. Steve Larson will dabei zeigen, wie sich das System der Schenkerschen Analyse auf den Jazz anwenden lässt. Heinrich Schenker entwickelte seine Reduktionsanalyse, die vor allem tonale Musik auf die Hierarchie ihrer harmonischen und motivischen Entwicklung reduziert. Die Schenkersche Analyse hat vor allem in der US-amerikanischen Musikwissenschaft viele Anhänger gefunden, während sie in Deutschland selten und für den Jazz hierzulande meines Wissens bislang noch gar nicht verwendet wurde.

Eines der größten Probleme der Anwendung von Schenkers Methodik auf den Jazz ist die Tatsache, dass seine Methode einen Notentext zugrunde legt. Man brauche also, erläutert Larson in seiner Einleitung, möglichst genaue Transkriptionen der besten aufgenommenen Interpretationen. Lead-Sheets oder selbst die meisten der kommerziell veröffentlichten Transkriptionen reichten da nicht aus. Entsprechend macht sich der Autor selbst ans Werk, transkribiert verschiedene Interpretationen des Klassikers “Round Midnight” in der Interpretation von Thelonious Monk, Oscar Peterson und Bill Evans. Ihm ist dabei bewusst, dass jede Transkription in sich bereits eine Art der Analyse ist.

In Kapitel 2 seiner Arbeit hinterfragt er die Anwendbarkeit der Schenkerschen Analyse auf eine improvisierte Musik wie den Jazz und kommt für sich zum Schluss: (1.) dass diese durchaus nützlich sei, obwohl sie ursprünglich im Hinblick auf komponierte Musik entworfen wurde; (2.) dass sich auch von Schenker nicht vorgesehene komplexe Eigenheiten des Jazz in seine Methodik einpassen ließen; und (3.) dass die Ergebnisse komplexer Strukturen, die durch die Schenkersche Analyse darstellbar werden, von den Musikern durchaus intendiert seien. Hier liefert er sich ein paar Schattengefechte, etwa mit Wilhelm Furtwängler, der 1947 über den Jazz urteilte, ihm fehle der Sinn fürs Große, der Zusammenhalt über lange Strecken, im Jazz denke man nur von Moment zu Moment. Larson stellt dem die im Jazz übliche Metapher des “story telling” gegenüber, des Geschichtenerzählens, das von jedem Musiker gefordert werde.

Dann folgen die Hauptkapitel: Formale Analysen, Stimmführungsanalysen, Analysen des motivischen und des harmonischen Rhythmus und mehr in den Interpretationen von Monk, Peterson und Evans. Hardcore-Analysen, deren Resultat vor allem den großen Bogen der Aufnahmen herausarbeiten sollen, die Geschlossenheit von kreativem Einfall und formaler Gestaltung. Mit Bezug auf Evans vergleicht Larson darüber hinaus zwei Aufnahmen von “Round Midnight”, die zum einen im Studio, zum anderem bei einem Livekonzert entstanden sind. Immerhin fast die Hälfte des Buchs nehmen schließlich die Transkriptionen ein, keine Schenkersch-analytischen Zusammenfassungen, sondern ausgeschriebene Notentexte der Aufnahmen

Steve Larson will mit seinem Buch ein Argument für die Anwendbarkeit des Schenkerschen Analyseverfahrens auf den Jazz vorlegen. Bei anderen als den von ihm ausgewählten Titeln, insbesondere bei anderen Besetzungen, wäre die Analyse wahrscheinlich weit schwerer zu bewerkstelligen, so dass seine Quintessenz: Ja, die Schenkersche Analyse eignet sich auch für den Jazz, ein wenig schwach wirkt. Das überzeugendste Argument schließlich liefert er nicht: Zu erklären, warum er ausgerechnet für die von ihm ausgesuchten Stücke die Schenkersche Methode wählte und zugleich zu erklären, dass Analyse immer im Dienste der Erkenntnis stehen sollte, man also zuerst die Frage benötigt, um dann die Methode zu wählen, die zu einer sinnfälligen Antwort führt. Dementsprechend braucht es gewiss keiner allumfassenden Analysemethode für den Jazz – an Soloaufnahmen von Peterson, Monk und Evans kann man völlig anders herangehen als etwa an Ellingtons Orchestereinspielungen, an Soli von Charlie Parker oder die Unit Structures von Cecil Taylor. Es ist letzten Endes die Aufgabe des Analysierenden, dasjenige analytische Handwerkszeug zu wählen, das am ehesten geeignet ist, eine sinnvolle Aussage zu machen.

Wolfram Knauer (April 2011)


 

The Birth of Cool of Miles Davis and His Associates
von Frank Tirro
CMS Sourcebooks in American Music, No. 5
Hillsdale/NY 2009 (Pendragon Press)
196 Seiten, 1 Beilage-CD, 45 US-Dollar
ISBN: 978-1-57647-128-9

2009tirroIn der “Sourcebook in American Music”-Reihe des Pendragon-Verlags erscheint mit einer Monographie über die legendären Capitol-Nonet-Aufnahmen von Miles Davis der zweite Band, der sich mit einer klar umrissenen Besetzung auseinandersetzt und damit quasi ein abgeschlossenes Werk untersucht (der erste solche Band widmete sich den Hot-Five-Aufnahmen Louis Armstrongs.

Jazz-Spezialist Frank Tirro beginnt mit einer generellen Einführung in die Bedeutung der Capitol-Aufnahmen des Trompeters. Im zweiten Kapitel beleuchtet er die grundsätzliche Idee des “Cool” – sowohl als Begriff und Lebenshaltung wie auch als Jazzstil. In Kapitel 3 geht er den Vorläufern dieses Stils auf den Grund, benennt die Spielhaltung etwa im Spiel und in den Kompositionen von Bix Beiderbecke, im Sound von Stan Getz und den Arrangements von Ralph Burns, aber auch in den Kompositionen und Interpretationen Dave Brubecks und insbesondere seines Octets (also einer dem Nonet vergleichbaren Besetzung). Nur kurz erwähnt Tirro die Bedeutung Duke Ellingtons (und Billy Strayhorns) sowie Lennie Tristanos als weitere Ausprägungen (a) kompositorischer Durchformung und (b) eines anderen Ansatzes von Cool Jazz.

Vor allem aber widmet der Autor sich im ersten Teil seines Buchs den Aufnahmen von Claude Thornhill, dessen Orchesterklang Miles angeblich zum Vorbild seines Nonet genommen habe. Er untersucht drei Aufnahmen Thornhills, Bill Bordens Arrangement über “Ev’rything I Love” sowie die beiden Gil-Evans-Arrangements über Charlie Parkers “Thriving On a Riff” und Miles Davis’ “Donna Lee”.

Der Hauptteil des Buchs dann widmet sich den Aufnahmen des Capitol Nonet, die Tirro den Arrangeuren gemäß ordnet. Er beschreibt die Aufnahmesituation (also Rundfunksendungen und Studiosessions) und analysiert dann nacheinander die Arrangements von Gil Evans (“Moon Dreams”; “Boplicity”), Gerry Mulligan (“Jeru”, “Godchild”, Venus de Milo”, “Rocker”), John Lewis (“Move”, “Budo”, “Rouge”), Johnny Carisi (“Israel”) sowie Davis selbst (“Deception”). Seine Analysen erklären den formalen Ablauf, stellen teilweise Seiten der Originalpartituren neben Transkriptionen, beleuchten, wie die Arrangeure zu bestimmten Klangfiguren gelangten und lenken den Leser auch immer wieder auf das “Außergewöhnliche”, das diese Klänge in der Zeit des Bebop ausmachten. So vergleicht er die Arrangement, die Mulligan über “Jeru” sowohl für Thornhill als auch für Davis schrieb, oder verweist er für den Beginn von “Godchild” auf die ungewöhnlichen Klangfiguren im Zusammengehen von Baritonsaxophon und Tuba.

Im Schlusskapitel beleuchtet Tirro den Nachhall der kurzlebigen Studioband, etwa in der Musik von J.J. Johnson und Kai Winding, in diversen Bands von Gerry Mulligan oder in der Musik von Shorty Rogers und anderen West-Coast-Musikern.

Frank Tirros Buch richtet sich vor allem an Studenten, ist aber auch für jeden Davis-Fan, der sich von Transkriptionen und musikalischen Fachbegriffen nicht verschrecken lässt, ein guter “Wieder”-Einstieg in die legendären Aufnahmen des “Birth of the Cool”.

Wolfram Knauer (April 2011)


 

Time and Anthony Braxton
Von Stuart Broomer
Toronto 2009 (The Mercury Press)
176 Seiten, 19,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-55128-144-5

2009braxtonAnthony Braxtons Musik mag, scheint es, die erklärungsbedürftigste Variante des Jazz zu sein, was sich allein darin zeigt, dass Braxton selbst in seinen umfangreichen “Tri-Axium Writings” ausführliche Erläuterungen dazu verfasste, die seine Musik in Zusammenhang stellen mit philosophischen, musikästhetischen und ethischen Gedanken.

Der kanadische Journalist und Musikschriftsteller Stuart Broomer hat sich für sein Buch ein spezifisches Moment in Braxtons Musik herausgegriffen, das er von allen Seiten abklopft, um so der Philosophie und der Musik des Saxophonisten und Komponisten ein Stück näher zu kommen. “Time”, was im Englischen genauso für Zeit wie für Metrik und Rhythmus steht, und in jeder dieser unterschiedlichen Lesarten wiederum ganz verschiedene Bedeutungen besitzt, spiele im Verständnis von Braxtons Musik eine große Rolle (was jedem, der die große Sanduhr kennt, die den Ablauf seiner Sets in Konzerten markiert kennt, wohl bewusst ist). Zwischen diesen unterschiedlichen Lesarten von “Time” schwenkt sich Broomer hin und her. In Bezug auf die Musik sei Zeit, schreibt er etwa im Vorwort, nicht nur die Substanz, aus der diese bestehe, sondern zugleich Teil unserer eigenen Erfahrung, sei Musik damit wichtig für unsere eigene Art, Zeit zu konzeptualisieren. In Bezug auf Braxtons Karriere andererseits verweist er darauf, wie dieser in den 1970er Jahren als die “Zukunft” des Jazz begriffen wurde, wie er dagegen in seiner Arbeit immer wieder auf die Traditionen hingewiesen habe, von Jelly Roll Morton über Lennie Tristano und Charlie Parker bis zu John Coltrane and beyond.

Broomers erstes Kapitel, überschrieben “Groundings and Airings” beginnt in Chicago, der Stadt, in die, wie Braxton es formuliert, sogar Louis Armstrong gehen musste, um dort das Solo zu erfinden. In diesem Kapitel befasst sich Broomer vor allem mit den Jazztraditionen, mit denen sich – bewusst oder unbewusst – jeder Jazzmusiker auseinanderzusetzen hat, der in Chicago und mit dessen Musiktradition groß wird.

Das zweite Kapitel setzt sich mit Braxtons Solo-Performances auseinander, angefangen mit “For Alto”, das er 1970 für Delmark Records aufnahm. Als Braxton sich erstmals auf ein Solokonzert vorbereitet habe, habe er schnell gelernt, dass er die Beherrschung seiner eigenen “Sprache” verbessern müsse, da er sonst Gefahr liefe, dass ihm die Ideen ausgingen. Die Solostücke seien also eine Beweggrung für seine Auseinandersetzung mit komplexen Kompositionsmethoden gewesen. Und die “Sprache”, die er da ausarbeitete, umfasste Verweise auf Tradition genauso wie rein instrumentalspezifische und klangtechnische Details, unterschiedliche Timbres etwa oder die Varianten des lauten Ins-Instrument-Atmens.

Das dritte Kapitel befasst sich mit formbildenden Aspekten in Braxtons Werk, der Verwendung von Marschanklängen in seiner Musik etwa, seiner schon als Kind ausgeprägten Faszination von Paraden und Paradebands. Je mehr Broomer in die Musik eindringt, umso mehr enthüllt er aber auch seine eigene Erklärung als reine Annäherungen an seine Interpretationen komplexer Verstrickungen unterschiedlichster Einflüsse, Erinnerungen und Zeichen.

Kapitel vier ist überschrieben mit “The Quartet and Composition as Autobiography”. Er beschreibt das kompositorische Dilemma Braxtons: “Wie kann man in Klängen die komplexe Erfahrung von Bewusstsein und dem dauernd sich wandelnden Fokus des Bewusstseins, von der Kombination von Subjekten und Bedeutungen und Prozessen ausdrücken?” Zugleich stellt sich hier die Frage nach Komposition und Ausführung: Gerade im Quartett ging Braxton ja mit Kollegen an seine kompositorische Ausführung heran, denen er das, was er meinte, vermitteln wollte. Broomer beschreibt, wie die Titel immer kryptischer wurden, Ziffernfolgen nur noch oder Diagramme, und wie lange Interpretationen oft aus der Zusammenstellung verschiedener “Stücke” bestanden, so dass sich ihre Überschriften oft wie eine mathematische Gleichung lasen.

Kapitel fünf beschäftigt sich mit den Traditionsreminiszenzen in Braxtons Arbeit, den Verweisen auf Jazztradition, die schon in der Repertoireauswahl immer wieder auftauchen. Gershwin, Morton, Parker, Mingus, Joplin, Brubeck – Braxton stellt sich mit diesen Interpretationen immer wieder in die Reihe des Kontinuums, dessen Teil er selber ist, vielleicht auch (aber das ist nur unsere Interpretation), um hier die Kraft der Herkunft tanken zu können, mit der er seinen eigenen Weg weiterzugehen vermag, auch wenn viele Jazzfreunde außer der Improvisation in seinem Weg oft kaum Verweise an die Tradition mehr zu erkennen meinen.

Das sechste Kapitel widmet sich den kombinatorischen Kompositionen und Braxtons Conduction-Versuchen; Kapitel sieben dann den “Ghost Trance Musics”, jenen Stücken, die er nach 1995 für unterschiedliche Ensembles und Instrumentationen schrieb und die jeweils eine kontinuierliche, rhythmisch gleichmäßige, sich nicht wiederholende Melodie besaßen. Dieses Kapitel beinhaltet außerdem ein Interview, das Broomer 2007 mit Braxton führte und in dem er erklärt, wie er auf die Idee der Ghost Trance Musics kam und in welchen Traditionen er sich dabei sieht, der indianischer Musik etwa, Wagners, Sun Ras…

Das letzte Kapitel schließlich beleuchtet die nächste Phase in Braxtons Arbeit, die sogenannte “Diamond Curtain Wall Music”, in der Braxton sich auch ins Feld elektronischer Komposition begibt. Broomer konzentriert sich dabei vor allem auf Braxtons “Sonic Genome”-Projekt, aufgeführt bei der Winterolympiade in Vancouver im Januar 2010. Eine Timeline des Lebens und Schaffens des Saxophonisten, eine Diskographie, Literaturliste und ein ausführliches Register beschließen das Buch.

Stuart Broomers “Time and Anthony Braxton” beleuchtet immer wieder biographische Einflüsse auf Braxtons Musik; trotzdem steht Biographisches hier aber eher im Hintergrund. Broomer will sich mit seiner Fokussierung auf “Time” in allen verschiedenen Verständnisformen der Philosophie und der Entwicklung des kompositorischen Denkens Braxtons nähern. Das ist zum Teil ausgesprochen erhellend, zumal Broomer immer wieder von den doch recht abstrakten philosophischen Erklärungen zurück in die Realität des Musikdenkens und -machens blendet. Nicht nur für Braxton-Fans ist dieses Buch also lesenswert, sondern darüber hinaus für jeden, der sich mit aktuellen Diskursen im Feld zwischen Improvisation und Komposition befasst.

Wolfram Knauer (Februar 2011)


 

The Hearing Eye. Jazz & Blues Influences in African American Visual Art
Herausgegeben von Graham Lock & David Murray
New York 2009 (Oxford University Press)
366 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-534051-8

2009lock2Musik und Kunst, die abstrakteste und die zugänglichste aller Künste, haben sich immer wieder gegenseitig beeinflusst. Beispiele aus der europäischen Musik- und Kunstgeschichte gibt es zuhauf. Die Interdependenzen zwischen Jazz/Blues und afro-amerikanischer Kunst aber wurden nur selten untersucht. Alfred Appel wagte in seinem Buch “Jazz Modernism. From Ellington and Armstrong to Matisse and Joyce” eher einen großen Rundumschlag über die Verbindungen von Jazz und die Kunst der westlichen Welt, und auch das von Howard Becker, Robert R. Faulkner und Barbara Kirshenblatt-Gimblett herausgegebene Buch “Art from Start to Finish. Jazz, Painting, and other Improvisations” oder der von Daniel Soutif kuratierte Ausstellungskatalog “Le Siècle du Jazz. Art, cinema, musique et photographie de Picasso à Basquiat” zeigen die Verbindung zwischen Musik- und Kunstgeschichte eher allgemein und ohne einen konkreten Fokus auf Afro-Amerika.

Die beiden britischen Autoren Graham Lock und David Murray haben sich nun auf die Suche zwischen Jazz, Blues und afro-amerikanischen Künstlern und Kunstgattungen gemacht, die vielleicht nicht ganz so bekannt sind. Das Buch ist quasi der zweite Teil eines größeren Forschungsprojektes, dessen erster Teil unter dem Titel “Thriving on a Riff” veröffentlicht wurde und das, wie die Herausgeber im Vorwort erinnern, den etwas grandiosen Projekttitel trug: “Criss Cross. Confluence and Influence in Twentieth-Century African-American Music, Visual Art, and Literature”.

Dieser Band also ist den bildenden Künsten gewidmet. Er beginnt mit einem Beitrag Paul Olivers zur Visualisierung von Anzeigen für Bluesplatten in den 1920er Jahren. Oliver untersucht die Texte der Anzeigen genauso wie die bildnerische Umsetzung, die Verwendung von Fotos, speziellen Reizworten (“race records” beispielsweise), aber auch die Ikonographie, mit der Zeichnungen den Inhalt der beworbenen Stücke wiedergeben, etwa in der Anzeige für den “First Degree Murder Blues” von Lil Johnson oder für Peetie Wheatstraws “Kidnappers Blues”.

Graham Lock beschreibt die Blues- und Negro-Folk-Songs-Gemälde von Rose Piper, eine Reihe an Bildern, die im Herbst 1947 in der New Yorker RoKo Galery ausgestellt wurden und von Aufnahmen etwa von Bessie Smith, Trixie Smith, Ma Rainey und anderen beeinflusst waren.

Lock interviewt außerdem den Quiltmacher Michael Cummings, dessen Quilts meist afro-amerikanische Themen haben und oft genug auf Jazz und Blues rekurrieren. Sie unterhalten sich vor allem über Cummings’ “African Jazz”-Reihe von zwölf Quilts, die von einem Poster inspiriert waren, das er in New Yorks Greenwich Village fand und das überschrieben war “Africans Playing Jazz, 1954”. Jeder der Quilts sei eine Art Variation des Grundmotivs von drei Musikern, und jeder Quilt erzähle dennoch eine andere Geschichte, ein wenig wie jeder Chorus einer Improvisation eine andere Geschichte erzählt. Einige der Quilts sind abgebildet, das inspirierende Poster aber leider nicht (auch nicht auf Michael Cummings’ Website, auf die im Artikel für den Fall verwiesen wird, dass man die komplette Quiltserie sehen will).

Sara Wood betrachtet die Malerei Norman Lewis’, der etliche Bilder mit konkretem Titelverweis auf den Jazz malte, in Hinblick auf den Einfluss des Bebop. Lock unterhält sich mit dem Collage-Künstler Sam Middleton über den “Maler als improvisierenden Solisten” und über Parallelen zwischen den Künsten. Richard H. King schreibt über Bob Thompson, dessen Bilder immer wieder konkrete musikalische Eindrücke wiederzugeben versuchten. Lock spricht außerdem mit Wadsworth Jarrell über die Künstlergruppe AFRICOBRA (African Commune of Bad Relevant Artists), eine AACM der Bildenden Kunst.

Zu den herausragenden afro-amerikanischen Künstlern, die sich immer wieder mit dem Jazz befassten, zählt Romare Bearden, dem Robert G. O’Meally einen Aufsatz widmet, in dem er Beardens Werk mit den Interpretationen seiner Kunst durch Albert Murray und Ralph Ellison vergleicht und im Diskurs der drei eine Art call-and-response quer durch die Kunstsparten feststellt. Auch Johannes Völz nimmt sich Bearden zum Thema und fragt, ob denn Bearden wirklich den Jazz gemalt habe bzw. wo genau in Beardens Gemälden wohl dieser Jazz zu finden sei. Natürlich sind da die Titel der Bilder, und sie sowie weitere Analogien, die gern in Bezug auf Beardens Werk mit dem Jazz gezogen werden, unterzieht Völz einer kritischen Betrachtung. Er warnt dabei vor der Interpretation wörtlicher Übersetzungen von einem künstlerischen Medium ins andere, weil sie meist zu oberflächlich blieben und die tatsächlich darunter liegenden kulturellen Diskurse über Blackness verschleierten.

Lock spricht mit Joe Overstreet, dessen Arbeit in den letzten Jahren immer stärker mit Licht und Schatten experimentiert, über seine abstrakte Phase und die Gründe der Rückkehr zur Gegenständlichkeit, über kubistische und andere Einflüsse und die Jazztitel und -themen einiger seiner Gemälde. Robert Farris Thompson liest die Kunst von Jean-Michel Basquiat als biographische Annäherung an Jazzgeschichte und die soziale Gegenwart New Yorks. Lock unterhält sich mit Ellen Banks, die postuliert, Musik sei ihr Stillleben, ihre Landschaft, ihr Akt. Banks ist das einzige Beispiel des Buchs eines Künstlers, der (also: die) Musik als einziges Thema ihrer Kunst sieht. Meist zeigen ihre Arbeiten abstrakte Formen, manchmal mit Worten durchsetzt, und ihr Einflüsse ist nicht nur der Jazz, sondern auch die europäische Barock- und klassische Musik.

Der letzte der gewürdigten Künstler ist der Fotograf Roy DeCarava, dessen “the sound i saw. improvisation on a jazz scene” Richard Inks näher begutachtet. Das Spiel mit Licht und Schatten lässt auch DeCaravas Bildern teilweise die Figuren wie Scherenschnitte oder Ikonen einer schwarzen Bildgeschichte erscheinen, etwa im Foto “Dancers” von 1956, das im Buch abgebildet ist. Zugleich versucht Inks, die Bilder aus “the sound i saw” als Narrativ zu lesen und die Geschichte(n) zu enträtseln, die dahinter steckt/en. Im letzten Kapitel schließlich spricht Graham Lock mit dem Saxophonisten Marty Ehrlich über den Maler Oliver Jackson und mit der Saxophonistin Jane Ira Bloom über Jackson Pollock, letzteres damit der einzige Nicht-Afro-Amerikaner der im Buch diskutierten Künstler.

In der Fokussierung auf schwarze amerikanische Künstler erlaubt “The Hearing Eye” einen Blick auf genreüberschreitende Einflüsse afro-amerikanischer Kultur. Dass Lock und Murray bestimmte Aspekte dabei völlig außer Acht lassen – sowohl Bildhauer als auch Installationskünstler, die sich von Blues und Jazz beeinflussen ließen, aber auch das ganze Genre der Graffiti- und HipHop-Szene – schränkt den Blick auf ein … sagen wir … “galerie-kompatibles” Themensegment ein. Die Ansätze der portraitierten Künstler sind dennoch so unterschiedlich wie die Ansätze der Autoren, sich ihrer Kunst und den Einflüssen durch die Musik zu nähern. Das ganze ist reich bebildert und wird ergänzt durch eine eigens eingerichtete Website, auf der noch einige weitere Bilder zu sehen sowie einige Hörbeispiele zu hören sind. Das klingt modern und up-to-date, ergänzt das Buch aber nur marginal – immerhin ist schon hier zu ahnen, wie ein eventueller dritter Band zum Thema des kulturellen Criss Cross aussehen könnte, in dem auf der dazugehörigen Website Videos und sonstige buch-unkompatible Medien geschaltet würden.

Wolfram Knauer (Februar 2011)


 

Digging. The Afro-American Soul of American Classical Music
Von Amiri Baraka
Berkeley 2009 (University of California Press)
411 Seiten, 18,95 US-$
ISBN: 978-0-520-25715-3

2009barakaEs hat eine Weile gedauert, bis ich mich mit diesem Buch anfreunden konnte. Ich war höllisch neugierig auf das neueste Werk von Amiri Baraka, einst LeRoi Jones, dem großen afro-amerikanischen Poeten und Denker, einem Sprecher des New Thing in allen Künsten, damals in den 1960er Jahren, einem wortgewaltigen und zugleich ungemein streitbaren Fürsprecher schwarzer Kultur und nebenbei einem wirklich netten und humorvollen Menschen, wenn man ihn nicht in Bühnenpose oder Kampfesrhetorik vor sich hat.

Ich blätterte also und blieb bei der Plattenbesprechung eines Albums von Peter Brötzmann hängen, ziemlich am Schluss des Buches, dem Baraka unterstellt, sich nur auf marginale Seiten der Free-Jazz-Revolution zu konzentrieren, ihre Explosivität nämlich, ohne dabei ihre tieferen philosophischen und ästhetischen Einbindungen zu berücksichtigen, und so die Kraft und das raue Timbre des Originals zu benutzen, es aber seiner tieferen kompositorischen und improvisatorischen Aussage zu berauben. Was Baraka nicht begreift – obwohl ich annehme, dass er es durchaus begreift, er ist viel zu schlau, um es nicht zu wissen, aber er verfolgt nun mal in seinen Schriften durchaus auch eine politische Agenda – ist, dass Brötzmann und andere Künstler, die nicht der Great Black Music-Ästhetik mit all ihrer Geschichte und Tradition unterworfen sind, die Musik nun mal für sich umdeuten müssen, dass Aneignung zugleich auch Ver-Fremdung bedeutet und das das Maßanlegen der Ästhetik schwarzer Avantgarde an Brötzmann scheitert, wenn man die persönliche Betroffenheit, die individuelle Aneignung des Saxophonisten und seine Entwicklung aus dem Geiste der afro-amerikanischen Musik, aber eben in einer anderen Umgebung, außer acht lässt.

Aber da sind wir schon ganz beim Thema, warum es ein wenig dauerte, bis ich mich mit diesem Buch anfreunden konnte: Zu holzschnittartig und einseitig sind oft genug Barakas Thesen, seine vorausgesetzten ästhetischen Urteile, als dass ich sie auch nur als Diskussionsgrundlage unterschreiben möchte: Wenn wir über die Faktenbasis uneins sind, wie kann man dann diskutieren. Es dauerte also, bis ich seine Statements als solche durchaus auch polemische Aussagen akzeptieren konnte, mich von Kapitel zu Kapitel ein wenig aufregte, dabei dann aber jedes Mal selbst gefordert wurde Stellung zu beziehen – ganz so wie man zu Thilo Sarrazin Stellung beziehen muss, indem man die Fakten genauso wie die Thesen auf den eigenen, ganz persönlichen Prüfstand stellt.

Baraka fordert seine Leser also heraus; das hat er immer getan, in seinen Gedichten genauso wie in seinen Schriften, zu Musik, Theater oder zur Politik. Mit diesem Vorwissen muss man an das Buch herangehen: Es ist kein Schmöker für gemütliche Stunden; es ist keine Sammlung netter Anekdoten (obwohl es die auch gibt): Man begibt sich stattdessen in den Ring mit dem Autoren, in dem seine Linke und seine Rechte immer wieder dazu führen, dass man seine Deckung überprüft, dass man überlegt, ob die eigenen Einschätzungen richtig oder falsch sind, vor allem aber, wie diese eigenen Einschätzungen eigentlich sind und durch was sie beeinflusst wurden.

Persönlich sind etwa Kapitel über Miles Davis, Bill Cosby, besonders das über Nina Simone, David Murray, John Coltrane, Albert Ayler (als Coltrane ihn zum ersten Mal hörte, sei seine Respektbezeugung gewesen ihn zu fragen: “Mann, was für ein Blättchen benutzt du?”), Max Roach, Thelonious Monk, Abbey Lincoln (eines der wenigen Interviews im Buch).

Natürlich wettert Baraka gegen die weiße Besitznahme von Jazzstilen, gegen die mediale Hochstilisierung weißer Musiker zu Kings, Queens und sonstigen Hoheiten des Jazz. Die wenigen weißen Musiker, die bei ihm regelmäßig Erwähnung finden, ohne dass Baraka auch nur adjektivisch über sie herfällt sind etwa Stan Getz, Roswell Rudd oder Bruce Springsteen (letztere erhielten eigene kurze Kapitel im Buch). Bei Wynton Marsalis windet sich Baraka ein wenig. Eigentlich ist ihm dessen Ästhetik viel zu konservativ, aber dann hat Marsalis schließlich (wenn auch auf denkbar andere Art und Weise) Dinge erreicht, für die er, Baraka, in den 1960er Jahren gekämpft hatte. Also lautet sein Diktum: “Es gibt Hoffnung, denn Marsalis, ‘on fire’, kann wirklich sehr, sehr heiß sein.” On Fire!

Ein weiteres Thema, bei dem sich Baraka sichtlich windet, dem er dann aber auch nicht allzu viel Platz einräumt, ist das Thema Rap und aktuelle afro-amerikanische Popmusik: Wo sie politisch ist, schwarze Rots bewusst widerspiegelt, wunderbar; wo das fehlt oder ihm nicht glaubwürdig genug rüberkommt: Daumen runter.

Spannend sind auf jeden Fall seine Erinnerungen an Newark als einen wichtigen kulturellen Spielort knapp außerhalb New Yorks, Lebensmittelpunkt vieler Künstler mit einer eigener Szene, von der aber selten die Rede ist, weil nun mal Manhattan immer die Scheinwerfer auf sich zog. Lesens- und streitenswert auch sein Kapitel über “Jazz and the White Critic – thirty years later”, eine Fortsetzung eines Artikels, den er in den 1960er Jahren in der Zeitschrift Metronome veröffentlicht hatte. In zwei aufeinander folgenden Aufsätzen weist er darauf hin, welchen wichtigen Einfluss Jackie McLean auf die Auflösung formaler und harmonischer Strukturen vom Hardbop hin zum Free Jazz hatte – eine Rolle, die viel zu selten betont wird.

Und und und… immerhin 84 Kapitel umfasst das Buch, kurze Konzert- und Plattenrezensionen zum Teil, aber auch längere Features und Reflektionen. Wie gesagt: Man muss nicht (und wird kaum) mit allem seiner Meinung sein, um durch Baraka Anstöße zum Nachdenken und zum Die-eigene-Meinung-Überprüfen zu finden. Allein deshalb: Lesenswert”

Wolfram Knauer (Januar 2011)


 

Visiting Jazz. Quand les jazzmen américains ouvrent leur porte
von Thierry Pérémarti
Gémenos/France 2009 (Le Mot et le Reste)
376 Seiten, 23 Euro
ISBN 978-2-915378-96-2

2009peremartiThierri Pérémarti hat eine erfolgreiche Kolumne in der französischen Zeitschrift “Jazzman” (seit wenigen Jahren fusioniert mit “Jazz Magazine”), in der er Musiker besucht und ihr Zuhause beschreibt. Die kurzen Essays werfen ein etwas anderes, oft persönlicheres Licht auf die Musiker, auf ihre Hobbies, Autos und geben oft genug kurze Interviewausschnitte wider, die sich bei diesen Besuchen ergeben und die sich mal um Musik, mal aber auch um Alltägliches drehen. Die 78 Interviews reichen von Gato Barbiero bis Joe Zawinul, daneben finden sich Namen wie Ray Ellis, Chico Hamilton, Freddie Hubbard, Michel Petrucciani, Pharoah Sanders, Lalo Schifrin, Diane Schuur und viele andere. Ein kurzweiliges Buch mit jeweils einem persönlichen Foto im Umfeld des Musiker-Zuhauses, das hier leider nur schwarzweiß abgedruckt ist (im Original der Zeitschrift war es meist in Farbe).

Wolfram Knauer (Dezember 2010)


 

Jazz in der Nachkriegszeit. Frankfurt am Main. Die Begegnungen zwischen Amerikanern und Deutschen
Von Anja Gallenkamp
München 2009 (AVM)
75 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-89975-832-0

2009gallenkampDie Rezeption des Jazz in Deutschland ist immer auch eine Rezeption der Amerikaner in Deutschland – so eng waren letzten Endes die amerikanischen Besatzungskräfte mit der Jazzentwicklung hierzulande verbunden. Es hat seinen Grund, warum Frankfurt am Main nach dem Krieg für lange Zeit als (moderne) Jazzhauptstadt der Republik galt: Hier saß das Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte; hier gab es die meisten amerikanischen Soldaten und – eng damit verbunden – auch die meisten Soldatenclubs, in denen die US-amerikanischen Kunden nach der Musik verlangten, die sie von zuhause her gewohnt waren. Anfang der 1950er Jahre war das noch der Jazz, später ließ die Jazzliebe der Soldaten (wie auch ganz allgemein der amerikanischen Bevölkerung) nach; die Kapellen, die in den GI-Clubs aufspielten, mussten bald eine andere Musik spielen. Die Begegnungen zwischen Amerikanern und Deutschen jedenfalls waren ausschlaggebend für eine ganz spezifische Spielweise all jener Musiker, die das Glück hatten, in dieser Region zu arbeiten. Anja Gallenkamp hinterfragt in ihrer Studie die Kontakte zwischen Amerikanern und Deutschen, befragt Zeitzeugen und wertet Zeitschriften der Nachkriegszeit aus. Sie interessiert sich dafür, inwieweit das amerikanische Vorbild einen Dialog überhaupt noch ermöglichte bzw. inwieweit es über lange Jahre die Ausbildung eines eigenen Stils vielleicht eher verhinderte. Die Zeit, die sie dabei vor allem interessiert, sind die Jahre 1945 bis 1951/52, ihre Quellen etwa das von Horst Lippmann herausgegebene Hot Club Journal, die Zeitschrift Jazz Home sowie Interviews mit Joki Freund oder Ulrich Olshausen. Ihre Recherchen stellte Gallenkamp für ihre Magisterarbeit an, was vielleicht den etwas trockenen Stil erklären mag, der das Buch stellenweise zu einer etwas beschwerlichen Lektüre werden lässt. Viel Information hat sie zusammengetragen, wenig Neues entdeckt, Altbekanntes mit Quellenverweisen untermauert. Im ersten Kapitel wimmelt es ein wenig von jazzhistorischen Gemeinplätzen, die in ihrer Vereinfachung eher verwirren als erklären. Die benutzte Literatur ist in diesem Bereich recht begrenzt; insgesamt würde man sich – wenn man sich schon durch ein wissenschaftlich angelegtes Werk kämpft, eine etwas kritischere Herangehensweise an die Quellen wünschen. Noch mehr allerdings wünschte man, dass die Autoren sich weniger auf bekannte Quellen verlassen und dafür vielleicht selbst im einen oder anderen Archiv gestöbert hätte, dem Archiv der Stars and Stripes etwa, der amerikanischen Armeezeitung. Man wünschte sich, dass die Begegnung zwischen Amerikanern und Deutschen als eine wirkliche Begegnung dargestellt würde, nicht nur als eine einseitig bewundernde Verehrung, dass die Autorin also neben den deutschen Beispielen auch amerikanische gebracht hätte, Interviews etwa mit damals in Deutschland stationierten Soldaten und/oder Musikern geführt hätte. Das ist, zugegeben, mit der Zeit immer schwieriger, aber auch solche Zeitzeugen lassen sich noch finden, und diese Aufarbeitung wäre ungemein wichtig. Im letzten Kapitel merkt Gallenkamp immerhin an, was noch zu tun sei in der Erforschung des deutsch-amerikanischen Jazzdialogs. Schade, dass sie die Chance nicht selbst ergriffen hat, neben der durch einige Zeitzeugengespräche aufgelockerten Literaturarbeit in eine tiefere Recherche einzusteigen. So ist die wichtigste Erkenntnis ihres Buchs vielleicht, dass dieser Teil deutscher Jazzgeschichtsschreibung immer noch mehr Aufgaben enthält als Resultate.

Wolfram Knauer (Oktober 2010)


 

Some Liked It Hot. Jazz Women in Film and Television, 1928-1959
Von Kristin A. McGee
Middletown/CT 2009 (Wesleyan University Press)
336 Seiten, 27,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8195-6908-0

2009mcgeeKristin A. McGee verbindet in diesem aus ihrer Dissertation hervorgegangenen Buch gleich zwei Themen: die Stellung der Frau im Jazz und die Repräsentation des Jazz im Film – ihr Thema also ist dementsprechend die Repräsentation der Frau im Jazz, dargestellt in Film und Fernsehen in den Jahren zwischen 1928 und 1959. Sie fragt dabei neben historischen Fakten danach, wie es in beiden Genres – Jazz wie Film – aufgenommen wurde, Frauen als professionelle Akteure zu erleben. Ihr Handwerkszeug dabei zu eruieren, wie Frauen, ob weiß oder schwarz, entgegen dem üblichen Frauenbild in der Gesellschaft ihre (alternative) Identität im Beruf als Jazzmusiker schufen, ist neben der Musikethnologie das der Gender Studies und der allgemeinen Kulturwissenschaften.

McGee beginnt ihr Buch mit einer Diskussion der Feminisierung der Massenkultur und der Mode von Frauenbands in den 1920er Jahren. Natürlich bezieht sich dieses Kapitel noch weit stärker auf die Bühne als auf den Film, aber genau das ist es, was McGee aufzeigen will, wie viele der auch im Film der 30er bis 50er Jahre enthaltenen Klischees sich auf der Varieté-Bühne der 1920er Jahre entwickelt hatten. Sie betrachtet Frauenensembles wie die Ingenues, die schon mal als die “Female Paul Whitemans of Syncopation” angekündigt wurden, oder die Harlem Playgirls, die in den schwarzen Zeitungen der 1930er Jahre gefeiert wurden. Da es in den meisten Teilen des Buchs die Darstellung der Musik im Film geht, macht es Sinn, sich, wo vorhanden, beim Lesen die entsprechenden Videos auf YouTube anzusehen, etwa Ausschnitte von Phil Spitalny and His Musical Queens oder der Bandleaderin Ina Ray Hutton. McGee erklärt, was in den Filmausschnitten zu sehen, aber auch, wie die diversen Bands in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden – als Bands genauso wie in ihrer Weiblichkeit. Sie findet vor allem, dass die Berichte selbst in den 1930er und 1940er Jahren nach wie vor das Ungewöhnliche einer reinen Frauenband stärker in den Vordergrund stellen als die musikalische Stärke der Ensembles. Hutton kommt dabei besonderes Gewicht zu, da ihre Band auch in Musikerkreisen einen exzellenten Ruf besaß.

Der dritte Teil des Buchs beschäftigt sich mit einem neuen Genre des Musikvideos in den 1940er Jahren, in dem schwarze Bands eine größere Rolle spielten. Themenschwerpunkte sind Hazel Scott, Lena Horne und eine neue Form der Erotisierung weiblicher Bands in den Soundies jener Zeit. Frauenbands erfuhren besonders während des Krieges einen Aufschwung, weil ihre männlichen Kollegen eingezogen wurden, eine Tatsache, auf die etwa im Film “When Johnny Comes Marching Home” auch thematisch eingegangen wird. Die International Sweethearts of Rhythm waren wahrscheinlich die bekannteste Frauenkapelle jener Jahre, und ihnen sowie ihrer Darstellung im Film widmet McGee ein eigenes Kapitel.

Im viertel Teil ihres Buches schließlich beleuchtet McGee die 50er Jahre, als Jazz in Musiksoundies immer weniger eine Rolle spielte, das Fernsehen dagegen zu einem allgegenwärtigen Medium wurde. So fragt sie nach Varietéshows im Fernsehen und der Präsenz weiblicher musikalischer Entertainer – Sängerinnen wie Peggy Lee und Lena Horne sowie Bandleaderinnen wie Ina Ray Hutton und Hazel Scott.

McGees Buch fokussiert den Blick des Lesers auf einen sehr speziellen Aspekt der Jazzgeschichte, und sie vermag jede Menge interessanter Backgroundinformationen dazu zu geben. Eine klare Storyline gibt es allerdings nicht in ihrem Buch, dem dann doch eher eine recht allgemein gehaltene Fragestellung zugrunde liegt und das sich stattdessen manchmal in Details verliert, bei denen sie letzten Endes mehr Fragen aufzuwerfen als Antworten zu geben scheint.

Wolfram Knauer (September 2010)


 

Fats Waller
von Igort & Carlos Sampayo
Bologna 2009 (Coconino Press)
152 Seiten, 17,50 Euro
ISBN: 978-8876-18159-7

2009igortIgort und Carlos Sampayo sind in der Comicszene gefeierte Zeichner, deren “Fats Waller”-Buch bereits 2004 veröffentlicht und mittlerweile in etliche Sprachen übersetzt wurde (eine deutsche Ausgabe erschien 2005). Nun liegt uns die italienische Übersetzung des Buchs vor, Grund genug, hineinzusehen und einen Eindruck zu vermitteln. Es ist keine Comic-Biographie, wie man vermuten könnte, sondern ein an der Musik und am großen Fats Waller aufgehängtes Buch über Zeitgeschichte. Wir erleben den Pianisten im Plattenstudio, den Faschismus in Deutschland und Spanien, Liebe, Krieg, Leid und swingende Musik, durcheinandergewirbelt in hinreißenden Zeichnungen der Autoren, die den Jazz als Begleitmusik der schlimmsten Jahre des 20sten Jahrhunderts interpretieren. Das gelingt ihnen glänzend. Zum Schluss finden sich, quasi als Bonus Tracks, einige Skizzen zum Buch, auf zwei Blättern aber auch Hinweise auf die musikalischen Auswirkungen, wenn Fats Waller Thelonious Monk über die Schulter schaut.

Wolfram Knauer (August 2010)


 

Thriving On a Riff. Jazz & Blues Influences in African American Literature and Film
herausgegeben von Graham Lock & David Murray
New York 2009 (Oxford University Press)
296 Seiten, 24,95 US-Dollar (oder 13,99 Britische Pfund)
ISBN: 978-0-19-533709-9

2009lockDer Einfluss zwischen den Künsten ist immer wieder Thema für wissenschaftliche Symposien und Sammelbände, und der Einfluss des Jazz auf Literatur und Film insbesondere wegen der improvisatorischen Grundhaltung des Jazz ein gern behandeltes Thema. Doch machen es sich viele Autoren zu einfach mit den Wechselbeziehungen zwischen den Künsten, suchen nach augenfälligen Parallelen statt nach gemeinsamen künstlerisch-ästhetischen Ansätzen. Ein einfaches Übertragen künstlerischer Ideen oder Ästhetiken von einem Genre aufs andere ist in der Regel eh nicht möglich, und oft genug sind im Nachhinein festgestellte Parallelen oder Wechselbeziehungen theoretisch aufgepfropfte Interpretationsmodelle, nicht immer aber originär gewollt. Graham Lock und David Murray versuchen in dem von ihnen herausgegebenen Buch, eine Menge unterschiedlicher Ansätze einer Betrachtung des Zusammenspiels zwischen Jazz und Literatur, Jazz und Lyrik sowie Jazz und Film zu versammeln. Das Buch, das als Fortsetzung des Buchs “The Hearing Eye” zu lesen ist, hatte seinen Ursprung in einem Forschungsprojekt über wechselseitige Einflüsse zwischen afro-amerikanischer Musik des 20. Jahrhunderts, den visuellen Künsten und der Literatur.

Nick Heffernan macht den Anfang mit einer Analyse der Romane “The Autobiography of an Ex-Colored Man” von James Weldon Johnson (1912) und “Mojo Han. An Orphic Tale” von J.J. Phillips (1916) und untersucht insbesondere, wie in beiden Romanen die Wurzeln schwarzer Musik für die Identität der Protagonisten und für ihr Selbstverständnis als Afro-Amerikaner eine Rolle spielen. Corin Willes wirft einen Blick auf die Blackface Minstrelsy und fragt, wo sich Überreste dieser Gattung im frühen Tonfilm finden lassen. Steven C. Tracy untersucht Folk-Einfüsse (insbesondere aus dem Blues) auf Sterling Browns Gedichte. Graham Lock interviewt den Dichter Michael S. Harper über den Einfluss des Jazz auf seine Arbeit sowie über sein Gedicht “Dear John, Dear Coltrane” von 1970. Bertram D. Ashe untersucht Paul Beattys Roman “White Boy Shuffle Blues” auf die darin vorkommenden Bezüge zu Jazz, afro-amerikanischer Musik und sonstige Volkstraditionen. Graham Lock unterhält sich mit der Dichterin Jayne Cortez über ihren eigenen Bezug zu Musik, Politik und frühe Jazz-und-Lyrik-Projekte mit Horace Tapscott, über Ornette Coleman, mit dem sie kurzzeitig verheiratet war und über Jazzprojekte mit ihrem Sohn Denardo Coleman. Außerdem druckt er ihr Gedicht “A Miles Davis Trumpet” ab, das als von Cortez gelesenes Soundbeispiel auch auf der von der Oxford University Press eigens eingerichtete Website abrufbar ist. David Murray befasst sich mit Musik und Spiritualität in den Schriften von Nathaniel Mackey und Amiri Baraka, diskutiert insbesondere Barakas “Blues People” (1963) und “Black Music” (1967), die, wie er darstellt, auch auf seine Dichtung Einfluss hatten (etwa “Black Dada Nihilismus”).

John Gennari untersucht Ross Russells Charlie-Parker-Biographie “Bird Lives!” auf die wechselvolle Beziehung der beiden, nachdem Russell Parker 1945 für sein Dial-Label aufgenommen hatte. Er fragt nach den Schwierigkeiten, mit denen sich der Autor für sein Parker-Buch herumschlagen musste und vergleicht Russells Biographie schließlich mit seinem Roman “The Sound” und dessen Rezeption durch die Jazzkritik. Krin Gabbard beschäftigt sich mit dem Genre der Jazzautobiographie, vergleicht entsprechende Publikationen von Billie Holiday, Charles Mingus, Art Pepper, Sidney Bechet, Louis Armstrong, Duke Ellington, konzentriert sich dann aber vor allem auf Miles Davis’ “Miles. The Autobiography”. Er fragt nach dem “wahren” Miles Davis hinter den von Stuart Troupe edierten Gesprächen, aus denen das Buch entstanden war, danach, wie Miles gesehen werden wollte und wie die Person hinter dem Bild, das Miles da erschaffen wollte, wirklich aussah.

Mit Bezug zum Film macht sich Ian Brookes Gedanken über Filme wie “To Have and Have Not” oder “Casablanca”, über die narrative Ikonographie der Kriegszeit und die Darstellung schwarzer Menschen und die Funktion der Musik in diesen Filmen. David Butler untersucht die Rolle der Filmmusik, die John Lewis 1959 für “Odds Against Tomorrow” geschrieben hat. Er vergleicht Lewis’ Arbeit mit der Verwendung von Jazz in früheren Filmen und verweist darauf, dass Lewis der Überzeugung war, dass Jazz weit mehr als Nebenbeimusik sein könnte, dass Jazz als Filmmusik das gesamte Spektrum emotionalen Ausdrucks wiedergeben könne. Lewis’ Partitur habe jede Menge an Improvisation mit einbezogen, was bislang in Hollywood überhaupt nicht üblich gewesen sei, schreibt Brookes, und sie vermeide die typischen Jazzklischees. Brookes erzählt die Handlung des Films, diskutiert die Rolle des schwarzen Protagonisten (gespielt von Harry Belafonte) und bedauert, dass Lewis trotz der exzellenten Arbeit für diesen Film nicht die Gelegenheit erhielt, weiter in dem Metier der Filmmusik zu arbeiten. Mervyn Cooke nimmt sich das andere große Beispiel jazziger Filmmusik von 1959 vor: Otto Premingers “Anatomy of a Murder” für das Duke Ellington die Musik schrieb. Er analysiert einzelne Filmsequenzen und die sie begleitende Musik, vergleicht den Einsatz von Musik hier mit Filmen wie “The Man With the Folden Arm”, “Ascenceur pur l’échafaud” (mit seinen kongenialen Miles-Davis-Improvisationen), “Sait-on jamais” (mit Musik von John Lewis), “À bout de souffle” (mit einer Partitur von Martial Solal) und Roman Polanskis “Knife in the Water”, für das Krzysztof Komeda die Filmmusik schrieb.

In einem abschließenden Kapitel reflektiert Michael Jarrett dann über das grundsätzliche Missverständnis, Einfluss sei grundsätzlich ein bewusster Vorgang. Dann nimmt sich Jarrett ein konkretes Einflussthema vor: Er stellt auf seiner Website einen Klangmix verschiedener Titel zusammen, die auf das Eisenbahn-Thema rekurrieren, das sich in afro-amerikanischer Musik zwischen Jazz, Blues, Soul und Gospel so häufig findet. Er fragt nach unterschiedlichen Einflussmöglichkeiten: Soundimitaten, Repräsentation von Zugmetaphern, Reduktion eines Songs auf Zuggeräusche etc. “Conduction” nennt Gregory Ulmer das neue Verständnis von Einflusssträngen, auf das Jarrett hiermit hinaus will, und das weit weniger zielgerichtet ist als es das Wort “Einfluss” vermuten lässt, und Jarrett überträgt Ulmers Modell beispielhaft auf Einflüsse in afro-amerikanischer Musik und Jazz.

Insgesamt ein Buch, das vom Großen zum Kleinen fortschreitet, anhand konkreter Beispiele jede Menge Anregungen für weitere Forschung über die die gegenseitigen Befruchtungen zwischen Jazz, Literatur und Film gibt. Spannende, anregende Lektüre.

Wolfram Knauer (August 2010)


 

Werkschau. 20 Jahre Schaffhauser Jazzfestival. Ein Rückblick
Herausgegeben von Daniel Fleischmann & Peter Pfister
Zürich 2009 (Chronos Verlag)
144 Seiten, 46 Schweizer Franken
ISBN: 978-3-0340-0961-4

2009werkschauFür wen ist ein Buch, das auf ein Festival zurückblickt? Wohl tatsächlich vor allem für diejenige, die dieses Festival über die Jahre besucht haben, für die dieses Festival zur eigenen Geschmacksbildung beigetragen hat, die sich in der Dokumentation an die Atmosphäre, an musikalische Höhepunkte erinnern möchten. Das von Daniel Fleischmann redaktionell betreute und von Peter Pfister koordinierte Buch zum 20jährigen Jubiläum des Schaffhauser Festivals vertraut bei der Erinnerung in erster Linie auf Fotos, in zweiter Linie auf einige Texte, die die Bedeutung eines Schweizer Festivals beleuchten, auf organisatorische Probleme, auf ästhetische Diskussionen und auf das Überwinden von Schwierigkeiten eingehen. Die Fotos sind teils schwarzweiß, teils in Farbe gehalten, geben Spielsituationen genauso wieder wie das konzentriertes Aufanderhören der Musiker oder aber vor- bzw. nachbereitende Gespräche. Sie sind auf gutem, schwerem Papier gedruckt, und in ein angenehm voll-aufschlagbares Hardback gebunden. Am Schluss findet sich eine Übersicht der 20 Festivalplakate, leider aber kein Personenindex, auch keine Programmübersicht dieser Zeit. Dabei machen die Bilder neugierig genug darauf, wie denn die Abende programmiert wurden, von denen die Fotos stammen. Trotzdem, ein dankbar durchblätterbares Buch mit vielen sehenswerten Fotodokumenten zum zeitgenössischen Jazz aus der Schweiz, aus Europa und der ganzen Welt.

Wolfram Knauer (August 2010)


 

50 Jahre Jazzkeller Hofheim. 1959-2009 Kellertexte
herausgegeben von Roswitha Schlecker
Hofheim 2009 (Stadtmuseum Hofheim am Taunus)
120 Seiten; 10 Euro
ISBN: 978-3-933735-38-6

2009schleckerAm 22. August 1959 eröffnete der Club der Jazzfreunde den ersten Jazzkeller in Hofheim am Taunus. 2009 feierte das Stadtmuseum das halbe Jahrhundert mit einer Ausstellung und einer Buchdokumentation über 50 Jahre bürgerschaftliches Engagement im Club der Jazzfreunde Hofheim. Die Dokumentation ist reich bebildert und schildert die Entwicklung des Clubs aus Beteilgtensicht: Von den Anfängen im Café Staab über Aufbruch, Jugendkultur und Politisierung der 1960er Jahre, sportliche Aktivitäten um den Club, ästhetische Diskussionen und schließlich das Hofheimer Jazzfest, das zwischen 1975 und 1995 zwanzigmal stattfand und über die Jahre wegen seiner künstlerischen Qualität zu einem deutschlandweit wahrgenommenen Festival wurde. Der Club war sozialer Treffpunkt, das wird schnell klar, und er hatte eine wichtige Funktion im Leben der aktiven Clubmitglieder, von denen eine überdurchschnittlich große Zahl beruflich mit der Musik verbunden blieb (als Verleger, als Buchhändler mit Jazzspezialsortiment, als Musikagent). Über die Musik selbst erfährt man dabei allerdings wenig, kriegt eher am Rande mit, dass Debatten um Free Jazz stattgefunden haben müssen, der im Club eine “große Minderheit” an Befürwortern hatte. Die Clubmitglieder jedenfalls engagierten sich nicht nur für ihren Verein, sondern auch in der Stadt, demonstrierten gegen Missstände, ja stellten 1980 sogar einen eigenen Kanzlerkandidaten auf, der die Partei G.A.F.N. (Gegen Alles Für Nichts) zur Macht bringen sollte. Hofheim, am Rande der Spontistadt Frankfurt gelegen, kriegte eben einiges mit an Ideen und Einfällen der Szene um Joschka Fischer und Daniel Kohn-Bendit. 1995 fand das 20. Hofheimer Jazzfest statt; der Jazzkeller macht weiter Konzerte, weiterhin mit Improvisationslust, wenn auch mit genauso unsicheren Mitteln. Zum 50sten Geburtstag schenkte der Verein sich selbst sein 21. Jazzfest. Die Dokumentation seiner Aktivitäten gibt ein lesenswertes Stimmungsbild einer aktiven Jazzgemeinde.

Wolfram Knauer (August 2010)


 

Whisky & Jazz
von Hans Offringa (& Jack McCray)
Charleston/SC 2009 (Evening Post Publishing Company)
206 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-615-28155-1

2009offringaWenn man nach Verbindungen zwischen Whisky und Jazz sucht, dann fallen einem wahrscheinlich als erstes die Trunkenbolde der Jazzgeschichte ein, von Bix Beiderbecke über Bunny Berigan bis zu Billie Holiday oder Lester Young und etlichen anderen, die oft genug mit Alkohol begannen und mit härteren Drogen endeten. Dies vorausgeschickt, mag man ein wenig ratlos vor diesem opulenten Coffeetable-Book stehen, das so unverblümt behauptet, die beiden hätten etwas gemeinsam. Jazz müsse swingen und Whisky müsse einen gewissen Nachgeschmack besitzen, schreibt Offringa. Für beide müsse man einen Geschmack entwickeln, beide würden von Experten und passionierten Handwerkern hergestellt. Naja, da fielen einem dann allerdings noch etliche andere mögliche Buchprojekte ein. Doch es ist nun mal Whisky… Hans Offringa also heißt der niederländische Whiskykenner, der schon etliche Bücher über den goldenen Stoff geschrieben hat und der sich diesmal mit Jack McCray einen ausgewiesenen Jazzexperten ins Boot geholt hat. Sie suchen zehn Musiker aus, die Jazzgeschichte geschrieben haben, sowie zehn gleichermaßen wichtige Single Malts. Nach einer Einführung in sowohl die Jazz- als auch die Whiskygeschichte gibt es dann kurze Essays zu Leben und Werk der Protagonisten bzw. Entstehung und Sein der Whiskysorten, beide Teile reich bebildert mit Fotos der jeweiligen Themenschwerpunkte. Die ausgewählten Jazzer sind keine Randfiguren: Cannonball Adderley, Chet Baker, John Coltrane, Miles Davis, Stan Getz, Dexter Gordon, Milt Jackson, Hank Mobley, Charlie Parker und Art Tatum. Jack McCray stellt sie in kurzen, liebevollen Artikeln vor, die sich ihrer Biographie genauso wie ihrer musikalischen Ästhetik widmen. An den Beginn des Buchs stellt McCray außerdem eine Einführung in die Jazzgeschichte, die auch alternative Narrative, also beispielsweise die Bedeutung seiner Heimatstadt Charleston, mit berücksichtigt. Zum Schluss kommen die beiden Erzählstränge des Buchs, der zum Whisky und der zum Jazz, dann zusammen, wenn den Musikern Whiskysorten zugeordnet werden, quasi wie eine Art Hör-und-Trink-Anleitung: Mit Jackson mit Balblair, Miles Davis mit Bruichladdich, Charlie Parker mit Springbank und so weiter. Über die Lieblingsgetränke der Musiker erfährt man eher wenig. Vielleicht hätten sie dem Single Malt einen Bourbon vorgezogen. Oder Milch, wie ein Foto im Hank-Mobley-Kapitel suggeriert.

Das Buch ist sicher vor allem eine Geschenkidee an jemanden, der beidem zugetan ist: dem Whisky und dem Jazz. Über beide Seiten seines Hobbies wird der so Beschenkte einiges Interessante erfahren, blättern, und vielleicht noch andere, eigene Getränke-Musik-Kombinationen entdecken.

Wolfram Knauer (Juli 2010)


 

Insights in Jazz. An Inside View of Jazz Standard Chord Progressions
von John A. Elliott
London 2009 (Jazzwise Publications)
306 Seiten, 25 Britische Pfund (Buch) bzw. 12 Britische Pfund (PDF-Download)
ISBN: 978-0-9564031-1-7

2009elliiotJohn Elliott, Jazzpianist und -lehrer aus Edinburgh, fasst sein Buch im Vorwort in einer Grafik zusammen: Er hat den gesamten Text in “wordle.-net” eingegeben, eine Website, die die Häufigkeit von im Text auftauchenden Worten analysiert und in eine Grafik umwandelt, in der besonders oft benutzte Worte größer und herausgehobener dargestellt werden als weniger oft benutzte Worte. “Cadence”, “Chord” und das Akkordsymbol “C∆” sind demnach die wichtigsten Wörter des Buchs, gefolgt von “Love”, “songs”, “chords”, “bridge”. “Love” fällt heraus; es taucht so oft auf, weil viele der Songs, die Elliott für sein Buch analysiert, nun mal “Love” im Titel führen. Elliott stellt in seinem Buch eine Methode auf, die Musikern helfen soll, die harmonische Struktur von Jazzstücken im Gedächtnis zu behalten. “Insights in Jazz” ist also keine neue Improvisationslehre, kein neues Harmonielehrebuch, sondern bietet eine Analyse ausgewählter Standards, die es Musikern und Musikstudenten leichter machen soll, diese zu memorieren. Sie baut auf Conrad Corks “New Guide to Harmony with LEGO Bricks” auf, einem Lehrbuch, das seit 1985 in mehreren Auflagen veröffentlicht wurde. Cork fasste oft vorkommende Akkordprogressionen in “bricks”, also Bausteinen, zusammen und definierte darüber hinaus eine Reihe an Verbindungspassagen (“joins”) zwischen solchen Bausteinen. Elliott ergänzt, er sei der Überzeugung, dass sich Standards am besten lernen ließen, wenn man sie grafisch darstelle. Harmoniesymboltechnisch hält er sich weitgehend zurück, beschränkt sich auf grundlegende Harmoniesymbole. Ansonsten präsentiert er die ausgesuchten Standards in einer Grafik, in der die formale Struktur angegeben ist, darin die Bausteine und Verbindungsstücke gemäß dem Lehrbuch von Cork sowie seine grundlegenden Akkordsymbole. Schließlich arbeitet er mit Farbe, um Passagen zu kennzeichnen, die nach Moll wechseln oder solche, in denen es zu erhöhter oder gar besonders erhöhter harmonischer Spannung kommt. Die “bricks” haben klar definierte Namen, etwa “Hover”, wenn sich die zugrunde liegende Harmonie über mehr als einen Takt erstreckt, “Dropback” für eine Kadenz von einem Dominantseptakkord zur Tonika etc., aber auch “Night and Day Cadence” für einer Drei-Akkord-Folge oder “Rainy Cadence” oder “Yardbird Cadence” für Akkordfolgen, wie sie in den gleichnamigen Titeln zu finden sind. Es gibt spezielle Namen für Turnarounds, für längere Akkordfolgen sowie für zwölf Verbindungspassagen, die quasi die zwölf möglichen Intervallpassagen kennzeichnen. Ein Ratschlag, den Elliott zu Beginn mitgibt, entnimmt er dem Studienhandbuch der Manhattan School of Music: “12 tunes say it all”: Man müsse nicht Hunderte Stücke auswendig kennen, sondern sei schon mal ganz gut bedient, wenn man zwölf Stücke kennen würde, die jede Menge an Grundstruktur und an harmonischen Phrasen enthalten, die auch in anderen Stücken immer wieder auftauchen. Elliott ergänzt die Liste um den Blues und hat damit 13 “beispielhafte” Titel, mit denen der Leser/Musiker anfangen könne: den Blues, “I’ve Got Rhythm”, “Cherokee”, “Sweet Georgia Brown”, “Indiana”, “How High the Moon”, “Out of Nowhere”, “Perdido”, “Honeysuckle Rose”, “Whispering”, “All the Things You Are”, “Night and Day” sowie “Lover”. Er beschreibt die am meisten üblichen Bausteine und gibt Tipps, wo man sein Pensum beginnen und wie man es fortsetzen könne. In “Insights in Jazz” führt Elliott einige neue Bausteine ein, etwa für spezielle Substitutakkorde oder Kadenzen. Er analysiert Titel, deren Schluss sich dem Schluss aus “Pennies from Heaven” bedient, besondere Kadenzen, etwa die “Rainbow”-Kadenz, die allerdings in “Over the Rainbow” gar nicht zu finden sei, sondern nur in Corks Analyse des Stücks. Ein Vorteil der Baustein-Methode sei, dass man auch dann leicht wieder in die Struktur eines Stücks hereinfinde, wenn man sich kurzzeitig musikalisch verlaufen habe, meint Elliott. Der erklärende Teil des Buchs umfasst knapp 60 Seiten, dann folgen die Anhänge, die die Theorie für den Musiker umsetzbar machen sollen: eine Übersicht über die verschiedenen “bricks”, “turnarounds” und “metabricks”, sowie die “Straßenkarte” zu über 200 Songs, einschließlich der meisten der 180 Standards, die von der Manhattan School of Music als Pflichtstücke vorausgesetzt werden, die man also während eines sechsjährigen Studiums lernen müsse. Melodien enthalten diese Übersichten nicht, aus Urheberrechtsgründen, wie Elliott anmerkt, aber auch, weil man Melodien seiner Meinung nach am besten von Platten abhören und lernen solle anstatt nach Noten. Es folgen 238 “Roadmaps” von “A Train” bis “Yours Is My Heart Alone”.

Ob das alles dem Musikstudenten oder Amateurmusiker (an beide richtet sich dieses Buch wohl vor allem) wirklich hilft, muss jedem selbst überlassen bleiben. Fürs Memorieren von Stücken gibt es schließlich von Musiker zu Musiker unterschiedliche Strategien. Elliotts auf dem “Brick”-System Corks aufbauendes System ist sicher eine hilfreiche Ergänzung und kann dem einen oder anderen Musiker damit helfen, sein Repertoire zu erweitern. Das Buch ist als Printversion über den Verlag Jazzwise zu beziehen oder aber direkt beim Autoren als personalisierte pdf-Version.

Link: Insights in Jazz.

Wolfram Knauer (Juli 2010)


 

Flow, Gesture, and Spaces in Free Jazz. Towards a Theory of Collaboration
von Guerino Mazzola & Paul B. Cherlin
Berlin 2009 (Springer)
141 Seiten, 53,45 Euro
ISBN: 978-3-540-92194-3

Es sei der Jazzforschung bislang nur unangemessen gelungen, die unterschiedlichen Aspekte des Free Jazz zu analysieren, merkt G2009mazollauerino Mazzola im Vorwort seines Buches, das in der Reihe “Computational Music Science” erschien, und erklärt, dass er damit nicht einfach nur die komplexen Improvisationsmechanismen meine, sondern auch die dahinter liegende kulturelle Bedeutung dieser Musik. Sein Buch entstand aus einem Seminar an der University of Minnesota heraus, und das merkt man auch der Kapitelaufteilung des Buchs an, das sich ein wenig wie das Curriculum eines Semesters liest. Er und seine Mitautoren (zum Teil Studenten des Seminars, zum Teil mit dem auch als Pianist aktiven Mazzola assoziierte Musiker) beginnen mit grundlegenden Definitionen über die gesellschaftlichen, politischen und musikalischen Ursprünge der Free-Jazz-Bewegung. Mazzola untersucht ausgewählte Dokumente – Artikel, Interviews, Konzertmitschnitte –, um aus ihnen die Diskurse der 1960er Jahre herauszuarbeiten, wobei er sowohl auf Dokumente aus den USA wie aus Deutschland zurückgreift (letzteres in einer legendären Fernsehsendung von 1967, bei der Klaus Doldingers Quartett auf Peter Brötzmanns Trio traf), die unterschiedlichen Bedingungen für die Entstehung des Free Jazz in den USA und in Europa (Deutschland) allerdings weder hier noch später im Buch thematisiert. Im zweiten Kapitel (man fühlt sich versucht zu sagen, “In der zweiten Woche”) behandelt er vier Beispiele: Archie Shepps “Donaueschingen”, John Coltranes “Love Supreme”, Cecil Taylors “Candid Recordings”; und Bill Evans’ “Autumn Leaves” – letzteres ein Beispiel für die Ausweitung konventioneller Rahmenstrukturen des Jazz und die Entwicklung neuer Vokabeln im Jazzidiom, die Mazzola als musikalische “Gesten” bezeichnet. In weiteren Beispielen (etwa von Sun Ra oder dem Art Ensemble of Chicago), fragt er nach den Formen der musikalischen Kommunikation, der gestischen Interaktion und der daraus entstehenden “collective vibration”. Hier nun wird es philosophisch, wenn er “collaboratorive spaces” postuliert, die sich aus dem Flow der Interaktion und der gestischen Kommunikation ergäben. Im Free Jazz veranschaulicht er dies anhand Ornette Colemans Album “Free Jazz” sowie John Coltranes “Ascension”. Er spricht über die Faszination von “Time” und den Umgang von Free-Jazz-Musikern mit ihr sowie über die musikalische Geste als probates Mittel der musikalischen Entwicklung und als einer der wichtigsten Einflüsse auf die Wirkung der Musik beim Zuhörer. Und schließlich untersucht er die Bedeutung des Flow für das Entstehen oder besser für das Resultat einer intensiven Gruppendynamik. In einem Schlusskapitel propagiert Mazzola eine Zukunft für den Free Jazz, wobei er noch einmal klar macht, dass er diesen offenbar als ein recht klar umgrenztes Genre innerhalb der Jazzentwicklung zu begreifen scheint, und nicht als eine historische Etappe, und sagt dieser Stilrichtung eine Zukunft selbst in akademischer Umgebung voraus – vielleicht weil sich der Free Jazz, wie das Seminar, aus dem dieses Buch entstand, zeigt, mit interessanten Fragestellungen untersuchen lässt. Dem Buch hängt eine CD mit Improvisationen des Quartetts Tetrade bei, dem Mazzola (Klavier, Jeff Kaiser (Trompete), der kürzlich verstorbene Sirone (Bass) und Heinz Geissler (Schlagzeug) angehören.

(Wolfram Knauer, Juni 2010)


 

Il chitarrista di jazz. Charlie Christian e dintorni
Von Roberto G. Colombo
Genova 2009 (Erga Edizioni)
367 Seiten, 1 beiheftende CD, 25 Euro
ISBN: 978-88-8163-472-4

2009colomboCharlie Christian war einer der wichtigsten Gitarristen der Jazzgeschichte, weil er sein Instrument aus der reinen Begleitfunktion herauslöste und mit Melodieinstrumenten wie Saxophon oder Trompete auf eine Stufe stellte. Nur Django Reinhardt mag ähnlich einflussreich gewesen sein. Roberto G. Colombo hat nun ein Buch vorgelegt, in dem er dem Stil Charlie Christians auf die Spur kommen möchte, noch mehr aber dessen Einfluss auf andere Gitarristen des modernen Jazz. Eine analytische Beschreibung des Stils seines Helden mitsamt einzelner Transkriptionen findet sich seltsamerweise erst im letzten Kapitel, in dem Colombo Christians melodische, harmonische und rhythmische Sprache etwas näher untersucht. Der Hauptteil seines Buchs bezieht sich vor allem auf den Einfluss, den Christian etwa auf Musiker wie Barney Kessel und Tal Farlow, Jim Raney und Jim Hall, Kenny Burrell und Wes Montgomery und andere hatte, wobei er die hier genannten bewusst in Opposition zueinander bringt, um die unterschiedlichen stilistischen Wege herauszuarbeiten, die sie gegangen sind. Der gemeinsame Nenner, so Colombo, sei Charlie Christian gewesen, dessen Einfluss neben Django Reinhardts auch in Europa deutlich spürbar gewesen sei. In einem eigenen Kapitel über die elektrische Gitarre beschreibt er die Geschichte der elektrischen Verstärkung des Instruments und geht daneben auf andere frühe Vertreter der E-Gitarre ein, etwa die Hot String Bands des Western Swing jener Jahre oder den Posaunisten und Gitarristen Eddie Durham, die alle ihren eigenen Nachhall in Charlie Christians Spiel fanden. Das Buch bleibt eine eher trockene Lektüre, eine beiheftende CD enthält 42 Track Charlie Christians mit Benny Goodman genauso wie in diversen Jam Session-Zusammenhängen, in denen seine Nähe zum Bebop besonders gut zur Geltung kommt.

Wolfram Knauer (Mai 2010)


 

All That Swedish Jazz. Zwölf schwedische Jazzstars erobern die Welt
von Lisbeth Axelsson
Bad Oeynhausen 2009 (jazzprezzo)
223 Seiten, 1 beiheftende CD, 35,00 Euro
ISBN: 978-3-9810250-9-5

2009axelssonHilfe die Schweden kommen! Oder die Norweger, die Dänen, die Finnen… Skandinavier jedenfalls, meint man, machen einen Großteil des Hypes, des Erfolgs des europäischen Jazz in den letzten Jahren aus. Nun, auf jeden Fall haben sie eine exzellente Musikerziehung von klein auf und bringen so hervorragende Musiker hervor, und auf jeden Fall verstehen sie sich aufs Marketing. Und so blättert es sich in diesem Buch, das im Original in schwedischer Sprache im Stockholmer Votum-Verlag erschienen ist, ein wenig wie im Katalog eines international sich erfolgreich vermarktenden Möbelhauses: bunt, lebendig, witzig. Lisbeth Axelsson hat für ihre Portraits von zwölf durchwegs jungen Musikerinnen und Musikern Fotos gesammelt, die diese nicht nur als Musiker, sondern auch als Privatmenschen zeigen: Viktoria Tolstoy etwa im Kreis ihrer Familie oder bei einem Treffen aller Tolstoy-Nachfahren (sie stammt ja bekanntlich tatsächlich aus der Familie des großen Schriftstellers), Lisen Rylander auf dem Segelboot, Magnus Coltrane Price mit Motorradhelm, Magnus Lindgren beim Wasserskifahren, Anders Öberg beim Joggen, Rigmor Gustafsson auf dem Fahrrad, Jon Fält beim Kücheputzen oder Karin Hammar im Fitnessstudio. Das Buch böte genügend Soff für eine Magisterarbeit darüber, wie die Musikerinnen und Musiker sich hier wohl darstellen wollen oder dargestellt worden, welche Inhalte allein die Ikonographie der Bilder vermittelt. Daneben stellt Lisbeth Axelsson biographische Texte, von O-Tönen durchzogen, Erinnerungen der Musiker darüber, wie sie zur Musik und wie zum Jazz kamen, was besonders herausfordernd ist am gewählten Beruf des Jazzmusikers und wo sie vielleicht noch hinwollen. Ach ja, die noch nicht genannten sind: Nils Landgren, Jan Lundgren, Peter Asplund und Martin Tingvall. Lesenswert ist das allemal, und, wie gesagt, ein Spaß machendes Bilderbuch außerdem. Der Verlag erkennt man kaum in Gestaltung und Papier – jazzprezzo macht sonst andere Bücher –: Dies ist deutlich eine Lizenzausgabe, bunt, gesund, frisch und … Lebst du noch, oder hörst du schon schwedischen Jazz?!

(Wolfram Knauer)


 

W.C. Handy. The Life and Times of the Man Who Made the Blues
von David Robertson
New York 2009 (Alfred A. Knopf)
286 Seiten, 27,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-307-26609-5

2009robertsonW.C. Handy wurde als der Mann gefeiert, der den Blues erfunden habe, als “Father of the Blues”. Natürlich hat er das nicht getan – aber er hatte große Ohren, er hörte, was um ihn herum gesungen und gespielt wurde, er entwickelte ein Gespür für den populären Musikmarkt und er schrieb (oder kompilierte) einige der erfolgreichsten Blueskompositionen vor 1920. Er ist einer der großen Helden afro-amerikanischer Kulturgeschichte, ein Denkmal zu Lebzeiten, und bis heute präsent in den Titeln aus seiner Feder, den “St. Louis Blues”, “Beale Street Blues”, “Memphis Blues” und anderer Stücke, die weit über das Genre hinaus wirkten. David Robertson macht sich in seinem Buch auf die Suche nach dem Menschen William Christopher Handy und nach dem Umfeld, aus dem heraus er seiner Arbeit nachging. Er beschreibt ihn als Geschäftsmann, der sich nach Respekt von schwarzer wie weißer Seite sehnt, sein Geld aber im Vermarkten einer Musik verdient, die sich bewusst auf schwarze Roots stützt, der also quasi die “beiden Seelen” personifizierte, von denen W.E.B. Du Bois in seinem Buch “The Souls of Black Folk” schrieb. Handy wurde 1873 in einer Kleinstadt in Alabama geboren, acht Jahre nach der Emanzipation der schwarzen Sklaven. Sein Vater war Farmer und Pastor der lokalen AME Church. In der Schule erhielt er Musikunterricht, aber im richtigen Leben lernte er die wirkliche Musik kennen. Jim Turner, ein oft betrunkener Fiedler, machte ihn mit der Folk-Tradition der Gegend vertraut, Prototypen des späteren Blues. Er lernte heimlich Kornett, was von der Familie nicht gern gesehen wurde, die Musik, wenn überhaupt, nur in der Kirche duldete, und begann nach seinem High-School-Abschluss als Schulassistent im schwarzen Schulsystem seines County. 1892 machte er sich auf nach Chicago, wo damals die Weltausstellung stattfand und verdiente sich mit Freunden in einem Barbershop-Gesangsquartett ein wenig Geld. Im darauf folgenden Jahr zog er erst nach St. Louis, dann in andere Kleinstädte, schlug sich erst mit gelegentlichen Jobs, dann immerhin hauptberuflich mit Musik durch, als er in Evansville, Indiana, eine Brassband gründete. Von 1896 bis 1900 reiste er mit einer Minstrel-Show durch die Lande, und Robertson berichtet über einige der Szenen in der Show, in der sich weiße Schauspieler ihre Gesicht schwarz anmalten und sich über das Alltagsleben in der amerikanischen Provinz lustig machten. Aus heutiger Sicht war das alles eine herabwürdigende, rassistisch anmutende Show, an der sich schwarze Musiker gezwungenermaßen beteiligen mussten, um Geld zu verdienen. Daneben aber lernte Handy hier das Handwerkszeug für sein späteres Geschäft: Er lernte, was beim Publikum ankam, und wie man die Bedürfnisse eines ganz unterschiedlichen Publikums befriedigen konnte. 1900 spielte Handy ein Konzert im State Agricultural and Mechanical College for Negroes in Normal, Alabama, einer Reformschule im Sinne Booker T. Washingtons, und der Schulleiter engagierte ihn als Lehrer für Englisch und Musik. Als Handy in einem Schulkonzert Ragtimes und andere Titel spielte, die vielleicht eher in eine Minstrelshow gepasst hätten, bat man ihn, sich einen anderen Job zu suchen. Er ging wieder auf Minstrel-Tournee, und ließ sich dann in Clarksdale, Mississippi nieder, wo ihm ein Posten als Bandleader angeboten wurde. Diese Zeit war wohl besonders wichtig für Handy, den Melodiensammler, der sich die Musik der Farmarbeiter anhörte und viel davon in seinen späteren Kompositionen verwendete. 1905 zog er nach Memphis, spielte auf den Riverboats des Mississippi und schrieb sein erstes eigenes Stück, “Mr. Crump” (später “The Memphis Blues”). Dessen Copyright verkaufte er da noch für 50 Dollar; wenige Jahre später gründete er, klug geworden, zusammen mit Harry H. Pace den Musikverlag Pace & Handy. Robertson zeichnet den geschäftlichen Erfolg des Verlags nach und damit auch die erfolgreichen Kompositionen, die Handy in jenen Jahren veröffentlichte. 1917 hatte Handy ein Büro in Chicago eröffnet, aber tatsächlich zog es ihn nach New York, die Hauptstadt der amerikanischen Unterhaltungsindustrie. Als Musikverlag musste man ein Büro in New York haben, wo das Publikum in Musicals oder den Revuebühnen über Erfolg und Misserfolg der aktuellen Hits entschied. In seinem Büro trafen sich Bert Williams und Clarence Williams, Wilbur Sweatman und andere Größen des afro-amerikanischen Showbusiness. In den 1920er Jahren kam zum einträglichen Notengeschäft zusätzlich das neue Geschäft mit Schallplatten, Harry Pace entschied sich 1921, seinen eigenen Plattenverlag aufzumachen, und etliche der bislang bei beiden unter Vertrag stehenden Künstlern, darunter auch Fletcher Henderson, folgten ihm, statt bei Handy zu bleiben. Der wirkte auf die jungen Musiker inzwischen altbacken, unmodern; das Geschäft ging schlecht, und er profitierte kaum vom Boom schwarzer Musik in den frühen 1920er Jahren. 1924 traf er auf den Wall-Street-Anwalt Abbe Niles, der Handys und andere Blueskompositionen der Zeit liebte und an einem Artikel über den Blues arbeitete. Niles stand hinter dem Buchprojekt “Blues. An Anthology”, das 1926 erschien und Handy endgültig als “Father of the Blues” etablierte. Handy hatte noch weitere Ambitionen. Er, dessen Weg durch die Ideale sowohl Booker T. Washingtons wie auch W.E.B. Du Bois geprägt war, wollte eine veritable Kunstmusik schaffen, eine afro-amerikanische Symphonie. George Gershwin hatte ihm die Partitur seiner “Rhapsody in Blue” mit der Widmung versehen :”Für Mr. Handy, dessen frühe ‘Blue’ die Vorfahren für dieses Werk sind”. 1926 hörte Handy in der Aeolian Hall symphonische Arrangements über “St. Louis Blues” und “Beale Street Blues”; 1927 dirigierte er selbst George Antheils “Jazz Symphony” in der Carnegie Hall. In den 1930er Jahren wandte er sich in seiner Verlagsarbeit Negro Spirituals zu, trat ab und zu als Gast im Cotton Club auf (und spielte dort dann meist den “St. Louis Blues”) und veröffentlichte 1941 seine Autobiographie, “Father of the Blues”. 1943 hatte er einen folgenschweren Unfall, als er von der U-Bahn-Plattform stürzte und sich den Kopf verletzte. Danach war er blind, was ihn aber nicht davon abhielt, in der New Yorker Gesellschaft mitzumischen und sich, wo immer es ging, als Vater des Blues feiern zu lassen. 1956 wirkte er bei einem letzten öffentlichen Auftritt im Lewisohn Stadium in New York City mit, bei dem Leonard Bernstein ein Orchesterarrangement über den “St. Louis Blues” dirigierte. Zwei Jahre später starb W.C. Handy im Alter von 84 Jahren. Zur Trauerfeier kamen 150.000 Menschen, die die 138ste Straße in Harlem säumten, als Handys Sarg in die Abyssinian Baptist Church gebracht wurde. Robertsons Buch zeichnet Handys Lebensgeschichte mit allen Hochs und Tiefs nach, ist dabei, wie der Untertitel verspricht: eine Biographie mit Blick auf Leben und Zeit des W.C. Handy, nicht so sehr auf die Besonderheiten seiner Musik. Er erzählt die Ereignisse mit dem Blick für Einzelheiten (wenn er auch die immerhin nicht ganz unbedeutsame Identifikation zweier Personen auf einem Foto unterlässt, das Handy und seine zweite Frau zeigen, wie Handy unter dem Kichern und dem belustigten Grinsen von Dizzy Gillespie und Leonard Feather Dizzys gebogene Trompete befingert). Das Buch ist allemal eine lesenswerte Lektüre und gibt mit einem umfassenden Anmerkungsapparat die Möglichkeit zum weiteren Einstieg in die Erforschung beispielsweise des afro-amerikanischen Pubikationswesens im frühen 20sten Jahrhundert.

Wolfram Knauer (Mai 2010)


 

Die unheimliche Maschine. Rasse und Repräsentation im Weimarer Kino
von Tobias Nagl
München 2009 (edition text + kritik)
827 Seiten, 49,00 Euro
ISBN: 798-3-88377-910-2

2009naglIn Jazzbüchern liest man oft vom Reiz des Exotischen, wenn von der Rezeption des frühen Jazz in Europa die Rede ist. Man verweist auf Bildende Künstler, Komponisten der klassischen Musiktradition und auch auf Schriftsteller, die afrikanischen oder asiatischen Einflüssen gegenüber offen standen, weil sie in ihnen Erweiterungsmöglichkeiten ihres eigenen künstlerischen Vokabulars sahen. Was dabei oft vergessen wird, ist ein differenzierter Blick darauf, wie Menschen anderer Hautfarbe tatsächlich in Europa wahrgenommen wurden und welche Mechanismen und/oder politischen Entwicklungen diese Wahrnehmung mit steuerten. Tobias Nagl stellt gleich in der Einleitung seines Buchs klar (und beruft such dabei auf Katrin Sieg): “Gerade die Extremität des wissenschaftlichen Rassismus in der deutschen Geschichte war es, die zusammen mit den widersprüchlichen Imperativen während der Demokratisierung des Landes den Diskurs um ‘Rasse’ und die Untersuchung seiner Nachwirkungen in offiziellen Kontexten tabuisierte.” Daher habe man es in Deutschland vorgezogen, mit Konzepten des “Anderen” oder auch des “Fremden” zu arbeiten, die allerdings seltsam unscharf blieben. Nagl arbeitet sich durch die Literatur zu Termini wie “Rasse” und “Rassismus”, stellt die relativ kurze koloniale Kultur Deutschlands und die postkoloniale Theorie gegenüber, und versteht seine eigene Arbeit, die Filmgeschichte, dabei als “Archäologie sozialer Praxis”. Dann arbeitet er sich anhand konkreter (Film-)Beispiele durch das wechselvolle Verhältnis der Deutschen zu Mitmenschen anderer Hautfarbe. Er thematisiert “Kolonialismus, Geschlecht und Rasse” im Film “Die Herrin der Welt” von 1919, den er in Verbindung zur Völkerschautradition jener Zeit setzt. Er referiert den Inhalt des Films sowie seine Rezeption in Deutschland und den missglückten Export des Films nach USA, berichtet aber auch über Rassismusproteste aus den Reihen des “Vereins chinesischer Studenten” in Berlin. Der Film “Die Schwarze Schmach” von 1921-23 dient Nagl zur Diskussion der Darstellung von Sexualität und der Reaktion von Zensur. Hier thematisiert er die Rheinlandbesetzung durch koloniale Regimenter der Franzosen nach dem Ersten Weltkrieg, die reichlich Stoff für eine rassistische deutsche Propaganda geliefert hatte, und vor dessen Hintergrund der Film zu sehen ist. Die Zensur kritisierte im Film genannte Fakten und Zahlen sah den Film als gefährliche rassistische Propaganda, die dazu führen könne, dass das deutsche Ansehen im Ausland Schaden nähme. Nagl zeigt Beispiele solcher Propaganda, etwa Briefverschlussmarken mit der Aufschrift “Versuchte Mutter m. Mischlingskind” oder mit der Abbildung dreier dürrer Kinder vor einem großen schwarzen Mann und der Aufschrift “Um einen Besatzungssoldaten zu ernähren müssen vier deutsche Kinder hungern!”. Weitere Kapitel befassen sich mit dem kolonialen Propagandafilm, mit Kulturfilmen über Afrika (Nebentitel “Kolonialrevisionismus und romantische Ethnografie” — hier geht es auch um das “Spektakel der Differenz”), mit dem Geschlechterverhältnis im kolonialen Spielfilm, dabei insbesondere schwarzen Frauenrollen im Weimarer Kino. Neben Menschen schwarzer Hautfarbe auf der Leinwand aber gab es auch eine schwarze deutsche Bevölkerung, gab es schwarze Schauspieler in Deutschland, denen Nagl ein eigenes Kapitel widmet. Er schildert den Alltag in der Filmbörse, in der koloniale Migranten sich als Komparsen fürs Kino bewarben. Ein Exkurs innerhalb dieses Kapitels zeichent die Karriere des Schauspielers Louis Brody in den 1920er genauso wie den 1930er Jahren nach, als er auch an Propagandafilmen des NS-Staats mitwirkte, etwa dem Film “Jud Süss” von 1940. Ein erster Jazzschwenk geschieht im kurzen Kapitel über den Schauspieler und Schlagzeuger Willy Allen, geboren als Wilhelm Panzer in Berlin, der im Film “Einbrecher” von 1930 mit Sidney Bechet zu sehen und hören ist. Das letzte Kapitel dann ist das Jazzforscher am direktesten ansprechende Kapitel, überschrieben “‘Afrika spricht!’ Modernismus, jazz und Minstrelsy”. Hier schildert Nagl den Erfolg schwarzer Revuen in der Folge der “Revue Nègre” mit Josephine Baker, Louis Douglas und der Claude Hopkins Band sowie der “Chocolate Kiddies Negro Revue” mit dem Orchester des Pianisten Sam Wooding. Beide Revue, schreibt Nagl, “boten keinen unvermittelten Ausdruck afroamerikanischer Kultur, sondern standen in der Tradition der bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Minstrel-Shows”, eine Aussage, die zumindest musikalisch in Frage zu stellen ist. Nagl beschreibt denunziatorische Attacken auf den Jazz als wilde und zu sexuellen Ausschweifungen einladende Musik, stellt aber auch fest, dass Jazz in deutschen Filmen eher eine geringe Rolle spielte. Afroamerikanische Musiker habe es in Deutschland zahlreich bereits seit den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts gegeben; und im Kaiserreich habe die Cakewalk-Mode auch Deutschland erfasst. “Die meisten Unterhaltungsmusiker, die in den unmittelbaren Nachkriegsjahren Jazz zu spielen versuchte, wussten jedoch nicht einmal genau, wie die Musik klang”, konstantiert Nagl und zeichnet dann die zunehmende Ernsthaftigkeit nach, mit der der Jazz rezipiert wurde, irgendwo zwischen Abscheu und exotischer Begeisterungswelle. Jazz spielte immerhin ab den Mitt-1920er Jahren eine größer werdende Rolle bei der Filmbegleitung, allerdings nicht in der “authentischen” Tradition des Hot-Jazz amerikanischer Prägung, sondern vor allem in der Tradition eines sinfonischen Jazz George Gershwins oder Paul Whitemans, wie er in Deutschland von Bands etwa um Bernard Etté oder Ernö Rapée gespielt wurde. Nagl beschreibt Josephine Bakers Siegeszug in Berlin und ihren Einfluss auf intellektuelle Verehrer und Schriftsteller. Anhand von Ernst Kreneks Jazz-Oper “Jonny spielt auf” thematisiert er die der Oper inheränte “Bedrohungsphantasie”: Ernst Krenek habe mit ihr alles andere als eine Verherrlichung des Jazz im Sinn gehabt. Im Jazzhass gehe es nicht nur um Musik und “rassische Invasion”, sondern auch um Ängste, die mit “Vorstellungen ausschweifender, transgressiver Sexualität” verbunden seien. Nagl verfolgt die Tiraden auf den Jazz von der Neuen Musik-Zeitung 1928 über Theodor W. Adorno bis zu Alfred Rosenberg und Wilhelm Fricks berüchtigtem Erlass ‘Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum’. Er beschreibt die Rezeption einiger amerikanischer Filme mit afroamerikanischen Themen/Schauspielern sowie weitere Assoziationen, die mit Hilfe schwarzer Schauspieler transportiert werden sollten, etwa “moderne Exzentrik”. Schließlich wirft er noch einen Blick auf den Boxsport, in dem schwarze Athleten eine wichtige Rolle spielten, und seine Reflektion im Weimarer Kino. Und anhand des Tänzers Louis Douglas diskutiert er, wie die deutsche Linke mit dem Thema Hautfarbe / Rassismus umgeht. Nagls eindrucksvoll umfassendes Buch ist ein Standardwerk zur Rezeption afrikanischer wie afro-amerikanischer Kultur in Deutschland und erlaubt viele Erkenntnisse auch über die Bedingungen, in denen im Deutschland der 1920er und frühen 1930er Jahre Jazz gespielt und gehört wurde. Höchst empfehlenswert!

(Wolfram Knauer, April 2010)


 

Musikszene Schweiz. Begegnungen mit Menschen und Orten
herausgegeben von Christoph Merki
Zürich 2009 (Chronos Verlag)
692 Seiten, 38 Euro
ISBN: 978-3-0340-0942-3

2009merki“Musikszene Schweiz” will die Schweiz als Musikland darstellen, in seiner ganzen Fülle zwischen Volks-, Pop- und Kunstmusik, und auf sehr direktem Wege über Gespräche mit Musikmachern und -ermöglichern und Reportagen über Orte, an denen Musik stattfindet. Der Rundumschlag ist weit: Musical; Gregorianik; Mundart-Rap; volkstümliche Musik (wobei dieser Begriff hier offenbar anders als in Deutschland gebraucht wird, wo er mehr für die Schlagervariante der Volksmusikindustrie steht, während Franz-Xaver Nager, der sich in diesem Buch mit dem Thema beschäftigt, die ursprüngliche Volksmusik und ihre heutige Pflege meint); Oper; Worldmusic (bei der sich Marianne Berner in ihrem Bericht über Afropfingsten-Festival nicht die “Vorläufer” afrikanischer Musik in der Schweiz erwähnt, als das Land in den frühen 1960er Jahren Anlaufstelle für viele südafrikanische Musiker im Exil war); Internetsounds; Fußballgesänge; Alte Musik; “Jazz und anderes mehr” (über das Montreux Jazz Festival); Schlager; Punk; Filmmusik; Jodelgesang; Berner Mundartrock; Musiktherapie; Neue Musik; Blues; Operette; “Megarock und Pop”, Chorgesang; Free Jazz (ein Interview mit Patrik Landolf über das Unerhört-Festival in Zürich); “Die andere Musik” (über aktuelle alternative Musikformen); Gospel; Klassik am Lucerne Festival; Unterhaltungs- und Tanzmusik; “Jazz aus der Schweiz” (über das Schaffhauser Jazzfestival); Theatermusik; Rock/Pop bei Musicstar (über den gleichnamigen SF DRS-Sender); Reggae; Alpentöne; “Traditioneller Jazz” (über das Festival JazzAscona); Country Music; “Immigrantenmusik (Balkan)”; Blasmusik; Chanson und frankophone Musik; Techno; Orgelmusik; sowie “Musik der Kulturen der Welt”. Das Buch ist ein gelungener Überblick über ganz unterschiedliche Seiten eines bunten Musiklebens, eine Dokumentation des Status Quo einer Szene zwischen Tradition und Avantgarde, zwischen Etabliertheit und Suche nach dem eigenen Platz.

(Wolfram Knauer, April 2010)


 

Swingingly yours Ilse Storb. Love and Peace
von Ute Büchter-Römer
Duisburg 2009 (NonEM Verlag)
112 Seiten + beigeheftete CD, 15,00 Euro
ISBN: 978-3-935744-09-6

2009storb1Ilse Storb war nie eine stille, sondern immer eine laute Kämpferin für den Jazz: als “Europas einzige Jazzprofessorin”, wie sie sich selbst gern bezeichnete, als Autorin mehrerer Sachbücher zum Jazz, als Gründerin des Jazzlabors an der Gesamthochschule, später Universität Duisburg, als Verfechterin eines musikalischen Dialogs der Kulturen, und als Workshopleiterin, die sich sicher war, dass man von Menschen anderer Herkunft viel lernen kann und die immer auf die Offenheit drängte, das “Fremde” als Einfluss auf sich wirken zu lassen. Ute Büchter-Römer hat aus den Daten und Fakten ihres Lebens eine Biographie zusammenstellt, in der der Weg von der klassischen Pianistin zur Jazzprofessorin allerdings nur halb so begeisternd nachvollzogen wird wie auf der beiheftenden CD, einer WDR5-Sendung aus dem Jahr 2002, in der die ganze Wucht der weit über die Jazzgrenzen bekannten Musikwissenschaftlerin zu spüren ist. Büchter-Römer rekapituliert die Lebensgeschichte, fasst die wichtigsten Veröffentlichungen Storbs zusammen, schreibt über Medienauftritte in Rundfunk wie Fernsehen (ja, auch über jene legendäre Stefan-Raab-Sendung), über Konzertreisen und Festivals, über Storbs Liebe zu zwei ihrer wichtigsten Sujets: der Musik von Louis Armstrong und Dave Brubeck. Die Biographie ist ein Geschenk zum 80sten Geburtstag; dementsprechend ist kritische Distanz weniger gefragt. Aber Ilse Storb ist eh, wie man schnell merkt, ein Gesamtkunstwerk, dem man in einem Buch allein kaum beikommt. Eine CD muss mindestens dabeiheften, besser noch hätte wahrscheinlich eine DVD dazugehört. Parallel erschien außerdem eine Festschrift (siehe den nächsten Beitrag).

(Wolfram Knauer, März 2010)


 

Rastlose Brückenbauerin. Festschrift zum 80. Geburtstag von Ilse Storb
herausgegeben von Ulrich J. Blomann & Hans-Joachim Heßler
Duisburg 2009 (NonEM Verlag)
437 Seiten, 45 Euro
ISBN: 978-3-935744-10-2

2009storb2Ulrich J. Blomann und Hans-Joachim Heßler stellten zum 80. Geburtstag von “Europas einziger Jazzprofessorin” eine Sammlung von Aufsätzen zusammen, die sich mit unterschiedlichen Themenfeldern auseinandersetzen, die Ilse Storb in ihrer langen Berufskarriere als Pianistin, Musikwissenschaftlerin, Pädagogin und Hochschullehrerin irgendwann einmal gestreift hat. Für den Bereich ihrer größten Liebe, nämlich die Jazz- und Popularmusikforschung, befasst sich Ute Büchter-Römers mit der Änderung des Stimmideals von “Belcanto zum Rap”, schreibt Alfons Michael Dauer über die “Lineare Mehrstimmigkeit im alten Gospel” und Franz Kerschbaumer über impressionistische Strukturen (Strukturen?) im Jazz. Karsten Mützelfeldt trägt zwei Sendemanuskripte bei, eines über Jazz in Vietnam, das andere über Gunther Schuller; und Gudrun Endress ein Interview mit McCoy Tyner. Es gibt Beiträge zur Neuen Musik, zur Musikethnologie (erwähnenswert insbesondere Gerhard Kubiks Beitrag über “Das ‘Eigene’ und das ‘Fremde'”) und zur Musiksoziologie sowie einen ausführlichen theologischen Exkurs von Ute Ranke-Heinemann zum Thema “Die Hölle”. Schließlich finden sich jede Menge persönliche Gratulationen von Freunden, Kollegen, Mitstreitern über viele Jahrzehnte. Nicht alles hat mit Musik zu tun, aber alles irgendwie mit Ilse Storb, und vieles mit dem Titel des Buchs, dem “Brückenbauen” zwischen Stilen, Genres, Kulturen. Das Buch endet mit einem Interview mit der Jubilarin darüber, warum es in Deutschland für Frauen so schwer ist, eine Karriere zu machen, wie sie, Ilse Storb, sie gemacht hatte. Es ist bezeichnend, und durchaus ein Kompliment, dass dabei auch auf dem Papier die Lebendigkeit durchkommt, die Ilse Storb auszeichnet.

(Wolfram Knauer, März 2010)


 

From Harlem to Hollywood. My Life in Music
von Van Alexander & Stephen Frattalone
Albany/GA 2009 (BearManor Media)
197 Seiten, 19,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-59393-451-4

2009alexanderVan Alexander gehört nicht gerade zu den bekannten Namen der Jazzgeschichte. Man hat von ihm als Bandleader gehört, und wenn man sich gut auskennt, weiß man, dass er einst Arrangeur für Chick Webbs Band war und das Arrangement zu “A-Tisket, A-Tasket” geschrieben hat. In seiner Autobiographie erzählt Alexander nun seine Geschichte im Musikgeschäft. Alexander wurde 1915 in der Mitte Harlems geboren, das damals noch nicht wie wenige Jahre später Zentrum des schwarzen Amerikas war. Sein Vater war ein aus Ungarn emigrierter Jude, seine Mutter entstammte einer ursprünglich aus Rotterdam eingewanderten Familie und war regelmäßig als Pianistin in einem frühen lokalen Rundfunksender zu hören. Sie war zugleich Vans erste Klavierlehrerin. Er ging zur George Washington High School, und hörte abends die populären Swing-Bigbands im Radio, Paul Whiteman, Benny Goodman, die Casa Loma Band mit Glen Gray, Louis Armstrong, und hätte sich nicht träumen lassen später einmal für all diese Arrangements zu schreiben. Bald stellte er eine achtköpfige Band zusammen und machte seine ersten Gehversuche als Arrangeur. Nach seinem Schulabschluss war klar, dass dies seine Profession sein würde. Er nahm zusätzlichen Unterricht an der Columbia University sowie bei einigen Privatlehrern, die ihn in die Geheimnisse von Arrangement und Orchestrierung einweihten. Im Savoy Ballroom hörte er einige der angesagtesten Bands seiner Zeit und traute sich im Februar 1936, Chick Webb ein paar Arrangements mitzubringen. Webbs Band aber probte nicht etwa vor, sondern nach dem Job, und bis sie andere Arrangements von Musikern in der Band geprobt hatten, wurde es 5 Uhr morgens. Webb kaufte zwei Arrangements für 20 Dollar und engagierte Alexander kurz darauf für 75 Dollar pro Woche, jeweils drei Arrangements zu schreiben und für die Band zu kopieren. Webb empfahl ihn außerdem an Benny Goodman weiter, und Alexander erinnert sich lebhaft an die legendäre Big Band Battle zwischen Goodmans und Webbs Bands im Mai 1937. Wer den Namen Alexanders in den Diskographien Webbs vermisst, dem sei erklärt, dass Alexander damals noch unter seinem richtigen Namen Al Feldman firmierte und erst mit der Gründung seines eigenen Orchesters aus seinen zwei Vornamen seinen neuen Namen zusammensetzte. Ein eigenes Kapitel widmet Alexander der Entstehungsgeschichte seines All-Time-Greatest-Hits, “A-Tisket, A-Tasket”. Alexander erzählt von seinen Erfahrungen als weißer Arrangeur für eine schwarze Band, von Bandmusikern wie Taft Jordan oder Louie Jordan. Noch vor Webbs Tod verließ Alexander allerdings die Band und startete ein eigenes Orchester. Alexanders Vorbild war die Band von Isham Jones, und bald spielte die Band in den großen Ballsälen der Ostküste. Alexanders Orchester gehörte sicher nicht zu den großen Bands der Swingära, aber seine Darstellung wirft dennoch ein wenig Licht auf die Realität des Musikgeschäfts jener Jahre. Nach dem Krieg zog es Alexander nach Kalifornien, wo er für Bing Crosbys Bruder Bob eine neue Band aufzog. Nach nur drei Monaten feuerte Crosby ihn aus persönlichen Gründen und Alexander verklagte ihn und erhielt ein Jahresgehalt Entschädigung. In Kalifornien erhielt Alexander bald Arbeit als Arrangeur für das Plattenlabel Capitol sowie für Film und Fernsehen. Unter anderem schrieb er Musik für erfolgreiche Shows wie “I Dream of Jeannie” und “Bewitched”. Für seinen Freund Les Brown schrieb er in außerdem Arrangements für die “Dean Martin Show”. Alexander erzählt amüsante Anekdoten über all die Größen des Jazz und Showbusiness, mit denen er über die Jahrzehnte gearbeitet hat, und am Ende noch ein paar Stories von seinem Hobby, dem Golfspielen. Eine Diskographie der Aufnahmen seiner eigenen Bands, von Charles Garrod und Bill Korst bereits 1991 veröffentlicht, beschließt das Buch, das einen etwas anderen, sehr persönlichen, sicher auch sehr subjektiven und oft rosaroten Blick auf die Welt von Jazz und Entertainment wirft.

(Wolfram Knauer, Februar 2010)


 

Analyser le Jazz
von Laurent Cugny
Paris 2009 (Outre Mesure)
576 Seiten, 44 Euro
ISBN: 978-2-907891-44-2

2009cugnyLaurent Cugny ist Pianist, Arrangeur und Musikwissenschaftler und hat mit seinem Buch “Analyser le Jazz” ein Werk vorgelegt, in dem er versucht, die musikwissenschaftliche Herangehensweise an den Jazz zu strukturieren. Was ist überhaupt Jazz, fragt er zu Beginn, wie ist er zu definieren und wie kann man seine verschiedenen Komponenten analysieren. Wie lassen sich die Wandlungen der Jazzgeschichte analytisch beschreiben, welche Begriffe sind angemessen, welche müssen einer spezifischen Definition unterworfen werden? Wie geht man mit analytischen Begriffen um, die bereits von der konventionellen Musikwissenschaft belegt sind, etwa Komposition, Improvisation, Form, Struktur etc. In welcher Beziehung steht die Oralität der Überlieferung in afro-amerikanischer Musik zur Schriftlichkeit einer jeden analytischen Herangehensweise?

Cugnys Ziel ist es eine Art Fahrplan zur analytischen Herangehensweise an Jazz zu geben. Weder die Methoden der klassischen Musikwissenschaft noch die der Musikethnologie, meint er, seien dem Jazz als einer improvisierten Musik wirklich angemessen. Um Jazz zu analysieren, reiche es nicht aus, bloß auf musikalische Strukturen oder motivische Beziehungen zu schauen; man müsse daneben jede Menge weiterer expressiver Techniken berücksichtigen.

In einem ersten Großkapitel untersucht Cugny das Jazz-Œuvre, wie man also Musik als “Text” behandeln kann, wie sich komponierte Strukturen, die Bedeutung von Improvisation und analytische Strukturen beschreiben lassen. Er unterscheidet zwischen der Analyse vorausbestimmter Faktoren (“moment avant”), etwa der Herkunft und Geschichte der zugrunde liegenden Komposition und ihrer formalen und harmonischen Struktur, sowie der Analyse progressiver Faktoren (“moment après”), unter denen er die Entwicklung einer Interpretation und/oder Improvisation versteht. In einem zweiten Großkapitel betrachtet Cugny dann die verschiedenen Parameter, die sich analysieren lassen: Harmonik, Rhythmik, Melodik, Form und Sound. Im dritten Teil schließlich beschäftigt sich Cugny mit der Geschichte der Jazzanalyse. Er unterscheidet rein harmonische, melodische, rhythmische oder formale Analysen, Analysen, die sich auf einzelne Soli beschränken, vergleichende Analysen und so weiter, und gibt dem Leser einen Leitfaden an die Hand, wie er unterschiedliche analytischen Werkzeuge für seine eigenen Zwecke verwenden kann. Er beschreibt die Möglichkeiten und Probleme der Transkription für die musikalische Analyse und gibt Beispiele für stilistische, semiotische und beschreibende Analysen.

Cugnys Buch ist mit weit über 500 Seiten keine leichte Lektüre, sondern eher eine trockene Studie, für die wenigsten Leser in einem Stück zu konsumieren. Man kann darüber streiten, ob eine Strukturierung analytischer Ansätze, wie er sie anbietet, überhaupt sinnvoll ist oder ob es nicht viel mehr Sinn macht, auf die zu analysierende Musik von Fall zu Fall zu reagieren und dabei auf diejenigen konkreten Dinge Bezug zu nehmen, die die Fragestellung hergibt, mit der man an das jeweilige Stück Musik herangeht. Hier scheint Cugnys Methodik eher ein Leitfaden für angehende Jazzanalytiker zu sein, der diese aber schnell auf die falsche Fährte bringen kann, wenn sie vor lauter Analyse nämlich die Notwendigkeit der Fragestellung außer Acht lassen. Ein Problem des Buchs ist auch die Literaturlage, auf die sich Cugny bezieht: größtenteils französische und ein paar amerikanische musikwissenschaftliche Bücher und Aufsätze und eben gerade nicht jene Ansätze, die mit konkreten Fragestellungen an die Musik herangehen. Auch fehlt eine Diskussion der unterschiedlichen Möglichkeiten klassischer musikwissenschaftlicher und musikethnologischer Werkzeuge, gewiss auch eine Darstellung der Diskussionen, die aus der afro-amerikanischen Literaturwissenschaft einen geänderten Blick auf den Jazz entwickelten. Schließlich bekommt man schnell den Eindruck, als zöge Cugny die musikimmanente Analyse auf jeden Fall einer der Einbeziehung außermusikalischer Komponenten in die Diskussion vor – was mir eine im 21sten Jahrhundert eher erstaunliche Sicht der Dinge scheint.

(Wolfram Knauer, Februar 2010)


 

Bohuslav Martinů
herausgegeben von Ulrich Tadday
München 2009 (edition text + kritik)
160 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-3-86916-017-7

2009taddayDer Komponist Buhuslav Martinů wurde 1890 in Böhmen geboren, lebte und arbeitete in Prag, Paris und New York und starb im August 1959 in der Schweiz. Im Mai 1959 fand in Dresden ein Symposium über den Komponisten statt; der vorliegende Band enthält die dort gehaltenen Referate. Die Beiträge befassen sich mit Martinůs Kammermusik seinen sinfonischen Kompositionen und seinem Opernschaffen, außerdem mit seiner Rezeption in den USA sowie in Böhmen. Martinůs “Jazz-Suite” von 1928 widmet Daniela Philippi eine ausführliche analytische Diskussion, in der sie sich allerdings vor allem auf die Behandlung der Klavierstimme konzentriert und die Idee von “Jazz”, die Martinů dabei vorschwebte, nicht weiter thematisiert. Wolfgang Rathert reiht Martinůs Sinfonien in die Tradition einer amerikanischen Sinfonik ein, in der seit den 1920er Jahren (eigentlich schon seit Dvorak) versucht wurde, eine eigenständige Musiksprache auch durch die Verwendung originärer Themen zu kreieren, eine “amerikanische Moderne”, für die sich das Vokabular des Jazz besonders gut eignete. Anders aber als Dvorak, der in seiner amerikanischen Zeit mit “Aus der Neuen Welt” eine ur-amerikanische Sinfonie schrieb, waren Martinůs sechs Sinfonien “ganz tschechische Symphonien aus der Tradition der Nationalromantik”, wie Rathert schreibt. Zum Jazz und seiner Rezeption bei Martinů also nicht wirklich viel in diesem Bändchen, das eine musikwissenschaftliche Annäherung an den Komponisten und sein Werk bietet.

(Wolfram Knauer, Februar 2010)


 

Miles on Miles. Interviews and Encounters with Miles Davis
herausgegeben von Paul Maher Jr. & Michael K. Dorr
Chicago 2009 (Lawrence Hill Books)
342 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-55652-706-7

2009maher“Miles on Miles” folgt der musikalischen Entwicklung des Trompeters in seinen eigenen Worten, in Interviews, die Davis zwischen 1957 und 1998 gegeben hat. Paul Maher und Michael K. Dorr haben sich dabei vor allem auf solche Interviews gestütz, die relativ schwer zugänglich, selten oder gar bislang nie veröffentlicht wurden, darunter auch Transkripte einiger Radiointerviews. Den biographischen Anfang macht ein Interview, das George Avakian für die PR-Abteilung der Plattenfirma Columbia mit dem Trompeter machte und in dem er knapp über seine Kindheit und seine musikalische Entwicklung bis in die 1950er Jahre spricht. Nat Hentoffs “Afternoon with Miles Davis” von 1958 ist bereits anderswo erschienen und präsentiert Davis, wie er nachdenklich seine musikalische Ästhetik offenlegt, Platten aus seiner Sammlung kommentiert, von Billie Holiday und Louis Armstrong über das Modern Jazz Quartet bis zu Thelonious Monk und zurück zu Bessie Smith. Der Schlagzeuger Arthur Taylor brachte den eher öffentlichkeitsscheuen und Journalisten gegenüber oft abweisenden Miles Davis zum Reden, über Musik genauso wie über die Businessseiten seiner Karriere. Wenn ein Journalist wie Les Tompkins ihn tatsächlich auch zum Reden bringt, erkennt Miles das auch an: “Du hast Dir ein gutes Interview gekriegt. Das erste in drei Jahren”. Immer wieder wehrt er sich gegen das Wort “Jazz”, das er als rassistische Bezeichnung für die Musik ansieht. Al Aronowitz ist mit zwei Essays vertreten, in denen er über Miles, den Privatmann, den Partygänger und den Einfluss Jimi Hendrix’s auf Miles spricht. Ein langes Interview mit Leonard Feather präsentiert ihn eher zahm; in anderen Interviews gifted er über die Plattenfimen, die Tourbosse und die weiße Jazzkritik. Peinlich wird’s, als ein Radiomoderator, der wirklich nichts von Musik versteht, ihn zuhause erwischt und Miles mit Ihm Katz und Maus spielt, um ihn am Schluss einfach liegen zu lassen. Mit Cheryl McCall spricht Miles 1982 offen über Gesundheitsprobleme und Drogen. Drei nicht identifizierte Interviewausschnitte lassen ihn über Lippenproblemen, Mode und die Gründe sprechen, warum er die Plattenfirma Columbia verließ. Ben Sidran gelingt es, die ganze Zeit über nur über Musik mit Miles zu sprechen und den Trompeter am Ende mit der Bemerkung zu beeindrucken, dass sein Stück “Nardis” sein Name rückwärts sei. Mit Nick Kent spricht Miles unter anderem über Wynton Marsalis und die ästhetischen Unterschiede dessen und seiner musikalischen Welt. Robert Doerschuk spricht mit ihm für die Zeitschrift Keyboard über die Verwendung von Synthesizern in seinen Bands. Der Gitarrist Foley interviewt seinen gut gelaunten Chef anlässlich einer Fernsehshow. Das Buch schließt mit drei Features, die Mike Zwerin für die International Herald Tribune schrieb: über Miles, den “Prince of Silence”, Miles, den Maler, und Miles, den Filmschauspieler. “Miles on Miles” ist ein Case Book mit gut ausgewählten Interviews des Trompeters, die versuchen, die ganze Bandbreite seines musikalischen wie sozialen Lebens zu berühren. Ein Namensindex schließt den Band ab, der vielleicht nichts Neues bringt, in den O-Tönen aber überaus lebenswert ist.

(Wolfram Knauer, Februar 2010)


 

The Ghosts of Harlem. Sessions with Jazz Legends. Photographs and Interviews
von Hank O’Neal
Nashville 2009 (Vanderbilt University Press)
488 Seiten + CD, 75 US-$
ISBN: 978-0-8265-1627-5

2009onealHank O’Neal ist ein Tausendsassa: In den 1970er Jahren hatte er das Label Chiaroscuro gegründet, auf dem er insbesondere Musiker der älteren Generation produzierte, die auch im Alter noch hervorragend spielten. Er organisierte Konzerte und Jazz Festivals und machte sich auch als Fotograf einen Namen. Bei all dem war er immer ein guter Freund der Musiker, und das kommt diesem opulenten Buch zugute, das reich bebildert Interviews mit 42 Veteranen des Jazz enthält. Sie erzählen aus ihrem Leben und ihrer musikalischen Karriere, doch der das alles zusammenhaltende Faden ist der New Yorker Stadtteil Harlem, dem das Buch gewidmet ist.

O’Neal beginnt mit einem umfangreichen Kapitel über Harlem, das Zentrum schwarzer Musik in den 1920er bis 1940er Jahren und verfolgt den Niedergang des Musikgeschäfts im nördlichen Manhattan, bebildert das ganze mit Fotos davon, wie es heute aussieht an den Schauplätzen ehemaliger Band-Battles und Jam Sessions und entdeckt mit Freude, dass seit den 1990er Jahren der Stadtteil seine Musik wiederentdeckt hat. Das Kapitel “Discovering Lost Locations” allein ist den Kauf des Buchs wert, das versucht, Geschichte vor dem völligen Verschwinden aus dem kollektiven Gedächtnis zu bewahren.

Aber die Interviews sind nicht minder spannend. Andy Kirk erzählt darüber, wie er 1920 zum ersten Mal nach New York kam, lässt uns an einigen Geschichten über seinen ehemaligen Manager Joe Glaser teilhaben (der dem Titel “Little Joe from Chicago” den Namen gab), schließlich über musikferne Berufe, die er in Harlem ausübte, etwa als Manager des Hotel Theresa auf der 125sten Straße. Benny Waters berichtet über Small’s Paradise in den 20er Jahren, über Piano-Cutting-Sessions im Reuben’s, in dem er an einem Abend Fats Waller, Art Tatum und Earl Hines hörte. Auch Doc Cheatham spricht über Small’s sowie über den Cotton Club, in dem er mit Cab Calloway spielte. Eddie Durham, weiß von Jimmie Luncefords Band zu berichten, mit der er seit 1935 spielte, erzählt vom Savoy Ballroom und von seiner Zeit bei Count Basie. Cab Calloway selbst berichtet über sein Engagement im Cotton Club, sowohl Uptown, wie auch Downtown; er spekuliert außerdem darüber, warum die Musikszene Uptown in den späten 1940er Jahren den Bach runter ging. Benny Carter erinnert sich an Clubs wie Leroy’s und an seine Zeit mit Chick Webb im Savoy Ballroom. Larence Lucie spricht über Gitarristenkollegen und über seine Aufnahmen mit Teddy Wilson und Billie Holiday. Jonah Jones erinnert sich an den Onyx Club, an Stuff Smith und seine Zeit mit Cab Calloway. Sammy Price berichtet, wie er den Produzenten Mayo Williams in seiner Heimatstadt Dallas getroffen hatte, der ihm später half, einen Vertrag mit der Plattenfirma Decca zu erhalten. Er habe immer in Harlem gelebt, auch wenn er selten Uptown gespielt habe. Danny Barker verrät, warum er aus seiner Heimatstadt New Orleans fortgegangen sei, um in New York heimisch zu werden und wie es in New York eine Art Club der New Orleanser Musiker gab.

Weitere Interviews etwa mit Sy Oliver, Buck Clayton, Maxine Sullivan, Franz Jackson, Al Casey, Buddy Tate, Dizzy Gillespie, J.C. Heard, Panama Francis, Joe Williams, Clark Terry, Billy Taylor, Illinois Jacquet und vielen anderen geben ein sehr persönliches und doch auch sehr professionell beleuchtetes Bild des Stadtteils. Sie alle erzählen von den Gigs, von den Arbeitsbedingungen, von verschiedenen Bands, der Lebendigkeit Harlems und vom Niedergang der Swingära, der quasi mit dem Niedergang Harlems als kulturellem Zentrum des Jazz einherging. O’Neal stellt Fragen zur Karriere und endet meist mit der Frage: Weißt Du noch, wann Du das letzte Mal in Harlem gespielt hast”, und die meisten der Musiker erinnern sich, dass das irgendwann Anfang der 1940er Jahre gewesen sein muss. Dizzy Gillespie und einige andere geben schließlich noch ein Bild des moderneren Harlem, des Bebop-Harlem mit Verweisen auf Minton’s Playhouse und Montroe’s Uptown House.

Alles in allem ist das ganze ein wunderbares Buchprojekt, ein “Coffetable book”, wie man so schön sagt, das sich trotz seiner Dicke leicht und schnell liest und einen hineinzieht in den Bann Harlems in den 20er bis 40er Jahren. Dem Buch heftet eine CD mit Aufnahmen Musikern aus dem Chiaroscuro-Stall bei, aufgenommen zwischen 1992 und 1996; swingender Mainstream-Jazz und zwischendurch auch ein paar O-Töne der Musiker.

(Wolfram Knauer)


 

I Feel a Song Coming On. The Life of Jimmy McHugh
von Alyn Shipton
Urbana 2009 (University of Illinois Press)
273 Seiten; 35,00 US-$
ISBN: 978-0-252-03465-7

2009shiptonAlyn Shipton hat seit Jahren eine erfolgreiche Radioshow. Im Juli 2003 fiel einer seiner Kollegen aus, und er wurde gebeten, eine Show mit einem gewissen Jimmy McHugh” zu machen. Doch nicht der Songwriter!, meinte Shipton, wohl wissend, dass der weit über 100 sein müsste. Tatsächlich handelte es sich um den Enkel des Komponisten, und nach einer lebhaften Show entschieden die beiden, dass Shipton mit dem material, das sich im Privatarchiv der McHughs befand, leicht eine Biographie schreiben ließe. Er beginnt mit McHughs Kindheit in Boston, seine Erfahrungen im Bostoner Opernhaus, wo er ab 1910 als Office Boy arbeitete und dabei Stars wie Caruso, Calli-Curci, John McCormack und andere hörte. Nebenbei nahm er Klavierunterricht und interessierte sich neben der klassischen auch für die populäre Musik des Tages. Bald arbeitete er als Song Plugger für verschiedene Musikverlage, zuletzt Irving Berlins Verlag, und lernte dabei, was einen erfolgreichen Song ausmachte. 1920 zog es ihn nach New York, wo er auf der Tin Pan Alley dem Song-Plugger-Beruf weiter nachging, dabei aber neben den Kompositionen anderer auch begann, seine eigenen Titel zu promoten. Für eine Weile hatte er quasi drei Berufe: Musiker, Song-Plugger und Komponist, bis er mit “Everything Is Hotsy Totsy Now” und “I Can’t Believe That You’re In Love With Me” erste größere Hits einfuhr. Shipton beschreibt die Überschneidungen zwischen dem Geschäft eines Komponisten im Geschäft des American Popular Song und der Jazzszene jener Jahre — und zwar sowohl der weißen wie auch der schwarzen Jazzszene. 1927 erhielt Duke Ellington seit legendäres Engagement im New Yorker Cotton Club, und Jimmy McHugh war bald einer der Co-Komponisten für die regelmäßig wechselnden Revuen. Er traf die Textdichterin Dorothy Fields, und bald schrieben die beiden ihre Titel zusammen. “I Can’t Give You Anything But Love, Baby” war eine ihrer frühesten Kollaborationen, später dann “Diga Diga Doo” und andere Songs für die Revue “Blackbirds of 1928”. 1929 verließen beide New York und zogen nach Hollywood, wo der aufkommende Tonfilm ihnen viel einträgliche Arbeit versprach. Aus dieser Zeit stammen “Exactly Like You” und “On the Sunny Side of the Street”. 1931 teilten sie ihre Arbeit zwischen Broadway und Hollywood auf und schrieben 1933 eine Operette ein wenig im Stil von Gilbert and Sullivan. Oft wurden die beiden von der Öffentlichkeit wie ein verheiratetes Paar angesehen, obwohl sie beide anderweitig verheiratet waren. Shipton berichtet über das Einkommen, das McHugh mit seinen unterschiedlichen Aktivitäten erzielte. 1935 folgte “I’m in the Mood for Love”; aber etwa zur selben Zeit tat sich Field mit Jerome Kern für ein paar Shows zusammen und die langjährige Zusammenarbeit Fields/McHugh war vorbei. Bald schrieb er für Filme mit dem Kinderstar Shirley Temple, aber auch für die für Carmen Miranda. In den späten 1930er Jahren tat er sich mit dem Textdichter Johnny Mercer zusammen und schrieb Hits wie “That Old Black Magic” oder “Blues in the Night”. Immer noch war es ihm wichtig, dass seine Songs nicht nur auf der Leinwand zu hören waren, sondern auch von Jazz- und Swingbands gespielt wurden. Nach dem Krieg war McHugh weiterhin einer der Stars der New Yorker High Society, insbesondere, da er nun mit der Klatschreporterin Louella Parsons ging. In den 1960er Jahren lebte er vor allem vom vergangenen Ruhm. Shipton portraitiert McHugh als einen zielstrebigen Fließbandarbeiter an der Maschinerie des American Show Business, macht genügend Ausflüge ins Private, um das Bild eines erfolgreichen, aber mit den üblichen privaten Problemen zu kämpfenden Prominenten zu zeichnen und hält sich mit musikalischen Bewertungen oder auch nur Beschreibungen der Musik McHughs zurück. Eine Auflistung der Kompositionen seines Helden fehlt leider, dafür gibt es etliche seltene Fotos aus dem Familienarchiv der McHughs. Das ganze ist in der Detailverliebtheit manchmal etwas langwierig zu lesen, dennoch eine hilfreiche Biographie, in der jede Menge Informationen über die Broadway- und Hollywood-Szene gegeben werden.

(Wolfram Knauer, Februar 2010)


 

Traveling Blues. The Life and Music of Tommy Ladnier
Von Bo Lindström und Dan Vernhettes
Paris 2009 (Jazz ‘Edit)
216 Seiten
ISBN 978-2-9534-8310-9

2009ladnierTommy Ladnier ist eine Art Rätsel der Jazzgeschichte. Der Ruhm des Trompeters, der mit extrem schönem und antreibendem Sound spielte, seit 1923 auf Platten dokumentiert ist, mehrfach Europa bereiste, sich in den 1930er Jahren zurückzog, um mit einem Schneider- und Bügelgeschäft sein Geld zu verdienen und 1939 an den Folgen von Alkohol und eventuell einer Geschlechtskrankheit verstarb, geht vor allem auf Hugues Pannasié zurück, der ihn zusammen mit Mezz Mezzrow 1938 quasi wiederentdeckte, aus seinem musikalischen Exil holte und erneut Aufnahmen mit ihm machte.

Bo Lindström und Dan Vernhettes sind Jazzfans und Privatforscher und haben mit ihrem Buch über Tommy Ladnier eine unglaublich sorgfältig recherchierte und bebilderte Biographie des Trompeters vorgelegt, die in 500 Exemplaren erschienen ist und neben Details zum Leben und zur Musik Ladniers jede Menge Information über die Rahmenbedingungen präsentiert, innerhalb derer Ladnier Musik machte.

Die Autoren beginnen mit der Kolonialgeschichte Louisianas und dem wechselvollen Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß, beschreiben die unterschiedlichen Gesetze, die das Zusammenleben der Sklavenbesitzer und ihrer Sklaven seit Zeiten Louis XIV regeln sollten und das reale Leben in Mandaville, einer Kleinstadt am nordöstlichen Ufer des Lake Pontchatrain, quasi gegenüber von New Orleans, wo Tommy Ladnier 1900 geboren wurde. Sie recherchieren die Familie des Trompeters, deren weiße Linie sie bis in die Schweiz zurückverfolgen, von wo Christian L’Adner stammte, der von Ludwig XV 1719 wegen Schmuggels und Schwarzmarkthandel in die Übersee-Strafkolonien verbannt worden war, und der als Urvater vieler Ladniers in Louisiana gilt. Eine Geburtsurkunde des Trompeters existiert nicht, und Lindström und Vernhettes spekulieren darüber, ob Willa Ladnier, die Frau seines Vaters, wohl wirklich die leibliche Mutter war oder ob Ladnier nicht vielleicht Kind einer Mischbeziehung und seine leibliche Mutter eine Weiße gewesen sei.

Sie beschreiben die Musik, die Ladnier in Mandaville gehört haben mag, den Einfluss durch Trompeter wie Bunk Johnson und Buddy Petit und begleiten Ladnier 1917 nach Chicago, wo er sich auf den Schlachthöfen verdingte, aber nebenbei all die großen Jazzmusiker hörte, die dort spielten, allen voran King Oliver. Ladnier war auch selbst bald als Musiker gefragt und machte 1923 seine ersten Plattenaufnahmen mit der Sängerin Monnette Moore; etwa zur gleichen Zeit außerdem Aufnahmen mit Jelly Roll Morton. Im Herbst des Jahres wurde er Mitglied der Blues Serenaders der Pianistin Lovie Austin, einer Band, mit der er Sängerinnen wie Ida Cox, Ma Rainey, Edmonia Henderson, Edna Hicks und Ethel Waters begleitete und im Dezember 1924 auch einige Instrumentaltitel einspielte.

1925 stieg Ladnier beim Sam Wooding Orchestra in New York ein, das sich kurz darauf zu einer Tournee nach Europa einschiffte. Die Tour begann im Admiralspalast Berlin, dann folgte das Thalia Theater in Hamburg, Stockholm, Kopenhagen, Prag, Budapest, Wien, Barcelona, Madrid, Paris, Zürich, wieder Berlin und schließlich Russland. Erst im Juli 1926 kehrte Ladnier von Danzig aus nach New York zurück. Dort jobbte er eine Weile, bis er als Ersatz von Rex Stewart ins Fletcher Henderson Orchestra engagiert wurde, mit dem er einige Platten einspielte, darunter den “The Chant”. Er reiste mit Henderson durchs Land, nahm nebenher ein paar Seiten mit Bessie Smith auf, und kündigte schließlich, um im Februar 1928 wieder bei Sam Wooding anzufangen. Der hatte bereits neue Europa-Pläne, und Ladnier reiste mit. Es begann ein weiteres Mal in Berlin, führte die Band, der diesmal auch der Trompeter Doc Cheatham angehörte, über Wien nach Konstantinopel, dann nach Hamburg, Bern, Mailand, Florenz und Nizza, wo Ladnier Wooding verließ. In der Folge spielte er mit Benny Peyton’s Band, mit Harry Fleming und in einer Revue des Tänzers Louis Douglas. Immer wieder kehrte er bei seinen Tourneen nach Paris zurück, wo er sich unter anderem mit Hugues Panassié anfreundete, dem französischen Jazzfan und -experten.

1930 stieg Ladnier in die Bigband des Sängers und Bandleaders Noble Sissle ein, der damals in Paris gastierte und mit dem er im Dezember des Jahres in die USA zurückkehrte. Dort gesellte sich der Band auch der Sopransaxophonist Sidney Bechet zu, der ähnliche europäische Erfahrungen gesammelt hatte wie Ladnier und mit dem sich der Trompeter daher schnell anfreundete. Mit Bechet gründete der Ladnier 1932 die Band “The New Orleans Feetwarmers”, die im Savoy Ballroom auftrat und auch Platteneinspielungen machten.Das Geschäft aber war schwer in jenen Jahren kurz nach dem Börsencrash, und 1933 eröffneten Bechet und Ladnier als Alternative zur Musik ein Schneider- und Bügelgeschäft in Harlem. Bechet zog sich bald wieder aus diesem “weltlichen” Beruf zurück, und das Geschäft existierte wohl gerade mal ein Jahr.

Zwischen 1934 und 1938 wird es dunkel in der Biographie Ladniers. Er habe sich nach Connecticut zurückgezogen, heißt es, wo er bei einem Freund gelebt habe. Über musikalische Aktivitäten in diesen Jahren ist jedenfalls nichts bekannt.1938 kam Hugues Panassié nach New York und wollte Aufnahmen im klassischen New-Orleans-Stil produzieren. Er tat sich mit dem Klarinettisten Mezz Mezzrow zusammen, und ihre erste Wahl für die Trompete war Tommy Ladnier. Sie fanden ihn, Pannasié unterhielt sich lange mit ihm, um die Aufnahmesitzung vorzubereiten (und einige Fotos auf der Straße in Harlem zu schießen); dann ging die Band im November und Dezember 1938 für insgesamt drei Plattensitzungen ins Studio. Am 23. Dezember organisierte John Hammond sein “From Spirituals to Swing”-Konzert in der Carnegie Hall und bat Sidney Bechet, eine New-Orleans-Besetzung zusammenzustellen, für die Bechet Ladnier engagierte. Glücklicherweise sind Mitschnitte des Konzerts gemacht und später veröffentlicht worden.

Am 1. Februar 1939 ging Ladnier zum letzten Mal ins Studio, wieder mit Mezz Mezzrow, um die Sängerin Rosetta Crawford zu begleiten. Er wohnte zeitweise bei Bechet, später dann bei Mezzrow in Harlem. Der fand ihn am 3. Juni tot im Sessel sitzend in seiner Wohnung. Ladnier wurde auf dem Frederick Douglas Cemetery in Staten Island, New York, beigesetzt.

Lindström und Vernhettes ist es gelungen, so viel Information wie irgend möglich über Tommy Ladnier zusammenzutragen, um aus den puzzlestein-artigen Versatzstücken ein eindrucksvolles Gesamtbild des Lebens und Wirkens eines schwarzen Musikers in den 1920er und frühen 1930er Jahren zusammenzubasteln. Sie bebildern das ganze mit teilweise seltenen Fotos, beschreiben neben den biographischen Details die Umstände, in denen Ladnier seine Musik machte und gehen mit knappen analytischen Absätzen und einzelnen Transkriptionen seiner Soli auch auf die Musik ein. Beide Autoren sind Fans, aber sie schreiben keine Hagiographie ihres Helden. Ihr Buch ist eine Fundgrube kleiner Informationen, die die Szenen jener Jahre beschreibt, durch die Tommy Ladnier gereist ist: New Orleans, Chicago, Europa, New York. Zum Schluss findet sich eine ausführliche Diskographie des Trompeters, in dem alle 191 Einspielungen, an denen Tommy Ladnier beteiligt war, aufgelistet sind.

Das Buch fast in LP-Format ist eine “labor of love”, eine opulente Dokumentation des Lebens eines Musikers, der scheinbar immer auf Reisen war: “Traveling Blues”.

(Wolfram Knauer, Januar 2010)


 

Jazz et société sous l’Occupation
von Gérard Régnier
Paris 2009 (L’Harmattan)
296 Seiten, 28,00 Euro
ISBN: 978-2-296-10134-0

2009regnierZusammen mit London und Berlin war Paris in den 1920er Jahren die wichtigste Stadt für den noch jungen europäischen Jazz. Frankreich hatte die afro-amerikanische Musik bereits kurz nach dem I. Weltkrieg umarmt, als James Reese Europe mit seiner Hellfighters Band in den befreiten Dörfern und Städten gefeiert wurde. Viele Künstler ließen sich in Paris nieder, das nicht nur eine amerikanische, sondern daneben auch eine afro-amerikanische Szene besaß. Sie lebten dort auch in den 1930er Jahren und planten Tourneen ins benachbarte Ausland, wobei Deutschland mehr und mehr umrundet werden musste, weil die Nazis hier den Jazz unterdrückten und seinen Künstlern die Auftrittsmöglichkeiten nahmen.

Am 10. Mai 1940 begannen die deutschen Streitkräfte ihre Westoffensive; am 25. Mai wurden die “dancings”, Tanzsäle und Cabarets in Paris, geschlossen; am 14. Juni marschierten die Deutschen in Paris ein; am 4. Juli wurde ein fester Wechselkurs zwischen Franc und Reichsmark eingeführt; am 11. Juli waren die meisten Tanzhallen und Cabarets bereits wieder geöffnet. Jazz stand zwar auf der Bannliste der Nazis, aber in den besetzten Gebieten gab es wohl dringendere Aufgaben als ein Verbot dieser Musik durchzusetzen. Auch während der Besatzung jedenfalls konnte man in Frankreich Jazz hören, im Konzert, beim Tanzen, im Radio oder von Schallplatten. Auch hier allerdings wurden die Titel oft genug abgeändert, um die neuen Machthaber nicht zu provozieren. Aus “Lady Be Good” wurde dann “Les Bigoudis” oder “Soyez bonne madame”, aus “In the Mood” “Ambiance” oder “Dans l’ambiance”, aus “Blue and Sentimental” einfach “Bleu et sentimental”.

Eine Überlebensstrategie, die französische Jazzfans sich gleich zu Beginn der Besatzung ausdachten, war die Auslobung eines spezifischen “jazz français”. Gérard Régnier verfolgt die Aktivitäten der Szene um Charles Delaunay, den Hot Club de France und die bisherigen Spielstätten für Jazz insbesondere in Paris. Er beschäftigt sich damit, wie Jazz im Radio präsentiert wurde, beschreibt, wie das Vichy-Regime im Oktober 1942 einen Jazzbann aussprach, woraufhin die regelmäßigen Jazzsendungen etwa von Hugues Panassié von Marseille aus ausgestrahlt wurden. Auch im Schweizer Rundfunk ließen sich Jazzsendungen hören, und Radio Nimes brachte etwa am 18. Mai 1943 eine Sondersendung mit Musik von Django Reinhardt. Es gab zwar Tanzverbote, die aber nicht lange anhielten, wie Régnier aus einer zeitgenössischen Quelle zitiert: “Die Pariser mögen auf Essen und Rauchen verzichten und ein bisschen weniger Wein trinken. Aber sie gehen weiterhin ins Kino und ins Theater.” Die Erlasse trieben den Jazz höchstens noch mehr in die Keller als schon zuvor, in private Clubs, zu sogenannten “Tanzkursen” und subkulturellen Überraschungsparties. Letzten Endes aber verzeichnete das Moulin Rouge 1942 mehr als 60 Prozent mehr Zuschauer als noch 1941. Selbst in der deutschsprachigen “Pariser Zeitung” wurde 1941 “Der weltberühmte Django Reinhardt und das Quintett des Französischen Hot-Club” angekündigt.

Régnier verfolgt die Aktivitäten der beiden Hot-Club-Lenker Hugues Panassié, der auch während der Besatzung weiterhin Rundfunksendungen moderierte und Bücher publizierte (zum Schluss, 1944, in Genf), und Charles Delaunay, der versuchte, das Jazzleben in Paris mit unzähligen Konzerten am Laufen zu halten. Neben der Hauptstadt schaut Régnier aber auch auf andere Zentren, deren Jazzclubs sich im Hot Club de France zusammengeschlossen hatten, auf Bordeaux etwa oder Rennes, auf Le Mans, Angers, Troyes, Valenciennes, Marseille und Strasbourg, das ja nicht nur besetzt, sondern von den Deutschen annektiert worden war. Er wirft einen Blick auf die Konzentrationslager der Deutschen, in denen auch Jazzmusiker inhaftiert waren (die wohl als Soldaten gegen die Deutschen gekämpft hatten). Er berichtet über die Zazous und die “petits swings”, also die Swingfans, die dem Jazz vor allem als Modeerscheinung anhingen.

Ein eigenes Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, ob der Jazz denn nun wirklich offiziell verboten war oder ob es sich dabei vor allem um eine Legende handelt. Régnier schaut sich die Erlasse der Besatzungsmacht durch, beleuchtet die Kontrollen der “Propagandastaffel” bei Konzerten und in Cabarets, berichtet über Zensur im Radio und Behinderungen bei Plattenaufnahmen. Ein eigenes Kapitel beschäftigt sich mit den jüdischen Musikern in Frankreich, mit der Judenverfolgung in den besetzten Gebieten genauso wie im Vichy-Regime, die viele Menschen – darunter auch Musiker – dazu zwang, sich zu verstecken oder abzusetzen. Einige schwarze amerikanische Musiker waren in Frankreich geblieben; der Trompeter Arthur Briggs etwa wurde verhaftet und leitete in der Kaserne von Saint-Denis ein Orchester britischer Gefangener.

Schließlich befasst sich Régnier auch mit Django Reinhardt, in einem Kapitel, das er “Le cas Django Reinhardt” überschreibt”, “Der Fall Django Reinhardt”. Die Nazis hatten auch die “Zigeuner” in ihr “Endlösungs”-Programm einbeschlossen und Tausende Roma ermordet. Django Reinhardt aber war selbst bei Wehrmachtsoffizieren beliebt. Angeblich wollte der deutsche Kommandant, das Reinhardt auf eine Deutschlandtournee gehen solle, aber der Gitarrist weigerte sich, was ein Grund für seine Verhaftung im November 1943 gewesen sei, als er versuchte, die Schweizer Grenze zu passieren.

Kapitel 4 wendet sich den ideologischen Diskursen zu, die in jenen Jahren um den Jazz geführt wurden. Das Vichy-Regime sah im Jazz ein Zeichen des moralischen Verfalls und hielt ihm die heimische Folklore entgegen. Musiker, die für die deutschen Machthaber spielten oder gar Tourneen durch Deutschland absolvierten wie etwa Raymond Legrand, Charles Trenet oder Édith Piaf, wurden in der Szene schnell als Kollaborateure abgestempelt. Der Jazz war nie formell verboten, schlussfolgert Régnier; wenn überhaupt, dann stellte Jazz vielleicht eine Art “passiver Résistance” dar. 1944 wurde Paris von den Amerikanern befreit, Régnier wirft einen Blick auf die neue musikalische Freiheit, auf Konzerte der Royal Air Force Band, Glenn Millers Aufenthalt in Frankreich und die Sendungen auf AFN.Das Buch endet mit einer chronologischen Zeittafel der Ereignisse, einer ausführlichen Bibliographie sowie Quellendokumenten im Faksimile.

Régniers Arbeit ist ohne Zweifel Grundlagenforschung erster Güte – hervorragend recherchiert, lesenswert geschrieben und bei aller Nüchternheit der Fakten durchaus spannend zu lesen.

(Wolfram Knauer, Januar 2010)


 

Herbie Nichols. A Jazzist’s Life
von Mark Miller
Toronto 2009 (Mercury Press)
224 Seiten, 19,95 US-$
ISBN: 978-1-55128-146-9

2009millerDer Pianist Herbie Nichols war ein “musicians’ musician”, ein Musiker, der vor allem bei seinen Kollegen bewundert war, aber in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt wurde. Bei einem Kneipenbesuch habe er dessen Musik Jahren zufällig gehört, erzählt Miller in seinem Vorwort, und dann Frank Kimbraugh in New York angerufen, von dem er wusste, dass er viel Material über den Pianisten, sein Leben und seine Musik gesammelt hatte, um zu fragen, ob irgendwer sonst dessen Biographie schreibe. Nur wenig schriftliche Quellen standen ihm zur Verfügung und auch von den Musikern, die mit Nichols enger zusammengearbeitet hatten, lebten nicht mehr viele. Die Fakten, die Miller findet, verbindet er in seinem Buch mit einer Einordnung in die gesellschaftlichen und lokalen Verhältnisse der Zeit. Er erzählt, wie Nichols als Sohn von Eltern zur Welt kam, die aus Trinidad in die USA immigriert waren. Nichols nahm Klavierunterricht, entwickelte eine Liebe für russische Komponisten — Tschaikowski, Strawinsky, Rachmaninow — hörte aber auch die Jazzpianisten seiner Zeit, Jelly Roll Morton, Earl Hines, Duke Ellington, und spielte etwa ab 1937 mit den Royal Barons, einer Tanzkapelle. In den frühen 1940er Jahren war er in den Bebop-Kneipen präsent, auch wenn er, wie Leonard Feather berichtete, von den jungen Beboppern nicht ganz anerkannt und schon mal vom Klavierhocker vertrieben wurde. Von 1941 bis 1942 war er in der Army, spielte danach in einem Cabaret in Harlem und schrieb außerdem eine Kolumne für die Zeitschrift “The Music Dial”, in der er die Szene kommentierte und Thelonious Monks seltsame Musik lobte. Es dauerte nicht lang und auch Nichols gehörte zu dem Kreis, der sich um Monk bildete. In den späten 1940er Jahren arbeitete er mit Illinois Jacquet und John Kirby, gab außerdem Unterricht in “Jazz Theory – Bebop”. Er freundete sich mit Mary Lou Williams an, die drei seiner Kompositionen einspielte. Nichols selbst nahm erst im März 1952 sein erstes Album für das Label Hi-Lo auf, das eigentlich den Gospel- und R&B-Markt anpeilte. Seiner Karriere half das wenig — er musste Dixieland- und R&B-Gigs spielen, um sich über Wasser zu halten. 1955 nahm er seine erste Platte für das Blue-Note-Label auf und bekam damit endlich eine größere Sichtbarkeit sowohl in der Fachpresse als auch auf der New Yorker Szene — und zwar mit seiner eigenen Musik. Das Magazin Metronome brachte einen ausführlichen Artikel, in dem Nichols seine musikalische Ästhetik darlegen und erklären konnte, dass seine Definition des Jazz eher eine lockere sei: Jazz sei jede Art von Musik, die mit einem Swing-Beat gespielt werde und irgendeine Art von Improvisation enthalte. 1956 begleitete er für kurze Zeit Billie Holiday, die seinen Song “Serenade” als “Lady Sings the Blues” aufnahm. Nebenbei schrieb er Gedichte, die er an Freunde schickte und von denen Miller einige abdruckt. 1958 war Nichols allerdings schon wieder weitgehend von der Szene verschwunden, tauchte noch einmal kurz bei einer Mainstream-Session des Trompeters Joe Thomas auf, die zugleich seine letzte Einspielung sein sollte. Er trat mit Sheila Jordan auf und gab Roswell Rudd informellen Unterricht. 1961 zeichnete sich allerdings bereits ab, dass es mit seiner Gesundheit nicht zum Besten bestellt war. Immerhin reiste er 1962 zum ersten Mal nach Europa, wo er mit seinem Trio in Helsinki beim Festival “Young America Presents” mitwirkte. Anfang 1963 ging es ihm immer schlechter, und die Ärzte diagnostizierten Leukämie. Herbie Nichols starb am 12. April. Miller erzählt die Geschichte des Pianisten entlang der Quellen — Zeitungsberichten, Zeitzeugeninterviews, Plattenaufnahmen, Liner Notes. Er beschreibt ein Leben zwischen Avantgarde-Ästhetik und Entertainment zum Brotverdienen, das Leben eines klugen, selbstbewussten Mannes, dem dennoch der populäre Erfolg und die große Anerkennung zu Lebzeiten versagt blieben. Nach seinem Tod wurde er irgendwann wiederentdeckt, von Misha Mengelberg etwa, der zeitlebens ein Nichols-Fan war oder vom New Yorker Pianisten Frank Kimbraugh, der ein eigenes Nichols-Projekt auf die Beine stellte, aber auch von Roswell Rudd und vielen anderen Musikern — aus der ganzen Welt. Millers Buch ist gerade deshalb lesenswert, weil über Nichols so wenig bekannt ist. .A.B. Spellman hatte in seinem Buch “Black Music. Four Lives” die bislang ausführlichste Würdigung Nichols’ verfasst, auf die sich auch Miller immer wieder stützt. Dazu aber sammelt Miller genügend weiteres Material, um seine Biographie zu einem neuen Standardwerk über den Pianisten zu machen. Die musikalische Bewertung überlässt er dabei Musikerkollegen; hier also wäre noch einiges zu leisten, obwohl Roswell Rudd da bereits selbst ein spannendes Büchlein vorgelegt hat. Zum Schluss seines Buchs gibt es eine Diskographie der Aufnahmen, an denen Nichols selbst beteiligt war, sowie von Platten anderer Künstler, auf denen Nichols-Kompositionen gespielt wurden.

(Wolfram Knauer, Januar 2010)


 

Das große Buch der Trompete, Band 2
von Friedel Keim
Mainz 2009 (Schott)
482 Seiten, 39,95 Euro
ISBN: 978-3-7957-0677-7

2009keimFriedel Keim veröffentlichte 2005 sein “Großes Buch der Trompete”, das auch auf dieser Website gewürdigt wurde. Nur vier Jahre später legt er einen Ergänzungsband vor, der mehr als halb so dick wie der ursprüngliche Band ist und den in Band 1 enthaltenen 2.043 Biographien noch einmal 757 Kurzbiographien hinzufügt. Wieder ist Keim genreübergreifender Detektiv, forscht nach Geburts- und Sterbedaten selbst von Musikern, die nicht in der ersten Reihe standen, sondern vielleicht eher zu den zweitrangigen Musikern ihres Faches gehörten bzw. gehören. Seine Liebe gilt deutlich dem Jazz, aber klassische Trompeter finden genauso ausführlich Erwähnung wie Musiker aus dem Showgeschäft oder aus dem Rock- und Popbusiness. In Band 2 gibt es nicht mehr die anz großen Stars — die wurden bereits im ersten Band abgefeiert. Dafür finden sich viele Musiker, die einem kaum ein Begriff sind, deren Namen man aber von den Besetzungslisten großer Bands erinnert, wenn man ihre Biographie liest. Außerdem gibt es Ergänzungen und Korrekturen zum ersten Band und einige lesenswerte Kapitel etwa über die Trompete im (insbesondere deutschen) Fernsehen, die Trompete in der Literatur, Weiterentwicklungen des Instruments, eine ausführliche Bibliographie von Trompetenschulen sowie ein “Trompeten-Kuriositäten” überschriebenes Kapitel, in dem Keim etwa über Trompetenärmel in der Mode sinniert oder eine Trompetenwette aus “Wetten Dass…?” beschreibt, ein Lippenmassagegerät vorstellt und über einen Zwischenfall am Pariser Flughafen berichtet, bei dem Valery Ponomarev seine Trompete nicht aufgeben,. sondern als Handgepäck mitnehmen wollte, worauf es zu einem Handgemenge kam, bei dem er sich den Arm brach. Keim ist Mainzer, also ist der Schelm nicht weit, und ein paar Witze gibt’s auch, etwa diesen: “Ein Trompeter übt jeden Tag volle acht Stunden lang. Da sagt ein Kollege zu ihm: ‘Wie schaffst du das nur? Also ich könnte das nicht.’ ‘man muss eben wissen, was man will.’ ‘Und was willst du?’ ‘Die Wohnung nebenan!'” Ein Nachschlagewerk, das es also nicht an Abwechslung mangeln lässt, spannend zu durchblättern und für Trompetenliebhaber — wie schon Band 1 — ein absolutes Muss.

(Wolfram Knauer, Januar 2010)


 

Clarinet Bird. Rolf Kühn. Jazzgespräche
von Maxi Sickert
Berlin 2009 (Christian Broecking Verlag), passim (F)
242 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-938763-10-0

2009sickertEs ist vielleicht das spannendste deutsche Jazzbuch des Jahres 2009, und man wundert sich, warum niemand früher auf die Idee gekommen ist, die Geschichte des Klarinettisten Rolf Kühn festzuhalten, der in den späten 1940er und den 1950er Jahren als junger Star des deutschen Jazz gefeiert wurde, den es dann nach New York verschlug, wo er mit Benny Goodman und Billie Holiday spielte, bevor er in den 1960er Jahren wieder zurück nach Deutschland kam, sich — auch angespornt durch das Zusammenspiel mit seinem jüngeren Bruder Joachim — avancierteren Stilrichtungen zuwandte, bevor er in den 1980er Jahren vor allem als Dirigent und Filmkomponist in Erscheinung trat. Die Liebe zum Jazz aber ließ ihn nie los, und von ihr handelt dieses Buch. Maxi Sickert lässt Rolf Kühn erzählen, über seine Kindheit in Leipzig, seinen Onkel und seine Tante, die als Juden in Auschwitz ermordet wurden, über seine Eltern und die Arbeit seines Vaters als Zirkusakrobat, über die ersten Klarinettenstunden und den ersten Jazz, über Jutta Hipp, den RIAS und das 1. Deutsche Jazz Festival in Frankfurt. Er traf den amerikanischen Klarinettisten Buddy De Franco und entschied sich, nach Amerika zu gehen, traf dort auf Friedrich Gulda und John Hammond, der seine erste amerikanische Platte produzierte. Ein langes Kapitel befasst sich mit Benny Goodman, in dessen Orchester Kühn von 1958 bis 1960 saß. 1960 spielte er mit Jimmy Garrison im Small’s Paradise; damals wohnte er auf der 87sten Straße im selben Haus wie Billie Holiday. Für Cannonball Adderley schrieb er Streicherarrangements und war danach auch sonst als Arrangeur für Platten und Werbefilme aktiv. 1961 kehrte Kühn zurück nach Deutschland. In den 1960er Jahren trat er oft bei den legendären NDR Jazz-Workshops auf, lernte außerdem Dirigieren. 1966 war Kühn bei der Uraufführung von Gunther Schullers Oper “The Visitation” in Hamburg mit von der Partie, die neben dem klassischen Klangkörper auch ein Jazzensemble verwandte (und hier erzählt neben Kühn auch Schuller persönlich). Ebenfalls 1966 floh Joachim Kühn aus der DDR und die beiden Brüder taten sich in einer neuen Band zusammen. Sie traten 1967 beim Newport Jazz Festival auf und nahmen die Platte “Impressions of New York” auf. (Auch Joachim Kühn kommt ausführlich zu Wort im Buch.) Rolf Kühn erzählt über Joachim Ernst Berendt und das Plattenkabel MPS, über die Tücken seines Instruments, der Klarinette, und seine Begegnung mit Ornette Coleman. Schließlich erzählt er von seiner jüngsten Band, einem Trio mit dem Schlagzeuger Christian Lillinger, dem Gitarristen Ronny Graupe und dem Bassisten Johannes Fink. Und in einem “Letze Fragen” überschrieben Rundumschlag äußert er sich über Drogen, Rassismus, Musicals und die Eigenständigkeit des deutschen Jazz. Ausgespart sind seine Zeiten als musikalischer Leiter des Theater des Westens, Informationen über seine Filmmusiken oder persönlichere Erfahrungen, etwa in seiner Ehe mit der Schauspielerin Judy Winter. Aber dann heißt der Untertitel des Buchs ja auch “Jazzgespräche”. 35 Seiten mit seltenen Fotos runden das Buch ab, das von Maxi Sickert zu einer äußerst lesenswerten und unterhaltsamen Reise durch die deutsche Jazzgeschichte und die Entwicklung eines vielschichtigen Musikers zusammengefasst wurde, ein Buch das vieles erklärt, was in vielleicht sachlicheren Büchern zur Jazzgeschichte nicht erwähnt wird, was aber die Schubladen ein wenig durcheinander rüttelt, weil sich Jazzbiographien nun mal selten in einer einzigen ästhetischen Schublade abspielen. Es ist ein Musterbeispiel einer von der Herausgeberin mit sicherer Hand geführten Autobiographie, die am Schluss neugierig macht auf den Klang des Protagonisten, der dankenswerter Weise zum 80sten Geburtstag Kühns auf etlichen CD-Wiederveröffentlichungen wieder greif- und hörbar ist.

(Wolfram Knauer (Januar 2010)


 

The Year Before the Flood. A Story of New Orleans
von Ned Sublette
Chicago 2009 (Lawrence Hill Books)
452 Seiten
ISBN: 978-1-55652-824-8

2009sublette2Wo Ned Sublette in seinem bereits besprochenen, vielgerühmten Buch zur Kolonialisierung von New Orleans die Frühgeschichte der Stadt erzählt, in der der Jazz geboren wurde, da beleuchtet er in seinem neuesten Buch die Stadt in der Gegenwart des Jahres 2005, im Jahr vor dem Hurricane Katrina, der die Stadt in ihren Grundfesten erschütterte, nicht nur die architektonische Schäden anrichtete, sondern die Struktur der Stadt als soziales Gebilde, ja sogar ihre bloße Existenz in Frage stellte. Das Manuskript über das Leben in New Orleans war ebreits weit forgeschritten, als der Hurricane am 27. August 2005 auf die Stadt am MississippiDelta zustürmte.Jeder in New Orleans habe gewusst, dass eine Katastrophe bevorstand, und jeder habe es offenen Auges verdrängt. Auch die Armen hätten es gewusst, und sie hätte es am stärksten getroffen. Sie seien schließlich mit OneWayTickets aus der Stadt gebracht worden und ihre Rückkehr sei durch Bürokratie oder die Dampfwalzen der Regierung erschwert oder unmöglich gemachtt worden. Das Buch entstand parallel zu seinen Forschungen zu den kulturellen Verbindungen zwischen New Orleans, Kuba und Santo Domingo im 18. und 19. Jahrhundert. Nach Katrina lag das Manuskript auf seinem Schreibtisch; die Folgen des Hurricanes waren so enorm, dass Sublette das Buchthema änderte und neben den sozialen und kulturellen Bedingungen der Stadt auch deren Bezug zur Gegenwart aufzeigen wollte, zur Zeit vor und zur Zeit nach Katrina. Das Buch enthält viele autobiographische Notizen — Sublette lebte bis zu seinem neunten Lebensjahr in New Orleans — hier finden sich die meisten und eindringlichsten historischen Informationen über den alltäglichen Rassismus der 50er, 60er und 70er Jahre und die Probleme ihn zu überkommen. Ein längerer Exkurs erzählt die Geschichte des rassistischen Films “The Birth of a Nation” von 1915, daneben aber auch Sublettes eigenen Erlebnisse mit dem Rassismus des amerikanischen Süden oder über die Arbeitsmöglichkeiten für schwarze Musiker im New Orleans der 1950er Jahre. Er erzählt Geschichten über seinen Aufenthalt für die Recherchen zu dem Buch, im jahr vor Katrina, über die sozialen Ungleichheiten der Stadt, über den Kulturschock, den er als mittlerweile New Yorker bei der Rückkehr in den Süden empfand, über alte Jazzmusiker und die Hip-Hop-Szene der Stadt, über Mardi Gras und die karribischen Verbindungen, über das JazzFest, Super Sunday und den “mörderischen Sommer” vor dem Hurricane. Schließlich der kürzere dritte Teil des Buchs, geschrieben nach Katrina, im Schock der Ereignisse und der hilflosen Versuche einer Rettung der Stadt. New Orleans sei immer anders als alle anderen Großstädte der USA gewesen, schreibt Sublette: Die Stadt mit dem unsichersten Boden des Landes wurde bewohnt von den Menschen mit den tiefsten Wurzeln. Die meisten der Menschen, die in New Orleans lebten, waren sein Generationen in der Stadt verwurzelt. Genau das ist es, was er in seinem Buch nachzuzeichnen evrsucht, und die persönliche Betroffenheit, mit der er Gegenwart, Geschichte und Autobiographisches verwebt macht das Buch zu einer spannenden Lektüre, die einen zurückläßt einw enig wie der Blues: traurig, aber hoffend und in jedem Fall beeindruckt vond er Stärke der in die Geschichte verwickelten Menschen.

(Wolfram Knauer)


 

Ellington Uptown. Duke Ellington, James P. Johnson, and the Birth of Cool Jazz
von John Howland
Ann Arbor 2009 (University of Michigan Press)
340 Seiten, 28,95 US-$
ISBN: 978-0-472-03316-4

2009howlandWenn man von “sinfonischem jazz” spricht, so tut man das in Jazzerkreisen meist etwas herablassend und denkt an die Aufnahmen Paul Whitemans, der eine “Lady” aus dem Jazz machen wollte, die raue Musik der Afro-Amerikaner in schöne Kleider verpacken, sie aus den Kaschemmen nehmen und in die Konzertsäle des Landes bringen wollte. Nun ist das schon mit der Verteufelung Paul Whitemans so eine Sache: Nicht nur hatte er in seiner Band immer hervorragende Jazzsolisten (Bix Beiderbecke etwa oder Frank Trumbauer, aber auch Joe Venuti, Jack Tegarden und viele andere). Vor allem aber gehörchte sein ästhetisches Konzept völlig anderen Gesetzen als das des Jazz derselben Zeit — ihn also nach den Maßstäben zu messen, die man an Armstrong, Morton, Ellington, Henderson und andere anlegte, wäre beiden Seiten gegenüber völlig unangemessen. John Howland beleuchtet in seinem Buch eine oft vergessene Seite dieses “sinfonischen Jazz”, die Annäherung von schwarzen Jazzkomponisten ans Oeuvre ihrer klassischen Kollegen. Schon ältere Musiker wie Will Marion Cook, Will Vodery, James Reese Europe und andere hatten mit ihrer Musik nicht nur auf die Tanz-, sondern auch auf die Konzertsäle gezielt, wollten eine Musik schreiben, die nicht nur in die Beine ging, sondern auch als Konzertmusik überdauern konnte. Vor allem der Pianist und Komponist James P. Johnson sowie der Pianist und Bandleader Duke Ellington nahmen sich des Oeuvres eines Konzertjazz ernsthaft und langfristig an und schrieben Kompositionen, die die üblichen formalen und ästhetischen Modelle des Jazz durchbrachen. Howland diskutiert die grundsätzliche Idee eines “sinfonischen Jazz”, wie sie sich erstmals in Paul Whitemans Aeolian-Hall-Konzert “First Experiment in Modern Music” von 1924 zeigte und die Reaktionen auf Jazz und “Kunst-Jazz” von ganz unterschiedlichen Seiten: jener der klassischen Kritiker genauso wie jener der Wortführer der Harlem Renaissance, die jedem künstlerischen Konzept gegenüber weitaus aufgeschlossener waren als einer schwarzen Folklore. In einem ersten Kapitel beschreibt Howland das vielfältige Beziehungsgeflecht zwischen Jazz, Blues und schwarzem Entertainment, innerhalb dessen auch Johnson und Ellington ihre oft für die Bühne konzipierten Werke erarbeiteten. Ein zweites Kapitel ist Johnsons “Yamekraw” gewidmet, einer Komposition, die auf volksmusikalischen Melodien aus den amerikanischen Südstaaten (Georgia, South Carolina) basiert. Im dritten Kapitel beschreibt er, wie die Konzertambitionen und die Bühnenmusikerfahrungen beider Komponisten, Johnson und Ellington, sich gegenseitig beeinflussten, analysisert Ellingtons Cotton-Club-Shows oder seinen Kurzfilm “Symphony in Black”, um dann im vierten Kapitel die “extended compositions” des Duke zu untersuchen, von “Rhapsody Junior” (1926) bis zu “Black, Brown and Beige” (1943) und sie mit Kompositionen aus dem Whiteman’schen Oeuvre zu vergleichen. Für ein Kapitel über Johnsons “Harlem Symphony” greift Howland auf bislang unbekanntes Material im Johnson-Nachlass zurück und betrachtet in einem sechsten Kapitel Ellingtons Carnegie-Hall-Konzerte über die Jahre und die programmatischen Ideen, die ihnen zugrunde lagen. Sein Schlusskapitel vergleicht die unterschiedlichen ästhetischen Ansätze seiner beiden protagonisten und diskutiert ihren ästhetischen wie kompositorischen Einfluss. Howlands Buch deckt damit eine vielfach vernachlässigte Seite der Jazzgeschichte auf, in gründlich recherchierten, mit Notenbeispielen und Formanalysen durchsetzten Argumentationssträngen, die einmal mehr klar machen, dass viele Jazzmusiker, die man allgemein vor allem für ihre gutgelaunte Musik schätzt, ganz andere Motivationen hatten, dass noch hinter dem swingendsten Stück Musik jede Menge ästhetischen Wollens stecken kann — wenn man nur weiß, wo man schauen muss.

(Wolfram Knauer)


 

Jazz und seine Musiker im Roman. “Vernacular and Sophisticated”
von Alexander Ebert
Hamburg 2009 (Verlag Dr. Kovac)
326 Seiten, 68 Euro
ISBN: 978-3-8300-4567-0

2009ebertDer Jazz war immer wieder Thema der Literatur, ob in seiner improvisatorischen Faszination oder in der Persönlichkeit von Jazzmusikern, also als ein Idealbild des Künstlers, wie es eh gern in Romanen thematisiert wird. Alexander Ebert untersucht in seiner im Fachbereich Amerikanistik verfassten Dissertation sieben Romane, in denen Jazz oder Jazzmusikern eine wichtige Rolle zukommt: Langston Hughes’ “Not Without Laughter” (1930), Dorothy Bakers “Young Man With a Horn” (1938), Ralph Ellisons “Invisible Man” (1952), John Clellon Holmes “The Horn” (1958), Albert Murrays “Train Whistle Guitar” (1974), Michael Ondaatjes “Coming Through Slaughter” (1979), Toni Morrisons “Jazz” (1992) sowie als Einleitung F. Scott Fitzgeralds “The Great Gatsby”. Ebert untersucht sie auf die unterschiedliche Bedeutung des “vernacular”, also eines spezifisch afro-amerikanischen Umgangs mit Sprache (und Musik) und auf die Beziehung dieses “vernacular” mit Aspekten des Blues oder des Jazz (bzw. besser: des Blues- oder des Jazzspielens, oder gar: des Blues- oder des Jazzlebens). Es ist eine Dissertation, also keineswegs Einführungsliteratur zum Thema, und Eberts Bezüge auf Sekundärliteratur können den ungeübten Leser leicht stärker irritieren als sie ihm die Dinge veranschaulichen, zumal sie in der Regel unkommentiert und höchstens zur Unterstreichung der eigenen Argumentation übernommen werden. Es ist das alte Probelm deutscher Dissertationsordnungen, die Doktoranden dazu verdonnern ihre Dissertationen im Ton der Doktorarbeit zu veröffentlichen statt sie für die Publikation “leserlicher” zu machen. In den USA läuft das anders: Aus Dissertationen entstandene Buchpublikationen müssen grundsätzlich in eine Schriftfassung gebracht werden, von der der Verlag der Meinung ist, dass sie sich sich auch auf dem (Fach-)Markt behaupten kann. Das allerdings wird schwierig mit Sätzen wie: “Die durch das blues idiom transformierten, in das Verhaltensschema der einzelnen Charaktere implantierten affirmativen Selbstdarstellungscharakteristika werden von den hier behandelten afroamerikanischen Autoren in ihrer Wirkung stets basierend auf Erfahrungen der Adoleszenzphase vorgestellt.” Was Ebert in seiner Studie nur am Rande behandelt, ist die Tatsache, dass “Jazz” und “Jazz” auch in Afro-Amerika durchaus unterschiedliche Dinge sind, dass es nicht nur Wechsel im musikalischen, sondern auch im ästhetischen Ansatz gab und damit verbunden Änderungen in der Wahrnehmung sowohl in der Fachwelt wie auch in der breiteren Öffentlichkeit, dass schließlich die Bedeutung von “Jazz” je nach Position des Betrachtenden eine komplett andere sein konnte und selbst bei einzelnen Autoren (Ellison und Murray insbesondere) laufend Positionsverschiebungen stattfinden. Seine Studien belegen, wie Ebert schreibt, “welche unterschiedlichen Annäherungsweisen an den Jazz als Kultur möglich” seien. Sein Buch ist auf jeden Fall eine große Fleißarbeit, die vor allem herausfindet, wie sprachliche Aspekte (also das “vernacular”, für das mir auch bei Ebert aber dann doch noch eine bessere Definition fehlt) unterschiedlich eingesetzt werden, ob als störender Impuls, als eine “sich selbst aus dem Unterbewusstsein heraus ebnende Größe”, als eine prägende Erfahrung oder aber auf abstrakterer Ebene.

(Wolfram Knauer, Januar 2010)


 

Fats Waller on the Air. Additions and Corrections
von Stephen Taylor
“Additions and Corrections” update

Stephen Taylors hat Ergänzungen und Korrekturen zu seiner umfassenden Discographie von Livemitschnitten Fats Wallers, “Fats Waller on the Air. The Radio Broadcasts & Discography”, online gestellt. Die 73-seitige pdf-Datei kann direkt auf der Website seines Buchs runtergeladen werden.

Stephen Taylor has updated his comprehensive discography of radio broadcasts, “Fats Waller on the Air. The Radio Broadcasts & Discography”, with “additions and corrections” which can be downloaded for free on the website of his book.


The Jazz Composer. Moving Music Off the Paper
von Graham Collier
London 2009 (Northway Publications)
338 Seiten, 19,99 £
ISBN: 978-09557888-0-2

2009collierGraham Collier war immer ein streitbarer Beobachter der Jazzszene, in der er selbst seit über mehr als vier Jahrzehnten aktiv teilnimmt. Er begann als Kontrabassist, machte sich dann auch als Komponist und Bandleader einen Namen, durch dessen Ensembles viele der wichtigsten britischen Musiker gingen. Er unterrichtete an der Royal Academy in Music, gibt bis heute viele Workshops und schreibt Kompositionen für unterschiedliche Ensembles von kleineren Besetzungen bis hin zur Bigband. Daneben war er immer auch schriftstellerisch tätig, verfasste mehrere Bücher zur Jazzpädagogik sowie eine regelmäßige Kolumne für das Magazin “Jazz Changes” der International Association of Schools of Jazz. Sein neuestes Buch befasst sich in erster Linie mit der Rolle des Jazzkomponisten und seinen Möglichkeiten innerhalb des Metiers. Er fragt, was Arrangements bewirken können und sollen, welche unterschiedlichen Arten von “Komposition” es im Jazz gibt, zwischen originärer Erfindung, Kompilation und Arrangement, geht auf konkrete Beispiele ein, vorrangig Duke Ellington und Miles Davis, daneben aber auch auf Kollegen wie Charles Mingus, Ornette Coleman, Wayne Shorter, Gil Evans, die Idee des Third Stream oder im letzten Kapitel auf seine eigenen Kompositionen. Dazwischen aber, und das macht das Buch wirklich lesenswert, gibt Collier jede Menge Ansichten zum Jazz, seiner Ästhetik, seiner Rezeption und erzählt aus seinen eigenen Erfahrungen. Das Kapitel “It Ain’t Who You Are (It’s the Way That You Do It)” beispielsweise beschäftigt sich sowohl mit den Erfahrungen eines europäischen Musikers in einer ursprünglich amerikanischen Musik, mit sexistischen und homophoben Ansichten von Musikern und Kritikern (Collier ist selbst lebt offen schwul) sowie mit einer seltsamen Art von Rassismus, der man als weißer Musiker in der afro-amerikanischen Musiksprache des Jazz schon mal begegnen kann. Die kleinen polemischen Asides seines Buchs laden zum Nachdenken und Mitargumentieren ein, darüber etwa, welche Rolle die Tradition im Jazz spielt, inwiefern Komponisten im Jazz Kontrolle über ihre Solisten ausüben wollen, wie wichtig und wie frei Improvisation wirklich ist und vieles mehr. Collier schreibt lesens- und nachdenkenswert, nicht aus der Position des Allwissenden Jazzhistorikers, sondern aus der des kritischen Komponisten, des nachfragenden Hörers mit offenen Ohren, des an der Musik und dem Warum hinter ihr Interessierten. Er lässt genüdem Leser genügend Raum, seine eigenen Antworten auf viele der Fragen zu finden. Und komponiert damit quasi einen Diskurs zu Jazzästhetik und Komposition, dessen Solisten im besten Fall seine Leser sind. Absolut empfehlenswert!

(Wolfram Knauer)

Weblink: www.jazzcontinuum.com.
Weblink: www.thejazzcomposer.com.


 

Jazz
von Gary Giddins & Scott DeVeaux
New York 2009 (W.W. Norton)
704 Seiten, 39,95 US-$
ISBN: 978-0-39306-861-0

2009giddinsEs ist schon mutig, auf den weiß Gott nicht kleinen Jazzbuchmarkt ein neues dickes Buch zur gesamten Jazzgeschichte zu werfen. Gary Giddins, langjähriger Kritiker amerikanische für Zeitungen und Zeitschriften und Autor etlicher Bücher sowie Scott DeVeaux, Musikwissenschaftler und Autor des vielgelobten Buchs “The Birth of Bebop” haben sich für ihr neues Jazzbuch mit dem simplen Titel “Jazz” daher ein etwas anderes Konzept ausgedacht. Statt die Jazzgeschichte als eine Geschichte von Biographien zu erzählen, erzählen sie sie anhand von konkreten Stücken, von Aufnahmen. Biographische Kommentare sind durchaus auch vorhanden; die Titel aber stehen im Vordergrund, die Giddins und DeVeaux analysieren, beschreiben und in die Jazzgeschichte einordnen. Ihre Analysen bedienen sich dabei keiner Notenbeispiele und auch keiner allzu komplizierten Fachtermini — das Buch wendet sich an interessierte Fans, aber nicht dezidiert an Studenten oder Musikwissenschaftler. Analytische Anmerkungen zu Aufnahmen bestehen vor allem aus kurz gehaltenen Ablaufbeschreibungen, Chorus für Chorus mit vorgeschalteter Sekundenzahl, damit man die Beschreibungen beim Hören mitlesen kann. Das ist eine durchaus sinnvolle Herangehensweise, schult sie doch das Ohr des Lesers und richtet seine Aufmerksamkeit auf das, was in der Musik geschieht. Konkret sieht das dann so aus, dass ein Kapitel mit einer biographischen Einordnung des Künstlers beginnt, dann die Umstände des besprochenen Titels und/oder Albums erlöutert werden, bevor eine übersichtlich-tabellarische Ablaufbeschreibung den Leser zum Mithören/Mitlesen auffordert. Dem schließt sich in der Regel eine kurze Beschreibung des Einflusses des betreffenden Künstlers an. Pro Künstler findet sich meist ein besprochener Titel; und es sind nicht immer die “wichtigsten”, sondern oft solche, die Giddins und DeVeaux einfach als besonders gelungen für das hielten, was sie darstellen wollten. Armstrong, Ellington, Parker, Miles und einige andere Künstler sind mit mehr als einem Titel vertreten, meist, weil sie in ihrem Schaffen so unterschiedliche Seiten zeigten, dass die Beschränkung auf einen einzelnen Titel ihnen nicht gerecht würde. Über die Auswahl sowohl der so herausgestellten Künstler wie auch der Stücke mag man sich streiten; das Problem der Auswahl aber stellt sich bei jedem (insbesonders enzyklopädischen) Werk. Und neben den punktuellen Blicken auf einzelne Entwicklungen des Jazz gelingt es den beiden auch immer wieder Verbindungsschnüre zu ziehen, musikalische Entwicklungen oder Personalstile miteinander zu verknüofen, auf Einflüsse, parallele Entwicklungen etc. hinzuweisen. Natürlich nutzt das Buch so vor allem dann, wenn man die Musik auch wirklich vor sich hat — und am besten eine Auswahl, die genau die im Buch besprochenen Titel enthält. Das aber wird keine noch so gut bestückte Plattensammlung leisten — und so haben die Autoren zusätzlich auch gleich eine CD-Edition kuratiert, in der die 45 im Buch näher analysierten Titel enthalten sind, die allerdings separat erstanden werden muss und fast doppelt so teuer wie das Buch ist. Wer sich beides zulegt hat allerdings wirklich einen erstklassigen “Primer” zur Jazzgeschichte in der Hand: von der Original Dixieland Jass Band über King Oliver, Louis Armstrong, Bessie Smith, Ellington, Basie und Goodman, Parker, Gillespie und Monk, das Modern jazz Quartet und Dave Brubeck, den Free Jazz Ornette Colemans oder Cecil Taylors bis hin zur Avantgarde der 80er und 90er Jahre und selbst Beispielen aus jüngster Zeit. Was fehlt, ist Europa: Einzig Django Reinhardt und Jan Garbarek fanden Eingang in den Olymp von Giddins’ und Deveaux’s Gnaden. Aber dann ist diese Entscheidung wohl verständlich — hier wählten sie zwei Musiker aus, die auch auf den amerikanischen Jazz von nicht unerheblichem Einfluss waren. Und die europäische Jazzgeschichte sollte vielleicht tatsächlich von anderer Seite aufgearbeitet werden … wir arbeiten dran.

(Wolfram Knauer)

Weblink: www.garygiddins.com.


 

Jade Visions. The Life and Music of Scott LaFaro
von Helene LaFaro-Fernández
Denton/TX 2009 (University of North Texas Press)
322 Seiten, 24,95 US-$
ISBN: 978-1-57441-273-4

2009lafaroNeben Miles Davis, John Coltrane, Wayne Shorter und einigen anderen der großen Namen des modernen Jazz ist Scott LaFaro einer der Musiker, über die am häufigsten Diplomarbeiten geschrieben werden — so zumindest scheint es uns im Jazzinstitut, wo wir regelmäßig mit Anfragen zu dem früh verstorbenen Bassisten konfrontiert werden. Jetzt legt seine Schwester eine Biographie vor, die das nur fünfundzwanzigjährige Leben des Kontrabassisten beleuchtet. LaFaro wurde in eine italienisch-schottische Familie geboren, die früh erkannte, dass ihr Sohn musikalisch begabt war. Er spielte bereits mit drei Jahren Mandoline und nahm seine ersten Geigenstunden mit fünf. Im College nahm er Klarinettenunterricht, mit 18 dann kaufte sein Vater ihm einen Kontrabass. Schon in den ersten Bands, mit denen er spielte, wurde klar, dass seine Art Bass zu spielen von dem abwich, was man sonst so hörte; statt nur die Time zu markieren, setzte er Akzente, spielte Linien, setzte Töne zwischen die Beats. In der Band des Posaunisten Buddy Morrow machte er 1956 seine ersten Aufnahmen mit Swing- und Tanzmusik. Bei einer Session traf er auf Chet Baker, der ihn einlud, bei der nächsten Tour seiner Band mitzuwirken. Hier beginnt der Teil der Biographie, in der Helene LaFaro-Fernández auf Zeitzeugen zurückgreift und insbesondere Kollegen interviewt, Walter Norris etwa, Gary Peacock oder Paul Motian. LaFaro arbeitete in der Band von Pat Moran und mit Victor Feldman und spielt 1958 u.a. in Stan Getz’s Quintett an der Westküste. Er nahm Platten auf mit Hampton Hawes, Buddy DeFranco und anderen. 1959 arbeitete er als Bassist des Stan Kenton Orchestra, bis ihm Herb Geller einen Job in der Benny Goodman Band besorgte. Vor allem aber begann in diesem Jahr LaFaros Zusammenarbeit mit Bill Evans. Außerdem er wurde als “Bass New Star” im Down Beat gewürdigt. 1960 trat er vor allem mit Evans’ Trio auf, aber auch mit Ornette Coleman, Booker Littler und Thelonious Monk. Vom Januar 1961 stammen die legendären Trioaufnahmen aus dem Village Vanguard, die bis zum heutigen Tag zu den einflussreichsten Klaviertrioeinspielungen zählen. Am 6. Juli schlief LaFaro am Steuer seines Wagens ein und fuhr gegen einen Baum. Er und sein Freund Frank Ottley waren sofort tot. LaFaros Schwester erzählt die Geschichte ihres Bruders mit vielen Fakten, aber auch mit dem Wissen um seine Bedeutung für die Jazzgeschichte. Sie sammelt Erinnerungen von Mitmusikern und Freunden und bat Gene Lees, Marc Johnson, Jeff Campbell und Phil Palombi um eine musikalische Einschätzung. Barrie Kolstein berichtet im Anhang, wie das Instrument, das beim Autounfall erheblich beschädigt worden war, restauriert wurde und gibt genaue eine Beschreibung des Kontrabasses. Chuck Ralston ergänzt das alles um eine Diskographie, der Aufnahmen, an denen LaFaro teilhatte, von Buddy Morrow über Clifford Brown und Chet Baker, Victor Feldman, Stan Getz, Hampton Hawes, Buddy DeFranco, Harold Land, Pat Moran, Marty Paich, Stan Kenton, Herb Geller, Booker Little, Steve Kuhn, Gunther Schuller, Ornette Coleman bis hin zum legendären Bill Evans Trio. Helene LaFaro-Fernández hat ihrem Bruder mit diesem Buch, in dem auch viele private Fotos enthalten sind, ein würdiges Denkmal gesetzt, persönlich und doch sachlich, die biographischen Detials genauso berücksichtigend wie seine musikalische Entwicklung und seinen Einfluss auf Bassisten bis zum heutigen Tag.

(Wolfram Knauer)


 

Bitches Brew. Genesi del capolavoro di Miles Davis
von Enrico Merlin & Veniero Rizzardi
Milano 2009 (ilSaggiatore)
318 Seiten, 35 Euro
ISBN: 978-8-84281-501-3

2009merlinAshley Kahn hat mit seinen Büchern über Miles Davis’ Album “Kind of Blue” und John Coltranes “A Love Supreme” quasi ein neues Genre der Jazzliteratur begonnen: Bücher, die einzelne Plattensitzungen des Jazz von allen Seiten beleuchten. Das Beispiel hat Schule gemacht: Enrico Merlin und Veniero Rizzardi legen jetzt ein durchaus vergleichbares Werb über Miles’ Album “Bitches Brew” von 1969 vor, sicher ein Meilenstein der Jazzgeschichte, ein großer Wurf, der aufzeigte, wie eine weitsichtige Fusion aus Jazz- und Rockelementen musikalisch spannende Ergebnisse zeitigen konnte. Die beiden Autoren zeichnen Entstehungsgeschichte und Einflüsse auf. Miles sei es immer besonders um Sound gegangen, von seinen Capitol-Nonett-Aufnahmen über die Zusammenarbeit mit Gil Evans bis zum elektrischen Miles. Sie diskutieren einige Vorgängeralben zu “Bitches Brew”, darunter “Circle in the Round” und “Directions”, analysieren die Schneidetechnik etwa auf dem Album “In a Silent Way”, indem sie die ursprünglich veröffentlichte Aufnahmemit den Basterbändern vergleichen. Die Teo Macero-Sammlung landete nach dem Tod des Produzenten in der New York Library for the Performing Arts. Ihr ist zu verdanken, dass die Lead-Sheets für die Plattensitzung genauso erhalten sind wie Notizen, Korrespondenz, Schneideanweisungen und vieles mehr, dass die Autoren zur Analyse der Aufnahmegenese genauso nutzten wie Strudiomitschnitte, auf denen neben der Musik auch die Gespräche zwischen Miles und seinen Musikern und dem Produzenten zu hören sind. Sie vergleichen die verschiedenen Takes der einzelnen Stücke und mutmaßen über Gründe für Änderungen oder Zusammenschnitte. Viele Fotos machen das alles lebendig; Notenbeispiele und analytische Formskizzen führen den Leser näher an den musikalischen Ablauf heran; eine Chronologie der Jahre 1967 bis 1973 fasst die mit dem Album “Bitches Brew” zusammenhängenden Aktivitäten Miles’ übersichtlich zusammen. Das Buch ist bislang nur auf italienisch erhältlich; eine zumindest englische Übersetzung wäre sicher wünschenswert.

(Wolfram Knauer)


 

We Want Miles
herausgegeben von Vincent Bessières
Paris 2009 (Cité de la Musique)
223 Seiten, 39 Euro
ISBN: 978-2-84597-340-4

2009bessieres“We Want Miles” heißt die oppulente Ausstellung die Vincent Bessières für die Cité de la Musique in Paris zusammengestellt hat, wo sie von Oktober 2009 bis Januar 2010 gezeigt wird (danach von April bis August 2010 im Montréal Museum of Fine Arts. Die Ausstellung in Paris umfasst zwei Stockwerke voll mit Material, das sich auf Miles bezieht: Klangkabinen, in denen man Musik aus den verschiedenen Schaffensperioden seines Lebens hören kann, seltene Filmausschnitte von Konzerten oder Interviews, in denen er über seine Musik spricht, seine Kleidung und Gemälde, vieler seiner Instrumente, originale Notenblätter etlicher Aufnahmesessions, einschließlich der legendären Capitol-Nonett-Aufnahmen von 1949, sowie handschriftliche Notizen über die Aufnahmesitzungen, die oft von seinem langjährigen Produzenten Teo Macero stammen. Dem Kurator der Ausstellung Vincent Bessières und seinen Mitarbeitern von der Cité de la Musique ist es gelungen, ein wenig vom Geist des Trompeters einzufangen, den Besucher langsam in Miles’ Welt eintauchen zu lassen. Sie zeichnen seine musikalische und persönliche Entwicklung über die Jahre in Saal nach Saal nach und geben selbst seinem Rückzug von Musik und Öffentlichkeit in den späten 1970er Jahren einen eigenen Raum: einen dunklen Durchgang mit wenigen Dokumenten an den schwarzen Wänden, die knappe Einblicke in seine Probleme der Zeit geben. Am Anfang der Ausstellung mag man noch meinen, dieses Foto sei einem doch eh bekannt, diese Platten ebenfalls oder jener Zeitungsartikel. Mehr und mehr aber wird man in den Sog der Ausstellung gezogen und erlebt bestimmte Phasen in Miles’ Entwicklung anders als man sie zuvor erlebt hat, einfach durch die Art und Weise, wie die Ausstellungsstücke einander gegenübergestellt sind, wie die Musik aus den Klangkabinen, die Videos und all die anderen Dokumente einander ergänzen und einen die Musik und das Leben von Miles Davis neu entdecken, neu sehen, neu hören lassen. Der Ausstellungskatalog zeigt viele der in der Cité de la Musique zu sehenden Exponate und enthält daneben einen ausführlichen Text von Franck Bergerot sowie kürzere Texte von George Avakian, Laurent Cugny, Ira Gitler, David Liebman, Francis Marmande, John Szwed und Mike Zwerin. Noch ist er nur in Französisch erhältlich; eine englische Fassung wird aber spätestens zur Ausstellung in Montréal erhältlich sein.

(Wolfram Knauer)


 

Satchmo. The Wonderful World and Art of Louis Armstrong
von Stephen Brower
New York 2009 (Abrams)
256 Seiten, 35 US-Dollar
ISBN: 978-0-8109-9528-4

2009browerLouis Armstrong war ein großartiger Musiker, das ist bekannt. Schon weniger bekannt ist, dass er zeitlebens mit seiner Schreibmaschine reiste und ein fleißiger Briefeschreiber war — viele seiner Briefe erzählten Autobiographisches und waren Grundlage für seine beiden Autobiographien, die 1936 und 1954 erschienen. Vor zehn Jahren brachte Thomas Brothers etliche dieser Briefe und maschienenschriftlichen Manuskripte, die heute im Armstrong Archive in Queens, New York, lagern, in Buchform heraus (“Louis Armstrong In His Own Words”, Oxford University Press, 1999). Im Armstrong Archive aber findet sich noch eine weitere, unerwartete künstlerische Seite des Trompeters. Dieser nämlich war ein großer Tonbandfreund und schnitt Sendungen aus dem Rundfunk genauso mit wie Gespräche zwischen sich und Freunden oder Nachbarn oder auch sich selbst beim Üben oder beim Mitspielen mit Plattenaufnahmen (zum Teil sogar von sich selbst). Ausschnitte aus diesen Bändern sind im letzten Jahr veröffentlicht worden; spannend aber ist an ihnen nicht nur die darauf enthaltene Musik. Armstrong sorgte sich sich nämlich auch um die Verpackung, bastelte mit Schere, Klebstoff und Scotch Tape (der amerikanischen Variante unseres Tesafilms) seltsame Collagen, die teilweise Bezug zu dem auf den Bändern enthaltenen Aufnahmen besaßen, zum Teil aber auch nicht. Fotos von ihm selbst mit bekannten Stars des Jazz oder Showbusiness sind darauf ebenso zu sehen wie Zeitungsausrisse, Fotos, die ihm von Fans zugeschickt wurden, handschriftliche oder maschinenschriftliche Kommentare, die er teilweise Zeile für Zeile, teilweise gar Wort für Wort ausgeschnitten und aufgeklebt hatte. Das alles hatte früh begonnen, mit Scrapbooks, die Clippings, Zeitungsausschnitte über seine Arbeit enthielten. Browers Buch enthält eine Vielzahl an Beispielen, aus den Scrapbooks, aus seinen Briefen, vor allem aber von den beklebten Reel-to-Reel-Tapes aus der Sammlung des Armstrong Archive. Brower setzt die darauf zu sehenden Szenen in seinem Text in Relation zu Armstrongs Leben und Karriere. Das ganze in einem wunderschönen großformatigen, durchwegs farbig gehaltenen, auf Mattglanzpapier gedruckten Buch, das Einblicke in die spielerische Kreativität erlaubt, die Grundlage seiner Musik genauso war wie offenbar überhaupt seines Lebens.

(Wolfram Knauer)


 

Go man, go! In de coulissen van de jazz
von Jeroen de Valk
Amsterdam 2009 (Van Gennep)
174 Seiten, 17,50 Euro
ISBN: 978-90-5515-0847

2009devalkJeroen de Valk ist ein international renommierter Jazzjournalist, der bislang zwei wegweisende Biographien vorgelegt hat, eine über Chet Baker sowie eine über Ben Webster. In seinem neuen Buch versammelt er Artikel und Interviews, die er vor allem für die holländische Zeitschrift Jazz Nu geführt hatte. Akkordeonist Johnny Meijer blick ein wenig wehmütig auf die gute alte Zeit zurück, auf die guten Musiker, mit denen er zusammengespielt hat, genauso wie auf die schlechten. Jimmy Rowles erzählt, wie er einst Marilyn Monroe begleitet habe, Dave Brubeck davon, wie Darius Milhaud ihn auf seinem musikalischen Weg ermutigt habe. Illinois Jacquet berichtet, dass er immer noch sein “Flying Home”-Solo spielen müsse, zu dem ihn einst Lionel Hampton angefeuert habe. Sonny Rollins gibt Einblick in seine künstlerischen Selbstzweifel. Branford Marsalis macht deutlich, dass das Wichtigste im Spiel seines Vaters Ellis dessen “Sound” sein, nicht sein Anschlag, nicht seine Voicings, sondern sein “Sound! Sound! SOUND!”. Charlie Haden spricht über seine Zeit bei Ornette Coleman und seine frühere Drogensucht. Weitere Interviews geben Einblick in die musikalische Welt von Künstlern wie Ray Brown, Biig Jay McNeely, Tommy Flanagan, Joe Zawinul, Woody Shaw, Michael Brecker, aber auch von Rita Reys, Cees Slinger, Pim Jacobs, Ruud Brink, Rinus Groeneveld, Hein Van de Geyn und Joris Teepe.

(Wolfram Knauer)


 

Han Bennink. De wereld als trommel
von Erik van den Berg
Amsterdam 2009 (Uitgeverij Thomas Rap)
239 Seiten plus eine beigeheftete CD, 19,90 Euro
ISBN: 978-90-600-5671-4

2009benninkWer international über Jazz in Holland spricht, kommt schnell auf die drei vielleicht einflussreichsten, sicher aber eigenständigsten Musiker des Landes: Willem Breuker, Misha Mengelberg und Han Bennink. Bennink ist seit mehr als 50 Jahren auf der Szene, einer der bedeutendsten europäischen Schlagzeuger des freien Jazz, daneben aber (wie durchaus auch andere große Perkussionisten dieser Richtung) ein begnadeter Swinger, denn er hat in seiner Laufbahn alles durchgemacht, vom traditionellen Jazz über den Swing, Bebop und modene Stilrichtungen bis zur freien Improvisation mit Brötzmann und Konsorten. Eric van den Berg hat nun eine Biographie des Schlagzeugers vorgelegt. Er beginnt mit der Familiengeschichte: Benninks Vater Rein war selbst Jazzmusiker gewesen, spielte Schlagzeug und Saxophon. Han wurde die Musik also quasi in die Wiege gelegt, und mit 15 Jahren trat er bereits mit seinem Vater auf, wie u.a. vier Aufnahmen auf der dem Buch beiliegenden CD belegen. 1959 errang das Quintett des Pianisten Eric van Trigt bei einem Wettbewerb in Bussum den zweiten Platz, dank auch des Schlagzeugsolos des 19jährigen Han Bennink. Bennink hörte amerikanische Bands und ließ sich von deren Schlagzeugern beeinflussen, etwa von Kenny Clarke, Louis Hayes oder Elvin Jones. 1961 fuhr er als Teil einer Schiffscombo nach New York und war von der Musik dieser Stadt beeidnruckt. Ein Jahr später begann seine Zusammenarbeit mit dem Pianisten Misha Mengelberg. Er spielte mit der Sängerin Rita Reys und begleitete amerikanische Stars wie Johnny Griffin und andere. 1964 spielte er mit Eric Dolphy, orientierte sich immer mehr an Musikern des amerikanischen “New Thing”. 1966 trat das Misha Mengelberg Quartet beim Newport Jazz Festival auf. Nebenbei war Bennink immer auch als Maler aktiv; bei seiner ersten Soloausstellung in einer Amsterdamer Galerie spielte auch Willem Breuker mit. Breuker, Mengelberg und Bennink gründeten den Instant Composers Pool (ICP), um der neuen Musik Spielorte zu verschaffen. Mehr und mehr arbeitete Bennink auch mit europäischen Kollegen zusammen, 1966 etwa mit Gunter Hampel und später mit Peter Brötzmann, bei dessen “Machine Gun”-Album von 1968 er mit von der Partie war, wie auch bei späteren Aufnahmen zwischen Duo, Trio und großer Besetzung. 1969 gehörte er zur europäischen Besetzung für Manfred Schoofs “European Echoes”. Die 70er Jahre waren die Zeit der europäischen Zusammenarbeit, ob im Rahmen von ICP oder bei Konzerten oder Aufnahmen für das FMP-Label. Wechselnde Besetzungen auch später, und keine stilistischen Berührungsängste: ob Free Jazz mit Cecil Taylor, freie improvisierte Musik mit Derek Bailey, traditionelle Gigs etwa mit Art Hodes oder Soul mit Percy Sledge. Zusammen mit dem Klarinettisten Michael Moore und dem Cellisten Ernst Reijseger bildete Bennink in den 1990er Jahren das Clusone Trio. Van den Berg beschreibt Benninks Instrumentarium, aber auch den theatralischen Klamauk, den Bennink auf ihnen vollführen kann, ohne jemals den musikalischen Sinn aus dem Blick zu verlieren, etwa wenn er in einer Performance im Museum of Contemporary Art in Toronto 2005 auf Käsetrommeln spielt, was ihm eine Einladung in Jay Lenos Talkshow einbrachte (die er allerdings ablehnte). Van den Berg greift auf Interviews mit Bennink und seinen Musikerkollegen zurück, aber auch auf Benninks Tagebuch. Am Schluss findet sich ein Blindfold Test, eine Liste (nur) der wichtigsten Platten sowie eine Literaturliste. Die beiligende CD enthält neben Aufnahmen mit seinem Vater von 1955 einen Mitschnitt des Zaans Rhythme Quartet von 1960, des Misha Mengelberg/Pieter Noordijk Quartet von 1966, Benninks Schlagzeugsolo vom Newport Jazz Festival 1966, eine Trioaufnahme mit Sonny Sollins, drei Titel mit Art Hodes sowie ein Live-Duomitschnitt mit Misha Mengelberg aus dem Jahr 1978. Ein lobens- und lohnenswertes Buch über einen der spannendsten Schlagzeuger Europas. Zur Lektüre braucht es bislang noch ordentlicher niederländischer Sprachkenntnisse; wir hoffen auf eine englische Übersetzung des Buchs.

(Wolfram Knauer)


 

Pop. Geschichte eines Konzepts 1955-2009
von Thomas Hecken
Bielefeld 2009 (transkript)
563 Seiten, 35,80 Euro
ISBN: 978-3-89942-982-4

2009heckenMit dem Begriff “Pop” verbinden sich alle möglichen kulturellen Phänomene und Tendenzen, angefangen bei der Popmusik über die Pop-Art, die Popkultur bis hin zu Phänomenen in Underground, New Journalism, Postmoderne und Lifestyle. Thomas Hecken, germanist an der Ruhr-Universität in Bochum, versucht in seinem Buch die verschiedenen Seiten von “Pop” zwischen Underground und Kommerz zu beleuchten. Er beginnt weit vor der Popkultur (nach unserem Verständnis), nämlich bei Herder, Schiller, Kant und dem Reiz des Populären, klopft außerdem Baudelaire, Huysmans, Wilde und Nietzsche mit ihrer Tendenz künstlich zu erregen, den Futurismus, den Expressionismus, den Dadaismus und den Surrealismus sowie das Jazz Age und die Neue Sachlichkeit daraufhin ab, inwiefern sie als Vorläufer oder Einflussgeber der Pop-Idee dienen könnten. In seinem zweiten Kapitel arbeitet er heraus, wie diese Pop-Idee in den 50er und 60er Jahren aus der Pop Art herausgelöst wurde. Er diskutiert Begriffe wie “Massenkultur” und “populäre Kultur”, reflektiert über die englische Independent Group und das Verhältnis von Pop Art zur Tradition der Dekadenz und Avantgarde. Mitte der 60er Jahre also setzte sich der Begriff “Pop” für ein neues Konzept durch, das aber immer noch weit stärker im bildnerisch künstlerischen Bereich als etwa in der Musik angesiedelt war. Daneben wurde “Pop” immer mehr synonym als Träger des zeitgenössisch vorherrschenden Geschmacks verstanden und damit als ein auch jugendkulturelles Phänomen. Hier nun kommt mehr und mehr auch die Musik ins Spiel, von Beatles über Rolling Stones bis The Who, die nicht nur in ihrer Musik, sondern auch in der Reflektion den Pop-Diskurs beeinflussten. Pop bestimmt mit seiner positiv-jungen Belegung dabei auch die Ästhetik anderer Genres, ob Film, Literatur oder Feuilleton. Parallel entwickelte sich in den 1960er Jahren aber auch eine Art Underground-Popästhetik. In seinem diesbezüglichen Kapitel versucht Hecken eine ausführliche Abgrenzung zwischen Pop und Rock und der mit beiden verbundenen künstlerischen wie ästhetischen Konnotationen. Neben den üblichen anglo-amerikanischen bemüht Hecken auch deutsche Beispiele. War man in den 60er Jahren damit beschäftigt, die ästhetischen Konzepte überhaupt zu entwickeln, so konnte man in den 70er Jahren bereits über sie reflektieren, wie Hecken in seinem Kapitel über die “Pop-Theorie” darlegt. Dieser Diskurs handelt von Oberflächlichkeit oder Gegenkultur, von Kommerz und Konsum-Freiheit, von Manipulation und Populismus. Ein eigenes Kapitel widmet Hecken der Diskussion, wie sich “Pop” in der Postmoderne-Diskussion der 70er Jahre wiederfindet. Konkrete Beispiele liefert der Eklektizismus im Rock (Zappa), Glam (David Bowie) und Punk. In den 80er Jahren dann stellt Hecken die “Vollendung der Pop-Affirmation” fest. Schließlich beschäftigt er sich im Schlusskapitel (aber auch immer wieder zwischendurch) mit seiner eigenen Rolle und der seiner Kollegen: mit der Akademisierung von Pop und der Theoriebildung über Poptheorie. Ein ausführliches Literaturverzeichnis beendet das Buch. Alles in allem: ein dicker Brocken “Pop”, in dem Hecken die Debatten um Begriff und Inhalt nachzeichnet, ein spannendes Buch und ein exzellentes Nachschlagwerk zur Idee des “Pop”-Konzepts, das historisch erläutert und doch auch laufend zum Hinterfragen und zum Selbst-Stellungnehmen auffordert.. Der Jazz übrigens kommt innerhalb des Buchs kaum vor, doch berühren sich die (auch ästhetischen) Welten von Jazz und Pop in den 60er und 70er Jahren so oft, dass Hecken einem auch da den Weg weisen kann, wenn man wieder einmal unreflektiert über “Pop” spricht und ahnt, dass das Phänomen weit vielfältiger ist als der griffige Name.

(Wolfram Knauer)


 

tell no lies, claim no victories
herausgegeben von Philipp Schmickl & Hans Falb
Nickelsdorf 2009 (Verein Impro 2000)
208 Seiten, 25 Euro

2009nickelsdorfGerade in den experimentellen Seiten des Jazz und der improvisierten Musikbedarf es Veranstalter, die vor allem ihrem eigenen Ohr folgen und nicht auf Publikum schielen müssen. Macht man das lang genug und bleibt sich selbst, den Musikern und dem Publikum gegenüber (ästhetisch) ehrlich, dann erreicht man im Idealfall ein eingeschworenes Publikum, das das Möglichmachen von Experimenten zu schätzen weiß. Ein solcher Fall ist das Konfrontationen-Festival im österreichischen Nickelsdorf, das seit 30 Jahren das Experiment eines Festivals improvisierter Musik wagt und damit weit über die Grenzen Österreichs bekannt wurde. Konfrontationen-Gründer Hans Falb und Philipp Schmickl haben nun ein Buch vorgelegt, das verschiedene Seiten der improvisierten Musik dokumentiert, daneben aber immer auch eine Homage an die Freiheit der Performance und damit an das Nickelsdorfer Festival selbst ist. Joe McPhee verneigt sich darin vor Clifford Thornton; Georg Graewe reflektiert über die Spielstätten, in denen Jazzmusiker arbeiten; Hans Falb schreibt über den Klarinettisten John Carter. Falb unterhält sich außerdem mit Roscoe Mitchell über die AACM, und Alexandre Pierrepont reflektiert über jüngere Aktivitäten der AACM. Paul Lovens erzählt übers Schlagzeugspielen, über sein Instrument, über (nicht mur musikalische) Einflüsse auf seine Kunst, über das Gedächtnis,und warum er beim Spielen meist ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte trägt. Auch Hamid Drake erzählt über seine Einflüsse, insbesondere über die Bedeutung Fred Andersons und der Chicagoer Community für seine Entwicklung. Joelle Léandre erklärt, dass das Improvisieren eine ernsthafte Kunst sei, die man nicht improvisiere. Evan Parker reflektiert über aktuelle improvisierte Musik und wie sich ihre Ästhetik ändere. Mircea Streit berichtet über improvisierte Musik in Rumänien. Dazwischen gibt es viele Fotos, die ein wenig den Geist Nickelsdorfs beschwören: musikalisch, nachdenklich, beschaulich, intensiv, kreativ. Eine Labor of Love, ganz wie das Festival. Konfrontationen…

(Wolfram Knauer)

Das Buch kann hier bestellt werden: www.konfrontationen.at/ko09/nolies.html


 

Man of the Light. Życie I twórczość Zigniewa Seiferta,
Aneta Norek
Krakow 2009 (Musica Iagellonica)
168 Seiten plus eine beigeheftete CD, 45 PLN
ISBN: 978-83-7099-166-1

2009seifertAneta Norek schrieb ihre Magisterarbeit über den Einfluss der Musik von Karol Szymanowski auf den Jazzgeiger Zbigniew Seifert. Bei den Recherchen traf sie auf so viele Musiker, die von Seiferts Musik nachhaltig beeinflusst waren, dass sie sich entschloss, eine Biographie des 1979 an Krebs verstorbenen polnischen Violinisten zu schreiben. Sie kontaktierte viele der Musiker, mit denen Seifert seit den frühen 1960er Jahren zusammengespielt hatte, forschte in Archiven vor Ort in Krakau genauso wie beispielsweise beim Jazzinstitut Darmstadt und legt jetzt ein Buch vor, das sein Leben und seine musikalische Entwicklung verfolgt, gespickt ist mit seltenen Fotos und Dokumenten. Diese machen das Buch sicher auch für Leser interessant, die des Polnischen nicht mächtig sind. Auch ohne die notwendigen Sprachkenntnisse merkt man schnell, welch akribische Arbeit in Noreks Recherchen ging, und hofft, dass vielleicht doch eines Tages eine zumindest englische Übersetzung des Buches möglich wird. Die Buchvorstellung fand übrigens im Rahmen eines Seifert gewidmeten Festivals in Krakau statt, bei dem unter anderem Seiferts “Jazzkonzert für Violine, Sinfonieorchester und Rhythmusgruppe” aufgeführt wurde, mit Mateusz Smoczynski (Geige), Joachim Kühn (Piano), Bronislaw Suchanek (Bass), Janusz Stefanski (Drums) und dem Philharmonischen Orchester Krakau. Eine CD mit der Originalaufnahme dieser Komposition heftet dem Buch bei. Kühn war 1974 ebenfalls mit von der Partie, daneben spielten außer Seifert Eberhard Weber, Daniel Humair und das Runfkunkorchester Hannover des NDR.

(Wolfram Knauer)


 

Art Tatum. Eine Biographie
von Mark Lehmstedt
Leipzig 2009 (Lehmstedt Verlag)
319 Seiten, 39,90 Euro
ISBN: 978-3-937146-80-5

2009tatumÜber Art Tatum ist viel geschrieben worden. Es existiert eine umfassende Diskographie (von Arnold Laubich & Ray Spencer, 1982) und eine Biographie (von James Lester, 1994), außerdem eine Dissertation, die seine frühe Zeit in Toledo untersucht (von Imelda Hunt, 1995). Nun legt ausgerechnet ein deutscher Autor eine umfassende Tatum-Biographie vor, für die er in Archiven gestöbert und alles an Informationen über den Pianisten zusammengeklaubt hat, was er finden konnte. Herausgekommen ist ein überaus lesenswertes Buch, die Lebensgeschichte eines Mannes, der in eine Mittelklassefamilie geboren wurde, mit nur geringster Sehkraft durchs Leben kam und seit den frühen 1930er Jahren zu den bewundertsten Pianisten des Jazz gehörte. “Ich spiele nur Klavier”, soll Fats Waller einmal gesagt haben, als Art Tatum einen Club betrat, in dem er spielte, “aber heute ist Gott im Raum.” Lehmstedt nimmt die veröffentlichten Biographien zum Ausgangspunkt und baut auf ihnen auf, verflicht die Informationen, die er über Tatum erhält, mit denen über andere Musiker oder über soziale oder Lebensumstände der Zeit. Er durchsetzt die Geschichte vor allem stark mit Zeitzeugenberichten, Ausschnitten aus Interviews mit Tatum oder anderen Musikern und muss sich damit nur selten mit eigenen Mutmaßungen begnügen. Er beschreibt den Ruhm, den Tatum als Solist hatte, und zwar nicht nur in der Welt des Jazz, er schreibt über das schlagzeuglose Klaviertrio, das Tatum zwar nicht erfunden, aber ganz sicher besonders bekannt gemacht hatte, über Konzerte in Kaschemmen, mondänen Nightclubs und auf großen Konzertbühnen, über Jam Sessions mit Kollegen, seine Plattenaufnahmen für Norman Granz und über die unendliche Bewunderung, die Tatum, von Musikern aus allen Stilbereichen des Jazz, aber auch aus der Klassik und von anderswo entgegengebracht wurde. Lehmstedt gelingt es, all diese Puzzleteilchen seiner Recherche zu einen spannend zu lesenden Text zusammenzufügen, in dem seine eigene Bewunderung durchscheint ohne zu dominieren. Die Musik kommt bei alledem manchmal etwas kurz: Lehmstedt ist kein Musikschriftsteller, dem es gelingen könnte, die Musik mit Worten zum Klingen zu bringen. Seine musikalischen Einlassungen lassen es meist beim oft-gelesenen Klischeehaften, ohne tiefer in die Musik einzudringen, ohne zu hinterfragen, was genau an Tatums Tastenvirtuosität so fesselnd ist. Er muss sich auf Kollegen stützen, um dies zu tun, aber dafür hat er genügend — und zwar genügend gute — Schriftsteller, die er zitieren kann. Diese Tatsache ist also keineswegs als Kritik zu werten, und eigentlich fehlt die musikalische Einlassung auch nicht wirklich, denn das Buch heißt nun mal “Eine Biographie”, und es ist am besten mit einer Tatum CD (oder zwei oder drei) zu lesen. Und anzuschauen: Viele Fotos nämlich sind auch dabei, wunderbar reproduziert und oft genug großformatig abgedruckt. Am Ende finden sich eine Diskographie sowie eine ausführliche Literaturliste und ein Personenindex. Das ganze ist eindeutig eine “labor of love”, daneben eine Fleißarbeit und schließlich eine spannende Lektüre für jeden, der dem Klaviergott des Jazz näher kommen will.

(Wolfram Knauer)


 

The Music and Life of Theodore “Fats” Navarro. Infatuation
von Leif Bo Petersen & Theo Rehak
Lanham/MD 2009 (Scarecrow Press)
378 Seiten, 34,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-6721-5

2009navarroLeif Bo Petersen und Theo Rehak (der Bruder des Posaunisten Frank Rehak) sind beide Amateurtrompeter und seit langem von der Musik Fats Navarros fasziniert. Rehak war 1966 durch den Kritiker George Hoefer, der ein Freund der Familie war, auf Navarro aufmerksam geworden und hatte seither Interviews und Informationen über den Trompeter gesammelt. In der vorliegenden Biographie vereinen sie ihr Fachwissen in einem beispielhaften Unterfangen, biographische Details, musikalische Analyse und diskographische Recherche zusammenzubringen. Rehak fand 1969 die Mutter Navarros und konnte so die Kindheit und Jugend des Trompeters sorgfältig recherchieren. Navarro wurde 1923 in Key West geboren. In der Schule begann er Trompete zu spielen, tourte mit Freunden und spielte in Hotels und Kaschemmen. 1941 wurde er Mitglied der Territory Band von Sol Albright in Orlando, später im selben Jahr spielte er in der Band von Snookum Russell in Indianapolis, in der er neben dem Posaunisten J.J. Johnson saß. Von 1943 bis 1945 wirkte er in Andy Kirks Band, in der auch Howard McGhee spielte, und war 1945 mit Coleman Hawkins auf der 52nd Street in New York zu hören. In New York hörte er Dizzy Gillespie, von dem er so begeistert war, dass er dessen Soli Ton für Ton nachspielen konnte. Im Frühjahr 1945 ersetzte er Gillespie in der Band Billy Eckstines. Nach diversen Bigbands war er ab 1946 in kleineren Besetzungen zu hören, etwa von Hawkins, Kenny Clarke oder Eddie Lockjaw Davis. Anfang 1947 spielte er mit der Illinois Jacquet Big Band, ab Herbst des Jahres erschienen dann seine ersten Aufnahmen unter eigenem Namen, die er für das Blue Note-Label einspielte. Er war mit Tadd Dameron zu hören und mit Allstar-Bands um Hawkins oder Lionel Hampton und wurde 1948 Mitglied des Septetts Benny Goodmans, der damals versuchte auf den Zug des modernen Jazz aufzuspringen. 1949 war Navarro bei Bud Powells legendärer Plattensitzung für Blue Note mit dabei und trat 1949 im Birdland mit Charlie Parker auf. Er war damals bereits schwer heroin-abhängig und litt außerdem an fortgeschrittener Tuberkulose, an der er am 6. Juli 1950 verstarb. Petersen und Rehak teilen sich die Arbeit: Rehak erzählt die Lebensgeschichte, sorgfältig recherchiert, gewürzt mit Interviews von Zeitzeugen und Musikerkollegen, Petersen liefert die zwischen die Kapitel geschaltete Diskographie, die allerdings weit mehr ist als eine herkömmliche Diskographie, nämlich zugleich analytische Anmerkungen und Transkriptionen vieler Soli des Trompeters enthält. Für jeden ist etwas dabei, und besser ist es wohl kaum zu machen. Ein mehr als lobenswerter jazzhistorischer Wurf der Buchrreihe, die vom Institute of Jazz Studies an der Rutgers University betreut und herausgegeben wird.

(Wolfram Knauer)


 

Die Stimme im HipHop. Untersuchungen eines intermedialen Phänomens
Herausgegeben von Fernand Hörner & Oliver Kautny
Bielefeld 2009 (transcript)
Reihe Studien zur Popularmusik
210 Seiten, 22,80 Euro
ISBN: 978-3-89942-998-5

2009hoernerSchon lange ist HipHop kein Jugendphänomen allein mehr, schon lange spielt er nicht mehr nur in der Subkultur Afro-Amerikas ab. HipHop ist ein weltweites genreübergreifendes Phänomen geworden, das insbesondere jungen Menschen die Möglichkeit gibt, ihre Kreativität in musikalische Äuzßerungen umzusetzen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes untersuchen, welche Rolle dabei die Stimme spielt, und was Stimme über die Worte hinaus, die mit ihr gesungen und gerapt werden, an Informationen gibt. Murray Forman untersucht dabei, wie vokale Intonation im Rap mit der Konstruktuon symbolischer Werte und sozialer Bedeutungen korreliert. Christian Bielefeldt geht auf die konkreten Inhalte ein, die sich klischeehaft in vielen Rap-Lyrics finden und stellt die beiden Narrative von Black Dandy und Bad Nigga gegenüber. Johannes Ismaiel-Wendt und Susanne Stemmler befassen sich mit der Musik des kanadisch-somalischen MCs K’Naan, dessen Lieder den Hörer im Ineinandergreifen von Stimme, Text, Musik und biographischer Information mit einer Vorstellung von Afrika verbinden, die dem Sänger vorschwebt. Fernand Hörner analysiert den Videoclip “Authentik” der französischen HipHop-Band Suprême NTM. Stefan Neumann schaut auf die HipHop-Skits, die gesprochenen Worte, die sich oft zwischen den Tracks von HipHop-Alben finden. Oliver Lautny untersucht “Flow” als ein rhythmisches Phänomen zwischen Worten, Reimen und Musik. Dietmar Elflein untersucht fünf HipHop-Beats auf die Beziehungen zwischen Beat, Sound und Stimme. Das Buch versammelt dabei sowohl musikwissenschaftliche wie auch allgemein kulturwissenschaftliche und soziologische Ansätze, ist nicht als Einführung ins Thema gedacht, bietet stattdessen jede Menge interessanter Einblicke in ein Forschungsgebiet, das dem Jazz gar nicht ganz so entfernt ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.

(Wolfram Knauer)


 

Jazz behind the dikes. Vijfenachtig jaar schrijven over jazz in Nederland
von Walter van de Leur
Amsterdam 2009
Vossiuspers UvA / Amsterdam University Press
28 Seiten, 8,50 Euro
ISBN: 978-9-056-29555-4

2009vandeleurDas kleine Büchlein der Amsterdam University Press enthält die Antrittsvorlesung Walter van de Leurs als Professor für Jazz und Improvisationsmusik an der Universität Amsterdam im Juni 2008. In ihr beleuchtet er 85 Jahre Schreiben über Jazz in den Niederlanden. Es begann alles Mitte der 1920er Jahre, als erst James Meyer, später die Original Ramblers in Holland zu Popularität gelangten und der Jazz mehr und mehr zu einem berichtenswerten Thema wurde. 1931 rief der Altsaxophonist Ben Bakema die Zeitschrift “De Jazzwereld” ins Leben, die bis 1940 erschien und sich selbst als holländischer “Melody Maker” verstand. 1949 erschien Hans de Vaals Buch “Jazz, van Oerwoudrhythme tot Hollywoodsymphonie”, das doch eine recht eingeschränkte Vorstellung von dem widerspiegelt, was Jazz ausmacht und insbesondere den Bebop als definitive Degeneration der ursprünglichen Jazzmusik verteufelte. Solche Sichtweisen, meint Van de Leur, sagen dabei ja durchaus etwas über Rezeptionshaltungen und ästhetische Diskussionen der Zeit aus. Zwei jüngere Studien zum Jazz in den Niederlanden von Kees Wouters und Henk Kleinhout untersuchen die Früh- und Nachkriegsgeschichte des Jazz in den Niederlanden; eine Studie zur Jazzkritik in den Niederlande allerdings, die dem entsprechen könnte, was John Gennari in seinem Buch “Blowing Hot and Cool. Jazz and its Critics” für die USA vorgelegt hat, fehle bislang noch. Die letzten vierzig Jahre des niederländischen Jazzlebens seien aber überhaupt kaum wissenschaftlich (oder mit der notwendigen kritischen Distanz) bearbeitet worden, auch Kevin Whitehead’s “New Dutch Swing” enthalte nicht viel mehr als ein atmosphärisches Bild der Amsterdamer Szene. Jazzjournalistik sei in den Niederlanden wie anderswo auch ein oft von Laien und Liebhabern beackertes Feld; Journalisten, die mit tatsächlichem journalistischem Ethos an ihre Arbeit gehen, von der Sache etwas verstehen und zugleich die notwendige kritische Distanz besitzen, seien eher selten. Aber wie solle das auch anders sein, wo doch selbst die Musiker des Jazz anfangs höchstens in anderen Bands, Workshops etc. Unterricht erhalten haben, ihren eigenen Weg aber selbst suchen mussten. Auch auf der Hochschule lerne man höchstens das Handwerk, den eigenen Weg müsse man auch hier selber finden. Nicht anders, scheint sein Fazit, sei es wohl, wenn man über Jazz schreiben wolle. Der Lehrstuhl jedenfalls, den Van de Leur an der Universität von Amsterdam angetreten hat, soll auch dabei helfen, das Denken, Forschen und Schreiben über Jazz und improvisierte Musik in den Niederlanden zu verbessern.

(Wolfram Knauer)


 

Blue Note Photography: Francis Wolff / Jimmy Katz
herausgegeben von Rainer Placke & Ingo Wulff
Bad Oeynhausen 2009
jazzprezzo
204 Seiten, 2 CDs, 70 Euro
ISBN: 978-3-9810250-8-8

2009bluenoteVor 70 Jahren erschien die erste Platte des Labels Blue Note, gegründet von den beiden in Deutschland geborenen Exilanten Alfred Lion und Francis Wolff. In diesem Jahr häufen sich also die Jubelfeierlichkeiten, und es ist irgendwie vielleicht ganz passend, dass das Hauptwerk hierzu aus einem deutschen Verlag stammt, herausgegeben von zwei ästhetischen Überzeugungstätern, die darin den gründern von Blue Note ganz ähnlich sind, die auch nur aufnahmen, was ihnen gefiel. Francis Wolff war nicht nur Eigner des Labels, sondern zugleich Fotograf, und seine sicht der Musiker bestimmt bis zum heutigen Tag die visuelle Vorstellung jener legendären Aufnahmen insbesondere aus den 1950er und 1960er Jahren. Placke und Wulff sichteten hunderte von Kontaktbögen und wählten Fotos aus, in denen sich entweder die Atmosphäre der Aufnahmesitzungen besonders gut mitteilt oder aber in denen Francis Wolff Musiker inner- oder außerhalb des Studios in ungewöhnlichen Settings zeigte. Es sind Fotos, die Jazzgeschichte schrieben, Fotos, die aussehen wie solche, die Jazzgeschichte schrieben (weil sie von derselben Fotosession stammen) und Fotos, die man noch nie gesehen hat, die aber gerade in der Bündelung dieses Buchs die Menschen dahinter, die Musiker, ihre Kunst und künstlerische Verletzlichkeit näherbringen. Eine Aufnahmesitzung von 1946, bei der sich Sidney Bechet und Albert Nicholas gegenüberstehen, aufmerksam, konzentriert, aber offensichtlich noch nicht bei der Aufnahme. Miles Davis mit übereinandergeschlagenen Beinen und leicht zur Seite gelegtem Kopf. Davis, der J.J. Johnson eine Stelle auf dem Klavier vorspielt. Clifford Brown, konzentriert in die Trompete blasend, Bud Powell, aufmerksam zuhörend. Jimmy Smith, rauchend und lachend (einem Playback zuhörend?). Thad Jones in die Ferne blickend zwischen parkenden Autos oder, in einem anderen Bild, an ein Straßenschild lehnend. Paul Chambers mit Bass vor dem Alvin Hotel. Max Roach, konzentriert Stöcke balancierend hinter seinem Schlagzeugset. Sonny Rollins, ein wenig ermüdet im Rudy van Gelder Studio. Mittagsause auf dem Hof des Studios mit Clifford Jordan, Lee Moran und anderen. Donald Byrd, der einem kleinen Kind seine Trompete zeigt. John Coltrane, konzentriert zuhörend. Bud Powell im Auto, Noten studierend, mit seinem Sohn. Lou Donaldson im Park, Jackie McLean mit einem Kapuzineräffchen oder an einer Pariser Metrostation, Dexter Gordon in der Kutsche. Der blutjunge Tony Williams hinterm Schlagzeug, Wayne Shorter, nachdenklich auf seinem Instrumentenkoffer sitzend, Dexter Gordon mit einer Zeitungsverkäuferin flirtend. Elvin Jones mit nacktem Oberkörper und sichtichem Spaß an der Musik, Herbie Hancock auf dem Boden liegend, rauchend, entspannend. Cecil Taylor, Ornette Coleman, Don Cherry, Pharoah Sanders. Namen, Gesichter, Instrumente, Sounds. Es ist erstaunlich von welcher bildlichen Qualität diese Fotos zeugen, die die Musiker als Menschen zeigen, kritisch, meditativ, reflexiv, in einem kreativen Prozess, der dauernde Aufmerksamkeit erfordert. Jimmy Katz hat seit den frühen 1990er Jahren Fotos für das wiederbelebte Blue-Note-Label gemacht. Und auch wenn er nicht vom Fotografen Francis Wolff beeinflusst ist, so stammen seine Bilder doch aus einem ähnlichen Geiste: Auch er versucht die Persönlichkeit einzufangen, die Magie der Musik, wie sie sich in der Haltung und den Gesichtern der Musiker widerspiegelt. Einige Musiker begegnen uns in seinen Bildern wieder, etwa Elvin Jones, Andrew Hill oder Max Roach. Andere lassen uns vergegenwärtigen, dass diese lange Tradition noch immer lebt: dass der Jazz fortbestehen wird, solange es kreative Musiker gibt. Das Buch wird angerundet durch Artikel von Michael Cuscuna, Ashley Kahn, Bruce Lundvall, Rudy Van Gelder und Jimmy Katz. Zwei CDs geben einen Querschnitt durch die Blue-Note-Plattengeschichte von Albert Ammons und Meade Lux Lewis über Sidney Bechet, Thelonious Monk, Bud Powell, Art Blakey, John Coltrane, Herbie Hancock bis zur jungen Blue-Note-Generation, Cassandra Wilson, Jacky Terrasson, Joe Lovano, Greg Osby oder Dianne Reeves. Ein mächtiges Buch, ein schweres Buch, und irgendwie schon jetzt ein Buch des Jahres. Mit Liebe zusammengestellt; von Ingo Wulff verlässlich hervorragend gestaltet, auf schwerem Papier gedruckt. Weihnachtsgeschenk? Weihnachtsgeschenk!

(Wolfram Knauer)


 

Heiko Ueberschaer (Herausgeber)
The German Real Book Vol. I
Schiffdorf Wehdel 2009
Nil Edition
keine Seitenzählung, 39,90 Euro
keine ISBN-Nummer

2009germanrealbookDas Real Book ist seit Jahrzehnten unverzichtbares Hilfsmittel für Jazzmusiker, wenn sie erfolgreich Gigs oder Jam Sessions bestreiten wollen. Ursprünglich war es eine klug zusammengestellte Sammlung der wichtigsten Standards; bald aber gab es spezielle Real Books, die insbesondere versuchten neben den althergebrachten Musical-Kompositionen auch Kompositionen aktueller Musiker zu präsentieren und so vielleicht auch das allgemein verwendete Repertoire des Jazz ein weing zu aktualisieren und erneuern. Es gab spezielle Real Books, die sich besonderen Stilen zuwandten (Latin Real Book) und solche, die Kompositionen von regionalen Musikern vorstellten. Einige Beispiele für nationale Real Books existieren auch bereits, so etwa ein Swiss Real Book und selbst ein Hamburg Real Book. Nun hat der Nil Verlag mit dem German Real Book nachgezogen. Wo man im originalen Real Book jeden der Titel kennt, weil er sich über Generationen ins Repertoire gebrannt hat, da gehen solche Spezial Real Books den genau umgekehrten Weg: Die in ihnen enthaltenen Kompositionen sind wahrscheinlich den wenigsten bekannt, sollen ja erst durch die Sammlung die Hoffnung darauf, dass das Repertoire bei Sessions oft gespielt wird und sich dadurch Lieblingstitel herausmendeln zu zumindest nationalen Standards werden. Die Komponisten des German Real Books stammen zumeist aus der jüngeren Generation; die Heroen des deutschen Jazz der 1950er, 1960er oder 1970er Jahre also sucht man vergebens. Clemens Orth Jan Klare, Jörg Widmoser, Marco Piludu, Achim Kück, Peter Autschbach, Martin LeJeune, Massoud Goudemann, Dirik Schilgen, Ralph Abelein, Christian Ammann, Andreas Hertel, Michael breotenbach und etliche andere sind mit bis zu drei Titeln vertreten; insbesamt umfast das Buch immerhin 125 Kompositionen deutscher Komponisten und Komponistinnen. Nur elf davon übrigens haben einen deutlich als deutsch erkennbaren Titel; der rest meist englische Überschriften. Es gibt, wie nicht anders zu erwarten, Lead Sheets mit Harmoniesymbolen und einige kleine Arrangements, einfachere Themen, die den üblichen Formschemata gehorchen (Blues, 32-Takte etc.), aber auch komplexere, mehrteilige Stücke, die allerdings eher den kleineren Teil des Buchs ausmachen. Wie gesagt: Was davon wirklich zu deutschen Standards werden kann bleibt abzuwarten und wird sich aus der Akzeptanz bei den Jazz Sessions in den Clubs ergeben. Eine gelungene Edition ist das Buch allemal und es bleibt zu hoffen, dass verschiedene Clubs vielleicht ab und an German Real Book Jam Sessions einführen, bei denen dieses Buch als Vorlage für den Abend dient und die Musiker sich der Musik ihrer Kollegen annehmen.

(Wolfram Knauer)


 

Heinz Protzer
Attila Zoller. Sein Leben – Seine Zeit – Seine Musik. Mit einer Diskographie von Dr. Michael Frohne

Erftstadt 2009
Selbstverlag des Autors
334 Seiten, 22,50 Euro
ISBN: 978-3-00-026568-6
zu beziehen über den Buchhandel oder direkt beim Autor: zollerbuch@prohei.de.

2009protzerAttila Zoller gehört zu wichtigsten europäischen Gitarristen der 1950er und 1960er Jahre und hat auch nach seinem Umzug in die USA konsequent eine ästhetisch suchende Haltung verfolgt, die das Risiko und das Suchen nach neuen Wegen der Sicherheit und den ausgetretenen Pfaden vorzog. Heinz Protzer würdigt Leben und Musik dieses ungaro-austro-deutsch-amerikanischen Musikers in einem umfangreichen Buch, in dem auch Kollegen und Zeitzeugen ausführlich zu Wort kommen. Bis 1948 lebte der 1927 geborene Attila Zoller in Ungarn, wo er traditionelle Musik spielte, aber etwa um 1946/47 auch zum ersten Mal Jazz hörte. 1948 ging er nach Wien, wo er endgültig zum Jazz konvertierte. Er spielte mit Joe Zawinul, Hans Koller und vor allem mit der Vibraphonistin Vera Auer, in deren Quartett er einige Jahre lang mitwirkte. 1954 zog es ihn nach Deutschland, wo es vor allem in den US-Army-Clubs viel Arbeit gab. Zoller wurde in die Frankfurter Jazzszene aufgebommen, mit deren Musikern er auch ästhetisch einiges gemeinsam hatte: das Interesse an musikalischen Experimenten à la Lennie Tristano beispielsweise. Bald spielte er mit Jutta Hipp, dann mit dem New Jazz Ensemble Hans Kollers, lebte ein Nomadenleben im Untergrund der Jazzszene. 1958 gründete er ein Quartett zusammen mit dem damals in Baden-Baden lebenden Bassisten und Cellisten Oscar Pettiford, dem außerdem Koller und der Schlagzeuger Jimmy Pratt angehörten. 1959 erhielt Zoller durch Fürsprache seines Kollegen Jim Hall ein Stipendium für die School of Jazz in Lenox, eine Art Jazz-Sommerakademie und erreichte das Ursprungsland des Jazz im Spätsommer 1959. Dort war er auch seiner Verlobten Jutta Hipp wieder nahe — die Beziehung ging allerdings bald darauf in die Brüche und er spielte sogar mit dem Gedanken, nach Deutschland zurückzukehren. Allerdings lernte er bald darauf eine andere Frau kennen, die er im Februar 1960 heiratete. Er spielte in den New Yorker Clubs, arbeitete als Vertreter für die Gitarrenbaufirma Framus, wirkte in den Bands von Herbie Mann und Dave Pike mit. Zwischendurch reiste er immer wieder mal nach Europa, erhielt 1965 einen Preis für seine Musik zum Film “Das Brot der frühen Jahre” nach Heinrich Böll und spielte die vielgerühmte Platte “Heinrich Heine – Lyrik und Jazz” ein. Ende der 1960er Jahre nahm er ein vielbeachtetes Album mit Albert Mangelsdorff und Martial Solal auf und baute in den 1970er Jahren in Vermont, wo er sich niedergelassen hatte, eine Art Jazzschule auf. In den 1970er bis 1990er Jahren arbeitete er mit vielen unterschiedlichen Musikern, litt aber nach 1994 stark unter einer Krebserkrankung, an der er am 25. Januar 1998 verstarb. Protzer hat die Lebensgeschichte des Gitarristen sorgfältig recherchiert und reichert sie um Interviewausschnitte sowohl mit Zoller als auch ihm verbundenen Musikern an. Ein als “Chronik” überschriebener Teil des Buch stellt die Biographie in Beziehung zu allgemein- und musikgeschichtlichen Ereignissen und Entwicklungen der Zeit. Im Kapitel über seine Musik zitiert er vor allem Kritiken und andere Literaturl, die Zollers musikalische Leistungen würdigt, beschreibt aber nicht wirklich die musikalischen Besonderheiten in seinem Spiel. Es gibt ein Kapitel zur Filmmusik — neben dem “Brot der frühen Tage” schrieb Zoller etwa auch die Musik zu “Katz und Maus” nach Günter Grass –, ein Kapitel über Zoller, den Innovator, und eines über den Pädagogen und Gründer des Vermont Jazz Center. Außerdem finden sich Originalbeiträge von Zeitzeugen und Musikern, Würdigungen von Alexander Schmitz, Gudrun Endress, Jimmy Raney, Sandor Szabo, Klaus Doldinger, Lajos Dudas, Willi Geipel, Helmut Nieberle, Fritz Pauer, Aladar Pege, Werner Wunderlich, Matthias Winckelmann und Ingeborg Drews. Am Ende des Buchs steht eine von Michael Frohne zusammengestellte umfassende Zoller-Diskographie, die Aufnahmen von 1950 bis 1998 verzeichnet. Ein Personenindex und etliche zum Teil seltene und bislang unveröffentlichte Fotos runden das Buch ab, das nicht nur eine große Verbeugung vor Attila Zoller, dem innovativen Gitarristen darstellt, sondern auch ein Beitrag zur europäischen Jazzgeschichte und zur (noch ungeschriebenen) Geschichte europäischer Expatriates in den USA ist.

(Wolfram Knauer)


 

Andrew Wright Hurley
The Return of Jazz. Joachim-Ernst Berendt and West German cultural change

New York 2009
Berghahn Books
296 Seiten, 58 US-Dollar
ISBN: 978-1-84545-566-8

2009hurleyJoachim Ernst Berendt wurde oft als der “Jazzpapst” beschrieben, und tatsächlich war sein Einfluss so allumfassend, dass über all die Jahre keine Veröffentlichung aus Deutschland sich kritisch würdigend mit seiner Rolle in der deutschen Nachkriegs-Jazzgeschichte befasst hat. Vielleicht bedurfte es des Blicks von außen, und vielleicht ist es symptomatisch, dass das erste Buch, die erste Studie über Berendt den Kritiker, Produzenten, Macher und Philosophen von einem Forscher stammt, dessen Arbeitsmittelpunkt so weit von Deutschland entfernt liegt wie nur irgend möglich: vom Australier Andrew Hurley. Hurley hat das Jazzinstitut Darmstadt für das vorliegende Buch öfters und ausgiebig besucht, in Berendts Papieren und Korrespondenz gewühlt und mit vielen Musikern und Kollegen des Jazzpapstes gesprochen. Ihm ist dabei eine Studie gelungen, die sich mit fast allen Aspekten des Berendtschen Schaffens auseinandersetzt: mit Religion, Politik, Rassismus, Antifaschismus, Weltoffenheit, mit musikalischer Neugier, Machtbewusstsein und einem durchaus manchmal übersteigerten Selbstbewusstsein, mit seiner Selbsteinschätzung als Neuerer und Ermöglicher, als Verteidiger einer neuen Kunst gegen den Zopf der alten Meinungen Europas. Hurley beschäftigt sich dabei mit Berendt genauso wie mit seinen Kritikern, klopft die Argumente auf beiden Seiten auf die tatsächlichen Entwicklungen und ihre Folgen ab und zeichnet dabei das Bild eines kreativen Musikimpresarios, dessen Entwicklung folgerichtig von seinen Jugenderfahrungen im kirchlichen Elternhaus und mit den Folgen des Nazi-Reichs über die Entdeckung einer Individualismus predigenden Musik hin zu weltmusikalischer Neugier und schließlich zu einer körper-klang-orientierten Suche nach dem Sinn von Leben und Sein führt, alle Etappen tief in musikalischen Erfahrungen getränkt, aus denen er seine eigenen Erklärungsversuche abzuleiten verstand. Das Buch ist eine historische Dissertation und dennoch spannend zu lesen, vielleicht gerade wegen des Blicks von außen, der manchmal mehr Klarheit erlaubt als es vielleicht uns möglich ist, deren aller erstes Jazzbuch das Berendtsche war. Das Jazzinstitut wird des öfteren erwähnt, weil es Berendt verbunden bleibt und hier der Berendtsche Nachlass seinen Platz fand. Das Vorwort stammt von Dan Morgenstern, dem Direktor des Institute of Jazz Studies, der zugleich Berendts Jazzbuch ins Englische übersetzte. Das Nachwort stammt von Wolfram Knauer, der einen Blick auf die Bedeutung Berendts für den deutschen Jazz bis heute wirft.

(Wolfram Knauer)


 

Roy Nathanson
subway moon

Köln 2009
buddy’s knife jazzedition
135 Seiten, 16,00 Euro
ISBN: 978-3-00-025376-8

2009nathansonDer kleine Kölner Verlag buddy’s knife hat sich darauf spezialisiert, poetische Texte insbesondere amerikanischer Musiker herauszubringen, die eine andere Seite ihrer Kreativität zeigen. Nach Bänden mit Gedichten von Henry Grimes sowie Gedichten und Texten von William Parker ist jetzt ein Band erschienen, in dem der Saxophonist Roy Nathanson zu Worte kommt. Seine Musik, schreibt Jeff Friedman im Vorwort, sei ohne seine Lyrik nicht vorstellbar und seine Lyrik lebe von den Rhythmen seiner Musik. Man denkt ein wenig an Lester Youngs Diktum, er kenne alle Texte zu den Songs, die er interpretiere und könne sich gar nicht vorstellen, wie man ohne die Kenntnis der Texte kongeniale Geschichten darüber improvisieren könne. Wenn Musik nun das Leben widerspiegelt, dann sind die Texte der Improvisationen Nathansons vielleicht die Worte, die er hier anordnet, um sie lyrisch seine eigene Befindlichkeit beschreiben zu lassen. Nathanson, der aus der Knitting-Factory-Szene New Yorks stammt und mit den Jazz Passengers, mit Projekten mit Anthony Coleman und eigenen Bands arbeitete, schreibt Gedichte über sein Instrument, darüber, wie er Drittklässler unterrichtet oder über die Soundanlagen in Clubs. Er fragt in einem seiner Gedichte, ob es wohl eine Formel gibt, wie man eine Geschichte entwickeln kann, wenn sie sich bereits in voller Geschwindigkeit befindet. Oder er fragt sich, auf welche Tonhöhe wohl die U-Bahn gestimmt sein möge. Andere Gedichte spiegeln sein privates Leben wider oder die politischen Entwicklungen in Nah und Fern. Der Tod seines Bruders, die Bombadierung des Libanons, Freundschaft, geliebte Städte, Menschen, Kollegen. Ein Gedicht ist der Zirkularatmung gewidmet, und am Schluss steht ein längerer Text über seinen Vater, wenige Wochen nach dessen Tod geschrieben. Der war an Alzheimer erkrankt, und Nathanson beschreibt, wie er ihm, der früher selbst als Musiker gearbeitet hatte, bei einem Besuch ein Saxophon mitgebracht habe. Er habe geswingt und die Melodie auf eine Art und Weise gespielt, wie Nathanson es selten gehört habe. Diese Konzentration auf die Melodie, die Reduktion aufs Lyrische, das Zusammenspiel zwischen Lyrik, Rhythmik und Melodie — all das spürt man auch in diesem Buch, das überaus persönlich ist und dabei in jeder Zeile auch der Musik verbunden bleibt.

(Wolfram Knauer)


 

Kai Lothwesen
Klang, Struktur, Konzept. Die Bedeutung der Neuen Musuik für Free Jazz und Improvisationsmusik
Bielefeld 2009
transcript Verlag (Studien zur Popularmusik)
261 Seiten, 27,80 Euro
ISBN: 978389942-930-5

2009lothwesenKai Lothwesens musikwissenschaftliche Dissertation befasst sich mit den Einflüssen der europäischen Kunstmusik auf den Free Jazz und die improvisierte Musik. Er untersucht damit eine musikalische Ausprägung, die immer ein wenig in ihrem Bezug auf die afro-amerikanische Tradition und die europäische zeitgenössische Musik schwankte und schon in ihrer Benennung (Free Jazz, improvisierte Musik) leichte identitätsprobleme andeutete. Er beschreibt die Merkmale der europäischen Improvisationsmusik, untersucht das Verhältnis von Komposition und Improvisation, analysiert die Traditionen der Neuen Musik und des Jazz und wagt eine Positionsbestimmung des Free Jazz und der Improvisierten Musik. Einem theoretisch analysierenden Kapitel folgen dann konkrete praktische Fallbeispiele, namentlich die Pianisten Georg Graewe und Alexander von Schlippenbach sowie der Bassist Barry Guy. Zum Schluss vergleicht er die Parameter “Klang”, “Struktur” und “Konzept” auf Parallelen zwischen Neuer Musik und Free Jazz / Improvisierter Musik. Das Buch bietet eine theoretische Grundlage zur weiteren Auseinandersetzung mit den gegenseitigen Einflüssen zwischen Jazz und Neuer Musik.

(Wolfram Knauer)


 

Erik Kjellberg
Jan Johansson – tiden och musiken

Hedemora – Möklinta/Sweden 2009
Gidlunds förlag
442 pages, accompanying CD
ISBN: 978-91-7844-753-4

2009kjellbergJan Johansson gehört zu den einflussreichsten schwedischen Musikern des modernen Jazz. In Kopenhagen begleitete er Ende der 1950er Jahre Stan Getz und andere amerikanische Musiker, beschäftigte sich daneben aber auch damit, einen schwedischen Klang in seiner Musik zu verfolgen. Sein Album “Jazz på Svenska” nutzte alte schwedische Volksweisen für die Arrangements und Improvisationen, die in der Stimmung und Klangästhetik bereits viel von dem vorwegnahmen, was später Musiker wie Esbjörn Svensson als neuen schwedischen Sound populär machen sollten. Erik Kjellbergs Biographie verfolgt Johanssons Leben von seinen Anfängen bis zu seinem frühen Tod durch einen Autounfall. Er beschreibt die musikalische Emanzipation und Selbstbewusstwerdung des schwedischen Musikers, aber auch seine Ausflüge in die Filmmusik (etwa als Komponist von Astrid-Lindgren-Verfilmungen), seine Arbeit fürs schwedische Radio und seine Kompositionen für Besetzungen zwischen Trio, Combo und Sinfonieorchester. Der Fließtext, der das Leben des Pianisten und Komponisten chronologisch und die Musik nach Gattungen getrennt beleuchtet verbindet biographische Forschung, Interviews mit Zeitgenossen und Musikerkollegen sowie musikalische Analysen ausgewählter Stücke, die mit leräuternden Notenbeispielen verbunden sind. Bislang unveröffentlichte Fotos, eine ausführliche Diskographie sowie ein Namens- und Titelindex und schließlich eine CD mit Aufnahmen zwischen 1963 und 1968 runden das Buch ab, für das der Leser des Schwedischen schon einigermaßen mächtig sein sollte. Eine eindrucksvolle und beispielhafte Monographie eines bis heute nachwirkenden Musikers.

(Wolfram Knauer)

[:de]Neue Bücher 2010[:en]New Books 2010[:]

[:de]Louis Armstrong
von Wolfram Knauer
Stuttgart 2010 (Reclam Verlag / Universal Bibliothek)
216 Seiten, 5,80 Euro
ISBN: 978-3-15-018717-3

2010knauerHier mal keine Kritik sondern einfach ein Hinweis auf eine neue Reihe der legendären Reclam-Universal-Bibliothek, die sich einigen der großen Jazzmusiker widmet. Der erste Band dieser Reihe beschäftigt sich mit Leben und Werk Louis Armstrongs und versucht, seiner Biographie anhand seiner Musik näherzukommen. Der Autor ist “Yours Truly”, daher sei mit pseudo-kritischem Lob gespart und stattdessen einfach ein Statement desselben abgedruckt:

“Vor einigen Jahren veröffentlichte der Reclam-Verlag seine Reihe ‘Jazz-Klassiker’, herausgegeben von Peter Niklas Wilson, der die dafür verpflichteten Autoren bat, die Biographien der ihnen zugewiesenen Musiker entlang ihrer Musik zu beschreiben, allgemein verständlich und doch immer wieder mit den offenen Ohren des kritisch Zuhörenden. Ich durfte für die ‘Jazz-Klassiker’ einige Kapitel schreiben, vor allem über Musiker aus der frühen Zeitspanne der Jazzgeschichte. Vor zweieinhalb Jahren dann fragte der Reclam-Verlag an, ob ich nicht aus meinem Armstrong-Kapitel ein Buch für die neue Jazz-Biographien-Reihe des Verlags machen könnte. Die Anfrage kam etwa zeitgleich zu meiner Berufung auf die Louis Armstrong-Professur an der Columbia University in New York, eine Gastprofessorenstelle, die ich im Frühjahr 2008 innehatte und die aus dem Nachlass des Trompeters finanziert wurde. Wenn auch meine Professur außer dem Titel nichts mit Armstrong zu tun hatte (ich unterrichtete über ‘Jazz in Europe / European Jazz’), so sah ich in der Anfrage des Reclam-Verlags doch auch eine Chance, mich ganz persönlich zu bedanken für die große Ehre, und mich einmal mehr und noch intensiver in die Musik des Trompeters und Sängers einzuhören.

Das resultierende Buch soll damit nicht einfach nur ‘eine weitere Biographie’ Armstrongs sein, sondern sein Leben entlang seiner Musik nachzeichnen, denn wie in aller Kunst ist auch im Jazz das eine ohne das andere nicht vorstellbar: Die Lebensumstände bestimmen, wo es langgeht in der Musik, und die Musik erlaubt oft genug einen tiefen Einvlick in die Persönlichkeit des Musikers. In meiner Biographie Armstrongs versuche ich solche Bezugslinien aufzuzeigen, höre genau hin und versuche durch die erklingenden Töne hinter all das zu kommen, was man über den Trompeter weiß. Ich zeichne dabei das Bild eines bescheidenen Virtuosen, eines politik-bewussten Entertainers, eines volksnahen Stars, dem es selbst in den kitschigsten seiner Aufnahmen gelang, die Würde der musikalischen Eigenständigkeit zu bewahren. Ich erzähle sein Leben entlang der Geschichte des 20sten Jahrhunderts genauso wie entlang der Jazzgeschichte, beschreibe den Mythos, der ihn umgab, und vor allem seine improvisatorische Meisterschaft, die vor allem anderen stand und ihm und seiner Musik überall auf der Welt Freunde einbrachte.

Louis Armstrong ist so alt wie der Jazz. Geboren am 4. August irgendwann um 1900, war und blieb er bis heute das Markenzeichen der großen klassischen afroamerikanischen Musik, ein Mythos, den auch Uneingeweihte kennen und respektieren (‘What a Wonderful World’…). Ein Mensch, dessen Lebensgeschichte die Emanzipation der schwarzen Amerikaner verkörperte, dessen trompetenspiel die improvisierende Phantasie in die Musik zurückbrachte, dessen Ton und Swing im kulturellen Gedächtnis der Welt aufbewahrtliegt.”

(Wolfram Knauer, Februar 2010)


 

Unternehmerisches Kulturengagement am Beispiel der Musikförderung der Škoda Auto Deutschland GmbH
von Uwe Wagner
Leipzig 2013 (Leipziger Universitätsverlag)
138 Seiten, 28,00 Euro
ISBN: 978-3-86583-407-2

2010wagnerSponsoring wird zu einem immer wichtigeren Standbein kultureller Aktivitäten. Der Jazz hat es dabei scheinbar schwer, ist seine Hörerschaft doch weit individualistischer, weniger gruppenkonform zu klassifizieren als die anderer Genres. Er konkurriert zudem mit breiter verankerten Musikrichtungen und nicht zuletzt mit dem Sport um die Gunst der Sponsoren. Uwe Wagner will in seiner Studie die Grundlagen kulturellen Sponsorings genauso wie die Motivation für Unternehmen ergründen, sich im Kultursektor zu engagieren. In einem Fallbeispiel fragt dabei insbesondere nach der Attraktivität des Jazz für unternehmerische Kulturförderung.

In seinem begriffsklärenden Eingangskapitel unterscheidet Wagner zwischen Kultursponsoring, Mäzenatentum und Spendenwesen und stellt das Konzept der Corporate Cultural Responsibility vor. Er fragt nach Gründen, die Unternehmen haben könnten, sich in Kulturprojekte einzubringen, Gründe, die genauso markt- und markenbezogen sein können wie gesellschaftsbezogen oder auch ganz persönlich. Er nennt Beispiele für gelungene Sponsoringaktivitäten, bei denen sich eine Affinität zwischen Sponsor und unterstütztem Projekt findet.

Für die Musik gliedert er die Förderbereiche vor allem nach Kategorien der Professionalität, also Spitzenstars, “Leistungsebene” der Professionals sowie breite Basis der Laienmusik. Er nennt Beispiele musikalischen Sponsorings aus den Bereichen Klassik, Jazz und Pop und fragt bei all diesen Beispielen nach den möglichen Beweggründen. Er stellt verschiedene Modelle vor, die von der Förderung von Nachwuchskünstlern über Sachmittel bis hin zu eigener Veranstaltungstätigkeit reichen. Wichtig für eine beide Seite zufrieden stellende Kooperation sei die Einigkeit über die angezielte und die tatsächliche Zielgruppe. In einem Unterkapitel beschreibt Wagner dabei auch die Risiken unternehmerischer Förderung, die sowohl im Glaubwürdigkeitsverlust stecken, wenn nämlich Förderer und gefördertes Projekt nicht zusammenpassen, als auch in der ungewollten Substitution öffentlicher Mittel.

Den praktischen Teil seiner Arbeit widmet Wagner dann der Kulturförderung der Škoda Auto Deutschland GmbH. Er beschreibt die Förderkriterien des Konzerns, die bisherigen Förderbereiche und die unternehmerischen Erwartungen an eine Förderung im Kultursektor. Er beschreibt Škodas Aktivitäten im Jazzbereich und den Versuch einer internen Verankerung des kulturellen Engagements, also einer Identifikation auch der Mitarbeiter mit den geförderten Jazzprojekten. Einen Fokus legt er auf den Škoda-Jazzpreis als ein Best-Practice-Beispiel.

Recht nüchtern liest sich der Abgleich möglicher unternehmenspolitischer Ziele, wie er sie anfangs in seinem Buch diskutierte, mit der konkreten Jazzförderung durch Škoda. Insgesamt, stellt Wagner fest, nähme das Kultursponsoring in den letzten Jahren im Vergleich zur Förderung anderer Bereiche eher ab. Grundlage jeder kulturellen Partnerschaft in diesem Bereich, resümiert er, sei ein hohes Maß an Engagement von beiden Partnern.

Wagners Buch ist kein Leitfaden für Kultursponsoring, aber in seiner allgemeinen Analyse und anhand des von ihm gewählten Fallbeispiels ein wichtiges Buch, anhand dessen sich die Chancen genauso wie die Probleme einer Kulturpartnerschaft ablesen lassen. Die wissenschaftliche Herangehensweise erlaubt eine nüchterne Analyse der gegenseitigen Erwartungen und damit vielleicht tatsächlich eine Partnerschaft, die mehr ist als “Geldgeber hier, Künstler dort”.

Wolfram Knauer (Oktober 2013)


 

Stan Kenton. This Is an Orchestra!
von Michael Sparke
Denton/TX 2010 (University of North Texas Press)
345 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-57441-284-0

2010sparkeStan Kenton war sicher einer der umstritteneren Pianisten und Bandleadern der Jazzgeschichte. Sein Orchester gehörte zu den erfolgreichsten Bands der 1940er und 1950er Jahre; Kenton selbst ermutigte Arrangeure, avancierte Kompositionen zu realisieren, und half dadurch dabei mit, dem Jazz den Weg vom Ball- in den Konzertsaal zu ebnen. Nicht zuletzt beschäftigte er einige der einflussreichsten jungen Musiker, die aus der Arbeit in seiner Band heraus ihren Weg gingen.

Michael Sparke erzählt in diesem Buch die Geschichte Kentons von seiner Geburt wahrscheinlich im Februar 1912 (die Geburt wurde von der Familie vordatiert, um sie ehelich zu machen) bis zu seinem Tod im Jahre 1979. Der private Kenton bleibt dabei eher außen vor; denn Sparke geht es um den Bandleader. Sparke lässt die musikalische Karriere Kentons chronologisch Revue passieren. Sein erstes Kapitel beginnt gleich mit dem Engagement der Band im Renaissance Ballroom im kalifornischen Balboa im Jahr 1941. Weiter geht’s von Hollywood nach New York und durch die Jahre als Swing- und Tanzorchester. Wir lesen über die Arrangements von Pete Rugolo, über das Artistry of Rhythm-Orchestra, über die Vermarktung des “progressive jazz” und über Kentons riesige Erfolge im Europa der 1950er Jahre. Wir erfahren von Experimenten mit klassischem Repertoire oder lateinamerikanischer Musik, vom Neophonic Orchestra, dem eigene Plattenlabel, und Kentons Rock-Experimenten in den 1970ern. Sparke beleuchtet die verschiedenen Phasen seiner Entwicklung durch Erinnerungen der beteiligten Musiker und hinterfragt die veröffentlichten Alben in Hinblick auf kommerziellen Erfolg und musikalischen Gehalt.

Das liest sich fließend, gerade weil Sparke etliche Anekdoten einfließen lässt, doch auch etwas langatmig, weil das Buch sich zu stark von Album zu Album, von Tournee zu Tournee hangelt. Eine kritische Einordnung Kentons Musik in die Jazzgeschichte fehlt gänzlich, und so ist dies Buch vor allem ein Werk für Kenton-Liebhaber und -Sammler, die gewiss die eine oder andere anderswo nicht erwähnte Geschichte finden und sich freuen werden, Kentons Biographie so konzis und umfassend dargestellt zu sehen.

Wolfram Knauer (Juli 2013)


 

Jazz Icons. Heroes, Myths and the Jazz Tradition
von Tony Whyton
Cambridge 2010 (Cambridge University Press)
219 Seiten, 95 US-Dollar
ISBN: 978-0-52189-645-0

2010whytonIn der Jazzforschung spricht man seit einiger Zeit von “New Jazz Studies”, von analytischen, ästhetischen und soziologischen Herangehensweisen an den Jazz, die sowohl die Musik als auch ihren sozialen und gesellschaftlichen Kontext, die wirtschaftliche und politische Situation, die kritische Rezeption und alle möglichen anderen Facetten in Betracht zieht, statt sich auf singuläre Narrative zu beschränken.

In seinem Buch “Jazz Icons” führt der britische Musikwissenschaftler Tony Whyton einige Beispiele solcher Ansätze vor, in Kapiteln, die vordergründig von den Großen des Jazz handeln, tatsächlich aber die konkreten Fragestellungen multidimensional angehen.

Er fragt nach der Wahrheit hinter der Genieästhetik, die im Jazz fast noch mehr zu gelten scheint als in der klassischen Musik des 19. Jahrhunderts. Er schaut auf die Musik John Coltranes und überlegt, welchen Einfluss diese auf Musiker bis in die Gegenwart hatte – nicht nur direkt, sondern auch indirekt, auf dem Umweg über seine ikonische Stellung in der Jazzgeschichte etwa oder über Jamey Aebersolds Play-A-Long-Platten.

Er hört sich Kenny Gs Version von Louis Armstrongs “What a Wonderful World” an, fragt nach Verehrung oder Sakrileg, aber auch nach Eigentum, Authentizität und dem gespaltenen Verhältnis des Jazz zur populären Musik. Er untersucht Impulse-Veröffentlichungen im Hinblick auf die Vermarktungsstrategien des Labels und ihren Einfluss auf den gegenwärtigen Jazz-Mainstream.

Er diskutiert, welche Bedeutung Musikeranekdoten für die Wahrnehmung, aber durchaus auch für die kritische Einordnung von Jazzgeschichte haben. Er blickt auf Duke Ellington als Beispiel einer besonders mythen-umrangten Ikone des Jazz und vergleicht unterschiedliche Sichtweisen auf den Meister, etwa durch die Brillen von Ken Burns, James Lincoln Collier oder David Hajdu.

Und schließlich betrachtet er die Folgen der Verschulung des Jazz, die nicht zuletzt einen besonderen Einfluss auf die Kanonisierung von Musikern und Aufnahmen hatte und diskutiert dabei Möglichkeiten, aus der Sackgasse festgefahrener Jazzpädagogik herauszugelangen.

“Jazz Icons” zeigt, wie sich Jazzgeschichte von Generation zu Generation mit den jeweils aktuellen analytischen Instrumenten neu aneignen, interpretieren und lesen lässt. Tony Whyton versucht, woran sich Jazzautoren allgemein ein Beispiel nehmen sollten: die sachlich-differenzierte Diskussion von Musik, ihren Ursachen und ihrer Wahrnehmung.

Wolfram Knauer (Juli 2013)


 

The Record. Contemporary Art and Vinyl
herausgegeben von Trevor Schoonmaker
Durham/NC 2010 (Nasher Museum of Art at Duke University)
216 Seiten, 29,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-938989-33-2

2010schoonmakerDas Nasher Museum of Art zeigte 2011 eine Ausstellung über die Kulturgeschichte der Vinylschallplatte, bei der nicht nur Plattendesign im Vordergrund stand, sondern die gesamte Beziehung zwischen Bildender Kunst und Tonträgern. Der aus Anlass der Ausstellung veröffentlichte Katalog zeigt Künstler vor allem auf den letzten 50 Seiten die ausgestellten Werke und nennt ihre Künstler, nähert sich dem Thema selbst im Hauptteil außerdem in lesenswerten Aufsätzen und reich bebildert an.

Da geht es in einem einleitenden Kapitel um das augenfälligste, nämlich die Covergestaltung. Eine Timeline verfolgt die Geschichte der Schallplatte von 1857 bis in die Gegenwart. Pitr Orlov fragt, wie Schallplatten die Musik selbst veränderten; Mark Katz setzt sich mit der Leidenschaft von Plattensammlern auseinander; und Charles McGovern schaut auf den Plattenladen als “Home of the Blues, House of Sounds”. Carlo McCormick stellt fest, dass kaum ein Künstler in Stille arbeite und reflektiert über die Beziehungen zwischen Bildenden Künstlern und Musikkonserven. Mark Anthony Neal berichtet über die völlig neue und andere Sammelleidenschaft von Hip-Hop–DJs. Josh Kun betrachtet die Bedeutung der Schallplatte für die Kulturgeschichte Mexikos; Vivien Goldman tut dasselbe mit Bezug auf Jamaica. Jeff Chang beleuchtet die durch DJing und Soundmix veränderte Ästhetik seit den 1980er Jahren und Barbara London Do-It-Yourself-Produktionen in Musik und Bildender Kunst seit Fluxus.

In all diesen und weiteren Kapiteln des Buchs wird man von immer neuer Seite auf die kulturelle Selbstverständlichkeit der Schallplatte gestoßen, die man im Zeitalter von mp3 fast vergessen hat, die aber ein halbes Jahrhundert in seinem Kunstverständnis und -streben enorm prägte. Die im Buch abgedruckten Bilder, Fotos und Kunstwerke tun ein übriges, der Vinylplatte zum einen hinterherzutrauern, einen zum anderen aber auch dazu zu animieren sich umzusehen, welche Medien denn heute diese Funktion übernommen haben.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

Ain’t Nothing Like the Real Thing. How the Apollo Theater Shaped American Entertainment
herausgegeben von Richard Carlin & Kinshasha Holman Conwill
Washington/DC 2010 (Smithsonian Books)
264 Seiten, 35 US-Dollar
ISBN: 978-1-58834-269-0

2010carlinDas Apollo-Theater in Harlem ist immer noch lebendige Musikgeschichte. Es prägte die populäre Musik des 20sten Jahrhunderts wie wenige andere Spielstätten. Swinggrößen spielten hier genauso wie die Bebopper, der Rhythm ‘n’ Blues feierte Erfolge genauso wie etliche Rockstars, Soul und Funk erklangen auf der Bühne, Disco, Rap, HipHop und vieles mehr. Und natürlich begannen etliche spätere Stars bei den Amateur Hours, die jeden Mittwoch stattfanden, ihre Karriere.

2010 stellte die Smithsonian Institution eine Wanderausstellung zusammen, in der Kostüme, Fotos, Erinnerungsstücke und vieles mehr zu sehen war, Dokumente einer 80jährigen Theatergeschichte. Die Ausstellung wurde begleitet vom vorliegenden Buch, dem es gelingt, die Bedeutung des Hauses noch weit eingehender zu beleuchten.

Da gibt es historische Einordnungen, etwa von David Levering Lewis über das frühe Harlem oder von Amiri Baraka über die Bedeutung des Stadtteils für die Black Consciousness der 1960er Jahre; da gibt es musik- und bühnenbezogene Kapitel, etwa von John Edward Hasse über die Hochzeit der Bigbands, von Willard Jenkins über Bebop und modernen Jazz, von Chris Washburne über die Latin-Szene, die hier eine Spielmöglichkeit fand, von Kandia Crazy Horse über Soul und Funk oder von David Hinckley über Rap und HipHop. Es gibt Erinnerungen an die Programmverantwortlichen, insbesondere Frank und Bobby Schiffman, Artikel über kultur- und gesellschaftsgeschichtliche Entwicklungen, die im Apollo ihren Widerhall fanden, seien es diverse Tanzarten, sei es die Bürgerrechtsbewegung. Es findet sich ein Kapitel über Afro-Amerikaner im II. Weltkrieg und eines über die Chorus-Girls auf der Bühne. Greg Tate beleuchtet James Browns Auftritte in Harlem, Karen Chilton erinnert an Bessie Smith, Willard Jenkins an Ella Fitzgerald, Herb Boyd an Aretha Franklin und Chris Washburne an Celia Cruz.

Das alles ist hinterlegt mit vielen, zum Teil seltenen Fotos, die das Apollo als Teil einer Stadtteilkultur genauso wie als Teil einer global ausstrahlenden Kulturszene zeigen. Besonders eindrucksvoll – in der Ausstellung genau wie im Buch –: die Karteikarten, auf denen Frank Schiffman seine recht offenen Einschätzungen über die engagierten Künstler notierte sowie die Gagen, die er ihnen zahlte oder zu zahlen bereit war.

“Ain’t Nothing Like the Real Thing” dokumentiert anschaulich ein wichtiges Kapitel afro-amerikanischer Kulturgeschichte. Bunt und swingend, funky und auf jeder Seite mitreißend, ein fokussierter und doch recht breiter Einblick in die schwarze Musik des 20sten Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

Jazz Matters. Sound, Place, and Time Since Bebop
von David Ake
Berkeley 2010 (University of California Press)
200 Seiten, 16,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-520-26689-6

2010akeJazzgeschichte genauso wie die meiste Kulturgeschichte ist in der Regel eine Geschichte der Meister. Misserfolge oder Mittelmäßigkeit schafften es selten in die Jazzgeschichtsbücher, obwohl sie und mit ihnen eben auch der Alltag recht viel über die Eingebundenheit des Jazz in die Gesellschaft aussagen. David Ake widmet sich in seinem Buch in Schlaglichtern Aspekten des Jazz, die von allgemeiner Jazzgeschichtsschreibung höchstens am Rande erwähnt werden, hält also die Lupe an konkrete Phänomene, die er dann von verschiedenen Seiten beleuchtet.

Im ersten Kapitel, überschrieben “Being (and Becoming) John Coltrane” etwa fragt er, was eigentlich Coltrane zu Coltrane macht, verfolgt die Aufnahmen des Saxophonisten über die Jahre und versucht zu beschreiben, was darin die subjektive Persönlichkeit Coltranes widerspiegelt.

Im zweiten Kapitel hört er sich Miles Davis’ “Old Folks” von 1961 genauer an und stolpert über ein Knarren bei 1:15, der Dielenboden des Studios, der Stuhl eines der Musikers? Warum dieses Knarren in der Studioaufnahme belassen wurde, ist kaum erkenntlich, hätte man doch auch 1961 keine Probleme gehabt, ein solches Geräusch herauszufiltern. Ake fragt den Wirkungen des Knarrens, das man, wenn überhaupt, wirklich nur im Hintergrund wahrnimmt, reflektiert über Live-Stimmung, Spontaneität, Authentizität. Bei einer früheren Aufnahmesitzung im selben Studio, klärt er später auf,  machte Miles den Toningenieur auf die knarrenden Dielenbretter aufmerksam, worauf John Coltrane nur erwiderte: Mann, das ist halt ein Nebengeräusch. Das ist alles Teil des Stücks.”

Kapitel 3 betrachtet die Band Sex Mob des Trompeters Steven Bernstein und ihren Umgang mit Humor – oder, wie Ake dies nennt, dem Element des “Karnevalesken”. Kapitel 4 fragt nach Romantizismen, dem Image von Country im Jazz und konzentriert sich dabei auf ECM-Aufnahmen Keith Jarretts und Pat Methenys. In Kapitel 5 reflektiert Ake über die Veränderungen in der Jazzpädagogik und die Auswirkungen solcher Änderungen auf die Musik und den Markt. Im letzten Kapitel schließlich betrachtet er amerikanische Jazzmusiker in Paris und ihre Probleme damit, dort ihre nationale Identität beizubehalten. Mit ähnlichem Ansatz könnte man wahrscheinlich auch die Berliner Szene unserer Tage untersuchen.

Alles in allem, ein Buch ungewöhnlicher Ansätze, das – und ein größeres Lob ist kaum denkbar – Lust darauf macht, dem Jazz mit neuem Blick zu begegnen, auch deshalb, weil die ungewöhnliche Sicht unerwartete Facetten zum Vorschein bringt, solche der Musik genauso wie der eigenen Hörgewohnheit.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

A Breath of Freedom. The Civil Rights Struggle, African American GIs, and Germany
von Maria Höhn & Martin Klimke
New York 2010 (Palgrave Macmillan)
254 Seiten, 2u US-Dollar
ISBN: 978-0-230-10474-0

2010hoehn“A Breath of Freedom” handelt nicht einmal am Rande vom Jazz. “A Breath of Freedom” handelt, wie der Untertitel erklärt, vom “Bürgerrechtskampf, afro-amerikanischen GIs und Deutschland”, von der verqueren Situation also, das afro-amerikanische Soldaten im II. Weltkrieg (tatsächlich ja schon im I. Weltkrieg) für Freiheit und Demokratie kämpften, in ihrem eigenen Land aber nach wie vor die Rassentrennung herrschte.

Maria Höhn und Martin Klimke untersuchen dabei die Zusammenhänge zwischen der langjährigen militärischen Präsenz der US-Streitkräfte in Deutschland und der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten. Sie beschreiben die Vorurteile und das Bewusstwerden auf beiden Seiten, dass Bürgerrechte etwas Universelles seien und damit selbstverständlich auch schwarzen Amerikanern zustünden. Sie nennen politische und militärische Entscheidungen der 1940er bis 1970er Jahre und erklären die Realität der alltäglichen Lebenserfahrung innerhalb wie außerhalb der Kasernen in Deutschland. Sie fragen nach den gegenseitigen Einflüssen von Studentenbewegung in Europa und der Freiheitsbewegung in den USA, aber auch nach einer Art Verbrüderung antikapitalistischer Strömungen in Amerika mit dem System in der DDR.

Ihre faktenreiche Sammlung erklärt dabei viel über den Alltag afro-amerikanischer Soldaten in Deutschland. Über die Faszination des Jazz, jener für viele Amerikaner wie Nichtamerikaner wichtigsten afro-amerikanischen kulturellen Äußerung des 20sten Jahrhunderts, erzählen sie dabei nur wenig, was schade ist. Auf der anderen Seite verweisen sie im Vorwort darauf, dass dieses Buch nur die ersten Ergebnisse eines größeren Forschungsprojekts präsentiert.

Wer immer sich mit dem Einfluss der Präsenz afro-amerikanischer Soldaten und Musiker auf den deutschen Jazz befasst, wird in diesem Buch auf jeden Fall eine Menge Hintergrundinformation finden.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

At the Jazz Band Ball. Sixty Years on the Jazz Scene
von Nat Hentoff
Berkeley 2010 (University of California Press)
246 Seiten, 40 US-Dollar (Hardcover), 21,95 US-Dollar (Paperback)
ISBN: 978-0-520-26113-6 (Hardcover), 978-0-520-26981-1 (Paperback)

2010hentoffEs gibt Bücher, die liest man, weil man etwas lernen will, es gibt andere, die liest man, weil die Lektüre Spaß macht. Nat Hentoff gehört zu den seltenen Autoren, denen immer beides gelang: viel und wertvolle Information in einem Stil zu verpacken, der flüssig und lustvoll zu lesen ist.

Sein neuestes Buch ist eine Sammlung bereits veröffentlichter – seinerzeit in der Jazz Times oder im Wall Street Journal erschienener – wie bislang noch nicht veröffentlichter Aufsätze zu allen möglichen Themen, die ihm am Herzen liegen: spezifische Musiker und ihr ästhetischer Gestaltungwille, die soziale Schieflage, in der Musiker, die alt sind oder in Not, keine Sicherheit haben, das Engagement einer Jazzszene, die sich glücklicherweise immer noch als Familie versteht, die Gleichberechtigung der Frau auch im Jazz, das Ende rassistisch bedingter Ausgrenzung und und und.

All diese Kapitel sind äußerst persönlich, mehr noch: Hentoff kennt nicht nur viele Menschen, er ist genuin an ihnen interessiert. Seine Gespräche mit Clark Terry oder Phil Woods, seine Erinnerungen an Duke Ellington oder Louis Armstrong, seine Meinung zur politischen Dimension dieser Musik, in Zeiten der Bürgerrechtsbewegung genauso wie heutzutage, seine Begeisterung nicht nur für die Heroen der Vergangenheit, sondern auch für junge Musiker, all das überträgt sich auf den Leser, der gern weiterblättert von einem zum nächsten Kapitel springt und dabei immer wieder mit neuen Facetten angestachelt wird nachdenklich zu bleiben.

64 solche Kapitel enthält das Buch und noch weit mehr Denkanstöße, sprachlich wunderbar umgesetzt, nirgends schulmeisterlich, überall voll von Erinnerung und Erzählwille. Höchst empfehlenswert!

Wolfram Knauer (März 2013)


 

Il libro della voce. Gli stile, le tecniche, I protagonisti della vovalità contemporanea internazionale
herausgegeben von Claudio Chianura & Leilha Tartari
Milano 2010 (Auditorium)
218 Seiten, 1 beigelegte CD, 38 Euro
ISBN: 978-88-86784-55-9

2010chianuraDie Stimme als Instrument – nicht erst im 20sten Jahrhundert wurde die scheinbar menschlichste musikalische Äußerung instrumental eingesetzt, aber insbesondere im 20sten Jahrhundert entwickelten Künstler und Komponisten die verschiedenen Techniken weiter, mit denen Verfremdung und Annäherung an den ureigenen Klang des Menschen und die ureigentliche Funktion der Stimme – die nämlich der Kommunikation – beeinflusst werden konnten.

Das von Claudio Chianura und Leiha Tartari herausgegebene Buch nähert sich den Möglichkeiten stimmlicher Improvisation und stimmlichen Ausdrucks von verschiedenen Seiten: in einem ersten Teil theoretisch, nämlich in der Betrachtung unterschiedlicher vokaler Techniken und der dadurch verursachten allgemeinen Veränderung in der Wahrnehmung von Stimme; in einem zweiten Teil sehr individuell, nämlich in Interviews mit herausragenden Sängerinnen und Sängern, sowie in einem dritten Teil analytisch in der Betrachtung von speziellen Ansätzen einzelner Künstlerinnen und Künstler. Das alles ist insbesondere in der stilistischen Breite interessant, in der die Autoren das Thema angehen und dabei Greetje Bijma und Sidsel Endresen neben Benat Achiary oder Diamanda Galas stellen, Meredith Monk und David Moss neben Pamela Z und Demetrio Stratos.

Wem all diese Namen wenig sagen, der wird dankbar zur beiheftenden CD greifen, die 13 Beispiele bringt, von Kurt Schwitters’ “Sonate in Urlauten” und Tiziana Scanalettis “Stripsody” bis zu Beispielen der bereits genannten oder von Sainkho Namchylak, von Cristina Zavalloni oder Lorenzo Pierobon. Ein Lust machender Ausflug in die Welt der zeitgenössischen Vokalmusik.

Wolfram Knauer (März 2013)


 

Sardinia Jazz. Il jazz in Sardegna negli anni Zero. Musica, musicisti, eventi, discografia di base
von Claudio Loi
Cagliari 2010 (aipsa edizioni / percezioni musiche)
472 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-88 95692-26-5

2010loi

Claudio Loi schreibt das “Who’s Who” des Jazz in Sardinien. Paolo Fresu, Antonello Salis, Paolo Angeli sind die Hauptfiguren; daneben aber kommen jede Menge Musiker und Band vor, von denen man hierzulande wahrscheinlich noch nie etwas gehört hat. Einleitungskapitel beschreiben die Jazzszene der zweitgrößten Insel Italiens, informieren aber auch regelmäßige Jazzevents und weiterführende Literatur. Sicher vor allem ein Buch für Eingeweihte, oder für regelmäßige Sardinien-Besucher.

Wolfram Knauer (Oktober 2012)


 

Vienna Blues. Die Fatty-George-Biographie
von Klaus Schulz
Wien 2010 (Album Verlag)
114 Seiten, 35 Euro
ISBN: 978-3-86184-182-0

2010schulz2Der Klarinettist Fatty George spielte gern den Blues, und wenn er den Titel dann bei der österreichischen Urheberrechtsgesellschaft anmeldete, nannte er ihn “Vienna Blues” und trug den eigenen Namen als Urheber ein.

Clever, meint Klaus Schulz in seiner Biographie, die Leben und Werk des Klarinettisten in vier Teilen verfolgt.

Ein erster Teil gibt Franz Georg Presslers (so der volle Name) Lebensgeschichte in klassischem Gewand wieder: Kindheit, Ausbildung, erste Erfolge auf der österreichischen, dann der europäischen Jazzszene, diverse Bands und Aufnahmen über die Jahre, Gründung eines eigenen Spielorts.

Der zweite Teil geht das alles chronologisch genau und mit Interviewpassagen Georges sowie Zeitzeugenbeiträgen an. Hier bringt Schulz alle Daten und Details zusammen, Engagements, Reisen, Festivals, Platten- und Fernsehaufnahmen, Presseberichte, Korrespondenz, Fotos und Plakatabbildungen, persönliche Ereignisse und vieles mehr.

Teil drei enthält Biographien der Musiker, mit denen Fatty George über die Jahre zusammenarbeitete, Teil vier schließlich eine kurze Diskographie.

Akribisch zusammengetragen bietet sich dabei ein umfassendes Bild eines Ausnahmemusikers, der allzu oft als Dixielandklarinettist abgestempelt wird, obwohl er sich auch im Swing und modernen Jazz behaupten konnte, wie die beigeheftete CD mit seltenen und großteils unveröffentlichten Aufnahmen belegt, auf denen Fatty George neben seinen eigenen Besetzungen, der Ende der 1950er Jahre auch der junge Joe Zawinul angehörte, etwa auch mit dem Friedrich Gulda Workshop Ensemble zu hören ist, mit den ORF All-Stars, mit Lionel Hampton oder Sammy Price sowie mit seiner eigenen Besetzung, die eine Cool-Jazz-Version über “Alexander’s Ragtime Band” spielt.

Auch posthum noch einmal: Hut ab vor einem großen europäischen Jazzmusiker!

Wolfram Knauer (August 2012)


 

Fortællinger om jazzen. Dens vej gennem Statsradiofonien, Danmarks Radio og DR
von Tore Mortensen
Aalborn 2010 (Aalborg Universitetsforlag)
2010 Seiten, 295 Dänische Kronen
ISBN: 978-87-7307-983-6

2010mortensenUnsere Nachbarn im Norden machen uns vor, was in hierzulande bislang noch nicht geleistet wurde, aber dringend notwendig wäre: eine Dokumentation der Jazzgeschichte im nationalen Rundfunk. Nun ist die deutsche Rundfunkgeschichte vielleicht etwas wechselvoller, in der Gegenwart auch vielgestaltiger als die in Dänemark, in dem es mit Danmarks Radio im Prinzip “nur” einen Staatsrundfunk gab, während im Nachkriegsdeutschland jede einzelne ARD-Anstalt ihre eigene Jazzredaktion aufbaute. Dennoch schauen wir ein wenig neidisch auf dieses Buch, dem es gelingt, den großen dänischen Bogen zu schlagen von 1925 bis ins Jahr 2009.

Tore Mortensen, seiens Zeichens Leiter des Center for Dansk Jazzhistorie in Aalborg, beginnt am 1. April 1925, als der staatliche Rundfunk in Dänemark sein erstes Radiosignal ausstrahlte. Als “Staatsradifonien” bezeichnete sich der Sender bis 1959, dann wurde er erst in “Danmarks Radio”, schließlich 1996 in “DR” umgetauft. Mortensens Buch dokumentiert die Jazzaktivitäten etwa des Radio-Tanzorchesters unter Leitung des Geigers Louis Preil, die Sendeverbote “negroider Tanz- und Unterhaltungsmusik” unter der deutschen Besatzung sowie die rasche und recht intensive Zurückeroberung der Ätherwellen durch den Jazz in der Nachkriegszeit. Mortensen listet die konkreten Sendungen, die zwischen September 1947 und Januar 1953 ausgestrahlt wurden, und die ihrerseits das Interesse am Swing, an modernen Stilarten oder an Aktivitäten sonstwo in Europa widerspiegeln. Er dokumentiert die Konzertaktivitäten des Senders in den 1950er Jahren, untermauert von Zeitzeugen wie dem Bassisten Erik Moseholm oder dem Moderator Børge Roger. Die 60er Jahre seien die goldenen Jahre des Jazz im dänischen Rundfunk gewesen, titelt Mortensen, skizziert nebenbei die Arbeit des dänischen Jazzhistorikers Erik Wiedemann und spricht mit Torben Ulrich, Peter Rasmussen und anderen, die dabei gewesen waren. Seit 1963 schnitt Danmarks Radio regelmäßig im Kopenhagener Jazzclub Montmartre mit, seit 1966 gab es regelmäßige Sonderproduktionen unter dem Titel “Radiojazzgrupppe”, später mit der Radioens Big Band.

In diesen Jahren ist Jazz in Dänemark auch im Fernsehen zu erleben. Etliche amerikanische Musiker hatten sich in den 1960er Jahren in Kopenhagen niedergelassen, unter ihnen etwa Dexter Gordon oder Duke Jordan. Jazz spielte auch nach 1975 eine wichtige Rolle im dänischen Rundfunk, dem Mercer Ellington 1984 seine private Tonbandsammlung vermachte. Thad Jones übernahm 1977 die Leitung der Radioens Big Band. Ein Unterkapitel des Buchs behandelt das Verhältnis des Senders zum Kopenhagener Jazzfestival, ein weiteres den Wandel in seinen Aufgaben im neuen Jahrtausend von denen einer Kulturinstitution zu jenen eines Multimedienanbieters. Als Anhang gibt es schließlich eine tabellarische Übersicht über die verschiedenen Aktivitäten des Senders, über wichtige Sendeformate, Produktionen und Mitarbeiter.

Eine Bibliographie sowie ein ausführlicher Index beschießen das Buch, das, es sei noch einmal gesagt, einen ein wenig neidisch in den Norden blicken lässt. Vielleicht findet sich ja hierzulande irgendwann mal jemand, der mit Berendts SWR anfängt; vielleicht gibt es einmal eine ausführliche Dokumentation der Aktivitäten des NDR oder der Berliner Produktionen. Bernd Hoffmann, Jazzredakteur des WDR, hat ein ausgeprägtes historisches Bewusstsein und sammelt sicher bereits Material, um ähnliches für den Kölner Sender zu bewerkstelligen – alles Anstalten, die nicht nur rege redaktionelle Tätigkeiten aufweisen, sondern genau wie DR Eigenproduktionen machten, eine regionale, nationale wie internationale Szene dokumentierten und zumeist eigene (Groß-)Ensembles besitzen, die mit zu den besten weltweit gehören.

Wer übrigens des Dänischen nicht ganz so mächtig ist, der wird dennoch seine Freude an den wunderbaren Fotos von Jan Persson haben, die oft genug während Produktionen von Danmarks Radio aufgenommen wurden. Sein Bildarchiv gehört heute dem Jazz for Dansk Jazzhistorie, das zugleich Initiator und Herausgeber des vorliegenden Buchs ist.

Wolfram Knauer (August 2012)


 

Singing Out. An Oral History of America’s Folk Music Revivals
von David King Dunaway & Molly Beer
New York 2012 (Oxford University Press)
255 Seiten, 27,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-989656-1

2010dunawayDas Folk Music Revival wird allgemein in die 1960er Jahre datiert; es beeinflusste die populäre Musik auf unterschiedlichste Art und Weise. Bob Dylan und Janis Joplin haben dieser Bewegung genauso viel zu verdanken wie auf der anderen Seite des Atlantiks die Beatles oder die Rolling Stones, wobei bei letzteren eher der Bluesteil der Folkszene von Bedeutung war. Die Anfänge des Folk-Revivals aber finden sich bereits in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren, wie das vorliegende Buch dokumentiert. David King Dunaway und Molly Beer haben dafür Zeitzeugen befragt und ihre Berichte nach Themen sortiert.

Dabei geht es etwa um die Definition von Folk Music ganz allgemein (für das “Volksmusik” ein schlechte Übersetzung ist) und um Grenzziehungen – sind also Folk Music nur englische Seemannslieder, oder gehören auch Calypso, Bluegrass, Flamenco, Cajun, Zydeco, Rap dazu? Wie unterscheidet sich die Definition von Folkmusik innerhalb und außerhalb des beschriebenen Revivals? Und wie verhält sich Folk Music zum politischen Song?

Das zweite Kapitel betrachtet frühe Sammler authentischer amerikanischer Volksmusik, fragt dabei auch danach, wem diese Musik gehört. Alan Lomax und Leadbelly erhalten ein eigenes Teilkapitel. Die Einbindung des Folk Music Revival in politische Agenden spielt eine Rolle im dritten Kapitel, das überschrieben ist mit “Music for the Masses” und in dem es auch um die Linke im Amerika der 1930er und 1940er Jahre geht.

In den 1940er Jahren fand das Revival vor allem in Greenwich Village, New York statt, dem das vierte Kapitel gewidmet ist. Zugleich, berichten die Zeitzeugen, hatte New York und seine Weltläufigkeit aber auch Einfluss auf ihre eigene musikalische Ästhetik. Ende der 1940er Jahre fielen viele der linken Folk-Revivalisten ins Raster der “Rotenjagd” McCarthys, und das Kapitel über die Verhöre, Verdächtigungen und Arbeitssperren ist vielleicht eines der bedrückendsten des Buchs. Mitte der 1950er Jahre dann folgte ein breites Folk-Revival, ein Boom, der sowohl die romantische wie auch die politischen Varianten der Folk Music einschloss und im Newport Folk Festival sowie den Karrieren von Bob Dylan und Janis Joplin mündete. Folk Music wurde Teil der Bürgerrechtsbewegung, die “We Shall Overcome” zu ihrer Hymne erkor.

Ein eigenes Kapitel ist dem Folk-Rock der späten 1960er Jahre gewidmet, ein weiteres dem “Nu-Folk” der jüngsten Vergangenheit. Wie wird die Folk Music der Vereinigten Staaten in Zukunft aussehen?, fragen die Autoren zum Schluss, sind dabei aber keinesfalls pessimistisch, sondern glauben daran, dass es weiter gehen wird. Und wie zum Beweis fügen sie noch ein letztes Kapitel an, “The Power of Music”, in dem sie Beispiele nennen, wie Musik die Welt verändern kann.

Alles in allem: ein gut lesbares Erinnerungsbuch an eine Bewegung, die durchaus auch für den Jazz von Bedeutung war, auch wenn Jazzer im Personenindex kaum Eingang gefunden haben. Billie Holidays “Strange Fruit” jedenfalls verband die Ideale der Folk- und der Jazzszene genauso wie einige der Bluesmusiker, die in Barney Josephsons “Café Society” in New York auftraten. Die Zeitzeugenberichte dieses Buchs geben einen guten Einblick in die Hintergründe des Interesses an einer ureigenen authentischen Folk Music in Amerika.

Wolfram Knauer (Juli 2012)


 

The Penguin Jazz Guide. The History of the Music in the 1001 Best Albums
von Brian Morton & Richard Cook
London 2010 (Penguin Books)
730 Seiten, 20 Britische Pfund
ISBN: 978-0-141-04831-4

2010penguinDer Jazz ist eine schier unübersichtliche Musik – so viele Stile, so viele Entwicklungen, so lange Geschichte, so viele Aufnahmen. Für den Novizen wird es schwer, da noch durchzublicken. Und so bietet es sich an, dass immer wieder Bücher erscheinen, die dem werdenden Jazzfan Tipps geben, was er vielleicht auch noch hören könnte. Der Penguin Jazz Guide ist ein bisschen wie die Urmutter umfangreicher Plattenempfehlungen. Er erschien erstmals 1990, als niemand wusste, ob die CD die Zukunft oder der Tod der Schallplattenindustrie sein würde, und seine neueste Ausgabe erscheint in einer Zeit, in der es ungewiss ist, ob das Konzept des Jazzalbums in Zeiten des Internet-Downloads überhaupt noch eine Zukunft hat.

Nichtsdestotrotz haben sich Brian Morton und Richard Cook, zwei der ausgewiesendsten britischen Jazzkenner, hingesetzt und eine Empfehlungsliste zusammengestellt. Im Jahr 2010 sind das oft keine Besprechungen einzelner Titel oder Alben mehr, da historische Meilensteile wie King Olivers Creole Jazz Band oder Louis Armstrongs Hot Five und Hot Seven längst in alle Aufnahmen versammelnden Box-Sets erschienen sind, die von den beiden genauso empfohlen werden wie ähnliche “complete recordings” späterer Musiker. Wie meist bei solchen Werken ist die Suche nach den fehlenden Aufnahmen nicht sehr sinnvoll weil eine nur subjektive Einschätzung. Anders als bei reinen Plattenrezensionen geben die Autoren jeder empfohlenen Platte eine kurze Beschreibung der vorgestellten Musiker vorweg, um dann auf Besonderheiten des spezifischen Albums einzugehen, die erklären, warum es den Platz unter den 1001 Alben gefunden hat.

Der Löwenanteil der Alben stammt aus den USA, erst ab den 1960er Jahren sind mehr und mehr europäische Musiker unter den Empfohlenen zu finden. Und die jüngsten Entscheidungen, also für die Jahre 2000 bis 2010, scheinen von den Autoren weit willkürlicher gefällt worden zu sein als zuvor – aber das ist verständlich, denn erst die Zeit wird zeigen, wie wegweisend, wie wichtig und bedeutend diese Alben denn nun wirklich waren.

“The Penguin Jazz Guide” wendet sich in seinen knappen Albumsrezensionen aber nicht nur an den Jazzneuling, sondern ausdrücklich auch an den Jazzkenner, der seine eigene Einschätzung am Lob der beiden Autoren messen mag und sicher die eine oder andere Aufnahme entdecken wird, die ihm bislang entgangen war, die es aber wert ist zu besitzen (und mehr noch: zu hören).

Wolfram Knauer (April 2012)


 

Fra Odd Fellow til East Park. Jazz i Aalborg, 1920-1970
von Knud Knudsen & Ole Izard Høyer & Tore Mortensen
Aalborg 2010 (Aalborg Universitetsforlag)
143 Seiten, 299 Kronen
ISBN: 978-87-7307-994-2

2010knudsenLokalgeschichten des Jazz in Europa handeln meist von ähnlichen Aktivitäten: der Faszination am Jazz als einer fast schon exotischen Musik in den 1920er Jahren, einer städtischen Musikszene zur Unterhaltung des bürgerlichen Publikums, dem steigenden Interesse der Musiker an der improvisatorischen Ausdrucksform des Jazz, dem Ankommen des Jazz in der Mitte der Gesellschaft und dem Neuerfinden dieser Musik nach dem II. Weltkrieg als zeitweiser Ausdrucksform der Jugend.

Die dänische Hafenstadt Aalborg also hat eine durchaus ähnliche Jazzgeschichte aufzuweisen, wie die drei Autoren des aufwendig gestalteten Bandes dokumentieren. Erste Erwähnung jazzmusikalischer Aktivitäten finden sie im November 1922, als im Odd Fellow Palæet ein Jazzkonzert angekündigt wird. Die Autoren durchwühlen alte Tageszeitungen, Programmankündigungen, Konzertbesprechungen. Anfang der 1930er Jahre machten die ersten amerikanischen Stars in Dänemark Station, im Kopenhagener Tivoli konnte man Louis Armstrong hören, und Joe Venuti beeinflusste 1934 den blutjungen Svend Asmussen. Auch dänische Jazzgrößen, Kai Ewans etwa, Leo Mathisen oder Peter Rasmussen und andere waren regelmäßig zu Gast.

Nach dem Krieg wurde Jazz auch in Dänemark von der Tanzmusik immer mehr zur Hörmusik. 1951 gründete sich ein Jazzclub, der mit regelmäßigen Veranstaltungen und Sessions an die Öffentlichkeit ging. Die britischen Trad-Bands tourten Dänemark und beeinflussten den dänischen Dixieland. Im Januar 1959 kam Louis Armstrong in die Stadt, und auch andere Jazzgrößen waren zu hören. 1955 schließlich gründete sich der East Park Jazzclub, dessen Konzerte ein jugendliches Publikum erreichten.

“Frau Odd Fellow til East Park” erzählt die Geschichte dieser Aalborger Jazzszene zwischen den frühen 1920er und späten 1960er Jahren. Das Buch enthält viele seltene Fotos von Musikern und Veranstaltungsorten, außerdem einige Ausrisse aus zeitgenössischen Berichten. Sicher wendet sich das Buch an eine auch regional begrenzte Leserschaft (dänische Sprachkenntnisse sind Voraussetzung), ist damit aber ein willkommenes weiteres Puzzleteilchen zu einer europäischen Jazzgeschichte.

Wolfram Knauer (April 2012)


 

Blue Note Records. A Guide for Identifying Original Pressings
von Frederick Cohen
New York 2010 (Jazz Record Center)
112 Seiten, 45 US-Dollar
ISBN: 978-0-692-00322-0

2010cohenDer Jazzplattensammler ist ein Phänomen für sich – in seiner Ernsthaftigkeit, seinem Vollständigkeitswahn genauso wie in der Expertise, die ihn im besten Fall zum Diskographen macht, ein Fachgebiet, das ihm in anderen Musikbereichen wahrscheinlich zu einem akademischen Grad verhelfen würde. Der sympathische Jazzplattensammler ist der, der durch die Welt reist, in Plattenläden geht und dann mit offenen Augen sowohl nach Neuentdeckungen sucht als auch nach Platten, die seine eigene Sammlung, seine eigenen Sammlungsinteressen vervollständigen. Die Musik steht für ihn im Mittelpunkt, daneben aber auch die Authentizität des Tonträgers selbst, der möglichst ein Original sein sollte, gar nicht unbedingt aus Wertgründen, sondern einfach, weil es ihn mehr reizt, eine Erstausgabe in den Händen zu halten. Der skurrile Jazzplattensammler ist jener, der sämtliche Plattennummern im Kopf hat, durchaus auch Besetzungen und Aufnahmedaten, der über dem Sammlungswahn aber vergessen hat, dass Platten eigentlich Musik transportieren, so dass er seine Platten im Extremfall gar nicht auflegt, weil bereits einmaliges Abspielen den Wert der Platten mindern könnte.

Der Sonderfall der Jazzplattensammler ist der “Blue-Note-Sammler”, und an diesen richtet sich dieses Buch. Frederick Cohen besitzt den größten Jazzplattenladen in New York, ein Mekka für Sammler aus aller Welt. In seiner täglichen Arbeit kam es ihm immer wieder unter, dass Kunden den Wert der Schallplatten in seinen Regalen anzweifelten, also in Frage stellten, ob es sich bei einer Platte auch wirklich um ein Original handelt? Das Label auf der einen Seite der Platte sah beispielsweise anders aus als das auf der anderen Plattenseite, die Firmenadresse auf dem Cover war eine andere als die auf den Labels. Über die Jahre sammelte Cohen die unterschiedlichen Merkmale der Blue-Note-Scheiben und erstellte einen Katalog untrüglicher Charakteristika, den er jetzt im eigenen Verlag vorlegt.

Das Buch beginnt mit einer Erklärung der Fachbegriffe, die für die Beschreibung von Schallplatten nötig sind. Cohen zeigt anhand von Fotos die verschiedenen Vorkommnisse des “Plastylite”-Symbols “P” auf der Vinylscheibe, das eines der wichtigsten Merkmale eines Originals ist. Er zeigt die unterschiedlichen Varianten der Adressdarstellung auf dem Label wie auf dem Cover, Varianten des Mono- und des Stereo-Logos (bzw. Stickers). Dann dekliniert er im umfangreichsten kapitel die unterschiedlichen Serien durch und beschreibt dabei ihre Besonderheiten.

Ein eigenes Kapitel widmet sich Rudy Van Gelders Kommentaren über seine Mono- und Stereoaufnahmen. In weiteren Kapiteln fasst Cohen die Veröffentlichungen nach Jahren zusammen, beschreibt die originalen inneren Schüutzhüllen und führt schließlich einige der seltesten Raritäten des Blue-Note-Labels vor.

Cohens Buch ist zu allererst ein Must-Have für Blue-Note-Sammler (von denen es nicht gerade wenige gibt). Es ist zugleich ein Musterbeispiel für diskographische Grundlagenforschung ganz anderer Art – bei ihm geht es ja nicht um Besetzungen, Titel oder Aufnahmedaten, sondern um den Tonträger und seine Verpackung, die er einer genauen Analyse unterzieht. Und zu allerletzt ist es ein unverzichtbares Referenzwerk für diejenigen, die Schallplatten als Wertanlage sammeln.

Wolfram Knauer (April 2012)


 

40 Jahre Internationales Dixieland Festival Dresden. Die Elbestadt swingt und brilliert, ist bluesvoll und populär
von Wolfgang Grösel & Joachim Schlese & Klaus Wilk
Dresden 2010 (Edition Sächsische Zeitung)
205 Seiten, 9,90 Euro
ISBN: 978-3-938325-73-5

2010groeselAm Pfingstwochenende 1971 begann in Dresden die Geschichte eines Festivals, das mittlerweile europaweit Kultstatus erlangt hat. Die Organisatoren wagten eine stilistische Beschränkung ihres Programms auf eine eng umgrenzte historische Jazzrichtung, den Dixieland zwischen New-Orleans-, Chicago-, Eddie-Condon- und europäischem Trad-Jazz. 1979 kamen bereits 30.000 Besucher, 1981 waren 200 Jazzmusiker aus Europa und (erstmals) den USA mit von der Partie.

Das vorliegende Buch dokumentiert zum 40jährigen Jubiläum die Geschichte des Festivals, das damit quasi auf eine gleichlange DDR- wie BRD-Zeit zurückblicken kann. Neben den Publikumserfolgen werden auch die Krisenjahre kurz gestreift, das Jahr 1990 etwa, als zum 20. Jubiläum kein einziges Konzert ausverkauft war, weil die Menschen lieber in den nun offen stehenden Westen reisten als nach Dresden. Politik bleibt ansonsten eher außen vor in dieser Festschrift, in der man vielleicht gern etwas über die offizielle Haltung der DDR-Staatsführung zum Festival erfahren hätte, darüber, welche politische Agenda das Festival ermöglichte, welche Probleme oder auch welche Unterstützung es bei Einladungen an Bands aus dem Ausland gab, welche außermusikalischen Konnotationen sich bei den Besuchern mit der Veranstaltung verband.

Aber das ist vielleicht zu viel verlangt oder auch am Ziel des Buchprojekts vorbei erwartet: “40 Jahre IDF” ist vor allem ein Geschenk der Dixieland-Festival-Freunde an sich selbst, und da mag eine tiefere Beschäftigung mit eigener Geschichte vielleicht nicht so angesagt sein. Ein wenig schade ist das schon, aber dem Ziel des Buchs nach verständlich: Mit vielen bunten Fotos und einer freien Doppelseite für Autogramme ist es in erster Linie eine Art Erinnerungsalbum für die Fans.

Wolfram Knauer (April 2012)


 

Sun Ra. Interviews & Essays
herausgegeben von John Sinclair
London 2010 (Headpress)
201 Seiten, 13,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-900486-72-9
www.headpress.com

2010sinclairSun Ra besaß bekanntlich Kultstatus. Und so ist es nicht verwunderlich, das in sich Veröffentlichungen dem Pianisten, Komponisten und Bandleader ganz ähnlich nähern, wie der sein Publikum zu begeistern pflegte: von allen Seiten, mit allen Sinnen, mit unerwarteten Klängen.

John Sinclairs Buch enthält vor allem Erinnerungen von Zeitzeugen, die Sun Ra im Konzert erlebten, ihn persönlich kannten oder gar mit ihm spielten. Ausgangspunkt ist ein Interview, das der “White Panther” und “poet-provocateur” Sinclair selbst 1966 mit Ra führte, und in dem dieser seine Philosophie… nun, vielleicht nicht gerade erklärt, aber umschreibt, und dabei im Verklären dann doch wieder etliches erklärt.

David Henderson erinnert sich an die Zeit in den 1960ern, als Ra auf der Lower East Side Manhattans lebte und eigentlich die afro-amerikanische Revolution vorlebte, die andere auf den Straßen erkämpfen wollten. Wir lesen Amiri Barakas Gedicht “Word from Sun Ra”, und Lazaro Vega spricht mit dem Dichter über Ras Bedeutung für die schwarze amerikanische Musik.

Ben Edmonds betitelt seine Erinnerungen an ein Sun-Ra-Konzert sehr treffend mit “Their Space Was My Place”. Der Trompeter Michael Ray berichtet über seine Zeit im Arkestra, und der Baritonsaxophonist Rick Steiger erinnert sich an eine Residenz des Arkestra in Detroit im Dezember 1980.

Peter Gershon reflektiert darüber, wie Marshall Allen die Ästhetik Sun Ras ins 21ste Jahrhundert transportiert. Darüber hinaus finden sich Interviews mit Musikern, deren Ästhetik durch Ras Musik stark beeinflusst wurde, Wayne Kramer etwa, Jerry Dammers und Sadiq Bey. Haf-fa Rool schließlich berichtet davon, wie er das Arkestra (als Nicht-Musiker) auf verschiedenen Europatourneen begleitet hatte.

Der zusammenhängende Faden aller Beiträge und Interviews ist die Kunst und der Einfluss Sun Ras, der schon manchmal etwas stark als der “Creator” persönlich rüberkommt – aber so war es eben, das Mysterium des Sun Ra. Sinclairs Buch endet mit einem Nachruf, den der Autor nach dem Tod des Bandleaders in der New Orleans Times-Picayune veröffentlicht hatte. Hier konzentriert er sich noch einmal auf die Erden-Seite des Pianisten, der daneben aber eben doch so viel mehr war… und dessen ästhetische Wirkung in vielen Bereichen von Musik und Kunst bis heute zu spüren ist.

Wolfram Knauer (März 2012)


 

Portrait Saxofon. Kultur, Praxis, Repertoire, Interpreten
Von Ralf Dombrowski
Kassel 2010 (Bärenreiter Verlag)
166 Seiten, 27,50 Euro
ISBN: 978-3-7618-1840-4

2010dombrowskiAdolphe Sax erfand das Saxophon 1841 als eine Art Klangzwitter zwischen den üblichen Holzblas- und den Streichinstrumenten. Hector Berlioz war der erste klassische Komponist, der für das neue Instrument schriebt; bald darauf übernahmen französische Militärkapellen das Instrument in ihre Instrumentierung, doch diese französische Vorliebe dauerte nur eine kurze Weile. Sax und seinem Schüler Eduard Lefèbvre gelang es allerdings, das Instrument in den USA populär zu machen. Der Rest ist Jazzgeschichte, möchte man meinen, und so ist es auch im Buch, das Ralf Dombrowski diesem neben der E-Gitarre vielleicht klang-bestimmendsten Instrument des 20. Jahrhunderts widmet.

In kurzen Kapiteln erklärt er klangliche Besonderheiten im Spiel von Sidney Bechet, Johnny Hodges, Benny Carter, Coleman Hawkins, Lester Young, Charlie Parker, Lee Konitz, Sonny Rollins, John Coltrane, Ornette Coleman, Albert Ayler, Wayne Shorter, Branford Marsalis, Peter Brötzmann, Jan Garbarek und etlichen anderen Heroen des Saxophons. Auch Marcel Mule und Sigurd Rascher erhalten eigene Kapitel, die beiden einflussreichsten klassischen Saxophonisten des letzten Jahrhunderts. Etwas eingehender betrachtet er zehn Aufnahmen und Künstler, Hawkins’ “Body and Soul” etwa, Parkers “Ornithology”, Rollins’ “Saxophone Colossus”, Coltranes “A Love Supreme” und andere, geht dann auf Konstruktion und diverse Bauformen des Instruments ein, aber auch auf Spielbesonderheiten wie etwa die Zirkularatmung und verwandte Instrumente wie das elektronische Lyricon. Er betrachtet wichtige Standards der Jazzgeschichte, in deren Erfolg auch das Saxophon eine große Rolle spielten, und er wirft einen Blick auf Ausbildungsmöglichkeiten in Deutschland und auf die beim Saxophon-Lernen zu beachtenden ästhetischen Dinge, insbesondere Intonation und eigener Sound.

Dombrowskis Buch ist ein gut lesbarer kurzer, dennoch intensiver Leitfaden zum Instrument, der jedem, der Saxophon spielt, ein paar Tipps zum Weiterhören, zum Sich-Selbst-Hinterfragen gibt, dabei technische Details genauso wie historische Entwicklungen erklärt.

Wolfram Knauer (März 2012)


 

Benny Goodman. A Supplemental Discography
von David Jessup
Lanham/MD 2010 (Scarecrow Press)
353 Seiten, 44,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-7685-9

2010jessup1988 erschien D. Russell Connors “Benny Goodman. Listen to His Legacy”, 1996 sein “Benny Goodman. Wrappin’ It Up”, zwei Diskographien, die Goodmans Aufnahmen von den ersten Studiosessions 1926 bis zu seinem Tod dokumentierten.

David Jessup knüpft an diese beiden diskographischen Werke an mit seinem großformatigen Opus, das die Vorgänger ergänzt um neu aufgetauchte Sessions, Livemitschnitte, Filmdokumente und zugleich in den diskographischen Details in einen Dialog mit den Titeln tritt, beschreibt, hinterfragt, offene Fragen herausstreicht, auf Diskrepanzen früherer diskographischer Erkenntnisse etwa mit dem Plattentext hinweist und vieles mehr.

Zwischendurch fasst er diskographische Diskurse zusammen, die er mit anderen Sammlern und Goodman-Experten über die Jahre geführt hatte. In einem kurzen Kapitel befasst sich Jessup außerdem mit dem Internet als einem neuen Sammelmedium.

Und schließlich füllt den zweiten Teil des Buchs eine vorläufige Diskographie der “Small Label Goodman Releases”. Das alles ist etwas für hartgesottene Goodman-Sammler – für die aber ist es ein Muss, genauso wie die Vorgängerbände von Connors.

Für alle anderen ist auch dieses Buch ein Beleg für die Bedeutung der durchaus wissenschaftlichen Arbeit, die im Jazz von Fans geleistet wird und die in der klassischen Musikwissenschaft als “Werkverzeichnis” leicht zu akademischen Ehren führen könnte.

Wolfram Knauer (Februar 2012)


 

The History of Jazz
Von Ted Gioia
New York 2011 (Oxford University Press)
444 Seiten, 19,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-539970-7

2010gioiaTed Gioias “Geschichte des Jazz” ist ein umfassendes Werk, dass die Entwicklung dieser Musik von den Anfängen (er nennt es die “Africanization of American Music”) bis ins 21ste Jahrhundert verfolgt, die wichtigsten Protagonisten nennt und in kurzen Absätzen diskutiert, ästhetische Entwicklungen erklärt und in Zusammenhang mit dem allgemeinen Musikbusiness genauso wie mit sozialen Entwicklungen in den USA bringt und zwischendrin noch versucht, die Musik zumindest zu beschreiben, um die es eigentlich geht. Die erste Ausgabe dieses Buchs wurde zu einem Bestseller der Jazzliteratur in den USA und an Schulen wie Hochschulen als Text Book benutzt – obwohl sich dort vielleicht ein analytischer in die Materie sich versenkendes Buch noch mehr lohnen würde.

Die Kapitelübersicht macht Gioias Ansatz deutlich: “The Prehistory of Jazz”, “New Orleans Jazz”, “The Jazz Age”, “Harlem”, “The Swing Era”, “Modern Jazz”, “The Fragmentation of Jazz Styles”, “Free and Fusion”, “Traditionalists and Postmodernists” sowie “Jazz in the New Millennium”. Als Anhang finden sich Hör- genauso wie Leseempfehlungen.

Gioia präsentiert Fakten, hinterfragt Mythen, erklärt Beweggründe für den Wandel der Musik, ordnet die musikalische Entwicklung des Jazz in die soziale, wirtschaftliche politische Entwicklung der Vereinigten Staaten ein. Musikalische Details beschränken sich auf kurze Ablauf- oder Klangbeschreibungen, die er allerdings geschickt genug einsetzt, um auch dem nicht musikbewanderten Leser Besonderheiten verschiedener Zeit- und Personalstile erklären zu können.

Wie in jedem Geschichtsbuch wird man auch bei Gioia anfangen können zu kritisieren: Warum diesen, warum nicht jenen Musiker? Die Fakten sind ja alle bekannt, hier kann Gioia vor allem seine Sicht der Zusammenhänge präsentieren. Am interessantesten ist bei solchen Büchern erfahrungsgemäß der Umgang mit den jüngsten Entwicklungen. “Traditionalists and Postmodernists” ist das Kapitel überschrieben, in dem Gioia aus irgendeinem Grunde die Szene um Wynton Marsalis dem sehr viel früher begründeten AACM-Lager gegenüberstellt; die New Yorker Downtownszene zwar erwähnt, aber ihre tatsächliche Bezogenheit auf die Neotraditionalisten nicht ausreichend erklärt. “Jazz in the New Millenium” schließlich nennt einige der erfolgreichen Musikernamen der letzten zehn Jahre, um dann in einem Unterkapitel die “Globalization” of Jazz” festzustellen und hier (außer einem früheren Bezug auf Django Reinhardt) zum ersten Mal auch die europäischen Entwicklungen zu thematisieren. Solch eine amerikano-zentrische Sichtweise kann man Gioia wohl kaum vorwerfen – die Tatsache, dass diese Parallelentwicklungen der Jazzgeschichte noch nicht ausreichend – also zusammenfassend und in englischer Sprache – verschriftlicht wurden, erklärt leider immer noch die weitgehende amerikanische Negierung dessen, was nunmehr seit über vierzig Jahren in Europa an ganz eigenständigen Entwicklungen geschieht.

Ted Gioias “History of Jazz” ist auf jeden Fall eine sehr brauchbare Zusammenfassung der amerikanischen Jazzgeschichte. Andere (etwa Berendt) mögen in ihrem Ansatz gliedernder und damit insbesondere für den Jazzneuling hilfreicher sein, aber Gioia überzeugt vor allem in der dauernden Überlagerung biographischer, musikalischer, sozialgeschichtlicher Erklärstränge.

Wolfram Knauer (Januar 2012)


 

Lightnin’ Hopkins. His Life and Blues
von Alan Govenar
Chicago 2010 (Chicago Review Press)
334 Seiten, 28,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-55652-962-7

2010govenarDer Blues ist vordergründig eine der persönlichsten Musikstile, die man sich vorstellen kann, handelt er doch von vermeintlich Selbst-Erlebtem, vom offen gelegten emotionalen Grenzsituationen. Tatsächlich ist der Bluessänger aber ein Griot seiner Tage; seine Texte stehen nicht nur für ihn, sondern für so viele, die sich mit ihnen identifizieren und aus dem Aussprechen des täglichen Leids Kraft ziehen können. Alan Govenar hat die Biographie eines der am meisten aufgenommenen Blueskünstler des 20sten Jahrhunderts geschrieben und bietet dem Leser damit Einblick in die persönlichen Erfahrungen, die Hopkins mit in seine Musik einbringen konnte.

1929 in eine arme Farmpächterfamilie in Texas geboren, verließ Hopkins bereits mit acht Jahren sein Zuhause, verdiente sich sein Geld als Straßenmusikant oder Gelegenheitsarbeiter. Seine ersten Aufnahmen machte er erst 1946, als er auch seinen Spitznamen “Lightnin'” erhielt. Seine Platten führten die R&B Charts an, aber dann wurde er wieder vergessen, bis er 1959 “wiederentdeckt” wurde und die Bürgerrechtsbewegung mit seinen emotionalen Liedern begleitete.

Govenar macht sich auf die Spurensuche, nachdem er selbst Hopkins 1974 ein einziges Mal in einem Konzert gehört und nachdem Chris Strachwitz, der Gründer des Arhoolie-Labels, ihn auf die Bedeutung dieses Musikers aufmerksam gemacht hatte. Anfangs verzweifelte er mit seinen Recherchen fast, als ihm Hopkins Manager und seine langjährige Lebensgefährtin jegliches Interview verweigerten; dann machte er sich auf nach Texas und traf im Geburtsort des Gitarristen und Sängers tatsächlich auf entfernte Verwandte und Kindheitsfreunde. Ihm gelingt es im Verlauf seines Buchs, die Mythen und Erinnerungen auseinanderzudröseln, die Hopkins selbst in Interviews oder auch in seiner Musik zu erzählen pflegte, und die über ihn kursierten.

Man weiß wenig über Sam “Lightnin'” Hopkins’ Kindheit, und Govenar muss sich hier vor allem auf andere Quellen verlassen, um die Geschichten zu verifizieren oder wenigstens in die Realität der Zeit einzupassen, etwa die von Hopkins selbst erzählte von seinem Großvater, der sich als Sklave erhängt hätte, weil er es nicht mehr aushielt, laufend bestraft zu werden. Hopkins Vater starb, als der Sohn 3 Jahre alt war. Sam schaute sich die Technik des Gitarrespielens von seinen älteren Brüdern und anderen Musikern des Dorfes ab. Govenar beschreibt die Bildungsmöglichkeiten und die Zwänge der Feldarbeit in jener Zeit, aber auch die Square Dances, die Hopkins in seinem Dorf erlebte. Mit acht Jahren traf er auf Blind Lemon Jefferson, der ihn in seinem Spiel ermutigte. Der Junge erahnte, dass die Musik eine Chance sein könnte, sich aus dem Leben eines Sharecroppers zu befreien.

Man weiß nicht genau, aus welchem Grunde Hopkins in den 1930er Jahren ins Gefängnis kam, aber später berichtete er in Wort und Blueslyrics von den Chain Gangs, wenn auch Govenar feststellt, dass seine Texte für einen Mann, der so oft im Gefängnis war, etwas reichlich unoriginell seien. Etwa gegen Mitte der 1930er Jahre traf Hopkins in Dallas auf den Bluessänger Texas Alexander, der bereits etliche Aufnahmen gemacht hatte und ihm zeigte, dass man durchaus auch von der Musik allein leben konnte. Govenar zeichnet daneben auch Einflüsse von Alexanders Stil in Hopkins’ späteren Aufnahmen nach.

Mitte der 1940er Jahre zog Hopkins nach Houston, und auch hier beschreibt Govenar eingehend die soziale und wirtschaftliche Lage, in der sich insbesondere die schwarze Bevölkerung in der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts befand. Er baut eine neuen Karriere auf und wird erstmals öffentlich wahrgenommen, vor allem natürlich, weil nun, 1946, erste Plattenaufnahmen von ihm erscheinen. Hier hat Govenar nun richtige Quellen, die er unter die Lupe nehmen kann: Bluestexte, die es gilt mit der Realität zu vergleichen, Kontorbücher, die Gagen für die Plattenaufnahmen auflisten, und Zeitzeugenberichte, die er immer mehr einführt – auch weil für die aktive Aufnahmezeit des Gitarristen einfach mehr Zeitzeugen zu finden waren als für seinen frühen Jahre. Er fragt nach den Medien, denen sich der Blues in jener Zeit bediente, und wie die Musik an ihre (vor allem schwarzen) Hörer kam.

1959 wurde Hopkins von Samuel Charters wiederentdeckt, der in einem Hinterzimmer u    nd mit einem portablen Aufnahmegerät Aufnahmen vor allem alter Bluessongs machte. Auch Mack McCormick und Chris Strachwitz gehörten zu den Produzenten-Unterstützern Hopkins’, die seiner Karriere letztendlich zu einem neuen Schub verhalfen. McCormick ermutigte ihn bei seinen Aufnahmesitzungen zu singen, was immer ihm in den Sinn kam, nicht also marktorientierte, sondern möglichst persönliche Statements abzuliefern. Hopkins war ein Improvisator durch und durch, der viele seiner Stücke aus dem Stegreif dichtete.

Die 1960er Jahren brachten sowohl in den USA wie auch in Europa ein Blues-Revival, und Govenar beleuchtet die Menschen hinter dieser Bewegung, ihre Beweggründe und ihre Strategien. Hopkins tourte in den Vereinigten Staaten genauso wie in Europa und in den 1970er Jahren sogar in Japan, wenn er auch im Third Ward in Houston wohnen blieb. Gesundheitliche Probleme nahmen zu, und am 30. Januar 1982 verstarb Hopkins im Alter von 70 Jahren.

Eine von Andrew Brown und Alan Balfour zusammengestellte ausführliche Diskographie ergänzt das Buch. Govenars Biographie gelingt es überaus lesenswert, das Leben und das Werk des Gitarristen und Sängers zu beleuchten, Mythen und Realität zu analysieren und aus der Lichtgestalt des Bluesheroen den Menschen Sam Hopkins herauszuschälen.

Wolfram Knauer (Januar 2012)


 

Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis
herausgegeben von Hans-Friedrich Bormann & Gabriele Brandstetter & Annemarie Matzke
Bielefeld 2010 (transcript)
238 Seiten, 26,80 Euro
ISBN: 978-3-8376-1274-5

UMS1274kumediBormann.inddWir Jazzer sehen die Improvisation natürlich als unser ureigenes Feld an; der Jazz schließlich ist diejenige westliche Kunst, in der Improvisation am stärksten zum Prinzip erhoben und am meisten gefeiert wurde. Das vorliegende Buch streift das große Feld der jazzmusikalischen Improvisation eher am Rande, etwa im Beitrag von Christopher Dell, der in seinem Vortrag bei der Tagung an der Freien Universität in Berlin, die Anlass für die hier abgedruckten Texte war, auch gleich selbst improvisierte – im Gegensatz zu den dort “komponierten” (spricht vorgefertigten und abgelesenen) Referate der übrigen Autoren.

Es geht, kurz gesagt, um das Improvisieren in diversen künstlerischen und kulturellen Zusammenhängen, die man mit dem Phänomen der Improvisation mal mehr, mal weniger verbindet. Georg W. Bertram beginnt mit einem allgemeinen Blick auf Improvisation im Alltag und in der Sprache. Roland Borgards untersucht Texte von Thomas Mann und Hugo Ball, die die Improvisation zum Thema haben, und zwar nicht nur der eigentlichen Texte, sondern auch der Textkreation.

Edgar Landgraf schaut historisch auf die Improvisation auf der Theaterbühne zwischen Commedia dell’arte und dem frühromantischen Konzept des Universallustspiels. Sandro Zanetti holt noch weiter aus und betrachtet Improvisation vor dem Hintergrund der antiken Rhetorik und der romantischen Literatur. Markus Krajewski schaut genauer auf den Butler in “Dinner for One” und fragt nach dem Verhältnis von Routine und Improvisation in dessen Handeln.

Annemarie Matzke betrachtet die Funktion der Improvisation im Schauspiel, und Gabriele Brandstetter sowie Friedrike Lampert schauen auf die Bedeutung von Improvisation in der künstlerischen Tanzpraxis. Schließlich beleuchtet Kai van Eikels die beliebten Übersetzungen der Improvisation, wie sie etwa im Jazz stattfindet, auf Organisationstheorien.

Improvisation, das lernt mal schnell in diesem Buch, ist weitaus mehr als das, was wir uns gemeinhin darunter vorstellen, egal ob wir aus dem Jazz kommen oder meinen, jeder improvisiere doch eigentlich immer. Weder unfertig noch vollkommen ungeplant, ist das Prinzip der Improvisation letztlich ein Zurückgreifen auf Erlerntes und Erfahrenes, die Fähigkeit schnellstens Entscheidungen zu treffen, die alles ändern können, das Ziel also sowohl im Blick zu behalten wie auch nicht als ultimatives Ziel zu sehen.

Wolfram Knauer (Januar 2012)


 

Unfinished Blues. Memories of a New Orleans Music Man
Von Harold Battiste Jr. (& Karen Celestan)
New Orleans 2010 (Historic New Orleans Collecion)
197 Seiten, 28,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-917860-55-3

2010battisteHarold Batiste war zusammen mit Alvin Batiste, Ellis Marsalis, Ed Blackwell und einigen anderen Musikern die moderne Jazzstimme im New Orleans der frühen 1950er Jahre. Mit Marsalis zusammen etablierte er weit später das Jazz Studies Program an der  University of New Orleans. In seiner Autobiographie erzählt er seine Geschichte, die von New Orleans nach Los Angeles führt, vom Jazz zum Geschäft mit der Popmusik und zurück.

Battiste wurde im Herbst 1931 in New Orleans geboren. Das Buch berichtet über die Stadt seiner Kindheit, das Leben in verschiedenen Vierteln und in einem sozialen Wohnungsbauprojekt, über seine erste Metallklarinette, die ihm sein Vater in einem Leihhaus kaufte. Mit elf oder zwölf arbeitete er als Hilfskraft im Dew Drop Inn, wo er jede Menge schwarzer Popkultur  hautnah erlebte. Er ging auf die Gilbert Academy, eine High School, in der er seinen ersten richtigen Musikunterricht erhielt und in der Schulband spielte. Später besuchte er die Dillard University und spielte auch dort in der Hochschul-Tanzkapelle. Sein Studienziel war es, staatlich geprüfter Musiklehrer zu werden.

Mit 18 hatte Battiste seinen ersten richtigen Gig im Orchester des Pianisten Joe Jones, das vor allem Kaufarrangements populärer Bigbandnummern etwa von Stan Kenton spielte. Er heiratete, unterrichtete eine Weile, war aber vom Schulsystem so frustriert, dass er seinen Job kündigte und zusammen mit seinen Kumpanen Ed Blackwell, Richard Payne und Ellis Marsalis an die amerikanische Westküste zog, wohin er wenig später auch seine Familie nachkommen ließ. Einige der Musiker (insbesondere Blackwell) spielten mit Ornette Coleman; Battiste aber begann bald seine zweite Karriere, als er nämlich die erste Hitsingle von Sam Cooke arrangierte und produzierte. Bald darauf kam er auch mit Salvatore Bono zusammen, der wenig später mit der Sängerin Cher als Sonny & Cher Karriere machen sollte.

Die folgenden Kapitel behandeln das Music Business der späten 1950er, frühen 1960er Jahre, R&B-Gruppen, mit denen Battiste zusammenarbeitete, aber auch das Label A.F.O. Records, das er in New Orleans gründete und auf dem er etliche seiner Entdeckungen herausbrachte, unter ihnen etwa Barbara George, die mit “I Know (You Don’t Love Me No More)” einen großen Hit hatte. Mit Sonny & Cher arbeitete er von den 1960er bis in die 1980er Jahre; und neben der Beschreibung seiner Arbeit erzählt er dabei durchaus auch von Copyright-Knebelverträgen, die Battistes Namen aus den Kompositionen und Arrangements strichen, die er gefertigt hatte.

1967 produzierte er ein Album mit Mac Rebennack, der bald darauf als Dr. John bekannt werden sollte. Battiste ist mittlerweile ein gemachter Mann, besitzt ein großes Haus, ein großes Auto, hat Erfolg auf der ganzen Linie. Er pendelt zwischen New Orleans und Los Angeles, produziert unzählige Projekte. Er wird musikalischer Leiter der populären Sonny & Cher TV-Show, für die er alle Arrangements fertigt. 1976 gründete er ein neues Label, Opus 43, tut sich mit Ellis Marsalis zusammen und nimmt das erste Album auf, das Ellis mit seinen Söhnen Wynton und Branford einspielte (das aber nie veröffentlicht wurde).

Die letzten Kapitel des Buchs widmen sich den Aktivitäten, mit denen Battiste seiner Heimatstadt etwas von dem zurückgeben will, was er musikalisch von ihr erhalten hatte: Wir lesen etwa von der Gründung der National Association of New Orleans Musicians und von Konzepten für eine bessere Einbindung des Jazz in den Schulunterricht. Nebenbei erfahren wir aber auch über seine Scheidung, die zum Verlust seines Hauses und seines Vermögens führte und auch dazu, dass er mit 58 Jahren eine neue Karriere als Dozent an der University of New Orleans begann / beginnen musste.

Alles in allem ist “Unfinished Blues” eine umfangreiche Autobiographie, die sich manchmal in zu viel Details verliert und der man insbesondere in der Geschichte des Privatlebens deutlich die Verletztheit des Autors anmerkt. Nichtsdestotrotz gibt das Buch einen ungemein interessanten Einblick ins Leben und Überleben eines schwarzen Musikers zwischen Jazz und Kommerz und seine musikalischen wie ästhetischen und spirituellen Werte. Es zeigt zudem unzählige Fotos, die die Stories quasi erlebbar machen, jene Geschichte vom Aufstieg eines Musikers zum Popproduzenten, von seinem Fall, von Neubesinnung und Neufindung.

Wolfram Knauer (Januar 2012)


 

Speak Jazzmen. 55 interviews with jazz musicians
von Guido Michelone
Milano 2010 (EDUCatt)
212 Seiten, 11 Euro
ISBN: 978-88-8311-753-4

2010micheloneGuido Michelone ist ein fleißiger italienischer Jazzkritiker, der regelmäßig für die diversen Fachzeitschriften seines Landes schreibt, außerdem Jazzgeschichtskurse an der Universität von Mailand gibt. Aus den Schubladen seines Schreibtischs hat er für das vorliegende Buch fünfundfünfzig Interviews ausgesucht, die er in den letzten Jahren mit amerikanischen und europäischen (allerdings nicht mit italienischen) Musikern führte. Anlass der auf Englisch abgedruckten Interviews war meist entweder das Erscheinen eines neuen Albums des betreffenden Künstlers oder eine bevorstehende Italientournee.

Unter den Gesprächspartnern sind bekannte Namen wie Don Byron, Billy Cobham, Steve Lacy, Hugh Masekela, Greg Osby, Joshua Redman, Trevor Watts, Lenny White genauso wie der breiten Öffentlichkeit nicht ganz so bekannte Namen, etwa Theo Bleckmann, Antonio Ciacca, Khari B., Tony lakatos, Martin Mayes, Brett Sroka, Torben Walldorf (aber auch Daniel Schnyder, nicht “Scheyder” und Jeremy Pelt, nicht “Pelz”, um gleich mal zwei der falsch geschriebenen Namen zu korrigieren).

Die meisten der Gespräche sind dabei eher kurz; etliche nur ein oder zwei Seiten lang. Immer wieder liest man Standardfragen wie “Was bedeutet der Jazz für Sie?” oder “Wer waren Ihre wichtigsten Einflüsse?”. Ab und an spricht Michelone auch den Unterschied zwischen europäischem und amerikanischem Jazz an, fragt aber selten nach.

Wie sollte er allerdings auch nachfragen? Viele der Interviews nämlich wurden per e-mail geführt. Im Vorwort lobt Michelone die Gedankentiefe der Antworten, vergibt sich bei der gewählten Technik des Mailinterviews allerdings die Möglichkeit der tatsächlichen Vertiefung. So werden viele Themen oft nur angeschnitten. Einige der Fragen wirken zudem hilflos, etwa wenn Michelone Vijay Iyer fragt, wie viele indische Sprachen er denn spräche (Antwort: nur Englisch und ein wenig Französisch).

Alles in allem finden sich durchaus interessante Aussagen in diesem Buch  — die Beliebigkeit der Interviews, und die unterschiedliche Tiefe der Gespräche macht es allerdings zu einer wechselvollen Lektüre, der ein wenig editorisches Geschick gut getan hätte, wenn beispielsweise die Gespräche jeweils mit einleitenden oder beschließenden Worten kommentiert und eingeordnet worden wären.

Wolfram Knauer (Januar 2012)


 

The Comedian Harmonists. The Last Great Jewish Performers in Nazi Germany
von Douglas A. Friedman
West Long Branch/NJ 2010 (HarmonySongs Publications)
306 Seiten, 22,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-9713979-1-0

2010friedmanDie Comedian Harmonists sind bis heute bekannt als eine der populärsten Vokalgruppen des frühen 20sten Jahrhunderts. Sie sind ins deutsche Kulturgut eingegraben wie sonst kaum ein populäres Ensemble, durch Loriot-Cartoons, Nachahm-Bands oder den Ende der 1990er Jahren in die Kinos gekommenen Spielfilm “The Harmonists”, der auf ihrer Geschichte basiert. Douglas Friedman hat sich nach seiner Pensionierung als Vizepräsident einer erfolgreichen amerikanischen Energiefirma an die Arbeit gemacht, die Geschichte des Vokalensembles zu recherchieren. Ihn interessierte der musikalische Kontext des Vokalquintetts dabei genauso wie der soziale, die Verfolgung der jüdischen Sänger und Musiker durch die Nazis.

Sein Buch beginnt mit der Faszination des jungen Harry Frommermann durch Aufnahmen des amerikanischen Vokalquintetts Revelers. Frommermann schrieb eigene Arrangements und schaltete eine Kleinanzeige im Berliner Lokal-Anzeiger, in der er nach “schönklingenden Stimmen” suchte. Im Januar 1928 hatte er die Band zusammen, die er Melody Makers nannte. Friedman rekapituliert die Biographien der Mitglieder: Harry Frommermann, Robert Biberti, Ari Leschnikoff, Roman Cycowski, Erich Collin sowie anderer, kurzfristig mit der Band arbeitender Musiker. Er beschreibt die Probenphase durchs Jahr 1928, das Vorsingen im Scala Club und den Vorschlag des Musikmanagers Eric Charrell, die Band in Comedian Harmonists umzutaufen. Im August nahm das Quintet mit Pianisten seine ersten Schallplatten auf und war sofort ein Riesenerfolg sowohl in Charrells Revue wie auch auf Platte. 1929 tourten die sechs durch Deutschland, 1930 waren sie bereits weit europaweit populär. Hits wie “Ein kleiner grüner Kaktus” oder “Veronika, der Lenz ist da” brachten dabei Optimismus in die Stimmung der Weimarer Republik, eine scheinbar perfekte Paarung des swingend intonierten amerikanischen Jazz mit deutschem Schlager der Zeit.

Friedmann verfolgt die Karriere der Band genauso wie persönliche Schicksale, Liebschaften, Hochzeiten, Erfolge, Nachahmer, Konkurrenten. 1933 kamen die Nazis an die Macht, und mit einem Mal wurde es schwierig für die jüdischen Mitglieder der Comedian Harmonists, spätestens als diesen mit den Nürnberger Gesetzen von 1935 jede Arbeitsmöglichkeit genommen wurde. Das Ensemble teilte sich in eine Wiener Gruppe und ein Berliner Ensemble. Die Wiener Band ging bald auf internationale Tournee, spielte in Australien, Südamerika, Kanada und den USA. Als Hitler Polen überfiel, war diese Band gerade in Sydney, und in den Kriegswirren löste sich das Ensemble 1940 auf – zu sehr hatten die einzelnen Mitglieder mit unterschiedlichen Nachrichten aus der Heimat zu kämpfen.

In Deutschland hatte die andere Hälfte der Harmonists sich unter dem Namen Meistersextett neu gegründet, konnte aber an den Erfolg der früheren Besetzung nicht wirklich anknüpfen und musste außerdem mit Schwierigkeiten durch die Reichsmusikkammer kämpfen, die in Repertoire und Auftreten Mitspracherecht anmeldete. Die Band zerstritt sich insbesondere mit Biberti und löste sich 1941 auf. Im letzten Teil seines Textes schließlich folgt Friedman den Biographien der früheren Comedian Harmonists-Mitglieder von Kriegsende bis zu ihrem Ableben.

Friedman bezieht sich auf Quellen im Nachlass Robert Bibertis an der Staatsbibliothek Berlin sowie auf Zitate aus der 1976 gedrehten Fernsehdokumentation über die Band. Seine Recherche muss man sich dabei etwas mühsam vorstellen, denn der Autor spricht kein Deutsch und musste sich grundsätzlich auf englische Übersetzungen oder Untertitel verlassen. Letzten Endes kann er so kaum originäre Recherchen aufweisen sondern vor allem referieren, was anderswo bereits zusammengetragen wurde. Das tut dem Fleiß seiner Arbeit aber keinen Abbruch, insbesondere, wenn man den umfangreichen (mehr als 100 Seiten starken) Anhang des Buchs aufblättert, der eine genaue Timeline der Band enthält, eine komplette Diskographie sowie eine Auflistung aller bekannten Konzerte mit Anmerkungen zu Gagenhöhe oder anderen Besonderheiten. Schließlich findet sich hier auch eine Repertoireliste anhand von Programmen ausgewählter Konzerte über die Jahre, eine Filmographie, eine Liste von den Harmonists gesungener, aber nie auf Schallplatte eingespielter Titel sowie die obligatorische Literaturliste (die sich im Vergleich zu den anderen Teilen des Anhangs ein wenig dürftig ausmacht).

Alles in allem: eine hoch willkommene Zusammenfassung der biographischen und Karrieregeschichte der Comedian Harmonists, in der sich wenig über die Musik selbst findet, dafür jede Menge Information zur Lebenswirklichkeit eines Starensembles in den dunklen Jahren der Nazizeit. Insbesondere die Anhänge machen das Buch auch für Forscher zu einer hilfreichen Quelle.

Wolfram Knauer (Dezember 2011)


 

The Big Love. Life & Death with Bill Evans
von Laurie Verchomin
Kanada 2010 (Selbstverlag)
144 Seiten, 19,59 US-Dollar
ISBN: 978-1-456563097

2010verchominJazzmusiker sind zuallererst – Musiker. Aber natürlich sind sie genauso Menschen wie wir alle, Menschen, die versuchen eine Balance aus Arbeit und Leben zu finden, aus Pflicht und Vergnügen, aus Ernsthaftigkeit und Liebe. Vom Privatleben eines der ganz großen Jazzmusiker handelt dieses Buch, und dabei vor allem von der Liebe. Der Autorin widmete Bill Evans seine Komposition “Laurie”, die gegen Ende seines Lebens fester Bestandteil seines Bühnenrepertoires war. “For Laurie who inspired this song with love – Bill”, schreibt Evans auf die Kompositionsnotiz, die Verchomin in ihrem Buch abdruckt und die ihn auf ewig mit ihr verbunden habe.

Gleich das Eingangskapitel trifft ins Mark: Laurie Verchomin erzählt, wie Evans am 15. September 1980 in seine Methadonklinik fahren will, um sich mit seinem Arzt zu beraten. Joe LaBarbera fährt sie nach Midtown-Manhattan, und mitten im Gespräch beginnt Evans Blut zu husten. Sie schaffen es noch in die Notaufnahme, doch Evans ist nicht mehr zu retten.

Rückblende: Mitte der 1970er Jahre geht die junge Laurie Verchomin aus Edmonton in Kanada nach New York, mietet ein billiges Hotelzimmer und schreibt sich für Unterricht in einer Schauspielschule ein. Zurück in Edmonton versucht sie ihr Liebesleben neu zu ordnen und jobbt nebenbei als Kellnerin. Bei einem Konzert des Bill Evans Trios, bei dem sie kellnert, lernt sie den Pianisten kennen. Sie schreiben sich, sie teilen sich das Kokain, sie besucht ihn in seiner kleinen Wohnung in Fort Lee, New Jersey. Eindringlich, überaus offen und höchst persönlich erzählt Verchomin von ihrem Eintauchen in eine Welt, die so ganz anders ist als das heimatliche Edmonton. Liebe, Sex, Kokain, Drinks, Schallplatten, Evans’ Ehefrau Nenette, die sie über seine Reihe an Liebschaften aufklärt… Verchomin erzählt über ihre Ängste, für ihn und vor seiner Sucht. Inzwischen ist sie nach Edmonton zurückgekehrt, besucht ihn bei Konzerten in Toronto, begleitet ihn nach Chicago. Zwischendurch erfahren wir von kokaingetränkten Abenden mit Dennis Hopper, vom Village Vanguard, ihrer Rückkehr nach Edmonton. In seiner Wohnung schwadroniert Evans davon, von der CIA überwacht zu werden, und Laurie akzeptiert seine Paranoia, worauf Evans sie schließlich einlädt, ganz zu ihm zu ziehen. Sie erzählt von Auseinandersetzungen mit Bills Agentin und von der Anziehungskraft eines von Drogen zerfressenen Körpers. Sie besucht ihn während eines Gigs in London; wieder zurück in den USA holt sie ihn vom Flughafen ab, beschreibt, wie ausgelaugt, offensichtlich krank und fertig er auf sie wirkte. Wir werden Teil der Szenen eines Musikerlebens: Gigs, Talk-Shows, Hotelzimmer, Flugtickets, Warten, Reisen, Spielen. Und dann… der 15. September 1980, Mount Sinai Hospital: “We couldn’t save him”.

Laurie Verchomins Buch ist vielleicht eines der persönlichsten Bücher über einen Jazzmusiker. Die Autorin ist schonungslos offen, und stellenweise weiß man nicht, mit wem man mehr mitleiden soll: dem sensiblen, schwerkranken Evans oder Laurie, die von der Liebe in eine Beziehung getragen wird, die so viel mehr an Kraft verlangt, als sie je geahnt hatte. Man legt das Buch aus der Hand mit einem beklemmenden Gefühl, aber auch ahnend, dass man das alles bereits wusste, weil Bill Evans es uns in seiner Musik offen legte, in der diese Sensibilität und Verletzlichkeit doch so deutlich durchscheint. Anderthalb Jahre begleitete Verchomin den Pianisten, auch auf seiner letzten Reise. Ihr Buch ist eine persönliche Hommage an das Vermächtnis eines genialen Musikers, der selbst im Leiden und Wissen um den bevorstehenden Tod so viel an Kraft in die Schönheit der Musik steckte. Ihr Buch schildert eine wahrhafte Tragödie, das Zugrundegehen eines Künstlers, und dennoch liest man es mit liebevollem Gesicht – weil wir alle, die wir Bill Evans hören durften, von ebendieser Kraft musikalischer Schönheit zehren konnten und bis heute zehren können.

Wolfram Knauer (Oktober 2011)


 

freebag…? Jazz i Norge 1960-1970
von Bjørn Stendahl
Oslo 2010 (Norsk Jazzarkiv)
613 Seiten, 450 Norwegische Kronen
ISBN: 978-82-90727-14-2

2010stendahlBjørn Stendahls Geschichte des Jazz in Norwegen in den 1960er Jahren ist der mittlerweile vierte Band einer Reihe des Norwegischen Jazzarchivs über die Jazzgeschichte des Landes. Der Umfang des Buchs, der die früheren Bände bei weitem übertrifft, macht klar, dass es sich bei diesem Jahrzehnt um ein entscheidendes handelt: das Jahrzehnt dr Bewusstwerdung, dass Jazz für norwegische Musiker nicht mehr länger ein Feld der Nachahmung amerikanischer Idole war, sondern die Möglichkeit, sich selbst auszudrücken.

Stendahl befasst sich in seinen eingehenden Recherchen mit Lokal- und Regionalszenen, mit auch in Skandinavien abgehaltenen stilistischen Grabenkämpfen zwischen Traditionalisten und Modernisten, mit den Vertriebswegen des Jazz über Radio, Fernsehen, Film, Presse und natürlich die Schallplatte, mit Clubs, Festivals und Musikerverbänden, mit der Struktur also einer sich organisierenden Szene. Das geht zum Teil schon sehr ins Detail, so dass das Buch wohl vor allem als Nachschlagewerk zu nutzen ist, in dem man blättert, um einzelne Episoden herauszugreifen, die im register leicht ansteuerbar sind. 613 Seiten im Stück zu lesen, das wird wohl kaum einer tun, auch wenn es sich lohnt, da Stendahl immer wieder spannende Fundstücke einschließt, Interviewschnipsel etwa, beispielhafte Club- und Festivalprogramme, Besetzungen und vieles mehr. Und natürlich gibt es Fotos zuhauf.

Fakten erfährt man also jede Menge, über musikalische Inhalte allerdings schweigt sich Stendahl meist aus. Zu Jan Garbareks Entwicklung etwa finden sich Auftrittsdaten nebst Besetzungen und parallel auftretenden Bands, über seine musikalische Ästhetik aber erfährt man eher nebenbei, in knappen Zitaten aus zeitgenössischen Rezensionen. Mehr aber war wohl auch nicht Stendahls Aufgabe im Rahmen der Reihe, die das Buch den Tatsachen entsprechend als “faktengefülltes Nachschlagewerk für speziell Interessierte” anpreist.

Oh ja, ein wenig norwegische Sprachkenntnisse sind von Vorteil, wobei das Norwegische Jazzarchiv auf seiner Website eine englischsprachige Zusammenfassung anbietet.

Wolfram Knauer (Oktober 2011)


 

in’n out. in-fusiones de jazz
herausgegeben von Julián Ruesga Bono
Sevilla 2010 (arte-facto)
277 Seiten,
ISBN: 978-84-614-5668-0

2010bonoJazz, schreibt Julián Ruesga Bono im Vorwort zu diesem Buch, bekam die Mischung der Kulturen quasi in die Wiege gelegt. Wer vom Jazz also Stilfundamentalismus verlange, habe die Musik nicht verstanden. Entsprechend sammelt er in fünf thematischen Kapiteln Essays über einige der Fusionen, die der Jazz nach seiner Gründung einging.

Luc Delannoy befasst sich mit den Annäherungen zwischen lateinamerikanischen Musikrichtungen und dem Jazz zwischen den afro-kubanischen Aufnahmen Dizzy Gillespies und heutigen Projekten, in denen sich Jazz mit Traditionen Lateinamerikas mischt. Luis Clemente beschreibt die Verbindung jazzmusikalischer Improvisation mit dem andalusischen Flamenco und nennt historische sowie aktuelle Beispiele. Daniel Varela beschäftigt sich mit der Fusion von Jazz und zeitgenössischer Musik, wobei er als Fallbeispiele auf Aufnahmen aus Deutschland, den Niederlanden, England und den USA zurückgreift. Norberto Cambiasso zeichnet die politische Bedeutung des Jazz der 60er und 70er Jahre in Europa nach, bei Exilamerikanern genauso wie im erstarkenden europäischen Jazz, verweist auf konkrete politische Bezüge genauso wie auf allgemeine ästhetische Statements. Santiago Tadeo deckt den Bereich der elektronischen Experimente im Jazz insbesondere der jüngsten Zeit ab, also all das, was unter dem Terminus “Nu-Jazz” gehandelt wird, blickt dabei aber auch auf die Vorgänger, die seit den 60er Jahren elektronische Instrumente in den Jazz integrierten.

Neben diesen konkreten Kapiteln zu verschiedenen Formen von Fusionen zwischen “Jazz und…” enthält das Buch noch einen Rundumschlag von Chema Martínez über den Jazz im Jahr 2010, in dem man allerdings wirklich jüngere Namen vergeblich sucht, sowie eine Übersicht über Studien zum Jazz in Spanisch sprechenden Ländern.

Er habe das Buch auch “Notizen zu einer anderen Geschichte des Jazz” nennen können, schreibt Bono in seinem Vorwort, und tatsächlich stoßen die einzelnen Kapitel Themenstränge zu einer Musik an, die mittlerweile eben nicht allein mehr eine afro-amerikanische ist, sondern seit langem ihr eigenes Leben in vielen Ländern außerhalb der USA führt.  Die Kapitel stehen dabei manchmal etwas sehr bezugslos nebeneinander, aber das macht dann auch wieder den Charme des Buchs aus, das darin deutlich macht, wie wichtig es ist, all die Fäden, die hier nur angerissen werden, aufzunehmen und in ein Gesamtbild des Jazz als eines großen globalen Projektes zu weben.

Wolfram Knauer (Oktober 2011)


 

Louis Armstrong. The Soundtrack of The American Experience
von David Stricklin
Chicago 2010 (Ivan R. Dee)
182 Seiten, 15,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-56663-836-4

2010stricklinNoch eine Biographie des ersten wirklichen Stars des Jazz. David Striklin hat ein hübsches Büchlein vorgelegt, das Louis Armstrongs Leben beschreibt und daran entlang dessen afro-amerikanische Erfahrung herausstellen will. Und so gibt es in seinem Buch vor allem zwei Erzählstränge: den biographischen, der allseits bekannt ist und von ihm meist mit Verweisen auf die ebenfalls bekannten Armstrong-Biographen sowie Zitaten vom Trompeter selbst abgefeiert wird, sowie jenen, der von einer schwarzen Künstlerkarriere berichtet, die in Abhängigkeit vom weiß dominierten Markt gelebt wurde.

Stricklin beschreibt die Arbeitsumgebung erst in New Orleans, dann Chicago, dann New York, schließlich global. Er beschreibt die Entwicklung von einem jungen Trompeter, der froh war, mit seinen Mentoren spielen zu dürfen, hin zum eigenständigen Künstler, der sein eigener Herr war und seinerseits plötzlich überall Nachahmer fand. Er beschreibt Armstrong als freien und selbstbewussten Afro-Amerikaner, der weiße Hilfe durchaus annahm, auch immer wichtige weiße Geschäftspartner (bzw. Manager) hatte, sich selbst aber nicht die Butter vom Brot nehmen ließ.

Er beschreibt den Erfolg genauso wie die Schwierigkeiten, die Satchmo in den 1940er Jahren durchmachte, internationale Tourneen und seine Rückkehr nach New Orleans, das politische Bewusstsein des Trompeters und den populären Erfolg in den 1960ern. Das alles tut er in gut lesbaren Worten, aber nie mit allzu viel Konzentration auf das, was Armstrong eigentlich ausmachte, nämlich die Musik. Selbst im Schlusskapitel “The Recordings” kommt das Musikalische eher knapp und kaum aussagekräftig zu Wort, und so bleibt es bei vielen bekannten Fakten, neu sortiertem Atmosphärischem und einem wenig kritischen Literaturüberblick.

Für Einsteiger ist dieses Buch sicher kein Fehler; wer je ein anderes Armstrong-Buch gelesen hat, wird hier allerdings wenig Neues lernen.

Wolfram Knauer (Oktober 2011)


 

Blue Smoke. The Lost Dawn of New Zealand Popular Music 1918-1964
von Chris Bourke
Auckland 2010 (Auckland University Press)
382 Seiten, 59,59 New-Zealand-Dollar
ISBN: 978-1-86940-455-0

2010bourkeMan verliert als Europäer ja doch manchmal die Übersicht über die Welt. Hat man doch gerade erst akzeptiert, dass sich mit der Entdeckung Amerikas der Horizont gezwungenermaßen erweitert hat und dass in der Popmusik die Amerikaner das Zepter in der Hand halten, hat man darüber hinaus gerade erst selbstbewusst die amerikanische Musik sich angeeignet und nun eigene Wege innerhalb derselben gefunden und proklamiert, da stößt man darauf, dass selbst am anderen Ende der Welt, in Gegenden, die man auf der popmusikalischen Weltkarte gar nicht auf Schirm hatte, Jazz, Bluegrass, Country, Rock und Popmusik ihren Siegeszug antraten, und das alles etwa zur selben Zeit wie bei uns.

Die Bilder ähneln sich, wenn man das opulente großformatige Buch von Chris Bourke aufschlägt: Tanzkapellen, die in ODJB-Manier posieren, größere oder kleinere Swingorchester. Doch dann hält man inne: Gleich zwei Frauen sitzen in der Band von Walter Smith, eine am Banjo, eine am Klavier. An anderer Stelle sieht man ein Banjo-, Mandolinen- und Gitarrenorchester einschließlich eines selbstgebauten Bass-Banjos. Immer wieder Musiker mit Maori oder polynesischem Hintergrund.

Neuseeland, am anderen Ende der Welt, reagierte auf die Jazzmode durchaus zur selben Zeit wie Europa. Bourke beschränkt sich in seiner Darstellung nicht auf die Geschichte des Jazz in Neuseeland, sondern betrachtet den Jazz als Teil vieler anderer populärer und vor allem aus den USA stammender Musikströmungen, die das Land eroberten, und eines der Themen, die sich wie ein roter Faden durchs Buch ziehen, ist die Verbindung all dieser amerikanischen Musikgenres mit den Südseerhythmen der Ureinwohner oder der von Neuseeland abhängigen Inselstaaten der Region.

Viele der Namen, die in seinem Buch auftauchen sind uns Westlern wahrscheinlich fremd. Er nennt etwa den Gitarren- und Banjovirtuosen Walter Smith, den Perkussionisten Bob Adams oder den Saxophonisten Abe Romain, der 1930 nach England ging und dort 1932 in der Begleitband für Louis Armstrong mitwirkte. Er betrachtet die Bedeutung des Rundfunks für die Verbreitung moderner Rhythmen in Neuseeland und wirft einen Blick auf frühe Plattenproduktionen mit Musik der Maoris.

Die Tanzkapellen der 1930er Jahre professionalisieren die Szene, und neben Swing- und Sweetbands erwähnt Bourke für diese Zeit auch erstmals einen Countrysänger, Tex Morton, der sowohl in Neuseeland als auch Australien Furore machte und zwischen 1936 und 1943 an die 100 Titel einspielte.

Der II. Weltkrieg erreichte auch unsere Antipoden. Bourke druckt Reproduktionen einzelner Songtitel ab, die den Kampf der neuseeländischen Truppen unterstützen sollten, und er begleitet die Royal New Zealand Air Force Band auf ihren erfolgreichen inländischen Tourneen. 1942 landeten die ersten US-Amerikaner in neuseeländischen Häfen an und brachten ihre eigene Musik mit. Schwarze Amerikaner allerdings, schreibt Bourke, waren in Neuseeland zwar ab und an zu sehen, ihre Musik aber sei kaum gehört worden. Eine der amerikanischen Bands immerhin, die nach einer langen Tour durch den Pazifik in Auckland anlangte, wurde vom Klarinettisten Artie Shaw geleitet.

Für die direkte Nachkriegszeit beleuchtet Bourke die Monopolkämpfe der Plattenindustrie, beschreibt Vertriebswege und Verkaufsstrategien. Einschübe beleuchten etwa die Karriere des blinden Pianisten Julian Lee, der auf Anraten Frank Sinatras in die Vereinigten Staaten ging, dort Sessions mit Chet Baker und anderen spielte und Arrangements für Stan Kenton schrieb.

Ende der 1950er Jahre veränderte sich die Popmusikszene. Sängerinnen und männliche Vokalgruppen wurden beliebt, genauso pseudo-Hawaiianische Bands und Country-and-Western-Gruppen. Bourke hebt besonders die Sängerin Mavis Rivers hervor, die Pianistin Nancy Harrie und den Pianisten Crombie Murdoch. Die Fotos fangen an etwas lächerlich zu wirken, wenn man neuseeländische Musiker in Cowboyhut und mit Westerngürtel sieht, eine Pseudo-Folklore, die durchaus auch auf das ländliche Leben des eigenen Landes Bezug nehmen wollte. Zugleich eroberte auch die Rock ‘n’ Roll-Welle das Land mit Covers der Hits von Elvis Presley, Bill Haley und anderen.

Bourke lässt seine neuseeländische Popmusikgeschichte im Jahr 1964 enden, also mit dem Erfolg des Rock ‘n’ Roll. In seinem Vorwort schreibt er, er wäre gern eingehender auf regionale Szenen eingegangen, die aber glücklicherweise in lokal begrenzten Geschichtsdokumentationen abgedeckt seien. Sein Buch jedenfalls gibt einen exzellenten Einblick in ein – aus europäischer Sicht – sehr exotisches Kapitel der globalen Popmusikentwicklung.

Wolfram Knauer (September 2011)


 

Horst Lippmann. Ein Leben für Jazz, Blues und Rock
von Michael Rieth
Heidelberg 2010 (Palmyra Verlag)
230 Seiten, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-930378-79-1

2010riethZusammen mit seinem langjährigen Kompagnon Fritz Rau verkörperte Horst Lippmann den Siegeszug amerikanischer Musik im Nachkriegsdeutschland. Er spielte er Schlagzeug, organisierte im Restaurant seiner Eltern Jam Sessions, gab eigene Zeitschriften zum Jazz heraus, ermutigte die Gründung von Hot-Clubs und Hot-Club-Zusammenschlüssen zur Deutschen Jazzföderation, ermöglichte Konzerte und Festivalevents mit vielen deutschen Musikern und begleitete nicht zuletzt amerikanische Stars, die sich in seinen Händen so wohl fühlten, dass es sich bald herumsprach und Lippmann+Rau zur erfolgreichsten deutschen Konzertagentur zwischen Jazz, Blues, Rock und darüber hinaus wurde.

Jetzt hat Michael Rieth die Geschichte Horst Lippmanns niedergeschrieben und dabei versucht sich Lippmann als Geschäftsmann, als Jazz- und Musikfan und als Mensch zu nähern. Rieth weiß darum, wie wichtig Lippmanns oft nur im Hintergrund wahrgenommenen Aktivitäten für das deutsche Jazzleben waren, und immer wieder verweist er auf diese Bezugsstränge: Lippmanns Faszination mit der Musik, Lippmanns pragmatische Projektideen und -umsetzungen, der populären Erfolg dieser Projekte und die daraus resultierenden Veränderungen in Lippmanns Privat- und Geschäftsleben.

Gleich in seinem Vorwort erklärt Rieth, dass er, der Feuilletonist, der Literatur näher stünde als der biographischen Faktenhuberei. Und so liest sich sein Buch flüssig und spannend, weil er hinter den Lebensstationen, hinter den Begegnungen, hinter den musikalischen Begebenheiten, die Geschichten sucht, das Menschliche, das Lippmann dazu brachte dies oder jenes zu tun. So lässt Rieth die jugendliche Faszination Lippmanns durch den Jazz lebendig werden, stöbert in den “Jazz News”, die Lippmann ab Frühsommer 1945 (!) in hektographierter Form herausgab, fühlt das Entstehen einer lokalen Jazzszene nach, bei dem die Frankfurter Jazzer mindestens genauso wichtig waren wie die Möglichkeit für die Amerikaner und mit den Amerikanern zu spielen. Er zeichnet die Gründung des legendären Jazzkellers nach, aber auch die Sessions und Feiern “im Hause Lippmanns”, anfangs in Frankfurt, später im neu gebauten Eigenheim nahe des Flughafens. Olaf Hudtwalcker, Carlo Bohländer und Emil Mangelsdorff finden Erwähnung, und auch die Plattennachmittage, bei denen Lippmann und andere Vorträge über ihre liebsten Künstler oder neue Entwicklungen im Jazz vorbereiteten.

Familie Lippmann erhält noch schnell ein eigenes Kapitel, bevor Rieth vom Fan zum Geschäftsmann Lippmann schwenkt, der Sidney Bechet und Ted Heath nach Deutschland holte, Tourneen bekannter Jazzensembles für die Deutsche Jazzföderation durchführte, und, nachdem er sich während der Jazz at the Philharmonic-Tournee des Jahres 1952 als Organisationsgenie entpuppte, künftig sämtliche deutsche Tourneen für Norman Granz durchführte. Natürlich lässt Rieth Lippmanns langjährigen Geschäftspartner Fritz Rau zu Wort kommen, und er transkribiert Raus unnachahmlich dialektgefärbten Tonschlag, der so viel an Wärme und Freundschaft rüberbringt, die “nur” in Worten leicht verloren ginge. Rieth würdigt Lippmanns Einfluss sowohl auf die Gründung des Jazzensembles des Hessischen Rundfunks als auch einer eigenen Jazzredaktion beim hr oder seine Tätigkeit als Regisseur der SWR-Fernsehreihe “Jazz – gehört und gesehen”. Sein Engagement (und Kiesers Plakate!) beim Deutschen Jazz Festival ist genauso Thema wie das American Folk Blues Festival und dessen Einfluss auf die britische Rockmusik. Den Arbeitsalltag von Lippmann + Rau überlässt Rieth Lippmanns Kompagnon Rau, von dem ja erst kürzlich eine eigene Biographie voller Geschichten und Erlebnisse erschien.

Einige Stationen in Lippmanns so überaus aktivem Leben vernachlässigt Rieth in seinem Buch, etwa die Produktionen, die er in den 1960er Jahren für das Label Columbia machte und mit denen er dem deutschen modernen Jazz eine Plattform geben wollte. Solche und andere Details aber werden in anderen Bücher abgehandelt, etwa in Jürgen Schwabs opulentem “Der Frankfurt Sound”. Michael Rieth gelingt in seiner Biographie vor allem eines: den Menschen Horst Lippmann in seiner ganzen Faszination durch und Begeisterung für den Jazz darzustellen, die letzten Endes Beweggrund auch für all seine geschäftlichen Entscheidungen war. Es ist ein lesenswertes Buch geworden, schnell verschlungen, weil Rieth Anekdoten mit Reflexionen mischt, und weil seine Sprache sich nun mal “gut liest”. Es ist eine liebevolle und gelungene Verneigung vor diesem großen deutschen Impresario und mehr noch vor dem großartigen Jazzfreund Horst Lippmann.

Wolfram Knauer (September 2011)


 

Das Blaue Wunder. Blues aus deutschen Landen.
Herausgegeben von Winfried Siebers und Uwe Zagratzki
Eutin 2010 (Lumpeter & Lasel)
540 Seiten, 27,80 Euro
ISBN 9788-3-9812961-5-0

2010siebersMan merkt den Herausgebern den guten Willen an, eine tiefgehende, vielschichtige Analyse des Status quo des Blues in Deutschland zu liefern. Ausdrücklich wollen sie sich nicht am weit verbreiteten Abgesang auf den Blues beteiligen, sondern vielmehr seine Vielfalt in “regionalen Formen und heterogenen Nischen” dokumentieren. Allein es fehlen den beteiligten Autoren hier und da die zündenden Ideen dieses umzusetzen.

Die Vorgaben der Herausgeber sind offensichtlich und sinnvoll, das erahnt man bereits an den Überschriften der einzelnen Buchteile: “Musiker und Zuhörer“, “Markt und Medien“, “Regionen und Orte“, “Geschichte und Geschichten“ in die das Buch gegliedert ist. Dass fast durchgehend in allen Kapiteln im Wesentlichen “Geschichtchen“ ausgebreitet werden, kann man den Autoren nicht wirklich zum Vorwurf machen. Es wimmelt im Blues ja nur so von Individualisten und Eigenbrödlern.

Heraus gekommen ist dadurch ein buntes und vielfältiges Panoptikum deutscher Bluesgeschichte von Nord nach Süd und von Ost nach West. Von den unterschiedlichen Arbeitbedingungen und Perspektiven derer, die auf der Bühne, bei den Labels, im Radio oder als Veranstalter den Blues haben, erfährt man so einiges. Vieles davon lässt Schlussfolgerungen über den Zustand des Blues in der deutschen Gegenwart zu.

So befasst sich Mit-Herausgeber Winfried Siebers analytisch in seinem Beitrag mit deutschsprachigen Blueszeitschriften. Dass er sich dabei ausschließlich mit den der siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts beschäftigt, mag man allerdings wiederum fast als symptomatisch für das ganze Buch betrachten: Viele der beschriebenen Szenarien verharren in der Vergangenheit, meist in den für den Blues in Deutschland glorreichen 70ies und 80ies. Die Gegenwart kommt dabei mancherorts zu kurz, nicht nur in diesem Beitrag.

Wer sich gerne in unterhalsame Schilderungen der Highlights lokaler Szenen hineinlesen mag, für den ist dieses Buch eine gelungene Bett- oder Urlaubslektüre. Und die humorvoll-ironischen Anekdoten, die der Kabarettist und Schriftsteller Thomas C. Breuer in “Das Blaue Wunder“ am Ende eines jeden Buchabschnitts beisteuert, sorgen allemal dafür, dass man nach dem ein oder anderen zugegebenermaßen etwas schwerfälligen Beitrag nicht allzu schnell wegschlummert.

Arndt Weidler (Dezember 2011)


 

Da den moderne dansemusik kom til Danmark
von Erik Moseholm
Hellerup 2010 (Erik Moseholm Forlag)
247 Seiten, 2 CDs mit 85 Titeln
ISBN: 978-87-993793-0-9

2010moseholmDer dänische Kritiker und Musikwissenschaftler Erik Wiedemann veröffentlichte 1982 die Früchte jahrzehntelange Arbeit über den Jazz in Dänemark. Jetzt legt der renommierte dänische Kontrabassist, Komponist und Jazzpädagoge Erik Moseholm ein Buch, das einmal einen ganz anderen Blick auf die europäische Jazzrezeption zu Beginn des 20sten Jahrhunderts wirft und nämlich fragt, “wie die moderne Tanzmusik nach Dänemark kam”. Ganz bewusst also spricht er im Titel nicht von Jazz, sondern von Tanzmusik. Sein Buch ist eine Kulturgeschichte der musikalischen Akkulturation, des amerikanischen Einflusses, der Skepsis, dass mit Ragtime, Cakewalk und Co die Werte dänischer Kultur zugrunde gehen könnten, aber auch der Faszination mit einer fremden Kultur und zaghaften Versuchen, sie für eigene Zwecke nutzbar zu machen, etwa indem man den tanzbaren Rhythmen dänische Texte unterlegte. Vor allem aber ist sein Buch eine Dokumentation des Verständnisses von Jazz als einer Musik, zu der man tanzen sollte, als einer Musik, bei der das Tanzen im Vordergrund steht.

Moseholm beginnt mit einem Blick auf die europäische Tanzkultur um 1900. Er nennt afro-amerikanische Musiker und Tänzer, die noch weit vor dem Jazz auch in Dänemark auftraten, Sängerinnen und Minstrel-Acts. Er erkennt, dass der Ragtime und der Cakewalk als eine Art exotischer Modetanz nach Europa und damit auch nach Dänemark kamen und zeigt zeitgenössische Karikaturen von Festen mit “Kakedans”, wie der Cakewalk auf Dänisch hieß. Auch das Kapitel “Onestep, Vrikkedans, Twostep og Klapstep” beschäftigt sich mit afro-amerikanischer Musik als Tanzphänomen, beleuchtet diverse Modetänze der Zeit vor 1920, die meist amerikanische Namen trugen.

1919 wurde in Dänemark erstmals der Jazz als ein neues musikalisches Phänomen aus den Vereinigten Staaten thematisiert. Die Original Dixieland Jazz Band und Paul Whiteman waren die Bandbreite, in der Jazz in jenen Jahren rezipiert wurde, also kaum als schwarze Musik, auch wenn der afro-amerikanische Ursprung all der jüngsten musikalischen Entwicklungen durchaus bewusst war. Mosehol erwähnt dänische Musiker, die sich mit der neuen Tanzmusik aus Amerika beschäftigten. Henrik Clausen, Valdemar Eiberg, Emil Reesen und andere Namen fallen, und Moseholm wirft auch einen Blick auf seltsam anmutende Besetzungen wie etwa die Banjo-überladene Kapelle von Marius Hansen. Überhaupt sind Banjo und Saxophon (und vielleicht noch das Schlagzeugset) die am meisten wahrgenommenen und herausgestellten Instrumente dieser neuen Musik.

Doch die Musik an und für sich spielt in diesem Buch tatsächlich eher eine Nebenrolle, das sich vor allem mit dem Phänomen der Tanzmusik beschäftigt und dabei das Tanzen und das Musikmachen “zum Tanzen” in den Vordergrund rückt. Moseholm tut gut daran, auf dieser Tatsache ein wenig herumzureiten, wurde doch der Jazz tatsächlich bis weit in die 1920er Jahre hinein mindestens genauso sehr als Tanz denn als Musik wahrgenommen. Die ersten Bücher über Jazz beschrieben das den Tanz mindestens genauso ausführlich wie die Musik, zu der da getanzt wurde. Erst aus der Rückschau wurde aus dem jazz selbst dieser frühen Jahre eine reine Hörmusik. Doch wer die Rezeption des frühen Jazz in Europa ohne seine enge Verbindung zum Tanz betrachtet, missversteht die Umgebung, in der diese Musik hier gepflegt wurde.

Zwischendurch immerhin wirft Moseholm auch den einen oder anderen Blick auf die Orchesterleiter und Bands, die für die Tanzmusik jener Jahre in Dänemark verantwortlich waren, beleuchtet die Arbeit des Staatlichen Radiosinfonieorchesters, nennt Otto Lington, Teddy Petersen, Kaj Julian Olsen, Erik Tuxen, Kai Ewans, Louis Preil und andere. Für die 1930er Jahre reflektiert er noch kurz über die aufkommende Jitterbug-Mode und listet in einem abschließenden Kapitel Modetänze auf, sortiert nach den Jahren, in denen sie in Dänemark eingeführt wurden. In den 1950er Jahren sei das Phänomen des Jazz als Tanzmusik weitestgehend Geschichte, schreibt Moseholm; Jazz sei vor allem Konzertmusik geworden und seine Funktion als Tanzmusik sei nun von anderen Genres übernommen worden.

In einem Appendix zum Buch findet sich etwas unvermittelt zum Rest des Buchs dann noch eine ausführliche biographische Skizze des Schlagzeugers Allan Rasmussen, der in der dänischen Jazzszene der Nachkriegszeit aktiv war.

Dem Buch sind zwei CDs beigefügt, die insgesamt 85 Titel enthalten, eingespielt zwischen 1909 und 1944.

Der Jazzbassist Erik Moseholm wirft mit seinem Buch einen erfrischend “anderen Blick” auf die Rezeption afro-amerikanischer Musik in Europa, einen Blick auf die in den meisten Jazzgeschichtsbüchern oft vernachlässigte Funktion dieser Musik. Sein Buch ist damit vor allem als sinnvolle Ergänzung der zu Beginn erwähnten Jazzgeschichte von Erik Wiedemann zu lesen.

Wolfram Knauer (September 2011)


 

Historia Jazzu w Polsce
von Krystian Brodacki
Krakau 2010 (PWM Edition)
626 Seiten
ISBN
978-83-224-0917-6

2010brodackiUnter den europäischen Jazzgeschichten ist die polnische die vielleicht konnotationsbelastete. Überall im Osten stand der Jazz für Freiheit, war ein Fenster in den Westen, ein Symbol für eine andere Art von Demokratie, für Individualität und Eigenständigkeit. In Polen aber schufen Jazzmusiker Freiräume, die weit über den Jazz hinausreichten. Kristian Brodackis Buch erzählt die Geschichte des Jazz in  Polen von den 1920er Jahren bis heute, und ein Subtext seines Buches ist neben den biographischen Stationen der erwähnten Musiker immer, wie diese Musik sich in einem System durchsetzen konnte, das dem Jazz eigentlich eher suspekt gegenüberstand. Die ersten Jahre bis Kriegsende füllen die ersten 100 Seiten und handeln von Ady Rosner und von Strategien in angespanntester Lage, jene faszinierende amerikanische Musik zu machen, zu hören und dazu zu tanzen. Dann geht Brodacki chronologisch in Fünfjahresschritten vor, beleuchtet einzelne Biographien, lokale Szenen und die um die Jazzszene langsam entstehenden Netzwerke, Clubs und Zeitschriften. International bekannte Musiker wie Krzysztof Komeda oder Tomasz Stanko werden ausführlich gewürdigt, aber allein beim Durchblicken des Namensindex merkt man schnell, dass es Brodacki auf Vollständigkeit ankam. Die macht die Lektüre denn auch stellenweise etwas anstrengend, wenn sie über lange Strecken Namensketten bildet, aber weniger über die Besonderheit des betreffenden Individualstils aussagt. Solche musikalischen Chatakterisierungen überlässt Brodacki vor allem Musikerzitaten, die er immer wieder in seinen Text einfließen lässt. Brodackis Werk ist auf jeden Fall ein wichtiger Stein auf dem Weg zu einer immer noch nicht vollendeten europäischen Jazzgeschichte, die die vielen nationalen Geschichten dieser Musik zusammenfasst und miteinander verwebt.

Wolfram Knauer (August 2011)


 

The Jazz Loft Project. Photographs and Tapes of W. Eugene Smith from 821 Sixth Avenue, 1957-1965
von Sam Stephenson
New York 2010 (Alfred A. Knopf)
268 Seiten, 40,00 US-Dollar
ISBN: 978-0-307-26709-2

2010stephensonEs ist eine skurile Geschichte, die Anlass dieses Buchs ist: Der Fotograf W. Eugene Smith, der einen gut bezahlten Job bei der Illustrierten “Life” hatte, zog 1957 in ein heruntergekommenes Gebäude auf der Sixth Avenue zwischen 28ster und 29ster Straße. Er begann das Treiben auf der Straße im New Yorker Blumenviertel zu dokumentieren, aber auch das nächtliche Treiben im Haus selbst, in dem neben ihm der Fotograf David X. Young lebte, aber auch die Jazzmusiker Hall Overton und Dick Cary. Das Gebäude wurde bald zu einem der heißesten Jam-Session und Probenorte der Stadt, und Smith, der wie ein Besessener seine Umwelt mit der Kamera dokumentierte, begann auch die Klänge mitzuschneiden, indem er das ganze Gebäude mit Mikrofonen überzog und aufnahm, was immer sich im Gebäude tat. Im Nachlass des Fotografen fanden sich so etwa 40.000 Bilder, die er zwischen 1957 und 1965 im oder um das Gebäude herum aufgenommen hatte sowie 1.740 Tonbänder (also 4.000 Stunden) mit Musik, Gesprächen, Telefonaten, Rundfunksendungen und vielem mehr – eine Komplett-Dokumentation von Zeitgeschichte, vergleichbar vielleicht den Dean-Benedetti-Mitschnitten Charlie Parkers, die vor einigen Jahren auf dem Mosaic-Label veröffentlicht wurden, nur noch viel verrückter und umfassender.

Das Buch “The Jazz Loft Project” erzählt die Geschichte des Hauses 821 Sixth Avenue und seiner Bewohner, festgehalten durch die Bilder und Tonbänder W. Eugene Smiths und untermauert durch Interviews mit Zeitzeugen. Die Bilder zeigen Musiker wie Thelonious Monk, der sich im Haus regelmäßig mit Hall Overton traf, um sein Town-Hall-Konzert vorzubereiten und mit der Bigband dort zu proben, Zoot Sims, Buck Clayton, Dave McKenna, Bud Freeman, Wingy Manone, Gus Johnson, Jimmy Giuffre, Bob Brookmeyer, Jim Hall, Ronnie Free und viele andere, bei Sessions oder in Gesprächen. Viele der exzellenten Fotos aber haben gar keinen Jazzgehalt, sondern zeigen einfach Szenen von der Straße, Blumenlieferungen für den Floristen gegenüber, einen Tortenbäcker, aus Autos ein- und aussteigende Menschen, Spaziergänger im Schnee, einen Unfall, Norman Mailer, Salvador Dali, einen Polizisten, eine Frau mit Kinderwagen. Dazwischengeschaltet, mit Datum versehen Transkripte aus den Bändern, Dialoge zwischen Musikern, Gesprächsfetzen, den Hörtrack zu Sonny Clark, wie er sich Heroin spritzt und langsam high wird und seine Freunde sich Sorgen machen, ob alles in Ordnung ist. Monk und Overton unterhalten sich über das bevorstehende Konzert. Roland Kirk spricht mit Jay Cameron, Alice Coltrane und Smith diskutieren darüber, ob es wohl rechtlich und ethisch in Ordnung sei, all die Musik im Loft aufzunehmen. Zwischendrin bunte Abbildungen der Tonband-Cover und ihrer Beschriftungen, der Leihhausquittungen für Kameras, die Smith kurzzeitig weggab, um Geld locker zu machen. Zoot Sims erzählt von einem Club, in dem er für Striptease-Tänzerinnen spielte. Eine Frau wühlt in ihrer Handtasche. Ein Mann fegt Blumen von der Straße auf. Zufällige Szenen und doch nicht zufällig, herausgegriffen aus acht Jahren Fotos und Tonbändern, dem Blick aus dem Haus, in das Haus auf der Sixth Avenue.

Ein Buch für Voyeure, meint man stellenweise, und doch mit so viel Gespür und sorgfältigen liebevollen Kommentaren ediert, dass die Frage, “Darf der das überhaupt?!” nicht wirklich aufkommt. Ein wunderbares Buch, das in der Unaufgeregtheit, der Dokumentation des Belanglosen die Zeit genauso zurechtrückt wie es sie verklärt. Für Fotoliebhaber, für Jazzfans, für jeden, für Historiker der Beats. Ein erstaunliches Dokument der Zeitgeschichte, begleitet von einer Website (www.jazzloftproject.org), auf der man in einige der Bänder hineinhören kann und dass außerdem eine Rundfunkdokumentation über das Jazz Loft Project verlinkt.

Wolfram Knauer (Juli 2011)


 

Monument Eternal. The Music of Alice Coltrane
von Franya J. Berkman
Middletown/CT 2010 (Wesleyan University Press)
132 Seiten, 27,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8195-6925-7

2010berkmanNicht nur in der klassischen Musik hat das Schicksal einige Musikerinnen um ihren Ruhm gebracht, weil sie mit Männern verheiratet waren, deren Glanz sie so stark überstrahlte, dass ihre eigene Kreativität kaum mehr wahrgenommen oder wertgeschätzt wurde. Was für Clara Schumann, Fanny Mendelssohn und andere gilt, das findet im Jazz quasi in Alice Coltrane eine Entsprechung. Die Musikwissenschaftlerin Franya J. Berkman hat sich nun daran gemacht, Alice Coltrane aus der Versenkung zu befreien, in die die Jazzgeschichte sie hat fallen lassen, würdigt in ihrer aus einer Dissertation hervorgegangenen Studie die Eigenständigkeit der Musik, die Alice Coltrane seit den frühen 1960er Jahren hervorgebracht hat und die den Jazz als klar abgegrenztes Genre weit transzendiert. Die Jahre nach dem Tod ihres Mannes verbrachte Swamimi Turiyasanitananada, wie Alice Coltrane in ihrem Vedanic Center in Kalifornien genannt wurde, mit der Erforschung einer Verbindung afro-amerikanischer Wurzeln und südasiatischer Musizierpraktiken. Dabei liegt dem lebenslangen Wirken der Pianistin, Harfenistin und Komponistin eine spirituelle Grundhaltung zugrunde, die aus familiärer Spiritualität stammt und die sie als religiöse Sucherin bis zuletzt hochhielt. Die Untersuchung von Spiritualität in der Musik der 1960er und 1970er Jahre aber, weiß Berkman, hat immer auch hoch-politische Gehalt, so dass sie neben der Geschichte der Musikerin und ihrer spirituellen Entwicklung immer auch die Einbettung dieser Entwicklung in die politische Lage der USA in jenen Jahren zu betrachten hat.

Berkman beginnt mit biographischen Notizen: Geboren in Detroit nahm Alice McLeod mit sieben Jahren Klavierunterricht und spielte bald in der Baptistengemeinde, der ihre Familie angehörte. Berkman beschreibt die Musik- und insbesondere die lebendige Jazzszene Detroits in den 1940er und 1950er Jahren und das Modern-Jazz-Network, das sich dort bald zwischen vielen später namhaften Musikern herauskristallisierte. Alices älterer Halbbruder Ernest Farrow war ein angesehener Kontrabassist auf der Detroiter Jazzszene und der Pianist Barry Harris, der fast Alices Halbschwester geheiratet hätte, waren wichtige Lehrer für die Pianistin. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre spielte Alice mit den Premieres, einem “Lounge Act”, der Gospel und Rhythm ‘n’ Blues jener Jahre mischte. 1960 verbrachte zusammen mit ihrem ersten Mann, dem Bebop-Sänger Kenny Hagood, ein Jahr in Paris, wo sie Bud Powell traf, der für sie ein weiterer wichtiger musikalischer Mentor werden sollte. Zurück in den USA (inzwischen geschieden und mit einem ersten Kind) trat Alice mit eigener Band in Detroit auf, der unter anderem der Saxophonist Bennie Maupin angehörte. Während ihrer Pariser Zeit hatte sie John Coltrane ein erstes Mal gehört, als dieser mit Miles Davis dort auftrat. 1962 spielte Coltrane mit eigener Band in Detroit und Alice war hingerissen davon, wie weit er die musikalische Sprache des Bebop vorangebracht hatte. Alice tourte mit der Band des Vibraphonisten Terry Gibbs, mit dem sie 1963 ihre ersten Aufnahmen machte. Berkman analysiert einige ihrer Soli und zeigt dabei die Einflüsse von Harris und Powell, zeigt zugleich, dass Alice McLeod hier schon lange keine Novizin mehr war, sondern eine gereifte Musikerin.

Terry Gibbs’ Band spielte im Sommer 1963 als Vorgruppe für John Coltranes Quartett, und bald waren die beiden erst ein Liebes-, dann ein Ehepaar. Im Februar 1966 machte Alice ihre ersten Aufnahmen mit John Coltrane, und der Einfluss, den ihr Mann auf ihre musikalische Sprache hatte, ging wohl durchaus auch in die andere Richtung: Sie beide entwickelten ihre musikalische genauso wie ihre familiäre und ihre spirituelle Seite nunmehr gemeinsam weiter. Berkman nähert sich all diesen Aspekten und verortet das Interesse der beiden an einer Art universeller Spiritualität auch in der politischen Situation der 1960er Jahre. Coltrane, konstatiert sie, habe in Alice die musikalische Suche geweckt – zuvor sei sie doch recht konventionell in ihren ästhetischen Vorstellungen gewesen. Ihr Mann habe ihr vor allem durch die Praxis des Zusammenspiels neue Wege gewiesen, sagt Alice, nicht etwa durch technische Erklärungen. Vor diesem Hintergrund analysiert Berkman “Manifestation”, einen Mitschnitt der John Coltrane Band, der erst 1995 veröffentlicht wurde.

Nach dem Tod ihres Mannes musste Alice Coltrane sein musikalisches, spirituelles und familiäres Erbe weitertragen. Berkman spielt einen Moment lang die Psychoanalytikerin und diagnostiziert eine schwere Depression, ausgelöst durch den Verlust des Saxophonisten. Ihre ersten Alben nach Coltranes Tod fanden zwar nicht den größten kritischen Zuspruch, zeigten aber, wie Berkman schreibt, eine sich entwickelnde Komponistin, die mit neuen Timbres und Instrumentierungen experimentiert, mit der Beziehung zwischen Struktur und Freiheit und dem Potential einer ruhigeren Dynamik. Berkman analysiert die ersten Alben der frühen 1970er Jahre, insbesondere “Universal Consciousness” von 1971 und beschreibt den Einfluss ihres indischen Gurus auf ihre Arbeit. 1976 hatte Alice eine Erweckungserfahrung, aufgrund derer sie die orange Kluft eines spirituellen Führers der Hindu-Tradition aufnahm und einen Ashram gründete. Berkman beschreibt die Hymnen, die jetzt Teil eines spirituellen Rituals wurden und dabei den Zirkelschluss einer Entwicklung von religiösem Erwachen bis religiöser Erweckung bilden.

Berkmans Buch ist aus einer Dissertation entstanden, dennoch über weite Strecken flüssig zu lesen, da die Autorin sich an der Biographie genauso wie den Aufnahmen von Alice Coltrane entlang hangelt. Stellenweise würde man sich eine etwas ausführlichere Diskussion spiritueller Tendenzen in der afro-amerikanischen Community ihrer Zeit wünschen, um John und Alice Coltranes Entwicklung besser einpassen zu können. Das aber war nicht die von der Autorin selbst gestellte Aufgabe, und so liefert “Monument Eternal” einen mehr als brauchbaren Einblick in Leben und Werk einer von der Jazzgeschichte zu Unrecht links liegen gelassenen Künstlerin.

Wolfram Knauer (Juli 2011)


 

Kurt Henkels. Eine Musiker-Biographie mit ausführlicher Diskographie
von Gerhard Conrad
Hildesheim 2010 (Olms)
252 Seiten, 19,80 Euro
ISBN: 978-3-487-08499-2

2010conradKurt Henkels war einer der erfolgreichsten deutschen Bandleader, der in der DDR als Leiter des Rundfunk-Tanzorchesters gekonnt Swing und Schlager miteinander verband, 1959 dann die DDR verließ und in Westdeutschland erst beim, NDR, und später kurze Zeit beim ZDF ein Orchester leitete. Henkels wäre im Jahr 2010 hundert Jahre alt geworden; aus Anlass des Jubiläums widmet Gerhard Conrad ihm eine Biographie. Conrad ist einer der kenntnisreichsten Experten zum frühem Jazz und zur Tanzmusik in Deutschland, und er kann für sein Buch auf eigene Recherchen, vor allem aber auch auf Gespräche mit vielen Zeitgenossen des Bandleaders, ja sogar mit Henkels selbst zurückgreifen.

Sein Buch ist vollgefüllt mit Fakten, Details und Geschichten, vermittelt dabei über die Daten eines Lebens und musikalischen Wirkens hinaus auch viel über die Lebenswirklichkeit eines Musikers zwischen Jazz und Unterhaltungsmusik, eines Musikers, der seine Liebe, die swingende Musik, auch in einem Land hochhalten wollte, in dem der Jazz als Musik des Klassenfeind galt. Conrad unterscheidet dabei meist klar zwischen Jazz und Tanzmusik, ohne diese Unterscheidung zu einer Wertung werden zu lassen. Und immer wieder beschreibt er knapp, aber kenntnisreich einzelne Aufnahmen Henkels.

Das Buch wird abgerundet durch eine ausführliche Diskographie der Aufnahmen Kurt Henkels von 1948 bis 1965. Conrad beleuchtet mit seiner Biographie Henkels scheinbar nur ein Randkapitel deutscher Jazzgeschichte, schildert dabei aber zugleich viel von der Lebenswirklichkeit, mit der auch Jazzmusiker sich immer wieder auseinanderzusetzen hatten.

Wolfram Knauer (März 2011)


 

Blues In My Eyes. Jazzfotografien aus sechs Jahrzehnten
Weitra (Österreich) 2010 (Bibliothek der Provinz)
204 Seiten, 39 Euro
ISBN: 978-3-85252-603-4

2010kohnDer Bamberger Fotograf Werner Kohn ist seit den späten 1950er Jahren mit der Kamera unterwegs und dokumentiert seit 1959 regelmäßig auch Konzerte mit Jazz- oder Blueskünstlern. Nun ist ein opulenter Bildband erschienen, in dem fast 200 seiner Fotos zu sehen sind, schwarzweiß oder Farbe, meist auf der Bühne und bei der Arbeit. Das Buch heißt “Jazzfotografien”, daneben aber sind auch Blues- und Rockmusiker zu sehen, in Aufnahmen von 1959 bis 2004 (also aus eigentlich fünf statt sechs Jahrzehnten). Die Armstrong All Stars machen den Anfang, Ella, Ellington, Monk, Coltrane, Doldinger und viele andere. Es sind teils witzige, teils spannende Fotos, etwa von Bertice Reading in einem genialen Sackkleid von 1961, Jimmy Rushing schräg von oben mit Hut, Champion Jack Dupree tanzend, Prince und die Beatles, Miles Davis, Gunter Hampel, Herb Geller. Die meisten der Fotos sind Bühnenportraits, zeigen die Musiker bei der Arbeit am Instrument, vermitteln Intensität, Konzentration oder auch relaxtes Swingen. Viele der Fotos, gerade auch von unbekannteren Musikern, scheinen einen Einblick in die tatsächliche Arbeitswelt der Musiker zu geben; andere Fotos sind wohl vor allem der historischen Bedeutung wegen in die Sammlung aufgenommen worden. Auch unter den farbigen Portraits immerhin gibt es einige exzellente Bilder, das von Pharoah Sanders etwa, oder vom schweißüberströmten Maceo Parker, und auch auf den ersten Blick unscharfe Bilder können durchaus eine bewegende künstlerische Aussage besitzen, etwa das Bild vom träumerisch spielenden Woody Allen an der Klarinette.

Gewiss zeigen einige Bilder fotografische Schwächen, sind leicht unscharf, sehr pixelig oder haben kaum Tiefenschärfe. So passiert es, dass etwa das Gesicht von Margie Evans zu einem flachen orangenen Mond zu werden scheint oder die Silhouetten von Harry Belafonte und Dianne (nicht “Diana!”!) Reeves wie platte Scherenschnitte vor einen schwarzen Hintergrund geklebt wirken. An diesen Stellen hätte man sich einen kritischeren Bildlektor gewünscht. Einige dieser Fotos haben sicher dokumentarischem Wert, doch bedarf dieser dann auch der Erklärung. Von daher man meint im Vorwort von Rolf Sachsse ein gewisses Augenzwinkern mitzulesen, wenn dieser anmerkt, dass sich Kohn “beim Jazz an William P. Gottlieb, Herman Leonard und William Claxton messen lassen” muss. Diese Messlatte ist ziemlich hoch, und Gottlieb, Claxton und Leonard hatten meistens eine editorische Begleitung, die ähnliche  Ausrutscher zumindest erklärten. Nichtsdestotrozu schafft es Werner Kohn, uns mitzunehmen in die Konzerte und leiht uns für den Augenblick des Kameraklicks seine Augen, seine Sicht auf den Jazz.

Wolfram Knauer (März 2011)


 

Der zornige Baron. Das Prinzip Diskontinuität im Leben und konzept-kompositorischen Schaffen des Charles Mingus jr.
von Hans-Joachim Heßler
Duisburg 2010 (United Dictions of Music)
589 Seiten, 29,80 Euro
ISBN: 978-3-942677-00-4

2010hensslerDer Titel des Buches sagt bereits einiges über seinen Inhalt aus: Ein etwas reißerisch wirkender Ober- und ein wissenschaftlich komplexer Untertitel. “Der zornige Baron” steht als Metapher für die Persönlichkeit von Charles Mingus, die sich in seiner Musik widerspiegelt und biographische wie gesellschaftliche Unzufriedenheit abbildet. “Das Prinzip Diskontinuität im Leben und konzept-kompositorischen Schaffen des Charles Mingus jr.” steht für die wissenschaftliche Reflektion über Persönlichkeit und Musik. Ein Spagat also zwischen dem Begreifen und Beschreiben des enorm emotionalen Ausdrucks der Musik des Kontrabassisten und Bandleaders und ihrer Verwurzelung in Lebens- und Gesellschaftserfahrungen sowie der Analyse und Einordnung nach unterschiedlichen wissenschaftlichen Kriterien.

Heßlers Einleitung verweist dabei gleich auf seinen interdisziplinären Ansatz, der vor allem musiksoziologische, sozialpsychologische und musikanalytische Herangehensweisen miteinander verbinden will. Einer der roten Fäden, die sich durch seine Arbeit ziehen, ist dabei die stilistische Vielfältigkeit, der sich Mingus in seiner Arbeit bedient und die ihn Heßler “im Kontext des Idealtypus einer musikalischen Postmoderne” analysieren lässt – bereits hier ein Verweis auf die im Untertitel der Arbeit apostrophierte “Diskontinuität”. Ein zweiter roter Faden ist der Einfluss von Hautfarbe und tatsächlichem oder gefühltem Rassismus auf Mingus’ Werk und Ästhetik. Der problematischste der präsentierten Ansätze scheint auf den ersten Blick jener der sozialpsychologischen Methodik zu sein, innerhalb dessen Heßler die These aufstellt: “Im Verlauf seiner Sozialisation fühlte sich Charles Mingus jr. verschiedenen kulturellen Systemen zugehörig: dem weißen, dem mulattischen und dem schwarzen”, um dann aus den “unterschiedlichen sozialen Rollen, die er dabei einzunehmen hatte” seine “diskontinuierliche Persönlichkeitsstruktur und letztendlich [das] strukturbildende Merkmal der Diskontinuität in seiner Musik” abzuleiten (S. 64). Im folgenden dann bemüht Heßler Freud, Lacan und andere Psychoanalytiker, Philosophen und Soziologen, um Mingus’ Persönlichkeit aus seiner Familie, der sozialen Spannung seines Aufwachsens heraus zu erklären.

Das Kapitel über Mingus’ Sozialisation in Kindheit und Jugend beginnt Heßler mit einem Verweis auf die biologische Anthropologie bedient und spricht dabei – zugegeben: in Vorbereitung auf eine komplexere Betrachtungsweise – von “drei unterschiedlichen Erscheinungsformen (Rassen)” (S. 87), die Charles Mingus in sich vereinige. Im Wissen darum, worum es Heßler dabei tatsächlich geht, fühlte sich der Rezensent hier und in der folgenden Auseinandersetzung mit Mingus’ eigener Identitätskrise als Afro-Amerikaner doch etwas unwohl bei der Verwendung Hautfarbe beschreibender Termini. Es mag dies vielleicht mehr ein begriffliches als ein inhaltliches Problem sein: Im Deutschen jedenfalls sind Begriffe wie “Rasse”, “Mulatte” etc. nun mal belastet. Vielleicht wäre es hilfreicher, hier mit den englischen Originalbegriffen zu operieren, also “race”, “mulatto”, um dadurch den Unterschied der Konnotationen im Englischen und im Deutschen in den Terminus mit einzubeziehen. Überhaupt aber wäre es dem Thema angemessen (und dem Leser durchaus zuzumuten), die Quellen (etwa aus “Beneath the Underdog”) im englischen Original zu präsentieren statt in deutschen Übersetzungen oder das englische Original zumindest in Fußnoten zu zitieren.

Solche kritischen Anmerkungen beziehen sich allerdings eher auf Marginalien ins Heßlers Argumentation. Seine ausführlichen Darstellung von Mingus’ Biographie und deren Einfluss auf seine ästhetischen Haltungen macht letzten Endes sehr klar deutlich, dass Mingus vor allem ein soziales Identitätsproblem besaß, mit dem er sich in einer durch die Bedeutung von Hautfarbe dominierten Gesellschaft keiner der ihn umgebenden Gruppen richtig zugehörig fühlte. Seine Analysen von Aufnahmen des Komponisten beschreiben Klangeindrücke und Strukturabläufe, greifen charakteristische Details heraus und bieten auch schon mal interessante Vergleiche, etwa wenn er Mingus’ “The Chill of Death” Richard Strauß’ “Tod und Verklärung” gegenüberstellt. Gerade in Bezug auf diese Komposition wäre darüber hinaus eine Diskussion der Einordnung des Mingus’schen Schaffens in den Third-Stream-Diskurs der 50er Jahre interessant, an dem Mingus ja durchaus aktiv teilnahm.

Ein eigenes Kapitel widmet Heßler den musikalischen Einflüssen etwa durch Jelly Roll Morton, Art Tatum, Louis Armstrong, Lionel Hampton, Charlie Parker und Red Norvo. Er analysiert Übernahmen und Annäherungen an Mortons Stil, sowohl was den Ragtime als auch den Einfluss lateinamerikanischer Musik anbelangt. Er entdeckt den harmonischen Einfluss Tatums vor allem auf die kompositorische Sprache des Bassisten. Er benennt die klare Aussage durch improvisatorische Mittel, aber auch die New-Orleans-spezifischen Besetzungsdetails als Aspekte, die Mingus von Armstrong übernommen habe. Bei Hampton habe er sein Solotalent entdeckt (etwa in “Mingus Fingers”). Parker habe nicht nur neue musikalische Möglichkeiten aufgezeigt, sondern die Musik auch ins Politische hinein geöffnet; er habe ihm außerdem das Verständnis von Musik als Sprache vermittelt. Norvo habe kammermusikalische Klangkombinationen erforscht, die Mingus in späteren Bands auf andere Art und Weise fortführen sollte.

Eine ganz andere Herangehensweise an Mingus’ Musik versucht Heßler, indem er Studierende der Universität Dortmund einer Befragung zum Gesamteindruck über Stücke von Mingus, Frank Zappa und John Zorn unterzog – jeweils Stücken, die ähnlich wie Mingus mit strukturellen Brüchen arbeiteten. Er fragt nach Hörerwartungen und dem Erlebnis der kompositorischen und strukturellen Umbrüche im Ablauf der Stücke. Im selben Kapitel (das überschrieben ist mit “Mingus im Blickfeld von Philosophie und Soziologie”) fragt Heßler dann auch nach den ökonomischen Bedingungen, innerhalb derer Mingus’ Musik entstand. Er beschreibt wirtschaftliche Abhängigkeiten, Eigeninitiativen, etwa beim Plattenlabel Debut, beim Jazz Workshop oder der Firma Charles Mingus Enterprises.

Das Kapitel “The Angry Man” nähert sich dem zornigen Mingus – zornig gegenüber den Medien, gegenüber anderen Musikern, gegenüber dem Publikum. Das Kapitel “Mingus als homo politicus” betrachtet den Bassisten und Komponisten in seinen politischen Aussagen, die er sowohl in den Titeln seiner Kompositionen, in Ansagen oder eigenen Texten machte. Ausführlich diskutiert Heßler hier Stücke wie “Fables of Faubus”, “Freedom”, “Haitian Fight Song”, “Remember Rockefeller at Attica”, “Free Cell Block F, ‘Tis Nazi USA” und “Meditations on Integration” als politische Musik.

Im Schlusskapitel schließlich verschränkt Heßler die verschiedenen Argumentationsstränge seiner Arbeit noch einmal: Sklaverei und Rassismus, schwarze Musik und schwarze Identität, Diskontinuität als Personalstil, und wendet all diese Diskurse auf “Pithecanthropus Erectus” an.

Heßlers Arbeit ist eine ambitionierte Studie zur Persönlichkeit und Musik von Charles Mingus. Insbesondere in den theoretischen Diskursen ist das – dem thematischen Ansatz der Studie zuzuschreiben – schon mal etwas schwerfällig zu lesen; doch versäumt Heßler es nicht, diese theoretische Ebene immer wieder ins Praktische hinüberzuretten, und die von ihm benutzten Diskurse ganz konkret auf die Musik anzuwenden. Seine Studie ist dabei keine Gesamtstudie des Mingus’schen Schaffens – so fehlt etwa eine Diskussion über improvisatorische Facetten in Mingus’ Arbeit, über seinen Personalstil als Kontrabassist oder über die kommunikativen Aspekte seiner Werke –, aber das ist auch nicht das Thema des Buchs. Dem strukturellen Arbeiten in Mingus’ Musik fügt Heßler auf jeden Fall einige interessante Facetten bei und bereichert so die Literatur zu Charles Mingus um ein wichtiges Kapitel.

(Wolfram Knauer, März 2011)


 

Jazz Behind the Iron Curtain
herausgegeben von Gertrud Pickhan & Rüdiger Ritter
Frankfurt/Main 2010 (Peter Lang)
316 Seiten, 49,80 Euro
ISBN: 978-3-631-59172-7

2010pickhanDas Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin hatte vor einigen Jahren ein Forschungsprojekt unter dem Titel “Jazz im ‘Ostblock’ – Widerständigkeit durch Kulturtransfer” ins Leben gerufen, mit wissenschaftliche Arbeiten angeregt und unterstützt werden sollen, die sich mit der Geschichte des Jazz hinterm Eisernen Vorhang beschäftigen. Bei einer Tagung in Warschau im September 2008 wurden etliche dieser Projekte vorgestellt; das vorliegende Buch in englischer Sprache enthält die Referate der Warschauer Tagung und dabei in der Tat sehr vielfältige Ansätze an das vor allem als historisch begriffene Thema.

Insgesamt sind es 21 Beiträge sowie ein Tagungsbericht, aufgegliedert in fünf Schwerpunktgruppen: 1. USA – Europa, 2. Polen und die Sowjetunion als unterschiedliche Beispiele für die osteuropäische Jazzrezeption; 3. die baltischen Staaten; 4. Jazz in Zentral-Osteuropa; sowie 5. Jazz und Kunst.

Die meisten der Beiträge haben einen historischen Ansatz: Sie untersuchen Jazz als Zeichen der Widerständigkeit in totalitären Gesellschaften, als ein Symbol von Freiheit und Demokratie in Diktaturen. Als Gast der Tagung klopft der amerikanische Kulturwissenschaftler John Gennari das Verhältnis seines eigenen Landes, der USA, zum Freiheits-Topos des Jazz ab. Rüdiger Ritter schaut kritisch auf die Rolle des Radios, über das der Jazz viele aufstrebende Jazzfans im Osten erreichte, sei es über den RIAS, den AFN , Radio Free Europe oder die Voice of America.

Martin Lücke beleuchtet die Kampagne gegen den Jazz in der Sowjetunion der Jahre 1945-53; Michael Abeßer schließt an mit einer Darstellung der sowjetischen Jazz-Debatten zwischen 1953 und 1964. Marta Domurat liest die polnischen Zeitschriften “Jazz” und “Jazz Forum” und fragt nach ihrer Bedeutung für die ästhetische Akzeptanz dieser Musik. Piotr Baron nähert sich in einem der wenigen auf die Musik direkt abzielenden Beiträge des Buchs dem Phänomen “nationaler Stile” im Jazz am Beispiel des polnischen Jazz, stellt dabei letzten Endes aber vor allem Aussagen verschiedener polnischer Musiker nebeneinander, die Stimmungen, Haltungen wiedergeben, ohne diese anhand der Musik konkret näher zu beleuchten. Igor Pietraszewski schließlich nähert sich in einem eher soziologischen Ansatz der Lebenswirklichkeit polnischer Jazzmusiker.

Tiit Lauks Betrachtung des estnischen Jazz belässt es bei historischen Fakten; Heli Reimanns Annäherung an die Biographie des Lembit Saarsalu sagt weit mehr in den Interviewauszügen des Saxophonisten aus als in den Interpretationen derselben durch die Autorin. Gergö Havadi schaut für seinen Überblick über das Verhältnis des ungarischen Staats zum Jazz in die Berichte des ungarischen Geheimdienstes. Adrian Popan blickt auf ein “Jazz Revival” im Rumänien der Mitt-60er bis frühen 70er Jahre – mit Revival meint er hier ganz allgemein ein erstarkendes Interesse und vor allem ein vom System sanktioniertes Jazzleben nach einer Zeit weitgehender “Jazzlosigkeit”.

Peter Motycka widmet seinen Aufsatz der legendären Prager Jazz-Sektion, deren Aktivitäten letzten Endes mit zum Umbruch in der Tchechoslovakei beitrug. Christian Schmidt-Rost vergleicht, wie Musiker und Fans in der DDR und in Polen in den Jahren zwischen 1945 und 1961 mit dem Jazz in Berührung kamen. Marina Dmitrieva beleuchtet die “Stiliagi”, eine Art Jugendmode in der Sowjetunion, die eng mit dem Jazz assoziiert war und sich neben der Liebe zu dieser Musik auch in der Kleidung ausdrückte. Wiebke Janssen vergleicht die Jugendkultur der Halbstarken in der DDR und der BRD der 50er Jahre. Karl Brown dockt hier an und schreibt über Hooligans im kommunistischen Ungarn derselben Zeit. Michael Dörfel schließlich portraitiert die Jazz-und-Lyrik-Projekte, die in der DDR  besonders populär waren.

All diese Beiträge bieten spannende und sehr unterschiedliche Ansätze an das Thema. Das Osteuropa-Projekt ist vor allem historisch orientiert, was sich auch in der Grundhaltung der Beiträge widerspiegelt. Und wenn man bedenkt, dass die Referenten hier aus ihrer laufenden Arbeit berichten, ist das gesamte Projekt nur zu beglückwünschen, schafft es doch ein Bewusstsein für eine historische Jazzforschung, die über kurz oder lang sicher über die Erfassung von Fakten und historisch-politische Zusammenhänge hinaus auch die Musik selbst betrachten wird.

Wolfram Knauer (März 2011)


 

Saxophone Colossus. A Portrait of Sonny Rollins
Fotos von John Abbott, Text von Bob Blumenthal
New York 2010 (Abrams)
160 Seiten, 45,00 US-$
ISBN: 978-0-8109-9615-1

2010abbottDer renommierte New Yorker Fotograf John Abbott dokumentierte Sonny Rollins seit 1993 auf und abseits der Bühne, und im vorliegenden Fotoband zeigt er, wie reich der Tenorsaxophonist ihn nicht nur mit seiner Musik, sondern auch mit exzellenten Motiven beschenkt hat. Wir sehen Rollins beim Newport Jazz Festival von 1993 vor jubelndem Publikum und Meer, beim Signieren von Schallplatten in seiner Berliner Garderobe, beim Soundcheck auf der Bühne der noch leeren Carnegie Hall, mit Pudelmütze beim Soundcheck in Frankfurt und Hamburg sowie in seinem Haus in Germantown, New York. Rollins ist eh fotogen, ob mit Rauschbart und wehenden Haaren, mit Hund oder mit Saxophon. Etliche von Abbotts meist farbigen Fotos zieren CDs, Plakate und Magazincover; man hat also durchaus sein Dejàvu-Erlebnis, etwa von Rollins ganz in rot oder von Rollins mit Christian McBride und Roy Haynes.

Dazwischen geschaltet sind Texte von Bob Blumenthal, der den Saxophonisten über die Jahre oft genug interviewte. Seine Kapitel strukturieren das Buch mit Überschriften wie “St. Thomas. Rollins & Rhythm” über die Liebe des Saxophonisten zu karibischen Rhythmen und sein Verhältnis zu Schlagzeugern; “You Don’t Know What Love Is. Sonny’s Sound” über ebendiesen, den kraftvollen Sound seines Instruments und den großen Einfluss Coleman Hawkins’; “Strode Rode. Rollins the Modernist” über Rollins Plattenproduktionen und den enormen Einfluss, den er selbst auf eine, ach was, gleich mehrere Generationen von Musikern hatte; sowie “Moritat. Sonny & Songs” über Sonny Rollins’ Liebe zur Melodie. Blumenthal gelingt dabei in der Konzentration eine knappe und doch sehr fundierte Charakterisierung der Rollins’schen Spielweise, so dass das Buch im ganzen – Fotos und Text zusammen – tatsächlich genau das ergeben, was der Titel des Buchs impliziert: “A Portrait of Sonny Rollins”. Liebevoll und empfehlenswert!

Wolfram Knauer (März 2011)


 

Unterhaltungsmusik im Dritten Reich
von Marc Brüninghaus
Hamburg 2010 (Diplomica Verlag)
106 Seiten, 39,50 Euro
ISBN: 978-3-8366-8813-0

2010brueninghausJede Art der Kunst, vor allem aber die populäre Kunst war im Dritten Reich zugleich politisches Werkzeug. Der Jazz und die jazzverwandte Musik gehörten in den 1930er Jahren zur populären Musik, er verstieß allerdings zugleich gegen alle ästhetischen und rassischen “Reinheits”-Vorstellungen der Nazis. Marc Brüninghaus beschäftigt sich in seiner vorliegenden Arbeit mit der Rolle der Unterhaltungsmusik im Dritten Reich, fragt zugleich, wie es sein kann, dass “der Zeitraum von 12 Jahren, in dem von Deutschland aus größtes Leid über die Welt gebracht worden ist, gleichzeitig eine ‘Blüte’ einer unpolitisch erscheinenden Kunstform hervorbringen” konnte – insbesondere nämlich in den Schlagern von Stars wie Hans Albers, Marika Rökk, Zarah Leander oder Johannes Heesters.

Nach seiner Einleitung beginnt Brüninghaus im zweiten Kapitel mit einer Bestandsaufnahme der Musiklandschaft im Dritten Reich, fragt nach ästhetischen und Wertevorstellungen im Bereich der “Ernsten” und der “Unterhaltungsmusik”, diskutiert die Idee einer “Deutschen Musik”, die sich als so schwer zu begründen herausstellte, dass sie spätestens 1936 aufgegeben wurde. Er diskutiert Wertmaßstäbe wie “Erhabenheit” im Bereich der Ernsten Musik und die Bevorzugung der Unterhaltungsmusik durch Propagandaminister Hoseph Goebbels, die “bei konservativen Musikern und Musikwissenschaftlern nicht nur auf Zustimmung” traf.

Im dritten Kapitel beleuchtet Brüninghaus die “Institutionalisierung der Musik im 3. Reich”, also insbesondere das “Amt Rosenberg” und die Reichsmusikkammer und ihre Aufgaben. Das vierte Kapitel widmet sich der politischen Rolle der Unterhaltungsmusik im nationalsozialistischen Deutschland, insbesondere ihrer Nutzbarkeit in Rundfunk, auf Schallplatten und im Film. Zugleich diskutiert der Autor die wechselnden Anforderungen an Unterhaltungsmusik während der zwölf Jahre der Nazi-Herrschaft sowie den Versuch einer Neudefinition von Kriterien für gute Unterhaltungsmusik – insbesondere letzteres ein klarer Vorstoß gegen den Jazz.

Dem Jazz wird das ganze fünfte Kapitel gewidmet. Brüninghaus macht klar, dass der Jazz “während des Dritten Reiches die am stärksten bekämpfte Musikrichtung im Bereich der Unterhaltungsmusik” war. Er ordnet den Jazzhass der Nazis ein in rassistisch und antisemitisch begründete Ablehnung dieser Musik bereits in den 1920er Jahren, beschreibt den Unterschied von staatlichem Anspruch und Realität (also dem Wunsch, Jazz aus dem Alltag zu verdrängen und der Popularität der Musik in der Bevölkerung). Er zitiert offizielle Stellungnahmen und die Umsetzung der Regeln in der musikalischen Wirklichkeit, und er benennt die unterschiedlichen Wege, auf denen Jazzanhänger dennoch ihre Musik hörten. Brüninghaus definiert die Jazzanhänger dabei als eine heterogene Gruppe, eher lokal verortet, “meist männliche Angehörige der Mittelschicht, Angehörige der Unterschicht wollten durch die Zugehörigkeit zu Jazzclubs oft den eigenen sozialen Status verbessern”. Längere Abschnitte widmet er in diesem Kapitel außerdem den “Jazzanhängern im Dienst des Regimes” sowie der Swingbewegung als einer Jugendbewegung der Zeit.

Alles in allem ist Brüninghaus eine knappe, aber durchaus der Sache angemessene Studie zur Situation der Unterhaltungsmusik im Dritten Reich gelungen. Er blendet biographische Details aus, schreibt weder über konkrete Musiker, Bands oder Aufnahmen, sondern konzentriert sich auf das Auseinanderdriften von öffentlicher Haltung und alltäglicher Wirklichkeit. Der Verweis auf die eine oder andere Quelle fehlt (etwa auf die samisdat-ähnlichen “Mitteilungen” zum Jazz, die in den Kriegsjahren vor allem auch an Wehrmachtsanhänger verschickt wurden und die 1993 im Buch “Jazz in Deutschland” des Jazzinstituts Darmstadt reproduziert wurden); das aber sind eher Randnotizen des Rezensenten. Auch bleibt Brüninghaus zum Schluss die Antwort auf die in der Einleitung dezidiert gestellte Frage schuldig bleibt, warum viele der Schlager, die in den 1930er Jahren geschrieben waren, noch heute populär sind. Doch hatte man diese Eingangsfrage während der Lektüre eh schon wieder vergessen, und so bleibt “Unterhaltungsmusik im Dritten Reich” eine lesenswerte Einführung ins Thema.

Wolfram Knauer (März 2011)


 

Hi-De-Ho. The Life of Cab Calloway
von Alyn Shipton
New York 2010 (Oxford University Press)
283 Seiten, 29,95 US-$
ISBN: 978-0-19-514153-5

2010callowayAlyn Shipton ist ein Vielschreiber, seine Biographien decken die Jazzgeschichte zwischen Swing und Modern Jazz ab, ein wenig wirkt er wie der Nachfolger John Chiltons, des phänomenalen Biographen von Sidney Bechet, Coleman Hawkins und anderen.

Shiptons neues Buch geht der Lebensgeschichte eines der größten Hipsters (wenn nicht gar des ersten) der Jazzgeschichte nach, Cab Calloways, dessen Einfluss auf die schwarze Musikgeschichte gar nicht groß genug eingeschätzt werden kann, weil er von in seiner Musik und seiner Bühnenpersönlichkeit schwarze Sprache und schwarze Kultur als Hipness feierte und dabei weit über die afro-amerikanische Bevölkerung hinaus populär machte.

Shipton ist ein Detektiv biographischer Forschung, wühlte in Archiven und sprach mit Zeitzeugen, Freunden, Bekannten, Kollegen und Geschäftspartnern des Sängers und Orchesterleiters. Er verfolgt Calloways Lebensweg ab seiner Geburt am Weihnachtstag 1907 in Baltimore. Calloways ältere Schwester Blanche war die erste, die eine Showbusiness-Karriere begann; sie schloss sich 1921 einer Tourband an und gehörte im Herbst 1924 bereits zu den etablierten Figuren der Chicagoer Jazzszene. 1927 kam Cab nach Chicago, sang in verschiedenen Clubs und lernte Louis Armstrong kennen, dessen Gesangsstil ihn besonders beeinflusste. Nachdem Armstrong Chicago in Richtung New York verließ, trat Calloway mit den Alabamians im Chicagoer Sunset Club auf, doch nach einem legendären Band-Wettstreit im New Yorker Savoy Ballroom wechselte er die Bands, trat mit den Missourians auf, die sich nicht viel später zum Cab Calloway Orchestra wurden. Mit ihnen und mit seinem Engagement im New Yorker Cotton Club beginnt zugleich die Zeit, in der Calloway auf Platten dokumentiert ist.

Shipton verweist auf Einflüsse aus dem afro-amerikanischen Showbusiness, von der Show “In Dahomey” bis zum Comedy-Duo Williams & Walker, noch mehr aber stellt er heraus, was Calloway aus diesen und anderen Einflüssen machte, wenn er die verschiedenen Timbres seiner Stimme einsetzte, um quasi mit sich selbst Call-and-Response-Phrasen zu erzeugen, wenn er scattete wie Armstrong, aber eben doch nicht wie der, sondern in seinem ganz eigenen Stil, der etwas sauberer wirkte und dennoch leicht verrucht, dem immer ein leichter Unterton der Ironie innezuwohnen schien.

Irving Mills, der Manager Duke Ellingtons erkannte, dass Calloway marktfähig war und übernahm schnell sein Management. Er pries ihn als “His Hi-De-Highness of Ho-De-Ho” an und machte so aus der Hipness des immer extravagant gekleideten Calloway ein Markenzeichen. Shipton beschreibt jene legendären drei Betty-Boop-Cartoons, die Calloway und seine Musik Anfang der 1930er Jahre auf die Leinwand brachten; er beschreibt aber auch die durch Calloways Popularität bedingte Schieflage im Niveau seiner Band: “Weil Cabs Band um ihn herum und seine Rolle als Sänger, Tänzer und Entertainer gebaut war statt um hoch-individuelle Solisten, auf die einzelne Kompositionen direkt zugeschneidert wurden, fiel sie im kritischen Vergleich immer etwas ab.”

Der Autor begleitet Calloway auf seiner Europatournee von 1934, die großen Einfluss hatte, da insbesondere die europäischen Fans Calloways Mode und Teile seiner Sprache übernahmen – die ZaZous, wie sich die französischen Swinganhänger in den 1930er Jahren nannten, leiteten sich direkt aus Calloways Texten ab.

Shipton beschreibt die “großen” Bands Calloways, jene mit Ben Webster Mitte der 1930er Jahre und jene mit Chu Berry Ende der 1930er Jahre und geht dabei auch auf wichtige Aufnahmen ein. Natürlich erzählt er die Geschichte Dizzy Gillespies, der von 1939 bis 1941 in der Band saß, bis ihn Calloway feuerte, weil er ihn (fälschlich) beschuldigte, mit einem Papierball nach ihm geworfen zu haben, was in einen Streit ausartete, bei dem Gillespie schließlich ein Messer zückte. Immerhin hatte Dizzy, während er in Calloways Band spielte, zusammen mit Milt Hinton harmonische Neuerungen ausprobiert, die wenig später bei der Entwicklung des Bebop von Bedeutung sein sollten.

Mit dem Krieg und dem Bebop begann der Niedergang der Bigbands, und Cab Calloway suchte nach neuen Möglichkeiten für seine Karriere. Die fand er als er 1952 die Rolle des Sportin’ Life in Gershwins Oper “Porgy and Bess” angeboten bekam, die Gershwin seinerseits nach dem Modell Calloways entworfen hatte, den er angeblich sogar für die Premiere der Oper 1935 als mögliche Besetzung im Sinn gehabt habe. “Porgy” wurde ein Riesenerfolg, sowohl in der Broadway- wie auch (zumindest kurz) in der Tournee-Version der Show. In den folgenden Jahren zog sich Calloway etwas zurück, bis ihm 1964 eine Rolle in “Hello Dolly” angeboten wurde.

In den 1970er Jahren waren Calloways Auftritte mehr Erinnerung an eine vergangene Zeit als wirklich aktuelle Musik; immerhin übernahm er 1978 eine Rolle im Broadway-Hit “Bubbling Brown Sugar”. Als er 1980 im Film “The Blues Brothers” zu sehen war, wurde allerdings eine neue, junge Generation hip über den Erfinder der Hipness. Calloway stand noch bis kurz vor seinem Tod im November 1984 auf der Bühne.

Shipton erzählt Calloways Geschichte als neutraler Beobachter, durchsetzt mit Verweisen auf Quellen aus zeitgenössischen Berichten, Interviews oder sonstige Quellen. Zwischendurch beleuchtet er auch etwa die kurze Ehe der Calloway-Tochter und Sängerin Chris Calloway mit dem Trompeter Hugh Masekela (sie hielt gerade mal drei Monate). Allerdings betrachtet er Calloway vor allem als historisches Phänomen und verpasst dabei ein wenig die Chance, ihn als Vorreiter weit späterer schwarzer Gesamtkunstwerke zu benennen – James Brown, Michael Jackson, Prince –, die dem weiß-gewandeten Calloway viel zu verdanken hatten.  Nichtsdestotrotz ist diese Biographie ein solides Buch Jazzgeschichte und ergänzt damit hervorragend die 1976 erschienene Autobiographie des Sängers, Tänzers und Entertainers.

Wolfram Knauer (März 2011)


 

Ray Charles. Yes Indeed! Photographs by Joe Adams
Guildford, Surrey/England 2010 (Genesis Publications Limited)
152 Seiten, 235 Britische Pfund
ISBN: 978-1-905662-08-1

2010adamsRay Charles war Star und Legende, und nur solchen wird es wohl zuteil, in enorm exklusiv aufgemachten Publikationen verewigt zu werden. “Ray Charles. Yes Indeed!” jedenfalls ist nichts geringeres, ein Coffee-Table-Buch zum Blättern und Erinnern, an eigene oder imaginierte Erlebnisse zur Musik des großen Soulkünstlers. Joe Adams arbeitete 44 Jahre lang für Ray Charles als Bühnenansager und Master of Ceremonies. Seine Kamera hatte er immer mit dabei, und so entstand eine Sammlung ungemein persönlicher Fotos von Konzerten, Proben, Aufnahmesitzungen, auf der Bühne, in der Garderobe, im Flieger oder vor Fernsehkameras. Die Dias wurden nach Charles Tod im den Büroräumen der Produktionsfirma des Künstlers gefunden. Sie zeigen vor allem einen Musiker, der allein durch seinen Starstatus offenbar immer im Mittelpunkt stand, der selbst in ruhigen Minuten, bei der Tasse Kaffee in der Garderobe, dem musikalischen Augenblick entgegenfieberte. Das Besondere des Buchs ist sicher auch die Tatsache, dass alle Fotos Farbaufnahmen sind, was dem Genre, in dem Charles tätig war, entgegenkommt: die Zeit des Soul war nun mal eine Zeit der bunten Farben.

Einleitend berichtet Adams selbst von seiner Arbeit für Charles, und auch Ray Charles selbst kommt zu Wort in einem Kapitel, in dem er knapp über seine Karriere bis zum Ende seines Atlantic-Vertrags erzählt. Zwischendrin finden sich kurze Zitate von Zeitgenossen, Musikerkollegen, Produzenten, Freunden, die sich an Ray Charles als Musiker, als Geschäftsmann, als Privatmensch erinnern.

“Ray Charles. Yes Indeed!” ist ein opulentes Buch, das sicher keine Biographie des Künstlers ersetzt und auch der Musik nur bedingt nahe kommt, das aber den Menschen Charles erahnen lässt in den visuellen wie verbalen Erinnerungen. Und es ist gewiss – mit Ledereinband, Silberschnitt, dickem Pappschuber udn einem hellblauen Stoffsäckchen, in dem das alles sauber aufbewahrt wird – ein exquisites (dabei leider auch entsprechend teures) Geschenk für jeden Ray-Charles-Fan.

Wolfram Knauer (Februar 2011)


 

Coltrane on Coltrane. The John Coltrane Interviews
herausgegeben von Chris DeVito
Chicago 2010 (Chicago Review Press)
396 Seiten, 26,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-56976-287-5

2010devitoHätte John Coltrane eine Autobiographie geschrieben, so läse diese sich gewiss völlig anders als das Buch “Coltrane on Coltrane”, das Chris DeVito aus veröffentlichten wie bislang unveröffentlichten Interviews mit dem Saxophonisten zusammenstellte. Die berühmten Interviews, etwa von August Blume, Don DeMichael, Ralph Gleason, Valerie Wilmer, François Postif oder Frank Kofsky sind genauso mit dabei – zum Teil in neuen Abschriften oder gar erstmaligen englischen Übersetzungen – wie kürzere Interview, Interviewausschnitte oder Artikel und Plattentexte, in denen Coltrane zu Worte kommt. Selbst ein wenig Fankorrespondenz ist da zu lesen, auch Interviews, in denen Coltrane sich vielleicht nicht ganz so wohl fühlte, etwa wenn er die Eingangsfrage Erik Lindgrens in Stockholm, was er zu den vielen kritischen Kommentaren über seinen Sound missversteht und denkt, Lindholm selbst hielte seinen Ton für scheußlich. Neues erfährt man dabei kaum; Coltrane war auch in beiläufigen Interviews ein seiner Worte bedächtiger Mann. Ausführliche Erinnerungen eines Jugendfreundes sowie der Leiterin der Granoff School, an der er in den 40er und frühen 50er Jahren Unterricht nahm. Eine opulente Sammlung immerhin, ein “case book” für weitere Forschung und als solches äußerst willkommen, hat man doch damit alle Quellen in einem Band vor sich. Aus Forschersicht sei allerdings auch in diesem Buch (wie auch bei anderen solchen Quellensammlungen) kritisch angemerkt, dass es wünschenswert wäre, wenn in den Texten die Seitenumbrüche angegeben würden, so dass man beim Zitieren auch entsprechend der Originalquellen zitieren kann. Aber das ist nun wirklich nur eine kleine Fußnote…

Wolfram Knauer (Februar 2011)


 

Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit. Popmusik auf globalen Märkten und in lokalen Kontexten
Von Susanne Binas-Preisendörfer
Bielefeld 2010 (transcript)
277 Seiten, 27,80 Euro
ISBN: 978-3-8376-1459-6

UMS1459popBinas.inddGlobalisierung, mediale Verfügbarkeit, das tagesaktuelle Wissen um Entwicklungen in anderen Kulturen und die schnelle Kommunikation sind Gegebenheiten unseres heutigen Lebens, die uns alle betreffen, und alle Bereiche unseres Lebens beeinflussen. Der Jazz, meint man, hat unter den Globalisierungstendenzen weniger zu leiden, weil er immer eine individualisierte und zumal noch eine “Minderheiten”-Musik war und die neuen Medien ihm vielleicht noch mehr nutzen als anderen Musiksparten. Doch den Jazz betrifft es natürlich auch, ist er schließlich nicht nur Genre, sondern eine Spielhaltung und hat doch gerade der Jazz immer global gehandelt, ist als musikalische Sprache durch die Welt gereist und hat Musiker immer dazu aufgefordert, “sie selbst” zu sein, “sich selbst” zu spielen. Susane Binas-Preisendöfer allerdings widmet sich der populären Musik, bei der die Gegensätze, die Frage nach Nutzen und Ausnutzen globaler Tendenzen sich weit stärker stellt als beim Jazz.

Ihre Ausgangsfragen sind einfach: Wie verändert die Globalisierung die Popmusik? Wie bedingen sich die kulturell-sozialen und die technologisch-ökonomischen Aspekte von Popmusik und Globalisierung gegenseitig?

Im ersten Kapitel befasst sich die Autorin mit übergreifenden Aspekten zum Themenbereich und geht auf einzelne Beispiele ein. Sie diagnostiziert die “globale Präsenz” populärer Musik und die daraus sich ableitende Ortlosigkeit, der die Ortsgebundenheit einzelner populärer Musikerscheinungen gegenübersteht (Detroit-Techno, Berlin-Dub, Wiener Electronica). Sie fragt nach globalisierten Formen von Musik, also solchen Formen, die erst durch die Globalisierung möglich wurden. Sie überlegt, was tatsächlich an kulturellem Austausch stattfindet in dieser Globalisierung, und sie diskutiert die Beispiele der Ausnutzung lokaler traditioneller Musiken durch die aktuelle Popmusikindustrie, wenn etwa ein pazifisches Wiegenlied es auf die amerikanischen Billboard-Charts schafft und in Dance-Tracks eingebaut wird. Dieses Beispiel verfolgt sie dabei wieder aus verschiedenen Blickwinkeln, untersucht dabei die Marktmechanismen genauso wie die emotionalen Effekte, die musikethnologischen Gründe für die ursprüngliche Aufnahme des Liedes und die moralischen Aspekte seiner weltweiten Verwendung und Vermarktung ohne Rücksicht auf den Ursprung und ohne Nachdenken, was seine globale Verbreitung für Rückwirkungen haben könnte. Sie blickt dabei auf die verschiedenen Akteure im Musikprozess, betrachtet die Rechtslage, fragt nach ästhetischen Kriterien (warum ist ein pazifisches Wiegenlied für europäische Ohren angenehm?) und konstatiert die Suche nach der authentischen Fremdheit.

Im zweiten Kapitel geht es um Musiken der Welt, um World Music, um Global Pop, um die kulturelle Durchdringung musikalischer Traditionen also. Musik sei eine universale Sprache, hieße es immer wieder, zitiert die Autorin verschiedene Quellen, also werde Musik oft auch als eine universelle Problemlösung angesehen. (Tatsächlich sei europäische Kunstmusik eine veritable Weltmusik.) Dann befasst Binas-Preisendörfer sich mit Migration und kulturellem Austausch, mit der Frage um Homogenisierung oder Diversifizierung und mit der seltsamen Repertoirekategorie und Marketingstrategie “World Music” im 20sten Jahrhundert.

Das dritte Kapitel des Buchs beschäftigt sich mit der medialen Verfügbarkeit. Die Autorin beginnt mit einem Blick zurück auf die Entwicklung der Tonaufnahme und Vervielfältigungstechnologien. Sie dokumentiert die unterschiedlichen Umgänge mit Tondokumenten, die zum einen der Archivierung dienten, zum anderen eine Ware waren und damit bewusst marktgerecht verändert werden sollten. Sie nennt den Tonträger “eine Existenzform populärer Musik” und verweist auf die Entwicklung der Musikkassette in den 1960er Jahren als dezentralisierendes Format. Sie diskutiert Sampling und Copyright und schließlich die Bedeutung lokaler Märkte für die global agierende Musikwirtschaft. Zum Schluss stellt sie die Strategien der Musikgiganten gegenüber: “Think Globally, Act Locally” (SONY), “Globalize Local Repertoire” (BMG) und “One Planet – One Music” (MTV).

Susanne Binas-Preisendörfers Buch ist eine umfangreiche Analyse der globalen Aspekte populärer Musikkultur. Der Autorin gelingt es ihr komplexes Thema sachgerecht und dennoch gut lesbar zu sezieren, Denkanstöße zu geben und klarzustellen, dass sie letzten Endes über eine Entwicklung schreibt und damit nur ein Augenblicksurteil abgeben kann für Veränderungen, von denen man kaum absehen kann, wie sie weitergehen. Über den Jazz schreibt sie nicht, aber den Jazz als die erste globale populäre Musik betrifft ihre Analyse genauso wie jede Musik, die den Spagat ästhetischen Wollens und aktueller Marktgängigkeit eingehen muss.

Wolfram Knauer (Februar 2011)


 

Goin’ Home. The Uncompromising Life and Music of Ken Colyer
von Mark Pointon & Ray Smith
London 2010 (Ken Colyer Trust)
368 Seiten + CD, 20 Britische Pfund
ISBN: 978-0-9562940-1-2

2010colyerDas Wort “kompromisslos” kommt einem normalerweise wahrscheinlich eher bei Musikern avantgardistischer Stilrichtungen in den Sinn, und so mag es den oberflächlichen Kenner erstaunen, dass ausgerechnet dieses Wort den Titel der neuen umfangreichen Biographie des Trompeters Ken Colyer schmückt, der gemeinhin als die Vorzeigefigur für das Revival des New-Orleans-Jazz in England (und weit darüber hinaus in Europa) gilt, also alles andere als einem Genre der Avantgarde, weder der 40er, 50er noch 60er Jahre. Trotzdem hat es seine Berechtigung, Colyers Ästhetik als kompromisslos zu bezeichnen, und das großformatige Buch, das Mike Pointon und Ray Smith liebevoll zusammengestellt haben, erklärt warum dies so ist.

Die beiden Autoren haben Erfahrung mit dem Thema; sie schrieben zuvor eine Biographie Bill Russells, des Vaters des US-amerikanischen New-Orleans-Jazz-Revivals. Ihr Ansatz ist der einer Biographie mit vielen Zeitzeugenaussagen. Sie interviewten Musikerkollegen und mischen diese Erinnerungen – ein wenig wie in Shapiro Hentoffs legendärem “Hear Me Talkin’ To Ya” mit Auszügen aus Manuskriptfragmenten und Notizen, die Colyer für ein geplantes eigenes Buch auf Hotelbriefpapier und die Rückseiten von Flugtickets geschrieben hatte. Dazu kommen viele, zum großen Teil seltene Fotos, die Colyers Karriere dokumentieren.

Es beginnt mit dem Kapitel “Sounds in My Head”, einer Annäherung an Colyers musikalische Ästhetik. Natürlich habe er die New-Orleans-Trompeter geliebt, Percy Humphrey etwa. Louis Armstrongs In-den-Vordergrund-Spielen habe er nicht unbedingt für der Musik dienlich empfunden. Andererseits habe er immer enorm lyrisch gespielt, sei keiner dieser “Stomper” gewesen, die quasi mit der Rhythmusgruppe mitgespielt hätten. Es gäbe, sagt sein Trompeterkollege Pat Hawes an einer Stelle gar, eine direkte Verbindung zwischen Colyer und Miles Davis. Ein Jazzfan sei er gewesen, ein wenig mürrisch oft, manchmal sogar ein Bully gegenüber seinen Kollegen. Aber wenn man in seine Band kam, wusste man, was man zu erwarten hatte. Colyer spielte, was ihm gefiel; er hatte seine konkreten ästhetischen Vorstellungen, und er kannte dabei kein links und kein rechts. Das mag für moderne Ohren altbacken klingen, aber wer immer ihm rein musikalisch zuhörte, musste das anerkennen, selbst Dizzy Gillespie, wie Ron Ward erzählt; der habe bei einem Konzert, bei dem die Bands der beiden in Leicester auftraten, eine halbe Stunde aufmerksam zugehört und ihm dann ein Kompliment gemacht. Judy Garland und Frank Sinatra habe Colyer gemocht, erfahren wir, habe aber keine Lust dazu gehabt sich selbst Showbusiness-Praktiken zu unterwerfen, sondern habe einzig durch die Musik überzeugen wollen. Auch im Mittelpunkt habe er eigentlich nie stehen wollen, weil es sich in der Ästhetik des New-Orleans-Jazz nun mal um das Ensemble drehe, nicht um den Bandleader. Mitmusiker berichten darüber, was sie konkret von Colyer gelernt hätten, und immer wieder, das prägt durchaus die Ehrlichkeit des Buchs, sind die Lobeshymnen mit einem “aber” oder einem “wenn er gute Laune hatte” durchsetzt und zeigen so die offenbar allseits bekannte komplexe Persönlichkeit Colyers.

Das zweite Kapitel widmet sich dem 51 Club in der Great Newport Street in London, in dem Ken Colyer ab Mitte der 1950er Jahre so oft spielte – allein im Programmzettel für einen April in den 1950er Jahren, der im Buch reproduziert wird an acht Terminen –, dass der Club bald umbenannt wurde in “Ken Colyer Club”.

In Kapitel drei lesen wir über Colyers Kindheit, über seine Familie und darüber, wie er zum Jazz kam. Mit 12 Jahren habe er die Bluesplattens eines Bruders verschlungen und bald auf einer Mundharmonika dazu gespielt. Gleich nach dem Krieg trat er der Handelsmarine bei. In Kanada, erzählt Colyer, habe er Louis Metcalf erlebt, und dann sei plötzlich Oscar Peterson in den Club gekommen, der Pianist hätte sofort sein Instrument verlassen und hinter Peterson habe sich eine Menschentraube gebildet, alles Pianisten, die auf seine Hände starrten. In New York hörte er Wild Bill Davison, Pee Wee Russell und andere, und seine Erinnerungen gehören mit zu den lebendigsten über die New Yorker Dixieland/Swingszene der späten 1940er Jahre, die ich kenne.

Kapitel vier widmet sich der Crane River Jazz Band. Colyer war von verschiedenen Bands abgelehnt worden, bei denen er sich beworben hatte – sie wollten eher im Stile Eddie Condons oder Lu Watters’ spielen als im authentischen New-Orleans-Stil, der Colyer vorschwebte. Also gründete er mit Freunden einfach seine eigene Band, in der Besetzung von King Oliver’s Creole Jazz Band: zwei Trompeten, Klarinette, Posaune, Piano, Banjo, Kontrabass und Schlagzeug. Die Band probte in einem Pub in Cranford, und irgendwann kam einer auf die Idee, bei den eh anwesenden Gästen mit dem Hut rumzugehen, was immerhin die Kosten für die Proben-Biere reinbrachte. Dann fingen die Leute an, zur Musik der Proben zu tanzen – es störte sie nicht, wenn die Band mittendrin mal abbrach, um das Stück nochmal zu beginnen. Im Juli 1951 spielte die Band bei einem Konzert, bei dem auch die Prinzessinnen Margaret und Elisabeth anwesend waren – die Organisatoren hatten überredet werden müssen, die Band spielen zu lassen; sie fürchteten, die Band spiele zu “dirty” für die königlichen Ohren.

Kapitel fünf berichtet von den Christie Brothers Stompers, mit denen Colyer in jenen frühen Jahren ebenfalls spielte. Kapitel sechs handelt dann von Colyers erster Reise nach New Orleans, wieder dokumentiert durch Briefe und Erinnerungsfragmente des Trompeters. Hier war Colyer beides: Musiker und Fan. Er spielte und er traf auf all die Zeitzeugen des frühen Jazz, konnte seine Vorstellung von der Ästhetik des New-Orleans-Jazz am Original überprüfen. Im Februar 1953 wurde er für 38 Tage unter Arrest gestellt, weil er länger geblieben war als sein Visum es ihm erlaubt hatte. Vor den Beamten der Einwanderungsbehörde gab er zu, dass er in New Orleans bleiben wollte, um Jazz zu studieren, offenbar Grund genug für die Behörde, ihn nicht auf Kaution freizulassen, wie ein zeitgenössischer Artikel berichtet. Colyer wurde schließlich in ein Abschiebegefängnis in Ellis Island, New York, gebracht und dann des Landes verwiesen. Auch dieses Kapitel gibt einen der besten Einblicke in die New-Orleans-Szene jener Jahre, den ich kenne – vielleicht gerade, weil es ein Blick von außen ist.

In Kapitel sieben geht es um die Popularisierung des New-Orleans-Jazz in London und die anderen Musiker dieser Szene, Monty Sunshine, Chris Barber, Lonnie Donegan. Kapitel acht beschäftigt sich mit den ersten Platteneinspielungen, dem langsamen Ruhm der Band über die Grenzen Englands hinaus, ersten Tourneen, beispielsweise einem zweimonatigen Gig in der New Orleans Bier Bar in Düsseldorf, der dann auf vier Monate verlängert wurde und – Colyer zufolge – die Jazzwelt Deutschlands verwandelte und sie einer anderen Art von Musik gegenüber geöffnet habe.

Kapitel neun ist das längste Kapitel des Buchs und widmet sich der “klassischen” Band Colyers, seiner Mitwirkung bei Street Parades, zeigt auch ein Foto, auf dem Ken Colyer 1957 den legendären Dobbell’s Record Shop einweiht, indem er eine 78er-Schallplatte auf dem Tresen des Geschäftes zerbricht. Vor allem aber berichtet das Kapitel von Colyers zunehmender US-amerikanischen Gefolgschaft und davon, wie es 1957 zu dem legendären Besuch des Klarinettisten George Lewis in England und den darauf folgenden Tourneen der beiden Musiker beiderseits des Atlantiks kam.

Kapitel 10 beleuchtet den Skiffle-Craze der späten 1950er, frühen 1960er Jahre, an dem Colyer zusammen mit Lonnie Donegan besonders beteiligt waren. In Kapitel 11 geht es um den “Trad Boom” jener Jahre, aber auch um Colyers Meinung zu anderen Jazzstilen. Colyer lässt sich über Ellington aus, von dem er die frühen Aufnahmen bevorzugt; er erzählt, welche Dämpfer er für welche Zwecke verwendet; er findet, die Individualität Thelonious Monks oder Charles Mingus’ verdiene Respekt. Das Kapitel handelt aber auch von den Problemem Colyers mit Alkohol, die zunehmend seine Konzerte in Mitleidenschaft zogen. Er hatte keinen Ton mehr, zeigte seltsames Bühnenverhalten, etwa, als er bei einem Konzert in Deutschland die Blumen, die er von einem kleinen Mädchen überreicht bekam, einfach verspeiste. Es ging ihm nicht gut, aber er sprach mit niemandem darüber, was ihn plagte. War es der Alkohol oder war es Krebs? 1971 löste Colyer seine legendäre Band auf, und Max Jones schrieb im Melody Maker: “Er ist mehr als nur ein Musiker; er ist eine musikalische Haltung.” In der Folge, lernen wir in Kapitel 12, arbeitete Colyer als Freelancer mit unterschiedlichen Trad-Bands, die ihn engagierten. Zwischendurch kam es immer wieder zu Revival-Tourneen der Crane River Jazz Band, wie Kapitel 13 berichtet. 1987 dann meldete sich Colyer von der Musikerszene ab, weil seine Gesundheit nicht mehr mitspielte. Er war krank, ging nach Frejus in Südfrankreich. Ein deutscher Freund sorgte dafür, dass er im Krankenhaus in Gifhorn durchgecheckt wurde. Wenige Monate später, am 11. März 1988 starb Colyer.

Nach einem Blick auf das Erbe des Trompeters und seinen Einfluss auf die Trad-Jazz-Szene Europas widmet sich ein erster Anhang des Buchs Colyers wichtigsten Aufnahmen, wobei dies keine Diskographie im üblichen Sinne ist, sondern eine kommentierte Auflistung der Platten mit Kommentaren der Autoren, von Colyers selbst und anderen Mitmusikern. Ein zweiter Anhang versucht die Persönlichkeit des Trompeters zusammenzufassen. Ein dritter Anhang enthält seine Notizen für eine Art Lehrbuch für New-Orleans-Jazz. Ein ausführlicher Namensindex beendet das Buch, das weit mehr ist als eine simple Biographie. Einige der Kapitel aus “Goin’ Home” bieten Quellenmaterial zu Aspekten der Jazzgeschichte, die so noch nie dargestellt wurden. Vor allem aber beeindruckt die Offenheit, in der alle Interviewten sich über ihre Musik, über Colyers Musik, über Musikästhetik und anderes äußern. Wer glaubt, hier nur über eine seltsame britische Spezies des Jazz-Revivals etwas zu lernen, wird schnell eines Besseren belehrt: Man liest und lernt über die kompromisslose Welt eines Künstlers, der auf der Suche nach seiner eigenen Stimme in einem fremden Land fündig wurde. Die beiheftende CD enthält Aufnahmen von 1951 bis 1982 und dokumentiert die verschiedenen Phasen seines Schaffens zwischen klassischer Besetzung, Brass Band, Skiffle und dem Trompeter als sich selbst auf der Gitarre begleitender Sänger.

Alles in allem: Eine wunderbare Lektüre, die eigentlich gerade auch denjenigen Lesern empfohlen wird, die sich mit dem Trad Jazz Colyer’scher Prägung nie anfreunden konnten, weil es so viel erklärt über ästhetische Selbstfindung und ein Konzept, das nie wirklich den Moden folgte. Und nicht zuletzt: Ein unglaublicher Fundus an Material zu einem ganz speziellen und weithin vernachlässigten Kapitel der europäischen Jazzgeschichte.

Wolfram Knauer (Januar 2011)


 

Les Cahiers du Jazz, #4 (2007)
Les Cahiers du Jazz, #5 (2008)
Les Cahiers du Jazz, #6 (2009)
Les Cahiers du Jazz, #7 (2010)
jeweils erschienen beim Verlag Outre Mesure, Paris
www.outre-mesure.net

2010cahiersEs gibt in der Jazzforschung mittlerweile eine Reihe an regelmäßig erscheinenden wissenschaftlich ausgerichteten Publikationen. Am längsten existiert die “Jazzforschung / jazz research” des Instituts für Jazzforschung in Graz, die jährlich bereits seit 1969 erscheint. In den USA gibt es seit fünf Jahren die Fachzeitschrift “Jazz Perspectives”; seit den 1970er Jahren außerdem das “Journal of Jazz Studies”, das in den 1980er Jahren in “Annual Review of Jazz Studies” umbenannt wurde, allerdings nach kurzem nicht wirklich mehr jährlich erscheint. In Deutschland gibt es die Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, die seit 1989 alle zwei Jahre erscheinen. All diese Veröffentlichungen allerdings werden quasi überholt von “Les cahiers du jazz”, das in erster Auflage Anfang der 1960er erschien, dann eine lange Pause einlegte, 1994 in zweiter Auflage neu begann und 2001 wiederum eine neue Auflage erfuhr. Diese erscheint jährlich; uns liegen alle Ausgaben vor; die letzten vier kamen erst kürzlich auf unseren Schreibtisch.

2007 stehen vor allem Laurent Batailles Artikel über das Schlagzeug im heutigen Jazz im Vordergrund, ein Beitrag über Foto und Jazz oder eine Vorstellung französischer Rapmusik. Außerdem findet sich ein analytischer Beitrag des Trompeters Roger Guerin über den musikalischen Stil Louis Armstrongs.

Das Jahrbuch für 2008 enthält eine ausführliche Analyse von Herbie Hancocks Benutzung von Pygmäengesängen und eine Diskussion der ethischen Konsequenzen solcher Projekte mit indigener Musik aus der “dritten” Welt; einen Artikel über David Murray, einen ausführlichen Nachruf auf Michael Brecker und die Analyse eines Fotos des Kornettisten Bix Beiderbecke.

2009 ging es im Boris Vian, den Jazzfan der direkten Nachkriegszeit, um John Coltranes Spiritualität und ihre Ausprägung in seiner Musik und über Duke Ellingtons “Heaven”.

In der jüngsten Ausgabe von 2010 finden sich neun Aufsätze zu Michael Brecker, darunter ein Nachruf seines Bruders Randy Brecker, analytische Annäherungen an seine Musik von Pierre Sauvanet, Piere Genty und Bertrant Lauer und eine Diskographie. Ein Aufsatz über Albert Ayler von Frédéric Bisson, eine Untersuchung unterschiedlicher Ansätze der Jazzforschung von Laurent Cugny und ein kurzer Beitrag über Bricktop in Rom sind ebenfalls interessante Beiträge dieses Bandes, an dem uns aber vor allem eine kleine Fußnote faszinierte, die Lucien Malson kurz vor Schluss vorstellt: ein Beispiel für das Messen ästhetischer Urteilsfindung in einem Textbuch der philosophischen Fakultät der Universität von Dijon, in dem die Korrelation zwischen (weiblicher) Haarfarbe – blond oder brünett – und Musikgeschmack – Bach oder Bebop – ausgerechnet wird. Alle Bände enthalten ausführliche Buchbesprechungen jüngster Neuerscheinungen und das eine oder andere Gedicht von Alain Gerber.

Wolfram Knauer (Januar 2011)


 

Streiflichter. Erinnerungen und Überlegungen zum Jazz in Dresden rund um die politische Wende
herausgegeben von Matthias Bäumel & Viviane Czok-Gökkurt
Dresden 2010 (Jazzclub Neue Tonne)
56 Seiten, 5 Euro
ISBN: 978-3-941209-04-6

Layout 1Zwanzig Jahre nach der Wende ist vielleicht endlich die notwendige zeitliche Distanz geschaffen, um die Situation des Jazz in der DDR und der Wendezeit aufzuarbeiten. Das vorliegende Büchlein dokumentiert die Ereignisse und Diskussionen seit dem 18. September 1989, als in Berlin Musiker aus dem Rock- und Unterhaltungsbereich – unter ihnen beispielsweise Conny Bauer – eine Resolution unterzeichneten, mit der sie den öffentlichen Dialog im Land forderten. Diese Resolution wurde von den Tageszeitungen nicht abgedruckt, also entschlossen die Unterzeichner sich, sie vor jedem ihrer Auftritte zu verlesen. In Dresden wird am 6. Oktober der junge Schlagzeuger Harald Thiemann festgenommen und für eine Woche in Untersuchungshaft nach Bautzen gebracht, weil er, mehr zufällig, in eine der Dresdner Demonstrationen kam. Beim Tonne-Konzert mit Hannes Zerbe an diesem Abend kann er daher nicht dabeisein. In der Tonne wird derweil darüber diskutiert, ob man in dieser politisch brenzligen Situation überhaupt Kunst machen könne. Wir lesen, wie am 9. November bei einem Konzert im Berliner Babylon die Zuhörer nebenher den neuesten Meldungen aus mitgebrachten Kofferradios lauschten, wie Baby Sommer die Wende erlebte, und wie er bei einer Kundgebung seine Vision kundtat: “Täte man die Parteiabzeichen aller unfähigen Funktionäre in eine große Metallschüssel, ich könnt euch ein Perkussionskonzert spielen, dass es durchs ganze Elbtal raschelt!” Wir erfahren von der nahezu jazzlosen Zeit in der Tonne im Oktober 1989. Niemand wusste, wie die Lage sich verändern würde, ist die eine Erklärung dafür, ob nicht vielleicht auch politische Aktionen befürchtet würden, die von den Konzerten ausgingen, kann nur gemutmaßt werden. Immerhin gab es neben einer Dixielandveranstaltung zwei zeitgenössische Konzerte: das eine mit Hannes Zerbe, dem sein Schlagzeuger in Bautzen abhanden kam, das andere unter dem Titel “Klänge, Gesten und Gestalten” mit der Sängerin Roswitha Trexler, der Tänzerin Hanne Wandtke und dem Pianisten Frederic Rzewski. 20 Jahre später erinnerten zwei Konzerte an diese beiden Events aus dem Wendejahr. Das Büchlein, dass all diese Erinnerungen dokumentiert, ist eine liebevoll gestaltete Broschüre mit vielen Fotos, mit Zeichnungen des viel zu früh verstorbenen Jürgen Haufe, mit einem kurzen Essay über die (möglichen) Verbindungen zwischen Jazz und Staatssicherheit, in dem vor allem die Erkenntnisse von Viviane Czok-Gökkurt, die ihre Diplomarbeit zum Thema schrieb, zusammengefasst sind. Lesenswert, nachdenkenswert, und doch immer noch erst der Beginn einer Aufarbeitung.

Wolfram Knauer (Dezember 2010)


 

Plattenboss aus Leidenschaft
von Siggi Loch
Hamburg 2010 (Edel Vita)
272 Seiten, 26,95 Euro
ISBN: 978-3-941378-81-0

2010lochManfred Eicher, Stephan Winter, Matthias Winckelmann, Horst Weber, Jost Gebers, Siggi Loch – sie alle prägten die deutsche Jazzszene genauso wie es die Musiker taten, sorgten dafür, dass Jazz in Deutschland nicht nur einen Namen, sondern vor allem auch einen guten Klang hatte. Loch ist der Dienstälteste unter diesen Plattenmachern und Produzenten und hat jetzt ein Buch vorgelegt, in dem er ausführlich aus seinem Leben und vor allem aus seinem Geschäft berichtet.

Wir lesen von seiner ersten Faszination mit dem Jazz durch ein Konzert (und eine Platte) des Sopransaxophonisten Sidney Bechet, von ersten Jobs als Vertreter für die Electrola, spätere Positionen als Label-Manager und bald auch Produzent für Philips, schließlich als Chef der europäischen Dependence des US-Plattengiganten Liberty Records, zu dem neben anderen auch das legendäre Blue-Note-Label gehörte. Loch erzählt über Erfolge und Flops, über Zufälle und Strategien, über Musiker und Produkte, über Produzentenkollegen und die Unterschiede des Geschäfts in den USA und Europa, über Jazz, Pop, Schlager und vieles mehr. Das liest sich mehr als flüssig, und die Tatsache, dass Loch quasi auf jeder Seite von einem Genre ins nächste gleitet, wie es eben seine Karriere vorgegeben hat, macht die Lektüre ungemein abwechslungsreich.

Wir begegnen Klaus Doldinger (dessen erstes Album Loch produzierte), Al Jarreau, Katja Epstein, Frank Sinatra, Mick Jagger, Francis Wolff, Jürgen Drews und Franz Beckenbauer, erfahren über Beruf und Privatleben des Produzenten, Fußball-WMs und Segelregatten. Loch war 1967 als einer der jüngsten Plattenbosse mit eigener Firma gestartet gehörte spätestens seitdem er eine leitende Position bei Warner Brothers bekleidete zu den wichtigsten Tieren der internationalen Plattenbranche. Neben der Musik hatte er sich dabei vor allem ums Geschäft zu kümmern, um die Probleme mit Schwarzpressungen, um laufende Fusionen und gegenseitige Aufkäufe der Plattengiganten. Mit den Bonuszahlungen kaufte er sich schon mal ein Haus in Kiel-Schilksee, “dem Hafen meiner Segelyacht ‘Tambour'” und wurde durch seinen Freund, den französischen Pressemagnaten Daniel Filipacchi auf ein weiteres kostspieliges Hobby gebracht; das Sammeln zeitgenössischer Kunst.

Als klar wurde, dass sich mit dem Weggang Neshui Erteguns aus dem Vorstand der WEA einiges bei dem Plattengiganten ändern würde, besann sich Loch der Gründe, warum er eigentlich in dieses Berufsfeld eingestiegen war: “Hatte ich nicht immer vom eigenen Label geträumt? Inzwischen hatte ich die Erfahrung von 27 Berufsjahren und war wirtschaftlich unabhängig.” Geburtstunde: ACT, erst als ein Poplabel, das Loch zusammen mit Annette Humpe und Jim Rakete betrieb, dann, ab 1990, vor allem als Jazzlabel. Er erzählt von seinen ersten Alben für ACT, vom Entdecken neuer Künstler, wieder von Verkaufsstrategien, vom Jazz, der eine wunderbare Musik sei, aber eben auch Geschäft. Loch erzählt dabei durchaus auch aus dem Nähkästchen, etwa wenn er berichtet, wie ihm Roger Cicero abhanden kam oder wie Julia Hülsmann zu ECM gewechselt sei, und man ahnt dabei, dass es da auch eine andere Seite der Geschichte geben mag. Aber Loch ist eben ein gewiefter Geschäftsmann – einer, soviel wird schnell klar, wie ihn der Jazz dringend braucht, um aus der durchaus auch selbstgeschaffenen Nische herauszukommen.

Lochs Autobiographie enthält jede Menge Hintergrundinformation übers Musikgeschäft. Es ist ein lesenswertes Buch, gerade weil es so andere Geschichten des Business erzählt als man sie aus Musikerbiographien kennt. Und bei der Lektüre teilt sich immer wieder mit, was Loch im Titel seines Buchs andeutet, dass neben dem Geschäft eben auch die Leidenschaft vorhanden sein muss, um in diesem Beruf erfolgreich zu sein.

Wolfram Knauer (Dezember 2010)


 

Dusk Fire. Jazz in English Hands
von Michael Garrick & Trevor Barrister
Earley, Reading 2010 (Springdale Publishing)
260 Seiten, 15 Britische Pfund
ISBN: 978-0-9564353-0-9

2010garrickMichael Garrick gehört seit den späten 1950er Jahren zu den aktivsten Musikern der modernen britischen Jazzszene. Mit “Dusk Fire” legt er seine Autobiographie vor. 1933 in Enfield, Middlesex, geboren, erhielt er erste Klavierstunden von seiner Mutter. Sein erster großer Einfluss war das enge Zusammenspiel der vier Musiker des Modern Jazz Quartet, und so ist es kein Wunder, dass sein erstes Quartett dieselbe Besetzung hatte. Frühzeitig interessierte ihn dabei auch genuin englisches Material als Grundlage für die Improvisationen, also arrangierte er Songs wie “Barbara Allen” oder “Bobby Shaftoe” und schrieb erste eigene Stücke die ähnlichen Mustern folgten. 1961 gründete er die Konzertreihe “Poetry and Jazz in Concert”, 1967 eine weitere Reihe an Kirchenkonzerten, “Jazz Praises”. Anfangs verdiente er sich sein Geld noch als Lehrer, ab 1965 war Garrick dann “Full-time”-Musiker.

In seinem Buch berichtet er über Plattenveröffentlichungen, etwa “Moonscape” von 1964, über Kollegen wie Joe Harriott, Don Rendell und Ian Carr, über den Einfluss durch Bill Evans, den er im März 1965 in London hörte. 1976 ging Garrick in die USA, um am Berklee College in Boston zu studieren; daneben nahm er Unterricht bei der legendären Madame Chaloff, der Mutter des Saxophonisten Serge Chaloff, die ihm gezeigt habe, wie man allein durch Körperbeherrschung einen kraftvollen Sound erzeugen könne — Keith Jarrett habe bei ihr gelernt und Herbie Hancock und Chick Corea hätten Stunden bei ihr genommen. Nach seiner Rückkehr gründete Garrick eine neue Band, der die Sängerin Norma Winstone angehörte. Er spielte mit Nigel Kennedy und der großartigen Adelaide Hall, begleitete amerikanische Solisten bei Konzerten in England und spielte Duos mit Dorothy Donegan. 1985 wurde er Dozent an der Royal Academy of Music, und er schreibt ausführlich über seine Erlebnisse als Lehrer und Teil der britischen Schulbürokratie. Duke Ellingtons Musik hatte ihn immer fasziniert, und als er die Möglichkeit hatte, eine eigene Bigband zusammenzustellen, was der Duke offensichtlich eines seiner großen Vorbilder.

Garricks Buch ist eine Sammlung an Erinnerungen an eine lange Karriere, manchmal ein wenig schwerfällig lesbar angesichts der vielen Namen, bei denen man zurückblättern möchte, um den Zusammenhang zu verstehen, voller Anekdoten auch, die immerhin einen Einblick in das Wirken eines bedeutenden britischen Musikers erlauben, zwischen insularer Verwurzeltheit und Faszination mit dem Fremden des amerikanischen Jazz. Eine Sammlung eigener journalistischer Artikel, eine Diskographie und ein ausführlicher Index runden das Buch ab, das reich bebildert ist und ein Kapitel britischer Jazzgeschichte aus der Sicht der Musiker beschreibt und gibt damit einen interessanten Einblick in den Alltag eines Musikers in den 1960er bis 1990er Jahren.

Wolfram Knauer (Dezember 2010)


 

Miles Davis. Eine Biographie
von Wolfgang Sandner
Berlin 2010 (rowohlt Berlin)
304 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-677-4

2010sandnerEs ist immer so eine Frage: Warum braucht es noch eine weitere Biographie der bekannten Jazzgrößen? Louis Armstrong, Duke Ellington, John Coltrane, Charlie Parker, Miles Davis … über sie alle ist so viel geschrieben worden! Doch tatsächlich muss sich jede Zeit ihre Jazzgrößen neu entdecken. Und so ist Wolfgang Sandners Blick auf das Leben und Werk von Miles Davis eben der Blick aus dem Jahr 2010 und damit ein neues Buch, kein Wiederaufguss. Es ist ein liebevolles, sprachlich gelungenes Buch – wie nicht anders zu erwarten beim ehemaligen FAZ-Musikredakteur. Und es ist, wie Sandner in seinem Vorwort zugibt, ein Bekenntnis: für “den eigenen Geschmack, die eigene Anschauung und die eigene ästhetische Vorliebe”. Dabei hat er sich einen Satz, den Miles einst einem Interviewer mitgab, zu Herzen genommen: “Wenn du alles verstündest, was ich sage, wärst du ich.”

Mit diesem Caveat, dass eine Biographie immer nur eine Annäherung sein kann, beginnt Sandner also seine Reise zur Person und zur Musik des Miles Davis. Er berichtet etwa vom Vater, der ein durchaus wohlhabender Zahnarzt in St. Louis war und seine Kinder in Sinfoniekonzerte mitnahm, Miles auf seinem eigenen Pferd reiten ließ und dabei zugleich ein Anhänger von Marcus Garvey war. Diese Mischung aus dem Stolz auf die eigene Hautfarbe und mittelständischen Werten prägte Miles sein Leben lang sowohl im Positiven wie auch im Negativen, in seiner politischen Haltung wie im Versuch dem Bourgeoisen seiner eigenen Biographie zu entkommen. Erste Jobs als Musiker, erste Freundin, erstes Kind, Streit mit dem Vater, Flucht nach New York. Sandner beschreibt die Situation: “Da kam ein gut erzogener, schüchterner Schwarzer aus dem Mittleren Westen nach New York: Achtzehn Jahre alt, Nichtraucher, ohne Erfahrung mit Alkohol und keinen blassen Schimmer von Kokain, Heroin und anderen Versuchungen des Bösen. Mit einer Trompete unter dem Arm und einem einzigen Gedanken im Kopf: Wo finde ich Charlie Parker, den größten Jazzmusiker der Gegenwart, der sich anschickt, der größte Jazzmusiker der Zukunft zu werden?” Parker fand er bald, spielte mit ihm und anderen, tauchte zugleich ein in eine Welt, die von Musik und Drogen beherrscht wurde, denen letzten Endes auch er sich nicht würde entziehen können. Mit John Lewis, Gerry Mulligan und anderen jungen Musikern traf er sich in Gil Evans’ Kellerapartment und entwickelte die Idee einer Musik, in der mit möglichst wenigen Instrumenten eine Klangvielfalt und klangliche Durchorganisation erlangt wurde, wie man sie sonst beispielsweise von großen Orchestern wie dem von Claude Thornhill kannte. Die Aufnahmen seines Nonets, das diese Arrangements verwirklichte, wurden später als “The Birth of the Cool” herausgebracht und Miles damit als einer der Väter des Cool Jazz gesehen, so wie er als einer der Großen des Hard-Bop, einer der Erfinder des modalen Jazz oder noch später als der Wegbereiter der Fusion zwischen Jazz und Rock gesehen wurde. Wie immer man seine Wendungen beurteilt, es ist klar, dass es Miles darum ging, neue Sounds zu erkunden, am Puls der Zeit zu bleiben, seine eigene Stimme in die jeweils augenblickliche Sprache der Musik einzubringen.

Sandner beschreibt Miles’ liebevolle Beziehung zu Juliette Greco und seine späteren Ehen, die irgendwo zwischen Liebe, Vergötterung und Gewalttätigkeit lagen; er beschreibt die so wechselvolle Persönlichkeit des Trompeters, die aus Stolz, übersteigertem Selbstbewusstsein und Verletzlichkeit zugleich zu entstehen schien. Er beschreibt die Meisterwerke, “Kind of Blue” etwa, seine Alben mit Gil Evans, das großartige Quintett der 1960er Jahre, “Bitches Brew”, seine Fusionerfolge der 1970er Jahre, Rückschläge, Erholungen, die Rückkehr zum Blues und verflicht all das mit einer Beschreibung des Menschen, die sprachlich so gelungen ist, dass man sich gern festliest, dass man in den musikalischen Beschreibungen den Ton des Meisters zu hören glaubt und dass selbst die Beschreibung der dunklen Seiten des Klangmagiers einer gewissen Lyrik nicht entbehren, weil sie nicht entschuldigt, aber erklärt, warum Miles ist wie er ist und damit eben auch, warum er spielt wie er spielt. Ein gelungenes Buch, eine spannende Lektüre.

Wolfram Knauer (Dezember 2010)


 

African Rhythms. The Autobiography of Randy Weston
Von Randy Weston & Willard Jenkins
Durham/NC 2010 (Duke University Press)
326 Seiten, 32,95 US-Dollar
ISBN: 798-0-8223-4784-2

2010westonVon all den Jazzmusikern, die irgendwann in ihrem Leben nach den Wurzeln ihrer Musik suchten, ist Randy Weston einer der wenigen der sie gefunden hat: in der Musik Afrikas, die er genauso umarmte wie sie ihn, die er aber bereits zu einer Zeit “gefunden” hatte, als er den afrikanischen Kontinent physisch noch gar nicht betreten hatte. Willard Jenkins erzählt im Vorwort, wie es zu diesem Buchprojekt kam, wie sehr er erst von Westons Musik, dann von seinen Geschichten und seiner Fähigkeit zum Geschichtenerzählen begeistert war, aber auch von der Bewunderung, die Weston in seiner zweiten Heimat, Marokko, entgegenschlägt, wann immer er dort auftritt oder auch nur durch die Straßen läuft. Jenkins hatte eigentlich eine Biographie des Pianisten geplant, aber mehr und mehr wurde klar, dass das Buch eine Autobiographie werden würde, für die Weston quasi als “Komponist” diente, während Jenkins als “Arrangeur” tätig wurde.

“Ich bin eigentlich ein Geschichtenerzähler”, beginnt Weston die Einleitung des Buchs, “kein Jazzmusiker. Ich bin ein Geschichtenerzähler durch Musik, und ich kann von erstaunlichen und einzigartigen Erlebnissen berichten. (…) Gott ist der wirkliche Musiker. Ich bin ein Instrument und das Klavier ist ein weiteres Instrument. Das habe ich in Afrika gelernt.”

Mit solchen Worten zieht Weston den Leser ein in eine tatsächlich faszinierende und einzigartige Geschichte. Er erzählt von seinem Vater, der aus einer jamaikanischen Familie stammte und ein ergebener Anhänger von Marcus Garvey war, der in den 1920er Jahren die Back-to-Africa-Bewegung mitbegründet hatte, sowie von seiner Mutter, einer zerbrechlichen kleinen Frau, die für wenig Geld die Böden anderer Leute schrubbte und nie klagte, nie bettelte, immer mit Würde lebte. Er erzählt über seine Kindheit in Brooklyn, seine ersten musikalischen Erlebnisse und wie seine Größe (Weston misst über 2 Meter) ihm immer Komplexe bereitete, für die Musik die beste Zuflucht war. Er erzählt, wie die Häuser großer Musiker wie Max Roach oder Duke Jordan interessierten Kollegen in jenen Jahren immer offenstanden. 1944 wurde Weston zur Armee eingezogen, entgegen seinen Hoffnungen, dass er wegen seiner Körpergröße untauglich geschrieben würde. Er verbrachte ein Jahr auf Okinawa und baute dort eine Kommunikationsstellung aus, kehrte dann nach Brooklyn zurück, hörte sich jeden Abend die großen Pianisten an, die in der Stadt auftraten, Art Tatum, Erroll Garner oder Hank Jones, und führte das Restaurant seines Vaters. Er erinnert sich, wie Charlie Parker ihn eines Abends abschleppte, um mit ihm eine halbe Stunde lang zu spielen, das einzige Mal, dass sie zusammen auftraten, einen Moment, den er nie vergessen werde.

Er arbeitete Anfang der 1950er Jahre als Tellerwäscher in den Berkshires, als er mehr zufällig einen Vortrag des Jazzhistorikers Marshall Stearns im Music Inn in Lenox hörte. In der Folge kam Weston die nächsten zehn Jahre jedes Jahr nach Lenox, trat dort bald mit seinem Trio auf und begleitete Stearns Vorträge mit Musikbeispielen. Was ihn an Stearns beeindruckte, war, dass dieser immer die Wurzeln des Jazz in Afrika hervorhob, die Geschichte dieser Musik also nicht in New Orleans beginnen ließ, wie dies sonst üblich war. Zusammen mit Stearns ging Westons Trio auf Tournee mit einem Programm, dass Schülern und Studenten überall im Land die Jazzgeschichte näher bringen sollte, dem ersten Jazzgeschichtskurs im amerikanischen Schulsystem.

Weston erzählt von seinen Begegnungen mit Langston Hughes, Duke Ellington, Dizzy Gillespie, Thelonious Monk, mit dem Ghanaischen Jazzmusiker Kofi Ghanaba oder Gnawa-Musikern in Marokko. Vor allem aber erzählt er eine Geschichte, in der seine musikalische Entwicklung eingebettet ist in ein Leben mit scheinbar glücklichen Zufällen, tatsächlich aber offenen Ohren und Augen, mit denen er angebotene Gelegenheiten aufgreifen und ausnutzen konnte. Nach wenigen Seiten ist man in “African Rhythm” versunken, mag es nicht mehr aus der Hand legen. “Diagonallesen”, wie man das oft durchaus erfolgreich macht, wenn man professionell mit dieser Musik zu tun hat, geht hier nicht mehr, weil man in jeder Geschichte, in jedem Geschichtenstrang so gefangen ist, dass man mehr wissen will, weil Weston die Begebenheiten und Begegnungen mit Menschen so plastisch schildert, dass man das Gefühl hat selbst mit dabei zu sein. Man spürt die Mischung aus Selbstbewusstsein und Schüchternheit, die auch dem Menschen Weston eigen ist, die kraftvolle linke Hand und die betörenden Melodien in der rechten, das Wissen und die Neugier.

Es hat lange kein Buch mehr gegeben, dass sich in die großen Autobiographien des Jazz einreihen könnte, wie sie von Louis Armstrong, Sidney Bechet, Duke Ellington, Dizzy Gillespie, Art Pepper und Miles Davis vorgelegt wurden. Randy Westons “African Rhythms” gehört ganz gewiss in diese Reihe. Ein großartiges Lesevergnügen!

Wolfram Knauer (Oktober 2010)


 

Scandinavian Wood. Niels-Henning Ørsted Pedersens musikalske løbebane i lyset af hans diskografi
Von Jørgen Mathiasen
Kopenhagen 2010 (Books on Demand)
350 Seiten, 335 Dänische Kronen
ISBN: 978-87-7114-599-1

Scandinavian Wood. The musical career of Niels-Henning Ørsted Pedersen in the light of his discography
Von Jørgen Mathiasen
Copenhagen 2010 (Books on Demand)
358 Seiten, 335 Dänische Kronen
ISBN: 978-3-8423-5157-8

2010mathiasenJørgen Mathiasen ist ein in Berlin lebender dänischer Musikwissenschaftler mit speziellem Interesse sowohl an der Musik Duke Ellingtons wie auch an Musikästhetik oder dem Jazz aus seiner eigenen Heimat, Dänemark. Seit einiger Zeit beschäftigt er sich mit Niels-Henning Ørsted Pedersens “musikalischer Laufbahn im Lichte seiner Diskographie”, wie es im Untertitel seiner dicken Monographie heißt. Die Diskographie macht den größten Teil des Buchs aus, das daneben aber auch eine sechzigseitige Würdigung des musikalischen Schaffens des Kontrabassisten bietet.

Im Vorwort thematisiert Mathiasen erst einmal grundsätzlich die Bedeutung von Diskographien für die Jazzforschung. Sein erstes Hauptkapitel ordnet Ørsted Pedersens Biographie in die Geschichte seines Heimatlandes ein. Mathiasen beschreibt die Situation der Jazzszene in den Jahren vor Ørsted Pedersens Geburt im Mai 1946, das Elternhaus des Bassisten, musikalische Einflüsse, seine ersten Auftritte als Bassist, als vierzehnjähriger Gymnasiast in der Band des schwedischen Saxophonisten Rolf Billberg. Eigene Kapitel widmet Mathiasen Ensembles, in denen Ørsted Pedersen sein Handwerkszeug verfeinerte oder aber sich weit über die Grenzen Dänemarks hinaus einen Namen machte, der DR Big Band etwa, also dem dänischen Rundfunkorchester, seiner Zeit als Hausbassist des Montmartre Jazz Clubs in Kopenhagen, Engagements mit Dexter Gordon, Kenny Drew, Ben Webster und natürlich Oscar Peterson. Mathiasens Anmerkungen zur Zusammenarbeit NHØPs mit Musikern wie diesen versucht vor allem, faktische und biographische Informationen zu liefern, die die folgende Diskographie in den notwendigen Kontext stellen. Auch die Aufnahmen unter eigenem Namen werden gewürdigt, und in einem kurzen Kapitel diskutiert Mathiasen Ørsted Pedersens skandinavische musikalische Identität, die Idee des “nordischen Tons”, der weit über die Benutzung von Volksmelodien hinausgehe. Schließlich stellt sich die Frage nach “Imitation und Emanzipation” bei einem Musiker wie Ørsted-Pedersen besonders, der so intensiv mit amerikanischen Kollegen zusammenspielte, ohne seine Heimat und sein Bewusstsein als dänischer Musiker aufzugeben.

2010mathiasen2Nach einer Bibliographie über NHØP macht den Hauptteil des Buchs dann die Diskographie aus, die Aufnahmen zwischen September 1960 (Don Camillo and his Feetwarmers) und März 2005 (mit seinem eigenen Trio) listet. Dieser Teil enthält die üblichen Details jazzmusikalischer Werkverzeichnisse: Besetzungen, Ort und Datum der Aufnahme, eingespielte Titel, Erst- und Wiederveröffentlichungen, sowie, wo immer nötig, Kommentare zur Aufnahmesitzung. Neben den schon genannten Namen sind dabei Musiker wie Bud Powell, Don Byas, Albert Ayler, Roland Kirk, Archie Shepp oder Sonny Rollins zu nennen, aber auch dänische Kollegen wie Ib Glindemann, Svend Asmussen oder Palle Mikkelborg. Mathiasen zählt weit über 500 Aufnahmesitzungen, an denen Ørsted Pedersen beteiligt war – wahrlich ein klanglicher Nachlass erster Güte.

Die Entscheidung des Autors, das Buch auf Dänisch erscheinen zu lassen, ist wahrscheinlich der Hauptzielgruppe seiner Leserschaft zu schulden; dabei hätte eine englische Übersetzung zumindest des ersten Teils vielleicht keine zu großen zusätzlichen Kosten verursacht. Alles in allem: ein nüchternes Werkverzeichnis und dennoch eine labor of love, der man die Akribie und Genauigkeit anmerkt, die der Autor in seine Recherchen gesteckt hat.

Wolfram Knauer (Oktober 2010)

Zusatz: Inzwischen ist das Buch auch auf englisch erschienen und damit für eine breitere Leserschaft interessant. Die Übersetzung entspricht in Form und Inhalt der dänischen Originalausgabe.

(Wolfram Knauer (März 2012)


 

Die Wiener Jazzszene. Eine Musikszene zwischen Selbsthilfe und Institution
Von Stefanie Bramböck
Frankfurt/Main 2010 (Peter Lang)
194 Seiten, 39,80 Euro
ISBN: 978-3-631-59652-4

2010bramboeckSoziologische Studien zur Jazzszene gestalten sich erfahrungsgemäß schwierig: Es ist von vornherein nicht gerade leicht, die zu untersuchenden Gruppen genauer zu identifizieren: Musiker, Publikum, und wenn, dann welches: Konzertpublikum, traditioneller Jazz oder zeitgenössischere Spielrichtungen, Festivalbesucher oder Clubgänger, Plattenkäufer oder Downloader und so weiter und so fort. Hypothesen neigen in diesem Bereich noch mehr als in anderen dazu, zu self-fulfilling prophecies zu werden, und systematisch erhobene Daten sind oft bei Drucklegung der Studie bereits wieder hoffnungslos überholt. Trotz all solcher Schwierigkeiten ist es wichtig, soziologisch an den Jazz heranzugehen, weil empirische Untersuchungen Zahlen und Fakten bringen können, die für die politische Argumentation etwa über den Sinn einer Jazzförderung notwendig sind.

In Deutschland gab es über die Jahre Studien zum Jazzpublikum, zu den Arbeitsbedingungen von Musikern und zur Lage der Clubs. Eine übergreifende Studie über “die Jazzszene” als soziologisch spannendes Geflecht unterschiedlichster Beziehungen zwischen Musikern und Musikern; Musikern und Veranstaltern; Musikern, Veranstaltern und Publikum; all dieser Bereiche und der Jazzkritik und vielem mehr lässt leider nach wie vor auf sich warten. Stefanie Bramböck hat jetzt mit ihrer als Diplomarbeit im Fach Musikwirtschaft entstandenen Diplomarbeit eine die verschiedenen Seiten dieses Beziehungsgeflechts berücksichtigende Studie vorgelegt, die die aktuelle Wiener Jazzszene als eine “Musikszene zwischen Selbsthilfe und Institution” beschreibt und analysiert.

Der Jazz sei eine Musik von Individualisten, stellt Bramböck gleich im Vorwort fest, der anders als Klassik und Popmusik nie wirklich systematisierbar bzw. strukturierbar gewesen sei. Sie geht ihre Aufgabe von unterschiedlichen Seiten an, fragt etwa zu Beginn nach den Musikern und ihrer Motivation dazu, überhaupt Jazz zu machen. Sie beleuchtet die Auftrittsorte und wirft einen besonderen Blick auf zwei Wiener Clubs, das Porgy & Bess und Jow Zawinuls Birdland, das nach großem Erfolg in die Pleite rutschte. Sie vergleicht die Clubsituation mit der größerer Konzerte, fragt nach der Aufgabe von Musikagenten und Musikmanagern, beleuchtet die Rolle der Medien – Fernsehen, Rundfunk und Printmedien – und wirft auch einen Blick aufs Publikum selbst. Die Musikindustrie erhält ein eigenes Kapitel, in dem Bramböck die Situation von Plattenlabels genauso hinterfragt wie aktuelle Produktionswege für Musiker (YouTube, MySpace, die CD als künstlerische Visitenkarte). Schließlich befasst sie sich in einem letzten Kapitel mit den unterschiedlichen Fördermöglichkeiten für Jazzmusiker in Wien – durch den Bund, die Stadt, den SKE-Fonds oder den Österreichischen Musikfonds. Während Bramböck für den größten Teil ihres Buchs vor allem auf Sekundärliteratur sowie Interviews mit Betroffenen zurückgreift, ist dieser Teil ihrer Studie der einzige, der konkrete Zahlen vorlegt.

Die fünfseitige Zusammenfassung macht noch einmal klar worum es der Autorin geht: Sie fragt danach, was es braucht, um in einer Stadt wie Wien einen Szenetreffpunkt zu etablieren, wie er für eine kreative Jazzszene unabdingbar ist. Sie stellt die Fragmentierung der Szene fest und auch das Fehlen von Lobbystrukturen. In ihrem Fazit fordert sie schließlich eine verstärkte Institutionalisierung und Internationalisierung der bereits vorhandenen funktionierenden Infrastruktur. Sie identifiziert Handlungsbedarf insbesondere in der medialen Unterstützung und Präsenz des Jazz und fordert die Geldgeber öffentlicher Subventionen auf, “bestehende und beharrende Förderstrukturen aufzubrechen, um einerseits Neues entstehen lassen zu können und andererseits auf bereits bestehende Finanzierungsbedürfnisse zu reagieren”.

Bramböcks Buch ist eine Fachstudie, also keine “Geschichte des Wiener Jazz”. Sie kann als Anleitung zur Konsolidierung einer überaus aktiven Szene gelesen werden und dabei auch Jazzaktiven in anderen Städten Hinweise darauf geben, was zu tun sei, um die so ungemein lockeren und oft wenig greifbaren Strukturen der Jazzszene zu festigen, um kreative Freiräume zu schaffen, in denen Musiker experimentieren und Neues entwickeln können. “Die Wiener Jazzszene” ist damit ein Argument in einer auch hierzulande bereits geführten Diskussion.

Wolfram Knauer (Oktober 2010)


 

Talking Jazz
von Till Brönner & Claudius Seidl
Köln 2010 (Kiepenheuer & Witsch)
207 Seiten, 18,95 Euro
ISBN: 978-3-462-04167-5

2010broennerClaudius Seidl ist Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Außerdem ist er Jazzfan. Liebhaber sei er, deshalb würde er selten über Jazz schreiben. Als aber ein Verleger ihn anrief, um zu fragen, ob er nicht einen guten Schreiber kenne, der zusammen mit Till Brönner ein Buch über sine Erfahrungen und ästhetischen Haltungen schreiben könne, da juckte es ihn in den Fingern. Eine Woche lang trafen sie sich jeden Morgen am Ufer der Havel, fuhren im Boot auf eine der Havelinseln und unterhielten sich, über Deutschland, die Welt und den Jazz. Das Ergebnis ist ein sehr persönliches Buch, in dem die Gespräche aufgelöst sind in kleine Kapitel mit den auf “kurz” zusammengefassten Fragen quasi als Überschriften, denen Brönners Antworten folgen, voller Liebe für die Musik, voll Unzufriedenheit darüber, dass die Musik, die er liebt, in Deutschland manchmal einen so seltsamen Ruf genießt und voll fast schon missionarischen Eifer, das zu ändern. So viele Leute liefen mit Missverständnissen darüber herum, was Jazz eigentlich sei; da täte Aufklärung dringend Not. Denn: “Jeder liebt Jazz!. Es gibt aber Menschen, die wissen schon, dass sie Jazz-Liebhaber sind. Und es gibt Menschen, die haben es noch gar nicht gemerkt.”

Brönners Mission läuft ja schon länger: Er ist in Talkshows präsent wie kein anderer seiner Zunft; über ihn wird in Bild genauso wie in Frauenzeitschriften berichtet; er moderierte den Jazz Echo und er sitzt in der Jury zum “X Factor”. Brönner also hat bereits einen Fuß in der Tür derjenigen, die noch nicht gemerkt haben, dass sie Jazz-Liebhaber sind. Mit seinem Buch will er die Tür ein wenig weiter öffnen, will Überzeugungsarbeit leisten, indem er von seinem eigenen Enthusiasmus berichtet, weil er fest davon überzeugt ist, dass Enthusiasmus mitreißen kann, ja mitreißen muss.

Brönners Buch ist keine übliche Autobiographie, aber natürlich spielt seine eigene Geschichte eine wichtige Rolle, denn Musik erklärt sich aus dem Individuum heraus, das sie macht. Er berichtet von seiner musikalischen Familie, von der ersten Platte, von seiner Faszination durch Bigbands im Fernsehen, von seinen ersten Gehversuchen als musikbegeisterter Jugendlicher, und davon, dass er heute noch wisse, “an welcher Stelle des Schulhofes das Auto stand, in dem ich, staunend und sprachlos, zum ersten Mal Charlie Parker hörte”.

Der Trompete ist mindestens ein eigenes Kapitel gewidmet, aber natürlich taucht sie überall auf im Buch. Die Königin des Jazz sei sie, der Trompeter “geradezu naturgemäß der Chef”. Im Musikaliengeschäft von “Tante Doris”, der Schwester seiner Mutter, konnte er alle möglichen Instrumente ausprobieren; hier bekam er auch seine erste Trompete, ein Geschenk zur Erstkommunion. Er erzählt vom Trompetenunterricht, vom klassischen Wettbewerb “Jugend musiziert”, bei dem er mitmachte und nur den zweiten Platz belegte. Er wusste warum: Seine wahre Liebe galt dem Jazz. Er schreibt über den Klang und die Körperlichkeit des Klangs, über die Anstrengung das Instrument zu beherrschen und seine Beherrschung auch zu behalten, und über die ewige Konkurrenz zwischen Trompete und Saxophon.

Mitte der 80er Jahre kam Brönner ins Landesjugendjazzorchester, wenig später ins neu gegründete Bundesjazzorchester unter Leitung Peter Herbolzheimers. Der war Respekt einflößender Orchesterchef, zugleich aber auch Mensch, und Brönner wurde immer wieder eingeladen, in Herbolzheimers anderer Band, der Rhythm Combination & Brass mitzuwirken. Immer spielte er “A Night in Tunesia” vor, bei “Jugend jazzt” genauso wie beim BuJazzo oder beim Rias-Tanzorchester unter Horst Jankowski, in dem er als jüngster Kollege unter Vertrag genommen wurde und acht Jahre lang arbeitete. Im Rias-Orchester konnte er lernen, dass zur Professionalität eines Musikers auch gehörte, nicht immer nur Jazz zu spielen und sich selbst “nicht immer und bei jedem Stück so furchtbar wichtig zu nehmen”. Er erzählt von Playback-Konzerten, von Dieter Thomas Heck, der schon mal über diese “Negermusik” schimpfte, von Peter Alexanders Jazztalent, von Harald Juhnke, der sich seine Programmabfolge nicht merken konnte, und vom Orchesterchef Horst Jankowski, den er bewunderte und doch auch immer wieder bemitleidete.

Natürlich geht’s ums Business: Brönner erzählt, wie er seine Solokarriere 1993 begann, erstes Album, Pressekontakte, erstes Renommee, erster Verriss: Rückwärtsgewandt sei das, was er mache, oberflächlich. Von Anfang an also musste er sich mit dem Problem auseinandersetzen, dass viele seiner Kritiker den Jazz vor allem dann gelten ließen, wenn er in ihren Augen Avantgarde sei, wobei sie das “Prinzip Avantgarde” kaum hinterfragten. Die Musiker würden sich selten so äußern; die “Deuter und Hüter der Reinheitsgebote” fänden sich vor allem unter den Kritikern. “Der kann doch viel mehr”, werde ihm dann etwa vorgeworfen, “Das sei kein Jazz mehr”, oder “Der dient sich dem Publikum an”. Brönner erzählt die Kritiken nach und ist sichtbar getroffen darüber, dass diese Kritiker ihn als Musiker nicht ernst nehmen, seinen eigenen Weg nicht sehen und ihn nicht nach Kriterien beurteilen wollen, die sie aus seiner Musik ableiten.

Brönner erzählt über seine Debüt-Platte, für die er eigenhändig Ray Brown verpflichtete, über eine Produktion mit Kindheitsfreund Stefan Raab, darüber, wie er bei Universal landete, über Platten mit Carla Bruni, Sergio Mendes oder über jene Plattenproduktion, bei der Annie Lennox aus der Ferne zugespielt wurde. Er räsoniert über sein Leben, über Freunde, über das Klischee des Jazzmusikers als Drogensüchtigen, über Liebe, Romantik und Frauen. Er reflektiert über die Tatsache, dass er als deutscher Musiker eine Musik mit afro-amerikanischen Wurzeln spielt, und er mach gleich zwei Liebeserklärungen: an Berlin und an Johann Sebastian Bach. Er spricht über den Markt, den Geschmack des Publikums, über die Notwendigkeit guten Marketings und darüber, dass Deutschland immer noch ein großer Markt für die Musikwelt ist. Die Tatsache, dass Marketing offenbar manchmal wichtiger als die Musik selbst ist, sei Grund für erheblichen Frust. So sähe man das ja auch Abend für Abend bei den Casting Shows im Fernsehen, bei denen es nicht so sehr ums Talent gehe als darum, dass jeder ein Star sein könne. Brönner sei solchen Shows gegenüber sehr misstrauisch und es habe eine Weile gebraucht, bis er sich entschlossen habe, selbst in der Jury zu “X Facto” mitzumischen. Ob man als Jazzmusiker von Plattenkäufen leben könne? “Das hängt”, antwortet Brönner” nicht nur davon ab, wie viel man verkauft. Es hängt auch davon ab, wie viel man investiert.” Er nennt die Zahl der ersten Abrechnung, die er 2007 von Unversal erhalten hatte: 1.300 Euro. Zugleich seien Platten aber auch eine Investition ins eigene Repertoire, in den eigenen Namen, die Bekanntheit, das Image.

In einem der persönlichsten Kapitel berichtet Brönner dann noch ausführlich über eine Begegnung, die ihn besonders prägte. Hildegard Knef, für deren letztes Album er komponierte, es sogar produzierte, die von der Kollegin zur Vertrauten und Freundin wurde. Er spricht über die besondere Beziehung zum Publikum, dass oft besser weiß, wie gut man war als man besser, über die Freiheit des Improvisierens, für die es immer einen Rahmen braucht, über Saxophonisten, die ihn beeindruckten, Ben Webster, Johnny Griffin, Lee Konitz, über Groupies, hohe Töne, musikalische Duelle auf der Bühne, über das elitäre Getue einiger “Mitglieder des Betriebs, ob sie jetzt Musiker, Redakteure, Kritiker sind” und über das typische Till-Brönner-Publikum.

Und zum Schluss: Die Vision. Ein Plädoyer für den Erhalt der Rundfunk-Bigbands, für die Gründung einer Jazzakademie nicht passgleich, aber durchaus vergleichbar mit Jazz at Lincoln Center mit eigenen Räumen, eigener Band, eigenen Nachwuchsprojekten. Und Plattenempfehlungen – für Trompeter, für Jazz-Verächter, für die einsame Insel

Alles in allem: ein von Claudius Seidl spannend zusammengestelltes, äußerst flüssig zu lesendes Buch, auch deshalb empfehlenswert, weil Till Brönner mit seiner Meinung nicht hinterm Berg hält, seine eigene Position offen verteidigt und den Leser damit zum Nachdenken bringt, zum Selbst-Position-Beziehen. Man mag nicht überall einer Meinung mit ihm sein; man mag seine Kritikerschelte manchmal für etwas überzogen, seine Sicht auf “die Avantgarde” für etwas kurzsichtig halten; und man mag auch sein Verständnis vom Jazz nicht überall nachvollziehen: Auseinandersetzen aber muss man sich mit seinen Argumenten, die er wohl begründet und mit denen er einen wichtigen Diskurs über den Jazz und seine Rolle im deutschen Kulturleben anschiebt, wie er auch von Künstlerseite her geführt werden muss.

Wolfram Knauer (Oktober 2010)


 

William Parker. Conversazioni sul jazz
Von Marcello Lorrai
Milano 2010 (Auditorium)
140 Seiten (plus 50 Seiten Fotos), 18 Euro
ISBN: 97888-86784-52-8

2010lorraiEs ist erstaunlich, dass sich daran kaum etwas geändert hat: Viele der aktuellen Entwicklungen im amerikanischen Jazz werden in Europa intensiver rezipiert und gewürdigt als im Heimatland dieser Musik. Der deutsche Verlag buddy’s knife hatte vor drei Jahren ein Buch mit Texten und Gedichten des New Yorker Kontrabassisten William Parker herausgebracht; jetzt legt Marcello Lorrai in Italien mit einem Buch nach, in dem Parker in einem langen Interview über seine Erfahrungen in der Musik berichtet, aber auch über seine musikalische Ästhetik. Es geht los mit der Kindheit in Goldsboro, North Carolina, musikalischen Einflüssen zwischen Ellington und Beethoven. Er erzählt von seinem Vater, der den ganzen Tag lang Musik gehört habe, Jack McDuff, Gene Ammons, Coleman Hawkins, Ben Webster. Er berichtet von seiner ersten Hörbegegnung mit dem New Thing, dem Free Jazz Ornette Colemans oder Cecil Taylors, von seiner Faszination durch Gedichte Kenneth Patchens. Er erzählt vom Jazzmobile, jener 1964 von Billy Taylor gegründeten Stadtteilinitiative in Harlem, die den Jazz zu den Menschen bringen sollte. Er berichtet über Weggefährten, Don Cherry etwa, Cecil Taylor vor allem, Bill Dixon, Peter Brötzmann und andere. 1978 sei er mit Jemeel Moondoc und Billy Bang zum ersten Mal nach Europa gereist, wo er seither immer wieder gespielt habe, in kleinen Clubs, auf großen Festivals. Parker reflektiert über Rassismus und die Haltung Amiri Barakas und anderer angry black men. Und zum Schluss berichtet er über drei Bassisten, die in seinem Leben eine wichtige Rolle spielten: Charles Mingus, der ihn so sehr beeinflusst habe; Henry Grimes, dem er nach dessen Wiederentdeckung 2003 ein Instrument besorgte; und den Weggefährten Peter Kowald, mit dem er zusammen das spätere Vision Festival entwickelte und der 2002 in seiner New Yorker Wohnung verstarb. Im Mittelteil des Buches finden sich außerdem 50 Seiten voller Fotos von Luciano Rossetti, der Parker beim Konzert oder backstage abgelichtet hat. William Parker bleibt eine Art Weiser im Jazzgeschäft New Yorks: ein großer Künstler, der ohne Scheuklappen genauso viel Respekt vor der Tradition besitzt wie die Kraft Neues anzugehen, der seine musikalische Weisheit aber auch mitteilen will – anderen Musikern genauso wie im Konzert seinem Publikum oder, in diesem Buch, den Lesern. Für die Lektüre sind Italienischkenntnisse vonnöten – eine Übersetzung, zumindest ins Englische, wäre mehr als wünschenswert.

Wolfram Knauer (Oktober 2010)


 

Von Hitler vertrieben, von Stalin verfolgt. Der Jazzmusiker Eddie Rosner
von Gertrud Pickhan & Maximilian Preisler
Berlin 2010 (be.bra Wissenschaft Verlag)
168 Seiten, 19,95 Euro

2010rosnerBis 1933 hieß er Adolf Rosner, änderte dann, aus naheliegenden Gründen, seinen Vornamen, erst in Ady oder Adi, später in Eddie. Ein jüdischer Jazztrompeter, der in den 20er Jahren in Berlin Karriere machte, an den Aufnahmen der legendären Weintraub Syncopators beteiligt war, dann nach Polen, schließlich nach Russland ging, wo er anfangs als Star gefeiert, dann aber als Jazzmusiker verfolgt wurde. Der Journalist Maximilian Preisler ist schon seit einer Weile auf Rosners Spuren und fand in der Historikerin Gertrud Pickhan nun eine Forschungspartnerin bei der Aufgabe, die Lebensgeschichte des Trompeters, dessen Weg von “Erfolg” zu “verfolgt” führte, niederzuschreiben. Die beiden recherchierten auf Ämtern und in Archiven, wühlten in Büchern und Tageszeitungen, und erstellten aus all den so zusammengetragenen Informationen ein überaus lebendiges Bild des Musikers.

Vom Aufwachsen in einer jüdischen Familie im Berlin des frühen 20sten Jahrhunderts erfahren wir da, von der kulturellen Ader der Familie, und davon, dass Adolf bereits als Sechsjähriger als Wunderkind aufs Konservatorium geschickt wurde, um Geige zu lernen. Erstes Geld verdiente er in Tanzkapellen wie denen von Efim Schachmeister oder Marek Weber, vor allem aber bei der großen Jazzsensation im Berlin der späten 20er und frühen 30er Jahre, den Weintraub Syncopators. Da hatte er bereits zur Trompete gewechselt und wurde fortan nur noch selten als Geiger erwähnt. Rosner war nicht nur ein erstklassiger Musiker, er war auch ein Showman: Das Publikum tobte, wenn er zwei Trompeten gleichzeitig spielte. 1932 reisten die Weintraub Syncopators als Schiffskapelle nach New York – das Buch druckt ein Faksimile der Passagierliste der SS New York ab –, aber dort durften sie aufgrund des Einspruchs der amerikanischen Musikergewerkschaft ihre Instrumente nicht mit von Bord nehmen.

Nach der Machtergreifung Hitlers emigrierten etliche der Musiker der Weintraubs – darunter auch Friedrich Hollaender – in die USA und anderswohin. Rosner blieb eine Weile in den Niederlanden, trat mit dem Orchester des belgischen Bandleaders Fud Candrix auf und traf Louis Armstrong, der sich gerade auf Europatournee befand und ihm ein Foto mit den Worten widmete “To the white Louis Armstrong from the black Adi Rosner”. Als die Behörden sein Visum nicht verlängerten, ging Rosner 1935 nach Polen. In Krakau und Warschau wurde er gefeiert, zog aber 1938 wieder gen Westen, genauer: nach Paris, wo er nicht nur auf gleichgesinnte Musiker aus Jazz und Showbusiness traf, sondern auch erste Plattenaufnahmen unter eigenem Namen – für das amerikanische Columbia-Label – machte.

Wenig später aber wurde es für jüdische Musiker ernst in Europa. Pickhan und Preisler schildern anschaulich, wie etwa Rosners Schlagzeuger Maurice van Kleef im Durchgangslager Westerborg zusammen mit Kabarettisten und anderen  Musikern auftrat. Van Kleef kam erst nach Auschwitz, dann nach Buchenau, und war einer der wenigen, die die KZs überlebten. Im Jahr des Kriegsausbruchs lernte Rosner in Warschau seine zukünftige Frau kennen. Im Oktober 1939 floh das junge Paar nach Bialystock; Rosner wurde kurz darauf Leiter des Belorussischen Jazzorchesters, mit dem er Erfolge in ganz Russland feiern konnte. Das Kapitel über diese Jahre ist reich an Anmerkungen zur sich laufend wandelnden sowjetischen Haltung gegenüber Amerika und dem Jazz in den Kriegs- und frühen Nachkriegsjahren. 1946 passte die Musik vom einen auf den anderen Tag nicht mehr ins ideologische Bild der Machthaber. Rosner als einer der Stars dieser Musik wurde verhaftet, als er nach Polen zurückkehren wollte, und wegen Verrats ins sowjetische Straflager gesteckt. Acht Jahre lang lebte er in verschiedenen Lagern, in denen er, der Vollblutmusiker, bald bereits Lagerorchester zusammenstellte und auch selbst komponierte.

1954 wurde Rosner entlassen, ging nach Moskau und schloss an seine Karriere als Jazzmusiker und Entertainer an, nachdem die Kulturpolitik der Sowjetunion dem Jazz wieder etwas offener gegenüberstand. Er wurde ein für sowjetische Verhältnisse wohlhabender Mann mit großer Wohnung und acht Sparbüchern. Als Benny Goodman 1962 die UdSSR bereiste, stattete er Rosner in dessen Wohnung einen Besuch ab, aß Borschtsch und andere russische Spezialitäten und jammte noch ein bisschen mit dem Trompeter. Anekdoten von Konzerten vor unzufriedenen Werktätigen in der Provinz oder im Theater der Stadt Magadan, in der Rosner lange Zeit inhaftiert gewesen war, beleuchten den Alltag eines Musikers im Russland jener Jahre. Die Zeit aber wurde immer schwieriger, und die Popularität Rosners ließ mit dem Aufkommen anderer musikalischer Moden auch in der Sowjetunion nach.

1973 wurde Rosners Gesuch auf Ausreise in die USA stattgegeben, wo er seine Schwester besuchen wollte. Sechs Tage später flog er weiter nach Berlin und wurde kurz darauf im Durchgangslager Friedland registriert, wo er und seine Frau deutsche Pässe erhielten. Im letzten Kapitel des Buchs nähern sich die Autoren Rosners Versuch in seiner Geburtsstadt wieder Fuß zu fassen. Dieses Kapitel handelt sowohl vom Streit mit Behörden um Entschädigungszahlungen und Rente als auch vom Versuch musikalisch an seine Vorkriegskarriere anzuknüpfen, als die Jugendmode nun wirklich nicht mehr Jazz hieß. Es gab Pläne für Auftritte in nostalgischen Tanzclubs und für Tourneen nach Brasilien und Israel. Doch bevor es dazu kommen konnte, starb Rosner 1976, im Alter von 66 Jahren, an einem Herzinfarkt.

Auch nach seinem Tod verklang Rosners Stimme allerdings nicht vollständig: In Russland kam es 2001 zu einer Art Rosner-Revival, als Alexey Batashev in Moskau ein Gedenkkonzert an den Trompeter organisierte, bei der eine Band Rosners Arrangements aus den 40er bis 60er Jahren nachspielte. Der Dokumentarfilm “The Jazzman from the Gulag” von 1999 erinnerte an Rosners Schicksal in der UdSSR. Der Berliner Saxophonist Dirk Engelhardt arbeitet in seinem Eddie-Rosner-Projekt Rosners verschiedene musikalische Lebensphasen auf. Rosners Tochter Irina Prokofieva-Rosner gab 2005 eine Doppel-CD mit Aufnahmen des Trompeters heraus. Und Gertrud Pickhan und Maximilian Preisler gelingt es in ihrem Buch, die so überaus wechselvolle Geschichte des Adolf / Ady / Adi / Eddie Rosner lebendig werden zu lassen und damit ein Stück pan-europäischer Jazzgeschichte als der Geschichte einer unter Diktaturen immer verfemten Musik.

Wolfram Knauer (September 2010)


 

Das brennende Klavier. Der Musiker Wolfgang Dauner
Von Wolfgang Schorlau
Hamburg 2010 (Nautilus)
190 Seiten, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-89401-730-9

2010schorlauDie großen Jazzer des Nachkriegsdeutschlands sind dann doch mit einer Hand abzuzählen. Albert Mangelsdorff, Klaus Doldinger, Gunter Hampel … Peter Brötzmann und Alexander von Schlippenbach scheinen schon ein wenig später zu kommen. Und dann ist da Wolfgang Dauner, jener  Tastenzauberer aus Stuttgart, der vom Jazz der amerikanischen Besatzer begeistert bald zum jungen Wilden der Szene wurde, der eine Geige auf der Bühne zertrümmerte oder zum “Urschrei” aufrief, der aber neben dem brennenden Piano, das auf dem Cover Titel seiner Biographie zu sehen ist, die wunderschönsten Harmonien aus dem Klavier herauszaubern kann, der freie Improvisation nicht nur im Free Jazz, sondern auch in der gebundenen Harmonik entdeckt, der Klangflächen erschließt und den Hörer einsaugt mit seinen musikalischen Ideen. Wolfgang Dauner hat viel geschaffen in seinem künstlerischen Leben: wegweisende Platten, etwa “Dream Talk” von 1964 oder “Free Action” von 1967, ein nachhaltig wirkendes paneuropäisches Orchester (das United Jazz and Rock Ensemble); er war Mitgründer des Plattenlabels Mood, schrieb Film- und Fernsehmusiken, trat mit den Größen des deutschen, europäischen, internationalen Jazz auf. Er hat aber auch viel erlebt, und von diesem Leben, von diesem Er-Leben handelt das Buch von Wolfgang Schorlau. Schorlau ist bekannt als Autor politischer Kriminalromane, und seine literarische Ader macht die Dauner-Biographie zu einem flotten Lesevergnügen. Ja, er hängt vieles an Anekdoten auf, aber das Nebeneinander der Anekdoten ist nirgends beliebig, sondern verdichtet sich mehr und mehr zur vielseitigen Persönlichkeit des Pianisten Wolfgang Dauner. Der hält nichts zurück, erzählt von seiner Jugend als Pflegekind, von Drogen und Orgien (oder, wie Schorlau schreibt: “der Begriff Party ist wohl zu lau für das, was in seiner Wohnung stattfindet”, von der Suche und dem Finden, ob in künstlerischer oder privater Hinsicht. Dauner selbst kommt ausführlich zu Wort: über ästhetische Ansichten, lange Haare, die Trauerfeier für Willy Brandt, den “Urschrei”, einen Besuch in New Orleans und und und. Seltene Fotos sind zu sehen, etwa vom splitterfasernackten Fred Braceful (bei einem Happening während des Deutschen Jazzfestivals in Frankfurt) oder auch die kuriose Korrespondenz Dauners mit einer von ihm phantasierten “Cowboy Band Texas”, an die der Zwölfjährige einen Brief schrieb, und über den der “Fort Worth Star-Telegram1948 prompt berichtete (und ihm im Anschluss eine Antwort und eine Cowboy-Banduniform schickte). Schorlaus Buch ist eine lesenswerte Biographie, weil sie sich nicht bei den Fakten aufhält, sondern immer den Menschen dahinter sucht – und findet: den Musiker Wolfgang Dauner.

Wolfram Knauer (September 2010)


 

Vorort von New York? Die Amerikaner in Bremerhaven. Ergebnisse einer Studie am Museum der 50er Jahre Bremerhaven
Von Rüdiger Ritter
Bremerhaven 2010 (Wissenschaftsverlag NW)
372 Seiten, 24,80 Euro
ISBN: 978-3-86509-929-7

2010ritterDeutschland Nachkriegs-Jazzgeschichte hängt eng mit seiner Besatzungsgeschichte zusammen. Knapp gesagt: In den englisch besetzten Gebieten spielte man andere Musik als in den amerikanisch besetzten Gebieten. Unter den Briten florierte der in England beliebte Trad Jazz; bei den Amerikanern und unter dem Einfluss der Begegnung deutscher und amerikanischer Musiker der moderne Jazz, der Bebop, Cool Jazz, später der Hard Bop. Albert Mangelsdorff wäre wahrscheinlich überall ein Modernist geworden, aber die Tatsache, dass er in Frankfurt am Main lebte, half erfreulich nach. In letzter Zeit sind einige Studien zum Verhältnis der Deutschen und der Amerikaner in der Zeit der Besatzung erschienen, und die meisten befassen sich mit den “klassischen” amerikanischen Besatzungsgebieten in Süd- und Südwestdeutschland. Dabei war Bremerhaven als Hafenstadt eine ganz besondere Enklave, und die Präsenz der Amerikaner beeinflusste auch hier deutsche Musiker dahingehend, dass sie modernen Jazz spielten, experimentierten, sich die soul-vollen Grooves ihrer amerikanischen Kollegen abschauten oder aber in den Clubs der Stadt durch die Erwartungshaltung ihres amerikanischen Publikums ein anderes musikalisches Bewusstsein entwickelten.

Rüdiger Ritter ist ein jazz-beflissener Historiker und hat quasi nebenher in der ehemaligen Militärkirche auf dem Gelände der einstigen US-Kaserne “Carl Schurz” in Bremerhaven-Weddewarden ein Museum der 50er Jahre aufgebaut. Nun legt er eine ausführliche Studie vor, für die er akribisch in den Akten gewälzt, aber auch jede Menge Zeitzeugeninterviews geführt hat und in der er beleuchtet, wie die Präsenz der Amerikaner das Leben in Bremerhaven in allen Bereichen beeinflusste.

Die Bremerhavener nannten ihre Stadt selbst scherzhaft “Vorort New Yorks” – allerdings gar nicht mit Bezug auf die amerikanische Besatzung, sonder vielmehr mit Bezug auf die Zeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert, als von Bremerhaven aus die großen Passagierschiffe in Richtung Amerika ausliefen, als Bremerhaven für viele Auswanderer die letzte deutsche Stadt war, bevor sie in Ellis Island amerikanischen Boden betraten. Als die Amerikaner nach dem II. Weltkrieg entschieden, Bremerhaven als “Port of Embarkation” zu nutzen, bauten sie genauso wie die Bremerhavener auf dieser Vorgeschichte auf – eine Vorgeschichte, die durchaus dazu beitrug, dass die Besatzung auch durch die Bürger der Stadt von Anfang an positiver gesehen wurde als anderswo.

Ritters Buch beschreibt die Stationierung der Amerikaner, die am 7. Mai 1945 begann und am 5. Juni 1993 mit der Schließung der letzten US-Kaserne endete. Er erklärt, wie sich Briten und Amerikaner nach dem Krieg auf die Aufteilung der Besatzungsgebiete einigten. Er beschreibt die Bedeutung des Standorts Bremerhaven für die US-Streitkräfte in Europa und die US-amerikanische Infrastruktur inner- und außerhalb der Barracks. Zugleich betrachtet er die Lebensumstände der Deutschen zur selben Zeit, Nachkriegsarmut und Überlebensstrategien, den Schwarzmarkt und die Amerikaner als Arbeitgeber. Ein eigenes Kapitel befasst sich mit den Re-education-Maßnahmen, ein weiteres mit der innerhalb dieses Programms zu sehenden Jugendarbeit der Amerikaner. Fraternisierung, die “German Fräuleins” und “spontane Amerikanisierung in der Kneipe” bringen uns dann langsam zum Thema Kulturtransfer, dem Jazzfreund Ritter ein ausführliches Kapitel einräumt. Er beschreibt “Chico’s Place”, jene Kneipe, in der seit den 50er Jahren Jazz erklang und in die selbst Hamburger Jazzfreunde pilgerten Er schreibt über Armeekappellen, die auch auf Bremerhavens Straßen zu hören waren und neben Marschmusik immer auch Jazziges im Gepäck hatten. Der AFN wird erwähnt und natürlich die Ankunft Elvis Presleys 1958. Vor allem aber beschreibt Ritter die Amerikaner “als Geburtshelfer der Bremerhavener Jazz-Szene” – und man könnte ergänzen: auch der Bremer Szene. Von den Namen, die er nennt, ist kaum einer über die Region hinaus bekannt geworden, doch die Legende lebt weiter. Von “Chico’s Place” erzählen sich alte Jazzer noch heute, und auch der Mythos eines fröhlichen Nebeneinanderlebens hält sich.

Ritter aber setzt auch ein wenig dagegen, indem er stichprobenhaft die verschiedenen Mythen amerikanisch-deutschen Zusammenlebens in Bremerhaven auf ihre Wirklichkeitsnähe hin überprüft, etwa wenn er auf den Umgang der Amerikaner mit Homosexualität, auf den alltäglichen Rassismus und seinen Widerspruch zu den Idealen der Umerziehung, auf “Gis als Unruhestifter” oder auf den Clash der Generationen jener Jahre hinweist, in dem der amerikanische Einfluss immer mehr als ein kulturzersetzender, jugendgefährdender gesehen wurde. Sein Buch ist eine beispielhafte Studie, die zugleich vorführt, wie vielfältig die Beziehungen zwischen eng miteinander lebenden Kulturkreisen sind und vor allem, wieviel Forschungsaufgaben noch vor uns liegen, um konkrete Entwicklungen nachzuzeichnen. Für die deutsche Jazzgeschichte, die das Phänomen der amerikanischen Präsenz in Deutschland ja fast am stärksten betrifft, ist das alles ein besonders spannendes Thema, und Ritters Buch eine gute Ausgangsbasis zur Reflektion über die vielfältigen gegenseitigen Einflüsse.

Wolfram Knauer (September 2010)


 

Coltrane
Von Paolo Parisi
Bologna 2010 (Blackvelvet Biopop)
128 Seiten, 13,00 Euro
ISBN: 978-88-87827-86-6

2010parisi“Am Anfang war der Ton”, beginnt das Buch des Comicautors Paolo Parisi, das die musikalische Lebensgeschichte von John Coltrane erzählt: von seiner Jugend in North Carolina, ersten musikalischen Gehversuchen in Philadelphia, der Zeit bei Dizzy Gillespie, Thelonious Monk und Miles Davis, von Alkohol- und Drogenexzessen, vom Rassismus, von Liebe, Geschäft, Erfolg, von ästhetischen Wollen und vom künstlerischen Nachlass des großen Saxophonisten. Wir begegnen all den wichtigen Personen in seinem Leben, seinem klassischen Quartett, seiner Frau Alice, vielen Kollegen, die an der New Yorker Jazz-Avantgarde der 1960er Jahre mitwirkten, Orten wie dem Birdland und dem Village Vanguard, Aufnahmesessions wie der für “My Favorite Things” oder der für “A Love Supreme”, dessen vier Sätzen der Autor die Überschriften über die vier Großkapitel entlieh. Ein schönes Buch für jeden (italienisch sprechenden) Coltraneliebhaber.

Wolfram Knauer (August 2010)


 

In Search of Don Ellis, Forgotten Genius, Volume 1-3
von Ken Orton
England 2010 (UniBook / Ken Orton)
Vol. 1: 418 Seiten, 32,94 Euro
Vol. 2: 438 Seiten, 34,23 Euro
Vol. 3: 157 Seiten, 42,97 Euro
ISBN: 9781935038962 (Vol. 1)
ISBN: 9781935038979 (Vol. 2)
ISBN: 9781935038986 (Vol. 3)
Direkt erhältlich über www.unibook.com

Ken Orton ist wahrscheinlich der kenntnisreichste Experte, wenn es um den Trompeter Don Ellis geht, dessen Experimente mit Form und Metrum, aber auch mit außereuropäischen (bzw. außeramerikanischen) Musiktraditionen in den 1960er Jahren weit einflussreicher waren, als es sein Bekanntheitsgrad vermuten lässt. Seine Don Ellis-Biographie ist jetzt erschienen, und sie ist umfangreich geworden: ein Werk mit drei Bänden von insgesamt knapp 1.000 Seiten, auf denen Ellis’ Leben genauso dokumentiert wird wie sein musikalisches Werk. Es ist eine “labor of love”, und es ist ein akribisches Projekt, ohne Zweifel ein Standardwerk über den Trompeter, an dem niemand vorbeikommen wird.

2010orton01Der erste Band widmet sich Ellis’ Biographie bis etwa 1971. Orton verfolgt die Familiengeschichte ausführlich, weiß um Leben und Arbeit des Vaters genauso wie um die geographischen Umstände der Kindheit Don Ellis’. Er zitiert aus Interviews mit Familienangehörigen und Bekannten, vor allem aber auch aus persönlichen Papieren, Briefen, Familienbüchern und vielem mehr. Mit acht Jahren erhielt Don sein erstes Instrument, mit zehn Jahren wurde sein musikalisches Talent offiziell festgehalten; mit elf hatte er seine erste Band, für die er auch die Arrangements schrieb. 1956 wurde Ellis in die Armee eingezogen und war bald in Deutschland stationiert, wo er in der 7th Army Symphony spielte. Orton macht überall in seinem Buch ausführlichen gebrauch von persönlichen Briefen, die Don Ellis an seine Eltern und Großeltern schrieb. In solchen Briefen liest man etwa von einer Session mit Tony Scott, von seinem neuen Porsche, von Reisen mit der Band und seiner Unzufriedenheit mit einem neuen Bandleader der Armeekapelle. 1958 wurde Ellis ehrenhaft aus der Armee entlassen. Zurück in New York traf er Joe Zawinul, den er aus Wien kannte und der ihm einen Job in Maynard Fergusons Band vermittelte. Zwischendurch finden sich dabei immer wieder kurze Anmerkungen, die Orton nicht auflöst, die der jazzgeschichtlich bewanderte Leser aber mit Interesse zur Kenntnis nimmt, etwa (aus einem Brief vom Oktober 1959): “Der Gitarrist in meiner Band ist ein Typ, mit dem ich in Frankfurt immer zusammengespielt hatte. Er hat letztes Jahr in die europäischen Jazzumfragen gewonnen.” – gemeint ist wahrscheinlich Attila Zoller, der genau zu dieser Zeit in New York ankam. 1959 nahm Ellis eine Platte mit Charles Mingus auf; 1960 stellte er sein eigenes Quintett im New Yorker Club Birdland vor; später im Jahr erhielt er ein Vollstipendium zur Lenox School of Jazz, über die er einen ausführlichen Report verfasste. Im Herbst nahm er dann sein erstes Album unter eigenem Namen auf, “How Time Passes”, und wieder geben viele persönliche Briefe einen Einblick in das tägliche Leben eines Musikers in jenen Jahren. Orton verfolgt Ellis’ Biographie mehr oder weniger chronologisch, notiert akribisch jeden Termin, jedes Engagement, über das es Belege gibt, zitiert aus Briefen, zeitgenössischen Kritiken, Zeitzeugeninterviews etwa mit seiner Frau Connie. Ellis selbst äußert sich etwa auf eine Frage Leonard Feathers über seine Einstellung zur Ästhetik des Jazz (den er immer noch als “Folk Music” ansieht) und über staatliche Subventionen (“Ich bin absolut dagegen.”). 1962 besuchte Don mit seiner Frau das Jazz Jamboree in Warschau, und Orton druckt sein Tagebuch der Reise ab. 1964 arbeitete Ellis an einem Buch über Rhythmik und bezieht sich darin sowohl auf seine eigenen Experimente mit ungeraden Metren wie auch auf indische Ragas. Wenig später gründete er das Hindustani Jazz Sextet, mit dem er eine Fusion aus indischen und Jazzstilistiken versuchte. Zur selben Zeit fing er an, sich für das Spiel mit Vierteltönen zu interessieren. 1966 übernahm er die Programmplanung des Clubs Bonesville in Los Angeles; im selben Jahr lud er Karin Krog ein, auf einem seiner Alben mitzuwirken. Inzwischen leitete er eine Bigband, die vor allem seine eigenen Kompositionen umsetzte und mit der er in den nächsten Jahren auf großen Festivals zu hören war. Ellis war immer ein sehr aktiver Vertreter des Third Stream und trat etwa 1967 mit seiner Bigband und dem Los Angeles Philharmonic Orchestra unter Leitung von Zubin Mehta in einem Konzert auf, dass die beiden Klangkörper gegenüberstellte. Etwa zur selben Zeit wandte er sich elektrisch verstärkten Instrumenten für seine Band zu (einschließlich seines eigenen), gehörte damit zu den Vorreitern einer Jazz-Rock-Fusion, was auch außerhalb der Jazzwelt wahrgenommen wurde. 1968 veröffentlichte er mit “Electric Bath” seine erste LP für das Label Columbia, die weltweit Furore machte. Nächste Station auf seinem Weg war die Electric Band, mit der er 1968 auch bei den Berliner Jazztagen zu hören war. Orton spürt Konzertrezensionen selbst in Provinzblättern auf und druckt sie ab, Rezensionen, die manchmal ein wenig sehr ins Einzelne zu gehen scheinen, dabei aber doch das Bild des Alltags eines reisenden Musikers widerspiegeln.

2010orton02Band 2 der Reihe nimmt den Faden im Jahr 1971 auf und geht im selben Duktus weiter: Konzert auf Konzert, Platte auf Platte werden sorgfältig aufgelistet, Rezensionen gesammelt, Erinnerungen von Musikern und Auszüge aus Ellis’ Tagebuch zugeordnet. Höhepunkte hier etwa seine Filmmusik zu “The French Connection”, für die er 1972 einen Grammy erhielt. Beziehungsprobleme des Trompeters und Probleme mit den Steuerbehörden werden genauso erörtert wie der Bau seines Traumhauses, das 1974 sogar in einer Beilage der Los Angeles Times vorgestellt wurde. 1975 wurde eine Herzerkrankung bei Ellis diagnostiziert, und wenig später musste er nach einem Herzstillstand wiederbelebt werden. 1976 griff er zusätzlich zu seinen bisherigen Instrumenten zur Posaune; 1977 nahm er eine Platte mit Musik auf, die durch den Film “Star Wars” inspiriert war. 1977 auch korrespondierte er mit Hans Georg Brunner-Schwer über ein Plattenprojekt für das MPS-Label, das Joachim Ernst Berendt angedacht und für das er außerdem Karin Krog vorgemerkt hatte, das aber nie realisiert werden konnte. Im Februar 1978 spielte Ellis’ Quintett beim Jazz Yatra Festival in Bombay, Indien. Der Trompeter war bereits schwer krank zu dieser Zeit, trat aber wie vor auf, wenn er auch mehr und mehr die Trompete auf die Seite legte und stattdessen auf dem Synthesizer spielte. Am 10. Mai 1978 meldete der Melody Maker, Ellis habe sich auf Anraten seiner Ärzte vom aktiven Musikmachen zurückgezogen. Am 17. Dezember 1978 besuchte Ellis eine Vorstellung des Musicals “Evolution of the Blues” von Jon Hendricks. Zurück zuhause unterhielt er sich mit seiner Mutter und brach mitten im Gespräch tot zusammen. Seine Eltern übernahmen die Aufgabe, sein Vermächtnis zu erfüllen, seine Kompositionen und Korrespondenz in einem geeigneten Archiv unterzubringen (sie entschieden sich für das Eastfield College in Texas, an dem Ellis sein letztes Konzert gegeben hatte) und die Erinnerung an ihren Sohn aufrecht zu erhalten.

Ein Schlusskapitel des biographischen Teils, “Where Do We Go From Here?” stellt sich als das persönlichste des Buchs heraus: Es schildert den Weg des Autors, den Weg Ken Ortons zum Buch, einen Weg, den er Anfang der 1980er Jahre begonnen hatte, als er sich mit Ellis’ Eltern in Kalifornien traf. Orton war mitverantwortlich dafür, dass die Don Ellis Collection 2000 vom Eastfield College an die University of California in Los Angeles überführt wurde, wo sie sinnvoll erschlossen und zugänglich gemacht werden konnte. Orton ist selbst Saxophonist und leitete in den 1990er Jahren eine eigene Bigband, die er The Don Ellis Connection” nannte und mit der er mit Erlaubnis der Familie vor allem Kompositionen des Trompeters aufführte. Die zweite Hälfte des zweiten Bandes füllen Erinnerungen von Kollegen an Don Ellis, unveröffentlichte Manuskripte des Trompeters über Musik, über Jazz, über Ästhetik, sowie eine ausführliche Diskographie, die sowohl seine eigenen Projekte enthält als auch diejenigen, an denen er mitwirkte, Filmmusikern sowie Fernseh- und Videomitschnitte. Eine Liste seiner Kompositionen und Arrangements beschließt den Band.

2010orton03Band 3 des opulenten Werks schließlich enthält eine Bildergalerie einiger öffentlicher, vor allem aber privater Fotos: Kinderbilder, die ersten Bands, Fotos aus Deutschland, New York in den 1960ern, die junge Familie, Reise- und Tourneefotos, Plattensitzungen, Bilder, bei denen die Hingabe an die Musik deutlich wird (wenn auch auf den ersten Blick eher der Wandel der Frisuren auffällt). Am Schluss stehen zwei Fotos von einer Ehrung in Boston, auf denen man deutlich sieht, wie krank Ellis bereits war, drei Monate vor seinem Tod.

Ken Ortons Buch ist keine schnelle Lesereise. Er hat die letzten dreißig Jahre seinen Recherchen zu Don Ellis gewidmet, und es wirkt, als habe er alles, was er dabei gefunden hat, auch in das Buch gesteckt. Das mag ein Grund dafür sein, dass Orton Schwierigkeiten hatte, einen Verlag für dieses Mammutwerk zu finden – die akribisch festgehaltenen Details zu jedem Auftritt, jeder Platte sind wahrscheinlich tatsächlich vor allem für den Don-Ellis-Fan  richtig interessant. Doch wenn man zwischendurch auch manchmal meint, das sei schon ein wenig viel des Guten, liest man sich gleich im nächsten Moment wieder fest in einer Quelle, die Orton nüchtern einführt, die für sich belanglos scheint, im Umfeld aber so ein enorm menschliches Licht auf den Künstler und Komponisten, auf den Trompeter und … ja, man mag sagen Philosophen Don Ellis wirft. Und am Ende ist man dankbar für die Akribie, auch dafür, dass Orton sich dazu entschlossen hat, dieses Material sorgfältig geordnet komplett im “books on demand”-.Verfahren zugänglich zu machen. Man wünschte sich vielleicht noch einen Personen-, Platten-, Titel- und Themenindex. Aber das war’s dann auch schon. Über Don Ellis weiß man fast alles nach der Lektüre. Nur die Musik, die muss man selbst hören.

Wolfram Knauer (August 2010)

PS: Quasi parallel zum Buch erschien eine CD mit Konzertmitschnitten vom Februar 1978, als Ellis mit seinem Quintett in Indien auftrat: Don Ellis, “Live in India. The Lost Tapes of a Musical Legend, Vol. 1” (Sleepy Night Records SNR003CD). Siehe www.sleepynightrecords.com.


 

Pierre Courbois > Révocation
Herausgegeben von Paul Kusters & Titus Schulz
Westervoort/Niederlande 2010 (Uitgeverij Van Gruting)
226 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 97890-75879-537

2010courboisPierre Courbois hat in seiner musikalischen Karriere eine Menge Dinge als erster gemacht: Er war einer der ersten europäischen Musiker, die mit dem Free Jazz liebäugelten, als er 1961 das Original Dutch Free Jazz Quartet gründete; er leitete mit seiner Association PC aber auch eine der ersten Fusionbands Europas; und spielte darüber hinaus mit Musikern wie Gunter Hampel, Theo Loevendie, Mal Waldron, Rein de Graaf, Manfred Schoof, Willem Breuker, Jasper Van’t Hof und vielen anderen. Er erhielt in seinem Heimatland die höchsten Preise, so 1994 den Bird Award beim Northsea Jazz Festival und 2008 den Boy Edgar Prijs.

Jetzt, pünktlich zu seinem 70. Geburtstag, haben Paul Kusters und Titus Schulz dem einflussreichen holländischen Musiker ein Buch gewidmet, in dem Courbois selbst genauso zu Worte kommt wie viele seiner Weggefährten über die Jahre. Es beginnt mit einer biographischen Skizze, einem kursorischen Überblick über die Kapitel seines musikalischen Werdegangs. Dann erzählt einer der Bassklarinettist und Vibraphonist Gunter Hampel über ihre gemeinsame Zeit in den 1960er Jahren, als Courbois in Hampels Band spielte und auch bei der LP “Heartplants” mit von der Partie war. Jasper Van’t Hof und Peter Crijnen erinnern sich gemeinsam mit Courbois an die Association PC und die Auseinandersetzung mit den verschiedenen rhythmischen und ästhetischen Ansätzen der beiden Genres Jazz und Rock, sind sich außerdem einig in ihrer Wertung, dass die Association PC wohl eher eine Jazzrock- als eine Rockjazz-Band gewesen sei. Die meisten der im Buch enthaltenen Interviews sind solche Doppelinterviews, wobei einer der beiden Interviewpartner oft Courbois selbst ist, was dazu führt, dass man als Leser Einblicke in Gespräche zwischen Eingeweihten erhält, dass die Diskussionen sich bald ums Eigentliche drehen, um rhythmische Absprachen (mit Rein de Graaf), Harmonik (mit Theo Loevendie), darum, wie Pierre Courbois rhythmisch Druck machen konnte (mit Leo van Oostroom und Ilja Reijngoud), wie wichtig ihm seine rhythmische Eigenständigkeit auch im Zusammenspiel war (mit Egon Kracht und Niko Langenhuijsen). Courbois selbst erzählt über seine Technik und über Einflüsse auf ihn sowie über sein Instrument, das er aus vielen verschiedenen Einzelteilen zusammengestellt hat und bei dem viele Teile von ihm selbst konstruiert wurden. Mit Jos Janssen unterhalten die Autoren sich über Pierres Gongtechnik und seine Soloaufnahmen. Manfred Schoof lobt Courbois Komposition “Révocation”, die gleich darauf von Martin Fondse ausführlich analysiert wird. Der Geiger Heribert Wagner kommt zu Wort und der Pianist Pol de Haas, mit denen Courbois in den 1980er und 1990er Jahren zusammengespielt hatte. Saxophonist Jasper Blom berichtet, dass die Band nach den Konzerten wenig über die Musik gesprochen habe, und der Schlagzeuger Colin Seidel erzählt, was er bei seinem Lehrer Pierre Courbois hat lernen können. Ein Buch voller Respekt von allen Seiten, aber auch ein Buch, das einen Einblick erlaubt ins Denken eines kreativen Musikers und ins Funktionieren improvisierter Musik zwischen den frühen 1960er Jahren und heute. Und natürlich gibt es jede Menge menschlicher Informationen über Courbois und die Musiker, mit denen er über all diese Jahre zusammengearbeitet hat. Es ist ein überaus opulentes Werk geworden, mit vielen Fotos sowohl aus Courbois’ langen Berufsjahren als auch von seinen selbstgebauten Instrumenten. Zur Lektüre allerdings sollte man schon des Holländischen mächtig sein. Das Buch erschien, wie gesagt, pünktlich zum 70. Geburtstag des Schlagzeugers im April 2010. Es ist eine Labor of Love aller Beteiligten und ein weiterer Baustein zu einer noch ausstehenden europäischen Jazzgeschichte.

Wolfram Knauer (Juli 2010)


 

Jazz de France. Le guide-annuaire du jazz en France
Herausgegeben von Pascal Anquetil
Paris 2010 (irma = Centre d’Information et de Resources pour les Musiques Actuelles)
608 Seiten, 36 Euro
ISBN: 978-2-916668-27-7

2010anquetilWir werden immer wieder gefragt, ob es so etwas wie den von uns alle zwei Jahre vorgelegten “Wegweiser Jazz” auch für andere Länder gibt, und für die meisten Länder müssen wir verneinen. Die eine Ausnahme ist Frankreich, das mit blendendem Beispiel vorangeht mit dem Verzeichnis “Jazz de France”, herausgegeben vom Informationszentrum für zeitgenössische Musik “irma” und betreut von Pascal Anquetil. Das Buch ist ein überaus übersichtliches Verzeichnis der französischen Jazzszene und enthält auf 600 Seiten noch erheblich mehr als wir in die Printausgabe unseres Wegweisers stecken, beispielsweise die Kontaktdaten zu Musikern (die fast 300 Seiten des Buchs ausmachen) oder Journalisten. Clubs, Festivals sind genauso verzeichnet wie Plattenlabels, Agenturen, Schulen oder Workshops. Neben Jazzclubs enthält das Buch dabei auch große Konzertsäle, die in der Vergangenheit regelmäßige Jazzkonzerte präsentierten. Ähnlich wie der “Wegweiser Jazz” verzeichnet auch “Jazz de France” die Größe der Veranstaltungsorte, Ansprechpartner, technische Ausstattung, stilistische Ausrichtung und was immer sonst an Information für die Jazzszene wichtig sein könnte. Mehr als 6.000 Einträge, mehr als 15.000 Kontakte, Adressen von 60 Verbänden, 200 Agenten und Produzenten, 30 Wettbewerben, 540 (!) Festivals, 420 Clubs und 380 größeren Sälen. Dazu die Kontaktdaten für 110 Journalisten, 150 Plattenlabels, 200 Schulen mit Jazzangebot … und vieles mehr. Unverzichtbar für jeden, der mit der französischen Jazzszene arbeitet, und ein wünschenswertes Beispiel für ganz Europa. “Jazz de France” hat übrigens auch uns zu vielen Neuerungen angeregt, die wir in die letzte Ausgabe unseres “Wegweisers Jazz” aufgenommen haben.

Zu beziehen ist “Jazz de France” direkt bei irma über <http://www.irma.asso.fr/Jazz-de-France>

(Wolfram Knauer, Juli 2010)


 

Queere Tracks. Subversive Strategien in der Rock- und Popmusik
Von Doris Leibetseder
Bielefeld 2010 (transcript)
336 Seiten, 29,80 Euro
ISBN: 978-3-8376-1193-9

UMS1193sotheLeibetseder.inddDie queere Kulturforschung, soviel sei Uneingeweihten kurz verraten, untersucht Kulturentwicklungen auf ihre ganz unterschiedlichen Wechselwirkung mit schwul-lesbischen oder sonstigen nicht-heterosexuellen Lebens-, Denkens- und Fühlensweisen. Das können Verweise auf von heterosexueller Orientierung abweichende Lebensweisen sein, die in Texten vorkommen, die biographische Erfahrung von Musikern genauso wie ihrem Publikum, das Feststellen von Unterdrückungs- oder Sublimierungsstrukturen, also sowohl von deutlicher Ablehnung wie auch vom einfachen Ignorieren des Einflusses nicht-heterosexueller Erfahrungen auf die Musik. Studien zur Queer Theory gibt es mittlerweile zuhauf, und auch für die Musik ist dies ein spannendes Forschungsfeld. Im Bereich des Jazz (wie allgemein der afro-amerikanischen Musik) finden sich aus unterschiedlichen Gründen etliche Verdrängungsbeispiele, die entweder die Existenz schwuler, lesbischer oder gar transsexueller Aktivität in dieser Musik leugnen oder aber die Bedeutung offen gelebter queerer Sexualität für die Entwicklung der Musik abstreiten. John Gill legte 1995 sein Buch Queer Noises vor, und Sherrie Tucker beschäftigt sich seit längerem damit, inwieweit queere Theorie nicht auch die Jazzforschung in Frage stellt.

Doris Leibetseder beschäftigt sich in ihrer Studie kaum mit dem Jazz, sondern vor allem mit Rock- und Popmusik, die auf den ersten Blick vielleicht auch ein dankbareres Feld für das Thema zu sein scheint. Sie beginnt mit einem historischen Kapitel, in dem sie auf female impersonators verweist, die in Vaudeville Shows des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts aufzutreten pflegten. Sie diskutiert die Bedeutung, die das Zurschaustellen von Sexualität etwa durch Josephine Baker erhielt und wie darin zugleich rassistische Klischees festgeschrieben wurden. Sie verweist auf relativ offen lebende lesbische Künstler wie Ma Rainey, auf deutlich mit queeren Klischees spielende Tanzfiguren des Rock ‘n’ Roll, auf den Glamrock, Little Richard, David Bowie, Andy Warhol und späte Auswirkungen des Glamrock bei Boy George, Annie Lennox oder Grace Jones. Selbst (oder insbesondere) offen queere Beispiele der Rock- und Popmusik, erklärt Leibetseder, spielen oft und gern mit Parodie, Täuschung, sarkastischen Gesten, Ironie, Camp, Maske und nutzen dabei sowohl queere Vorlieben wie auch jahrhundertelange Schutzmechanismen. Leibetseders Grundtheorie ist, dass es kein Geschlechteroriginal gäbe, kein richtiges oder falsches Geschlecht, so dass das Spiel mit sexuellen Rollen oder Identitäten auf der Bühne letztlich auf Bedingtheiten im realen Leben verweisen bzw. diese kommentieren.

In einem ersten Kapitel analysiert Leibetsreder die “Ironie” als Strategie, etwa im feministischen Diskurs, bei Madonna oder im Wirken der Riot Grrrls. Dabei spielt neben der Musik auch die Selbstdarstellung im Video oder der Kleidung eine Rolle­. Im zweiten Kapitel beleuchtet sie das Mittel der Parodie, grenzt diese etwa von Satire, Burlesque, Persiflage, Pastiche ab, beschreibt das Subversive der Parodie und nennt als ein klassisches Beispiele aus dem Bereich der Pop- und Rockmusik Jimi Hendrix’ berühmte Interpretation der amerikanischen Nationalhymne. Für ihr Thema besonders interessant sind Geschlechterparodien, Travestie, Drag und die damit verbundene Camp-Kultur. Sie zitiert aus Anleitungen zu einem Drag-King-Workshop und bringt als musikalisches Beispiel schließlich Peaches ins Spiel, die Sängerin, die immer wieder männliche Musiker imitierte.

Leibetseder beschäftigt sich in ihrem dritten Kapitel mit “Camp”, dessen Definition und Wortherleitung allein einige Seiten in Anspruch nehmen. Sieht man Camp als sprachliche, gestische, kommunikative Methode einer Aufweichung von Geschlechterrollen und dabei eines ironischen Infragestellens einer jeden sexuellen Sicherheit, einschließlich der eigenen, so ist es eine bewusst ein-, nicht ausschließende Strategie. Camp habe einen riesigen Einfluss auf die Pop-Ästhetik gehabt, betont Leibetseder und stellt nebenbei auch einen subversiven Camp fest, der politischer ist, Stellung bezieht. Ihre Musikbeispiele sind Madonnas Spiel mit Sex- und Geschlechterrollen sowie die Androgynität bei Annie Lennox oder Grace Jones. Geschlechterrollen als Masken analysiert Leibetseder in ihrem vierten Kapitel, fragt nach Fetischisierung, dem Verständnis von Weiblichkeit oder Männlichkeit als Maskerade und geht auf Stücke von Annie Lenox und Peaches ein. Ein weiteres Kapitel ist überschrieben “Mimesis / Mimikry”, behandelt die Gründzüge beider bei Platon und Aristoteles, das Thema Mimesis und Macht sowie die feministische Mimesis, etwa im Werk Irigarays. Ihre Musikbeispiele sind diesmal Grace Jones und Bishi sowie die Band Lesbianson Ecstacy.

Ein eigenes Kapitel ist dem “Cyborg” gewidmet. Cyborg ist ein Kunstwort, gebildet aus cybernetic und organism und wurde von der Popmusik als Strategie genutzt, sexuelle Identität durch die Verbindung mit Maschinen zugleich zu ver- wie zu entkörperlichen. Als Beispiel dient Björks Musikvideo “All is Full of Love”, in dem Björks Gesicht mit einer Roboterfigur vermengt wird. Das Kapitel “Transsexualität” beginnt mit einer Erklärung, warum ein Begriff wie “Technologie” für das Verstehen von Sexualität so wichtig sein kann, bringt eine kurze Geschichte der Transsexualität von Chevalier d’Eon de Beaumont bis in die Jetztzeit. Leibetseder diskutiert die Identitätsprobleme, die sich aus Transsexualität sowohl für die Betroffenen wie für ihre Umwelt geben können (weil Transsexualität nun mal nicht nur in Frage stellt, nicht imitiert, parodiert, sondern aktiv verändert), sie weist auf Vorurteile innerhalb der lesbisch-schwulen Welt gegenüber Transsexuellen hin, und sie nennt als Beispiel aus der Musikwelt (mit vergleichendem Verweis auf Billy Tipton, den Jazzpianisten, bei dem man nach seinem Tod herausfand, dass er tatsächlich eine Frau war) den HipHop-Künstler und “Transmann” Katastrophe. Das letzte Kapitel des Buchs schließlich ist überschrieben mit “Dildo – ‘Gender Bender'” und beschäftigt sich mit sexuellen Praktiken, mit Dildos, Vibratoren und die subversive Benutzung des Motivs Dildo, etwa in Aufnahmen der Band Tribe 8 oder der Sängerin Peaches.

Eine lesenswerte Zusammenfassung der Kapitel (ohne die historischen und  ästhetischen Diskurse, aber einschließlich knapper Hinweise auf die Musikbeispiele) beschließt das Buch, das sicher kaum Jazzgehalt hat, als Referenz für eine queere Theorie auch in anderen Genres aber durchaus taugt.

Wolfram Knauer (Juli 2010)


 

Sonny Rollins. Improvisation und Protest. Interviews
von Christian Broecking
Berlin 2010 (Christian Broecking Verlag)
136 Seiten, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-938763-29-2

2010broecking3Christian Broecking versammelt in seinem Buch über Sonny Rollins fünf Interviews, die er zwischen 1996 und 2010 mit dem Tenorsaxophonisten geführt hat und schaltet dazwischen Gespräche mit Weggefährten wie Jim Hall, Max Roach oder Roy Haynes sowie mit Zeitzeugen wie David S. Ware, Gary Giddins, Roy Hargrove und Abbey Lincoln. Im Vorwort zum Gespräch von 1996 erzählt Broecking, dass Rollins sich seine Interviews sorgfältig aussuche, sich dann aber Zeit nehme. Der Saxophonist erzählt, wie wichtig es ihm sei, auf die Jazztradition Bezug zu nehmen, berichtet über das Community-Gefühl im Harlem der 1950er und 1960er Jahre, sowie darüber, wie man ihn kritisiert habe, als er 1960 den weißen Gitarristen Jim Hall in seine Band geholt habe. 1998 erzählt er über die “Freedom Suite” und die politische Aufgabe des Jazz, äußert sich vorsichtig über Wynton Marsalis und Jazz at Lincoln Center und berichtet über die Bedeutung von Spiritualität für sein Leben. Im Jahr 2000 verrät Rollins, warum er sich Anfang der 1960er Jahre einen Irokesen-Haarschnitt zugelegt habe und wie wichtig Image und Bühnenpräsenz für einen Jazzmusiker seien. Das wichtigste Element im Jazz, sagt er, sei “die spontane Kreation von Klängen” und verrät dann drei seiner Lieblingssongs: Lester Youngs “Afternoon of a Basie-ite”, Coleman Hawkins’ “The Man I Love” sowie Billie Holidays “Lover Man”. 2006 erzählt er mehr über die legendäre Aufnahmesession, bei der er 1963 mit Coleman Hawkins spielte,  über Free Jazz und seinen Schüler, den Saxophonisten David S. Ware, über die Anschläge vom 11. September 2001 und welche Auswirkungen sie gehabt hätten, sowie über sein Leben auf dem Lande. Er berichtet davon, wie er einmal mit Jean-Paul Sartre zusammengetroffen sei und kommentiert die kritischen Positionen von Amiri Baraka und Stanley Crouch zu Entwicklungen im Jazz: diese mögen ja ganz interessant sein, “aber sie bewegen den Berg nicht”. 2010 schließlich äußert er sich verhalten optimistisch über die Wahl Barack Obamas zum amerikanischen Präsidenten sowie über das harte Leben eines Jazzmusikers im Allgemeinen. Mit Jim Hall unterhält sich Broecking über die Platte “The Bridge”, die der Gitarrist 1960 mit Rollins einspielte sowie über Rassismus und Gegenrassismus. Max Roach äußert sich ganz konkret zu Rassismuserfahrungen und betont wie wichtig es sei, sich der politischen Bedeutung von Musik bewusst zu bleiben. Abbey Lincoln erzählt, welche Rolle Roach für ihre Karriere gespielt habe und wie schwierig die politischen Texte, die sie immer wieder gesungen hatte, sich für ihre Karriere erwiesen hätten. Roy Haynes erzählt, wie er sich nur nach und nach bewusst wurde, dass er ja selbst Teil der großen Jazzgeschichte ist. David S. Ware klagt über die Benachteiligung durch Clubbesitzer. Gary Giddins erzählt, wie er auf die Spur des korrekten Geburtsdatums von Louis Armstrong gekommen sei und diskutiert, warum es immer noch so wenig schwarze Jazzkritiker in den USA gäbe. Roy Hargrove schließlich berichtet über all die Einflüsse auf ihn, über Wynton Marsalis sowie über Präsident George W. Bush. Sie alle legen Zeugnis dafür ab, dass der Jazz weder im luft- noch im gesellschaftsleeren Raum geschieht, sondern eine politische Äußerung eben gerade deshalb ist, weil er aus der Gegenwart heraus entsteht, weil er über die Gegenwart reflektiert und weil er zur Kommunikation über die Gegenwart animiert.

Wolfram Knauer (Juli 2010)


 

Herbie Hancock. Interviews
Von Christian Broecking
Berlin 2010 (Christian Broecking Verlag)
77 Seiten, 16,90 Euro
ISBN: 978-3-938763-12-4

2010broecking2Christian Broecking ist sicher einer der fleißigsten deutschen Interviewer über den amerikanischen Jazz; er berichtet seit vielen Jahren über die Diskussionen innerhalb der afro-amerikanischen Jazzszene. Rechtzeitig zu Herbie Hancocks 70. Geburtstag brachte er kürzlich in seinem noch jungen, aber bereits überaus regen eigenen Verlag ein Büchlein mit Interviews heraus, die er über die Jahre mit dem Pianisten und zwei seiner engen Mitstreiter geführt hat. 1994 sprach Broecking mit Hancock über “Dis Is Da Drum”, eine Produktion, mit der dieser an seinen “Rockit!”-Hit aus den 1980er Jahren anschließen wollte. 1994 war die Marsalis/Crouch-Debatte darüber in vollem Gang, was denn noch als Jazz durchgehe und was bestimmt nicht, und Hancock nimmt kein Blatt vor den Mund: Marsalis sei bestimmt ein wunderbarer Musiker, ansonsten eher ein Historiker, und Engstirnigkeit und Begrenztheit sei seine, Hancocks Sache noch nie gewesen. Er verstehe den Kreuzzug gegen Miles Davis’ Fusion-Projekte nicht ganz und sehe auch seine eigenen Crossover-Versuche durchaus in der Tradition afro-amerikanischer Musik. Im April 2000 sprach Broecking mit Hancock anlässlich seines 60sten Geburtstags und seiner George-Gershwin-Tribut-Tournee. “Gershwin’s World” sei seine bislang ambitionierteste Platte, wirbt Hancock und habe dabei insbesondere großen Spaß an der Zusammenarbeit mit Künstlern gehabt, die nicht aus dem Jazzlager kommen, Joni Mitchell etwa, Stevie Wonder oder Kathleen Battle. Früher habe er sich vor allem als Musiker gesehen, heute sehe er sich als Menschen, der Musik macht. Er spricht über die Möglichkeiten des (damals noch recht jungen) Internets und über eventuelle Projekte im Avantgardebereich. Ein Jahr später war die CD “Future 2 Future” Grund für ein kurzes Interview, in dem Hancock sich u.a. über die Möglichkeiten moderner Technologien auslässt. Bei einem weiteren kurzen Gespräch kommentiert er 2005 die Auswirkungen von Hurrikane Katrina. 2007 schließlich traf Broecking Hancock bei der CD-Veröffentlichung von “The Joni Letters”, und sprach mit ihm über seinen Weg zum Jazz, über Visionen, Freiheit, den afro-amerikanischen Einfluss auf seine Musik, über Buddhismus, und noch einmal über die verengte Sicht von Wynton Marsalis und seiner Clique. Zwischengeschaltet ist ein Interview mit Wayne Shorter über dessen Bandkonzept, über Inspirationsquellen für seine Musik, über das Alter, Buddhismus und darüber, wie Miles Davis in seiner elektrischen Phase das Gefühl der schwarzen Kirche mit Strawinsky verbinden wollte. Ron Carter wiederum äußert sich über seine eigene Entwicklung seit den Tagen, als er im Miles Davis Quintett spielte, über Fusion, politische Meinungsäußerungen von Musikern, sowie darüber, was einen guten Produzenten und was einen guten Bandleader ausmacht. Alles in allem: ein kurzweiliges Buch, das keine Lebensgeschichte bietet, dafür Einsichten in Herbie Hancocks Gedankenwelt und die zweier enger Mitstreiter.

(Wolfram Knauer, Juli 2010)


 

Where the Dark and the Light Folks Meet
Race and the Mythology, Politics, and Business of Jazz
von Randall Sandke
Lanham/MD 2010 (Scarecrow Press)
275 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-6652-2

2010sandkeRandy Sandke ist vor allem als swing-betonter Trompeter bekannt, der in den 1990er Jahren außerdem oft als Gastdirigent und Arrangeur fürs Carnegie Hall Jazz Orchestra einsprang. In der Buchreihe des Institute of Jazz Studies an der Rutgers University legt er mit “Where the Dark and the Light Folks Meet” eine Sammlung an interessanten und nachdenkenswerten Essays über eine alternative Sichtweise der Jazzgeschichte vor. Nicht jeder werde seinen Argumenten zustimmen, schreibt Dan Morgenstern, Direktor des Institute of Jazz Studies, im Klappentext, aber man müsse nach der Lektüre dieses Buches einfach viele Details der Jazzgeschichte neu überdenken. Worum geht es im Jazz eigentlich, fragt Sandke im Eingangskapitel und stellt fest, dass es neben der reinen Musik jede Menge an Subtexten gäbe, die da existierten und denen er sich in seinem Buch widmen wolle: Jazz als Musik der Unterdrückung und des Rassismus, Jazz als politische Waffe, und als Antwort auf die Unterdrückung … sind nur zwei dieser Subtexte, die er dabei andeutet. Er befasst sich beispielsweise mit der Jazzkritik, also der Jazzgeschichtsschreibung, fragt, ob es wahr sei, dass diese über lange Zeit weiße Musiker bevorzugt behandelt habe, und überprüft dann Bücher und Essays von namhaften Kritikern wie Marshall Stearns, John Hammond, Leonard Feather, Rudy Blesh, Nat Hentoff, Martin Williams sowie LeRoi Jones, Albert Murray und Stanley Crouch auf die mögliche Zielrichtung ihrer Ausführungen. “Good Intentions and Bad History” nimmt sich dann einige Klischees der Jazzgeschichtsschreibung vor und rückt die Tatsachen ein wenig zurück. Randke hinterfragt hier etwa die afrikanische Genese des Jazz, den Mythos des Congo Square als “missing link” zurück nach Afrika, die Auswirkungen der rassistischen Jim-Crow-Gesetze auf den Jazz, die Legenden um Buddy Bolden oder um die Geburt des Bebop, aber auch die Quellen der “Avantgarde” auf ihren tatsächliche Rückhalt in der Realität – und macht dabei klar, dass wohl nicht alles so einfach und eindimensional war, wie die Jazzgeschichtsschreibung es uns gern glauben machen will. “What Gets Left Out” lautet die Überschrift über einem weiteren Kapitel, in dem Sandke über Aspekte der Jazzgeschichte schreibt, die er in den allgemeinen Narrativen der Jazzbücher vermisst: die Minstrelsy, die nicht nur, wie sie oft abgetan wird, ein rassistisches Spektakel war, sondern durchaus auch andere Deutungsmöglichkeiten besaß; die Geschichte weißer Musiker in New Orleans, die recht früh damit begonnen hätten Jazz zu spielen und aus ähnlichen Gründen wie ihre schwarzen oder “creole” Mitbürger: weil es nämlich Bedarf nach dieser Musik gab; der Einfluss klassischer Techniken und klassischer Musik auf Musiker von Scott Joplin über Fats Waller, Jelly Roll Morton, Art Tatum, Thelonous Monk bis zu McCoy Tyner, Eric Dolphy, Charles Mingus und weit darüber hinaus. Er stellt die Frage nach Hautfarben-Identität (race identity), die im politischen Bewusstsein mancher Jazzmusiker und vieler die Jazzmusik begleitenden politischer Wortführer immer wichtiger wurde; und er beleuchtet die Retro-Bewegung der 1980er Jahre um Wynton Marsalis. Ein eigenes Kapitel widmet Sandke dem Publikum und fragt, für wen denn wohl genau die Musiker über die Jahrzehnte gespielt hätten. Es habe da immer mal wieder den Mythos gegeben, Jazzmusiker hätten vor allem für ein weißes Publikum gespielt, also befasst sich Sandke mit den verschiedenen Schauplätzen in den Clubs und Spielorten der Jazzgeschichte – insbesondere der frühen Jahre und der Bebop-Phase. “It’s Strictly Business” ist das Kapitel überschrieben, in dem Sandke sich mit dem Geschäftlichen um den Jazz beschäftigt. Waren Plattenlabels und Plattenproduzenten wirklich so korrupte Geldgeier, wie ihnen nachgesagt wird? Verdienten die weißen Musiker in den Studios von New York, Chicago oder Hollywood wirklich mehr als ihre schwarzen Kollegen (nachdem diese sich den Zutritt zu solchen Ensembles erstritten – oder erarbeitet – hatten)? Waren Agenten wirklich immer die Parasiten, als die sie gern hingestellt werden, fragt er und beleuchtet Beispiele wie den “Erfinder” des Newport Jazz Festivals George Wein, die Melrose Brothers, Irving Mills, Joe Glaser, Norman Granz, Willard Alexander, Tommy Rockwell, Billy Shaw, eddy Blume, Jack Whittemore und andere. Er befasst sich mit dem leidigen Thema Copyright und stellt dabei einige legendäre Streitfälle um die Urheberschaft vor, um den “Original Dixieland One-Step” etwa, den “Tiger Rag”, “Shimmie Like My Sister Kate”, “Muskrat Ramble” und viele andere Titel der Jazzgeschichte, Fälle, die Musiker wie Louis Armstrong, Kid Ory, Jelly Roll Morton, Duke Ellington, Sonny Rollins, Charlie Parker, Miles Davis und viele andere betrafen. “Show Me the Money” schließlich” heißt es über einem Kapitel, das die Bezahlung von Jazzmusikern zum Thema hat. Von 2 Dollar pro Abend in New Orleans bis zu 100.000 Dollar pro Konzert für Oscar Peterson geht dieser interessante Vergleich des finanziellen Erfolgs der Jazzheroen. Die durchgängig immer wieder erörterte Frage ist, “Geht es bei alledem immer nur um die Hautfarbe?”, und Sandkes Antworten sind von Fall zu Fall unterschiedlich. Oft hat er gar keine abschließende Antwort auf seine Fragen, will nur ein wenig am allgemeinen scheinbaren Wissen um die Fakten rütteln, um das Bewusstsein des Lesers zu wecken, dass es vielleicht auch ein wenig anders gewesen sein könnte, dass Einzelbeispiele nicht für das Ganze genommen werden dürfen, dass man immer auch die Perspektive desjenigen, der über etwas berichtet, mitlesen müsse. Das alles gelingt ihm in einem überaus spannenden Stil, der einen quasi zum Mitdiskutieren zwingt, zum Revidieren von Meinungen, zum offenen Nachdenken auch über Dinge, die in seinem Buch gar nicht vorkommen. Ein lesenswertes und nachdenkenswertes Buch also, wärmstens gerade denjenigen empfohlen, die meinen, eigentlich alles über die Jazzgeschichte zu wissen.

(Wolfram Knauer, Juni 2010)


 

We Want Miles
herausgegeben von Vincent Bessières
Montréal 2010 (Montréal Museum of Fine Arts)
223 Seiten, 39 Euro
ISBN: 978-2-80192-343-9

2010bessieres“We Want Miles” heißt die oppulente Ausstellung die Vincent Bessières für die Cité de la Musique in Paris zusammengestellt hat und die zurzeit (und noch bis August 2010) im Montréal Museum of Fine Arts zu sehen ist. Die Ausstellung in Paris umfasst zwei Stockwerke voll mit Material, das sich auf Miles bezieht: Klangkabinen, in denen man Musik aus den verschiedenen Schaffensperioden seines Lebens hören kann, seltene Filmausschnitte von Konzerten oder Interviews, in denen er über seine Musik spricht, seine Kleidung und Gemälde, vieler seiner Instrumente, originale Notenblätter etlicher Aufnahmesessions, einschließlich der legendären Capitol-Nonett-Aufnahmen von 1949, sowie handschriftliche Notizen über die Aufnahmesitzungen, die oft von seinem langjährigen Produzenten Teo Macero stammen. Dem Kurator der Ausstellung Vincent Bessières und seinen Mitarbeitern von der Cité de la Musique ist es gelungen, ein wenig vom Geist des Trompeters einzufangen, den Besucher langsam in Miles’ Welt eintauchen zu lassen. Sie zeichnen seine musikalische und persönliche Entwicklung über die Jahre in Saal nach Saal nach und geben selbst seinem Rückzug von Musik und Öffentlichkeit in den späten 1970er Jahren einen eigenen Raum: einen dunklen Durchgang mit wenigen Dokumenten an den schwarzen Wänden, die knappe Einblicke in seine Probleme der Zeit geben. Am Anfang der Ausstellung mag man noch meinen, dieses Foto sei einem doch eh bekannt, diese Platten ebenfalls oder jener Zeitungsartikel. Mehr und mehr aber wird man in den Sog der Ausstellung gezogen und erlebt bestimmte Phasen in Miles’ Entwicklung anders als man sie zuvor erlebt hat, einfach durch die Art und Weise, wie die Ausstellungsstücke einander gegenübergestellt sind, wie die Musik aus den Klangkabinen, die Videos und all die anderen Dokumente einander ergänzen und einen die Musik und das Leben von Miles Davis neu entdecken, neu sehen, neu hören lassen. Der Ausstellungskatalog zeigt viele der in der Cité de la Musique zu sehenden Exponate und enthält daneben einen ausführlichen Text von Franck Bergerot sowie kürzere Texte von George Avakian, Laurent Cugny, Ira Gitler, David Liebman, Francis Marmande, John Szwed und Mike Zwerin. Nun ist der ursprünglich nur auf Französisch erhältliche Katalog auch in englischer Übersetzung erschienen: eine wunderbare Sammlung an Dokumenten, Fotos und Erinnerungen.

(Wolfram Knauer)


 

silent solos. improvisers speak
herausgegeben von Renata Da Rin
Köln 2010 (buddy’s knife)
176 Seiten, 22,00 Euro
ISBN: 978-3-00-030557-3

2010darinDie Bücher aus dem Kölner Verlag Buddy’s Knife haben in nur wenigen Ausgaben bereits ein ganz eigenes Profil: schwarz eingebunden mit einem matt-bunten Foto- oder Grafik-Querstreifen in der Mitte des Covers, feines Papier, eine schöne Type, die Schrift in tiefdunklem Grau; und auch inhaltlich: meist Literarisches und Poetisches aus der Feder von Musikern der amerikanischen Avantgardeszene. Das neueste Buch ist da nicht anders: 50 Musiker vor allem der New Yorker Downtown-Szene haben Gedichte beigetragen, die mit Musik zu tun haben oder auch nicht, die abstrakt sind oder reflexiv oder sehr realitätsbezogen. Wahrscheinlich stimmt, was George Lewis in seinem Vorwort sagt, dass man zuerst geneigt sein mag, Ähnlichkeiten zwischen den Texten und der Musik ihrer Autoren zu suchen. Lewis auch stellt die provokante These auf, dass Worte schneller reisten als Musik. Auf jeden Fall käme in der Poesie eine weitere Spielebene hinzu, die der Bedeutungen nämlich, die sich aufeinander und auf die Worte zuvor und danach beziehen, eine Ebene, die sich laufend verändert und die den Leser involviert. Nun, in den Gedichten, die sich in diesem Band befinden, lassen sich allerhand Dinge entdecken, die über das poetische Genießen hinaus Bedeutung besitzen. Wirklich wahllos herausgepickt: Lee Konitzs “no easy way” über die Schwierigkeiten des Zusammenspielens; Gunther Hampels “improvisation – the celebration of the moment” über genau das, was also geschieht, wenn man improvisiert; Katie Bulls “improvisation is the jazz-mandala-voyage” ebenfalls über den Improvisationsprozess; Jayne Cortezs “what’s your take” über die ökonomische Globalisierung und die Notwendigkeit, in diesem Prozess Stellung zu beziehen; Roy Nathansons “charles’ song” über und für Charles Gayle; David Liebmans “what jazz means to me” über seine ganz persönliche Beziehung zu dieser Musik; Assif Tsahars “untitled” über die Stille der Natur; Joseph Jarmans “a vision against violence”; Charles Gayles “untitled”, ein großer Dank ans Publikum … und so viele andere Gedichte, die Geschichten erzählen oder Stimmungen schaffen, die auf reale Erlebnisse rekurrieren oder in sich (den Autor) hineinhorchen. Von David Amram bis Henry P. Warner sind es insgesamt 82 Texte, alphabetisch nach Autoren sortiert, abwechslungsreich, lyrisch, hoffnungsvoll, oft das Suchen widerspiegelnd, das die Autoren auch in ihrer Musik vorantreibt. All diese Texte und Gedichte erlauben einen anderen Blick auf die Musik, nicht beschreibend, sondern wie Soli in einem anderen Medium, “silent solos”, die nichtsdestotrotz heftigst klingen können.

Wolfram Knauer (Mai 2010)


 

Long Lost Blues. Popular Blues in America, 1850-1920
Von Peter C. Muir
Urbana/Illinois 2010 (University of Illinois Press)
254 Seiten, 35 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-07676-3

2010muirWie der Jazz wird auch der Blues allgemein als eine Musik des 20. Jahrhunderts wahrgenommen, eine Musik, die sich parallel zur Tonaufzeichnung entwickelt hat. Anders als der Jazz aber hat der Blues tatsächlich eine längere Geschichte, die Peter Muir in seinem Buch nachzeichnet, das sich den Jahren vor den ersten Bluesaufnahmen widmet, den Jahrzehnten vor Mamie Smith’s “Crazy Blues”. Er schreibt damit über ein Genre, das er selbst als “Popular Blues” bezeichnet und damit sowohl vom Folk Blues wie auch vom Nachkriegs-Chicago-Blues unterscheidet. Entscheidend für die Zuordnung ist ihm dabei die Zielgruppe und Marktorientierung der Musik. Zu den Künstlern dieses Popular Blues zählen also Musiker wie W.C. Handy, Spencer Williams, James P. Johnson, George W. Thomas und Perry Bradford. Muirs Definition des Blues ist dabei denkbar einfach: Wo “Blues” draufsteht, entscheidet er, da wird reingeschaut: Der Titel oder Untertitel der Musik ist ihm wichtiger als eine musikalische Einordnung, auch deshalb, weil es ihm vor allem um eine kulturelle Studie geht und ihn daher diejenige Musik interessiert, die von der Kultur, in der sie entstand, als Blues verkauft werden wollte. Wenn sein Buch im Untertitel auch bis aufs Jahr 1850 zurückgreift, so widmet er sich im Hauptteil allerdings der Musik, die zwischen 1912 und 1920 entstanden ist und für die er eine “Popular Blues Industry” feststellt. Am 12. Januar 1912 meldeten Chris Smith und Tim Brymn beim Urheberrechtsbüro in Washington eine Komposition mit dem simplen Titel “The Blues” an, eigentlich ein Ragtime-Song, der aber in der Thematik (eine Frau, die um ihren Liebsten klagt) wie auch in harmonischen Wendungen Bluesmomente evoziert. Muir untersucht die Veröffentlichungen der nächsten neun Jahre und stellt eine Zunahme der “Blues”-Notenpublikationen fest von 5 im Jahre 1912 bis 456 im Jahr 1920. Er zählt die Blues-Schellackplatten jener Jahre genauso wie die Zylinder und Klavierwalzen und stellt fest, dass die Notenveröffentlichungen damals deutlich einen wichtigeren Marktanteil besaßen als die Plattenveröffentlichungen. Er schaut auf die Verwendung des Bluesklischees im Varieté (Vaudeville) jener Jahre, in Musicals, Minstrel Shows, in Aufführungen von weißen genauso wie schwarzen Künstlern. Er diskutiert das damals kaum vorhandene Bewusstsein der Musiker zur Dualität von Roots Music und Popmusik, in der ihre Aufführungen standen. Muir analysiert einzelne Blueskompositionen, etwa den “Broadway Blues” von Arthur Swanstrom und Morgan Carey, der auch in seiner Klavier/Gesangsfassung komplett abgedruckt ist. Er klassifiziert die von ihm gefundenen Stücke nach Themen, etwa “Beziehungs-Blues”, “Nostalgie-Blues”, “Prohibitions-Blues”, “Kriegs-Blues” und “reflektive Blues”, schaut aber auch auf die rein instrumentalen Blueskompositionen, die oft einen stärkeren Folkduktus besaßen als die vokalen Stücke. Muir erwähnt die Verbindungen zwischen Blues und Ragtime, Blues und Foxtrott und auch Blues und Jazz, wobei er etwa Jelly Roll Mortons “Jelly Roll Blues” diskutiert. Natürlich befasst er sich mit der zwölftaktigen Form des klassischen Bluesmodells, mit Blue Notes, Barbershop Endings, einer der typischsten melodischen Viernotenfiguren jener frühen Blues sowie einem textlichen Klischee, der Zeile “I’ve Got the Blues”, die sich in so vielen der Titel findet. Ein eigenes Kapitel widmet Mur den Konnotationen des Begriffs “Blues”, also den nicht-musikalischen und nicht-textlichen Verständnissen von Traurigkeit, Depression, Schicksalsschlag, und fragt nach den homöopathischen oder allopathischen Qualitäten des Blues, die dabei helfen könnten, solchen Gemütszuständen entgegenzuwirken. Der erfolgreichste Blueskomponist dieser Jahre, W.C. Handy, verdient und erhält ein eigenes Großkapitel. Muir unterteilt sein Wirken in seine Zeit in Memphis (1909-1917) und seine New Yorker Jahre (nach 1917) und untersucht etliche seiner Kompositionen auf ihre Machart, darunter “Yellow Dog Blues”, “Beale Street Blues” und “Saint Louis Blues”. Einige der kreativsten Blueskompositionen, konstatiert Muir, stammten von Komponisten aus den amerikanischen Südstaaten. Als Beispiele führt er Titel an wie “Baby Seals’ Blues”, den “Dallas Blues” oder aber Kompositionen von Euday L. Bowman, George W. Thomas und Perry Bradford. Im abschließenden Kapitel wirft Muir dann noch einen Blick auf Kompositionen, die vor 1912 veröffentlicht wurden und deutliche musikalische oder textliche Beziehungen zum Blues zeigen. Hier wird er dann auch dem Untertitel seines Buchs gerecht und reicht bis 1850 zurück (ein Stück namens “I Have Got the Blues To Day”). Er verfolgt die zwölftaktige Bluesform immerhin bis zurück ins Jahr 1895 (Muir bezieht sich auch hier nur auf Notenveröffentlichungen) und streicht dabei vor allem den Komponisten Hughie Cannon heraus, einen weißen Ragtimepianisten, der heute vor allem noch wegen seines Stücks “Bill Bailey” bekannt ist, daneben aber immerhin dreizehn Stücke schrieb, die Muir zu jenen “Proto-Blues” zählt, Stücke, die vor allem in der formalen und harmonischen Struktur wichtige Einflüsse auf die spätere Bluesmode der Jahre nach 1912 haben sollten. Muir diskutiert das Phänomen der Bluesballade (insbesondere “Frankie and Johnny”) und begründet, warum der Bluesstimmenverlauf, wie wir ihn kennen, und nicht die harmonische Form von “Frankie” sich wohl letzten Endes im populären Blues durchgesetzt haben. Ein Anhang des Buchs listet Stücke, die “Blues” im Titel tragen und zwischen 1912 und 1915 zum Copyright angemeldet wurden. Muirs Buch ist durchsetzt mit musikalischen Beispielen, Auszügen aus den Notenveröffentlichungen, um die sich seine Studie hauptsächlich dreht. Er problematisiert kaum (gerade mal im Vorwort) die performativen Eigenheiten all dieser Kompositionen, die Vereinfachungen ihrer Notenveröffentlichungen, die Ver- und Überarbeitungen, die viele dieser populären Stücke in Arrangements von Bands, Minstrelkünstlern und anderen Musikern erhielten. Sein Buch deckt allerdings recht erschöpfend ein Kapitel ab, das sich manchem als Frage gestellt haben mag, der sich mit dem Repertoire vor 1920 beschäftigt hat und dabei über eine Vielzahl an mit “Blues” betitelten Stücken gestolpert ist, die aber nur bedingt dem entsprechen, was man nach 1920 als Blues versteht. “Long Lost Blues” ist damit also eine überaus spannende und umfassende Aufarbeitung eines wichtigen Teils der Vorgeschichte des Jazz.

Wolfram Knauer (Mai 2010)


 

Groove – Kultur – Unterricht. Studien zur pädagogischen Erschließung einer musikkulturellen Praktik
von Heinrich Klingmann
Bielefeld 2010 (transcript Verlag)
436 Seiten, 34,80 Euro
ISBN: 978-3-8376-1354-4

UMS1354popKlingmann.inddAfroamerikanischer Groove, sagt Heinrich Klingmann in der Einleitung zu seinem Buch, sei ein Phänomen, das nicht nur für rhythmisch-musikalische Praktiken stehe, sondern daneben eine musikalische Gestaltungsweise beschreibe, die inzwischen weltweit rezipiert werde. Sie sei darüber hinaus unterrichtbar und müsse heute auch unterrichtet werden. Sein Buch wolle so einen “Beitrag zur wissenschaftlichen Legitimierung der pädagogischen Arbeit mit dem rhythmischen Aspekt afroamerikanischer Musik leisten”. In einem ersten Kapitel beschreibt er, wie Groove bislang im wissenschaftlichen Diskurs behandelt wurde, stellt unterschiedliche musikologische wie erlebnis- und rezeptionstheoretische Erklärungen oder Annäherungen an das Phänomen Groove vor, geht dabei auch auf musikethnologische Forschungen zur Funktion von Rhythmus bzw. Groove in verschiedenen Kulturen ein. Er erklärt kulturwissenschaftliche Perspektiven, also beispielsweise unterschiedliche Codes, die sich mit musikalischen Parametern verbinden und diskutiert in diesem Zusammenhang ausführlich die Probleme, die die westlich geprägte Hochkultur mit der scheinbaren Unmitttelbarkeit als “primitiv” angesehener Kulturen hatte, also auch mit Rhythmik und Groove (und vor allem: Körperlichkeit) afrikanischer bzw. afroamerikanischer Musik. Der zweite Teil, der etwas mehr als ein Viertel seines Buchs ausmacht, ist dem Thema “Musikpädagogik und Groovemusik” gewidmet. Hier geht es Klingmann darum, ob und wie man Groove an Schulen unterrichten könne. Er stellt kurz dar, wie sich der Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland in den letzten Jahrzehnten geändert und geöffnet habe, schildert unterschiedliche musikdidaktische Positionen und die Rolle, die afroamerikanische Rhythmik in ihnen spielt, und überlegt schließlich, wie rhythmisches Bewusstsein in unterschiedliche Lehrkonzepte einzubauen sein könnte, etwa als Einführung in die Musikkulturen, als Möglichkeit persönlicher Authentifizierung und einer Authentifizierung in der Gruppe, oder als Möglichkeit der Ausbildung von Teilkompetenzen (nach dem Motto “Kunst kommt nicht ohne handwerkliches Können aus”). Afroamerikanische Rhythmik, erklärt er resümierend, könne damit erheblich zur musikalischen Bildung beitragen, gerade weil sie praktisch orientiert sei und die Schüler mit einbinde. Klingmanns Buch entstand aus seiner Dissertation (im Fach Musikpädagogik), und so ist das Buch eine entsprechend theoretische Lektüre mit viel Querverweisen und Literaturdiskussion. Dabei aber gelingt es ihm Argumente für den Einsatz rhythmischer Modelle in den Musikunterricht zu stützen und nebenbei auch einen sehr speziellen Blick auf die Bedürfnisse des Musikunterrichts im 21. Jahrhundert zu richten.

(Wolfram Knauer)


 

Der Wind, das Licht. ECM und das Bild
herausgegeben von Lars Müller
Baden/Schweiz 2010 (Lars Müller Publishers)
447 Seiten, 54,90 Euro
ISBN: 978-3-03778-197-5

2010ecmDas Label ECM besteht seit 40 Jahren und seit bald 35 Jahren ist es quasi ein Mythos: der Musik wegen, des Sounds wegen und auch der Covergestaltung seiner Alben wegen. Neben Blue Note ist es wohl das einzige Plattenlabel des Jazz, das Forscher zu unterschiedlichsten wissenschaftlichen Arbeiten anregte, mit denen sie versuchten, dem Geheimnis von ECM auf die Spur zu kommen. Lars Müllers neuestes Buch tut dies relativ direkt: Er präsentiert sämtliche Cover, die seit Beginn des Labels erschienen sind, setzt auf den Plattencovern verwendete Originalfotos in Verbindung zu den erschienenen Produkten und erlaubt damit einen Überblick über die Entwicklung des grafischen Konzepts und der Veränderungen über die Jahre. Immer wieder sind es Bilder, die zwischen Fotorealismus und Abstraktion schwanken, die Atmosphärisches heraufbeschwören und bei denen man quasi auf die Musik schließen möchte, auch wenn man die Aufnahmen selbst nicht kennt. “Der Wind, das Licht” — allein der Titel ist sicher Beschreibung genug für viele der Fotos, die weite Landschaft, Natur (und Natürlichkeit) vermitteln. Fünf Essays nähern sich den Bildern auch textlich; Thomas Steinfeld schreibt einen allgemeinen Einführungstext; Katharina Epprecht macht sich Gedanken über “transmediale Sinnbilder”, also über den Eindruck, den die ECM-Coverkunst selbst bei flüchtigem Anblick hervorrufen können; Geoff Andrew reflektiert über den Einfluss des Filmregisseurs Michel Godard auf die Bildästhetik hinter den von Manfred Eicher ausgewählten Bildern; Kjetil Bjornstad beschreibt seine ganz persönliche Reaktion auf die Covergestaltung; und der Herausgeber Lars Müller schließlich macht sich Gedanken über die in den Bildern dargestellten Motive und ihre Wirkung vor und nach der genaueren Betrachtung. Auch die Buchgestaltung orientiert sich am ECM-Design: edel-zurückhaltend, im grauen Einband durchscheinend das aufgewühlte Meer, klare silbern-schwarze Schrift, auf der Vorderumschlag der geprägte Abdruck eines CD-Covers, auf der Rückseite der geprägte Abdruck einer CD. Alles in allem: ein opulentes Werk über das grafische Konzept eines Plattenlabels — und ganz gewiss ein passendes Geschenk für Kunsthistoriker oder ECM-Fans.

(Wolfram Knauer, April 2010)


 

What a Wonderful World. Als Louis Armstrong durch den Osten tourte
von Stephan Schulz
Berlin 2010 (Neues Leben)
255 Seiten, 14,95 Euro
ISBN: 978-3-355-01772-5

2010schulzLouis Armstrong kam im März 1965 zu 17 Konzerten in der DDR, eine Sensation mitten im Kalten Krieg. Der Journalist Stephan Schulz recherchierte die Geschichte eigentlich für eine Rundfunkreportage, stieß dabei aber auf so viele interessante Dokumente und enthusiastische Zeitzeugen, dass aus seinen Recherchen ein opulentes Buch wurde, das, reich bebildert, jetzt im Verlag Neues Leben erschien. Schulz ordnet Armstrongs Tournee in die Lebenswirklichkeit in der DDR der 1960er Jahre ein, kontrastiert Begeisterung, Wünsche, Ängste, Hoffnungen, Befürchtungen, Argwohn und wieder Begeisterung — alles Emotionen, die zu spüren sind im Umgang der Behörden mit der ungewöhnlichen Tournee, im Enthusiasmus der Fans, den Überstar des Jazz persönlich erleben zu dürfen, in den augenzwinkernden Reaktionen Satchmos selbst auf die Lebenswirklichkeit im real existierenden Sozialismus. Schulz befragte viele Fans, die dabei waren bei den Konzerten in Berlin, Leipzig, Magdeburg, Erfurt und Schwerin. In Berlin gaben die All Stars sechs Konzerte, die innerhalb eines Tages ausverkauft waren – 18.000 Tickets an einem Tag! Schulz fragt, inwieweit Armstrongs Konzerte das Regime stützen sollten und inwieweit sie dazu beitrugen, den Jazz in DDR stärker hoffähig zu machen als zuvor, wo er oft noch als “Affenmusik des Imperialismus” abgetan wurde. Er recherchiert, wie es überhaupt zu der Tournee kam, spricht mit Roland Trisch, der einst in der Künstleragentur der DDR gearbeitet hatte, und mit dem Jazzexperten Karlheinz Drechsel, der Armstrong auf der Tournee begleitete und die Konzerte ansagte, geht ins Bundesarchiv, in dem die Akten der Künstleragentur lagern. Der Schweizer Zwischenagent habe als Honorar ein Observatorium der Firma Carl Zeiss Jena gefordert, hieß es, oder aber er habe alte Waffen aus dem Dreißigjährigen Krieg erhalten. Schulz spricht mit dem damaligen Kulturminister der DDR, und er tut jenen Schweizer Agenten auf, der ihm einen Rückruf zusichert, dann aber wenige Tage nach dem Telefonat verstirbt. Schulz beschreibt die Ankunft der All Stars auf dem Flughafen Berlin-Schöneberg, auf dem die Jazz-Optimisten den Trompeter musikalisch mit seiner Erkennungsmelodie begrüßten und er sofort mit einstimmt. Er schreibt über die Pressekonferenz, in der Armstrong klar macht, dass es ihm bei seiner Tournee vor allem um Musik geht, darum, sein Publikum zu erfreuen, und nicht um Politik. Schulz liest die internationalen Presseberichte über die Konzerte, beschreibt die Atmosphäre bei und nach den Konzerten, begleitet den Trompeter nach Leipzig, wo Armstrong eine Zahnkrone abhanden kam und er einen Zahnarzt aufsuchen musste. Schulz spricht mit der Ehefrau des damaligen Zahnarztes. Ein kurzes Kapitel befasst sich mit der Überwachung des Konzertpublikums durch die Stasi. Er berichtet davon, wie Satchmo bei seiner Reise seine Liebe für Eisbein entdeckt habe. Auf dem Weg von Berlin nach Magdeburg wurde der Bandbus von der sowjetischen Armee gestoppt, die Truppenübungen machte, mit denen sie auf die am nächsten Tag stattfindende Sitzung des Deutschen Bundestags in Westberlin reagierte, aus DDR-Sicht eine Provokation und ein Verstoß gegen den Status der Stadt. Bei derselben Fahrt war plötzlich der Kühler des Busses defekt, und die Musiker mussten in der Kleinstadt Genthin eine Zwangspause einlegen, wo er sofort von Menschen umringt war, die ihn um Autogramme baten. Ähnliche Geschichten gibt es auch von anderswo, und Schulzes Buch ist voll von ihnen, voll von Zeugnissen dafür, wie menschennah, wie wenig “Star” Armstrong zeitlebens war. Er erzählt die Geschichte hinter einer seltsamen Blumensamenwerbung, für die Armstrong Modell stand. Und im mecklenburgischen Barth setzte ein Reporter Armstrong den Floh ins Ohr, Bix Beiderbecke (dessen Vorfahren aus Westfalen kommen) würde angeblich von hier stammen, was Satchmo noch zuhause brav weiter ausspann. Zum Schluss entdeckt Schulz die Abrechnung der Künstleragentur und stellt fest, dass Armstrong mit 15.745,66 Mark im Jahr 1965 nach dem Bolschoi-Theater das meiste Geld in die Kassen der Künstleragentur gespielt hatte. Schulzes Buch ist voller seltener Fotos aus den Privatalben von Fans genauso wie aus dem Archiv von Pressefotografen, zeigt Ausrisse aus Zeitungen genauso wie Anzeigen oder Plakate oder auch Fotos, die vordergründig überhaupt nichts mit Armstrong zu tun haben, aber mit der Unterschrift versehen sind “In dieser Kneipe in Parchen soll Louis Armstrong um Kühlwasser für sein Wasser gebeten haben”. Ein unterhaltsames und zugleich informatives Buch, das einen sehr fokussierten Einblick in den Arbeitsalltags des Trompeters Louis Armstrong und zugleich Einblicke in das Leben in der DDR und die unterschiedlichen Möglichkeiten des Umgehens staatlicher Hindernissen vermittelt.

(Wolfram Knauer, März 2010)


 

Ornette Coleman. Klang der Freiheit. Interviews
von Christian Broecking
Berlin 2010 (Broecking Verlag)
123 Seiten, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-938763-13-1

2010broeckingChristian Broecking unterhält sich in seinem neuen Buch mit Ornette Coleman über dessen ganz persönliche Sicht auf Musik und Gesellschaft. Coleman ist weit weniger Zorniger Schwarzer Mann als andere Kollegen seiner Generation. Er kommt zwar aus Armut und wuchs in einer rassistischen gesellschaft auf, doch sieht er seine Musik kaum durch dieses Spannungsfeld beeinflusst, sieht im Gegenteil in seiner Musik vor allem etwas Anti-Segregationistisches. In zwei Interviews spricht er über seinen Sohn, über Armut, Glück und Liebe, über Improvisation und darüber, wie man mit Musik die Welt verändern kann. Broecking unterhält sich außerdem mit zwei Weggefährten Colemans: Don Cherry und Charlie Haden. Cherry erzählt ihm über den Unterschied der Generationen im Jazz, über seine erste Taschentrompete, über Steve Lacy, der sein erster Lehrer war, über seine Zeit in Schweden und darüber, warum er anders als etliche seiner Kollegen nicht verbittert sei. Er berichtet von Ansatzschwierigkeiten, seitdem er ein künstliches Gebiss hat, über die Rolle der großen Schwarzen Musiker als Propheten, nicht role models, und natürlich über den Schock, den Ornette Colemans Musik anfangs bei den Leuten auslöste. Charlie Haden erzählt in vier Interviews über sein Quartet West und seine politischen Ambitionen, über das Liberation Music Orchestra, konservativen und progressiven Sound im Jazz. Er berichtet über seine Aufnahmen mit John Coltrane, über seine Reaktion auf den Hurricane Katrina in New Orleans, über die Musikindustrie, Country Music und darüber, welche Rolle Ornette Colemans Musik in seinem Leben spielte. In einem abschließenden Kapitel sammelt Broecking schließlich Äußerungen unterschiedlichster Wegbegleiter Colemans über den Saxophonisten, Trompeter, Geiger und Komponisten. Zu Worte kommen Pat Metheny, Bruce Lundvall, Jason Moran, Greg Osby, Geri Allen, Joshua Redman, Dewey Redman, Michael Cuscuna, Walter Norris, Vijay Iyer, Terence Blanchard, Dave Holland, David Sanborn, Hank Jones, Curtis Fuller, Philip Glass, Manfred Eicher, Barre Philips, Evan Parker, David Murray, Butch Morris, Anthony Braxton, George Lewis und Henry Threagill. “Klang der Freiheit” ist ein kleines Büchlein über Ornette Coleman, durchsetzt mit Fotos, die Broecking bei Konzerten oder im New Yorker Loft des Saxophonisten aufgenommen hat, und gibt in der Sammlung der Geschichten und Biographien, die sich immer wieder kreuzten, einen wunderbaren Einblick in die musikalische Ästhetik Ornette Colemans und die Umgebung, in der diese sich entwickelte.

(Wolfram Knauer, Februar 2010)


 

The Music of Django Reinhardt
von Benjamin Givan
Ann Arbor 2010 (University of Michigan Press)
242 Seiten; 29,95 US-$
ISBN: 978-0-472-03408-6

2010givan2010 wird überall in der Jazzwelt der 100. Geburtstag Django Reinhardts gefeiert, und neben unzähligen Geburtstags-Homages als Konzert oder auf CD legt die University of Michigan Press eine musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gitarristen vor, die auf der Dissertation basiert, die Benjamin Givan bereits 2003 an der Yale University eingereicht hatte. Givans Buch ist keine Biographie — davon gibt es inzwischen genügend –, sondern eine Auseinandersetzung mit der Technik des Gitarristen, der sich bei einem Feuer in seinem Wohnwagen 1928 die linke Hand so schwer verletzte, dass er deren Mittel- und Ringfinger nicht weiter benutzen konnte. Gleich im ersten Kapitel spekuliert Givan, welche Verletzungen das Feuer wohl konkret angerichtet haben könnten und welche Auswirkungen die Verletzungen auf Reinhardts Gitarrenspiel hatte. Givan analysiert mögliche Grifftechniken einzelner Titel und findet heraus, dass Reinhardt seinen Mittelfinger offenbar durchaus noch gezielt einsetzen konnte und dass er sein Handicap durch andere Griffmethoden wettmachte, etwa den Einsatz des Daumens für Bassnoten. Im zweiten Kapitel beschäftigt sich Givan mit der Beobachtung, dass, wo in anderen Werken auch aus dem Jazzkontext der einheitliche dynamische Bogen besonders wertgeschätzt wird, bei Reinhardt ein Moment laufender Diskontinuität eine wichtige Rolle spielt. Er untersucht dafür verschiedene Aufnahmen auf das Phänomen abrupter Brüche, die durch harmonische, rhythmische, melodische oder formale Entscheidungen des Gitarristen ausgelöst werden. Givan lässt bei aller analytischen Diskussion allerdings ein wenig die Tatsache außer Acht, dass “discontinuity” nicht wirklich der Gegensatz zu “unity” ist, dass Beschreibungen wie “Geschlossenheit”, “dramaturgischer Bogen” etc. durchaus mit der Idee musikalischer Brüche als stilistisches Werkzeug kompatibel sind. Im dritten Kapitel wendet Givan das Beispiel der Thomas Owens’schen Analyse von Improvisationsformeln im Spiel Charlie Parkers auf die Musik Reinhardts an, sucht also nach melodischen Formeln, die sich an bestimmten Stellen, etwa bei speziellen Harmoniewechseln, immer wieder finden. Im vierten Kapitel analysiert er drei “klassische” Soli Reinhardts: “I’ll See You In My Dreams”, “Love’s Melody” und “Embraceable You” — wie sonstwo im Buch einschließlich ausführlicher Solotranskriptionen. Givans fünftes Kapitel betrachtet spätere stilistische Änderungen im Gitarrenspiel Djangos, also den Einfluss des Bebop oder den Wechsel zur elektrisch verstärkten Gitarre. Biographische Notizen sind in Givans Buch auf ein Minimum beschränkt, auch Anmerkungen auf Einflüsse etwa anderer Gitarristen oder eine Diskussion der Musik der Manouche. Er schreibt eine analytische musikwissenschaftliche Studie, die für den “einfachen” Fan eher schwere Lektüre sein dürfte. Givan vermag dabei aus der Musik selbst heraus den Blick auf bestimmte Aspekte der Technik des Gitarristen zu lenken und dabei mit Hilfe der musikalischen Analyse die Kunst Django Reinhardts ein wenig näher zu erklären.

(Wolfram Knauer 2010)

 

[:en]Louis Armstrong
von Wolfram Knauer
Stuttgart 2010 (Reclam Verlag / Universal Bibliothek)
216 Seiten, 5,80 Euro
ISBN: 978-3-15-018717-3

2010knauerHier mal keine Kritik sondern einfach ein Hinweis auf eine neue Reihe der legendären Reclam-Universal-Bibliothek, die sich einigen der großen Jazzmusiker widmet. Der erste Band dieser Reihe beschäftigt sich mit Leben und Werk Louis Armstrongs und versucht, seiner Biographie anhand seiner Musik näherzukommen. Der Autor ist “Yours Truly”, daher sei mit pseudo-kritischem Lob gespart und stattdessen einfach ein Statement desselben abgedruckt:

“Vor einigen Jahren veröffentlichte der Reclam-Verlag seine Reihe ‘Jazz-Klassiker’, herausgegeben von Peter Niklas Wilson, der die dafür verpflichteten Autoren bat, die Biographien der ihnen zugewiesenen Musiker entlang ihrer Musik zu beschreiben, allgemein verständlich und doch immer wieder mit den offenen Ohren des kritisch Zuhörenden. Ich durfte für die ‘Jazz-Klassiker’ einige Kapitel schreiben, vor allem über Musiker aus der frühen Zeitspanne der Jazzgeschichte. Vor zweieinhalb Jahren dann fragte der Reclam-Verlag an, ob ich nicht aus meinem Armstrong-Kapitel ein Buch für die neue Jazz-Biographien-Reihe des Verlags machen könnte. Die Anfrage kam etwa zeitgleich zu meiner Berufung auf die Louis Armstrong-Professur an der Columbia University in New York, eine Gastprofessorenstelle, die ich im Frühjahr 2008 innehatte und die aus dem Nachlass des Trompeters finanziert wurde. Wenn auch meine Professur außer dem Titel nichts mit Armstrong zu tun hatte (ich unterrichtete über ‘Jazz in Europe / European Jazz’), so sah ich in der Anfrage des Reclam-Verlags doch auch eine Chance, mich ganz persönlich zu bedanken für die große Ehre, und mich einmal mehr und noch intensiver in die Musik des Trompeters und Sängers einzuhören.

Das resultierende Buch soll damit nicht einfach nur ‘eine weitere Biographie’ Armstrongs sein, sondern sein Leben entlang seiner Musik nachzeichnen, denn wie in aller Kunst ist auch im Jazz das eine ohne das andere nicht vorstellbar: Die Lebensumstände bestimmen, wo es langgeht in der Musik, und die Musik erlaubt oft genug einen tiefen Einvlick in die Persönlichkeit des Musikers. In meiner Biographie Armstrongs versuche ich solche Bezugslinien aufzuzeigen, höre genau hin und versuche durch die erklingenden Töne hinter all das zu kommen, was man über den Trompeter weiß. Ich zeichne dabei das Bild eines bescheidenen Virtuosen, eines politik-bewussten Entertainers, eines volksnahen Stars, dem es selbst in den kitschigsten seiner Aufnahmen gelang, die Würde der musikalischen Eigenständigkeit zu bewahren. Ich erzähle sein Leben entlang der Geschichte des 20sten Jahrhunderts genauso wie entlang der Jazzgeschichte, beschreibe den Mythos, der ihn umgab, und vor allem seine improvisatorische Meisterschaft, die vor allem anderen stand und ihm und seiner Musik überall auf der Welt Freunde einbrachte.

Louis Armstrong ist so alt wie der Jazz. Geboren am 4. August irgendwann um 1900, war und blieb er bis heute das Markenzeichen der großen klassischen afroamerikanischen Musik, ein Mythos, den auch Uneingeweihte kennen und respektieren (‘What a Wonderful World’…). Ein Mensch, dessen Lebensgeschichte die Emanzipation der schwarzen Amerikaner verkörperte, dessen trompetenspiel die improvisierende Phantasie in die Musik zurückbrachte, dessen Ton und Swing im kulturellen Gedächtnis der Welt aufbewahrtliegt.”

(Wolfram Knauer, Februar 2010)


 

Unternehmerisches Kulturengagement am Beispiel der Musikförderung der Škoda Auto Deutschland GmbH
von Uwe Wagner
Leipzig 2013 (Leipziger Universitätsverlag)
138 Seiten, 28,00 Euro
ISBN: 978-3-86583-407-2

2010wagnerSponsoring wird zu einem immer wichtigeren Standbein kultureller Aktivitäten. Der Jazz hat es dabei scheinbar schwer, ist seine Hörerschaft doch weit individualistischer, weniger gruppenkonform zu klassifizieren als die anderer Genres. Er konkurriert zudem mit breiter verankerten Musikrichtungen und nicht zuletzt mit dem Sport um die Gunst der Sponsoren. Uwe Wagner will in seiner Studie die Grundlagen kulturellen Sponsorings genauso wie die Motivation für Unternehmen ergründen, sich im Kultursektor zu engagieren. In einem Fallbeispiel fragt dabei insbesondere nach der Attraktivität des Jazz für unternehmerische Kulturförderung.

In seinem begriffsklärenden Eingangskapitel unterscheidet Wagner zwischen Kultursponsoring, Mäzenatentum und Spendenwesen und stellt das Konzept der Corporate Cultural Responsibility vor. Er fragt nach Gründen, die Unternehmen haben könnten, sich in Kulturprojekte einzubringen, Gründe, die genauso markt- und markenbezogen sein können wie gesellschaftsbezogen oder auch ganz persönlich. Er nennt Beispiele für gelungene Sponsoringaktivitäten, bei denen sich eine Affinität zwischen Sponsor und unterstütztem Projekt findet.

Für die Musik gliedert er die Förderbereiche vor allem nach Kategorien der Professionalität, also Spitzenstars, “Leistungsebene” der Professionals sowie breite Basis der Laienmusik. Er nennt Beispiele musikalischen Sponsorings aus den Bereichen Klassik, Jazz und Pop und fragt bei all diesen Beispielen nach den möglichen Beweggründen. Er stellt verschiedene Modelle vor, die von der Förderung von Nachwuchskünstlern über Sachmittel bis hin zu eigener Veranstaltungstätigkeit reichen. Wichtig für eine beide Seite zufrieden stellende Kooperation sei die Einigkeit über die angezielte und die tatsächliche Zielgruppe. In einem Unterkapitel beschreibt Wagner dabei auch die Risiken unternehmerischer Förderung, die sowohl im Glaubwürdigkeitsverlust stecken, wenn nämlich Förderer und gefördertes Projekt nicht zusammenpassen, als auch in der ungewollten Substitution öffentlicher Mittel.

Den praktischen Teil seiner Arbeit widmet Wagner dann der Kulturförderung der Škoda Auto Deutschland GmbH. Er beschreibt die Förderkriterien des Konzerns, die bisherigen Förderbereiche und die unternehmerischen Erwartungen an eine Förderung im Kultursektor. Er beschreibt Škodas Aktivitäten im Jazzbereich und den Versuch einer internen Verankerung des kulturellen Engagements, also einer Identifikation auch der Mitarbeiter mit den geförderten Jazzprojekten. Einen Fokus legt er auf den Škoda-Jazzpreis als ein Best-Practice-Beispiel.

Recht nüchtern liest sich der Abgleich möglicher unternehmenspolitischer Ziele, wie er sie anfangs in seinem Buch diskutierte, mit der konkreten Jazzförderung durch Škoda. Insgesamt, stellt Wagner fest, nähme das Kultursponsoring in den letzten Jahren im Vergleich zur Förderung anderer Bereiche eher ab. Grundlage jeder kulturellen Partnerschaft in diesem Bereich, resümiert er, sei ein hohes Maß an Engagement von beiden Partnern.

Wagners Buch ist kein Leitfaden für Kultursponsoring, aber in seiner allgemeinen Analyse und anhand des von ihm gewählten Fallbeispiels ein wichtiges Buch, anhand dessen sich die Chancen genauso wie die Probleme einer Kulturpartnerschaft ablesen lassen. Die wissenschaftliche Herangehensweise erlaubt eine nüchterne Analyse der gegenseitigen Erwartungen und damit vielleicht tatsächlich eine Partnerschaft, die mehr ist als “Geldgeber hier, Künstler dort”.

Wolfram Knauer (Oktober 2013)


 

Stan Kenton. This Is an Orchestra!
von Michael Sparke
Denton/TX 2010 (University of North Texas Press)
345 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-57441-284-0

2010sparkeStan Kenton war sicher einer der umstritteneren Pianisten und Bandleadern der Jazzgeschichte. Sein Orchester gehörte zu den erfolgreichsten Bands der 1940er und 1950er Jahre; Kenton selbst ermutigte Arrangeure, avancierte Kompositionen zu realisieren, und half dadurch dabei mit, dem Jazz den Weg vom Ball- in den Konzertsaal zu ebnen. Nicht zuletzt beschäftigte er einige der einflussreichsten jungen Musiker, die aus der Arbeit in seiner Band heraus ihren Weg gingen.

Michael Sparke erzählt in diesem Buch die Geschichte Kentons von seiner Geburt wahrscheinlich im Februar 1912 (die Geburt wurde von der Familie vordatiert, um sie ehelich zu machen) bis zu seinem Tod im Jahre 1979. Der private Kenton bleibt dabei eher außen vor; denn Sparke geht es um den Bandleader. Sparke lässt die musikalische Karriere Kentons chronologisch Revue passieren. Sein erstes Kapitel beginnt gleich mit dem Engagement der Band im Renaissance Ballroom im kalifornischen Balboa im Jahr 1941. Weiter geht’s von Hollywood nach New York und durch die Jahre als Swing- und Tanzorchester. Wir lesen über die Arrangements von Pete Rugolo, über das Artistry of Rhythm-Orchestra, über die Vermarktung des “progressive jazz” und über Kentons riesige Erfolge im Europa der 1950er Jahre. Wir erfahren von Experimenten mit klassischem Repertoire oder lateinamerikanischer Musik, vom Neophonic Orchestra, dem eigene Plattenlabel, und Kentons Rock-Experimenten in den 1970ern. Sparke beleuchtet die verschiedenen Phasen seiner Entwicklung durch Erinnerungen der beteiligten Musiker und hinterfragt die veröffentlichten Alben in Hinblick auf kommerziellen Erfolg und musikalischen Gehalt.

Das liest sich fließend, gerade weil Sparke etliche Anekdoten einfließen lässt, doch auch etwas langatmig, weil das Buch sich zu stark von Album zu Album, von Tournee zu Tournee hangelt. Eine kritische Einordnung Kentons Musik in die Jazzgeschichte fehlt gänzlich, und so ist dies Buch vor allem ein Werk für Kenton-Liebhaber und -Sammler, die gewiss die eine oder andere anderswo nicht erwähnte Geschichte finden und sich freuen werden, Kentons Biographie so konzis und umfassend dargestellt zu sehen.

Wolfram Knauer (Juli 2013)


 

Jazz Icons. Heroes, Myths and the Jazz Tradition
von Tony Whyton
Cambridge 2010 (Cambridge University Press)
219 Seiten, 95 US-Dollar
ISBN: 978-0-52189-645-0

2010whytonIn der Jazzforschung spricht man seit einiger Zeit von “New Jazz Studies”, von analytischen, ästhetischen und soziologischen Herangehensweisen an den Jazz, die sowohl die Musik als auch ihren sozialen und gesellschaftlichen Kontext, die wirtschaftliche und politische Situation, die kritische Rezeption und alle möglichen anderen Facetten in Betracht zieht, statt sich auf singuläre Narrative zu beschränken.

In seinem Buch “Jazz Icons” führt der britische Musikwissenschaftler Tony Whyton einige Beispiele solcher Ansätze vor, in Kapiteln, die vordergründig von den Großen des Jazz handeln, tatsächlich aber die konkreten Fragestellungen multidimensional angehen.

Er fragt nach der Wahrheit hinter der Genieästhetik, die im Jazz fast noch mehr zu gelten scheint als in der klassischen Musik des 19. Jahrhunderts. Er schaut auf die Musik John Coltranes und überlegt, welchen Einfluss diese auf Musiker bis in die Gegenwart hatte – nicht nur direkt, sondern auch indirekt, auf dem Umweg über seine ikonische Stellung in der Jazzgeschichte etwa oder über Jamey Aebersolds Play-A-Long-Platten.

Er hört sich Kenny Gs Version von Louis Armstrongs “What a Wonderful World” an, fragt nach Verehrung oder Sakrileg, aber auch nach Eigentum, Authentizität und dem gespaltenen Verhältnis des Jazz zur populären Musik. Er untersucht Impulse-Veröffentlichungen im Hinblick auf die Vermarktungsstrategien des Labels und ihren Einfluss auf den gegenwärtigen Jazz-Mainstream.

Er diskutiert, welche Bedeutung Musikeranekdoten für die Wahrnehmung, aber durchaus auch für die kritische Einordnung von Jazzgeschichte haben. Er blickt auf Duke Ellington als Beispiel einer besonders mythen-umrangten Ikone des Jazz und vergleicht unterschiedliche Sichtweisen auf den Meister, etwa durch die Brillen von Ken Burns, James Lincoln Collier oder David Hajdu.

Und schließlich betrachtet er die Folgen der Verschulung des Jazz, die nicht zuletzt einen besonderen Einfluss auf die Kanonisierung von Musikern und Aufnahmen hatte und diskutiert dabei Möglichkeiten, aus der Sackgasse festgefahrener Jazzpädagogik herauszugelangen.

“Jazz Icons” zeigt, wie sich Jazzgeschichte von Generation zu Generation mit den jeweils aktuellen analytischen Instrumenten neu aneignen, interpretieren und lesen lässt. Tony Whyton versucht, woran sich Jazzautoren allgemein ein Beispiel nehmen sollten: die sachlich-differenzierte Diskussion von Musik, ihren Ursachen und ihrer Wahrnehmung.

Wolfram Knauer (Juli 2013)


 

The Record. Contemporary Art and Vinyl
herausgegeben von Trevor Schoonmaker
Durham/NC 2010 (Nasher Museum of Art at Duke University)
216 Seiten, 29,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-938989-33-2

2010schoonmakerDas Nasher Museum of Art zeigte 2011 eine Ausstellung über die Kulturgeschichte der Vinylschallplatte, bei der nicht nur Plattendesign im Vordergrund stand, sondern die gesamte Beziehung zwischen Bildender Kunst und Tonträgern. Der aus Anlass der Ausstellung veröffentlichte Katalog zeigt Künstler vor allem auf den letzten 50 Seiten die ausgestellten Werke und nennt ihre Künstler, nähert sich dem Thema selbst im Hauptteil außerdem in lesenswerten Aufsätzen und reich bebildert an.

Da geht es in einem einleitenden Kapitel um das augenfälligste, nämlich die Covergestaltung. Eine Timeline verfolgt die Geschichte der Schallplatte von 1857 bis in die Gegenwart. Pitr Orlov fragt, wie Schallplatten die Musik selbst veränderten; Mark Katz setzt sich mit der Leidenschaft von Plattensammlern auseinander; und Charles McGovern schaut auf den Plattenladen als “Home of the Blues, House of Sounds”. Carlo McCormick stellt fest, dass kaum ein Künstler in Stille arbeite und reflektiert über die Beziehungen zwischen Bildenden Künstlern und Musikkonserven. Mark Anthony Neal berichtet über die völlig neue und andere Sammelleidenschaft von Hip-Hop–DJs. Josh Kun betrachtet die Bedeutung der Schallplatte für die Kulturgeschichte Mexikos; Vivien Goldman tut dasselbe mit Bezug auf Jamaica. Jeff Chang beleuchtet die durch DJing und Soundmix veränderte Ästhetik seit den 1980er Jahren und Barbara London Do-It-Yourself-Produktionen in Musik und Bildender Kunst seit Fluxus.

In all diesen und weiteren Kapiteln des Buchs wird man von immer neuer Seite auf die kulturelle Selbstverständlichkeit der Schallplatte gestoßen, die man im Zeitalter von mp3 fast vergessen hat, die aber ein halbes Jahrhundert in seinem Kunstverständnis und -streben enorm prägte. Die im Buch abgedruckten Bilder, Fotos und Kunstwerke tun ein übriges, der Vinylplatte zum einen hinterherzutrauern, einen zum anderen aber auch dazu zu animieren sich umzusehen, welche Medien denn heute diese Funktion übernommen haben.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

Ain’t Nothing Like the Real Thing. How the Apollo Theater Shaped American Entertainment
herausgegeben von Richard Carlin & Kinshasha Holman Conwill
Washington/DC 2010 (Smithsonian Books)
264 Seiten, 35 US-Dollar
ISBN: 978-1-58834-269-0

2010carlinDas Apollo-Theater in Harlem ist immer noch lebendige Musikgeschichte. Es prägte die populäre Musik des 20sten Jahrhunderts wie wenige andere Spielstätten. Swinggrößen spielten hier genauso wie die Bebopper, der Rhythm ‘n’ Blues feierte Erfolge genauso wie etliche Rockstars, Soul und Funk erklangen auf der Bühne, Disco, Rap, HipHop und vieles mehr. Und natürlich begannen etliche spätere Stars bei den Amateur Hours, die jeden Mittwoch stattfanden, ihre Karriere.

2010 stellte die Smithsonian Institution eine Wanderausstellung zusammen, in der Kostüme, Fotos, Erinnerungsstücke und vieles mehr zu sehen war, Dokumente einer 80jährigen Theatergeschichte. Die Ausstellung wurde begleitet vom vorliegenden Buch, dem es gelingt, die Bedeutung des Hauses noch weit eingehender zu beleuchten.

Da gibt es historische Einordnungen, etwa von David Levering Lewis über das frühe Harlem oder von Amiri Baraka über die Bedeutung des Stadtteils für die Black Consciousness der 1960er Jahre; da gibt es musik- und bühnenbezogene Kapitel, etwa von John Edward Hasse über die Hochzeit der Bigbands, von Willard Jenkins über Bebop und modernen Jazz, von Chris Washburne über die Latin-Szene, die hier eine Spielmöglichkeit fand, von Kandia Crazy Horse über Soul und Funk oder von David Hinckley über Rap und HipHop. Es gibt Erinnerungen an die Programmverantwortlichen, insbesondere Frank und Bobby Schiffman, Artikel über kultur- und gesellschaftsgeschichtliche Entwicklungen, die im Apollo ihren Widerhall fanden, seien es diverse Tanzarten, sei es die Bürgerrechtsbewegung. Es findet sich ein Kapitel über Afro-Amerikaner im II. Weltkrieg und eines über die Chorus-Girls auf der Bühne. Greg Tate beleuchtet James Browns Auftritte in Harlem, Karen Chilton erinnert an Bessie Smith, Willard Jenkins an Ella Fitzgerald, Herb Boyd an Aretha Franklin und Chris Washburne an Celia Cruz.

Das alles ist hinterlegt mit vielen, zum Teil seltenen Fotos, die das Apollo als Teil einer Stadtteilkultur genauso wie als Teil einer global ausstrahlenden Kulturszene zeigen. Besonders eindrucksvoll – in der Ausstellung genau wie im Buch –: die Karteikarten, auf denen Frank Schiffman seine recht offenen Einschätzungen über die engagierten Künstler notierte sowie die Gagen, die er ihnen zahlte oder zu zahlen bereit war.

“Ain’t Nothing Like the Real Thing” dokumentiert anschaulich ein wichtiges Kapitel afro-amerikanischer Kulturgeschichte. Bunt und swingend, funky und auf jeder Seite mitreißend, ein fokussierter und doch recht breiter Einblick in die schwarze Musik des 20sten Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

Jazz Matters. Sound, Place, and Time Since Bebop
von David Ake
Berkeley 2010 (University of California Press)
200 Seiten, 16,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-520-26689-6

2010akeJazzgeschichte genauso wie die meiste Kulturgeschichte ist in der Regel eine Geschichte der Meister. Misserfolge oder Mittelmäßigkeit schafften es selten in die Jazzgeschichtsbücher, obwohl sie und mit ihnen eben auch der Alltag recht viel über die Eingebundenheit des Jazz in die Gesellschaft aussagen. David Ake widmet sich in seinem Buch in Schlaglichtern Aspekten des Jazz, die von allgemeiner Jazzgeschichtsschreibung höchstens am Rande erwähnt werden, hält also die Lupe an konkrete Phänomene, die er dann von verschiedenen Seiten beleuchtet.

Im ersten Kapitel, überschrieben “Being (and Becoming) John Coltrane” etwa fragt er, was eigentlich Coltrane zu Coltrane macht, verfolgt die Aufnahmen des Saxophonisten über die Jahre und versucht zu beschreiben, was darin die subjektive Persönlichkeit Coltranes widerspiegelt.

Im zweiten Kapitel hört er sich Miles Davis’ “Old Folks” von 1961 genauer an und stolpert über ein Knarren bei 1:15, der Dielenboden des Studios, der Stuhl eines der Musikers? Warum dieses Knarren in der Studioaufnahme belassen wurde, ist kaum erkenntlich, hätte man doch auch 1961 keine Probleme gehabt, ein solches Geräusch herauszufiltern. Ake fragt den Wirkungen des Knarrens, das man, wenn überhaupt, wirklich nur im Hintergrund wahrnimmt, reflektiert über Live-Stimmung, Spontaneität, Authentizität. Bei einer früheren Aufnahmesitzung im selben Studio, klärt er später auf, machte Miles den Toningenieur auf die knarrenden Dielenbretter aufmerksam, worauf John Coltrane nur erwiderte: Mann, das ist halt ein Nebengeräusch. Das ist alles Teil des Stücks.”

Kapitel 3 betrachtet die Band Sex Mob des Trompeters Steven Bernstein und ihren Umgang mit Humor – oder, wie Ake dies nennt, dem Element des “Karnevalesken”. Kapitel 4 fragt nach Romantizismen, dem Image von Country im Jazz und konzentriert sich dabei auf ECM-Aufnahmen Keith Jarretts und Pat Methenys. In Kapitel 5 reflektiert Ake über die Veränderungen in der Jazzpädagogik und die Auswirkungen solcher Änderungen auf die Musik und den Markt. Im letzten Kapitel schließlich betrachtet er amerikanische Jazzmusiker in Paris und ihre Probleme damit, dort ihre nationale Identität beizubehalten. Mit ähnlichem Ansatz könnte man wahrscheinlich auch die Berliner Szene unserer Tage untersuchen.

Alles in allem, ein Buch ungewöhnlicher Ansätze, das – und ein größeres Lob ist kaum denkbar – Lust darauf macht, dem Jazz mit neuem Blick zu begegnen, auch deshalb, weil die ungewöhnliche Sicht unerwartete Facetten zum Vorschein bringt, solche der Musik genauso wie der eigenen Hörgewohnheit.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

A Breath of Freedom. The Civil Rights Struggle, African American GIs, and Germany
von Maria Höhn & Martin Klimke
New York 2010 (Palgrave Macmillan)
254 Seiten, 2u US-Dollar
ISBN: 978-0-230-10474-0

2010hoehn“A Breath of Freedom” handelt nicht einmal am Rande vom Jazz. “A Breath of Freedom” handelt, wie der Untertitel erklärt, vom “Bürgerrechtskampf, afro-amerikanischen GIs und Deutschland”, von der verqueren Situation also, das afro-amerikanische Soldaten im II. Weltkrieg (tatsächlich ja schon im I. Weltkrieg) für Freiheit und Demokratie kämpften, in ihrem eigenen Land aber nach wie vor die Rassentrennung herrschte.

Maria Höhn und Martin Klimke untersuchen dabei die Zusammenhänge zwischen der langjährigen militärischen Präsenz der US-Streitkräfte in Deutschland und der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten. Sie beschreiben die Vorurteile und das Bewusstwerden auf beiden Seiten, dass Bürgerrechte etwas Universelles seien und damit selbstverständlich auch schwarzen Amerikanern zustünden. Sie nennen politische und militärische Entscheidungen der 1940er bis 1970er Jahre und erklären die Realität der alltäglichen Lebenserfahrung innerhalb wie außerhalb der Kasernen in Deutschland. Sie fragen nach den gegenseitigen Einflüssen von Studentenbewegung in Europa und der Freiheitsbewegung in den USA, aber auch nach einer Art Verbrüderung antikapitalistischer Strömungen in Amerika mit dem System in der DDR.

Ihre faktenreiche Sammlung erklärt dabei viel über den Alltag afro-amerikanischer Soldaten in Deutschland. Über die Faszination des Jazz, jener für viele Amerikaner wie Nichtamerikaner wichtigsten afro-amerikanischen kulturellen Äußerung des 20sten Jahrhunderts, erzählen sie dabei nur wenig, was schade ist. Auf der anderen Seite verweisen sie im Vorwort darauf, dass dieses Buch nur die ersten Ergebnisse eines größeren Forschungsprojekts präsentiert.

Wer immer sich mit dem Einfluss der Präsenz afro-amerikanischer Soldaten und Musiker auf den deutschen Jazz befasst, wird in diesem Buch auf jeden Fall eine Menge Hintergrundinformation finden.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

At the Jazz Band Ball. Sixty Years on the Jazz Scene
von Nat Hentoff
Berkeley 2010 (University of California Press)
246 Seiten, 40 US-Dollar (Hardcover), 21,95 US-Dollar (Paperback)
ISBN: 978-0-520-26113-6 (Hardcover), 978-0-520-26981-1 (Paperback)

2010hentoffEs gibt Bücher, die liest man, weil man etwas lernen will, es gibt andere, die liest man, weil die Lektüre Spaß macht. Nat Hentoff gehört zu den seltenen Autoren, denen immer beides gelang: viel und wertvolle Information in einem Stil zu verpacken, der flüssig und lustvoll zu lesen ist.

Sein neuestes Buch ist eine Sammlung bereits veröffentlichter – seinerzeit in der Jazz Times oder im Wall Street Journal erschienener – wie bislang noch nicht veröffentlichter Aufsätze zu allen möglichen Themen, die ihm am Herzen liegen: spezifische Musiker und ihr ästhetischer Gestaltungwille, die soziale Schieflage, in der Musiker, die alt sind oder in Not, keine Sicherheit haben, das Engagement einer Jazzszene, die sich glücklicherweise immer noch als Familie versteht, die Gleichberechtigung der Frau auch im Jazz, das Ende rassistisch bedingter Ausgrenzung und und und.

All diese Kapitel sind äußerst persönlich, mehr noch: Hentoff kennt nicht nur viele Menschen, er ist genuin an ihnen interessiert. Seine Gespräche mit Clark Terry oder Phil Woods, seine Erinnerungen an Duke Ellington oder Louis Armstrong, seine Meinung zur politischen Dimension dieser Musik, in Zeiten der Bürgerrechtsbewegung genauso wie heutzutage, seine Begeisterung nicht nur für die Heroen der Vergangenheit, sondern auch für junge Musiker, all das überträgt sich auf den Leser, der gern weiterblättert von einem zum nächsten Kapitel springt und dabei immer wieder mit neuen Facetten angestachelt wird nachdenklich zu bleiben.

64 solche Kapitel enthält das Buch und noch weit mehr Denkanstöße, sprachlich wunderbar umgesetzt, nirgends schulmeisterlich, überall voll von Erinnerung und Erzählwille. Höchst empfehlenswert!

Wolfram Knauer (März 2013)


 

Il libro della voce. Gli stile, le tecniche, I protagonisti della vovalità contemporanea internazionale
herausgegeben von Claudio Chianura & Leilha Tartari
Milano 2010 (Auditorium)
218 Seiten, 1 beigelegte CD, 38 Euro
ISBN: 978-88-86784-55-9

2010chianuraDie Stimme als Instrument – nicht erst im 20sten Jahrhundert wurde die scheinbar menschlichste musikalische Äußerung instrumental eingesetzt, aber insbesondere im 20sten Jahrhundert entwickelten Künstler und Komponisten die verschiedenen Techniken weiter, mit denen Verfremdung und Annäherung an den ureigenen Klang des Menschen und die ureigentliche Funktion der Stimme – die nämlich der Kommunikation – beeinflusst werden konnten.

Das von Claudio Chianura und Leiha Tartari herausgegebene Buch nähert sich den Möglichkeiten stimmlicher Improvisation und stimmlichen Ausdrucks von verschiedenen Seiten: in einem ersten Teil theoretisch, nämlich in der Betrachtung unterschiedlicher vokaler Techniken und der dadurch verursachten allgemeinen Veränderung in der Wahrnehmung von Stimme; in einem zweiten Teil sehr individuell, nämlich in Interviews mit herausragenden Sängerinnen und Sängern, sowie in einem dritten Teil analytisch in der Betrachtung von speziellen Ansätzen einzelner Künstlerinnen und Künstler. Das alles ist insbesondere in der stilistischen Breite interessant, in der die Autoren das Thema angehen und dabei Greetje Bijma und Sidsel Endresen neben Benat Achiary oder Diamanda Galas stellen, Meredith Monk und David Moss neben Pamela Z und Demetrio Stratos.

Wem all diese Namen wenig sagen, der wird dankbar zur beiheftenden CD greifen, die 13 Beispiele bringt, von Kurt Schwitters’ “Sonate in Urlauten” und Tiziana Scanalettis “Stripsody” bis zu Beispielen der bereits genannten oder von Sainkho Namchylak, von Cristina Zavalloni oder Lorenzo Pierobon. Ein Lust machender Ausflug in die Welt der zeitgenössischen Vokalmusik.

Wolfram Knauer (März 2013)


 

Sardinia Jazz. Il jazz in Sardegna negli anni Zero. Musica, musicisti, eventi, discografia di base
von Claudio Loi
Cagliari 2010 (aipsa edizioni / percezioni musiche)
472 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-88 95692-26-5

2010loi

Claudio Loi schreibt das “Who’s Who” des Jazz in Sardinien. Paolo Fresu, Antonello Salis, Paolo Angeli sind die Hauptfiguren; daneben aber kommen jede Menge Musiker und Band vor, von denen man hierzulande wahrscheinlich noch nie etwas gehört hat. Einleitungskapitel beschreiben die Jazzszene der zweitgrößten Insel Italiens, informieren aber auch regelmäßige Jazzevents und weiterführende Literatur. Sicher vor allem ein Buch für Eingeweihte, oder für regelmäßige Sardinien-Besucher.

Wolfram Knauer (Oktober 2012)


 

Vienna Blues. Die Fatty-George-Biographie
von Klaus Schulz
Wien 2010 (Album Verlag)
114 Seiten, 35 Euro
ISBN: 978-3-86184-182-0

2010schulz2Der Klarinettist Fatty George spielte gern den Blues, und wenn er den Titel dann bei der österreichischen Urheberrechtsgesellschaft anmeldete, nannte er ihn “Vienna Blues” und trug den eigenen Namen als Urheber ein.

Clever, meint Klaus Schulz in seiner Biographie, die Leben und Werk des Klarinettisten in vier Teilen verfolgt.

Ein erster Teil gibt Franz Georg Presslers (so der volle Name) Lebensgeschichte in klassischem Gewand wieder: Kindheit, Ausbildung, erste Erfolge auf der österreichischen, dann der europäischen Jazzszene, diverse Bands und Aufnahmen über die Jahre, Gründung eines eigenen Spielorts.

Der zweite Teil geht das alles chronologisch genau und mit Interviewpassagen Georges sowie Zeitzeugenbeiträgen an. Hier bringt Schulz alle Daten und Details zusammen, Engagements, Reisen, Festivals, Platten- und Fernsehaufnahmen, Presseberichte, Korrespondenz, Fotos und Plakatabbildungen, persönliche Ereignisse und vieles mehr.

Teil drei enthält Biographien der Musiker, mit denen Fatty George über die Jahre zusammenarbeitete, Teil vier schließlich eine kurze Diskographie.

Akribisch zusammengetragen bietet sich dabei ein umfassendes Bild eines Ausnahmemusikers, der allzu oft als Dixielandklarinettist abgestempelt wird, obwohl er sich auch im Swing und modernen Jazz behaupten konnte, wie die beigeheftete CD mit seltenen und großteils unveröffentlichten Aufnahmen belegt, auf denen Fatty George neben seinen eigenen Besetzungen, der Ende der 1950er Jahre auch der junge Joe Zawinul angehörte, etwa auch mit dem Friedrich Gulda Workshop Ensemble zu hören ist, mit den ORF All-Stars, mit Lionel Hampton oder Sammy Price sowie mit seiner eigenen Besetzung, die eine Cool-Jazz-Version über “Alexander’s Ragtime Band” spielt.

Auch posthum noch einmal: Hut ab vor einem großen europäischen Jazzmusiker!

Wolfram Knauer (August 2012)


 

Fortællinger om jazzen. Dens vej gennem Statsradiofonien, Danmarks Radio og DR
von Tore Mortensen
Aalborn 2010 (Aalborg Universitetsforlag)
2010 Seiten, 295 Dänische Kronen
ISBN: 978-87-7307-983-6

2010mortensenUnsere Nachbarn im Norden machen uns vor, was in hierzulande bislang noch nicht geleistet wurde, aber dringend notwendig wäre: eine Dokumentation der Jazzgeschichte im nationalen Rundfunk. Nun ist die deutsche Rundfunkgeschichte vielleicht etwas wechselvoller, in der Gegenwart auch vielgestaltiger als die in Dänemark, in dem es mit Danmarks Radio im Prinzip “nur” einen Staatsrundfunk gab, während im Nachkriegsdeutschland jede einzelne ARD-Anstalt ihre eigene Jazzredaktion aufbaute. Dennoch schauen wir ein wenig neidisch auf dieses Buch, dem es gelingt, den großen dänischen Bogen zu schlagen von 1925 bis ins Jahr 2009.

Tore Mortensen, seiens Zeichens Leiter des Center for Dansk Jazzhistorie in Aalborg, beginnt am 1. April 1925, als der staatliche Rundfunk in Dänemark sein erstes Radiosignal ausstrahlte. Als “Staatsradifonien” bezeichnete sich der Sender bis 1959, dann wurde er erst in “Danmarks Radio”, schließlich 1996 in “DR” umgetauft. Mortensens Buch dokumentiert die Jazzaktivitäten etwa des Radio-Tanzorchesters unter Leitung des Geigers Louis Preil, die Sendeverbote “negroider Tanz- und Unterhaltungsmusik” unter der deutschen Besatzung sowie die rasche und recht intensive Zurückeroberung der Ätherwellen durch den Jazz in der Nachkriegszeit. Mortensen listet die konkreten Sendungen, die zwischen September 1947 und Januar 1953 ausgestrahlt wurden, und die ihrerseits das Interesse am Swing, an modernen Stilarten oder an Aktivitäten sonstwo in Europa widerspiegeln. Er dokumentiert die Konzertaktivitäten des Senders in den 1950er Jahren, untermauert von Zeitzeugen wie dem Bassisten Erik Moseholm oder dem Moderator Børge Roger. Die 60er Jahre seien die goldenen Jahre des Jazz im dänischen Rundfunk gewesen, titelt Mortensen, skizziert nebenbei die Arbeit des dänischen Jazzhistorikers Erik Wiedemann und spricht mit Torben Ulrich, Peter Rasmussen und anderen, die dabei gewesen waren. Seit 1963 schnitt Danmarks Radio regelmäßig im Kopenhagener Jazzclub Montmartre mit, seit 1966 gab es regelmäßige Sonderproduktionen unter dem Titel “Radiojazzgrupppe”, später mit der Radioens Big Band.

In diesen Jahren ist Jazz in Dänemark auch im Fernsehen zu erleben. Etliche amerikanische Musiker hatten sich in den 1960er Jahren in Kopenhagen niedergelassen, unter ihnen etwa Dexter Gordon oder Duke Jordan. Jazz spielte auch nach 1975 eine wichtige Rolle im dänischen Rundfunk, dem Mercer Ellington 1984 seine private Tonbandsammlung vermachte. Thad Jones übernahm 1977 die Leitung der Radioens Big Band. Ein Unterkapitel des Buchs behandelt das Verhältnis des Senders zum Kopenhagener Jazzfestival, ein weiteres den Wandel in seinen Aufgaben im neuen Jahrtausend von denen einer Kulturinstitution zu jenen eines Multimedienanbieters. Als Anhang gibt es schließlich eine tabellarische Übersicht über die verschiedenen Aktivitäten des Senders, über wichtige Sendeformate, Produktionen und Mitarbeiter.

Eine Bibliographie sowie ein ausführlicher Index beschießen das Buch, das, es sei noch einmal gesagt, einen ein wenig neidisch in den Norden blicken lässt. Vielleicht findet sich ja hierzulande irgendwann mal jemand, der mit Berendts SWR anfängt; vielleicht gibt es einmal eine ausführliche Dokumentation der Aktivitäten des NDR oder der Berliner Produktionen. Bernd Hoffmann, Jazzredakteur des WDR, hat ein ausgeprägtes historisches Bewusstsein und sammelt sicher bereits Material, um ähnliches für den Kölner Sender zu bewerkstelligen – alles Anstalten, die nicht nur rege redaktionelle Tätigkeiten aufweisen, sondern genau wie DR Eigenproduktionen machten, eine regionale, nationale wie internationale Szene dokumentierten und zumeist eigene (Groß-)Ensembles besitzen, die mit zu den besten weltweit gehören.

Wer übrigens des Dänischen nicht ganz so mächtig ist, der wird dennoch seine Freude an den wunderbaren Fotos von Jan Persson haben, die oft genug während Produktionen von Danmarks Radio aufgenommen wurden. Sein Bildarchiv gehört heute dem Jazz for Dansk Jazzhistorie, das zugleich Initiator und Herausgeber des vorliegenden Buchs ist.

Wolfram Knauer (August 2012)


 

Singing Out. An Oral History of America’s Folk Music Revivals
von David King Dunaway & Molly Beer
New York 2012 (Oxford University Press)
255 Seiten, 27,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-989656-1

2010dunawayDas Folk Music Revival wird allgemein in die 1960er Jahre datiert; es beeinflusste die populäre Musik auf unterschiedlichste Art und Weise. Bob Dylan und Janis Joplin haben dieser Bewegung genauso viel zu verdanken wie auf der anderen Seite des Atlantiks die Beatles oder die Rolling Stones, wobei bei letzteren eher der Bluesteil der Folkszene von Bedeutung war. Die Anfänge des Folk-Revivals aber finden sich bereits in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren, wie das vorliegende Buch dokumentiert. David King Dunaway und Molly Beer haben dafür Zeitzeugen befragt und ihre Berichte nach Themen sortiert.

Dabei geht es etwa um die Definition von Folk Music ganz allgemein (für das “Volksmusik” ein schlechte Übersetzung ist) und um Grenzziehungen – sind also Folk Music nur englische Seemannslieder, oder gehören auch Calypso, Bluegrass, Flamenco, Cajun, Zydeco, Rap dazu? Wie unterscheidet sich die Definition von Folkmusik innerhalb und außerhalb des beschriebenen Revivals? Und wie verhält sich Folk Music zum politischen Song?

Das zweite Kapitel betrachtet frühe Sammler authentischer amerikanischer Volksmusik, fragt dabei auch danach, wem diese Musik gehört. Alan Lomax und Leadbelly erhalten ein eigenes Teilkapitel. Die Einbindung des Folk Music Revival in politische Agenden spielt eine Rolle im dritten Kapitel, das überschrieben ist mit “Music for the Masses” und in dem es auch um die Linke im Amerika der 1930er und 1940er Jahre geht.

In den 1940er Jahren fand das Revival vor allem in Greenwich Village, New York statt, dem das vierte Kapitel gewidmet ist. Zugleich, berichten die Zeitzeugen, hatte New York und seine Weltläufigkeit aber auch Einfluss auf ihre eigene musikalische Ästhetik. Ende der 1940er Jahre fielen viele der linken Folk-Revivalisten ins Raster der “Rotenjagd” McCarthys, und das Kapitel über die Verhöre, Verdächtigungen und Arbeitssperren ist vielleicht eines der bedrückendsten des Buchs. Mitte der 1950er Jahre dann folgte ein breites Folk-Revival, ein Boom, der sowohl die romantische wie auch die politischen Varianten der Folk Music einschloss und im Newport Folk Festival sowie den Karrieren von Bob Dylan und Janis Joplin mündete. Folk Music wurde Teil der Bürgerrechtsbewegung, die “We Shall Overcome” zu ihrer Hymne erkor.

Ein eigenes Kapitel ist dem Folk-Rock der späten 1960er Jahre gewidmet, ein weiteres dem “Nu-Folk” der jüngsten Vergangenheit. Wie wird die Folk Music der Vereinigten Staaten in Zukunft aussehen?, fragen die Autoren zum Schluss, sind dabei aber keinesfalls pessimistisch, sondern glauben daran, dass es weiter gehen wird. Und wie zum Beweis fügen sie noch ein letztes Kapitel an, “The Power of Music”, in dem sie Beispiele nennen, wie Musik die Welt verändern kann.

Alles in allem: ein gut lesbares Erinnerungsbuch an eine Bewegung, die durchaus auch für den Jazz von Bedeutung war, auch wenn Jazzer im Personenindex kaum Eingang gefunden haben. Billie Holidays “Strange Fruit” jedenfalls verband die Ideale der Folk- und der Jazzszene genauso wie einige der Bluesmusiker, die in Barney Josephsons “Café Society” in New York auftraten. Die Zeitzeugenberichte dieses Buchs geben einen guten Einblick in die Hintergründe des Interesses an einer ureigenen authentischen Folk Music in Amerika.

Wolfram Knauer (Juli 2012)


 

The Penguin Jazz Guide. The History of the Music in the 1001 Best Albums
von Brian Morton & Richard Cook
London 2010 (Penguin Books)
730 Seiten, 20 Britische Pfund
ISBN: 978-0-141-04831-4

2010penguinDer Jazz ist eine schier unübersichtliche Musik – so viele Stile, so viele Entwicklungen, so lange Geschichte, so viele Aufnahmen. Für den Novizen wird es schwer, da noch durchzublicken. Und so bietet es sich an, dass immer wieder Bücher erscheinen, die dem werdenden Jazzfan Tipps geben, was er vielleicht auch noch hören könnte. Der Penguin Jazz Guide ist ein bisschen wie die Urmutter umfangreicher Plattenempfehlungen. Er erschien erstmals 1990, als niemand wusste, ob die CD die Zukunft oder der Tod der Schallplattenindustrie sein würde, und seine neueste Ausgabe erscheint in einer Zeit, in der es ungewiss ist, ob das Konzept des Jazzalbums in Zeiten des Internet-Downloads überhaupt noch eine Zukunft hat.

Nichtsdestotrotz haben sich Brian Morton und Richard Cook, zwei der ausgewiesendsten britischen Jazzkenner, hingesetzt und eine Empfehlungsliste zusammengestellt. Im Jahr 2010 sind das oft keine Besprechungen einzelner Titel oder Alben mehr, da historische Meilensteile wie King Olivers Creole Jazz Band oder Louis Armstrongs Hot Five und Hot Seven längst in alle Aufnahmen versammelnden Box-Sets erschienen sind, die von den beiden genauso empfohlen werden wie ähnliche “complete recordings” späterer Musiker. Wie meist bei solchen Werken ist die Suche nach den fehlenden Aufnahmen nicht sehr sinnvoll weil eine nur subjektive Einschätzung. Anders als bei reinen Plattenrezensionen geben die Autoren jeder empfohlenen Platte eine kurze Beschreibung der vorgestellten Musiker vorweg, um dann auf Besonderheiten des spezifischen Albums einzugehen, die erklären, warum es den Platz unter den 1001 Alben gefunden hat.

Der Löwenanteil der Alben stammt aus den USA, erst ab den 1960er Jahren sind mehr und mehr europäische Musiker unter den Empfohlenen zu finden. Und die jüngsten Entscheidungen, also für die Jahre 2000 bis 2010, scheinen von den Autoren weit willkürlicher gefällt worden zu sein als zuvor – aber das ist verständlich, denn erst die Zeit wird zeigen, wie wegweisend, wie wichtig und bedeutend diese Alben denn nun wirklich waren.

“The Penguin Jazz Guide” wendet sich in seinen knappen Albumsrezensionen aber nicht nur an den Jazzneuling, sondern ausdrücklich auch an den Jazzkenner, der seine eigene Einschätzung am Lob der beiden Autoren messen mag und sicher die eine oder andere Aufnahme entdecken wird, die ihm bislang entgangen war, die es aber wert ist zu besitzen (und mehr noch: zu hören).

Wolfram Knauer (April 2012)


 

Fra Odd Fellow til East Park. Jazz i Aalborg, 1920-1970
von Knud Knudsen & Ole Izard Høyer & Tore Mortensen
Aalborg 2010 (Aalborg Universitetsforlag)
143 Seiten, 299 Kronen
ISBN: 978-87-7307-994-2

2010knudsenLokalgeschichten des Jazz in Europa handeln meist von ähnlichen Aktivitäten: der Faszination am Jazz als einer fast schon exotischen Musik in den 1920er Jahren, einer städtischen Musikszene zur Unterhaltung des bürgerlichen Publikums, dem steigenden Interesse der Musiker an der improvisatorischen Ausdrucksform des Jazz, dem Ankommen des Jazz in der Mitte der Gesellschaft und dem Neuerfinden dieser Musik nach dem II. Weltkrieg als zeitweiser Ausdrucksform der Jugend.

Die dänische Hafenstadt Aalborg also hat eine durchaus ähnliche Jazzgeschichte aufzuweisen, wie die drei Autoren des aufwendig gestalteten Bandes dokumentieren. Erste Erwähnung jazzmusikalischer Aktivitäten finden sie im November 1922, als im Odd Fellow Palæet ein Jazzkonzert angekündigt wird. Die Autoren durchwühlen alte Tageszeitungen, Programmankündigungen, Konzertbesprechungen. Anfang der 1930er Jahre machten die ersten amerikanischen Stars in Dänemark Station, im Kopenhagener Tivoli konnte man Louis Armstrong hören, und Joe Venuti beeinflusste 1934 den blutjungen Svend Asmussen. Auch dänische Jazzgrößen, Kai Ewans etwa, Leo Mathisen oder Peter Rasmussen und andere waren regelmäßig zu Gast.

Nach dem Krieg wurde Jazz auch in Dänemark von der Tanzmusik immer mehr zur Hörmusik. 1951 gründete sich ein Jazzclub, der mit regelmäßigen Veranstaltungen und Sessions an die Öffentlichkeit ging. Die britischen Trad-Bands tourten Dänemark und beeinflussten den dänischen Dixieland. Im Januar 1959 kam Louis Armstrong in die Stadt, und auch andere Jazzgrößen waren zu hören. 1955 schließlich gründete sich der East Park Jazzclub, dessen Konzerte ein jugendliches Publikum erreichten.

“Frau Odd Fellow til East Park” erzählt die Geschichte dieser Aalborger Jazzszene zwischen den frühen 1920er und späten 1960er Jahren. Das Buch enthält viele seltene Fotos von Musikern und Veranstaltungsorten, außerdem einige Ausrisse aus zeitgenössischen Berichten. Sicher wendet sich das Buch an eine auch regional begrenzte Leserschaft (dänische Sprachkenntnisse sind Voraussetzung), ist damit aber ein willkommenes weiteres Puzzleteilchen zu einer europäischen Jazzgeschichte.

Wolfram Knauer (April 2012)


 

Blue Note Records. A Guide for Identifying Original Pressings
von Frederick Cohen
New York 2010 (Jazz Record Center)
112 Seiten, 45 US-Dollar
ISBN: 978-0-692-00322-0

2010cohenDer Jazzplattensammler ist ein Phänomen für sich – in seiner Ernsthaftigkeit, seinem Vollständigkeitswahn genauso wie in der Expertise, die ihn im besten Fall zum Diskographen macht, ein Fachgebiet, das ihm in anderen Musikbereichen wahrscheinlich zu einem akademischen Grad verhelfen würde. Der sympathische Jazzplattensammler ist der, der durch die Welt reist, in Plattenläden geht und dann mit offenen Augen sowohl nach Neuentdeckungen sucht als auch nach Platten, die seine eigene Sammlung, seine eigenen Sammlungsinteressen vervollständigen. Die Musik steht für ihn im Mittelpunkt, daneben aber auch die Authentizität des Tonträgers selbst, der möglichst ein Original sein sollte, gar nicht unbedingt aus Wertgründen, sondern einfach, weil es ihn mehr reizt, eine Erstausgabe in den Händen zu halten. Der skurrile Jazzplattensammler ist jener, der sämtliche Plattennummern im Kopf hat, durchaus auch Besetzungen und Aufnahmedaten, der über dem Sammlungswahn aber vergessen hat, dass Platten eigentlich Musik transportieren, so dass er seine Platten im Extremfall gar nicht auflegt, weil bereits einmaliges Abspielen den Wert der Platten mindern könnte.

Der Sonderfall der Jazzplattensammler ist der “Blue-Note-Sammler”, und an diesen richtet sich dieses Buch. Frederick Cohen besitzt den größten Jazzplattenladen in New York, ein Mekka für Sammler aus aller Welt. In seiner täglichen Arbeit kam es ihm immer wieder unter, dass Kunden den Wert der Schallplatten in seinen Regalen anzweifelten, also in Frage stellten, ob es sich bei einer Platte auch wirklich um ein Original handelt? Das Label auf der einen Seite der Platte sah beispielsweise anders aus als das auf der anderen Plattenseite, die Firmenadresse auf dem Cover war eine andere als die auf den Labels. Über die Jahre sammelte Cohen die unterschiedlichen Merkmale der Blue-Note-Scheiben und erstellte einen Katalog untrüglicher Charakteristika, den er jetzt im eigenen Verlag vorlegt.

Das Buch beginnt mit einer Erklärung der Fachbegriffe, die für die Beschreibung von Schallplatten nötig sind. Cohen zeigt anhand von Fotos die verschiedenen Vorkommnisse des “Plastylite”-Symbols “P” auf der Vinylscheibe, das eines der wichtigsten Merkmale eines Originals ist. Er zeigt die unterschiedlichen Varianten der Adressdarstellung auf dem Label wie auf dem Cover, Varianten des Mono- und des Stereo-Logos (bzw. Stickers). Dann dekliniert er im umfangreichsten kapitel die unterschiedlichen Serien durch und beschreibt dabei ihre Besonderheiten.

Ein eigenes Kapitel widmet sich Rudy Van Gelders Kommentaren über seine Mono- und Stereoaufnahmen. In weiteren Kapiteln fasst Cohen die Veröffentlichungen nach Jahren zusammen, beschreibt die originalen inneren Schüutzhüllen und führt schließlich einige der seltesten Raritäten des Blue-Note-Labels vor.

Cohens Buch ist zu allererst ein Must-Have für Blue-Note-Sammler (von denen es nicht gerade wenige gibt). Es ist zugleich ein Musterbeispiel für diskographische Grundlagenforschung ganz anderer Art – bei ihm geht es ja nicht um Besetzungen, Titel oder Aufnahmedaten, sondern um den Tonträger und seine Verpackung, die er einer genauen Analyse unterzieht. Und zu allerletzt ist es ein unverzichtbares Referenzwerk für diejenigen, die Schallplatten als Wertanlage sammeln.

Wolfram Knauer (April 2012)


 

40 Jahre Internationales Dixieland Festival Dresden. Die Elbestadt swingt und brilliert, ist bluesvoll und populär
von Wolfgang Grösel & Joachim Schlese & Klaus Wilk
Dresden 2010 (Edition Sächsische Zeitung)
205 Seiten, 9,90 Euro
ISBN: 978-3-938325-73-5

2010groeselAm Pfingstwochenende 1971 begann in Dresden die Geschichte eines Festivals, das mittlerweile europaweit Kultstatus erlangt hat. Die Organisatoren wagten eine stilistische Beschränkung ihres Programms auf eine eng umgrenzte historische Jazzrichtung, den Dixieland zwischen New-Orleans-, Chicago-, Eddie-Condon- und europäischem Trad-Jazz. 1979 kamen bereits 30.000 Besucher, 1981 waren 200 Jazzmusiker aus Europa und (erstmals) den USA mit von der Partie.

Das vorliegende Buch dokumentiert zum 40jährigen Jubiläum die Geschichte des Festivals, das damit quasi auf eine gleichlange DDR- wie BRD-Zeit zurückblicken kann. Neben den Publikumserfolgen werden auch die Krisenjahre kurz gestreift, das Jahr 1990 etwa, als zum 20. Jubiläum kein einziges Konzert ausverkauft war, weil die Menschen lieber in den nun offen stehenden Westen reisten als nach Dresden. Politik bleibt ansonsten eher außen vor in dieser Festschrift, in der man vielleicht gern etwas über die offizielle Haltung der DDR-Staatsführung zum Festival erfahren hätte, darüber, welche politische Agenda das Festival ermöglichte, welche Probleme oder auch welche Unterstützung es bei Einladungen an Bands aus dem Ausland gab, welche außermusikalischen Konnotationen sich bei den Besuchern mit der Veranstaltung verband.

Aber das ist vielleicht zu viel verlangt oder auch am Ziel des Buchprojekts vorbei erwartet: “40 Jahre IDF” ist vor allem ein Geschenk der Dixieland-Festival-Freunde an sich selbst, und da mag eine tiefere Beschäftigung mit eigener Geschichte vielleicht nicht so angesagt sein. Ein wenig schade ist das schon, aber dem Ziel des Buchs nach verständlich: Mit vielen bunten Fotos und einer freien Doppelseite für Autogramme ist es in erster Linie eine Art Erinnerungsalbum für die Fans.

Wolfram Knauer (April 2012)


 

Sun Ra. Interviews & Essays
herausgegeben von John Sinclair
London 2010 (Headpress)
201 Seiten, 13,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-900486-72-9
www.headpress.com

2010sinclairSun Ra besaß bekanntlich Kultstatus. Und so ist es nicht verwunderlich, das in sich Veröffentlichungen dem Pianisten, Komponisten und Bandleader ganz ähnlich nähern, wie der sein Publikum zu begeistern pflegte: von allen Seiten, mit allen Sinnen, mit unerwarteten Klängen.

John Sinclairs Buch enthält vor allem Erinnerungen von Zeitzeugen, die Sun Ra im Konzert erlebten, ihn persönlich kannten oder gar mit ihm spielten. Ausgangspunkt ist ein Interview, das der “White Panther” und “poet-provocateur” Sinclair selbst 1966 mit Ra führte, und in dem dieser seine Philosophie… nun, vielleicht nicht gerade erklärt, aber umschreibt, und dabei im Verklären dann doch wieder etliches erklärt.

David Henderson erinnert sich an die Zeit in den 1960ern, als Ra auf der Lower East Side Manhattans lebte und eigentlich die afro-amerikanische Revolution vorlebte, die andere auf den Straßen erkämpfen wollten. Wir lesen Amiri Barakas Gedicht “Word from Sun Ra”, und Lazaro Vega spricht mit dem Dichter über Ras Bedeutung für die schwarze amerikanische Musik.

Ben Edmonds betitelt seine Erinnerungen an ein Sun-Ra-Konzert sehr treffend mit “Their Space Was My Place”. Der Trompeter Michael Ray berichtet über seine Zeit im Arkestra, und der Baritonsaxophonist Rick Steiger erinnert sich an eine Residenz des Arkestra in Detroit im Dezember 1980.

Peter Gershon reflektiert darüber, wie Marshall Allen die Ästhetik Sun Ras ins 21ste Jahrhundert transportiert. Darüber hinaus finden sich Interviews mit Musikern, deren Ästhetik durch Ras Musik stark beeinflusst wurde, Wayne Kramer etwa, Jerry Dammers und Sadiq Bey. Haf-fa Rool schließlich berichtet davon, wie er das Arkestra (als Nicht-Musiker) auf verschiedenen Europatourneen begleitet hatte.

Der zusammenhängende Faden aller Beiträge und Interviews ist die Kunst und der Einfluss Sun Ras, der schon manchmal etwas stark als der “Creator” persönlich rüberkommt – aber so war es eben, das Mysterium des Sun Ra. Sinclairs Buch endet mit einem Nachruf, den der Autor nach dem Tod des Bandleaders in der New Orleans Times-Picayune veröffentlicht hatte. Hier konzentriert er sich noch einmal auf die Erden-Seite des Pianisten, der daneben aber eben doch so viel mehr war… und dessen ästhetische Wirkung in vielen Bereichen von Musik und Kunst bis heute zu spüren ist.

Wolfram Knauer (März 2012)


 

Portrait Saxofon. Kultur, Praxis, Repertoire, Interpreten
Von Ralf Dombrowski
Kassel 2010 (Bärenreiter Verlag)
166 Seiten, 27,50 Euro
ISBN: 978-3-7618-1840-4

2010dombrowskiAdolphe Sax erfand das Saxophon 1841 als eine Art Klangzwitter zwischen den üblichen Holzblas- und den Streichinstrumenten. Hector Berlioz war der erste klassische Komponist, der für das neue Instrument schriebt; bald darauf übernahmen französische Militärkapellen das Instrument in ihre Instrumentierung, doch diese französische Vorliebe dauerte nur eine kurze Weile. Sax und seinem Schüler Eduard Lefèbvre gelang es allerdings, das Instrument in den USA populär zu machen. Der Rest ist Jazzgeschichte, möchte man meinen, und so ist es auch im Buch, das Ralf Dombrowski diesem neben der E-Gitarre vielleicht klang-bestimmendsten Instrument des 20. Jahrhunderts widmet.

In kurzen Kapiteln erklärt er klangliche Besonderheiten im Spiel von Sidney Bechet, Johnny Hodges, Benny Carter, Coleman Hawkins, Lester Young, Charlie Parker, Lee Konitz, Sonny Rollins, John Coltrane, Ornette Coleman, Albert Ayler, Wayne Shorter, Branford Marsalis, Peter Brötzmann, Jan Garbarek und etlichen anderen Heroen des Saxophons. Auch Marcel Mule und Sigurd Rascher erhalten eigene Kapitel, die beiden einflussreichsten klassischen Saxophonisten des letzten Jahrhunderts. Etwas eingehender betrachtet er zehn Aufnahmen und Künstler, Hawkins’ “Body and Soul” etwa, Parkers “Ornithology”, Rollins’ “Saxophone Colossus”, Coltranes “A Love Supreme” und andere, geht dann auf Konstruktion und diverse Bauformen des Instruments ein, aber auch auf Spielbesonderheiten wie etwa die Zirkularatmung und verwandte Instrumente wie das elektronische Lyricon. Er betrachtet wichtige Standards der Jazzgeschichte, in deren Erfolg auch das Saxophon eine große Rolle spielten, und er wirft einen Blick auf Ausbildungsmöglichkeiten in Deutschland und auf die beim Saxophon-Lernen zu beachtenden ästhetischen Dinge, insbesondere Intonation und eigener Sound.

Dombrowskis Buch ist ein gut lesbarer kurzer, dennoch intensiver Leitfaden zum Instrument, der jedem, der Saxophon spielt, ein paar Tipps zum Weiterhören, zum Sich-Selbst-Hinterfragen gibt, dabei technische Details genauso wie historische Entwicklungen erklärt.

Wolfram Knauer (März 2012)


 

Benny Goodman. A Supplemental Discography
von David Jessup
Lanham/MD 2010 (Scarecrow Press)
353 Seiten, 44,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-7685-9

2010jessup1988 erschien D. Russell Connors “Benny Goodman. Listen to His Legacy”, 1996 sein “Benny Goodman. Wrappin’ It Up”, zwei Diskographien, die Goodmans Aufnahmen von den ersten Studiosessions 1926 bis zu seinem Tod dokumentierten.

David Jessup knüpft an diese beiden diskographischen Werke an mit seinem großformatigen Opus, das die Vorgänger ergänzt um neu aufgetauchte Sessions, Livemitschnitte, Filmdokumente und zugleich in den diskographischen Details in einen Dialog mit den Titeln tritt, beschreibt, hinterfragt, offene Fragen herausstreicht, auf Diskrepanzen früherer diskographischer Erkenntnisse etwa mit dem Plattentext hinweist und vieles mehr.

Zwischendurch fasst er diskographische Diskurse zusammen, die er mit anderen Sammlern und Goodman-Experten über die Jahre geführt hatte. In einem kurzen Kapitel befasst sich Jessup außerdem mit dem Internet als einem neuen Sammelmedium.

Und schließlich füllt den zweiten Teil des Buchs eine vorläufige Diskographie der “Small Label Goodman Releases”. Das alles ist etwas für hartgesottene Goodman-Sammler – für die aber ist es ein Muss, genauso wie die Vorgängerbände von Connors.

Für alle anderen ist auch dieses Buch ein Beleg für die Bedeutung der durchaus wissenschaftlichen Arbeit, die im Jazz von Fans geleistet wird und die in der klassischen Musikwissenschaft als “Werkverzeichnis” leicht zu akademischen Ehren führen könnte.

Wolfram Knauer (Februar 2012)


 

The History of Jazz
Von Ted Gioia
New York 2011 (Oxford University Press)
444 Seiten, 19,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-539970-7

2010gioiaTed Gioias “Geschichte des Jazz” ist ein umfassendes Werk, dass die Entwicklung dieser Musik von den Anfängen (er nennt es die “Africanization of American Music”) bis ins 21ste Jahrhundert verfolgt, die wichtigsten Protagonisten nennt und in kurzen Absätzen diskutiert, ästhetische Entwicklungen erklärt und in Zusammenhang mit dem allgemeinen Musikbusiness genauso wie mit sozialen Entwicklungen in den USA bringt und zwischendrin noch versucht, die Musik zumindest zu beschreiben, um die es eigentlich geht. Die erste Ausgabe dieses Buchs wurde zu einem Bestseller der Jazzliteratur in den USA und an Schulen wie Hochschulen als Text Book benutzt – obwohl sich dort vielleicht ein analytischer in die Materie sich versenkendes Buch noch mehr lohnen würde.

Die Kapitelübersicht macht Gioias Ansatz deutlich: “The Prehistory of Jazz”, “New Orleans Jazz”, “The Jazz Age”, “Harlem”, “The Swing Era”, “Modern Jazz”, “The Fragmentation of Jazz Styles”, “Free and Fusion”, “Traditionalists and Postmodernists” sowie “Jazz in the New Millennium”. Als Anhang finden sich Hör- genauso wie Leseempfehlungen.

Gioia präsentiert Fakten, hinterfragt Mythen, erklärt Beweggründe für den Wandel der Musik, ordnet die musikalische Entwicklung des Jazz in die soziale, wirtschaftliche politische Entwicklung der Vereinigten Staaten ein. Musikalische Details beschränken sich auf kurze Ablauf- oder Klangbeschreibungen, die er allerdings geschickt genug einsetzt, um auch dem nicht musikbewanderten Leser Besonderheiten verschiedener Zeit- und Personalstile erklären zu können.

Wie in jedem Geschichtsbuch wird man auch bei Gioia anfangen können zu kritisieren: Warum diesen, warum nicht jenen Musiker? Die Fakten sind ja alle bekannt, hier kann Gioia vor allem seine Sicht der Zusammenhänge präsentieren. Am interessantesten ist bei solchen Büchern erfahrungsgemäß der Umgang mit den jüngsten Entwicklungen. “Traditionalists and Postmodernists” ist das Kapitel überschrieben, in dem Gioia aus irgendeinem Grunde die Szene um Wynton Marsalis dem sehr viel früher begründeten AACM-Lager gegenüberstellt; die New Yorker Downtownszene zwar erwähnt, aber ihre tatsächliche Bezogenheit auf die Neotraditionalisten nicht ausreichend erklärt. “Jazz in the New Millenium” schließlich nennt einige der erfolgreichen Musikernamen der letzten zehn Jahre, um dann in einem Unterkapitel die “Globalization” of Jazz” festzustellen und hier (außer einem früheren Bezug auf Django Reinhardt) zum ersten Mal auch die europäischen Entwicklungen zu thematisieren. Solch eine amerikano-zentrische Sichtweise kann man Gioia wohl kaum vorwerfen – die Tatsache, dass diese Parallelentwicklungen der Jazzgeschichte noch nicht ausreichend – also zusammenfassend und in englischer Sprache – verschriftlicht wurden, erklärt leider immer noch die weitgehende amerikanische Negierung dessen, was nunmehr seit über vierzig Jahren in Europa an ganz eigenständigen Entwicklungen geschieht.

Ted Gioias “History of Jazz” ist auf jeden Fall eine sehr brauchbare Zusammenfassung der amerikanischen Jazzgeschichte. Andere (etwa Berendt) mögen in ihrem Ansatz gliedernder und damit insbesondere für den Jazzneuling hilfreicher sein, aber Gioia überzeugt vor allem in der dauernden Überlagerung biographischer, musikalischer, sozialgeschichtlicher Erklärstränge.

Wolfram Knauer (Januar 2012)


 

Lightnin’ Hopkins. His Life and Blues
von Alan Govenar
Chicago 2010 (Chicago Review Press)
334 Seiten, 28,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-55652-962-7

2010govenarDer Blues ist vordergründig eine der persönlichsten Musikstile, die man sich vorstellen kann, handelt er doch von vermeintlich Selbst-Erlebtem, vom offen gelegten emotionalen Grenzsituationen. Tatsächlich ist der Bluessänger aber ein Griot seiner Tage; seine Texte stehen nicht nur für ihn, sondern für so viele, die sich mit ihnen identifizieren und aus dem Aussprechen des täglichen Leids Kraft ziehen können. Alan Govenar hat die Biographie eines der am meisten aufgenommenen Blueskünstler des 20sten Jahrhunderts geschrieben und bietet dem Leser damit Einblick in die persönlichen Erfahrungen, die Hopkins mit in seine Musik einbringen konnte.

1929 in eine arme Farmpächterfamilie in Texas geboren, verließ Hopkins bereits mit acht Jahren sein Zuhause, verdiente sich sein Geld als Straßenmusikant oder Gelegenheitsarbeiter. Seine ersten Aufnahmen machte er erst 1946, als er auch seinen Spitznamen “Lightnin'” erhielt. Seine Platten führten die R&B Charts an, aber dann wurde er wieder vergessen, bis er 1959 “wiederentdeckt” wurde und die Bürgerrechtsbewegung mit seinen emotionalen Liedern begleitete.

Govenar macht sich auf die Spurensuche, nachdem er selbst Hopkins 1974 ein einziges Mal in einem Konzert gehört und nachdem Chris Strachwitz, der Gründer des Arhoolie-Labels, ihn auf die Bedeutung dieses Musikers aufmerksam gemacht hatte. Anfangs verzweifelte er mit seinen Recherchen fast, als ihm Hopkins Manager und seine langjährige Lebensgefährtin jegliches Interview verweigerten; dann machte er sich auf nach Texas und traf im Geburtsort des Gitarristen und Sängers tatsächlich auf entfernte Verwandte und Kindheitsfreunde. Ihm gelingt es im Verlauf seines Buchs, die Mythen und Erinnerungen auseinanderzudröseln, die Hopkins selbst in Interviews oder auch in seiner Musik zu erzählen pflegte, und die über ihn kursierten.

Man weiß wenig über Sam “Lightnin'” Hopkins’ Kindheit, und Govenar muss sich hier vor allem auf andere Quellen verlassen, um die Geschichten zu verifizieren oder wenigstens in die Realität der Zeit einzupassen, etwa die von Hopkins selbst erzählte von seinem Großvater, der sich als Sklave erhängt hätte, weil er es nicht mehr aushielt, laufend bestraft zu werden. Hopkins Vater starb, als der Sohn 3 Jahre alt war. Sam schaute sich die Technik des Gitarrespielens von seinen älteren Brüdern und anderen Musikern des Dorfes ab. Govenar beschreibt die Bildungsmöglichkeiten und die Zwänge der Feldarbeit in jener Zeit, aber auch die Square Dances, die Hopkins in seinem Dorf erlebte. Mit acht Jahren traf er auf Blind Lemon Jefferson, der ihn in seinem Spiel ermutigte. Der Junge erahnte, dass die Musik eine Chance sein könnte, sich aus dem Leben eines Sharecroppers zu befreien.

Man weiß nicht genau, aus welchem Grunde Hopkins in den 1930er Jahren ins Gefängnis kam, aber später berichtete er in Wort und Blueslyrics von den Chain Gangs, wenn auch Govenar feststellt, dass seine Texte für einen Mann, der so oft im Gefängnis war, etwas reichlich unoriginell seien. Etwa gegen Mitte der 1930er Jahre traf Hopkins in Dallas auf den Bluessänger Texas Alexander, der bereits etliche Aufnahmen gemacht hatte und ihm zeigte, dass man durchaus auch von der Musik allein leben konnte. Govenar zeichnet daneben auch Einflüsse von Alexanders Stil in Hopkins’ späteren Aufnahmen nach.

Mitte der 1940er Jahre zog Hopkins nach Houston, und auch hier beschreibt Govenar eingehend die soziale und wirtschaftliche Lage, in der sich insbesondere die schwarze Bevölkerung in der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts befand. Er baut eine neuen Karriere auf und wird erstmals öffentlich wahrgenommen, vor allem natürlich, weil nun, 1946, erste Plattenaufnahmen von ihm erscheinen. Hier hat Govenar nun richtige Quellen, die er unter die Lupe nehmen kann: Bluestexte, die es gilt mit der Realität zu vergleichen, Kontorbücher, die Gagen für die Plattenaufnahmen auflisten, und Zeitzeugenberichte, die er immer mehr einführt – auch weil für die aktive Aufnahmezeit des Gitarristen einfach mehr Zeitzeugen zu finden waren als für seinen frühen Jahre. Er fragt nach den Medien, denen sich der Blues in jener Zeit bediente, und wie die Musik an ihre (vor allem schwarzen) Hörer kam.

1959 wurde Hopkins von Samuel Charters wiederentdeckt, der in einem Hinterzimmer u nd mit einem portablen Aufnahmegerät Aufnahmen vor allem alter Bluessongs machte. Auch Mack McCormick und Chris Strachwitz gehörten zu den Produzenten-Unterstützern Hopkins’, die seiner Karriere letztendlich zu einem neuen Schub verhalfen. McCormick ermutigte ihn bei seinen Aufnahmesitzungen zu singen, was immer ihm in den Sinn kam, nicht also marktorientierte, sondern möglichst persönliche Statements abzuliefern. Hopkins war ein Improvisator durch und durch, der viele seiner Stücke aus dem Stegreif dichtete.

Die 1960er Jahren brachten sowohl in den USA wie auch in Europa ein Blues-Revival, und Govenar beleuchtet die Menschen hinter dieser Bewegung, ihre Beweggründe und ihre Strategien. Hopkins tourte in den Vereinigten Staaten genauso wie in Europa und in den 1970er Jahren sogar in Japan, wenn er auch im Third Ward in Houston wohnen blieb. Gesundheitliche Probleme nahmen zu, und am 30. Januar 1982 verstarb Hopkins im Alter von 70 Jahren.

Eine von Andrew Brown und Alan Balfour zusammengestellte ausführliche Diskographie ergänzt das Buch. Govenars Biographie gelingt es überaus lesenswert, das Leben und das Werk des Gitarristen und Sängers zu beleuchten, Mythen und Realität zu analysieren und aus der Lichtgestalt des Bluesheroen den Menschen Sam Hopkins herauszuschälen.

Wolfram Knauer (Januar 2012)


 

Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis
herausgegeben von Hans-Friedrich Bormann & Gabriele Brandstetter & Annemarie Matzke
Bielefeld 2010 (transcript)
238 Seiten, 26,80 Euro
ISBN: 978-3-8376-1274-5

UMS1274kumediBormann.inddWir Jazzer sehen die Improvisation natürlich als unser ureigenes Feld an; der Jazz schließlich ist diejenige westliche Kunst, in der Improvisation am stärksten zum Prinzip erhoben und am meisten gefeiert wurde. Das vorliegende Buch streift das große Feld der jazzmusikalischen Improvisation eher am Rande, etwa im Beitrag von Christopher Dell, der in seinem Vortrag bei der Tagung an der Freien Universität in Berlin, die Anlass für die hier abgedruckten Texte war, auch gleich selbst improvisierte – im Gegensatz zu den dort “komponierten” (spricht vorgefertigten und abgelesenen) Referate der übrigen Autoren.

Es geht, kurz gesagt, um das Improvisieren in diversen künstlerischen und kulturellen Zusammenhängen, die man mit dem Phänomen der Improvisation mal mehr, mal weniger verbindet. Georg W. Bertram beginnt mit einem allgemeinen Blick auf Improvisation im Alltag und in der Sprache. Roland Borgards untersucht Texte von Thomas Mann und Hugo Ball, die die Improvisation zum Thema haben, und zwar nicht nur der eigentlichen Texte, sondern auch der Textkreation.

Edgar Landgraf schaut historisch auf die Improvisation auf der Theaterbühne zwischen Commedia dell’arte und dem frühromantischen Konzept des Universallustspiels. Sandro Zanetti holt noch weiter aus und betrachtet Improvisation vor dem Hintergrund der antiken Rhetorik und der romantischen Literatur. Markus Krajewski schaut genauer auf den Butler in “Dinner for One” und fragt nach dem Verhältnis von Routine und Improvisation in dessen Handeln.

Annemarie Matzke betrachtet die Funktion der Improvisation im Schauspiel, und Gabriele Brandstetter sowie Friedrike Lampert schauen auf die Bedeutung von Improvisation in der künstlerischen Tanzpraxis. Schließlich beleuchtet Kai van Eikels die beliebten Übersetzungen der Improvisation, wie sie etwa im Jazz stattfindet, auf Organisationstheorien.

Improvisation, das lernt mal schnell in diesem Buch, ist weitaus mehr als das, was wir uns gemeinhin darunter vorstellen, egal ob wir aus dem Jazz kommen oder meinen, jeder improvisiere doch eigentlich immer. Weder unfertig noch vollkommen ungeplant, ist das Prinzip der Improvisation letztlich ein Zurückgreifen auf Erlerntes und Erfahrenes, die Fähigkeit schnellstens Entscheidungen zu treffen, die alles ändern können, das Ziel also sowohl im Blick zu behalten wie auch nicht als ultimatives Ziel zu sehen.

Wolfram Knauer (Januar 2012)


 

Unfinished Blues. Memories of a New Orleans Music Man
Von Harold Battiste Jr. (& Karen Celestan)
New Orleans 2010 (Historic New Orleans Collecion)
197 Seiten, 28,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-917860-55-3

2010battisteHarold Batiste war zusammen mit Alvin Batiste, Ellis Marsalis, Ed Blackwell und einigen anderen Musikern die moderne Jazzstimme im New Orleans der frühen 1950er Jahre. Mit Marsalis zusammen etablierte er weit später das Jazz Studies Program an der University of New Orleans. In seiner Autobiographie erzählt er seine Geschichte, die von New Orleans nach Los Angeles führt, vom Jazz zum Geschäft mit der Popmusik und zurück.

Battiste wurde im Herbst 1931 in New Orleans geboren. Das Buch berichtet über die Stadt seiner Kindheit, das Leben in verschiedenen Vierteln und in einem sozialen Wohnungsbauprojekt, über seine erste Metallklarinette, die ihm sein Vater in einem Leihhaus kaufte. Mit elf oder zwölf arbeitete er als Hilfskraft im Dew Drop Inn, wo er jede Menge schwarzer Popkultur hautnah erlebte. Er ging auf die Gilbert Academy, eine High School, in der er seinen ersten richtigen Musikunterricht erhielt und in der Schulband spielte. Später besuchte er die Dillard University und spielte auch dort in der Hochschul-Tanzkapelle. Sein Studienziel war es, staatlich geprüfter Musiklehrer zu werden.

Mit 18 hatte Battiste seinen ersten richtigen Gig im Orchester des Pianisten Joe Jones, das vor allem Kaufarrangements populärer Bigbandnummern etwa von Stan Kenton spielte. Er heiratete, unterrichtete eine Weile, war aber vom Schulsystem so frustriert, dass er seinen Job kündigte und zusammen mit seinen Kumpanen Ed Blackwell, Richard Payne und Ellis Marsalis an die amerikanische Westküste zog, wohin er wenig später auch seine Familie nachkommen ließ. Einige der Musiker (insbesondere Blackwell) spielten mit Ornette Coleman; Battiste aber begann bald seine zweite Karriere, als er nämlich die erste Hitsingle von Sam Cooke arrangierte und produzierte. Bald darauf kam er auch mit Salvatore Bono zusammen, der wenig später mit der Sängerin Cher als Sonny & Cher Karriere machen sollte.

Die folgenden Kapitel behandeln das Music Business der späten 1950er, frühen 1960er Jahre, R&B-Gruppen, mit denen Battiste zusammenarbeitete, aber auch das Label A.F.O. Records, das er in New Orleans gründete und auf dem er etliche seiner Entdeckungen herausbrachte, unter ihnen etwa Barbara George, die mit “I Know (You Don’t Love Me No More)” einen großen Hit hatte. Mit Sonny & Cher arbeitete er von den 1960er bis in die 1980er Jahre; und neben der Beschreibung seiner Arbeit erzählt er dabei durchaus auch von Copyright-Knebelverträgen, die Battistes Namen aus den Kompositionen und Arrangements strichen, die er gefertigt hatte.

1967 produzierte er ein Album mit Mac Rebennack, der bald darauf als Dr. John bekannt werden sollte. Battiste ist mittlerweile ein gemachter Mann, besitzt ein großes Haus, ein großes Auto, hat Erfolg auf der ganzen Linie. Er pendelt zwischen New Orleans und Los Angeles, produziert unzählige Projekte. Er wird musikalischer Leiter der populären Sonny & Cher TV-Show, für die er alle Arrangements fertigt. 1976 gründete er ein neues Label, Opus 43, tut sich mit Ellis Marsalis zusammen und nimmt das erste Album auf, das Ellis mit seinen Söhnen Wynton und Branford einspielte (das aber nie veröffentlicht wurde).

Die letzten Kapitel des Buchs widmen sich den Aktivitäten, mit denen Battiste seiner Heimatstadt etwas von dem zurückgeben will, was er musikalisch von ihr erhalten hatte: Wir lesen etwa von der Gründung der National Association of New Orleans Musicians und von Konzepten für eine bessere Einbindung des Jazz in den Schulunterricht. Nebenbei erfahren wir aber auch über seine Scheidung, die zum Verlust seines Hauses und seines Vermögens führte und auch dazu, dass er mit 58 Jahren eine neue Karriere als Dozent an der University of New Orleans begann / beginnen musste.

Alles in allem ist “Unfinished Blues” eine umfangreiche Autobiographie, die sich manchmal in zu viel Details verliert und der man insbesondere in der Geschichte des Privatlebens deutlich die Verletztheit des Autors anmerkt. Nichtsdestotrotz gibt das Buch einen ungemein interessanten Einblick ins Leben und Überleben eines schwarzen Musikers zwischen Jazz und Kommerz und seine musikalischen wie ästhetischen und spirituellen Werte. Es zeigt zudem unzählige Fotos, die die Stories quasi erlebbar machen, jene Geschichte vom Aufstieg eines Musikers zum Popproduzenten, von seinem Fall, von Neubesinnung und Neufindung.

Wolfram Knauer (Januar 2012)


 

Speak Jazzmen. 55 interviews with jazz musicians
von Guido Michelone
Milano 2010 (EDUCatt)
212 Seiten, 11 Euro
ISBN: 978-88-8311-753-4

2010micheloneGuido Michelone ist ein fleißiger italienischer Jazzkritiker, der regelmäßig für die diversen Fachzeitschriften seines Landes schreibt, außerdem Jazzgeschichtskurse an der Universität von Mailand gibt. Aus den Schubladen seines Schreibtischs hat er für das vorliegende Buch fünfundfünfzig Interviews ausgesucht, die er in den letzten Jahren mit amerikanischen und europäischen (allerdings nicht mit italienischen) Musikern führte. Anlass der auf Englisch abgedruckten Interviews war meist entweder das Erscheinen eines neuen Albums des betreffenden Künstlers oder eine bevorstehende Italientournee.

Unter den Gesprächspartnern sind bekannte Namen wie Don Byron, Billy Cobham, Steve Lacy, Hugh Masekela, Greg Osby, Joshua Redman, Trevor Watts, Lenny White genauso wie der breiten Öffentlichkeit nicht ganz so bekannte Namen, etwa Theo Bleckmann, Antonio Ciacca, Khari B., Tony lakatos, Martin Mayes, Brett Sroka, Torben Walldorf (aber auch Daniel Schnyder, nicht “Scheyder” und Jeremy Pelt, nicht “Pelz”, um gleich mal zwei der falsch geschriebenen Namen zu korrigieren).

Die meisten der Gespräche sind dabei eher kurz; etliche nur ein oder zwei Seiten lang. Immer wieder liest man Standardfragen wie “Was bedeutet der Jazz für Sie?” oder “Wer waren Ihre wichtigsten Einflüsse?”. Ab und an spricht Michelone auch den Unterschied zwischen europäischem und amerikanischem Jazz an, fragt aber selten nach.

Wie sollte er allerdings auch nachfragen? Viele der Interviews nämlich wurden per e-mail geführt. Im Vorwort lobt Michelone die Gedankentiefe der Antworten, vergibt sich bei der gewählten Technik des Mailinterviews allerdings die Möglichkeit der tatsächlichen Vertiefung. So werden viele Themen oft nur angeschnitten. Einige der Fragen wirken zudem hilflos, etwa wenn Michelone Vijay Iyer fragt, wie viele indische Sprachen er denn spräche (Antwort: nur Englisch und ein wenig Französisch).

Alles in allem finden sich durchaus interessante Aussagen in diesem Buch — die Beliebigkeit der Interviews, und die unterschiedliche Tiefe der Gespräche macht es allerdings zu einer wechselvollen Lektüre, der ein wenig editorisches Geschick gut getan hätte, wenn beispielsweise die Gespräche jeweils mit einleitenden oder beschließenden Worten kommentiert und eingeordnet worden wären.

Wolfram Knauer (Januar 2012)


 

The Comedian Harmonists. The Last Great Jewish Performers in Nazi Germany
von Douglas A. Friedman
West Long Branch/NJ 2010 (HarmonySongs Publications)
306 Seiten, 22,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-9713979-1-0

2010friedmanDie Comedian Harmonists sind bis heute bekannt als eine der populärsten Vokalgruppen des frühen 20sten Jahrhunderts. Sie sind ins deutsche Kulturgut eingegraben wie sonst kaum ein populäres Ensemble, durch Loriot-Cartoons, Nachahm-Bands oder den Ende der 1990er Jahren in die Kinos gekommenen Spielfilm “The Harmonists”, der auf ihrer Geschichte basiert. Douglas Friedman hat sich nach seiner Pensionierung als Vizepräsident einer erfolgreichen amerikanischen Energiefirma an die Arbeit gemacht, die Geschichte des Vokalensembles zu recherchieren. Ihn interessierte der musikalische Kontext des Vokalquintetts dabei genauso wie der soziale, die Verfolgung der jüdischen Sänger und Musiker durch die Nazis.

Sein Buch beginnt mit der Faszination des jungen Harry Frommermann durch Aufnahmen des amerikanischen Vokalquintetts Revelers. Frommermann schrieb eigene Arrangements und schaltete eine Kleinanzeige im Berliner Lokal-Anzeiger, in der er nach “schönklingenden Stimmen” suchte. Im Januar 1928 hatte er die Band zusammen, die er Melody Makers nannte. Friedman rekapituliert die Biographien der Mitglieder: Harry Frommermann, Robert Biberti, Ari Leschnikoff, Roman Cycowski, Erich Collin sowie anderer, kurzfristig mit der Band arbeitender Musiker. Er beschreibt die Probenphase durchs Jahr 1928, das Vorsingen im Scala Club und den Vorschlag des Musikmanagers Eric Charrell, die Band in Comedian Harmonists umzutaufen. Im August nahm das Quintet mit Pianisten seine ersten Schallplatten auf und war sofort ein Riesenerfolg sowohl in Charrells Revue wie auch auf Platte. 1929 tourten die sechs durch Deutschland, 1930 waren sie bereits weit europaweit populär. Hits wie “Ein kleiner grüner Kaktus” oder “Veronika, der Lenz ist da” brachten dabei Optimismus in die Stimmung der Weimarer Republik, eine scheinbar perfekte Paarung des swingend intonierten amerikanischen Jazz mit deutschem Schlager der Zeit.

Friedmann verfolgt die Karriere der Band genauso wie persönliche Schicksale, Liebschaften, Hochzeiten, Erfolge, Nachahmer, Konkurrenten. 1933 kamen die Nazis an die Macht, und mit einem Mal wurde es schwierig für die jüdischen Mitglieder der Comedian Harmonists, spätestens als diesen mit den Nürnberger Gesetzen von 1935 jede Arbeitsmöglichkeit genommen wurde. Das Ensemble teilte sich in eine Wiener Gruppe und ein Berliner Ensemble. Die Wiener Band ging bald auf internationale Tournee, spielte in Australien, Südamerika, Kanada und den USA. Als Hitler Polen überfiel, war diese Band gerade in Sydney, und in den Kriegswirren löste sich das Ensemble 1940 auf – zu sehr hatten die einzelnen Mitglieder mit unterschiedlichen Nachrichten aus der Heimat zu kämpfen.

In Deutschland hatte die andere Hälfte der Harmonists sich unter dem Namen Meistersextett neu gegründet, konnte aber an den Erfolg der früheren Besetzung nicht wirklich anknüpfen und musste außerdem mit Schwierigkeiten durch die Reichsmusikkammer kämpfen, die in Repertoire und Auftreten Mitspracherecht anmeldete. Die Band zerstritt sich insbesondere mit Biberti und löste sich 1941 auf. Im letzten Teil seines Textes schließlich folgt Friedman den Biographien der früheren Comedian Harmonists-Mitglieder von Kriegsende bis zu ihrem Ableben.

Friedman bezieht sich auf Quellen im Nachlass Robert Bibertis an der Staatsbibliothek Berlin sowie auf Zitate aus der 1976 gedrehten Fernsehdokumentation über die Band. Seine Recherche muss man sich dabei etwas mühsam vorstellen, denn der Autor spricht kein Deutsch und musste sich grundsätzlich auf englische Übersetzungen oder Untertitel verlassen. Letzten Endes kann er so kaum originäre Recherchen aufweisen sondern vor allem referieren, was anderswo bereits zusammengetragen wurde. Das tut dem Fleiß seiner Arbeit aber keinen Abbruch, insbesondere, wenn man den umfangreichen (mehr als 100 Seiten starken) Anhang des Buchs aufblättert, der eine genaue Timeline der Band enthält, eine komplette Diskographie sowie eine Auflistung aller bekannten Konzerte mit Anmerkungen zu Gagenhöhe oder anderen Besonderheiten. Schließlich findet sich hier auch eine Repertoireliste anhand von Programmen ausgewählter Konzerte über die Jahre, eine Filmographie, eine Liste von den Harmonists gesungener, aber nie auf Schallplatte eingespielter Titel sowie die obligatorische Literaturliste (die sich im Vergleich zu den anderen Teilen des Anhangs ein wenig dürftig ausmacht).

Alles in allem: eine hoch willkommene Zusammenfassung der biographischen und Karrieregeschichte der Comedian Harmonists, in der sich wenig über die Musik selbst findet, dafür jede Menge Information zur Lebenswirklichkeit eines Starensembles in den dunklen Jahren der Nazizeit. Insbesondere die Anhänge machen das Buch auch für Forscher zu einer hilfreichen Quelle.

Wolfram Knauer (Dezember 2011)


 

The Big Love. Life & Death with Bill Evans
von Laurie Verchomin
Kanada 2010 (Selbstverlag)
144 Seiten, 19,59 US-Dollar
ISBN: 978-1-456563097

2010verchominJazzmusiker sind zuallererst – Musiker. Aber natürlich sind sie genauso Menschen wie wir alle, Menschen, die versuchen eine Balance aus Arbeit und Leben zu finden, aus Pflicht und Vergnügen, aus Ernsthaftigkeit und Liebe. Vom Privatleben eines der ganz großen Jazzmusiker handelt dieses Buch, und dabei vor allem von der Liebe. Der Autorin widmete Bill Evans seine Komposition “Laurie”, die gegen Ende seines Lebens fester Bestandteil seines Bühnenrepertoires war. “For Laurie who inspired this song with love – Bill”, schreibt Evans auf die Kompositionsnotiz, die Verchomin in ihrem Buch abdruckt und die ihn auf ewig mit ihr verbunden habe.

Gleich das Eingangskapitel trifft ins Mark: Laurie Verchomin erzählt, wie Evans am 15. September 1980 in seine Methadonklinik fahren will, um sich mit seinem Arzt zu beraten. Joe LaBarbera fährt sie nach Midtown-Manhattan, und mitten im Gespräch beginnt Evans Blut zu husten. Sie schaffen es noch in die Notaufnahme, doch Evans ist nicht mehr zu retten.

Rückblende: Mitte der 1970er Jahre geht die junge Laurie Verchomin aus Edmonton in Kanada nach New York, mietet ein billiges Hotelzimmer und schreibt sich für Unterricht in einer Schauspielschule ein. Zurück in Edmonton versucht sie ihr Liebesleben neu zu ordnen und jobbt nebenbei als Kellnerin. Bei einem Konzert des Bill Evans Trios, bei dem sie kellnert, lernt sie den Pianisten kennen. Sie schreiben sich, sie teilen sich das Kokain, sie besucht ihn in seiner kleinen Wohnung in Fort Lee, New Jersey. Eindringlich, überaus offen und höchst persönlich erzählt Verchomin von ihrem Eintauchen in eine Welt, die so ganz anders ist als das heimatliche Edmonton. Liebe, Sex, Kokain, Drinks, Schallplatten, Evans’ Ehefrau Nenette, die sie über seine Reihe an Liebschaften aufklärt… Verchomin erzählt über ihre Ängste, für ihn und vor seiner Sucht. Inzwischen ist sie nach Edmonton zurückgekehrt, besucht ihn bei Konzerten in Toronto, begleitet ihn nach Chicago. Zwischendurch erfahren wir von kokaingetränkten Abenden mit Dennis Hopper, vom Village Vanguard, ihrer Rückkehr nach Edmonton. In seiner Wohnung schwadroniert Evans davon, von der CIA überwacht zu werden, und Laurie akzeptiert seine Paranoia, worauf Evans sie schließlich einlädt, ganz zu ihm zu ziehen. Sie erzählt von Auseinandersetzungen mit Bills Agentin und von der Anziehungskraft eines von Drogen zerfressenen Körpers. Sie besucht ihn während eines Gigs in London; wieder zurück in den USA holt sie ihn vom Flughafen ab, beschreibt, wie ausgelaugt, offensichtlich krank und fertig er auf sie wirkte. Wir werden Teil der Szenen eines Musikerlebens: Gigs, Talk-Shows, Hotelzimmer, Flugtickets, Warten, Reisen, Spielen. Und dann… der 15. September 1980, Mount Sinai Hospital: “We couldn’t save him”.

Laurie Verchomins Buch ist vielleicht eines der persönlichsten Bücher über einen Jazzmusiker. Die Autorin ist schonungslos offen, und stellenweise weiß man nicht, mit wem man mehr mitleiden soll: dem sensiblen, schwerkranken Evans oder Laurie, die von der Liebe in eine Beziehung getragen wird, die so viel mehr an Kraft verlangt, als sie je geahnt hatte. Man legt das Buch aus der Hand mit einem beklemmenden Gefühl, aber auch ahnend, dass man das alles bereits wusste, weil Bill Evans es uns in seiner Musik offen legte, in der diese Sensibilität und Verletzlichkeit doch so deutlich durchscheint. Anderthalb Jahre begleitete Verchomin den Pianisten, auch auf seiner letzten Reise. Ihr Buch ist eine persönliche Hommage an das Vermächtnis eines genialen Musikers, der selbst im Leiden und Wissen um den bevorstehenden Tod so viel an Kraft in die Schönheit der Musik steckte. Ihr Buch schildert eine wahrhafte Tragödie, das Zugrundegehen eines Künstlers, und dennoch liest man es mit liebevollem Gesicht – weil wir alle, die wir Bill Evans hören durften, von ebendieser Kraft musikalischer Schönheit zehren konnten und bis heute zehren können.

Wolfram Knauer (Oktober 2011)


 

freebag…? Jazz i Norge 1960-1970
von Bjørn Stendahl
Oslo 2010 (Norsk Jazzarkiv)
613 Seiten, 450 Norwegische Kronen
ISBN: 978-82-90727-14-2

2010stendahlBjørn Stendahls Geschichte des Jazz in Norwegen in den 1960er Jahren ist der mittlerweile vierte Band einer Reihe des Norwegischen Jazzarchivs über die Jazzgeschichte des Landes. Der Umfang des Buchs, der die früheren Bände bei weitem übertrifft, macht klar, dass es sich bei diesem Jahrzehnt um ein entscheidendes handelt: das Jahrzehnt dr Bewusstwerdung, dass Jazz für norwegische Musiker nicht mehr länger ein Feld der Nachahmung amerikanischer Idole war, sondern die Möglichkeit, sich selbst auszudrücken.

Stendahl befasst sich in seinen eingehenden Recherchen mit Lokal- und Regionalszenen, mit auch in Skandinavien abgehaltenen stilistischen Grabenkämpfen zwischen Traditionalisten und Modernisten, mit den Vertriebswegen des Jazz über Radio, Fernsehen, Film, Presse und natürlich die Schallplatte, mit Clubs, Festivals und Musikerverbänden, mit der Struktur also einer sich organisierenden Szene. Das geht zum Teil schon sehr ins Detail, so dass das Buch wohl vor allem als Nachschlagewerk zu nutzen ist, in dem man blättert, um einzelne Episoden herauszugreifen, die im register leicht ansteuerbar sind. 613 Seiten im Stück zu lesen, das wird wohl kaum einer tun, auch wenn es sich lohnt, da Stendahl immer wieder spannende Fundstücke einschließt, Interviewschnipsel etwa, beispielhafte Club- und Festivalprogramme, Besetzungen und vieles mehr. Und natürlich gibt es Fotos zuhauf.

Fakten erfährt man also jede Menge, über musikalische Inhalte allerdings schweigt sich Stendahl meist aus. Zu Jan Garbareks Entwicklung etwa finden sich Auftrittsdaten nebst Besetzungen und parallel auftretenden Bands, über seine musikalische Ästhetik aber erfährt man eher nebenbei, in knappen Zitaten aus zeitgenössischen Rezensionen. Mehr aber war wohl auch nicht Stendahls Aufgabe im Rahmen der Reihe, die das Buch den Tatsachen entsprechend als “faktengefülltes Nachschlagewerk für speziell Interessierte” anpreist.

Oh ja, ein wenig norwegische Sprachkenntnisse sind von Vorteil, wobei das Norwegische Jazzarchiv auf seiner Website eine englischsprachige Zusammenfassung anbietet.

Wolfram Knauer (Oktober 2011)


 

in’n out. in-fusiones de jazz
herausgegeben von Julián Ruesga Bono
Sevilla 2010 (arte-facto)
277 Seiten,
ISBN: 978-84-614-5668-0

2010bonoJazz, schreibt Julián Ruesga Bono im Vorwort zu diesem Buch, bekam die Mischung der Kulturen quasi in die Wiege gelegt. Wer vom Jazz also Stilfundamentalismus verlange, habe die Musik nicht verstanden. Entsprechend sammelt er in fünf thematischen Kapiteln Essays über einige der Fusionen, die der Jazz nach seiner Gründung einging.

Luc Delannoy befasst sich mit den Annäherungen zwischen lateinamerikanischen Musikrichtungen und dem Jazz zwischen den afro-kubanischen Aufnahmen Dizzy Gillespies und heutigen Projekten, in denen sich Jazz mit Traditionen Lateinamerikas mischt. Luis Clemente beschreibt die Verbindung jazzmusikalischer Improvisation mit dem andalusischen Flamenco und nennt historische sowie aktuelle Beispiele. Daniel Varela beschäftigt sich mit der Fusion von Jazz und zeitgenössischer Musik, wobei er als Fallbeispiele auf Aufnahmen aus Deutschland, den Niederlanden, England und den USA zurückgreift. Norberto Cambiasso zeichnet die politische Bedeutung des Jazz der 60er und 70er Jahre in Europa nach, bei Exilamerikanern genauso wie im erstarkenden europäischen Jazz, verweist auf konkrete politische Bezüge genauso wie auf allgemeine ästhetische Statements. Santiago Tadeo deckt den Bereich der elektronischen Experimente im Jazz insbesondere der jüngsten Zeit ab, also all das, was unter dem Terminus “Nu-Jazz” gehandelt wird, blickt dabei aber auch auf die Vorgänger, die seit den 60er Jahren elektronische Instrumente in den Jazz integrierten.

Neben diesen konkreten Kapiteln zu verschiedenen Formen von Fusionen zwischen “Jazz und…” enthält das Buch noch einen Rundumschlag von Chema Martínez über den Jazz im Jahr 2010, in dem man allerdings wirklich jüngere Namen vergeblich sucht, sowie eine Übersicht über Studien zum Jazz in Spanisch sprechenden Ländern.

Er habe das Buch auch “Notizen zu einer anderen Geschichte des Jazz” nennen können, schreibt Bono in seinem Vorwort, und tatsächlich stoßen die einzelnen Kapitel Themenstränge zu einer Musik an, die mittlerweile eben nicht allein mehr eine afro-amerikanische ist, sondern seit langem ihr eigenes Leben in vielen Ländern außerhalb der USA führt. Die Kapitel stehen dabei manchmal etwas sehr bezugslos nebeneinander, aber das macht dann auch wieder den Charme des Buchs aus, das darin deutlich macht, wie wichtig es ist, all die Fäden, die hier nur angerissen werden, aufzunehmen und in ein Gesamtbild des Jazz als eines großen globalen Projektes zu weben.

Wolfram Knauer (Oktober 2011)


 

Louis Armstrong. The Soundtrack of The American Experience
von David Stricklin
Chicago 2010 (Ivan R. Dee)
182 Seiten, 15,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-56663-836-4

2010stricklinNoch eine Biographie des ersten wirklichen Stars des Jazz. David Striklin hat ein hübsches Büchlein vorgelegt, das Louis Armstrongs Leben beschreibt und daran entlang dessen afro-amerikanische Erfahrung herausstellen will. Und so gibt es in seinem Buch vor allem zwei Erzählstränge: den biographischen, der allseits bekannt ist und von ihm meist mit Verweisen auf die ebenfalls bekannten Armstrong-Biographen sowie Zitaten vom Trompeter selbst abgefeiert wird, sowie jenen, der von einer schwarzen Künstlerkarriere berichtet, die in Abhängigkeit vom weiß dominierten Markt gelebt wurde.

Stricklin beschreibt die Arbeitsumgebung erst in New Orleans, dann Chicago, dann New York, schließlich global. Er beschreibt die Entwicklung von einem jungen Trompeter, der froh war, mit seinen Mentoren spielen zu dürfen, hin zum eigenständigen Künstler, der sein eigener Herr war und seinerseits plötzlich überall Nachahmer fand. Er beschreibt Armstrong als freien und selbstbewussten Afro-Amerikaner, der weiße Hilfe durchaus annahm, auch immer wichtige weiße Geschäftspartner (bzw. Manager) hatte, sich selbst aber nicht die Butter vom Brot nehmen ließ.

Er beschreibt den Erfolg genauso wie die Schwierigkeiten, die Satchmo in den 1940er Jahren durchmachte, internationale Tourneen und seine Rückkehr nach New Orleans, das politische Bewusstsein des Trompeters und den populären Erfolg in den 1960ern. Das alles tut er in gut lesbaren Worten, aber nie mit allzu viel Konzentration auf das, was Armstrong eigentlich ausmachte, nämlich die Musik. Selbst im Schlusskapitel “The Recordings” kommt das Musikalische eher knapp und kaum aussagekräftig zu Wort, und so bleibt es bei vielen bekannten Fakten, neu sortiertem Atmosphärischem und einem wenig kritischen Literaturüberblick.

Für Einsteiger ist dieses Buch sicher kein Fehler; wer je ein anderes Armstrong-Buch gelesen hat, wird hier allerdings wenig Neues lernen.

Wolfram Knauer (Oktober 2011)


 

Blue Smoke. The Lost Dawn of New Zealand Popular Music 1918-1964
von Chris Bourke
Auckland 2010 (Auckland University Press)
382 Seiten, 59,59 New-Zealand-Dollar
ISBN: 978-1-86940-455-0

2010bourkeMan verliert als Europäer ja doch manchmal die Übersicht über die Welt. Hat man doch gerade erst akzeptiert, dass sich mit der Entdeckung Amerikas der Horizont gezwungenermaßen erweitert hat und dass in der Popmusik die Amerikaner das Zepter in der Hand halten, hat man darüber hinaus gerade erst selbstbewusst die amerikanische Musik sich angeeignet und nun eigene Wege innerhalb derselben gefunden und proklamiert, da stößt man darauf, dass selbst am anderen Ende der Welt, in Gegenden, die man auf der popmusikalischen Weltkarte gar nicht auf Schirm hatte, Jazz, Bluegrass, Country, Rock und Popmusik ihren Siegeszug antraten, und das alles etwa zur selben Zeit wie bei uns.

Die Bilder ähneln sich, wenn man das opulente großformatige Buch von Chris Bourke aufschlägt: Tanzkapellen, die in ODJB-Manier posieren, größere oder kleinere Swingorchester. Doch dann hält man inne: Gleich zwei Frauen sitzen in der Band von Walter Smith, eine am Banjo, eine am Klavier. An anderer Stelle sieht man ein Banjo-, Mandolinen- und Gitarrenorchester einschließlich eines selbstgebauten Bass-Banjos. Immer wieder Musiker mit Maori oder polynesischem Hintergrund.

Neuseeland, am anderen Ende der Welt, reagierte auf die Jazzmode durchaus zur selben Zeit wie Europa. Bourke beschränkt sich in seiner Darstellung nicht auf die Geschichte des Jazz in Neuseeland, sondern betrachtet den Jazz als Teil vieler anderer populärer und vor allem aus den USA stammender Musikströmungen, die das Land eroberten, und eines der Themen, die sich wie ein roter Faden durchs Buch ziehen, ist die Verbindung all dieser amerikanischen Musikgenres mit den Südseerhythmen der Ureinwohner oder der von Neuseeland abhängigen Inselstaaten der Region.

Viele der Namen, die in seinem Buch auftauchen sind uns Westlern wahrscheinlich fremd. Er nennt etwa den Gitarren- und Banjovirtuosen Walter Smith, den Perkussionisten Bob Adams oder den Saxophonisten Abe Romain, der 1930 nach England ging und dort 1932 in der Begleitband für Louis Armstrong mitwirkte. Er betrachtet die Bedeutung des Rundfunks für die Verbreitung moderner Rhythmen in Neuseeland und wirft einen Blick auf frühe Plattenproduktionen mit Musik der Maoris.

Die Tanzkapellen der 1930er Jahre professionalisieren die Szene, und neben Swing- und Sweetbands erwähnt Bourke für diese Zeit auch erstmals einen Countrysänger, Tex Morton, der sowohl in Neuseeland als auch Australien Furore machte und zwischen 1936 und 1943 an die 100 Titel einspielte.

Der II. Weltkrieg erreichte auch unsere Antipoden. Bourke druckt Reproduktionen einzelner Songtitel ab, die den Kampf der neuseeländischen Truppen unterstützen sollten, und er begleitet die Royal New Zealand Air Force Band auf ihren erfolgreichen inländischen Tourneen. 1942 landeten die ersten US-Amerikaner in neuseeländischen Häfen an und brachten ihre eigene Musik mit. Schwarze Amerikaner allerdings, schreibt Bourke, waren in Neuseeland zwar ab und an zu sehen, ihre Musik aber sei kaum gehört worden. Eine der amerikanischen Bands immerhin, die nach einer langen Tour durch den Pazifik in Auckland anlangte, wurde vom Klarinettisten Artie Shaw geleitet.

Für die direkte Nachkriegszeit beleuchtet Bourke die Monopolkämpfe der Plattenindustrie, beschreibt Vertriebswege und Verkaufsstrategien. Einschübe beleuchten etwa die Karriere des blinden Pianisten Julian Lee, der auf Anraten Frank Sinatras in die Vereinigten Staaten ging, dort Sessions mit Chet Baker und anderen spielte und Arrangements für Stan Kenton schrieb.

Ende der 1950er Jahre veränderte sich die Popmusikszene. Sängerinnen und männliche Vokalgruppen wurden beliebt, genauso pseudo-Hawaiianische Bands und Country-and-Western-Gruppen. Bourke hebt besonders die Sängerin Mavis Rivers hervor, die Pianistin Nancy Harrie und den Pianisten Crombie Murdoch. Die Fotos fangen an etwas lächerlich zu wirken, wenn man neuseeländische Musiker in Cowboyhut und mit Westerngürtel sieht, eine Pseudo-Folklore, die durchaus auch auf das ländliche Leben des eigenen Landes Bezug nehmen wollte. Zugleich eroberte auch die Rock ‘n’ Roll-Welle das Land mit Covers der Hits von Elvis Presley, Bill Haley und anderen.

Bourke lässt seine neuseeländische Popmusikgeschichte im Jahr 1964 enden, also mit dem Erfolg des Rock ‘n’ Roll. In seinem Vorwort schreibt er, er wäre gern eingehender auf regionale Szenen eingegangen, die aber glücklicherweise in lokal begrenzten Geschichtsdokumentationen abgedeckt seien. Sein Buch jedenfalls gibt einen exzellenten Einblick in ein – aus europäischer Sicht – sehr exotisches Kapitel der globalen Popmusikentwicklung.

Wolfram Knauer (September 2011)


 

Horst Lippmann. Ein Leben für Jazz, Blues und Rock
von Michael Rieth
Heidelberg 2010 (Palmyra Verlag)
230 Seiten, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-930378-79-1

2010riethZusammen mit seinem langjährigen Kompagnon Fritz Rau verkörperte Horst Lippmann den Siegeszug amerikanischer Musik im Nachkriegsdeutschland. Er spielte er Schlagzeug, organisierte im Restaurant seiner Eltern Jam Sessions, gab eigene Zeitschriften zum Jazz heraus, ermutigte die Gründung von Hot-Clubs und Hot-Club-Zusammenschlüssen zur Deutschen Jazzföderation, ermöglichte Konzerte und Festivalevents mit vielen deutschen Musikern und begleitete nicht zuletzt amerikanische Stars, die sich in seinen Händen so wohl fühlten, dass es sich bald herumsprach und Lippmann+Rau zur erfolgreichsten deutschen Konzertagentur zwischen Jazz, Blues, Rock und darüber hinaus wurde.

Jetzt hat Michael Rieth die Geschichte Horst Lippmanns niedergeschrieben und dabei versucht sich Lippmann als Geschäftsmann, als Jazz- und Musikfan und als Mensch zu nähern. Rieth weiß darum, wie wichtig Lippmanns oft nur im Hintergrund wahrgenommenen Aktivitäten für das deutsche Jazzleben waren, und immer wieder verweist er auf diese Bezugsstränge: Lippmanns Faszination mit der Musik, Lippmanns pragmatische Projektideen und -umsetzungen, der populären Erfolg dieser Projekte und die daraus resultierenden Veränderungen in Lippmanns Privat- und Geschäftsleben.

Gleich in seinem Vorwort erklärt Rieth, dass er, der Feuilletonist, der Literatur näher stünde als der biographischen Faktenhuberei. Und so liest sich sein Buch flüssig und spannend, weil er hinter den Lebensstationen, hinter den Begegnungen, hinter den musikalischen Begebenheiten, die Geschichten sucht, das Menschliche, das Lippmann dazu brachte dies oder jenes zu tun. So lässt Rieth die jugendliche Faszination Lippmanns durch den Jazz lebendig werden, stöbert in den “Jazz News”, die Lippmann ab Frühsommer 1945 (!) in hektographierter Form herausgab, fühlt das Entstehen einer lokalen Jazzszene nach, bei dem die Frankfurter Jazzer mindestens genauso wichtig waren wie die Möglichkeit für die Amerikaner und mit den Amerikanern zu spielen. Er zeichnet die Gründung des legendären Jazzkellers nach, aber auch die Sessions und Feiern “im Hause Lippmanns”, anfangs in Frankfurt, später im neu gebauten Eigenheim nahe des Flughafens. Olaf Hudtwalcker, Carlo Bohländer und Emil Mangelsdorff finden Erwähnung, und auch die Plattennachmittage, bei denen Lippmann und andere Vorträge über ihre liebsten Künstler oder neue Entwicklungen im Jazz vorbereiteten.

Familie Lippmann erhält noch schnell ein eigenes Kapitel, bevor Rieth vom Fan zum Geschäftsmann Lippmann schwenkt, der Sidney Bechet und Ted Heath nach Deutschland holte, Tourneen bekannter Jazzensembles für die Deutsche Jazzföderation durchführte, und, nachdem er sich während der Jazz at the Philharmonic-Tournee des Jahres 1952 als Organisationsgenie entpuppte, künftig sämtliche deutsche Tourneen für Norman Granz durchführte. Natürlich lässt Rieth Lippmanns langjährigen Geschäftspartner Fritz Rau zu Wort kommen, und er transkribiert Raus unnachahmlich dialektgefärbten Tonschlag, der so viel an Wärme und Freundschaft rüberbringt, die “nur” in Worten leicht verloren ginge. Rieth würdigt Lippmanns Einfluss sowohl auf die Gründung des Jazzensembles des Hessischen Rundfunks als auch einer eigenen Jazzredaktion beim hr oder seine Tätigkeit als Regisseur der SWR-Fernsehreihe “Jazz – gehört und gesehen”. Sein Engagement (und Kiesers Plakate!) beim Deutschen Jazz Festival ist genauso Thema wie das American Folk Blues Festival und dessen Einfluss auf die britische Rockmusik. Den Arbeitsalltag von Lippmann + Rau überlässt Rieth Lippmanns Kompagnon Rau, von dem ja erst kürzlich eine eigene Biographie voller Geschichten und Erlebnisse erschien.

Einige Stationen in Lippmanns so überaus aktivem Leben vernachlässigt Rieth in seinem Buch, etwa die Produktionen, die er in den 1960er Jahren für das Label Columbia machte und mit denen er dem deutschen modernen Jazz eine Plattform geben wollte. Solche und andere Details aber werden in anderen Bücher abgehandelt, etwa in Jürgen Schwabs opulentem “Der Frankfurt Sound”. Michael Rieth gelingt in seiner Biographie vor allem eines: den Menschen Horst Lippmann in seiner ganzen Faszination durch und Begeisterung für den Jazz darzustellen, die letzten Endes Beweggrund auch für all seine geschäftlichen Entscheidungen war. Es ist ein lesenswertes Buch geworden, schnell verschlungen, weil Rieth Anekdoten mit Reflexionen mischt, und weil seine Sprache sich nun mal “gut liest”. Es ist eine liebevolle und gelungene Verneigung vor diesem großen deutschen Impresario und mehr noch vor dem großartigen Jazzfreund Horst Lippmann.

Wolfram Knauer (September 2011)


 

Das Blaue Wunder. Blues aus deutschen Landen.
Herausgegeben von Winfried Siebers und Uwe Zagratzki
Eutin 2010 (Lumpeter & Lasel)
540 Seiten, 27,80 Euro
ISBN 9788-3-9812961-5-0

2010siebersMan merkt den Herausgebern den guten Willen an, eine tiefgehende, vielschichtige Analyse des Status quo des Blues in Deutschland zu liefern. Ausdrücklich wollen sie sich nicht am weit verbreiteten Abgesang auf den Blues beteiligen, sondern vielmehr seine Vielfalt in “regionalen Formen und heterogenen Nischen” dokumentieren. Allein es fehlen den beteiligten Autoren hier und da die zündenden Ideen dieses umzusetzen.

Die Vorgaben der Herausgeber sind offensichtlich und sinnvoll, das erahnt man bereits an den Überschriften der einzelnen Buchteile: “Musiker und Zuhörer“, “Markt und Medien“, “Regionen und Orte“, “Geschichte und Geschichten“ in die das Buch gegliedert ist. Dass fast durchgehend in allen Kapiteln im Wesentlichen “Geschichtchen“ ausgebreitet werden, kann man den Autoren nicht wirklich zum Vorwurf machen. Es wimmelt im Blues ja nur so von Individualisten und Eigenbrödlern.

Heraus gekommen ist dadurch ein buntes und vielfältiges Panoptikum deutscher Bluesgeschichte von Nord nach Süd und von Ost nach West. Von den unterschiedlichen Arbeitbedingungen und Perspektiven derer, die auf der Bühne, bei den Labels, im Radio oder als Veranstalter den Blues haben, erfährt man so einiges. Vieles davon lässt Schlussfolgerungen über den Zustand des Blues in der deutschen Gegenwart zu.

So befasst sich Mit-Herausgeber Winfried Siebers analytisch in seinem Beitrag mit deutschsprachigen Blueszeitschriften. Dass er sich dabei ausschließlich mit den der siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts beschäftigt, mag man allerdings wiederum fast als symptomatisch für das ganze Buch betrachten: Viele der beschriebenen Szenarien verharren in der Vergangenheit, meist in den für den Blues in Deutschland glorreichen 70ies und 80ies. Die Gegenwart kommt dabei mancherorts zu kurz, nicht nur in diesem Beitrag.

Wer sich gerne in unterhalsame Schilderungen der Highlights lokaler Szenen hineinlesen mag, für den ist dieses Buch eine gelungene Bett- oder Urlaubslektüre. Und die humorvoll-ironischen Anekdoten, die der Kabarettist und Schriftsteller Thomas C. Breuer in “Das Blaue Wunder“ am Ende eines jeden Buchabschnitts beisteuert, sorgen allemal dafür, dass man nach dem ein oder anderen zugegebenermaßen etwas schwerfälligen Beitrag nicht allzu schnell wegschlummert.

Arndt Weidler (Dezember 2011)


 

Da den moderne dansemusik kom til Danmark
von Erik Moseholm
Hellerup 2010 (Erik Moseholm Forlag)
247 Seiten, 2 CDs mit 85 Titeln
ISBN: 978-87-993793-0-9

2010moseholmDer dänische Kritiker und Musikwissenschaftler Erik Wiedemann veröffentlichte 1982 die Früchte jahrzehntelange Arbeit über den Jazz in Dänemark. Jetzt legt der renommierte dänische Kontrabassist, Komponist und Jazzpädagoge Erik Moseholm ein Buch, das einmal einen ganz anderen Blick auf die europäische Jazzrezeption zu Beginn des 20sten Jahrhunderts wirft und nämlich fragt, “wie die moderne Tanzmusik nach Dänemark kam”. Ganz bewusst also spricht er im Titel nicht von Jazz, sondern von Tanzmusik. Sein Buch ist eine Kulturgeschichte der musikalischen Akkulturation, des amerikanischen Einflusses, der Skepsis, dass mit Ragtime, Cakewalk und Co die Werte dänischer Kultur zugrunde gehen könnten, aber auch der Faszination mit einer fremden Kultur und zaghaften Versuchen, sie für eigene Zwecke nutzbar zu machen, etwa indem man den tanzbaren Rhythmen dänische Texte unterlegte. Vor allem aber ist sein Buch eine Dokumentation des Verständnisses von Jazz als einer Musik, zu der man tanzen sollte, als einer Musik, bei der das Tanzen im Vordergrund steht.

Moseholm beginnt mit einem Blick auf die europäische Tanzkultur um 1900. Er nennt afro-amerikanische Musiker und Tänzer, die noch weit vor dem Jazz auch in Dänemark auftraten, Sängerinnen und Minstrel-Acts. Er erkennt, dass der Ragtime und der Cakewalk als eine Art exotischer Modetanz nach Europa und damit auch nach Dänemark kamen und zeigt zeitgenössische Karikaturen von Festen mit “Kakedans”, wie der Cakewalk auf Dänisch hieß. Auch das Kapitel “Onestep, Vrikkedans, Twostep og Klapstep” beschäftigt sich mit afro-amerikanischer Musik als Tanzphänomen, beleuchtet diverse Modetänze der Zeit vor 1920, die meist amerikanische Namen trugen.

1919 wurde in Dänemark erstmals der Jazz als ein neues musikalisches Phänomen aus den Vereinigten Staaten thematisiert. Die Original Dixieland Jazz Band und Paul Whiteman waren die Bandbreite, in der Jazz in jenen Jahren rezipiert wurde, also kaum als schwarze Musik, auch wenn der afro-amerikanische Ursprung all der jüngsten musikalischen Entwicklungen durchaus bewusst war. Mosehol erwähnt dänische Musiker, die sich mit der neuen Tanzmusik aus Amerika beschäftigten. Henrik Clausen, Valdemar Eiberg, Emil Reesen und andere Namen fallen, und Moseholm wirft auch einen Blick auf seltsam anmutende Besetzungen wie etwa die Banjo-überladene Kapelle von Marius Hansen. Überhaupt sind Banjo und Saxophon (und vielleicht noch das Schlagzeugset) die am meisten wahrgenommenen und herausgestellten Instrumente dieser neuen Musik.

Doch die Musik an und für sich spielt in diesem Buch tatsächlich eher eine Nebenrolle, das sich vor allem mit dem Phänomen der Tanzmusik beschäftigt und dabei das Tanzen und das Musikmachen “zum Tanzen” in den Vordergrund rückt. Moseholm tut gut daran, auf dieser Tatsache ein wenig herumzureiten, wurde doch der Jazz tatsächlich bis weit in die 1920er Jahre hinein mindestens genauso sehr als Tanz denn als Musik wahrgenommen. Die ersten Bücher über Jazz beschrieben das den Tanz mindestens genauso ausführlich wie die Musik, zu der da getanzt wurde. Erst aus der Rückschau wurde aus dem jazz selbst dieser frühen Jahre eine reine Hörmusik. Doch wer die Rezeption des frühen Jazz in Europa ohne seine enge Verbindung zum Tanz betrachtet, missversteht die Umgebung, in der diese Musik hier gepflegt wurde.

Zwischendurch immerhin wirft Moseholm auch den einen oder anderen Blick auf die Orchesterleiter und Bands, die für die Tanzmusik jener Jahre in Dänemark verantwortlich waren, beleuchtet die Arbeit des Staatlichen Radiosinfonieorchesters, nennt Otto Lington, Teddy Petersen, Kaj Julian Olsen, Erik Tuxen, Kai Ewans, Louis Preil und andere. Für die 1930er Jahre reflektiert er noch kurz über die aufkommende Jitterbug-Mode und listet in einem abschließenden Kapitel Modetänze auf, sortiert nach den Jahren, in denen sie in Dänemark eingeführt wurden. In den 1950er Jahren sei das Phänomen des Jazz als Tanzmusik weitestgehend Geschichte, schreibt Moseholm; Jazz sei vor allem Konzertmusik geworden und seine Funktion als Tanzmusik sei nun von anderen Genres übernommen worden.

In einem Appendix zum Buch findet sich etwas unvermittelt zum Rest des Buchs dann noch eine ausführliche biographische Skizze des Schlagzeugers Allan Rasmussen, der in der dänischen Jazzszene der Nachkriegszeit aktiv war.

Dem Buch sind zwei CDs beigefügt, die insgesamt 85 Titel enthalten, eingespielt zwischen 1909 und 1944.

Der Jazzbassist Erik Moseholm wirft mit seinem Buch einen erfrischend “anderen Blick” auf die Rezeption afro-amerikanischer Musik in Europa, einen Blick auf die in den meisten Jazzgeschichtsbüchern oft vernachlässigte Funktion dieser Musik. Sein Buch ist damit vor allem als sinnvolle Ergänzung der zu Beginn erwähnten Jazzgeschichte von Erik Wiedemann zu lesen.

Wolfram Knauer (September 2011)


 

Historia Jazzu w Polsce
von Krystian Brodacki
Krakau 2010 (PWM Edition)
626 Seiten
ISBN
978-83-224-0917-6

2010brodackiUnter den europäischen Jazzgeschichten ist die polnische die vielleicht konnotationsbelastete. Überall im Osten stand der Jazz für Freiheit, war ein Fenster in den Westen, ein Symbol für eine andere Art von Demokratie, für Individualität und Eigenständigkeit. In Polen aber schufen Jazzmusiker Freiräume, die weit über den Jazz hinausreichten. Kristian Brodackis Buch erzählt die Geschichte des Jazz in Polen von den 1920er Jahren bis heute, und ein Subtext seines Buches ist neben den biographischen Stationen der erwähnten Musiker immer, wie diese Musik sich in einem System durchsetzen konnte, das dem Jazz eigentlich eher suspekt gegenüberstand. Die ersten Jahre bis Kriegsende füllen die ersten 100 Seiten und handeln von Ady Rosner und von Strategien in angespanntester Lage, jene faszinierende amerikanische Musik zu machen, zu hören und dazu zu tanzen. Dann geht Brodacki chronologisch in Fünfjahresschritten vor, beleuchtet einzelne Biographien, lokale Szenen und die um die Jazzszene langsam entstehenden Netzwerke, Clubs und Zeitschriften. International bekannte Musiker wie Krzysztof Komeda oder Tomasz Stanko werden ausführlich gewürdigt, aber allein beim Durchblicken des Namensindex merkt man schnell, dass es Brodacki auf Vollständigkeit ankam. Die macht die Lektüre denn auch stellenweise etwas anstrengend, wenn sie über lange Strecken Namensketten bildet, aber weniger über die Besonderheit des betreffenden Individualstils aussagt. Solche musikalischen Chatakterisierungen überlässt Brodacki vor allem Musikerzitaten, die er immer wieder in seinen Text einfließen lässt. Brodackis Werk ist auf jeden Fall ein wichtiger Stein auf dem Weg zu einer immer noch nicht vollendeten europäischen Jazzgeschichte, die die vielen nationalen Geschichten dieser Musik zusammenfasst und miteinander verwebt.

Wolfram Knauer (August 2011)


 

The Jazz Loft Project. Photographs and Tapes of W. Eugene Smith from 821 Sixth Avenue, 1957-1965
von Sam Stephenson
New York 2010 (Alfred A. Knopf)
268 Seiten, 40,00 US-Dollar
ISBN: 978-0-307-26709-2

2010stephensonEs ist eine skurile Geschichte, die Anlass dieses Buchs ist: Der Fotograf W. Eugene Smith, der einen gut bezahlten Job bei der Illustrierten “Life” hatte, zog 1957 in ein heruntergekommenes Gebäude auf der Sixth Avenue zwischen 28ster und 29ster Straße. Er begann das Treiben auf der Straße im New Yorker Blumenviertel zu dokumentieren, aber auch das nächtliche Treiben im Haus selbst, in dem neben ihm der Fotograf David X. Young lebte, aber auch die Jazzmusiker Hall Overton und Dick Cary. Das Gebäude wurde bald zu einem der heißesten Jam-Session und Probenorte der Stadt, und Smith, der wie ein Besessener seine Umwelt mit der Kamera dokumentierte, begann auch die Klänge mitzuschneiden, indem er das ganze Gebäude mit Mikrofonen überzog und aufnahm, was immer sich im Gebäude tat. Im Nachlass des Fotografen fanden sich so etwa 40.000 Bilder, die er zwischen 1957 und 1965 im oder um das Gebäude herum aufgenommen hatte sowie 1.740 Tonbänder (also 4.000 Stunden) mit Musik, Gesprächen, Telefonaten, Rundfunksendungen und vielem mehr – eine Komplett-Dokumentation von Zeitgeschichte, vergleichbar vielleicht den Dean-Benedetti-Mitschnitten Charlie Parkers, die vor einigen Jahren auf dem Mosaic-Label veröffentlicht wurden, nur noch viel verrückter und umfassender.

Das Buch “The Jazz Loft Project” erzählt die Geschichte des Hauses 821 Sixth Avenue und seiner Bewohner, festgehalten durch die Bilder und Tonbänder W. Eugene Smiths und untermauert durch Interviews mit Zeitzeugen. Die Bilder zeigen Musiker wie Thelonious Monk, der sich im Haus regelmäßig mit Hall Overton traf, um sein Town-Hall-Konzert vorzubereiten und mit der Bigband dort zu proben, Zoot Sims, Buck Clayton, Dave McKenna, Bud Freeman, Wingy Manone, Gus Johnson, Jimmy Giuffre, Bob Brookmeyer, Jim Hall, Ronnie Free und viele andere, bei Sessions oder in Gesprächen. Viele der exzellenten Fotos aber haben gar keinen Jazzgehalt, sondern zeigen einfach Szenen von der Straße, Blumenlieferungen für den Floristen gegenüber, einen Tortenbäcker, aus Autos ein- und aussteigende Menschen, Spaziergänger im Schnee, einen Unfall, Norman Mailer, Salvador Dali, einen Polizisten, eine Frau mit Kinderwagen. Dazwischengeschaltet, mit Datum versehen Transkripte aus den Bändern, Dialoge zwischen Musikern, Gesprächsfetzen, den Hörtrack zu Sonny Clark, wie er sich Heroin spritzt und langsam high wird und seine Freunde sich Sorgen machen, ob alles in Ordnung ist. Monk und Overton unterhalten sich über das bevorstehende Konzert. Roland Kirk spricht mit Jay Cameron, Alice Coltrane und Smith diskutieren darüber, ob es wohl rechtlich und ethisch in Ordnung sei, all die Musik im Loft aufzunehmen. Zwischendrin bunte Abbildungen der Tonband-Cover und ihrer Beschriftungen, der Leihhausquittungen für Kameras, die Smith kurzzeitig weggab, um Geld locker zu machen. Zoot Sims erzählt von einem Club, in dem er für Striptease-Tänzerinnen spielte. Eine Frau wühlt in ihrer Handtasche. Ein Mann fegt Blumen von der Straße auf. Zufällige Szenen und doch nicht zufällig, herausgegriffen aus acht Jahren Fotos und Tonbändern, dem Blick aus dem Haus, in das Haus auf der Sixth Avenue.

Ein Buch für Voyeure, meint man stellenweise, und doch mit so viel Gespür und sorgfältigen liebevollen Kommentaren ediert, dass die Frage, “Darf der das überhaupt?!” nicht wirklich aufkommt. Ein wunderbares Buch, das in der Unaufgeregtheit, der Dokumentation des Belanglosen die Zeit genauso zurechtrückt wie es sie verklärt. Für Fotoliebhaber, für Jazzfans, für jeden, für Historiker der Beats. Ein erstaunliches Dokument der Zeitgeschichte, begleitet von einer Website (www.jazzloftproject.org), auf der man in einige der Bänder hineinhören kann und dass außerdem eine Rundfunkdokumentation über das Jazz Loft Project verlinkt.

Wolfram Knauer (Juli 2011)


 

Monument Eternal. The Music of Alice Coltrane
von Franya J. Berkman
Middletown/CT 2010 (Wesleyan University Press)
132 Seiten, 27,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8195-6925-7

2010berkmanNicht nur in der klassischen Musik hat das Schicksal einige Musikerinnen um ihren Ruhm gebracht, weil sie mit Männern verheiratet waren, deren Glanz sie so stark überstrahlte, dass ihre eigene Kreativität kaum mehr wahrgenommen oder wertgeschätzt wurde. Was für Clara Schumann, Fanny Mendelssohn und andere gilt, das findet im Jazz quasi in Alice Coltrane eine Entsprechung. Die Musikwissenschaftlerin Franya J. Berkman hat sich nun daran gemacht, Alice Coltrane aus der Versenkung zu befreien, in die die Jazzgeschichte sie hat fallen lassen, würdigt in ihrer aus einer Dissertation hervorgegangenen Studie die Eigenständigkeit der Musik, die Alice Coltrane seit den frühen 1960er Jahren hervorgebracht hat und die den Jazz als klar abgegrenztes Genre weit transzendiert. Die Jahre nach dem Tod ihres Mannes verbrachte Swamimi Turiyasanitananada, wie Alice Coltrane in ihrem Vedanic Center in Kalifornien genannt wurde, mit der Erforschung einer Verbindung afro-amerikanischer Wurzeln und südasiatischer Musizierpraktiken. Dabei liegt dem lebenslangen Wirken der Pianistin, Harfenistin und Komponistin eine spirituelle Grundhaltung zugrunde, die aus familiärer Spiritualität stammt und die sie als religiöse Sucherin bis zuletzt hochhielt. Die Untersuchung von Spiritualität in der Musik der 1960er und 1970er Jahre aber, weiß Berkman, hat immer auch hoch-politische Gehalt, so dass sie neben der Geschichte der Musikerin und ihrer spirituellen Entwicklung immer auch die Einbettung dieser Entwicklung in die politische Lage der USA in jenen Jahren zu betrachten hat.

Berkman beginnt mit biographischen Notizen: Geboren in Detroit nahm Alice McLeod mit sieben Jahren Klavierunterricht und spielte bald in der Baptistengemeinde, der ihre Familie angehörte. Berkman beschreibt die Musik- und insbesondere die lebendige Jazzszene Detroits in den 1940er und 1950er Jahren und das Modern-Jazz-Network, das sich dort bald zwischen vielen später namhaften Musikern herauskristallisierte. Alices älterer Halbbruder Ernest Farrow war ein angesehener Kontrabassist auf der Detroiter Jazzszene und der Pianist Barry Harris, der fast Alices Halbschwester geheiratet hätte, waren wichtige Lehrer für die Pianistin. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre spielte Alice mit den Premieres, einem “Lounge Act”, der Gospel und Rhythm ‘n’ Blues jener Jahre mischte. 1960 verbrachte zusammen mit ihrem ersten Mann, dem Bebop-Sänger Kenny Hagood, ein Jahr in Paris, wo sie Bud Powell traf, der für sie ein weiterer wichtiger musikalischer Mentor werden sollte. Zurück in den USA (inzwischen geschieden und mit einem ersten Kind) trat Alice mit eigener Band in Detroit auf, der unter anderem der Saxophonist Bennie Maupin angehörte. Während ihrer Pariser Zeit hatte sie John Coltrane ein erstes Mal gehört, als dieser mit Miles Davis dort auftrat. 1962 spielte Coltrane mit eigener Band in Detroit und Alice war hingerissen davon, wie weit er die musikalische Sprache des Bebop vorangebracht hatte. Alice tourte mit der Band des Vibraphonisten Terry Gibbs, mit dem sie 1963 ihre ersten Aufnahmen machte. Berkman analysiert einige ihrer Soli und zeigt dabei die Einflüsse von Harris und Powell, zeigt zugleich, dass Alice McLeod hier schon lange keine Novizin mehr war, sondern eine gereifte Musikerin.

Terry Gibbs’ Band spielte im Sommer 1963 als Vorgruppe für John Coltranes Quartett, und bald waren die beiden erst ein Liebes-, dann ein Ehepaar. Im Februar 1966 machte Alice ihre ersten Aufnahmen mit John Coltrane, und der Einfluss, den ihr Mann auf ihre musikalische Sprache hatte, ging wohl durchaus auch in die andere Richtung: Sie beide entwickelten ihre musikalische genauso wie ihre familiäre und ihre spirituelle Seite nunmehr gemeinsam weiter. Berkman nähert sich all diesen Aspekten und verortet das Interesse der beiden an einer Art universeller Spiritualität auch in der politischen Situation der 1960er Jahre. Coltrane, konstatiert sie, habe in Alice die musikalische Suche geweckt – zuvor sei sie doch recht konventionell in ihren ästhetischen Vorstellungen gewesen. Ihr Mann habe ihr vor allem durch die Praxis des Zusammenspiels neue Wege gewiesen, sagt Alice, nicht etwa durch technische Erklärungen. Vor diesem Hintergrund analysiert Berkman “Manifestation”, einen Mitschnitt der John Coltrane Band, der erst 1995 veröffentlicht wurde.

Nach dem Tod ihres Mannes musste Alice Coltrane sein musikalisches, spirituelles und familiäres Erbe weitertragen. Berkman spielt einen Moment lang die Psychoanalytikerin und diagnostiziert eine schwere Depression, ausgelöst durch den Verlust des Saxophonisten. Ihre ersten Alben nach Coltranes Tod fanden zwar nicht den größten kritischen Zuspruch, zeigten aber, wie Berkman schreibt, eine sich entwickelnde Komponistin, die mit neuen Timbres und Instrumentierungen experimentiert, mit der Beziehung zwischen Struktur und Freiheit und dem Potential einer ruhigeren Dynamik. Berkman analysiert die ersten Alben der frühen 1970er Jahre, insbesondere “Universal Consciousness” von 1971 und beschreibt den Einfluss ihres indischen Gurus auf ihre Arbeit. 1976 hatte Alice eine Erweckungserfahrung, aufgrund derer sie die orange Kluft eines spirituellen Führers der Hindu-Tradition aufnahm und einen Ashram gründete. Berkman beschreibt die Hymnen, die jetzt Teil eines spirituellen Rituals wurden und dabei den Zirkelschluss einer Entwicklung von religiösem Erwachen bis religiöser Erweckung bilden.

Berkmans Buch ist aus einer Dissertation entstanden, dennoch über weite Strecken flüssig zu lesen, da die Autorin sich an der Biographie genauso wie den Aufnahmen von Alice Coltrane entlang hangelt. Stellenweise würde man sich eine etwas ausführlichere Diskussion spiritueller Tendenzen in der afro-amerikanischen Community ihrer Zeit wünschen, um John und Alice Coltranes Entwicklung besser einpassen zu können. Das aber war nicht die von der Autorin selbst gestellte Aufgabe, und so liefert “Monument Eternal” einen mehr als brauchbaren Einblick in Leben und Werk einer von der Jazzgeschichte zu Unrecht links liegen gelassenen Künstlerin.

Wolfram Knauer (Juli 2011)


 

Kurt Henkels. Eine Musiker-Biographie mit ausführlicher Diskographie
von Gerhard Conrad
Hildesheim 2010 (Olms)
252 Seiten, 19,80 Euro
ISBN: 978-3-487-08499-2

2010conradKurt Henkels war einer der erfolgreichsten deutschen Bandleader, der in der DDR als Leiter des Rundfunk-Tanzorchesters gekonnt Swing und Schlager miteinander verband, 1959 dann die DDR verließ und in Westdeutschland erst beim, NDR, und später kurze Zeit beim ZDF ein Orchester leitete. Henkels wäre im Jahr 2010 hundert Jahre alt geworden; aus Anlass des Jubiläums widmet Gerhard Conrad ihm eine Biographie. Conrad ist einer der kenntnisreichsten Experten zum frühem Jazz und zur Tanzmusik in Deutschland, und er kann für sein Buch auf eigene Recherchen, vor allem aber auch auf Gespräche mit vielen Zeitgenossen des Bandleaders, ja sogar mit Henkels selbst zurückgreifen.

Sein Buch ist vollgefüllt mit Fakten, Details und Geschichten, vermittelt dabei über die Daten eines Lebens und musikalischen Wirkens hinaus auch viel über die Lebenswirklichkeit eines Musikers zwischen Jazz und Unterhaltungsmusik, eines Musikers, der seine Liebe, die swingende Musik, auch in einem Land hochhalten wollte, in dem der Jazz als Musik des Klassenfeind galt. Conrad unterscheidet dabei meist klar zwischen Jazz und Tanzmusik, ohne diese Unterscheidung zu einer Wertung werden zu lassen. Und immer wieder beschreibt er knapp, aber kenntnisreich einzelne Aufnahmen Henkels.

Das Buch wird abgerundet durch eine ausführliche Diskographie der Aufnahmen Kurt Henkels von 1948 bis 1965. Conrad beleuchtet mit seiner Biographie Henkels scheinbar nur ein Randkapitel deutscher Jazzgeschichte, schildert dabei aber zugleich viel von der Lebenswirklichkeit, mit der auch Jazzmusiker sich immer wieder auseinanderzusetzen hatten.

Wolfram Knauer (März 2011)


 

Blues In My Eyes. Jazzfotografien aus sechs Jahrzehnten
Weitra (Österreich) 2010 (Bibliothek der Provinz)
204 Seiten, 39 Euro
ISBN: 978-3-85252-603-4

2010kohnDer Bamberger Fotograf Werner Kohn ist seit den späten 1950er Jahren mit der Kamera unterwegs und dokumentiert seit 1959 regelmäßig auch Konzerte mit Jazz- oder Blueskünstlern. Nun ist ein opulenter Bildband erschienen, in dem fast 200 seiner Fotos zu sehen sind, schwarzweiß oder Farbe, meist auf der Bühne und bei der Arbeit. Das Buch heißt “Jazzfotografien”, daneben aber sind auch Blues- und Rockmusiker zu sehen, in Aufnahmen von 1959 bis 2004 (also aus eigentlich fünf statt sechs Jahrzehnten). Die Armstrong All Stars machen den Anfang, Ella, Ellington, Monk, Coltrane, Doldinger und viele andere. Es sind teils witzige, teils spannende Fotos, etwa von Bertice Reading in einem genialen Sackkleid von 1961, Jimmy Rushing schräg von oben mit Hut, Champion Jack Dupree tanzend, Prince und die Beatles, Miles Davis, Gunter Hampel, Herb Geller. Die meisten der Fotos sind Bühnenportraits, zeigen die Musiker bei der Arbeit am Instrument, vermitteln Intensität, Konzentration oder auch relaxtes Swingen. Viele der Fotos, gerade auch von unbekannteren Musikern, scheinen einen Einblick in die tatsächliche Arbeitswelt der Musiker zu geben; andere Fotos sind wohl vor allem der historischen Bedeutung wegen in die Sammlung aufgenommen worden. Auch unter den farbigen Portraits immerhin gibt es einige exzellente Bilder, das von Pharoah Sanders etwa, oder vom schweißüberströmten Maceo Parker, und auch auf den ersten Blick unscharfe Bilder können durchaus eine bewegende künstlerische Aussage besitzen, etwa das Bild vom träumerisch spielenden Woody Allen an der Klarinette.

Gewiss zeigen einige Bilder fotografische Schwächen, sind leicht unscharf, sehr pixelig oder haben kaum Tiefenschärfe. So passiert es, dass etwa das Gesicht von Margie Evans zu einem flachen orangenen Mond zu werden scheint oder die Silhouetten von Harry Belafonte und Dianne (nicht “Diana!”!) Reeves wie platte Scherenschnitte vor einen schwarzen Hintergrund geklebt wirken. An diesen Stellen hätte man sich einen kritischeren Bildlektor gewünscht. Einige dieser Fotos haben sicher dokumentarischem Wert, doch bedarf dieser dann auch der Erklärung. Von daher man meint im Vorwort von Rolf Sachsse ein gewisses Augenzwinkern mitzulesen, wenn dieser anmerkt, dass sich Kohn “beim Jazz an William P. Gottlieb, Herman Leonard und William Claxton messen lassen” muss. Diese Messlatte ist ziemlich hoch, und Gottlieb, Claxton und Leonard hatten meistens eine editorische Begleitung, die ähnliche Ausrutscher zumindest erklärten. Nichtsdestotrozu schafft es Werner Kohn, uns mitzunehmen in die Konzerte und leiht uns für den Augenblick des Kameraklicks seine Augen, seine Sicht auf den Jazz.

Wolfram Knauer (März 2011)


 

Der zornige Baron. Das Prinzip Diskontinuität im Leben und konzept-kompositorischen Schaffen des Charles Mingus jr.
von Hans-Joachim Heßler
Duisburg 2010 (United Dictions of Music)
589 Seiten, 29,80 Euro
ISBN: 978-3-942677-00-4

2010hensslerDer Titel des Buches sagt bereits einiges über seinen Inhalt aus: Ein etwas reißerisch wirkender Ober- und ein wissenschaftlich komplexer Untertitel. “Der zornige Baron” steht als Metapher für die Persönlichkeit von Charles Mingus, die sich in seiner Musik widerspiegelt und biographische wie gesellschaftliche Unzufriedenheit abbildet. “Das Prinzip Diskontinuität im Leben und konzept-kompositorischen Schaffen des Charles Mingus jr.” steht für die wissenschaftliche Reflektion über Persönlichkeit und Musik. Ein Spagat also zwischen dem Begreifen und Beschreiben des enorm emotionalen Ausdrucks der Musik des Kontrabassisten und Bandleaders und ihrer Verwurzelung in Lebens- und Gesellschaftserfahrungen sowie der Analyse und Einordnung nach unterschiedlichen wissenschaftlichen Kriterien.

Heßlers Einleitung verweist dabei gleich auf seinen interdisziplinären Ansatz, der vor allem musiksoziologische, sozialpsychologische und musikanalytische Herangehensweisen miteinander verbinden will. Einer der roten Fäden, die sich durch seine Arbeit ziehen, ist dabei die stilistische Vielfältigkeit, der sich Mingus in seiner Arbeit bedient und die ihn Heßler “im Kontext des Idealtypus einer musikalischen Postmoderne” analysieren lässt – bereits hier ein Verweis auf die im Untertitel der Arbeit apostrophierte “Diskontinuität”. Ein zweiter roter Faden ist der Einfluss von Hautfarbe und tatsächlichem oder gefühltem Rassismus auf Mingus’ Werk und Ästhetik. Der problematischste der präsentierten Ansätze scheint auf den ersten Blick jener der sozialpsychologischen Methodik zu sein, innerhalb dessen Heßler die These aufstellt: “Im Verlauf seiner Sozialisation fühlte sich Charles Mingus jr. verschiedenen kulturellen Systemen zugehörig: dem weißen, dem mulattischen und dem schwarzen”, um dann aus den “unterschiedlichen sozialen Rollen, die er dabei einzunehmen hatte” seine “diskontinuierliche Persönlichkeitsstruktur und letztendlich [das] strukturbildende Merkmal der Diskontinuität in seiner Musik” abzuleiten (S. 64). Im folgenden dann bemüht Heßler Freud, Lacan und andere Psychoanalytiker, Philosophen und Soziologen, um Mingus’ Persönlichkeit aus seiner Familie, der sozialen Spannung seines Aufwachsens heraus zu erklären.

Das Kapitel über Mingus’ Sozialisation in Kindheit und Jugend beginnt Heßler mit einem Verweis auf die biologische Anthropologie bedient und spricht dabei – zugegeben: in Vorbereitung auf eine komplexere Betrachtungsweise – von “drei unterschiedlichen Erscheinungsformen (Rassen)” (S. 87), die Charles Mingus in sich vereinige. Im Wissen darum, worum es Heßler dabei tatsächlich geht, fühlte sich der Rezensent hier und in der folgenden Auseinandersetzung mit Mingus’ eigener Identitätskrise als Afro-Amerikaner doch etwas unwohl bei der Verwendung Hautfarbe beschreibender Termini. Es mag dies vielleicht mehr ein begriffliches als ein inhaltliches Problem sein: Im Deutschen jedenfalls sind Begriffe wie “Rasse”, “Mulatte” etc. nun mal belastet. Vielleicht wäre es hilfreicher, hier mit den englischen Originalbegriffen zu operieren, also “race”, “mulatto”, um dadurch den Unterschied der Konnotationen im Englischen und im Deutschen in den Terminus mit einzubeziehen. Überhaupt aber wäre es dem Thema angemessen (und dem Leser durchaus zuzumuten), die Quellen (etwa aus “Beneath the Underdog”) im englischen Original zu präsentieren statt in deutschen Übersetzungen oder das englische Original zumindest in Fußnoten zu zitieren.

Solche kritischen Anmerkungen beziehen sich allerdings eher auf Marginalien ins Heßlers Argumentation. Seine ausführlichen Darstellung von Mingus’ Biographie und deren Einfluss auf seine ästhetischen Haltungen macht letzten Endes sehr klar deutlich, dass Mingus vor allem ein soziales Identitätsproblem besaß, mit dem er sich in einer durch die Bedeutung von Hautfarbe dominierten Gesellschaft keiner der ihn umgebenden Gruppen richtig zugehörig fühlte. Seine Analysen von Aufnahmen des Komponisten beschreiben Klangeindrücke und Strukturabläufe, greifen charakteristische Details heraus und bieten auch schon mal interessante Vergleiche, etwa wenn er Mingus’ “The Chill of Death” Richard Strauß’ “Tod und Verklärung” gegenüberstellt. Gerade in Bezug auf diese Komposition wäre darüber hinaus eine Diskussion der Einordnung des Mingus’schen Schaffens in den Third-Stream-Diskurs der 50er Jahre interessant, an dem Mingus ja durchaus aktiv teilnahm.

Ein eigenes Kapitel widmet Heßler den musikalischen Einflüssen etwa durch Jelly Roll Morton, Art Tatum, Louis Armstrong, Lionel Hampton, Charlie Parker und Red Norvo. Er analysiert Übernahmen und Annäherungen an Mortons Stil, sowohl was den Ragtime als auch den Einfluss lateinamerikanischer Musik anbelangt. Er entdeckt den harmonischen Einfluss Tatums vor allem auf die kompositorische Sprache des Bassisten. Er benennt die klare Aussage durch improvisatorische Mittel, aber auch die New-Orleans-spezifischen Besetzungsdetails als Aspekte, die Mingus von Armstrong übernommen habe. Bei Hampton habe er sein Solotalent entdeckt (etwa in “Mingus Fingers”). Parker habe nicht nur neue musikalische Möglichkeiten aufgezeigt, sondern die Musik auch ins Politische hinein geöffnet; er habe ihm außerdem das Verständnis von Musik als Sprache vermittelt. Norvo habe kammermusikalische Klangkombinationen erforscht, die Mingus in späteren Bands auf andere Art und Weise fortführen sollte.

Eine ganz andere Herangehensweise an Mingus’ Musik versucht Heßler, indem er Studierende der Universität Dortmund einer Befragung zum Gesamteindruck über Stücke von Mingus, Frank Zappa und John Zorn unterzog – jeweils Stücken, die ähnlich wie Mingus mit strukturellen Brüchen arbeiteten. Er fragt nach Hörerwartungen und dem Erlebnis der kompositorischen und strukturellen Umbrüche im Ablauf der Stücke. Im selben Kapitel (das überschrieben ist mit “Mingus im Blickfeld von Philosophie und Soziologie”) fragt Heßler dann auch nach den ökonomischen Bedingungen, innerhalb derer Mingus’ Musik entstand. Er beschreibt wirtschaftliche Abhängigkeiten, Eigeninitiativen, etwa beim Plattenlabel Debut, beim Jazz Workshop oder der Firma Charles Mingus Enterprises.

Das Kapitel “The Angry Man” nähert sich dem zornigen Mingus – zornig gegenüber den Medien, gegenüber anderen Musikern, gegenüber dem Publikum. Das Kapitel “Mingus als homo politicus” betrachtet den Bassisten und Komponisten in seinen politischen Aussagen, die er sowohl in den Titeln seiner Kompositionen, in Ansagen oder eigenen Texten machte. Ausführlich diskutiert Heßler hier Stücke wie “Fables of Faubus”, “Freedom”, “Haitian Fight Song”, “Remember Rockefeller at Attica”, “Free Cell Block F, ‘Tis Nazi USA” und “Meditations on Integration” als politische Musik.

Im Schlusskapitel schließlich verschränkt Heßler die verschiedenen Argumentationsstränge seiner Arbeit noch einmal: Sklaverei und Rassismus, schwarze Musik und schwarze Identität, Diskontinuität als Personalstil, und wendet all diese Diskurse auf “Pithecanthropus Erectus” an.

Heßlers Arbeit ist eine ambitionierte Studie zur Persönlichkeit und Musik von Charles Mingus. Insbesondere in den theoretischen Diskursen ist das – dem thematischen Ansatz der Studie zuzuschreiben – schon mal etwas schwerfällig zu lesen; doch versäumt Heßler es nicht, diese theoretische Ebene immer wieder ins Praktische hinüberzuretten, und die von ihm benutzten Diskurse ganz konkret auf die Musik anzuwenden. Seine Studie ist dabei keine Gesamtstudie des Mingus’schen Schaffens – so fehlt etwa eine Diskussion über improvisatorische Facetten in Mingus’ Arbeit, über seinen Personalstil als Kontrabassist oder über die kommunikativen Aspekte seiner Werke –, aber das ist auch nicht das Thema des Buchs. Dem strukturellen Arbeiten in Mingus’ Musik fügt Heßler auf jeden Fall einige interessante Facetten bei und bereichert so die Literatur zu Charles Mingus um ein wichtiges Kapitel.

(Wolfram Knauer, März 2011)


 

Jazz Behind the Iron Curtain
herausgegeben von Gertrud Pickhan & Rüdiger Ritter
Frankfurt/Main 2010 (Peter Lang)
316 Seiten, 49,80 Euro
ISBN: 978-3-631-59172-7

2010pickhanDas Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin hatte vor einigen Jahren ein Forschungsprojekt unter dem Titel “Jazz im ‘Ostblock’ – Widerständigkeit durch Kulturtransfer” ins Leben gerufen, mit wissenschaftliche Arbeiten angeregt und unterstützt werden sollen, die sich mit der Geschichte des Jazz hinterm Eisernen Vorhang beschäftigen. Bei einer Tagung in Warschau im September 2008 wurden etliche dieser Projekte vorgestellt; das vorliegende Buch in englischer Sprache enthält die Referate der Warschauer Tagung und dabei in der Tat sehr vielfältige Ansätze an das vor allem als historisch begriffene Thema.

Insgesamt sind es 21 Beiträge sowie ein Tagungsbericht, aufgegliedert in fünf Schwerpunktgruppen: 1. USA – Europa, 2. Polen und die Sowjetunion als unterschiedliche Beispiele für die osteuropäische Jazzrezeption; 3. die baltischen Staaten; 4. Jazz in Zentral-Osteuropa; sowie 5. Jazz und Kunst.

Die meisten der Beiträge haben einen historischen Ansatz: Sie untersuchen Jazz als Zeichen der Widerständigkeit in totalitären Gesellschaften, als ein Symbol von Freiheit und Demokratie in Diktaturen. Als Gast der Tagung klopft der amerikanische Kulturwissenschaftler John Gennari das Verhältnis seines eigenen Landes, der USA, zum Freiheits-Topos des Jazz ab. Rüdiger Ritter schaut kritisch auf die Rolle des Radios, über das der Jazz viele aufstrebende Jazzfans im Osten erreichte, sei es über den RIAS, den AFN , Radio Free Europe oder die Voice of America.

Martin Lücke beleuchtet die Kampagne gegen den Jazz in der Sowjetunion der Jahre 1945-53; Michael Abeßer schließt an mit einer Darstellung der sowjetischen Jazz-Debatten zwischen 1953 und 1964. Marta Domurat liest die polnischen Zeitschriften “Jazz” und “Jazz Forum” und fragt nach ihrer Bedeutung für die ästhetische Akzeptanz dieser Musik. Piotr Baron nähert sich in einem der wenigen auf die Musik direkt abzielenden Beiträge des Buchs dem Phänomen “nationaler Stile” im Jazz am Beispiel des polnischen Jazz, stellt dabei letzten Endes aber vor allem Aussagen verschiedener polnischer Musiker nebeneinander, die Stimmungen, Haltungen wiedergeben, ohne diese anhand der Musik konkret näher zu beleuchten. Igor Pietraszewski schließlich nähert sich in einem eher soziologischen Ansatz der Lebenswirklichkeit polnischer Jazzmusiker.

Tiit Lauks Betrachtung des estnischen Jazz belässt es bei historischen Fakten; Heli Reimanns Annäherung an die Biographie des Lembit Saarsalu sagt weit mehr in den Interviewauszügen des Saxophonisten aus als in den Interpretationen derselben durch die Autorin. Gergö Havadi schaut für seinen Überblick über das Verhältnis des ungarischen Staats zum Jazz in die Berichte des ungarischen Geheimdienstes. Adrian Popan blickt auf ein “Jazz Revival” im Rumänien der Mitt-60er bis frühen 70er Jahre – mit Revival meint er hier ganz allgemein ein erstarkendes Interesse und vor allem ein vom System sanktioniertes Jazzleben nach einer Zeit weitgehender “Jazzlosigkeit”.

Peter Motycka widmet seinen Aufsatz der legendären Prager Jazz-Sektion, deren Aktivitäten letzten Endes mit zum Umbruch in der Tchechoslovakei beitrug. Christian Schmidt-Rost vergleicht, wie Musiker und Fans in der DDR und in Polen in den Jahren zwischen 1945 und 1961 mit dem Jazz in Berührung kamen. Marina Dmitrieva beleuchtet die “Stiliagi”, eine Art Jugendmode in der Sowjetunion, die eng mit dem Jazz assoziiert war und sich neben der Liebe zu dieser Musik auch in der Kleidung ausdrückte. Wiebke Janssen vergleicht die Jugendkultur der Halbstarken in der DDR und der BRD der 50er Jahre. Karl Brown dockt hier an und schreibt über Hooligans im kommunistischen Ungarn derselben Zeit. Michael Dörfel schließlich portraitiert die Jazz-und-Lyrik-Projekte, die in der DDR besonders populär waren.

All diese Beiträge bieten spannende und sehr unterschiedliche Ansätze an das Thema. Das Osteuropa-Projekt ist vor allem historisch orientiert, was sich auch in der Grundhaltung der Beiträge widerspiegelt. Und wenn man bedenkt, dass die Referenten hier aus ihrer laufenden Arbeit berichten, ist das gesamte Projekt nur zu beglückwünschen, schafft es doch ein Bewusstsein für eine historische Jazzforschung, die über kurz oder lang sicher über die Erfassung von Fakten und historisch-politische Zusammenhänge hinaus auch die Musik selbst betrachten wird.

Wolfram Knauer (März 2011)


 

Saxophone Colossus. A Portrait of Sonny Rollins
Fotos von John Abbott, Text von Bob Blumenthal
New York 2010 (Abrams)
160 Seiten, 45,00 US-$
ISBN: 978-0-8109-9615-1

2010abbottDer renommierte New Yorker Fotograf John Abbott dokumentierte Sonny Rollins seit 1993 auf und abseits der Bühne, und im vorliegenden Fotoband zeigt er, wie reich der Tenorsaxophonist ihn nicht nur mit seiner Musik, sondern auch mit exzellenten Motiven beschenkt hat. Wir sehen Rollins beim Newport Jazz Festival von 1993 vor jubelndem Publikum und Meer, beim Signieren von Schallplatten in seiner Berliner Garderobe, beim Soundcheck auf der Bühne der noch leeren Carnegie Hall, mit Pudelmütze beim Soundcheck in Frankfurt und Hamburg sowie in seinem Haus in Germantown, New York. Rollins ist eh fotogen, ob mit Rauschbart und wehenden Haaren, mit Hund oder mit Saxophon. Etliche von Abbotts meist farbigen Fotos zieren CDs, Plakate und Magazincover; man hat also durchaus sein Dejàvu-Erlebnis, etwa von Rollins ganz in rot oder von Rollins mit Christian McBride und Roy Haynes.

Dazwischen geschaltet sind Texte von Bob Blumenthal, der den Saxophonisten über die Jahre oft genug interviewte. Seine Kapitel strukturieren das Buch mit Überschriften wie “St. Thomas. Rollins & Rhythm” über die Liebe des Saxophonisten zu karibischen Rhythmen und sein Verhältnis zu Schlagzeugern; “You Don’t Know What Love Is. Sonny’s Sound” über ebendiesen, den kraftvollen Sound seines Instruments und den großen Einfluss Coleman Hawkins’; “Strode Rode. Rollins the Modernist” über Rollins Plattenproduktionen und den enormen Einfluss, den er selbst auf eine, ach was, gleich mehrere Generationen von Musikern hatte; sowie “Moritat. Sonny & Songs” über Sonny Rollins’ Liebe zur Melodie. Blumenthal gelingt dabei in der Konzentration eine knappe und doch sehr fundierte Charakterisierung der Rollins’schen Spielweise, so dass das Buch im ganzen – Fotos und Text zusammen – tatsächlich genau das ergeben, was der Titel des Buchs impliziert: “A Portrait of Sonny Rollins”. Liebevoll und empfehlenswert!

Wolfram Knauer (März 2011)


 

Unterhaltungsmusik im Dritten Reich
von Marc Brüninghaus
Hamburg 2010 (Diplomica Verlag)
106 Seiten, 39,50 Euro
ISBN: 978-3-8366-8813-0

2010brueninghausJede Art der Kunst, vor allem aber die populäre Kunst war im Dritten Reich zugleich politisches Werkzeug. Der Jazz und die jazzverwandte Musik gehörten in den 1930er Jahren zur populären Musik, er verstieß allerdings zugleich gegen alle ästhetischen und rassischen “Reinheits”-Vorstellungen der Nazis. Marc Brüninghaus beschäftigt sich in seiner vorliegenden Arbeit mit der Rolle der Unterhaltungsmusik im Dritten Reich, fragt zugleich, wie es sein kann, dass “der Zeitraum von 12 Jahren, in dem von Deutschland aus größtes Leid über die Welt gebracht worden ist, gleichzeitig eine ‘Blüte’ einer unpolitisch erscheinenden Kunstform hervorbringen” konnte – insbesondere nämlich in den Schlagern von Stars wie Hans Albers, Marika Rökk, Zarah Leander oder Johannes Heesters.

Nach seiner Einleitung beginnt Brüninghaus im zweiten Kapitel mit einer Bestandsaufnahme der Musiklandschaft im Dritten Reich, fragt nach ästhetischen und Wertevorstellungen im Bereich der “Ernsten” und der “Unterhaltungsmusik”, diskutiert die Idee einer “Deutschen Musik”, die sich als so schwer zu begründen herausstellte, dass sie spätestens 1936 aufgegeben wurde. Er diskutiert Wertmaßstäbe wie “Erhabenheit” im Bereich der Ernsten Musik und die Bevorzugung der Unterhaltungsmusik durch Propagandaminister Hoseph Goebbels, die “bei konservativen Musikern und Musikwissenschaftlern nicht nur auf Zustimmung” traf.

Im dritten Kapitel beleuchtet Brüninghaus die “Institutionalisierung der Musik im 3. Reich”, also insbesondere das “Amt Rosenberg” und die Reichsmusikkammer und ihre Aufgaben. Das vierte Kapitel widmet sich der politischen Rolle der Unterhaltungsmusik im nationalsozialistischen Deutschland, insbesondere ihrer Nutzbarkeit in Rundfunk, auf Schallplatten und im Film. Zugleich diskutiert der Autor die wechselnden Anforderungen an Unterhaltungsmusik während der zwölf Jahre der Nazi-Herrschaft sowie den Versuch einer Neudefinition von Kriterien für gute Unterhaltungsmusik – insbesondere letzteres ein klarer Vorstoß gegen den Jazz.

Dem Jazz wird das ganze fünfte Kapitel gewidmet. Brüninghaus macht klar, dass der Jazz “während des Dritten Reiches die am stärksten bekämpfte Musikrichtung im Bereich der Unterhaltungsmusik” war. Er ordnet den Jazzhass der Nazis ein in rassistisch und antisemitisch begründete Ablehnung dieser Musik bereits in den 1920er Jahren, beschreibt den Unterschied von staatlichem Anspruch und Realität (also dem Wunsch, Jazz aus dem Alltag zu verdrängen und der Popularität der Musik in der Bevölkerung). Er zitiert offizielle Stellungnahmen und die Umsetzung der Regeln in der musikalischen Wirklichkeit, und er benennt die unterschiedlichen Wege, auf denen Jazzanhänger dennoch ihre Musik hörten. Brüninghaus definiert die Jazzanhänger dabei als eine heterogene Gruppe, eher lokal verortet, “meist männliche Angehörige der Mittelschicht, Angehörige der Unterschicht wollten durch die Zugehörigkeit zu Jazzclubs oft den eigenen sozialen Status verbessern”. Längere Abschnitte widmet er in diesem Kapitel außerdem den “Jazzanhängern im Dienst des Regimes” sowie der Swingbewegung als einer Jugendbewegung der Zeit.

Alles in allem ist Brüninghaus eine knappe, aber durchaus der Sache angemessene Studie zur Situation der Unterhaltungsmusik im Dritten Reich gelungen. Er blendet biographische Details aus, schreibt weder über konkrete Musiker, Bands oder Aufnahmen, sondern konzentriert sich auf das Auseinanderdriften von öffentlicher Haltung und alltäglicher Wirklichkeit. Der Verweis auf die eine oder andere Quelle fehlt (etwa auf die samisdat-ähnlichen “Mitteilungen” zum Jazz, die in den Kriegsjahren vor allem auch an Wehrmachtsanhänger verschickt wurden und die 1993 im Buch “Jazz in Deutschland” des Jazzinstituts Darmstadt reproduziert wurden); das aber sind eher Randnotizen des Rezensenten. Auch bleibt Brüninghaus zum Schluss die Antwort auf die in der Einleitung dezidiert gestellte Frage schuldig bleibt, warum viele der Schlager, die in den 1930er Jahren geschrieben waren, noch heute populär sind. Doch hatte man diese Eingangsfrage während der Lektüre eh schon wieder vergessen, und so bleibt “Unterhaltungsmusik im Dritten Reich” eine lesenswerte Einführung ins Thema.

Wolfram Knauer (März 2011)


 

Hi-De-Ho. The Life of Cab Calloway
von Alyn Shipton
New York 2010 (Oxford University Press)
283 Seiten, 29,95 US-$
ISBN: 978-0-19-514153-5

2010callowayAlyn Shipton ist ein Vielschreiber, seine Biographien decken die Jazzgeschichte zwischen Swing und Modern Jazz ab, ein wenig wirkt er wie der Nachfolger John Chiltons, des phänomenalen Biographen von Sidney Bechet, Coleman Hawkins und anderen.

Shiptons neues Buch geht der Lebensgeschichte eines der größten Hipsters (wenn nicht gar des ersten) der Jazzgeschichte nach, Cab Calloways, dessen Einfluss auf die schwarze Musikgeschichte gar nicht groß genug eingeschätzt werden kann, weil er von in seiner Musik und seiner Bühnenpersönlichkeit schwarze Sprache und schwarze Kultur als Hipness feierte und dabei weit über die afro-amerikanische Bevölkerung hinaus populär machte.

Shipton ist ein Detektiv biographischer Forschung, wühlte in Archiven und sprach mit Zeitzeugen, Freunden, Bekannten, Kollegen und Geschäftspartnern des Sängers und Orchesterleiters. Er verfolgt Calloways Lebensweg ab seiner Geburt am Weihnachtstag 1907 in Baltimore. Calloways ältere Schwester Blanche war die erste, die eine Showbusiness-Karriere begann; sie schloss sich 1921 einer Tourband an und gehörte im Herbst 1924 bereits zu den etablierten Figuren der Chicagoer Jazzszene. 1927 kam Cab nach Chicago, sang in verschiedenen Clubs und lernte Louis Armstrong kennen, dessen Gesangsstil ihn besonders beeinflusste. Nachdem Armstrong Chicago in Richtung New York verließ, trat Calloway mit den Alabamians im Chicagoer Sunset Club auf, doch nach einem legendären Band-Wettstreit im New Yorker Savoy Ballroom wechselte er die Bands, trat mit den Missourians auf, die sich nicht viel später zum Cab Calloway Orchestra wurden. Mit ihnen und mit seinem Engagement im New Yorker Cotton Club beginnt zugleich die Zeit, in der Calloway auf Platten dokumentiert ist.

Shipton verweist auf Einflüsse aus dem afro-amerikanischen Showbusiness, von der Show “In Dahomey” bis zum Comedy-Duo Williams & Walker, noch mehr aber stellt er heraus, was Calloway aus diesen und anderen Einflüssen machte, wenn er die verschiedenen Timbres seiner Stimme einsetzte, um quasi mit sich selbst Call-and-Response-Phrasen zu erzeugen, wenn er scattete wie Armstrong, aber eben doch nicht wie der, sondern in seinem ganz eigenen Stil, der etwas sauberer wirkte und dennoch leicht verrucht, dem immer ein leichter Unterton der Ironie innezuwohnen schien.

Irving Mills, der Manager Duke Ellingtons erkannte, dass Calloway marktfähig war und übernahm schnell sein Management. Er pries ihn als “His Hi-De-Highness of Ho-De-Ho” an und machte so aus der Hipness des immer extravagant gekleideten Calloway ein Markenzeichen. Shipton beschreibt jene legendären drei Betty-Boop-Cartoons, die Calloway und seine Musik Anfang der 1930er Jahre auf die Leinwand brachten; er beschreibt aber auch die durch Calloways Popularität bedingte Schieflage im Niveau seiner Band: “Weil Cabs Band um ihn herum und seine Rolle als Sänger, Tänzer und Entertainer gebaut war statt um hoch-individuelle Solisten, auf die einzelne Kompositionen direkt zugeschneidert wurden, fiel sie im kritischen Vergleich immer etwas ab.”

Der Autor begleitet Calloway auf seiner Europatournee von 1934, die großen Einfluss hatte, da insbesondere die europäischen Fans Calloways Mode und Teile seiner Sprache übernahmen – die ZaZous, wie sich die französischen Swinganhänger in den 1930er Jahren nannten, leiteten sich direkt aus Calloways Texten ab.

Shipton beschreibt die “großen” Bands Calloways, jene mit Ben Webster Mitte der 1930er Jahre und jene mit Chu Berry Ende der 1930er Jahre und geht dabei auch auf wichtige Aufnahmen ein. Natürlich erzählt er die Geschichte Dizzy Gillespies, der von 1939 bis 1941 in der Band saß, bis ihn Calloway feuerte, weil er ihn (fälschlich) beschuldigte, mit einem Papierball nach ihm geworfen zu haben, was in einen Streit ausartete, bei dem Gillespie schließlich ein Messer zückte. Immerhin hatte Dizzy, während er in Calloways Band spielte, zusammen mit Milt Hinton harmonische Neuerungen ausprobiert, die wenig später bei der Entwicklung des Bebop von Bedeutung sein sollten.

Mit dem Krieg und dem Bebop begann der Niedergang der Bigbands, und Cab Calloway suchte nach neuen Möglichkeiten für seine Karriere. Die fand er als er 1952 die Rolle des Sportin’ Life in Gershwins Oper “Porgy and Bess” angeboten bekam, die Gershwin seinerseits nach dem Modell Calloways entworfen hatte, den er angeblich sogar für die Premiere der Oper 1935 als mögliche Besetzung im Sinn gehabt habe. “Porgy” wurde ein Riesenerfolg, sowohl in der Broadway- wie auch (zumindest kurz) in der Tournee-Version der Show. In den folgenden Jahren zog sich Calloway etwas zurück, bis ihm 1964 eine Rolle in “Hello Dolly” angeboten wurde.

In den 1970er Jahren waren Calloways Auftritte mehr Erinnerung an eine vergangene Zeit als wirklich aktuelle Musik; immerhin übernahm er 1978 eine Rolle im Broadway-Hit “Bubbling Brown Sugar”. Als er 1980 im Film “The Blues Brothers” zu sehen war, wurde allerdings eine neue, junge Generation hip über den Erfinder der Hipness. Calloway stand noch bis kurz vor seinem Tod im November 1984 auf der Bühne.

Shipton erzählt Calloways Geschichte als neutraler Beobachter, durchsetzt mit Verweisen auf Quellen aus zeitgenössischen Berichten, Interviews oder sonstige Quellen. Zwischendurch beleuchtet er auch etwa die kurze Ehe der Calloway-Tochter und Sängerin Chris Calloway mit dem Trompeter Hugh Masekela (sie hielt gerade mal drei Monate). Allerdings betrachtet er Calloway vor allem als historisches Phänomen und verpasst dabei ein wenig die Chance, ihn als Vorreiter weit späterer schwarzer Gesamtkunstwerke zu benennen – James Brown, Michael Jackson, Prince –, die dem weiß-gewandeten Calloway viel zu verdanken hatten. Nichtsdestotrotz ist diese Biographie ein solides Buch Jazzgeschichte und ergänzt damit hervorragend die 1976 erschienene Autobiographie des Sängers, Tänzers und Entertainers.

Wolfram Knauer (März 2011)


 

Ray Charles. Yes Indeed! Photographs by Joe Adams
Guildford, Surrey/England 2010 (Genesis Publications Limited)
152 Seiten, 235 Britische Pfund
ISBN: 978-1-905662-08-1

2010adamsRay Charles war Star und Legende, und nur solchen wird es wohl zuteil, in enorm exklusiv aufgemachten Publikationen verewigt zu werden. “Ray Charles. Yes Indeed!” jedenfalls ist nichts geringeres, ein Coffee-Table-Buch zum Blättern und Erinnern, an eigene oder imaginierte Erlebnisse zur Musik des großen Soulkünstlers. Joe Adams arbeitete 44 Jahre lang für Ray Charles als Bühnenansager und Master of Ceremonies. Seine Kamera hatte er immer mit dabei, und so entstand eine Sammlung ungemein persönlicher Fotos von Konzerten, Proben, Aufnahmesitzungen, auf der Bühne, in der Garderobe, im Flieger oder vor Fernsehkameras. Die Dias wurden nach Charles Tod im den Büroräumen der Produktionsfirma des Künstlers gefunden. Sie zeigen vor allem einen Musiker, der allein durch seinen Starstatus offenbar immer im Mittelpunkt stand, der selbst in ruhigen Minuten, bei der Tasse Kaffee in der Garderobe, dem musikalischen Augenblick entgegenfieberte. Das Besondere des Buchs ist sicher auch die Tatsache, dass alle Fotos Farbaufnahmen sind, was dem Genre, in dem Charles tätig war, entgegenkommt: die Zeit des Soul war nun mal eine Zeit der bunten Farben.

Einleitend berichtet Adams selbst von seiner Arbeit für Charles, und auch Ray Charles selbst kommt zu Wort in einem Kapitel, in dem er knapp über seine Karriere bis zum Ende seines Atlantic-Vertrags erzählt. Zwischendrin finden sich kurze Zitate von Zeitgenossen, Musikerkollegen, Produzenten, Freunden, die sich an Ray Charles als Musiker, als Geschäftsmann, als Privatmensch erinnern.

“Ray Charles. Yes Indeed!” ist ein opulentes Buch, das sicher keine Biographie des Künstlers ersetzt und auch der Musik nur bedingt nahe kommt, das aber den Menschen Charles erahnen lässt in den visuellen wie verbalen Erinnerungen. Und es ist gewiss – mit Ledereinband, Silberschnitt, dickem Pappschuber udn einem hellblauen Stoffsäckchen, in dem das alles sauber aufbewahrt wird – ein exquisites (dabei leider auch entsprechend teures) Geschenk für jeden Ray-Charles-Fan.

Wolfram Knauer (Februar 2011)


 

Coltrane on Coltrane. The John Coltrane Interviews
herausgegeben von Chris DeVito
Chicago 2010 (Chicago Review Press)
396 Seiten, 26,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-56976-287-5

2010devitoHätte John Coltrane eine Autobiographie geschrieben, so läse diese sich gewiss völlig anders als das Buch “Coltrane on Coltrane”, das Chris DeVito aus veröffentlichten wie bislang unveröffentlichten Interviews mit dem Saxophonisten zusammenstellte. Die berühmten Interviews, etwa von August Blume, Don DeMichael, Ralph Gleason, Valerie Wilmer, François Postif oder Frank Kofsky sind genauso mit dabei – zum Teil in neuen Abschriften oder gar erstmaligen englischen Übersetzungen – wie kürzere Interview, Interviewausschnitte oder Artikel und Plattentexte, in denen Coltrane zu Worte kommt. Selbst ein wenig Fankorrespondenz ist da zu lesen, auch Interviews, in denen Coltrane sich vielleicht nicht ganz so wohl fühlte, etwa wenn er die Eingangsfrage Erik Lindgrens in Stockholm, was er zu den vielen kritischen Kommentaren über seinen Sound missversteht und denkt, Lindholm selbst hielte seinen Ton für scheußlich. Neues erfährt man dabei kaum; Coltrane war auch in beiläufigen Interviews ein seiner Worte bedächtiger Mann. Ausführliche Erinnerungen eines Jugendfreundes sowie der Leiterin der Granoff School, an der er in den 40er und frühen 50er Jahren Unterricht nahm. Eine opulente Sammlung immerhin, ein “case book” für weitere Forschung und als solches äußerst willkommen, hat man doch damit alle Quellen in einem Band vor sich. Aus Forschersicht sei allerdings auch in diesem Buch (wie auch bei anderen solchen Quellensammlungen) kritisch angemerkt, dass es wünschenswert wäre, wenn in den Texten die Seitenumbrüche angegeben würden, so dass man beim Zitieren auch entsprechend der Originalquellen zitieren kann. Aber das ist nun wirklich nur eine kleine Fußnote…

Wolfram Knauer (Februar 2011)


 

Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit. Popmusik auf globalen Märkten und in lokalen Kontexten
Von Susanne Binas-Preisendörfer
Bielefeld 2010 (transcript)
277 Seiten, 27,80 Euro
ISBN: 978-3-8376-1459-6

UMS1459popBinas.inddGlobalisierung, mediale Verfügbarkeit, das tagesaktuelle Wissen um Entwicklungen in anderen Kulturen und die schnelle Kommunikation sind Gegebenheiten unseres heutigen Lebens, die uns alle betreffen, und alle Bereiche unseres Lebens beeinflussen. Der Jazz, meint man, hat unter den Globalisierungstendenzen weniger zu leiden, weil er immer eine individualisierte und zumal noch eine “Minderheiten”-Musik war und die neuen Medien ihm vielleicht noch mehr nutzen als anderen Musiksparten. Doch den Jazz betrifft es natürlich auch, ist er schließlich nicht nur Genre, sondern eine Spielhaltung und hat doch gerade der Jazz immer global gehandelt, ist als musikalische Sprache durch die Welt gereist und hat Musiker immer dazu aufgefordert, “sie selbst” zu sein, “sich selbst” zu spielen. Susane Binas-Preisendöfer allerdings widmet sich der populären Musik, bei der die Gegensätze, die Frage nach Nutzen und Ausnutzen globaler Tendenzen sich weit stärker stellt als beim Jazz.

Ihre Ausgangsfragen sind einfach: Wie verändert die Globalisierung die Popmusik? Wie bedingen sich die kulturell-sozialen und die technologisch-ökonomischen Aspekte von Popmusik und Globalisierung gegenseitig?

Im ersten Kapitel befasst sich die Autorin mit übergreifenden Aspekten zum Themenbereich und geht auf einzelne Beispiele ein. Sie diagnostiziert die “globale Präsenz” populärer Musik und die daraus sich ableitende Ortlosigkeit, der die Ortsgebundenheit einzelner populärer Musikerscheinungen gegenübersteht (Detroit-Techno, Berlin-Dub, Wiener Electronica). Sie fragt nach globalisierten Formen von Musik, also solchen Formen, die erst durch die Globalisierung möglich wurden. Sie überlegt, was tatsächlich an kulturellem Austausch stattfindet in dieser Globalisierung, und sie diskutiert die Beispiele der Ausnutzung lokaler traditioneller Musiken durch die aktuelle Popmusikindustrie, wenn etwa ein pazifisches Wiegenlied es auf die amerikanischen Billboard-Charts schafft und in Dance-Tracks eingebaut wird. Dieses Beispiel verfolgt sie dabei wieder aus verschiedenen Blickwinkeln, untersucht dabei die Marktmechanismen genauso wie die emotionalen Effekte, die musikethnologischen Gründe für die ursprüngliche Aufnahme des Liedes und die moralischen Aspekte seiner weltweiten Verwendung und Vermarktung ohne Rücksicht auf den Ursprung und ohne Nachdenken, was seine globale Verbreitung für Rückwirkungen haben könnte. Sie blickt dabei auf die verschiedenen Akteure im Musikprozess, betrachtet die Rechtslage, fragt nach ästhetischen Kriterien (warum ist ein pazifisches Wiegenlied für europäische Ohren angenehm?) und konstatiert die Suche nach der authentischen Fremdheit.

Im zweiten Kapitel geht es um Musiken der Welt, um World Music, um Global Pop, um die kulturelle Durchdringung musikalischer Traditionen also. Musik sei eine universale Sprache, hieße es immer wieder, zitiert die Autorin verschiedene Quellen, also werde Musik oft auch als eine universelle Problemlösung angesehen. (Tatsächlich sei europäische Kunstmusik eine veritable Weltmusik.) Dann befasst Binas-Preisendörfer sich mit Migration und kulturellem Austausch, mit der Frage um Homogenisierung oder Diversifizierung und mit der seltsamen Repertoirekategorie und Marketingstrategie “World Music” im 20sten Jahrhundert.

Das dritte Kapitel des Buchs beschäftigt sich mit der medialen Verfügbarkeit. Die Autorin beginnt mit einem Blick zurück auf die Entwicklung der Tonaufnahme und Vervielfältigungstechnologien. Sie dokumentiert die unterschiedlichen Umgänge mit Tondokumenten, die zum einen der Archivierung dienten, zum anderen eine Ware waren und damit bewusst marktgerecht verändert werden sollten. Sie nennt den Tonträger “eine Existenzform populärer Musik” und verweist auf die Entwicklung der Musikkassette in den 1960er Jahren als dezentralisierendes Format. Sie diskutiert Sampling und Copyright und schließlich die Bedeutung lokaler Märkte für die global agierende Musikwirtschaft. Zum Schluss stellt sie die Strategien der Musikgiganten gegenüber: “Think Globally, Act Locally” (SONY), “Globalize Local Repertoire” (BMG) und “One Planet – One Music” (MTV).

Susanne Binas-Preisendörfers Buch ist eine umfangreiche Analyse der globalen Aspekte populärer Musikkultur. Der Autorin gelingt es ihr komplexes Thema sachgerecht und dennoch gut lesbar zu sezieren, Denkanstöße zu geben und klarzustellen, dass sie letzten Endes über eine Entwicklung schreibt und damit nur ein Augenblicksurteil abgeben kann für Veränderungen, von denen man kaum absehen kann, wie sie weitergehen. Über den Jazz schreibt sie nicht, aber den Jazz als die erste globale populäre Musik betrifft ihre Analyse genauso wie jede Musik, die den Spagat ästhetischen Wollens und aktueller Marktgängigkeit eingehen muss.

Wolfram Knauer (Februar 2011)


 

Goin’ Home. The Uncompromising Life and Music of Ken Colyer
von Mark Pointon & Ray Smith
London 2010 (Ken Colyer Trust)
368 Seiten + CD, 20 Britische Pfund
ISBN: 978-0-9562940-1-2

2010colyerDas Wort “kompromisslos” kommt einem normalerweise wahrscheinlich eher bei Musikern avantgardistischer Stilrichtungen in den Sinn, und so mag es den oberflächlichen Kenner erstaunen, dass ausgerechnet dieses Wort den Titel der neuen umfangreichen Biographie des Trompeters Ken Colyer schmückt, der gemeinhin als die Vorzeigefigur für das Revival des New-Orleans-Jazz in England (und weit darüber hinaus in Europa) gilt, also alles andere als einem Genre der Avantgarde, weder der 40er, 50er noch 60er Jahre. Trotzdem hat es seine Berechtigung, Colyers Ästhetik als kompromisslos zu bezeichnen, und das großformatige Buch, das Mike Pointon und Ray Smith liebevoll zusammengestellt haben, erklärt warum dies so ist.

Die beiden Autoren haben Erfahrung mit dem Thema; sie schrieben zuvor eine Biographie Bill Russells, des Vaters des US-amerikanischen New-Orleans-Jazz-Revivals. Ihr Ansatz ist der einer Biographie mit vielen Zeitzeugenaussagen. Sie interviewten Musikerkollegen und mischen diese Erinnerungen – ein wenig wie in Shapiro Hentoffs legendärem “Hear Me Talkin’ To Ya” mit Auszügen aus Manuskriptfragmenten und Notizen, die Colyer für ein geplantes eigenes Buch auf Hotelbriefpapier und die Rückseiten von Flugtickets geschrieben hatte. Dazu kommen viele, zum großen Teil seltene Fotos, die Colyers Karriere dokumentieren.

Es beginnt mit dem Kapitel “Sounds in My Head”, einer Annäherung an Colyers musikalische Ästhetik. Natürlich habe er die New-Orleans-Trompeter geliebt, Percy Humphrey etwa. Louis Armstrongs In-den-Vordergrund-Spielen habe er nicht unbedingt für der Musik dienlich empfunden. Andererseits habe er immer enorm lyrisch gespielt, sei keiner dieser “Stomper” gewesen, die quasi mit der Rhythmusgruppe mitgespielt hätten. Es gäbe, sagt sein Trompeterkollege Pat Hawes an einer Stelle gar, eine direkte Verbindung zwischen Colyer und Miles Davis. Ein Jazzfan sei er gewesen, ein wenig mürrisch oft, manchmal sogar ein Bully gegenüber seinen Kollegen. Aber wenn man in seine Band kam, wusste man, was man zu erwarten hatte. Colyer spielte, was ihm gefiel; er hatte seine konkreten ästhetischen Vorstellungen, und er kannte dabei kein links und kein rechts. Das mag für moderne Ohren altbacken klingen, aber wer immer ihm rein musikalisch zuhörte, musste das anerkennen, selbst Dizzy Gillespie, wie Ron Ward erzählt; der habe bei einem Konzert, bei dem die Bands der beiden in Leicester auftraten, eine halbe Stunde aufmerksam zugehört und ihm dann ein Kompliment gemacht. Judy Garland und Frank Sinatra habe Colyer gemocht, erfahren wir, habe aber keine Lust dazu gehabt sich selbst Showbusiness-Praktiken zu unterwerfen, sondern habe einzig durch die Musik überzeugen wollen. Auch im Mittelpunkt habe er eigentlich nie stehen wollen, weil es sich in der Ästhetik des New-Orleans-Jazz nun mal um das Ensemble drehe, nicht um den Bandleader. Mitmusiker berichten darüber, was sie konkret von Colyer gelernt hätten, und immer wieder, das prägt durchaus die Ehrlichkeit des Buchs, sind die Lobeshymnen mit einem “aber” oder einem “wenn er gute Laune hatte” durchsetzt und zeigen so die offenbar allseits bekannte komplexe Persönlichkeit Colyers.

Das zweite Kapitel widmet sich dem 51 Club in der Great Newport Street in London, in dem Ken Colyer ab Mitte der 1950er Jahre so oft spielte – allein im Programmzettel für einen April in den 1950er Jahren, der im Buch reproduziert wird an acht Terminen –, dass der Club bald umbenannt wurde in “Ken Colyer Club”.

In Kapitel drei lesen wir über Colyers Kindheit, über seine Familie und darüber, wie er zum Jazz kam. Mit 12 Jahren habe er die Bluesplattens eines Bruders verschlungen und bald auf einer Mundharmonika dazu gespielt. Gleich nach dem Krieg trat er der Handelsmarine bei. In Kanada, erzählt Colyer, habe er Louis Metcalf erlebt, und dann sei plötzlich Oscar Peterson in den Club gekommen, der Pianist hätte sofort sein Instrument verlassen und hinter Peterson habe sich eine Menschentraube gebildet, alles Pianisten, die auf seine Hände starrten. In New York hörte er Wild Bill Davison, Pee Wee Russell und andere, und seine Erinnerungen gehören mit zu den lebendigsten über die New Yorker Dixieland/Swingszene der späten 1940er Jahre, die ich kenne.

Kapitel vier widmet sich der Crane River Jazz Band. Colyer war von verschiedenen Bands abgelehnt worden, bei denen er sich beworben hatte – sie wollten eher im Stile Eddie Condons oder Lu Watters’ spielen als im authentischen New-Orleans-Stil, der Colyer vorschwebte. Also gründete er mit Freunden einfach seine eigene Band, in der Besetzung von King Oliver’s Creole Jazz Band: zwei Trompeten, Klarinette, Posaune, Piano, Banjo, Kontrabass und Schlagzeug. Die Band probte in einem Pub in Cranford, und irgendwann kam einer auf die Idee, bei den eh anwesenden Gästen mit dem Hut rumzugehen, was immerhin die Kosten für die Proben-Biere reinbrachte. Dann fingen die Leute an, zur Musik der Proben zu tanzen – es störte sie nicht, wenn die Band mittendrin mal abbrach, um das Stück nochmal zu beginnen. Im Juli 1951 spielte die Band bei einem Konzert, bei dem auch die Prinzessinnen Margaret und Elisabeth anwesend waren – die Organisatoren hatten überredet werden müssen, die Band spielen zu lassen; sie fürchteten, die Band spiele zu “dirty” für die königlichen Ohren.

Kapitel fünf berichtet von den Christie Brothers Stompers, mit denen Colyer in jenen frühen Jahren ebenfalls spielte. Kapitel sechs handelt dann von Colyers erster Reise nach New Orleans, wieder dokumentiert durch Briefe und Erinnerungsfragmente des Trompeters. Hier war Colyer beides: Musiker und Fan. Er spielte und er traf auf all die Zeitzeugen des frühen Jazz, konnte seine Vorstellung von der Ästhetik des New-Orleans-Jazz am Original überprüfen. Im Februar 1953 wurde er für 38 Tage unter Arrest gestellt, weil er länger geblieben war als sein Visum es ihm erlaubt hatte. Vor den Beamten der Einwanderungsbehörde gab er zu, dass er in New Orleans bleiben wollte, um Jazz zu studieren, offenbar Grund genug für die Behörde, ihn nicht auf Kaution freizulassen, wie ein zeitgenössischer Artikel berichtet. Colyer wurde schließlich in ein Abschiebegefängnis in Ellis Island, New York, gebracht und dann des Landes verwiesen. Auch dieses Kapitel gibt einen der besten Einblicke in die New-Orleans-Szene jener Jahre, den ich kenne – vielleicht gerade, weil es ein Blick von außen ist.

In Kapitel sieben geht es um die Popularisierung des New-Orleans-Jazz in London und die anderen Musiker dieser Szene, Monty Sunshine, Chris Barber, Lonnie Donegan. Kapitel acht beschäftigt sich mit den ersten Platteneinspielungen, dem langsamen Ruhm der Band über die Grenzen Englands hinaus, ersten Tourneen, beispielsweise einem zweimonatigen Gig in der New Orleans Bier Bar in Düsseldorf, der dann auf vier Monate verlängert wurde und – Colyer zufolge – die Jazzwelt Deutschlands verwandelte und sie einer anderen Art von Musik gegenüber geöffnet habe.

Kapitel neun ist das längste Kapitel des Buchs und widmet sich der “klassischen” Band Colyers, seiner Mitwirkung bei Street Parades, zeigt auch ein Foto, auf dem Ken Colyer 1957 den legendären Dobbell’s Record Shop einweiht, indem er eine 78er-Schallplatte auf dem Tresen des Geschäftes zerbricht. Vor allem aber berichtet das Kapitel von Colyers zunehmender US-amerikanischen Gefolgschaft und davon, wie es 1957 zu dem legendären Besuch des Klarinettisten George Lewis in England und den darauf folgenden Tourneen der beiden Musiker beiderseits des Atlantiks kam.

Kapitel 10 beleuchtet den Skiffle-Craze der späten 1950er, frühen 1960er Jahre, an dem Colyer zusammen mit Lonnie Donegan besonders beteiligt waren. In Kapitel 11 geht es um den “Trad Boom” jener Jahre, aber auch um Colyers Meinung zu anderen Jazzstilen. Colyer lässt sich über Ellington aus, von dem er die frühen Aufnahmen bevorzugt; er erzählt, welche Dämpfer er für welche Zwecke verwendet; er findet, die Individualität Thelonious Monks oder Charles Mingus’ verdiene Respekt. Das Kapitel handelt aber auch von den Problemem Colyers mit Alkohol, die zunehmend seine Konzerte in Mitleidenschaft zogen. Er hatte keinen Ton mehr, zeigte seltsames Bühnenverhalten, etwa, als er bei einem Konzert in Deutschland die Blumen, die er von einem kleinen Mädchen überreicht bekam, einfach verspeiste. Es ging ihm nicht gut, aber er sprach mit niemandem darüber, was ihn plagte. War es der Alkohol oder war es Krebs? 1971 löste Colyer seine legendäre Band auf, und Max Jones schrieb im Melody Maker: “Er ist mehr als nur ein Musiker; er ist eine musikalische Haltung.” In der Folge, lernen wir in Kapitel 12, arbeitete Colyer als Freelancer mit unterschiedlichen Trad-Bands, die ihn engagierten. Zwischendurch kam es immer wieder zu Revival-Tourneen der Crane River Jazz Band, wie Kapitel 13 berichtet. 1987 dann meldete sich Colyer von der Musikerszene ab, weil seine Gesundheit nicht mehr mitspielte. Er war krank, ging nach Frejus in Südfrankreich. Ein deutscher Freund sorgte dafür, dass er im Krankenhaus in Gifhorn durchgecheckt wurde. Wenige Monate später, am 11. März 1988 starb Colyer.

Nach einem Blick auf das Erbe des Trompeters und seinen Einfluss auf die Trad-Jazz-Szene Europas widmet sich ein erster Anhang des Buchs Colyers wichtigsten Aufnahmen, wobei dies keine Diskographie im üblichen Sinne ist, sondern eine kommentierte Auflistung der Platten mit Kommentaren der Autoren, von Colyers selbst und anderen Mitmusikern. Ein zweiter Anhang versucht die Persönlichkeit des Trompeters zusammenzufassen. Ein dritter Anhang enthält seine Notizen für eine Art Lehrbuch für New-Orleans-Jazz. Ein ausführlicher Namensindex beendet das Buch, das weit mehr ist als eine simple Biographie. Einige der Kapitel aus “Goin’ Home” bieten Quellenmaterial zu Aspekten der Jazzgeschichte, die so noch nie dargestellt wurden. Vor allem aber beeindruckt die Offenheit, in der alle Interviewten sich über ihre Musik, über Colyers Musik, über Musikästhetik und anderes äußern. Wer glaubt, hier nur über eine seltsame britische Spezies des Jazz-Revivals etwas zu lernen, wird schnell eines Besseren belehrt: Man liest und lernt über die kompromisslose Welt eines Künstlers, der auf der Suche nach seiner eigenen Stimme in einem fremden Land fündig wurde. Die beiheftende CD enthält Aufnahmen von 1951 bis 1982 und dokumentiert die verschiedenen Phasen seines Schaffens zwischen klassischer Besetzung, Brass Band, Skiffle und dem Trompeter als sich selbst auf der Gitarre begleitender Sänger.

Alles in allem: Eine wunderbare Lektüre, die eigentlich gerade auch denjenigen Lesern empfohlen wird, die sich mit dem Trad Jazz Colyer’scher Prägung nie anfreunden konnten, weil es so viel erklärt über ästhetische Selbstfindung und ein Konzept, das nie wirklich den Moden folgte. Und nicht zuletzt: Ein unglaublicher Fundus an Material zu einem ganz speziellen und weithin vernachlässigten Kapitel der europäischen Jazzgeschichte.

Wolfram Knauer (Januar 2011)


 

Les Cahiers du Jazz, #4 (2007)
Les Cahiers du Jazz, #5 (2008)
Les Cahiers du Jazz, #6 (2009)
Les Cahiers du Jazz, #7 (2010)
jeweils erschienen beim Verlag Outre Mesure, Paris
www.outre-mesure.net

2010cahiersEs gibt in der Jazzforschung mittlerweile eine Reihe an regelmäßig erscheinenden wissenschaftlich ausgerichteten Publikationen. Am längsten existiert die “Jazzforschung / jazz research” des Instituts für Jazzforschung in Graz, die jährlich bereits seit 1969 erscheint. In den USA gibt es seit fünf Jahren die Fachzeitschrift “Jazz Perspectives”; seit den 1970er Jahren außerdem das “Journal of Jazz Studies”, das in den 1980er Jahren in “Annual Review of Jazz Studies” umbenannt wurde, allerdings nach kurzem nicht wirklich mehr jährlich erscheint. In Deutschland gibt es die Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, die seit 1989 alle zwei Jahre erscheinen. All diese Veröffentlichungen allerdings werden quasi überholt von “Les cahiers du jazz”, das in erster Auflage Anfang der 1960er erschien, dann eine lange Pause einlegte, 1994 in zweiter Auflage neu begann und 2001 wiederum eine neue Auflage erfuhr. Diese erscheint jährlich; uns liegen alle Ausgaben vor; die letzten vier kamen erst kürzlich auf unseren Schreibtisch.

2007 stehen vor allem Laurent Batailles Artikel über das Schlagzeug im heutigen Jazz im Vordergrund, ein Beitrag über Foto und Jazz oder eine Vorstellung französischer Rapmusik. Außerdem findet sich ein analytischer Beitrag des Trompeters Roger Guerin über den musikalischen Stil Louis Armstrongs.

Das Jahrbuch für 2008 enthält eine ausführliche Analyse von Herbie Hancocks Benutzung von Pygmäengesängen und eine Diskussion der ethischen Konsequenzen solcher Projekte mit indigener Musik aus der “dritten” Welt; einen Artikel über David Murray, einen ausführlichen Nachruf auf Michael Brecker und die Analyse eines Fotos des Kornettisten Bix Beiderbecke.

2009 ging es im Boris Vian, den Jazzfan der direkten Nachkriegszeit, um John Coltranes Spiritualität und ihre Ausprägung in seiner Musik und über Duke Ellingtons “Heaven”.

In der jüngsten Ausgabe von 2010 finden sich neun Aufsätze zu Michael Brecker, darunter ein Nachruf seines Bruders Randy Brecker, analytische Annäherungen an seine Musik von Pierre Sauvanet, Piere Genty und Bertrant Lauer und eine Diskographie. Ein Aufsatz über Albert Ayler von Frédéric Bisson, eine Untersuchung unterschiedlicher Ansätze der Jazzforschung von Laurent Cugny und ein kurzer Beitrag über Bricktop in Rom sind ebenfalls interessante Beiträge dieses Bandes, an dem uns aber vor allem eine kleine Fußnote faszinierte, die Lucien Malson kurz vor Schluss vorstellt: ein Beispiel für das Messen ästhetischer Urteilsfindung in einem Textbuch der philosophischen Fakultät der Universität von Dijon, in dem die Korrelation zwischen (weiblicher) Haarfarbe – blond oder brünett – und Musikgeschmack – Bach oder Bebop – ausgerechnet wird. Alle Bände enthalten ausführliche Buchbesprechungen jüngster Neuerscheinungen und das eine oder andere Gedicht von Alain Gerber.

Wolfram Knauer (Januar 2011)


 

Streiflichter. Erinnerungen und Überlegungen zum Jazz in Dresden rund um die politische Wende
herausgegeben von Matthias Bäumel & Viviane Czok-Gökkurt
Dresden 2010 (Jazzclub Neue Tonne)
56 Seiten, 5 Euro
ISBN: 978-3-941209-04-6

Layout 1Zwanzig Jahre nach der Wende ist vielleicht endlich die notwendige zeitliche Distanz geschaffen, um die Situation des Jazz in der DDR und der Wendezeit aufzuarbeiten. Das vorliegende Büchlein dokumentiert die Ereignisse und Diskussionen seit dem 18. September 1989, als in Berlin Musiker aus dem Rock- und Unterhaltungsbereich – unter ihnen beispielsweise Conny Bauer – eine Resolution unterzeichneten, mit der sie den öffentlichen Dialog im Land forderten. Diese Resolution wurde von den Tageszeitungen nicht abgedruckt, also entschlossen die Unterzeichner sich, sie vor jedem ihrer Auftritte zu verlesen. In Dresden wird am 6. Oktober der junge Schlagzeuger Harald Thiemann festgenommen und für eine Woche in Untersuchungshaft nach Bautzen gebracht, weil er, mehr zufällig, in eine der Dresdner Demonstrationen kam. Beim Tonne-Konzert mit Hannes Zerbe an diesem Abend kann er daher nicht dabeisein. In der Tonne wird derweil darüber diskutiert, ob man in dieser politisch brenzligen Situation überhaupt Kunst machen könne. Wir lesen, wie am 9. November bei einem Konzert im Berliner Babylon die Zuhörer nebenher den neuesten Meldungen aus mitgebrachten Kofferradios lauschten, wie Baby Sommer die Wende erlebte, und wie er bei einer Kundgebung seine Vision kundtat: “Täte man die Parteiabzeichen aller unfähigen Funktionäre in eine große Metallschüssel, ich könnt euch ein Perkussionskonzert spielen, dass es durchs ganze Elbtal raschelt!” Wir erfahren von der nahezu jazzlosen Zeit in der Tonne im Oktober 1989. Niemand wusste, wie die Lage sich verändern würde, ist die eine Erklärung dafür, ob nicht vielleicht auch politische Aktionen befürchtet würden, die von den Konzerten ausgingen, kann nur gemutmaßt werden. Immerhin gab es neben einer Dixielandveranstaltung zwei zeitgenössische Konzerte: das eine mit Hannes Zerbe, dem sein Schlagzeuger in Bautzen abhanden kam, das andere unter dem Titel “Klänge, Gesten und Gestalten” mit der Sängerin Roswitha Trexler, der Tänzerin Hanne Wandtke und dem Pianisten Frederic Rzewski. 20 Jahre später erinnerten zwei Konzerte an diese beiden Events aus dem Wendejahr. Das Büchlein, dass all diese Erinnerungen dokumentiert, ist eine liebevoll gestaltete Broschüre mit vielen Fotos, mit Zeichnungen des viel zu früh verstorbenen Jürgen Haufe, mit einem kurzen Essay über die (möglichen) Verbindungen zwischen Jazz und Staatssicherheit, in dem vor allem die Erkenntnisse von Viviane Czok-Gökkurt, die ihre Diplomarbeit zum Thema schrieb, zusammengefasst sind. Lesenswert, nachdenkenswert, und doch immer noch erst der Beginn einer Aufarbeitung.

Wolfram Knauer (Dezember 2010)


 

Plattenboss aus Leidenschaft
von Siggi Loch
Hamburg 2010 (Edel Vita)
272 Seiten, 26,95 Euro
ISBN: 978-3-941378-81-0

2010lochManfred Eicher, Stephan Winter, Matthias Winckelmann, Horst Weber, Jost Gebers, Siggi Loch – sie alle prägten die deutsche Jazzszene genauso wie es die Musiker taten, sorgten dafür, dass Jazz in Deutschland nicht nur einen Namen, sondern vor allem auch einen guten Klang hatte. Loch ist der Dienstälteste unter diesen Plattenmachern und Produzenten und hat jetzt ein Buch vorgelegt, in dem er ausführlich aus seinem Leben und vor allem aus seinem Geschäft berichtet.

Wir lesen von seiner ersten Faszination mit dem Jazz durch ein Konzert (und eine Platte) des Sopransaxophonisten Sidney Bechet, von ersten Jobs als Vertreter für die Electrola, spätere Positionen als Label-Manager und bald auch Produzent für Philips, schließlich als Chef der europäischen Dependence des US-Plattengiganten Liberty Records, zu dem neben anderen auch das legendäre Blue-Note-Label gehörte. Loch erzählt über Erfolge und Flops, über Zufälle und Strategien, über Musiker und Produkte, über Produzentenkollegen und die Unterschiede des Geschäfts in den USA und Europa, über Jazz, Pop, Schlager und vieles mehr. Das liest sich mehr als flüssig, und die Tatsache, dass Loch quasi auf jeder Seite von einem Genre ins nächste gleitet, wie es eben seine Karriere vorgegeben hat, macht die Lektüre ungemein abwechslungsreich.

Wir begegnen Klaus Doldinger (dessen erstes Album Loch produzierte), Al Jarreau, Katja Epstein, Frank Sinatra, Mick Jagger, Francis Wolff, Jürgen Drews und Franz Beckenbauer, erfahren über Beruf und Privatleben des Produzenten, Fußball-WMs und Segelregatten. Loch war 1967 als einer der jüngsten Plattenbosse mit eigener Firma gestartet gehörte spätestens seitdem er eine leitende Position bei Warner Brothers bekleidete zu den wichtigsten Tieren der internationalen Plattenbranche. Neben der Musik hatte er sich dabei vor allem ums Geschäft zu kümmern, um die Probleme mit Schwarzpressungen, um laufende Fusionen und gegenseitige Aufkäufe der Plattengiganten. Mit den Bonuszahlungen kaufte er sich schon mal ein Haus in Kiel-Schilksee, “dem Hafen meiner Segelyacht ‘Tambour'” und wurde durch seinen Freund, den französischen Pressemagnaten Daniel Filipacchi auf ein weiteres kostspieliges Hobby gebracht; das Sammeln zeitgenössischer Kunst.

Als klar wurde, dass sich mit dem Weggang Neshui Erteguns aus dem Vorstand der WEA einiges bei dem Plattengiganten ändern würde, besann sich Loch der Gründe, warum er eigentlich in dieses Berufsfeld eingestiegen war: “Hatte ich nicht immer vom eigenen Label geträumt? Inzwischen hatte ich die Erfahrung von 27 Berufsjahren und war wirtschaftlich unabhängig.” Geburtstunde: ACT, erst als ein Poplabel, das Loch zusammen mit Annette Humpe und Jim Rakete betrieb, dann, ab 1990, vor allem als Jazzlabel. Er erzählt von seinen ersten Alben für ACT, vom Entdecken neuer Künstler, wieder von Verkaufsstrategien, vom Jazz, der eine wunderbare Musik sei, aber eben auch Geschäft. Loch erzählt dabei durchaus auch aus dem Nähkästchen, etwa wenn er berichtet, wie ihm Roger Cicero abhanden kam oder wie Julia Hülsmann zu ECM gewechselt sei, und man ahnt dabei, dass es da auch eine andere Seite der Geschichte geben mag. Aber Loch ist eben ein gewiefter Geschäftsmann – einer, soviel wird schnell klar, wie ihn der Jazz dringend braucht, um aus der durchaus auch selbstgeschaffenen Nische herauszukommen.

Lochs Autobiographie enthält jede Menge Hintergrundinformation übers Musikgeschäft. Es ist ein lesenswertes Buch, gerade weil es so andere Geschichten des Business erzählt als man sie aus Musikerbiographien kennt. Und bei der Lektüre teilt sich immer wieder mit, was Loch im Titel seines Buchs andeutet, dass neben dem Geschäft eben auch die Leidenschaft vorhanden sein muss, um in diesem Beruf erfolgreich zu sein.

Wolfram Knauer (Dezember 2010)


 

Dusk Fire. Jazz in English Hands
von Michael Garrick & Trevor Barrister
Earley, Reading 2010 (Springdale Publishing)
260 Seiten, 15 Britische Pfund
ISBN: 978-0-9564353-0-9

2010garrickMichael Garrick gehört seit den späten 1950er Jahren zu den aktivsten Musikern der modernen britischen Jazzszene. Mit “Dusk Fire” legt er seine Autobiographie vor. 1933 in Enfield, Middlesex, geboren, erhielt er erste Klavierstunden von seiner Mutter. Sein erster großer Einfluss war das enge Zusammenspiel der vier Musiker des Modern Jazz Quartet, und so ist es kein Wunder, dass sein erstes Quartett dieselbe Besetzung hatte. Frühzeitig interessierte ihn dabei auch genuin englisches Material als Grundlage für die Improvisationen, also arrangierte er Songs wie “Barbara Allen” oder “Bobby Shaftoe” und schrieb erste eigene Stücke die ähnlichen Mustern folgten. 1961 gründete er die Konzertreihe “Poetry and Jazz in Concert”, 1967 eine weitere Reihe an Kirchenkonzerten, “Jazz Praises”. Anfangs verdiente er sich sein Geld noch als Lehrer, ab 1965 war Garrick dann “Full-time”-Musiker.

In seinem Buch berichtet er über Plattenveröffentlichungen, etwa “Moonscape” von 1964, über Kollegen wie Joe Harriott, Don Rendell und Ian Carr, über den Einfluss durch Bill Evans, den er im März 1965 in London hörte. 1976 ging Garrick in die USA, um am Berklee College in Boston zu studieren; daneben nahm er Unterricht bei der legendären Madame Chaloff, der Mutter des Saxophonisten Serge Chaloff, die ihm gezeigt habe, wie man allein durch Körperbeherrschung einen kraftvollen Sound erzeugen könne — Keith Jarrett habe bei ihr gelernt und Herbie Hancock und Chick Corea hätten Stunden bei ihr genommen. Nach seiner Rückkehr gründete Garrick eine neue Band, der die Sängerin Norma Winstone angehörte. Er spielte mit Nigel Kennedy und der großartigen Adelaide Hall, begleitete amerikanische Solisten bei Konzerten in England und spielte Duos mit Dorothy Donegan. 1985 wurde er Dozent an der Royal Academy of Music, und er schreibt ausführlich über seine Erlebnisse als Lehrer und Teil der britischen Schulbürokratie. Duke Ellingtons Musik hatte ihn immer fasziniert, und als er die Möglichkeit hatte, eine eigene Bigband zusammenzustellen, was der Duke offensichtlich eines seiner großen Vorbilder.

Garricks Buch ist eine Sammlung an Erinnerungen an eine lange Karriere, manchmal ein wenig schwerfällig lesbar angesichts der vielen Namen, bei denen man zurückblättern möchte, um den Zusammenhang zu verstehen, voller Anekdoten auch, die immerhin einen Einblick in das Wirken eines bedeutenden britischen Musikers erlauben, zwischen insularer Verwurzeltheit und Faszination mit dem Fremden des amerikanischen Jazz. Eine Sammlung eigener journalistischer Artikel, eine Diskographie und ein ausführlicher Index runden das Buch ab, das reich bebildert ist und ein Kapitel britischer Jazzgeschichte aus der Sicht der Musiker beschreibt und gibt damit einen interessanten Einblick in den Alltag eines Musikers in den 1960er bis 1990er Jahren.

Wolfram Knauer (Dezember 2010)


 

Miles Davis. Eine Biographie
von Wolfgang Sandner
Berlin 2010 (rowohlt Berlin)
304 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-677-4

2010sandnerEs ist immer so eine Frage: Warum braucht es noch eine weitere Biographie der bekannten Jazzgrößen? Louis Armstrong, Duke Ellington, John Coltrane, Charlie Parker, Miles Davis … über sie alle ist so viel geschrieben worden! Doch tatsächlich muss sich jede Zeit ihre Jazzgrößen neu entdecken. Und so ist Wolfgang Sandners Blick auf das Leben und Werk von Miles Davis eben der Blick aus dem Jahr 2010 und damit ein neues Buch, kein Wiederaufguss. Es ist ein liebevolles, sprachlich gelungenes Buch – wie nicht anders zu erwarten beim ehemaligen FAZ-Musikredakteur. Und es ist, wie Sandner in seinem Vorwort zugibt, ein Bekenntnis: für “den eigenen Geschmack, die eigene Anschauung und die eigene ästhetische Vorliebe”. Dabei hat er sich einen Satz, den Miles einst einem Interviewer mitgab, zu Herzen genommen: “Wenn du alles verstündest, was ich sage, wärst du ich.”

Mit diesem Caveat, dass eine Biographie immer nur eine Annäherung sein kann, beginnt Sandner also seine Reise zur Person und zur Musik des Miles Davis. Er berichtet etwa vom Vater, der ein durchaus wohlhabender Zahnarzt in St. Louis war und seine Kinder in Sinfoniekonzerte mitnahm, Miles auf seinem eigenen Pferd reiten ließ und dabei zugleich ein Anhänger von Marcus Garvey war. Diese Mischung aus dem Stolz auf die eigene Hautfarbe und mittelständischen Werten prägte Miles sein Leben lang sowohl im Positiven wie auch im Negativen, in seiner politischen Haltung wie im Versuch dem Bourgeoisen seiner eigenen Biographie zu entkommen. Erste Jobs als Musiker, erste Freundin, erstes Kind, Streit mit dem Vater, Flucht nach New York. Sandner beschreibt die Situation: “Da kam ein gut erzogener, schüchterner Schwarzer aus dem Mittleren Westen nach New York: Achtzehn Jahre alt, Nichtraucher, ohne Erfahrung mit Alkohol und keinen blassen Schimmer von Kokain, Heroin und anderen Versuchungen des Bösen. Mit einer Trompete unter dem Arm und einem einzigen Gedanken im Kopf: Wo finde ich Charlie Parker, den größten Jazzmusiker der Gegenwart, der sich anschickt, der größte Jazzmusiker der Zukunft zu werden?” Parker fand er bald, spielte mit ihm und anderen, tauchte zugleich ein in eine Welt, die von Musik und Drogen beherrscht wurde, denen letzten Endes auch er sich nicht würde entziehen können. Mit John Lewis, Gerry Mulligan und anderen jungen Musikern traf er sich in Gil Evans’ Kellerapartment und entwickelte die Idee einer Musik, in der mit möglichst wenigen Instrumenten eine Klangvielfalt und klangliche Durchorganisation erlangt wurde, wie man sie sonst beispielsweise von großen Orchestern wie dem von Claude Thornhill kannte. Die Aufnahmen seines Nonets, das diese Arrangements verwirklichte, wurden später als “The Birth of the Cool” herausgebracht und Miles damit als einer der Väter des Cool Jazz gesehen, so wie er als einer der Großen des Hard-Bop, einer der Erfinder des modalen Jazz oder noch später als der Wegbereiter der Fusion zwischen Jazz und Rock gesehen wurde. Wie immer man seine Wendungen beurteilt, es ist klar, dass es Miles darum ging, neue Sounds zu erkunden, am Puls der Zeit zu bleiben, seine eigene Stimme in die jeweils augenblickliche Sprache der Musik einzubringen.

Sandner beschreibt Miles’ liebevolle Beziehung zu Juliette Greco und seine späteren Ehen, die irgendwo zwischen Liebe, Vergötterung und Gewalttätigkeit lagen; er beschreibt die so wechselvolle Persönlichkeit des Trompeters, die aus Stolz, übersteigertem Selbstbewusstsein und Verletzlichkeit zugleich zu entstehen schien. Er beschreibt die Meisterwerke, “Kind of Blue” etwa, seine Alben mit Gil Evans, das großartige Quintett der 1960er Jahre, “Bitches Brew”, seine Fusionerfolge der 1970er Jahre, Rückschläge, Erholungen, die Rückkehr zum Blues und verflicht all das mit einer Beschreibung des Menschen, die sprachlich so gelungen ist, dass man sich gern festliest, dass man in den musikalischen Beschreibungen den Ton des Meisters zu hören glaubt und dass selbst die Beschreibung der dunklen Seiten des Klangmagiers einer gewissen Lyrik nicht entbehren, weil sie nicht entschuldigt, aber erklärt, warum Miles ist wie er ist und damit eben auch, warum er spielt wie er spielt. Ein gelungenes Buch, eine spannende Lektüre.

Wolfram Knauer (Dezember 2010)


 

African Rhythms. The Autobiography of Randy Weston
Von Randy Weston & Willard Jenkins
Durham/NC 2010 (Duke University Press)
326 Seiten, 32,95 US-Dollar
ISBN: 798-0-8223-4784-2

2010westonVon all den Jazzmusikern, die irgendwann in ihrem Leben nach den Wurzeln ihrer Musik suchten, ist Randy Weston einer der wenigen der sie gefunden hat: in der Musik Afrikas, die er genauso umarmte wie sie ihn, die er aber bereits zu einer Zeit “gefunden” hatte, als er den afrikanischen Kontinent physisch noch gar nicht betreten hatte. Willard Jenkins erzählt im Vorwort, wie es zu diesem Buchprojekt kam, wie sehr er erst von Westons Musik, dann von seinen Geschichten und seiner Fähigkeit zum Geschichtenerzählen begeistert war, aber auch von der Bewunderung, die Weston in seiner zweiten Heimat, Marokko, entgegenschlägt, wann immer er dort auftritt oder auch nur durch die Straßen läuft. Jenkins hatte eigentlich eine Biographie des Pianisten geplant, aber mehr und mehr wurde klar, dass das Buch eine Autobiographie werden würde, für die Weston quasi als “Komponist” diente, während Jenkins als “Arrangeur” tätig wurde.

“Ich bin eigentlich ein Geschichtenerzähler”, beginnt Weston die Einleitung des Buchs, “kein Jazzmusiker. Ich bin ein Geschichtenerzähler durch Musik, und ich kann von erstaunlichen und einzigartigen Erlebnissen berichten. (…) Gott ist der wirkliche Musiker. Ich bin ein Instrument und das Klavier ist ein weiteres Instrument. Das habe ich in Afrika gelernt.”

Mit solchen Worten zieht Weston den Leser ein in eine tatsächlich faszinierende und einzigartige Geschichte. Er erzählt von seinem Vater, der aus einer jamaikanischen Familie stammte und ein ergebener Anhänger von Marcus Garvey war, der in den 1920er Jahren die Back-to-Africa-Bewegung mitbegründet hatte, sowie von seiner Mutter, einer zerbrechlichen kleinen Frau, die für wenig Geld die Böden anderer Leute schrubbte und nie klagte, nie bettelte, immer mit Würde lebte. Er erzählt über seine Kindheit in Brooklyn, seine ersten musikalischen Erlebnisse und wie seine Größe (Weston misst über 2 Meter) ihm immer Komplexe bereitete, für die Musik die beste Zuflucht war. Er erzählt, wie die Häuser großer Musiker wie Max Roach oder Duke Jordan interessierten Kollegen in jenen Jahren immer offenstanden. 1944 wurde Weston zur Armee eingezogen, entgegen seinen Hoffnungen, dass er wegen seiner Körpergröße untauglich geschrieben würde. Er verbrachte ein Jahr auf Okinawa und baute dort eine Kommunikationsstellung aus, kehrte dann nach Brooklyn zurück, hörte sich jeden Abend die großen Pianisten an, die in der Stadt auftraten, Art Tatum, Erroll Garner oder Hank Jones, und führte das Restaurant seines Vaters. Er erinnert sich, wie Charlie Parker ihn eines Abends abschleppte, um mit ihm eine halbe Stunde lang zu spielen, das einzige Mal, dass sie zusammen auftraten, einen Moment, den er nie vergessen werde.

Er arbeitete Anfang der 1950er Jahre als Tellerwäscher in den Berkshires, als er mehr zufällig einen Vortrag des Jazzhistorikers Marshall Stearns im Music Inn in Lenox hörte. In der Folge kam Weston die nächsten zehn Jahre jedes Jahr nach Lenox, trat dort bald mit seinem Trio auf und begleitete Stearns Vorträge mit Musikbeispielen. Was ihn an Stearns beeindruckte, war, dass dieser immer die Wurzeln des Jazz in Afrika hervorhob, die Geschichte dieser Musik also nicht in New Orleans beginnen ließ, wie dies sonst üblich war. Zusammen mit Stearns ging Westons Trio auf Tournee mit einem Programm, dass Schülern und Studenten überall im Land die Jazzgeschichte näher bringen sollte, dem ersten Jazzgeschichtskurs im amerikanischen Schulsystem.

Weston erzählt von seinen Begegnungen mit Langston Hughes, Duke Ellington, Dizzy Gillespie, Thelonious Monk, mit dem Ghanaischen Jazzmusiker Kofi Ghanaba oder Gnawa-Musikern in Marokko. Vor allem aber erzählt er eine Geschichte, in der seine musikalische Entwicklung eingebettet ist in ein Leben mit scheinbar glücklichen Zufällen, tatsächlich aber offenen Ohren und Augen, mit denen er angebotene Gelegenheiten aufgreifen und ausnutzen konnte. Nach wenigen Seiten ist man in “African Rhythm” versunken, mag es nicht mehr aus der Hand legen. “Diagonallesen”, wie man das oft durchaus erfolgreich macht, wenn man professionell mit dieser Musik zu tun hat, geht hier nicht mehr, weil man in jeder Geschichte, in jedem Geschichtenstrang so gefangen ist, dass man mehr wissen will, weil Weston die Begebenheiten und Begegnungen mit Menschen so plastisch schildert, dass man das Gefühl hat selbst mit dabei zu sein. Man spürt die Mischung aus Selbstbewusstsein und Schüchternheit, die auch dem Menschen Weston eigen ist, die kraftvolle linke Hand und die betörenden Melodien in der rechten, das Wissen und die Neugier.

Es hat lange kein Buch mehr gegeben, dass sich in die großen Autobiographien des Jazz einreihen könnte, wie sie von Louis Armstrong, Sidney Bechet, Duke Ellington, Dizzy Gillespie, Art Pepper und Miles Davis vorgelegt wurden. Randy Westons “African Rhythms” gehört ganz gewiss in diese Reihe. Ein großartiges Lesevergnügen!

Wolfram Knauer (Oktober 2010)


 

Scandinavian Wood. Niels-Henning Ørsted Pedersens musikalske løbebane i lyset af hans diskografi
Von Jørgen Mathiasen
Kopenhagen 2010 (Books on Demand)
350 Seiten, 335 Dänische Kronen
ISBN: 978-87-7114-599-1

Scandinavian Wood. The musical career of Niels-Henning Ørsted Pedersen in the light of his discography
Von Jørgen Mathiasen
Copenhagen 2010 (Books on Demand)
358 Seiten, 335 Dänische Kronen
ISBN: 978-3-8423-5157-8

2010mathiasenJørgen Mathiasen ist ein in Berlin lebender dänischer Musikwissenschaftler mit speziellem Interesse sowohl an der Musik Duke Ellingtons wie auch an Musikästhetik oder dem Jazz aus seiner eigenen Heimat, Dänemark. Seit einiger Zeit beschäftigt er sich mit Niels-Henning Ørsted Pedersens “musikalischer Laufbahn im Lichte seiner Diskographie”, wie es im Untertitel seiner dicken Monographie heißt. Die Diskographie macht den größten Teil des Buchs aus, das daneben aber auch eine sechzigseitige Würdigung des musikalischen Schaffens des Kontrabassisten bietet.

Im Vorwort thematisiert Mathiasen erst einmal grundsätzlich die Bedeutung von Diskographien für die Jazzforschung. Sein erstes Hauptkapitel ordnet Ørsted Pedersens Biographie in die Geschichte seines Heimatlandes ein. Mathiasen beschreibt die Situation der Jazzszene in den Jahren vor Ørsted Pedersens Geburt im Mai 1946, das Elternhaus des Bassisten, musikalische Einflüsse, seine ersten Auftritte als Bassist, als vierzehnjähriger Gymnasiast in der Band des schwedischen Saxophonisten Rolf Billberg. Eigene Kapitel widmet Mathiasen Ensembles, in denen Ørsted Pedersen sein Handwerkszeug verfeinerte oder aber sich weit über die Grenzen Dänemarks hinaus einen Namen machte, der DR Big Band etwa, also dem dänischen Rundfunkorchester, seiner Zeit als Hausbassist des Montmartre Jazz Clubs in Kopenhagen, Engagements mit Dexter Gordon, Kenny Drew, Ben Webster und natürlich Oscar Peterson. Mathiasens Anmerkungen zur Zusammenarbeit NHØPs mit Musikern wie diesen versucht vor allem, faktische und biographische Informationen zu liefern, die die folgende Diskographie in den notwendigen Kontext stellen. Auch die Aufnahmen unter eigenem Namen werden gewürdigt, und in einem kurzen Kapitel diskutiert Mathiasen Ørsted Pedersens skandinavische musikalische Identität, die Idee des “nordischen Tons”, der weit über die Benutzung von Volksmelodien hinausgehe. Schließlich stellt sich die Frage nach “Imitation und Emanzipation” bei einem Musiker wie Ørsted-Pedersen besonders, der so intensiv mit amerikanischen Kollegen zusammenspielte, ohne seine Heimat und sein Bewusstsein als dänischer Musiker aufzugeben.

2010mathiasen2Nach einer Bibliographie über NHØP macht den Hauptteil des Buchs dann die Diskographie aus, die Aufnahmen zwischen September 1960 (Don Camillo and his Feetwarmers) und März 2005 (mit seinem eigenen Trio) listet. Dieser Teil enthält die üblichen Details jazzmusikalischer Werkverzeichnisse: Besetzungen, Ort und Datum der Aufnahme, eingespielte Titel, Erst- und Wiederveröffentlichungen, sowie, wo immer nötig, Kommentare zur Aufnahmesitzung. Neben den schon genannten Namen sind dabei Musiker wie Bud Powell, Don Byas, Albert Ayler, Roland Kirk, Archie Shepp oder Sonny Rollins zu nennen, aber auch dänische Kollegen wie Ib Glindemann, Svend Asmussen oder Palle Mikkelborg. Mathiasen zählt weit über 500 Aufnahmesitzungen, an denen Ørsted Pedersen beteiligt war – wahrlich ein klanglicher Nachlass erster Güte.

Die Entscheidung des Autors, das Buch auf Dänisch erscheinen zu lassen, ist wahrscheinlich der Hauptzielgruppe seiner Leserschaft zu schulden; dabei hätte eine englische Übersetzung zumindest des ersten Teils vielleicht keine zu großen zusätzlichen Kosten verursacht. Alles in allem: ein nüchternes Werkverzeichnis und dennoch eine labor of love, der man die Akribie und Genauigkeit anmerkt, die der Autor in seine Recherchen gesteckt hat.

Wolfram Knauer (Oktober 2010)

Zusatz: Inzwischen ist das Buch auch auf englisch erschienen und damit für eine breitere Leserschaft interessant. Die Übersetzung entspricht in Form und Inhalt der dänischen Originalausgabe.

(Wolfram Knauer (März 2012)


 

Die Wiener Jazzszene. Eine Musikszene zwischen Selbsthilfe und Institution
Von Stefanie Bramböck
Frankfurt/Main 2010 (Peter Lang)
194 Seiten, 39,80 Euro
ISBN: 978-3-631-59652-4

2010bramboeckSoziologische Studien zur Jazzszene gestalten sich erfahrungsgemäß schwierig: Es ist von vornherein nicht gerade leicht, die zu untersuchenden Gruppen genauer zu identifizieren: Musiker, Publikum, und wenn, dann welches: Konzertpublikum, traditioneller Jazz oder zeitgenössischere Spielrichtungen, Festivalbesucher oder Clubgänger, Plattenkäufer oder Downloader und so weiter und so fort. Hypothesen neigen in diesem Bereich noch mehr als in anderen dazu, zu self-fulfilling prophecies zu werden, und systematisch erhobene Daten sind oft bei Drucklegung der Studie bereits wieder hoffnungslos überholt. Trotz all solcher Schwierigkeiten ist es wichtig, soziologisch an den Jazz heranzugehen, weil empirische Untersuchungen Zahlen und Fakten bringen können, die für die politische Argumentation etwa über den Sinn einer Jazzförderung notwendig sind.

In Deutschland gab es über die Jahre Studien zum Jazzpublikum, zu den Arbeitsbedingungen von Musikern und zur Lage der Clubs. Eine übergreifende Studie über “die Jazzszene” als soziologisch spannendes Geflecht unterschiedlichster Beziehungen zwischen Musikern und Musikern; Musikern und Veranstaltern; Musikern, Veranstaltern und Publikum; all dieser Bereiche und der Jazzkritik und vielem mehr lässt leider nach wie vor auf sich warten. Stefanie Bramböck hat jetzt mit ihrer als Diplomarbeit im Fach Musikwirtschaft entstandenen Diplomarbeit eine die verschiedenen Seiten dieses Beziehungsgeflechts berücksichtigende Studie vorgelegt, die die aktuelle Wiener Jazzszene als eine “Musikszene zwischen Selbsthilfe und Institution” beschreibt und analysiert.

Der Jazz sei eine Musik von Individualisten, stellt Bramböck gleich im Vorwort fest, der anders als Klassik und Popmusik nie wirklich systematisierbar bzw. strukturierbar gewesen sei. Sie geht ihre Aufgabe von unterschiedlichen Seiten an, fragt etwa zu Beginn nach den Musikern und ihrer Motivation dazu, überhaupt Jazz zu machen. Sie beleuchtet die Auftrittsorte und wirft einen besonderen Blick auf zwei Wiener Clubs, das Porgy & Bess und Jow Zawinuls Birdland, das nach großem Erfolg in die Pleite rutschte. Sie vergleicht die Clubsituation mit der größerer Konzerte, fragt nach der Aufgabe von Musikagenten und Musikmanagern, beleuchtet die Rolle der Medien – Fernsehen, Rundfunk und Printmedien – und wirft auch einen Blick aufs Publikum selbst. Die Musikindustrie erhält ein eigenes Kapitel, in dem Bramböck die Situation von Plattenlabels genauso hinterfragt wie aktuelle Produktionswege für Musiker (YouTube, MySpace, die CD als künstlerische Visitenkarte). Schließlich befasst sie sich in einem letzten Kapitel mit den unterschiedlichen Fördermöglichkeiten für Jazzmusiker in Wien – durch den Bund, die Stadt, den SKE-Fonds oder den Österreichischen Musikfonds. Während Bramböck für den größten Teil ihres Buchs vor allem auf Sekundärliteratur sowie Interviews mit Betroffenen zurückgreift, ist dieser Teil ihrer Studie der einzige, der konkrete Zahlen vorlegt.

Die fünfseitige Zusammenfassung macht noch einmal klar worum es der Autorin geht: Sie fragt danach, was es braucht, um in einer Stadt wie Wien einen Szenetreffpunkt zu etablieren, wie er für eine kreative Jazzszene unabdingbar ist. Sie stellt die Fragmentierung der Szene fest und auch das Fehlen von Lobbystrukturen. In ihrem Fazit fordert sie schließlich eine verstärkte Institutionalisierung und Internationalisierung der bereits vorhandenen funktionierenden Infrastruktur. Sie identifiziert Handlungsbedarf insbesondere in der medialen Unterstützung und Präsenz des Jazz und fordert die Geldgeber öffentlicher Subventionen auf, “bestehende und beharrende Förderstrukturen aufzubrechen, um einerseits Neues entstehen lassen zu können und andererseits auf bereits bestehende Finanzierungsbedürfnisse zu reagieren”.

Bramböcks Buch ist eine Fachstudie, also keine “Geschichte des Wiener Jazz”. Sie kann als Anleitung zur Konsolidierung einer überaus aktiven Szene gelesen werden und dabei auch Jazzaktiven in anderen Städten Hinweise darauf geben, was zu tun sei, um die so ungemein lockeren und oft wenig greifbaren Strukturen der Jazzszene zu festigen, um kreative Freiräume zu schaffen, in denen Musiker experimentieren und Neues entwickeln können. “Die Wiener Jazzszene” ist damit ein Argument in einer auch hierzulande bereits geführten Diskussion.

Wolfram Knauer (Oktober 2010)


 

Talking Jazz
von Till Brönner & Claudius Seidl
Köln 2010 (Kiepenheuer & Witsch)
207 Seiten, 18,95 Euro
ISBN: 978-3-462-04167-5

2010broennerClaudius Seidl ist Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Außerdem ist er Jazzfan. Liebhaber sei er, deshalb würde er selten über Jazz schreiben. Als aber ein Verleger ihn anrief, um zu fragen, ob er nicht einen guten Schreiber kenne, der zusammen mit Till Brönner ein Buch über sine Erfahrungen und ästhetischen Haltungen schreiben könne, da juckte es ihn in den Fingern. Eine Woche lang trafen sie sich jeden Morgen am Ufer der Havel, fuhren im Boot auf eine der Havelinseln und unterhielten sich, über Deutschland, die Welt und den Jazz. Das Ergebnis ist ein sehr persönliches Buch, in dem die Gespräche aufgelöst sind in kleine Kapitel mit den auf “kurz” zusammengefassten Fragen quasi als Überschriften, denen Brönners Antworten folgen, voller Liebe für die Musik, voll Unzufriedenheit darüber, dass die Musik, die er liebt, in Deutschland manchmal einen so seltsamen Ruf genießt und voll fast schon missionarischen Eifer, das zu ändern. So viele Leute liefen mit Missverständnissen darüber herum, was Jazz eigentlich sei; da täte Aufklärung dringend Not. Denn: “Jeder liebt Jazz!. Es gibt aber Menschen, die wissen schon, dass sie Jazz-Liebhaber sind. Und es gibt Menschen, die haben es noch gar nicht gemerkt.”

Brönners Mission läuft ja schon länger: Er ist in Talkshows präsent wie kein anderer seiner Zunft; über ihn wird in Bild genauso wie in Frauenzeitschriften berichtet; er moderierte den Jazz Echo und er sitzt in der Jury zum “X Factor”. Brönner also hat bereits einen Fuß in der Tür derjenigen, die noch nicht gemerkt haben, dass sie Jazz-Liebhaber sind. Mit seinem Buch will er die Tür ein wenig weiter öffnen, will Überzeugungsarbeit leisten, indem er von seinem eigenen Enthusiasmus berichtet, weil er fest davon überzeugt ist, dass Enthusiasmus mitreißen kann, ja mitreißen muss.

Brönners Buch ist keine übliche Autobiographie, aber natürlich spielt seine eigene Geschichte eine wichtige Rolle, denn Musik erklärt sich aus dem Individuum heraus, das sie macht. Er berichtet von seiner musikalischen Familie, von der ersten Platte, von seiner Faszination durch Bigbands im Fernsehen, von seinen ersten Gehversuchen als musikbegeisterter Jugendlicher, und davon, dass er heute noch wisse, “an welcher Stelle des Schulhofes das Auto stand, in dem ich, staunend und sprachlos, zum ersten Mal Charlie Parker hörte”.

Der Trompete ist mindestens ein eigenes Kapitel gewidmet, aber natürlich taucht sie überall auf im Buch. Die Königin des Jazz sei sie, der Trompeter “geradezu naturgemäß der Chef”. Im Musikaliengeschäft von “Tante Doris”, der Schwester seiner Mutter, konnte er alle möglichen Instrumente ausprobieren; hier bekam er auch seine erste Trompete, ein Geschenk zur Erstkommunion. Er erzählt vom Trompetenunterricht, vom klassischen Wettbewerb “Jugend musiziert”, bei dem er mitmachte und nur den zweiten Platz belegte. Er wusste warum: Seine wahre Liebe galt dem Jazz. Er schreibt über den Klang und die Körperlichkeit des Klangs, über die Anstrengung das Instrument zu beherrschen und seine Beherrschung auch zu behalten, und über die ewige Konkurrenz zwischen Trompete und Saxophon.

Mitte der 80er Jahre kam Brönner ins Landesjugendjazzorchester, wenig später ins neu gegründete Bundesjazzorchester unter Leitung Peter Herbolzheimers. Der war Respekt einflößender Orchesterchef, zugleich aber auch Mensch, und Brönner wurde immer wieder eingeladen, in Herbolzheimers anderer Band, der Rhythm Combination & Brass mitzuwirken. Immer spielte er “A Night in Tunesia” vor, bei “Jugend jazzt” genauso wie beim BuJazzo oder beim Rias-Tanzorchester unter Horst Jankowski, in dem er als jüngster Kollege unter Vertrag genommen wurde und acht Jahre lang arbeitete. Im Rias-Orchester konnte er lernen, dass zur Professionalität eines Musikers auch gehörte, nicht immer nur Jazz zu spielen und sich selbst “nicht immer und bei jedem Stück so furchtbar wichtig zu nehmen”. Er erzählt von Playback-Konzerten, von Dieter Thomas Heck, der schon mal über diese “Negermusik” schimpfte, von Peter Alexanders Jazztalent, von Harald Juhnke, der sich seine Programmabfolge nicht merken konnte, und vom Orchesterchef Horst Jankowski, den er bewunderte und doch auch immer wieder bemitleidete.

Natürlich geht’s ums Business: Brönner erzählt, wie er seine Solokarriere 1993 begann, erstes Album, Pressekontakte, erstes Renommee, erster Verriss: Rückwärtsgewandt sei das, was er mache, oberflächlich. Von Anfang an also musste er sich mit dem Problem auseinandersetzen, dass viele seiner Kritiker den Jazz vor allem dann gelten ließen, wenn er in ihren Augen Avantgarde sei, wobei sie das “Prinzip Avantgarde” kaum hinterfragten. Die Musiker würden sich selten so äußern; die “Deuter und Hüter der Reinheitsgebote” fänden sich vor allem unter den Kritikern. “Der kann doch viel mehr”, werde ihm dann etwa vorgeworfen, “Das sei kein Jazz mehr”, oder “Der dient sich dem Publikum an”. Brönner erzählt die Kritiken nach und ist sichtbar getroffen darüber, dass diese Kritiker ihn als Musiker nicht ernst nehmen, seinen eigenen Weg nicht sehen und ihn nicht nach Kriterien beurteilen wollen, die sie aus seiner Musik ableiten.

Brönner erzählt über seine Debüt-Platte, für die er eigenhändig Ray Brown verpflichtete, über eine Produktion mit Kindheitsfreund Stefan Raab, darüber, wie er bei Universal landete, über Platten mit Carla Bruni, Sergio Mendes oder über jene Plattenproduktion, bei der Annie Lennox aus der Ferne zugespielt wurde. Er räsoniert über sein Leben, über Freunde, über das Klischee des Jazzmusikers als Drogensüchtigen, über Liebe, Romantik und Frauen. Er reflektiert über die Tatsache, dass er als deutscher Musiker eine Musik mit afro-amerikanischen Wurzeln spielt, und er mach gleich zwei Liebeserklärungen: an Berlin und an Johann Sebastian Bach. Er spricht über den Markt, den Geschmack des Publikums, über die Notwendigkeit guten Marketings und darüber, dass Deutschland immer noch ein großer Markt für die Musikwelt ist. Die Tatsache, dass Marketing offenbar manchmal wichtiger als die Musik selbst ist, sei Grund für erheblichen Frust. So sähe man das ja auch Abend für Abend bei den Casting Shows im Fernsehen, bei denen es nicht so sehr ums Talent gehe als darum, dass jeder ein Star sein könne. Brönner sei solchen Shows gegenüber sehr misstrauisch und es habe eine Weile gebraucht, bis er sich entschlossen habe, selbst in der Jury zu “X Facto” mitzumischen. Ob man als Jazzmusiker von Plattenkäufen leben könne? “Das hängt”, antwortet Brönner” nicht nur davon ab, wie viel man verkauft. Es hängt auch davon ab, wie viel man investiert.” Er nennt die Zahl der ersten Abrechnung, die er 2007 von Unversal erhalten hatte: 1.300 Euro. Zugleich seien Platten aber auch eine Investition ins eigene Repertoire, in den eigenen Namen, die Bekanntheit, das Image.

In einem der persönlichsten Kapitel berichtet Brönner dann noch ausführlich über eine Begegnung, die ihn besonders prägte. Hildegard Knef, für deren letztes Album er komponierte, es sogar produzierte, die von der Kollegin zur Vertrauten und Freundin wurde. Er spricht über die besondere Beziehung zum Publikum, dass oft besser weiß, wie gut man war als man besser, über die Freiheit des Improvisierens, für die es immer einen Rahmen braucht, über Saxophonisten, die ihn beeindruckten, Ben Webster, Johnny Griffin, Lee Konitz, über Groupies, hohe Töne, musikalische Duelle auf der Bühne, über das elitäre Getue einiger “Mitglieder des Betriebs, ob sie jetzt Musiker, Redakteure, Kritiker sind” und über das typische Till-Brönner-Publikum.

Und zum Schluss: Die Vision. Ein Plädoyer für den Erhalt der Rundfunk-Bigbands, für die Gründung einer Jazzakademie nicht passgleich, aber durchaus vergleichbar mit Jazz at Lincoln Center mit eigenen Räumen, eigener Band, eigenen Nachwuchsprojekten. Und Plattenempfehlungen – für Trompeter, für Jazz-Verächter, für die einsame Insel

Alles in allem: ein von Claudius Seidl spannend zusammengestelltes, äußerst flüssig zu lesendes Buch, auch deshalb empfehlenswert, weil Till Brönner mit seiner Meinung nicht hinterm Berg hält, seine eigene Position offen verteidigt und den Leser damit zum Nachdenken bringt, zum Selbst-Position-Beziehen. Man mag nicht überall einer Meinung mit ihm sein; man mag seine Kritikerschelte manchmal für etwas überzogen, seine Sicht auf “die Avantgarde” für etwas kurzsichtig halten; und man mag auch sein Verständnis vom Jazz nicht überall nachvollziehen: Auseinandersetzen aber muss man sich mit seinen Argumenten, die er wohl begründet und mit denen er einen wichtigen Diskurs über den Jazz und seine Rolle im deutschen Kulturleben anschiebt, wie er auch von Künstlerseite her geführt werden muss.

Wolfram Knauer (Oktober 2010)


 

William Parker. Conversazioni sul jazz
Von Marcello Lorrai
Milano 2010 (Auditorium)
140 Seiten (plus 50 Seiten Fotos), 18 Euro
ISBN: 97888-86784-52-8

2010lorraiEs ist erstaunlich, dass sich daran kaum etwas geändert hat: Viele der aktuellen Entwicklungen im amerikanischen Jazz werden in Europa intensiver rezipiert und gewürdigt als im Heimatland dieser Musik. Der deutsche Verlag buddy’s knife hatte vor drei Jahren ein Buch mit Texten und Gedichten des New Yorker Kontrabassisten William Parker herausgebracht; jetzt legt Marcello Lorrai in Italien mit einem Buch nach, in dem Parker in einem langen Interview über seine Erfahrungen in der Musik berichtet, aber auch über seine musikalische Ästhetik. Es geht los mit der Kindheit in Goldsboro, North Carolina, musikalischen Einflüssen zwischen Ellington und Beethoven. Er erzählt von seinem Vater, der den ganzen Tag lang Musik gehört habe, Jack McDuff, Gene Ammons, Coleman Hawkins, Ben Webster. Er berichtet von seiner ersten Hörbegegnung mit dem New Thing, dem Free Jazz Ornette Colemans oder Cecil Taylors, von seiner Faszination durch Gedichte Kenneth Patchens. Er erzählt vom Jazzmobile, jener 1964 von Billy Taylor gegründeten Stadtteilinitiative in Harlem, die den Jazz zu den Menschen bringen sollte. Er berichtet über Weggefährten, Don Cherry etwa, Cecil Taylor vor allem, Bill Dixon, Peter Brötzmann und andere. 1978 sei er mit Jemeel Moondoc und Billy Bang zum ersten Mal nach Europa gereist, wo er seither immer wieder gespielt habe, in kleinen Clubs, auf großen Festivals. Parker reflektiert über Rassismus und die Haltung Amiri Barakas und anderer angry black men. Und zum Schluss berichtet er über drei Bassisten, die in seinem Leben eine wichtige Rolle spielten: Charles Mingus, der ihn so sehr beeinflusst habe; Henry Grimes, dem er nach dessen Wiederentdeckung 2003 ein Instrument besorgte; und den Weggefährten Peter Kowald, mit dem er zusammen das spätere Vision Festival entwickelte und der 2002 in seiner New Yorker Wohnung verstarb. Im Mittelteil des Buches finden sich außerdem 50 Seiten voller Fotos von Luciano Rossetti, der Parker beim Konzert oder backstage abgelichtet hat. William Parker bleibt eine Art Weiser im Jazzgeschäft New Yorks: ein großer Künstler, der ohne Scheuklappen genauso viel Respekt vor der Tradition besitzt wie die Kraft Neues anzugehen, der seine musikalische Weisheit aber auch mitteilen will – anderen Musikern genauso wie im Konzert seinem Publikum oder, in diesem Buch, den Lesern. Für die Lektüre sind Italienischkenntnisse vonnöten – eine Übersetzung, zumindest ins Englische, wäre mehr als wünschenswert.

Wolfram Knauer (Oktober 2010)


 

Von Hitler vertrieben, von Stalin verfolgt. Der Jazzmusiker Eddie Rosner
von Gertrud Pickhan & Maximilian Preisler
Berlin 2010 (be.bra Wissenschaft Verlag)
168 Seiten, 19,95 Euro

2010rosnerBis 1933 hieß er Adolf Rosner, änderte dann, aus naheliegenden Gründen, seinen Vornamen, erst in Ady oder Adi, später in Eddie. Ein jüdischer Jazztrompeter, der in den 20er Jahren in Berlin Karriere machte, an den Aufnahmen der legendären Weintraub Syncopators beteiligt war, dann nach Polen, schließlich nach Russland ging, wo er anfangs als Star gefeiert, dann aber als Jazzmusiker verfolgt wurde. Der Journalist Maximilian Preisler ist schon seit einer Weile auf Rosners Spuren und fand in der Historikerin Gertrud Pickhan nun eine Forschungspartnerin bei der Aufgabe, die Lebensgeschichte des Trompeters, dessen Weg von “Erfolg” zu “verfolgt” führte, niederzuschreiben. Die beiden recherchierten auf Ämtern und in Archiven, wühlten in Büchern und Tageszeitungen, und erstellten aus all den so zusammengetragenen Informationen ein überaus lebendiges Bild des Musikers.

Vom Aufwachsen in einer jüdischen Familie im Berlin des frühen 20sten Jahrhunderts erfahren wir da, von der kulturellen Ader der Familie, und davon, dass Adolf bereits als Sechsjähriger als Wunderkind aufs Konservatorium geschickt wurde, um Geige zu lernen. Erstes Geld verdiente er in Tanzkapellen wie denen von Efim Schachmeister oder Marek Weber, vor allem aber bei der großen Jazzsensation im Berlin der späten 20er und frühen 30er Jahre, den Weintraub Syncopators. Da hatte er bereits zur Trompete gewechselt und wurde fortan nur noch selten als Geiger erwähnt. Rosner war nicht nur ein erstklassiger Musiker, er war auch ein Showman: Das Publikum tobte, wenn er zwei Trompeten gleichzeitig spielte. 1932 reisten die Weintraub Syncopators als Schiffskapelle nach New York – das Buch druckt ein Faksimile der Passagierliste der SS New York ab –, aber dort durften sie aufgrund des Einspruchs der amerikanischen Musikergewerkschaft ihre Instrumente nicht mit von Bord nehmen.

Nach der Machtergreifung Hitlers emigrierten etliche der Musiker der Weintraubs – darunter auch Friedrich Hollaender – in die USA und anderswohin. Rosner blieb eine Weile in den Niederlanden, trat mit dem Orchester des belgischen Bandleaders Fud Candrix auf und traf Louis Armstrong, der sich gerade auf Europatournee befand und ihm ein Foto mit den Worten widmete “To the white Louis Armstrong from the black Adi Rosner”. Als die Behörden sein Visum nicht verlängerten, ging Rosner 1935 nach Polen. In Krakau und Warschau wurde er gefeiert, zog aber 1938 wieder gen Westen, genauer: nach Paris, wo er nicht nur auf gleichgesinnte Musiker aus Jazz und Showbusiness traf, sondern auch erste Plattenaufnahmen unter eigenem Namen – für das amerikanische Columbia-Label – machte.

Wenig später aber wurde es für jüdische Musiker ernst in Europa. Pickhan und Preisler schildern anschaulich, wie etwa Rosners Schlagzeuger Maurice van Kleef im Durchgangslager Westerborg zusammen mit Kabarettisten und anderen Musikern auftrat. Van Kleef kam erst nach Auschwitz, dann nach Buchenau, und war einer der wenigen, die die KZs überlebten. Im Jahr des Kriegsausbruchs lernte Rosner in Warschau seine zukünftige Frau kennen. Im Oktober 1939 floh das junge Paar nach Bialystock; Rosner wurde kurz darauf Leiter des Belorussischen Jazzorchesters, mit dem er Erfolge in ganz Russland feiern konnte. Das Kapitel über diese Jahre ist reich an Anmerkungen zur sich laufend wandelnden sowjetischen Haltung gegenüber Amerika und dem Jazz in den Kriegs- und frühen Nachkriegsjahren. 1946 passte die Musik vom einen auf den anderen Tag nicht mehr ins ideologische Bild der Machthaber. Rosner als einer der Stars dieser Musik wurde verhaftet, als er nach Polen zurückkehren wollte, und wegen Verrats ins sowjetische Straflager gesteckt. Acht Jahre lang lebte er in verschiedenen Lagern, in denen er, der Vollblutmusiker, bald bereits Lagerorchester zusammenstellte und auch selbst komponierte.

1954 wurde Rosner entlassen, ging nach Moskau und schloss an seine Karriere als Jazzmusiker und Entertainer an, nachdem die Kulturpolitik der Sowjetunion dem Jazz wieder etwas offener gegenüberstand. Er wurde ein für sowjetische Verhältnisse wohlhabender Mann mit großer Wohnung und acht Sparbüchern. Als Benny Goodman 1962 die UdSSR bereiste, stattete er Rosner in dessen Wohnung einen Besuch ab, aß Borschtsch und andere russische Spezialitäten und jammte noch ein bisschen mit dem Trompeter. Anekdoten von Konzerten vor unzufriedenen Werktätigen in der Provinz oder im Theater der Stadt Magadan, in der Rosner lange Zeit inhaftiert gewesen war, beleuchten den Alltag eines Musikers im Russland jener Jahre. Die Zeit aber wurde immer schwieriger, und die Popularität Rosners ließ mit dem Aufkommen anderer musikalischer Moden auch in der Sowjetunion nach.

1973 wurde Rosners Gesuch auf Ausreise in die USA stattgegeben, wo er seine Schwester besuchen wollte. Sechs Tage später flog er weiter nach Berlin und wurde kurz darauf im Durchgangslager Friedland registriert, wo er und seine Frau deutsche Pässe erhielten. Im letzten Kapitel des Buchs nähern sich die Autoren Rosners Versuch in seiner Geburtsstadt wieder Fuß zu fassen. Dieses Kapitel handelt sowohl vom Streit mit Behörden um Entschädigungszahlungen und Rente als auch vom Versuch musikalisch an seine Vorkriegskarriere anzuknüpfen, als die Jugendmode nun wirklich nicht mehr Jazz hieß. Es gab Pläne für Auftritte in nostalgischen Tanzclubs und für Tourneen nach Brasilien und Israel. Doch bevor es dazu kommen konnte, starb Rosner 1976, im Alter von 66 Jahren, an einem Herzinfarkt.

Auch nach seinem Tod verklang Rosners Stimme allerdings nicht vollständig: In Russland kam es 2001 zu einer Art Rosner-Revival, als Alexey Batashev in Moskau ein Gedenkkonzert an den Trompeter organisierte, bei der eine Band Rosners Arrangements aus den 40er bis 60er Jahren nachspielte. Der Dokumentarfilm “The Jazzman from the Gulag” von 1999 erinnerte an Rosners Schicksal in der UdSSR. Der Berliner Saxophonist Dirk Engelhardt arbeitet in seinem Eddie-Rosner-Projekt Rosners verschiedene musikalische Lebensphasen auf. Rosners Tochter Irina Prokofieva-Rosner gab 2005 eine Doppel-CD mit Aufnahmen des Trompeters heraus. Und Gertrud Pickhan und Maximilian Preisler gelingt es in ihrem Buch, die so überaus wechselvolle Geschichte des Adolf / Ady / Adi / Eddie Rosner lebendig werden zu lassen und damit ein Stück pan-europäischer Jazzgeschichte als der Geschichte einer unter Diktaturen immer verfemten Musik.

Wolfram Knauer (September 2010)


 

Das brennende Klavier. Der Musiker Wolfgang Dauner
Von Wolfgang Schorlau
Hamburg 2010 (Nautilus)
190 Seiten, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-89401-730-9

2010schorlauDie großen Jazzer des Nachkriegsdeutschlands sind dann doch mit einer Hand abzuzählen. Albert Mangelsdorff, Klaus Doldinger, Gunter Hampel … Peter Brötzmann und Alexander von Schlippenbach scheinen schon ein wenig später zu kommen. Und dann ist da Wolfgang Dauner, jener Tastenzauberer aus Stuttgart, der vom Jazz der amerikanischen Besatzer begeistert bald zum jungen Wilden der Szene wurde, der eine Geige auf der Bühne zertrümmerte oder zum “Urschrei” aufrief, der aber neben dem brennenden Piano, das auf dem Cover Titel seiner Biographie zu sehen ist, die wunderschönsten Harmonien aus dem Klavier herauszaubern kann, der freie Improvisation nicht nur im Free Jazz, sondern auch in der gebundenen Harmonik entdeckt, der Klangflächen erschließt und den Hörer einsaugt mit seinen musikalischen Ideen. Wolfgang Dauner hat viel geschaffen in seinem künstlerischen Leben: wegweisende Platten, etwa “Dream Talk” von 1964 oder “Free Action” von 1967, ein nachhaltig wirkendes paneuropäisches Orchester (das United Jazz and Rock Ensemble); er war Mitgründer des Plattenlabels Mood, schrieb Film- und Fernsehmusiken, trat mit den Größen des deutschen, europäischen, internationalen Jazz auf. Er hat aber auch viel erlebt, und von diesem Leben, von diesem Er-Leben handelt das Buch von Wolfgang Schorlau. Schorlau ist bekannt als Autor politischer Kriminalromane, und seine literarische Ader macht die Dauner-Biographie zu einem flotten Lesevergnügen. Ja, er hängt vieles an Anekdoten auf, aber das Nebeneinander der Anekdoten ist nirgends beliebig, sondern verdichtet sich mehr und mehr zur vielseitigen Persönlichkeit des Pianisten Wolfgang Dauner. Der hält nichts zurück, erzählt von seiner Jugend als Pflegekind, von Drogen und Orgien (oder, wie Schorlau schreibt: “der Begriff Party ist wohl zu lau für das, was in seiner Wohnung stattfindet”, von der Suche und dem Finden, ob in künstlerischer oder privater Hinsicht. Dauner selbst kommt ausführlich zu Wort: über ästhetische Ansichten, lange Haare, die Trauerfeier für Willy Brandt, den “Urschrei”, einen Besuch in New Orleans und und und. Seltene Fotos sind zu sehen, etwa vom splitterfasernackten Fred Braceful (bei einem Happening während des Deutschen Jazzfestivals in Frankfurt) oder auch die kuriose Korrespondenz Dauners mit einer von ihm phantasierten “Cowboy Band Texas”, an die der Zwölfjährige einen Brief schrieb, und über den der “Fort Worth Star-Telegram1948 prompt berichtete (und ihm im Anschluss eine Antwort und eine Cowboy-Banduniform schickte). Schorlaus Buch ist eine lesenswerte Biographie, weil sie sich nicht bei den Fakten aufhält, sondern immer den Menschen dahinter sucht – und findet: den Musiker Wolfgang Dauner.

Wolfram Knauer (September 2010)


 

Vorort von New York? Die Amerikaner in Bremerhaven. Ergebnisse einer Studie am Museum der 50er Jahre Bremerhaven
Von Rüdiger Ritter
Bremerhaven 2010 (Wissenschaftsverlag NW)
372 Seiten, 24,80 Euro
ISBN: 978-3-86509-929-7

2010ritterDeutschland Nachkriegs-Jazzgeschichte hängt eng mit seiner Besatzungsgeschichte zusammen. Knapp gesagt: In den englisch besetzten Gebieten spielte man andere Musik als in den amerikanisch besetzten Gebieten. Unter den Briten florierte der in England beliebte Trad Jazz; bei den Amerikanern und unter dem Einfluss der Begegnung deutscher und amerikanischer Musiker der moderne Jazz, der Bebop, Cool Jazz, später der Hard Bop. Albert Mangelsdorff wäre wahrscheinlich überall ein Modernist geworden, aber die Tatsache, dass er in Frankfurt am Main lebte, half erfreulich nach. In letzter Zeit sind einige Studien zum Verhältnis der Deutschen und der Amerikaner in der Zeit der Besatzung erschienen, und die meisten befassen sich mit den “klassischen” amerikanischen Besatzungsgebieten in Süd- und Südwestdeutschland. Dabei war Bremerhaven als Hafenstadt eine ganz besondere Enklave, und die Präsenz der Amerikaner beeinflusste auch hier deutsche Musiker dahingehend, dass sie modernen Jazz spielten, experimentierten, sich die soul-vollen Grooves ihrer amerikanischen Kollegen abschauten oder aber in den Clubs der Stadt durch die Erwartungshaltung ihres amerikanischen Publikums ein anderes musikalisches Bewusstsein entwickelten.

Rüdiger Ritter ist ein jazz-beflissener Historiker und hat quasi nebenher in der ehemaligen Militärkirche auf dem Gelände der einstigen US-Kaserne “Carl Schurz” in Bremerhaven-Weddewarden ein Museum der 50er Jahre aufgebaut. Nun legt er eine ausführliche Studie vor, für die er akribisch in den Akten gewälzt, aber auch jede Menge Zeitzeugeninterviews geführt hat und in der er beleuchtet, wie die Präsenz der Amerikaner das Leben in Bremerhaven in allen Bereichen beeinflusste.

Die Bremerhavener nannten ihre Stadt selbst scherzhaft “Vorort New Yorks” – allerdings gar nicht mit Bezug auf die amerikanische Besatzung, sonder vielmehr mit Bezug auf die Zeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert, als von Bremerhaven aus die großen Passagierschiffe in Richtung Amerika ausliefen, als Bremerhaven für viele Auswanderer die letzte deutsche Stadt war, bevor sie in Ellis Island amerikanischen Boden betraten. Als die Amerikaner nach dem II. Weltkrieg entschieden, Bremerhaven als “Port of Embarkation” zu nutzen, bauten sie genauso wie die Bremerhavener auf dieser Vorgeschichte auf – eine Vorgeschichte, die durchaus dazu beitrug, dass die Besatzung auch durch die Bürger der Stadt von Anfang an positiver gesehen wurde als anderswo.

Ritters Buch beschreibt die Stationierung der Amerikaner, die am 7. Mai 1945 begann und am 5. Juni 1993 mit der Schließung der letzten US-Kaserne endete. Er erklärt, wie sich Briten und Amerikaner nach dem Krieg auf die Aufteilung der Besatzungsgebiete einigten. Er beschreibt die Bedeutung des Standorts Bremerhaven für die US-Streitkräfte in Europa und die US-amerikanische Infrastruktur inner- und außerhalb der Barracks. Zugleich betrachtet er die Lebensumstände der Deutschen zur selben Zeit, Nachkriegsarmut und Überlebensstrategien, den Schwarzmarkt und die Amerikaner als Arbeitgeber. Ein eigenes Kapitel befasst sich mit den Re-education-Maßnahmen, ein weiteres mit der innerhalb dieses Programms zu sehenden Jugendarbeit der Amerikaner. Fraternisierung, die “German Fräuleins” und “spontane Amerikanisierung in der Kneipe” bringen uns dann langsam zum Thema Kulturtransfer, dem Jazzfreund Ritter ein ausführliches Kapitel einräumt. Er beschreibt “Chico’s Place”, jene Kneipe, in der seit den 50er Jahren Jazz erklang und in die selbst Hamburger Jazzfreunde pilgerten Er schreibt über Armeekappellen, die auch auf Bremerhavens Straßen zu hören waren und neben Marschmusik immer auch Jazziges im Gepäck hatten. Der AFN wird erwähnt und natürlich die Ankunft Elvis Presleys 1958. Vor allem aber beschreibt Ritter die Amerikaner “als Geburtshelfer der Bremerhavener Jazz-Szene” – und man könnte ergänzen: auch der Bremer Szene. Von den Namen, die er nennt, ist kaum einer über die Region hinaus bekannt geworden, doch die Legende lebt weiter. Von “Chico’s Place” erzählen sich alte Jazzer noch heute, und auch der Mythos eines fröhlichen Nebeneinanderlebens hält sich.

Ritter aber setzt auch ein wenig dagegen, indem er stichprobenhaft die verschiedenen Mythen amerikanisch-deutschen Zusammenlebens in Bremerhaven auf ihre Wirklichkeitsnähe hin überprüft, etwa wenn er auf den Umgang der Amerikaner mit Homosexualität, auf den alltäglichen Rassismus und seinen Widerspruch zu den Idealen der Umerziehung, auf “Gis als Unruhestifter” oder auf den Clash der Generationen jener Jahre hinweist, in dem der amerikanische Einfluss immer mehr als ein kulturzersetzender, jugendgefährdender gesehen wurde. Sein Buch ist eine beispielhafte Studie, die zugleich vorführt, wie vielfältig die Beziehungen zwischen eng miteinander lebenden Kulturkreisen sind und vor allem, wieviel Forschungsaufgaben noch vor uns liegen, um konkrete Entwicklungen nachzuzeichnen. Für die deutsche Jazzgeschichte, die das Phänomen der amerikanischen Präsenz in Deutschland ja fast am stärksten betrifft, ist das alles ein besonders spannendes Thema, und Ritters Buch eine gute Ausgangsbasis zur Reflektion über die vielfältigen gegenseitigen Einflüsse.

Wolfram Knauer (September 2010)


 

Coltrane
Von Paolo Parisi
Bologna 2010 (Blackvelvet Biopop)
128 Seiten, 13,00 Euro
ISBN: 978-88-87827-86-6

2010parisi“Am Anfang war der Ton”, beginnt das Buch des Comicautors Paolo Parisi, das die musikalische Lebensgeschichte von John Coltrane erzählt: von seiner Jugend in North Carolina, ersten musikalischen Gehversuchen in Philadelphia, der Zeit bei Dizzy Gillespie, Thelonious Monk und Miles Davis, von Alkohol- und Drogenexzessen, vom Rassismus, von Liebe, Geschäft, Erfolg, von ästhetischen Wollen und vom künstlerischen Nachlass des großen Saxophonisten. Wir begegnen all den wichtigen Personen in seinem Leben, seinem klassischen Quartett, seiner Frau Alice, vielen Kollegen, die an der New Yorker Jazz-Avantgarde der 1960er Jahre mitwirkten, Orten wie dem Birdland und dem Village Vanguard, Aufnahmesessions wie der für “My Favorite Things” oder der für “A Love Supreme”, dessen vier Sätzen der Autor die Überschriften über die vier Großkapitel entlieh. Ein schönes Buch für jeden (italienisch sprechenden) Coltraneliebhaber.

Wolfram Knauer (August 2010)


 

In Search of Don Ellis, Forgotten Genius, Volume 1-3
von Ken Orton
England 2010 (UniBook / Ken Orton)
Vol. 1: 418 Seiten, 32,94 Euro
Vol. 2: 438 Seiten, 34,23 Euro
Vol. 3: 157 Seiten, 42,97 Euro
ISBN: 9781935038962 (Vol. 1)
ISBN: 9781935038979 (Vol. 2)
ISBN: 9781935038986 (Vol. 3)
Direkt erhältlich über www.unibook.com

Ken Orton ist wahrscheinlich der kenntnisreichste Experte, wenn es um den Trompeter Don Ellis geht, dessen Experimente mit Form und Metrum, aber auch mit außereuropäischen (bzw. außeramerikanischen) Musiktraditionen in den 1960er Jahren weit einflussreicher waren, als es sein Bekanntheitsgrad vermuten lässt. Seine Don Ellis-Biographie ist jetzt erschienen, und sie ist umfangreich geworden: ein Werk mit drei Bänden von insgesamt knapp 1.000 Seiten, auf denen Ellis’ Leben genauso dokumentiert wird wie sein musikalisches Werk. Es ist eine “labor of love”, und es ist ein akribisches Projekt, ohne Zweifel ein Standardwerk über den Trompeter, an dem niemand vorbeikommen wird.

2010orton01Der erste Band widmet sich Ellis’ Biographie bis etwa 1971. Orton verfolgt die Familiengeschichte ausführlich, weiß um Leben und Arbeit des Vaters genauso wie um die geographischen Umstände der Kindheit Don Ellis’. Er zitiert aus Interviews mit Familienangehörigen und Bekannten, vor allem aber auch aus persönlichen Papieren, Briefen, Familienbüchern und vielem mehr. Mit acht Jahren erhielt Don sein erstes Instrument, mit zehn Jahren wurde sein musikalisches Talent offiziell festgehalten; mit elf hatte er seine erste Band, für die er auch die Arrangements schrieb. 1956 wurde Ellis in die Armee eingezogen und war bald in Deutschland stationiert, wo er in der 7th Army Symphony spielte. Orton macht überall in seinem Buch ausführlichen gebrauch von persönlichen Briefen, die Don Ellis an seine Eltern und Großeltern schrieb. In solchen Briefen liest man etwa von einer Session mit Tony Scott, von seinem neuen Porsche, von Reisen mit der Band und seiner Unzufriedenheit mit einem neuen Bandleader der Armeekapelle. 1958 wurde Ellis ehrenhaft aus der Armee entlassen. Zurück in New York traf er Joe Zawinul, den er aus Wien kannte und der ihm einen Job in Maynard Fergusons Band vermittelte. Zwischendurch finden sich dabei immer wieder kurze Anmerkungen, die Orton nicht auflöst, die der jazzgeschichtlich bewanderte Leser aber mit Interesse zur Kenntnis nimmt, etwa (aus einem Brief vom Oktober 1959): “Der Gitarrist in meiner Band ist ein Typ, mit dem ich in Frankfurt immer zusammengespielt hatte. Er hat letztes Jahr in die europäischen Jazzumfragen gewonnen.” – gemeint ist wahrscheinlich Attila Zoller, der genau zu dieser Zeit in New York ankam. 1959 nahm Ellis eine Platte mit Charles Mingus auf; 1960 stellte er sein eigenes Quintett im New Yorker Club Birdland vor; später im Jahr erhielt er ein Vollstipendium zur Lenox School of Jazz, über die er einen ausführlichen Report verfasste. Im Herbst nahm er dann sein erstes Album unter eigenem Namen auf, “How Time Passes”, und wieder geben viele persönliche Briefe einen Einblick in das tägliche Leben eines Musikers in jenen Jahren. Orton verfolgt Ellis’ Biographie mehr oder weniger chronologisch, notiert akribisch jeden Termin, jedes Engagement, über das es Belege gibt, zitiert aus Briefen, zeitgenössischen Kritiken, Zeitzeugeninterviews etwa mit seiner Frau Connie. Ellis selbst äußert sich etwa auf eine Frage Leonard Feathers über seine Einstellung zur Ästhetik des Jazz (den er immer noch als “Folk Music” ansieht) und über staatliche Subventionen (“Ich bin absolut dagegen.”). 1962 besuchte Don mit seiner Frau das Jazz Jamboree in Warschau, und Orton druckt sein Tagebuch der Reise ab. 1964 arbeitete Ellis an einem Buch über Rhythmik und bezieht sich darin sowohl auf seine eigenen Experimente mit ungeraden Metren wie auch auf indische Ragas. Wenig später gründete er das Hindustani Jazz Sextet, mit dem er eine Fusion aus indischen und Jazzstilistiken versuchte. Zur selben Zeit fing er an, sich für das Spiel mit Vierteltönen zu interessieren. 1966 übernahm er die Programmplanung des Clubs Bonesville in Los Angeles; im selben Jahr lud er Karin Krog ein, auf einem seiner Alben mitzuwirken. Inzwischen leitete er eine Bigband, die vor allem seine eigenen Kompositionen umsetzte und mit der er in den nächsten Jahren auf großen Festivals zu hören war. Ellis war immer ein sehr aktiver Vertreter des Third Stream und trat etwa 1967 mit seiner Bigband und dem Los Angeles Philharmonic Orchestra unter Leitung von Zubin Mehta in einem Konzert auf, dass die beiden Klangkörper gegenüberstellte. Etwa zur selben Zeit wandte er sich elektrisch verstärkten Instrumenten für seine Band zu (einschließlich seines eigenen), gehörte damit zu den Vorreitern einer Jazz-Rock-Fusion, was auch außerhalb der Jazzwelt wahrgenommen wurde. 1968 veröffentlichte er mit “Electric Bath” seine erste LP für das Label Columbia, die weltweit Furore machte. Nächste Station auf seinem Weg war die Electric Band, mit der er 1968 auch bei den Berliner Jazztagen zu hören war. Orton spürt Konzertrezensionen selbst in Provinzblättern auf und druckt sie ab, Rezensionen, die manchmal ein wenig sehr ins Einzelne zu gehen scheinen, dabei aber doch das Bild des Alltags eines reisenden Musikers widerspiegeln.

2010orton02Band 2 der Reihe nimmt den Faden im Jahr 1971 auf und geht im selben Duktus weiter: Konzert auf Konzert, Platte auf Platte werden sorgfältig aufgelistet, Rezensionen gesammelt, Erinnerungen von Musikern und Auszüge aus Ellis’ Tagebuch zugeordnet. Höhepunkte hier etwa seine Filmmusik zu “The French Connection”, für die er 1972 einen Grammy erhielt. Beziehungsprobleme des Trompeters und Probleme mit den Steuerbehörden werden genauso erörtert wie der Bau seines Traumhauses, das 1974 sogar in einer Beilage der Los Angeles Times vorgestellt wurde. 1975 wurde eine Herzerkrankung bei Ellis diagnostiziert, und wenig später musste er nach einem Herzstillstand wiederbelebt werden. 1976 griff er zusätzlich zu seinen bisherigen Instrumenten zur Posaune; 1977 nahm er eine Platte mit Musik auf, die durch den Film “Star Wars” inspiriert war. 1977 auch korrespondierte er mit Hans Georg Brunner-Schwer über ein Plattenprojekt für das MPS-Label, das Joachim Ernst Berendt angedacht und für das er außerdem Karin Krog vorgemerkt hatte, das aber nie realisiert werden konnte. Im Februar 1978 spielte Ellis’ Quintett beim Jazz Yatra Festival in Bombay, Indien. Der Trompeter war bereits schwer krank zu dieser Zeit, trat aber wie vor auf, wenn er auch mehr und mehr die Trompete auf die Seite legte und stattdessen auf dem Synthesizer spielte. Am 10. Mai 1978 meldete der Melody Maker, Ellis habe sich auf Anraten seiner Ärzte vom aktiven Musikmachen zurückgezogen. Am 17. Dezember 1978 besuchte Ellis eine Vorstellung des Musicals “Evolution of the Blues” von Jon Hendricks. Zurück zuhause unterhielt er sich mit seiner Mutter und brach mitten im Gespräch tot zusammen. Seine Eltern übernahmen die Aufgabe, sein Vermächtnis zu erfüllen, seine Kompositionen und Korrespondenz in einem geeigneten Archiv unterzubringen (sie entschieden sich für das Eastfield College in Texas, an dem Ellis sein letztes Konzert gegeben hatte) und die Erinnerung an ihren Sohn aufrecht zu erhalten.

Ein Schlusskapitel des biographischen Teils, “Where Do We Go From Here?” stellt sich als das persönlichste des Buchs heraus: Es schildert den Weg des Autors, den Weg Ken Ortons zum Buch, einen Weg, den er Anfang der 1980er Jahre begonnen hatte, als er sich mit Ellis’ Eltern in Kalifornien traf. Orton war mitverantwortlich dafür, dass die Don Ellis Collection 2000 vom Eastfield College an die University of California in Los Angeles überführt wurde, wo sie sinnvoll erschlossen und zugänglich gemacht werden konnte. Orton ist selbst Saxophonist und leitete in den 1990er Jahren eine eigene Bigband, die er The Don Ellis Connection” nannte und mit der er mit Erlaubnis der Familie vor allem Kompositionen des Trompeters aufführte. Die zweite Hälfte des zweiten Bandes füllen Erinnerungen von Kollegen an Don Ellis, unveröffentlichte Manuskripte des Trompeters über Musik, über Jazz, über Ästhetik, sowie eine ausführliche Diskographie, die sowohl seine eigenen Projekte enthält als auch diejenigen, an denen er mitwirkte, Filmmusikern sowie Fernseh- und Videomitschnitte. Eine Liste seiner Kompositionen und Arrangements beschließt den Band.

2010orton03Band 3 des opulenten Werks schließlich enthält eine Bildergalerie einiger öffentlicher, vor allem aber privater Fotos: Kinderbilder, die ersten Bands, Fotos aus Deutschland, New York in den 1960ern, die junge Familie, Reise- und Tourneefotos, Plattensitzungen, Bilder, bei denen die Hingabe an die Musik deutlich wird (wenn auch auf den ersten Blick eher der Wandel der Frisuren auffällt). Am Schluss stehen zwei Fotos von einer Ehrung in Boston, auf denen man deutlich sieht, wie krank Ellis bereits war, drei Monate vor seinem Tod.

Ken Ortons Buch ist keine schnelle Lesereise. Er hat die letzten dreißig Jahre seinen Recherchen zu Don Ellis gewidmet, und es wirkt, als habe er alles, was er dabei gefunden hat, auch in das Buch gesteckt. Das mag ein Grund dafür sein, dass Orton Schwierigkeiten hatte, einen Verlag für dieses Mammutwerk zu finden – die akribisch festgehaltenen Details zu jedem Auftritt, jeder Platte sind wahrscheinlich tatsächlich vor allem für den Don-Ellis-Fan richtig interessant. Doch wenn man zwischendurch auch manchmal meint, das sei schon ein wenig viel des Guten, liest man sich gleich im nächsten Moment wieder fest in einer Quelle, die Orton nüchtern einführt, die für sich belanglos scheint, im Umfeld aber so ein enorm menschliches Licht auf den Künstler und Komponisten, auf den Trompeter und … ja, man mag sagen Philosophen Don Ellis wirft. Und am Ende ist man dankbar für die Akribie, auch dafür, dass Orton sich dazu entschlossen hat, dieses Material sorgfältig geordnet komplett im “books on demand”-.Verfahren zugänglich zu machen. Man wünschte sich vielleicht noch einen Personen-, Platten-, Titel- und Themenindex. Aber das war’s dann auch schon. Über Don Ellis weiß man fast alles nach der Lektüre. Nur die Musik, die muss man selbst hören.

Wolfram Knauer (August 2010)

PS: Quasi parallel zum Buch erschien eine CD mit Konzertmitschnitten vom Februar 1978, als Ellis mit seinem Quintett in Indien auftrat: Don Ellis, “Live in India. The Lost Tapes of a Musical Legend, Vol. 1” (Sleepy Night Records SNR003CD). Siehe www.sleepynightrecords.com.


 

Pierre Courbois > Révocation
Herausgegeben von Paul Kusters & Titus Schulz
Westervoort/Niederlande 2010 (Uitgeverij Van Gruting)
226 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 97890-75879-537

2010courboisPierre Courbois hat in seiner musikalischen Karriere eine Menge Dinge als erster gemacht: Er war einer der ersten europäischen Musiker, die mit dem Free Jazz liebäugelten, als er 1961 das Original Dutch Free Jazz Quartet gründete; er leitete mit seiner Association PC aber auch eine der ersten Fusionbands Europas; und spielte darüber hinaus mit Musikern wie Gunter Hampel, Theo Loevendie, Mal Waldron, Rein de Graaf, Manfred Schoof, Willem Breuker, Jasper Van’t Hof und vielen anderen. Er erhielt in seinem Heimatland die höchsten Preise, so 1994 den Bird Award beim Northsea Jazz Festival und 2008 den Boy Edgar Prijs.

Jetzt, pünktlich zu seinem 70. Geburtstag, haben Paul Kusters und Titus Schulz dem einflussreichen holländischen Musiker ein Buch gewidmet, in dem Courbois selbst genauso zu Worte kommt wie viele seiner Weggefährten über die Jahre. Es beginnt mit einer biographischen Skizze, einem kursorischen Überblick über die Kapitel seines musikalischen Werdegangs. Dann erzählt einer der Bassklarinettist und Vibraphonist Gunter Hampel über ihre gemeinsame Zeit in den 1960er Jahren, als Courbois in Hampels Band spielte und auch bei der LP “Heartplants” mit von der Partie war. Jasper Van’t Hof und Peter Crijnen erinnern sich gemeinsam mit Courbois an die Association PC und die Auseinandersetzung mit den verschiedenen rhythmischen und ästhetischen Ansätzen der beiden Genres Jazz und Rock, sind sich außerdem einig in ihrer Wertung, dass die Association PC wohl eher eine Jazzrock- als eine Rockjazz-Band gewesen sei. Die meisten der im Buch enthaltenen Interviews sind solche Doppelinterviews, wobei einer der beiden Interviewpartner oft Courbois selbst ist, was dazu führt, dass man als Leser Einblicke in Gespräche zwischen Eingeweihten erhält, dass die Diskussionen sich bald ums Eigentliche drehen, um rhythmische Absprachen (mit Rein de Graaf), Harmonik (mit Theo Loevendie), darum, wie Pierre Courbois rhythmisch Druck machen konnte (mit Leo van Oostroom und Ilja Reijngoud), wie wichtig ihm seine rhythmische Eigenständigkeit auch im Zusammenspiel war (mit Egon Kracht und Niko Langenhuijsen). Courbois selbst erzählt über seine Technik und über Einflüsse auf ihn sowie über sein Instrument, das er aus vielen verschiedenen Einzelteilen zusammengestellt hat und bei dem viele Teile von ihm selbst konstruiert wurden. Mit Jos Janssen unterhalten die Autoren sich über Pierres Gongtechnik und seine Soloaufnahmen. Manfred Schoof lobt Courbois Komposition “Révocation”, die gleich darauf von Martin Fondse ausführlich analysiert wird. Der Geiger Heribert Wagner kommt zu Wort und der Pianist Pol de Haas, mit denen Courbois in den 1980er und 1990er Jahren zusammengespielt hatte. Saxophonist Jasper Blom berichtet, dass die Band nach den Konzerten wenig über die Musik gesprochen habe, und der Schlagzeuger Colin Seidel erzählt, was er bei seinem Lehrer Pierre Courbois hat lernen können. Ein Buch voller Respekt von allen Seiten, aber auch ein Buch, das einen Einblick erlaubt ins Denken eines kreativen Musikers und ins Funktionieren improvisierter Musik zwischen den frühen 1960er Jahren und heute. Und natürlich gibt es jede Menge menschlicher Informationen über Courbois und die Musiker, mit denen er über all diese Jahre zusammengearbeitet hat. Es ist ein überaus opulentes Werk geworden, mit vielen Fotos sowohl aus Courbois’ langen Berufsjahren als auch von seinen selbstgebauten Instrumenten. Zur Lektüre allerdings sollte man schon des Holländischen mächtig sein. Das Buch erschien, wie gesagt, pünktlich zum 70. Geburtstag des Schlagzeugers im April 2010. Es ist eine Labor of Love aller Beteiligten und ein weiterer Baustein zu einer noch ausstehenden europäischen Jazzgeschichte.

Wolfram Knauer (Juli 2010)


 

Jazz de France. Le guide-annuaire du jazz en France
Herausgegeben von Pascal Anquetil
Paris 2010 (irma = Centre d’Information et de Resources pour les Musiques Actuelles)
608 Seiten, 36 Euro
ISBN: 978-2-916668-27-7

2010anquetilWir werden immer wieder gefragt, ob es so etwas wie den von uns alle zwei Jahre vorgelegten “Wegweiser Jazz” auch für andere Länder gibt, und für die meisten Länder müssen wir verneinen. Die eine Ausnahme ist Frankreich, das mit blendendem Beispiel vorangeht mit dem Verzeichnis “Jazz de France”, herausgegeben vom Informationszentrum für zeitgenössische Musik “irma” und betreut von Pascal Anquetil. Das Buch ist ein überaus übersichtliches Verzeichnis der französischen Jazzszene und enthält auf 600 Seiten noch erheblich mehr als wir in die Printausgabe unseres Wegweisers stecken, beispielsweise die Kontaktdaten zu Musikern (die fast 300 Seiten des Buchs ausmachen) oder Journalisten. Clubs, Festivals sind genauso verzeichnet wie Plattenlabels, Agenturen, Schulen oder Workshops. Neben Jazzclubs enthält das Buch dabei auch große Konzertsäle, die in der Vergangenheit regelmäßige Jazzkonzerte präsentierten. Ähnlich wie der “Wegweiser Jazz” verzeichnet auch “Jazz de France” die Größe der Veranstaltungsorte, Ansprechpartner, technische Ausstattung, stilistische Ausrichtung und was immer sonst an Information für die Jazzszene wichtig sein könnte. Mehr als 6.000 Einträge, mehr als 15.000 Kontakte, Adressen von 60 Verbänden, 200 Agenten und Produzenten, 30 Wettbewerben, 540 (!) Festivals, 420 Clubs und 380 größeren Sälen. Dazu die Kontaktdaten für 110 Journalisten, 150 Plattenlabels, 200 Schulen mit Jazzangebot … und vieles mehr. Unverzichtbar für jeden, der mit der französischen Jazzszene arbeitet, und ein wünschenswertes Beispiel für ganz Europa. “Jazz de France” hat übrigens auch uns zu vielen Neuerungen angeregt, die wir in die letzte Ausgabe unseres “Wegweisers Jazz” aufgenommen haben.

Zu beziehen ist “Jazz de France” direkt bei irma über <http://www.irma.asso.fr/Jazz-de-France>

(Wolfram Knauer, Juli 2010)


 

Queere Tracks. Subversive Strategien in der Rock- und Popmusik
Von Doris Leibetseder
Bielefeld 2010 (transcript)
336 Seiten, 29,80 Euro
ISBN: 978-3-8376-1193-9

UMS1193sotheLeibetseder.inddDie queere Kulturforschung, soviel sei Uneingeweihten kurz verraten, untersucht Kulturentwicklungen auf ihre ganz unterschiedlichen Wechselwirkung mit schwul-lesbischen oder sonstigen nicht-heterosexuellen Lebens-, Denkens- und Fühlensweisen. Das können Verweise auf von heterosexueller Orientierung abweichende Lebensweisen sein, die in Texten vorkommen, die biographische Erfahrung von Musikern genauso wie ihrem Publikum, das Feststellen von Unterdrückungs- oder Sublimierungsstrukturen, also sowohl von deutlicher Ablehnung wie auch vom einfachen Ignorieren des Einflusses nicht-heterosexueller Erfahrungen auf die Musik. Studien zur Queer Theory gibt es mittlerweile zuhauf, und auch für die Musik ist dies ein spannendes Forschungsfeld. Im Bereich des Jazz (wie allgemein der afro-amerikanischen Musik) finden sich aus unterschiedlichen Gründen etliche Verdrängungsbeispiele, die entweder die Existenz schwuler, lesbischer oder gar transsexueller Aktivität in dieser Musik leugnen oder aber die Bedeutung offen gelebter queerer Sexualität für die Entwicklung der Musik abstreiten. John Gill legte 1995 sein Buch Queer Noises vor, und Sherrie Tucker beschäftigt sich seit längerem damit, inwieweit queere Theorie nicht auch die Jazzforschung in Frage stellt.

Doris Leibetseder beschäftigt sich in ihrer Studie kaum mit dem Jazz, sondern vor allem mit Rock- und Popmusik, die auf den ersten Blick vielleicht auch ein dankbareres Feld für das Thema zu sein scheint. Sie beginnt mit einem historischen Kapitel, in dem sie auf female impersonators verweist, die in Vaudeville Shows des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts aufzutreten pflegten. Sie diskutiert die Bedeutung, die das Zurschaustellen von Sexualität etwa durch Josephine Baker erhielt und wie darin zugleich rassistische Klischees festgeschrieben wurden. Sie verweist auf relativ offen lebende lesbische Künstler wie Ma Rainey, auf deutlich mit queeren Klischees spielende Tanzfiguren des Rock ‘n’ Roll, auf den Glamrock, Little Richard, David Bowie, Andy Warhol und späte Auswirkungen des Glamrock bei Boy George, Annie Lennox oder Grace Jones. Selbst (oder insbesondere) offen queere Beispiele der Rock- und Popmusik, erklärt Leibetseder, spielen oft und gern mit Parodie, Täuschung, sarkastischen Gesten, Ironie, Camp, Maske und nutzen dabei sowohl queere Vorlieben wie auch jahrhundertelange Schutzmechanismen. Leibetseders Grundtheorie ist, dass es kein Geschlechteroriginal gäbe, kein richtiges oder falsches Geschlecht, so dass das Spiel mit sexuellen Rollen oder Identitäten auf der Bühne letztlich auf Bedingtheiten im realen Leben verweisen bzw. diese kommentieren.

In einem ersten Kapitel analysiert Leibetsreder die “Ironie” als Strategie, etwa im feministischen Diskurs, bei Madonna oder im Wirken der Riot Grrrls. Dabei spielt neben der Musik auch die Selbstdarstellung im Video oder der Kleidung eine Rolle­. Im zweiten Kapitel beleuchtet sie das Mittel der Parodie, grenzt diese etwa von Satire, Burlesque, Persiflage, Pastiche ab, beschreibt das Subversive der Parodie und nennt als ein klassisches Beispiele aus dem Bereich der Pop- und Rockmusik Jimi Hendrix’ berühmte Interpretation der amerikanischen Nationalhymne. Für ihr Thema besonders interessant sind Geschlechterparodien, Travestie, Drag und die damit verbundene Camp-Kultur. Sie zitiert aus Anleitungen zu einem Drag-King-Workshop und bringt als musikalisches Beispiel schließlich Peaches ins Spiel, die Sängerin, die immer wieder männliche Musiker imitierte.

Leibetseder beschäftigt sich in ihrem dritten Kapitel mit “Camp”, dessen Definition und Wortherleitung allein einige Seiten in Anspruch nehmen. Sieht man Camp als sprachliche, gestische, kommunikative Methode einer Aufweichung von Geschlechterrollen und dabei eines ironischen Infragestellens einer jeden sexuellen Sicherheit, einschließlich der eigenen, so ist es eine bewusst ein-, nicht ausschließende Strategie. Camp habe einen riesigen Einfluss auf die Pop-Ästhetik gehabt, betont Leibetseder und stellt nebenbei auch einen subversiven Camp fest, der politischer ist, Stellung bezieht. Ihre Musikbeispiele sind Madonnas Spiel mit Sex- und Geschlechterrollen sowie die Androgynität bei Annie Lennox oder Grace Jones. Geschlechterrollen als Masken analysiert Leibetseder in ihrem vierten Kapitel, fragt nach Fetischisierung, dem Verständnis von Weiblichkeit oder Männlichkeit als Maskerade und geht auf Stücke von Annie Lenox und Peaches ein. Ein weiteres Kapitel ist überschrieben “Mimesis / Mimikry”, behandelt die Gründzüge beider bei Platon und Aristoteles, das Thema Mimesis und Macht sowie die feministische Mimesis, etwa im Werk Irigarays. Ihre Musikbeispiele sind diesmal Grace Jones und Bishi sowie die Band Lesbianson Ecstacy.

Ein eigenes Kapitel ist dem “Cyborg” gewidmet. Cyborg ist ein Kunstwort, gebildet aus cybernetic und organism und wurde von der Popmusik als Strategie genutzt, sexuelle Identität durch die Verbindung mit Maschinen zugleich zu ver- wie zu entkörperlichen. Als Beispiel dient Björks Musikvideo “All is Full of Love”, in dem Björks Gesicht mit einer Roboterfigur vermengt wird. Das Kapitel “Transsexualität” beginnt mit einer Erklärung, warum ein Begriff wie “Technologie” für das Verstehen von Sexualität so wichtig sein kann, bringt eine kurze Geschichte der Transsexualität von Chevalier d’Eon de Beaumont bis in die Jetztzeit. Leibetseder diskutiert die Identitätsprobleme, die sich aus Transsexualität sowohl für die Betroffenen wie für ihre Umwelt geben können (weil Transsexualität nun mal nicht nur in Frage stellt, nicht imitiert, parodiert, sondern aktiv verändert), sie weist auf Vorurteile innerhalb der lesbisch-schwulen Welt gegenüber Transsexuellen hin, und sie nennt als Beispiel aus der Musikwelt (mit vergleichendem Verweis auf Billy Tipton, den Jazzpianisten, bei dem man nach seinem Tod herausfand, dass er tatsächlich eine Frau war) den HipHop-Künstler und “Transmann” Katastrophe. Das letzte Kapitel des Buchs schließlich ist überschrieben mit “Dildo – ‘Gender Bender'” und beschäftigt sich mit sexuellen Praktiken, mit Dildos, Vibratoren und die subversive Benutzung des Motivs Dildo, etwa in Aufnahmen der Band Tribe 8 oder der Sängerin Peaches.

Eine lesenswerte Zusammenfassung der Kapitel (ohne die historischen und ästhetischen Diskurse, aber einschließlich knapper Hinweise auf die Musikbeispiele) beschließt das Buch, das sicher kaum Jazzgehalt hat, als Referenz für eine queere Theorie auch in anderen Genres aber durchaus taugt.

Wolfram Knauer (Juli 2010)


 

Sonny Rollins. Improvisation und Protest. Interviews
von Christian Broecking
Berlin 2010 (Christian Broecking Verlag)
136 Seiten, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-938763-29-2

2010broecking3Christian Broecking versammelt in seinem Buch über Sonny Rollins fünf Interviews, die er zwischen 1996 und 2010 mit dem Tenorsaxophonisten geführt hat und schaltet dazwischen Gespräche mit Weggefährten wie Jim Hall, Max Roach oder Roy Haynes sowie mit Zeitzeugen wie David S. Ware, Gary Giddins, Roy Hargrove und Abbey Lincoln. Im Vorwort zum Gespräch von 1996 erzählt Broecking, dass Rollins sich seine Interviews sorgfältig aussuche, sich dann aber Zeit nehme. Der Saxophonist erzählt, wie wichtig es ihm sei, auf die Jazztradition Bezug zu nehmen, berichtet über das Community-Gefühl im Harlem der 1950er und 1960er Jahre, sowie darüber, wie man ihn kritisiert habe, als er 1960 den weißen Gitarristen Jim Hall in seine Band geholt habe. 1998 erzählt er über die “Freedom Suite” und die politische Aufgabe des Jazz, äußert sich vorsichtig über Wynton Marsalis und Jazz at Lincoln Center und berichtet über die Bedeutung von Spiritualität für sein Leben. Im Jahr 2000 verrät Rollins, warum er sich Anfang der 1960er Jahre einen Irokesen-Haarschnitt zugelegt habe und wie wichtig Image und Bühnenpräsenz für einen Jazzmusiker seien. Das wichtigste Element im Jazz, sagt er, sei “die spontane Kreation von Klängen” und verrät dann drei seiner Lieblingssongs: Lester Youngs “Afternoon of a Basie-ite”, Coleman Hawkins’ “The Man I Love” sowie Billie Holidays “Lover Man”. 2006 erzählt er mehr über die legendäre Aufnahmesession, bei der er 1963 mit Coleman Hawkins spielte, über Free Jazz und seinen Schüler, den Saxophonisten David S. Ware, über die Anschläge vom 11. September 2001 und welche Auswirkungen sie gehabt hätten, sowie über sein Leben auf dem Lande. Er berichtet davon, wie er einmal mit Jean-Paul Sartre zusammengetroffen sei und kommentiert die kritischen Positionen von Amiri Baraka und Stanley Crouch zu Entwicklungen im Jazz: diese mögen ja ganz interessant sein, “aber sie bewegen den Berg nicht”. 2010 schließlich äußert er sich verhalten optimistisch über die Wahl Barack Obamas zum amerikanischen Präsidenten sowie über das harte Leben eines Jazzmusikers im Allgemeinen. Mit Jim Hall unterhält sich Broecking über die Platte “The Bridge”, die der Gitarrist 1960 mit Rollins einspielte sowie über Rassismus und Gegenrassismus. Max Roach äußert sich ganz konkret zu Rassismuserfahrungen und betont wie wichtig es sei, sich der politischen Bedeutung von Musik bewusst zu bleiben. Abbey Lincoln erzählt, welche Rolle Roach für ihre Karriere gespielt habe und wie schwierig die politischen Texte, die sie immer wieder gesungen hatte, sich für ihre Karriere erwiesen hätten. Roy Haynes erzählt, wie er sich nur nach und nach bewusst wurde, dass er ja selbst Teil der großen Jazzgeschichte ist. David S. Ware klagt über die Benachteiligung durch Clubbesitzer. Gary Giddins erzählt, wie er auf die Spur des korrekten Geburtsdatums von Louis Armstrong gekommen sei und diskutiert, warum es immer noch so wenig schwarze Jazzkritiker in den USA gäbe. Roy Hargrove schließlich berichtet über all die Einflüsse auf ihn, über Wynton Marsalis sowie über Präsident George W. Bush. Sie alle legen Zeugnis dafür ab, dass der Jazz weder im luft- noch im gesellschaftsleeren Raum geschieht, sondern eine politische Äußerung eben gerade deshalb ist, weil er aus der Gegenwart heraus entsteht, weil er über die Gegenwart reflektiert und weil er zur Kommunikation über die Gegenwart animiert.

Wolfram Knauer (Juli 2010)


 

Herbie Hancock. Interviews
Von Christian Broecking
Berlin 2010 (Christian Broecking Verlag)
77 Seiten, 16,90 Euro
ISBN: 978-3-938763-12-4

2010broecking2Christian Broecking ist sicher einer der fleißigsten deutschen Interviewer über den amerikanischen Jazz; er berichtet seit vielen Jahren über die Diskussionen innerhalb der afro-amerikanischen Jazzszene. Rechtzeitig zu Herbie Hancocks 70. Geburtstag brachte er kürzlich in seinem noch jungen, aber bereits überaus regen eigenen Verlag ein Büchlein mit Interviews heraus, die er über die Jahre mit dem Pianisten und zwei seiner engen Mitstreiter geführt hat. 1994 sprach Broecking mit Hancock über “Dis Is Da Drum”, eine Produktion, mit der dieser an seinen “Rockit!”-Hit aus den 1980er Jahren anschließen wollte. 1994 war die Marsalis/Crouch-Debatte darüber in vollem Gang, was denn noch als Jazz durchgehe und was bestimmt nicht, und Hancock nimmt kein Blatt vor den Mund: Marsalis sei bestimmt ein wunderbarer Musiker, ansonsten eher ein Historiker, und Engstirnigkeit und Begrenztheit sei seine, Hancocks Sache noch nie gewesen. Er verstehe den Kreuzzug gegen Miles Davis’ Fusion-Projekte nicht ganz und sehe auch seine eigenen Crossover-Versuche durchaus in der Tradition afro-amerikanischer Musik. Im April 2000 sprach Broecking mit Hancock anlässlich seines 60sten Geburtstags und seiner George-Gershwin-Tribut-Tournee. “Gershwin’s World” sei seine bislang ambitionierteste Platte, wirbt Hancock und habe dabei insbesondere großen Spaß an der Zusammenarbeit mit Künstlern gehabt, die nicht aus dem Jazzlager kommen, Joni Mitchell etwa, Stevie Wonder oder Kathleen Battle. Früher habe er sich vor allem als Musiker gesehen, heute sehe er sich als Menschen, der Musik macht. Er spricht über die Möglichkeiten des (damals noch recht jungen) Internets und über eventuelle Projekte im Avantgardebereich. Ein Jahr später war die CD “Future 2 Future” Grund für ein kurzes Interview, in dem Hancock sich u.a. über die Möglichkeiten moderner Technologien auslässt. Bei einem weiteren kurzen Gespräch kommentiert er 2005 die Auswirkungen von Hurrikane Katrina. 2007 schließlich traf Broecking Hancock bei der CD-Veröffentlichung von “The Joni Letters”, und sprach mit ihm über seinen Weg zum Jazz, über Visionen, Freiheit, den afro-amerikanischen Einfluss auf seine Musik, über Buddhismus, und noch einmal über die verengte Sicht von Wynton Marsalis und seiner Clique. Zwischengeschaltet ist ein Interview mit Wayne Shorter über dessen Bandkonzept, über Inspirationsquellen für seine Musik, über das Alter, Buddhismus und darüber, wie Miles Davis in seiner elektrischen Phase das Gefühl der schwarzen Kirche mit Strawinsky verbinden wollte. Ron Carter wiederum äußert sich über seine eigene Entwicklung seit den Tagen, als er im Miles Davis Quintett spielte, über Fusion, politische Meinungsäußerungen von Musikern, sowie darüber, was einen guten Produzenten und was einen guten Bandleader ausmacht. Alles in allem: ein kurzweiliges Buch, das keine Lebensgeschichte bietet, dafür Einsichten in Herbie Hancocks Gedankenwelt und die zweier enger Mitstreiter.

(Wolfram Knauer, Juli 2010)


 

Where the Dark and the Light Folks Meet
Race and the Mythology, Politics, and Business of Jazz
von Randall Sandke
Lanham/MD 2010 (Scarecrow Press)
275 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-6652-2

2010sandkeRandy Sandke ist vor allem als swing-betonter Trompeter bekannt, der in den 1990er Jahren außerdem oft als Gastdirigent und Arrangeur fürs Carnegie Hall Jazz Orchestra einsprang. In der Buchreihe des Institute of Jazz Studies an der Rutgers University legt er mit “Where the Dark and the Light Folks Meet” eine Sammlung an interessanten und nachdenkenswerten Essays über eine alternative Sichtweise der Jazzgeschichte vor. Nicht jeder werde seinen Argumenten zustimmen, schreibt Dan Morgenstern, Direktor des Institute of Jazz Studies, im Klappentext, aber man müsse nach der Lektüre dieses Buches einfach viele Details der Jazzgeschichte neu überdenken. Worum geht es im Jazz eigentlich, fragt Sandke im Eingangskapitel und stellt fest, dass es neben der reinen Musik jede Menge an Subtexten gäbe, die da existierten und denen er sich in seinem Buch widmen wolle: Jazz als Musik der Unterdrückung und des Rassismus, Jazz als politische Waffe, und als Antwort auf die Unterdrückung … sind nur zwei dieser Subtexte, die er dabei andeutet. Er befasst sich beispielsweise mit der Jazzkritik, also der Jazzgeschichtsschreibung, fragt, ob es wahr sei, dass diese über lange Zeit weiße Musiker bevorzugt behandelt habe, und überprüft dann Bücher und Essays von namhaften Kritikern wie Marshall Stearns, John Hammond, Leonard Feather, Rudy Blesh, Nat Hentoff, Martin Williams sowie LeRoi Jones, Albert Murray und Stanley Crouch auf die mögliche Zielrichtung ihrer Ausführungen. “Good Intentions and Bad History” nimmt sich dann einige Klischees der Jazzgeschichtsschreibung vor und rückt die Tatsachen ein wenig zurück. Randke hinterfragt hier etwa die afrikanische Genese des Jazz, den Mythos des Congo Square als “missing link” zurück nach Afrika, die Auswirkungen der rassistischen Jim-Crow-Gesetze auf den Jazz, die Legenden um Buddy Bolden oder um die Geburt des Bebop, aber auch die Quellen der “Avantgarde” auf ihren tatsächliche Rückhalt in der Realität – und macht dabei klar, dass wohl nicht alles so einfach und eindimensional war, wie die Jazzgeschichtsschreibung es uns gern glauben machen will. “What Gets Left Out” lautet die Überschrift über einem weiteren Kapitel, in dem Sandke über Aspekte der Jazzgeschichte schreibt, die er in den allgemeinen Narrativen der Jazzbücher vermisst: die Minstrelsy, die nicht nur, wie sie oft abgetan wird, ein rassistisches Spektakel war, sondern durchaus auch andere Deutungsmöglichkeiten besaß; die Geschichte weißer Musiker in New Orleans, die recht früh damit begonnen hätten Jazz zu spielen und aus ähnlichen Gründen wie ihre schwarzen oder “creole” Mitbürger: weil es nämlich Bedarf nach dieser Musik gab; der Einfluss klassischer Techniken und klassischer Musik auf Musiker von Scott Joplin über Fats Waller, Jelly Roll Morton, Art Tatum, Thelonous Monk bis zu McCoy Tyner, Eric Dolphy, Charles Mingus und weit darüber hinaus. Er stellt die Frage nach Hautfarben-Identität (race identity), die im politischen Bewusstsein mancher Jazzmusiker und vieler die Jazzmusik begleitenden politischer Wortführer immer wichtiger wurde; und er beleuchtet die Retro-Bewegung der 1980er Jahre um Wynton Marsalis. Ein eigenes Kapitel widmet Sandke dem Publikum und fragt, für wen denn wohl genau die Musiker über die Jahrzehnte gespielt hätten. Es habe da immer mal wieder den Mythos gegeben, Jazzmusiker hätten vor allem für ein weißes Publikum gespielt, also befasst sich Sandke mit den verschiedenen Schauplätzen in den Clubs und Spielorten der Jazzgeschichte – insbesondere der frühen Jahre und der Bebop-Phase. “It’s Strictly Business” ist das Kapitel überschrieben, in dem Sandke sich mit dem Geschäftlichen um den Jazz beschäftigt. Waren Plattenlabels und Plattenproduzenten wirklich so korrupte Geldgeier, wie ihnen nachgesagt wird? Verdienten die weißen Musiker in den Studios von New York, Chicago oder Hollywood wirklich mehr als ihre schwarzen Kollegen (nachdem diese sich den Zutritt zu solchen Ensembles erstritten – oder erarbeitet – hatten)? Waren Agenten wirklich immer die Parasiten, als die sie gern hingestellt werden, fragt er und beleuchtet Beispiele wie den “Erfinder” des Newport Jazz Festivals George Wein, die Melrose Brothers, Irving Mills, Joe Glaser, Norman Granz, Willard Alexander, Tommy Rockwell, Billy Shaw, eddy Blume, Jack Whittemore und andere. Er befasst sich mit dem leidigen Thema Copyright und stellt dabei einige legendäre Streitfälle um die Urheberschaft vor, um den “Original Dixieland One-Step” etwa, den “Tiger Rag”, “Shimmie Like My Sister Kate”, “Muskrat Ramble” und viele andere Titel der Jazzgeschichte, Fälle, die Musiker wie Louis Armstrong, Kid Ory, Jelly Roll Morton, Duke Ellington, Sonny Rollins, Charlie Parker, Miles Davis und viele andere betrafen. “Show Me the Money” schließlich” heißt es über einem Kapitel, das die Bezahlung von Jazzmusikern zum Thema hat. Von 2 Dollar pro Abend in New Orleans bis zu 100.000 Dollar pro Konzert für Oscar Peterson geht dieser interessante Vergleich des finanziellen Erfolgs der Jazzheroen. Die durchgängig immer wieder erörterte Frage ist, “Geht es bei alledem immer nur um die Hautfarbe?”, und Sandkes Antworten sind von Fall zu Fall unterschiedlich. Oft hat er gar keine abschließende Antwort auf seine Fragen, will nur ein wenig am allgemeinen scheinbaren Wissen um die Fakten rütteln, um das Bewusstsein des Lesers zu wecken, dass es vielleicht auch ein wenig anders gewesen sein könnte, dass Einzelbeispiele nicht für das Ganze genommen werden dürfen, dass man immer auch die Perspektive desjenigen, der über etwas berichtet, mitlesen müsse. Das alles gelingt ihm in einem überaus spannenden Stil, der einen quasi zum Mitdiskutieren zwingt, zum Revidieren von Meinungen, zum offenen Nachdenken auch über Dinge, die in seinem Buch gar nicht vorkommen. Ein lesenswertes und nachdenkenswertes Buch also, wärmstens gerade denjenigen empfohlen, die meinen, eigentlich alles über die Jazzgeschichte zu wissen.

(Wolfram Knauer, Juni 2010)


 

We Want Miles
herausgegeben von Vincent Bessières
Montréal 2010 (Montréal Museum of Fine Arts)
223 Seiten, 39 Euro
ISBN: 978-2-80192-343-9

2010bessieres“We Want Miles” heißt die oppulente Ausstellung die Vincent Bessières für die Cité de la Musique in Paris zusammengestellt hat und die zurzeit (und noch bis August 2010) im Montréal Museum of Fine Arts zu sehen ist. Die Ausstellung in Paris umfasst zwei Stockwerke voll mit Material, das sich auf Miles bezieht: Klangkabinen, in denen man Musik aus den verschiedenen Schaffensperioden seines Lebens hören kann, seltene Filmausschnitte von Konzerten oder Interviews, in denen er über seine Musik spricht, seine Kleidung und Gemälde, vieler seiner Instrumente, originale Notenblätter etlicher Aufnahmesessions, einschließlich der legendären Capitol-Nonett-Aufnahmen von 1949, sowie handschriftliche Notizen über die Aufnahmesitzungen, die oft von seinem langjährigen Produzenten Teo Macero stammen. Dem Kurator der Ausstellung Vincent Bessières und seinen Mitarbeitern von der Cité de la Musique ist es gelungen, ein wenig vom Geist des Trompeters einzufangen, den Besucher langsam in Miles’ Welt eintauchen zu lassen. Sie zeichnen seine musikalische und persönliche Entwicklung über die Jahre in Saal nach Saal nach und geben selbst seinem Rückzug von Musik und Öffentlichkeit in den späten 1970er Jahren einen eigenen Raum: einen dunklen Durchgang mit wenigen Dokumenten an den schwarzen Wänden, die knappe Einblicke in seine Probleme der Zeit geben. Am Anfang der Ausstellung mag man noch meinen, dieses Foto sei einem doch eh bekannt, diese Platten ebenfalls oder jener Zeitungsartikel. Mehr und mehr aber wird man in den Sog der Ausstellung gezogen und erlebt bestimmte Phasen in Miles’ Entwicklung anders als man sie zuvor erlebt hat, einfach durch die Art und Weise, wie die Ausstellungsstücke einander gegenübergestellt sind, wie die Musik aus den Klangkabinen, die Videos und all die anderen Dokumente einander ergänzen und einen die Musik und das Leben von Miles Davis neu entdecken, neu sehen, neu hören lassen. Der Ausstellungskatalog zeigt viele der in der Cité de la Musique zu sehenden Exponate und enthält daneben einen ausführlichen Text von Franck Bergerot sowie kürzere Texte von George Avakian, Laurent Cugny, Ira Gitler, David Liebman, Francis Marmande, John Szwed und Mike Zwerin. Nun ist der ursprünglich nur auf Französisch erhältliche Katalog auch in englischer Übersetzung erschienen: eine wunderbare Sammlung an Dokumenten, Fotos und Erinnerungen.

(Wolfram Knauer)


 

silent solos. improvisers speak
herausgegeben von Renata Da Rin
Köln 2010 (buddy’s knife)
176 Seiten, 22,00 Euro
ISBN: 978-3-00-030557-3

2010darinDie Bücher aus dem Kölner Verlag Buddy’s Knife haben in nur wenigen Ausgaben bereits ein ganz eigenes Profil: schwarz eingebunden mit einem matt-bunten Foto- oder Grafik-Querstreifen in der Mitte des Covers, feines Papier, eine schöne Type, die Schrift in tiefdunklem Grau; und auch inhaltlich: meist Literarisches und Poetisches aus der Feder von Musikern der amerikanischen Avantgardeszene. Das neueste Buch ist da nicht anders: 50 Musiker vor allem der New Yorker Downtown-Szene haben Gedichte beigetragen, die mit Musik zu tun haben oder auch nicht, die abstrakt sind oder reflexiv oder sehr realitätsbezogen. Wahrscheinlich stimmt, was George Lewis in seinem Vorwort sagt, dass man zuerst geneigt sein mag, Ähnlichkeiten zwischen den Texten und der Musik ihrer Autoren zu suchen. Lewis auch stellt die provokante These auf, dass Worte schneller reisten als Musik. Auf jeden Fall käme in der Poesie eine weitere Spielebene hinzu, die der Bedeutungen nämlich, die sich aufeinander und auf die Worte zuvor und danach beziehen, eine Ebene, die sich laufend verändert und die den Leser involviert. Nun, in den Gedichten, die sich in diesem Band befinden, lassen sich allerhand Dinge entdecken, die über das poetische Genießen hinaus Bedeutung besitzen. Wirklich wahllos herausgepickt: Lee Konitzs “no easy way” über die Schwierigkeiten des Zusammenspielens; Gunther Hampels “improvisation – the celebration of the moment” über genau das, was also geschieht, wenn man improvisiert; Katie Bulls “improvisation is the jazz-mandala-voyage” ebenfalls über den Improvisationsprozess; Jayne Cortezs “what’s your take” über die ökonomische Globalisierung und die Notwendigkeit, in diesem Prozess Stellung zu beziehen; Roy Nathansons “charles’ song” über und für Charles Gayle; David Liebmans “what jazz means to me” über seine ganz persönliche Beziehung zu dieser Musik; Assif Tsahars “untitled” über die Stille der Natur; Joseph Jarmans “a vision against violence”; Charles Gayles “untitled”, ein großer Dank ans Publikum … und so viele andere Gedichte, die Geschichten erzählen oder Stimmungen schaffen, die auf reale Erlebnisse rekurrieren oder in sich (den Autor) hineinhorchen. Von David Amram bis Henry P. Warner sind es insgesamt 82 Texte, alphabetisch nach Autoren sortiert, abwechslungsreich, lyrisch, hoffnungsvoll, oft das Suchen widerspiegelnd, das die Autoren auch in ihrer Musik vorantreibt. All diese Texte und Gedichte erlauben einen anderen Blick auf die Musik, nicht beschreibend, sondern wie Soli in einem anderen Medium, “silent solos”, die nichtsdestotrotz heftigst klingen können.

Wolfram Knauer (Mai 2010)


 

Long Lost Blues. Popular Blues in America, 1850-1920
Von Peter C. Muir
Urbana/Illinois 2010 (University of Illinois Press)
254 Seiten, 35 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-07676-3

2010muirWie der Jazz wird auch der Blues allgemein als eine Musik des 20. Jahrhunderts wahrgenommen, eine Musik, die sich parallel zur Tonaufzeichnung entwickelt hat. Anders als der Jazz aber hat der Blues tatsächlich eine längere Geschichte, die Peter Muir in seinem Buch nachzeichnet, das sich den Jahren vor den ersten Bluesaufnahmen widmet, den Jahrzehnten vor Mamie Smith’s “Crazy Blues”. Er schreibt damit über ein Genre, das er selbst als “Popular Blues” bezeichnet und damit sowohl vom Folk Blues wie auch vom Nachkriegs-Chicago-Blues unterscheidet. Entscheidend für die Zuordnung ist ihm dabei die Zielgruppe und Marktorientierung der Musik. Zu den Künstlern dieses Popular Blues zählen also Musiker wie W.C. Handy, Spencer Williams, James P. Johnson, George W. Thomas und Perry Bradford. Muirs Definition des Blues ist dabei denkbar einfach: Wo “Blues” draufsteht, entscheidet er, da wird reingeschaut: Der Titel oder Untertitel der Musik ist ihm wichtiger als eine musikalische Einordnung, auch deshalb, weil es ihm vor allem um eine kulturelle Studie geht und ihn daher diejenige Musik interessiert, die von der Kultur, in der sie entstand, als Blues verkauft werden wollte. Wenn sein Buch im Untertitel auch bis aufs Jahr 1850 zurückgreift, so widmet er sich im Hauptteil allerdings der Musik, die zwischen 1912 und 1920 entstanden ist und für die er eine “Popular Blues Industry” feststellt. Am 12. Januar 1912 meldeten Chris Smith und Tim Brymn beim Urheberrechtsbüro in Washington eine Komposition mit dem simplen Titel “The Blues” an, eigentlich ein Ragtime-Song, der aber in der Thematik (eine Frau, die um ihren Liebsten klagt) wie auch in harmonischen Wendungen Bluesmomente evoziert. Muir untersucht die Veröffentlichungen der nächsten neun Jahre und stellt eine Zunahme der “Blues”-Notenpublikationen fest von 5 im Jahre 1912 bis 456 im Jahr 1920. Er zählt die Blues-Schellackplatten jener Jahre genauso wie die Zylinder und Klavierwalzen und stellt fest, dass die Notenveröffentlichungen damals deutlich einen wichtigeren Marktanteil besaßen als die Plattenveröffentlichungen. Er schaut auf die Verwendung des Bluesklischees im Varieté (Vaudeville) jener Jahre, in Musicals, Minstrel Shows, in Aufführungen von weißen genauso wie schwarzen Künstlern. Er diskutiert das damals kaum vorhandene Bewusstsein der Musiker zur Dualität von Roots Music und Popmusik, in der ihre Aufführungen standen. Muir analysiert einzelne Blueskompositionen, etwa den “Broadway Blues” von Arthur Swanstrom und Morgan Carey, der auch in seiner Klavier/Gesangsfassung komplett abgedruckt ist. Er klassifiziert die von ihm gefundenen Stücke nach Themen, etwa “Beziehungs-Blues”, “Nostalgie-Blues”, “Prohibitions-Blues”, “Kriegs-Blues” und “reflektive Blues”, schaut aber auch auf die rein instrumentalen Blueskompositionen, die oft einen stärkeren Folkduktus besaßen als die vokalen Stücke. Muir erwähnt die Verbindungen zwischen Blues und Ragtime, Blues und Foxtrott und auch Blues und Jazz, wobei er etwa Jelly Roll Mortons “Jelly Roll Blues” diskutiert. Natürlich befasst er sich mit der zwölftaktigen Form des klassischen Bluesmodells, mit Blue Notes, Barbershop Endings, einer der typischsten melodischen Viernotenfiguren jener frühen Blues sowie einem textlichen Klischee, der Zeile “I’ve Got the Blues”, die sich in so vielen der Titel findet. Ein eigenes Kapitel widmet Mur den Konnotationen des Begriffs “Blues”, also den nicht-musikalischen und nicht-textlichen Verständnissen von Traurigkeit, Depression, Schicksalsschlag, und fragt nach den homöopathischen oder allopathischen Qualitäten des Blues, die dabei helfen könnten, solchen Gemütszuständen entgegenzuwirken. Der erfolgreichste Blueskomponist dieser Jahre, W.C. Handy, verdient und erhält ein eigenes Großkapitel. Muir unterteilt sein Wirken in seine Zeit in Memphis (1909-1917) und seine New Yorker Jahre (nach 1917) und untersucht etliche seiner Kompositionen auf ihre Machart, darunter “Yellow Dog Blues”, “Beale Street Blues” und “Saint Louis Blues”. Einige der kreativsten Blueskompositionen, konstatiert Muir, stammten von Komponisten aus den amerikanischen Südstaaten. Als Beispiele führt er Titel an wie “Baby Seals’ Blues”, den “Dallas Blues” oder aber Kompositionen von Euday L. Bowman, George W. Thomas und Perry Bradford. Im abschließenden Kapitel wirft Muir dann noch einen Blick auf Kompositionen, die vor 1912 veröffentlicht wurden und deutliche musikalische oder textliche Beziehungen zum Blues zeigen. Hier wird er dann auch dem Untertitel seines Buchs gerecht und reicht bis 1850 zurück (ein Stück namens “I Have Got the Blues To Day”). Er verfolgt die zwölftaktige Bluesform immerhin bis zurück ins Jahr 1895 (Muir bezieht sich auch hier nur auf Notenveröffentlichungen) und streicht dabei vor allem den Komponisten Hughie Cannon heraus, einen weißen Ragtimepianisten, der heute vor allem noch wegen seines Stücks “Bill Bailey” bekannt ist, daneben aber immerhin dreizehn Stücke schrieb, die Muir zu jenen “Proto-Blues” zählt, Stücke, die vor allem in der formalen und harmonischen Struktur wichtige Einflüsse auf die spätere Bluesmode der Jahre nach 1912 haben sollten. Muir diskutiert das Phänomen der Bluesballade (insbesondere “Frankie and Johnny”) und begründet, warum der Bluesstimmenverlauf, wie wir ihn kennen, und nicht die harmonische Form von “Frankie” sich wohl letzten Endes im populären Blues durchgesetzt haben. Ein Anhang des Buchs listet Stücke, die “Blues” im Titel tragen und zwischen 1912 und 1915 zum Copyright angemeldet wurden. Muirs Buch ist durchsetzt mit musikalischen Beispielen, Auszügen aus den Notenveröffentlichungen, um die sich seine Studie hauptsächlich dreht. Er problematisiert kaum (gerade mal im Vorwort) die performativen Eigenheiten all dieser Kompositionen, die Vereinfachungen ihrer Notenveröffentlichungen, die Ver- und Überarbeitungen, die viele dieser populären Stücke in Arrangements von Bands, Minstrelkünstlern und anderen Musikern erhielten. Sein Buch deckt allerdings recht erschöpfend ein Kapitel ab, das sich manchem als Frage gestellt haben mag, der sich mit dem Repertoire vor 1920 beschäftigt hat und dabei über eine Vielzahl an mit “Blues” betitelten Stücken gestolpert ist, die aber nur bedingt dem entsprechen, was man nach 1920 als Blues versteht. “Long Lost Blues” ist damit also eine überaus spannende und umfassende Aufarbeitung eines wichtigen Teils der Vorgeschichte des Jazz.

Wolfram Knauer (Mai 2010)


 

Groove – Kultur – Unterricht. Studien zur pädagogischen Erschließung einer musikkulturellen Praktik
von Heinrich Klingmann
Bielefeld 2010 (transcript Verlag)
436 Seiten, 34,80 Euro
ISBN: 978-3-8376-1354-4

UMS1354popKlingmann.inddAfroamerikanischer Groove, sagt Heinrich Klingmann in der Einleitung zu seinem Buch, sei ein Phänomen, das nicht nur für rhythmisch-musikalische Praktiken stehe, sondern daneben eine musikalische Gestaltungsweise beschreibe, die inzwischen weltweit rezipiert werde. Sie sei darüber hinaus unterrichtbar und müsse heute auch unterrichtet werden. Sein Buch wolle so einen “Beitrag zur wissenschaftlichen Legitimierung der pädagogischen Arbeit mit dem rhythmischen Aspekt afroamerikanischer Musik leisten”. In einem ersten Kapitel beschreibt er, wie Groove bislang im wissenschaftlichen Diskurs behandelt wurde, stellt unterschiedliche musikologische wie erlebnis- und rezeptionstheoretische Erklärungen oder Annäherungen an das Phänomen Groove vor, geht dabei auch auf musikethnologische Forschungen zur Funktion von Rhythmus bzw. Groove in verschiedenen Kulturen ein. Er erklärt kulturwissenschaftliche Perspektiven, also beispielsweise unterschiedliche Codes, die sich mit musikalischen Parametern verbinden und diskutiert in diesem Zusammenhang ausführlich die Probleme, die die westlich geprägte Hochkultur mit der scheinbaren Unmitttelbarkeit als “primitiv” angesehener Kulturen hatte, also auch mit Rhythmik und Groove (und vor allem: Körperlichkeit) afrikanischer bzw. afroamerikanischer Musik. Der zweite Teil, der etwas mehr als ein Viertel seines Buchs ausmacht, ist dem Thema “Musikpädagogik und Groovemusik” gewidmet. Hier geht es Klingmann darum, ob und wie man Groove an Schulen unterrichten könne. Er stellt kurz dar, wie sich der Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland in den letzten Jahrzehnten geändert und geöffnet habe, schildert unterschiedliche musikdidaktische Positionen und die Rolle, die afroamerikanische Rhythmik in ihnen spielt, und überlegt schließlich, wie rhythmisches Bewusstsein in unterschiedliche Lehrkonzepte einzubauen sein könnte, etwa als Einführung in die Musikkulturen, als Möglichkeit persönlicher Authentifizierung und einer Authentifizierung in der Gruppe, oder als Möglichkeit der Ausbildung von Teilkompetenzen (nach dem Motto “Kunst kommt nicht ohne handwerkliches Können aus”). Afroamerikanische Rhythmik, erklärt er resümierend, könne damit erheblich zur musikalischen Bildung beitragen, gerade weil sie praktisch orientiert sei und die Schüler mit einbinde. Klingmanns Buch entstand aus seiner Dissertation (im Fach Musikpädagogik), und so ist das Buch eine entsprechend theoretische Lektüre mit viel Querverweisen und Literaturdiskussion. Dabei aber gelingt es ihm Argumente für den Einsatz rhythmischer Modelle in den Musikunterricht zu stützen und nebenbei auch einen sehr speziellen Blick auf die Bedürfnisse des Musikunterrichts im 21. Jahrhundert zu richten.

(Wolfram Knauer)


 

Der Wind, das Licht. ECM und das Bild
herausgegeben von Lars Müller
Baden/Schweiz 2010 (Lars Müller Publishers)
447 Seiten, 54,90 Euro
ISBN: 978-3-03778-197-5

2010ecmDas Label ECM besteht seit 40 Jahren und seit bald 35 Jahren ist es quasi ein Mythos: der Musik wegen, des Sounds wegen und auch der Covergestaltung seiner Alben wegen. Neben Blue Note ist es wohl das einzige Plattenlabel des Jazz, das Forscher zu unterschiedlichsten wissenschaftlichen Arbeiten anregte, mit denen sie versuchten, dem Geheimnis von ECM auf die Spur zu kommen. Lars Müllers neuestes Buch tut dies relativ direkt: Er präsentiert sämtliche Cover, die seit Beginn des Labels erschienen sind, setzt auf den Plattencovern verwendete Originalfotos in Verbindung zu den erschienenen Produkten und erlaubt damit einen Überblick über die Entwicklung des grafischen Konzepts und der Veränderungen über die Jahre. Immer wieder sind es Bilder, die zwischen Fotorealismus und Abstraktion schwanken, die Atmosphärisches heraufbeschwören und bei denen man quasi auf die Musik schließen möchte, auch wenn man die Aufnahmen selbst nicht kennt. “Der Wind, das Licht” — allein der Titel ist sicher Beschreibung genug für viele der Fotos, die weite Landschaft, Natur (und Natürlichkeit) vermitteln. Fünf Essays nähern sich den Bildern auch textlich; Thomas Steinfeld schreibt einen allgemeinen Einführungstext; Katharina Epprecht macht sich Gedanken über “transmediale Sinnbilder”, also über den Eindruck, den die ECM-Coverkunst selbst bei flüchtigem Anblick hervorrufen können; Geoff Andrew reflektiert über den Einfluss des Filmregisseurs Michel Godard auf die Bildästhetik hinter den von Manfred Eicher ausgewählten Bildern; Kjetil Bjornstad beschreibt seine ganz persönliche Reaktion auf die Covergestaltung; und der Herausgeber Lars Müller schließlich macht sich Gedanken über die in den Bildern dargestellten Motive und ihre Wirkung vor und nach der genaueren Betrachtung. Auch die Buchgestaltung orientiert sich am ECM-Design: edel-zurückhaltend, im grauen Einband durchscheinend das aufgewühlte Meer, klare silbern-schwarze Schrift, auf der Vorderumschlag der geprägte Abdruck eines CD-Covers, auf der Rückseite der geprägte Abdruck einer CD. Alles in allem: ein opulentes Werk über das grafische Konzept eines Plattenlabels — und ganz gewiss ein passendes Geschenk für Kunsthistoriker oder ECM-Fans.

(Wolfram Knauer, April 2010)


 

What a Wonderful World. Als Louis Armstrong durch den Osten tourte
von Stephan Schulz
Berlin 2010 (Neues Leben)
255 Seiten, 14,95 Euro
ISBN: 978-3-355-01772-5

2010schulzLouis Armstrong kam im März 1965 zu 17 Konzerten in der DDR, eine Sensation mitten im Kalten Krieg. Der Journalist Stephan Schulz recherchierte die Geschichte eigentlich für eine Rundfunkreportage, stieß dabei aber auf so viele interessante Dokumente und enthusiastische Zeitzeugen, dass aus seinen Recherchen ein opulentes Buch wurde, das, reich bebildert, jetzt im Verlag Neues Leben erschien. Schulz ordnet Armstrongs Tournee in die Lebenswirklichkeit in der DDR der 1960er Jahre ein, kontrastiert Begeisterung, Wünsche, Ängste, Hoffnungen, Befürchtungen, Argwohn und wieder Begeisterung — alles Emotionen, die zu spüren sind im Umgang der Behörden mit der ungewöhnlichen Tournee, im Enthusiasmus der Fans, den Überstar des Jazz persönlich erleben zu dürfen, in den augenzwinkernden Reaktionen Satchmos selbst auf die Lebenswirklichkeit im real existierenden Sozialismus. Schulz befragte viele Fans, die dabei waren bei den Konzerten in Berlin, Leipzig, Magdeburg, Erfurt und Schwerin. In Berlin gaben die All Stars sechs Konzerte, die innerhalb eines Tages ausverkauft waren – 18.000 Tickets an einem Tag! Schulz fragt, inwieweit Armstrongs Konzerte das Regime stützen sollten und inwieweit sie dazu beitrugen, den Jazz in DDR stärker hoffähig zu machen als zuvor, wo er oft noch als “Affenmusik des Imperialismus” abgetan wurde. Er recherchiert, wie es überhaupt zu der Tournee kam, spricht mit Roland Trisch, der einst in der Künstleragentur der DDR gearbeitet hatte, und mit dem Jazzexperten Karlheinz Drechsel, der Armstrong auf der Tournee begleitete und die Konzerte ansagte, geht ins Bundesarchiv, in dem die Akten der Künstleragentur lagern. Der Schweizer Zwischenagent habe als Honorar ein Observatorium der Firma Carl Zeiss Jena gefordert, hieß es, oder aber er habe alte Waffen aus dem Dreißigjährigen Krieg erhalten. Schulz spricht mit dem damaligen Kulturminister der DDR, und er tut jenen Schweizer Agenten auf, der ihm einen Rückruf zusichert, dann aber wenige Tage nach dem Telefonat verstirbt. Schulz beschreibt die Ankunft der All Stars auf dem Flughafen Berlin-Schöneberg, auf dem die Jazz-Optimisten den Trompeter musikalisch mit seiner Erkennungsmelodie begrüßten und er sofort mit einstimmt. Er schreibt über die Pressekonferenz, in der Armstrong klar macht, dass es ihm bei seiner Tournee vor allem um Musik geht, darum, sein Publikum zu erfreuen, und nicht um Politik. Schulz liest die internationalen Presseberichte über die Konzerte, beschreibt die Atmosphäre bei und nach den Konzerten, begleitet den Trompeter nach Leipzig, wo Armstrong eine Zahnkrone abhanden kam und er einen Zahnarzt aufsuchen musste. Schulz spricht mit der Ehefrau des damaligen Zahnarztes. Ein kurzes Kapitel befasst sich mit der Überwachung des Konzertpublikums durch die Stasi. Er berichtet davon, wie Satchmo bei seiner Reise seine Liebe für Eisbein entdeckt habe. Auf dem Weg von Berlin nach Magdeburg wurde der Bandbus von der sowjetischen Armee gestoppt, die Truppenübungen machte, mit denen sie auf die am nächsten Tag stattfindende Sitzung des Deutschen Bundestags in Westberlin reagierte, aus DDR-Sicht eine Provokation und ein Verstoß gegen den Status der Stadt. Bei derselben Fahrt war plötzlich der Kühler des Busses defekt, und die Musiker mussten in der Kleinstadt Genthin eine Zwangspause einlegen, wo er sofort von Menschen umringt war, die ihn um Autogramme baten. Ähnliche Geschichten gibt es auch von anderswo, und Schulzes Buch ist voll von ihnen, voll von Zeugnissen dafür, wie menschennah, wie wenig “Star” Armstrong zeitlebens war. Er erzählt die Geschichte hinter einer seltsamen Blumensamenwerbung, für die Armstrong Modell stand. Und im mecklenburgischen Barth setzte ein Reporter Armstrong den Floh ins Ohr, Bix Beiderbecke (dessen Vorfahren aus Westfalen kommen) würde angeblich von hier stammen, was Satchmo noch zuhause brav weiter ausspann. Zum Schluss entdeckt Schulz die Abrechnung der Künstleragentur und stellt fest, dass Armstrong mit 15.745,66 Mark im Jahr 1965 nach dem Bolschoi-Theater das meiste Geld in die Kassen der Künstleragentur gespielt hatte. Schulzes Buch ist voller seltener Fotos aus den Privatalben von Fans genauso wie aus dem Archiv von Pressefotografen, zeigt Ausrisse aus Zeitungen genauso wie Anzeigen oder Plakate oder auch Fotos, die vordergründig überhaupt nichts mit Armstrong zu tun haben, aber mit der Unterschrift versehen sind “In dieser Kneipe in Parchen soll Louis Armstrong um Kühlwasser für sein Wasser gebeten haben”. Ein unterhaltsames und zugleich informatives Buch, das einen sehr fokussierten Einblick in den Arbeitsalltags des Trompeters Louis Armstrong und zugleich Einblicke in das Leben in der DDR und die unterschiedlichen Möglichkeiten des Umgehens staatlicher Hindernissen vermittelt.

(Wolfram Knauer, März 2010)


 

Ornette Coleman. Klang der Freiheit. Interviews
von Christian Broecking
Berlin 2010 (Broecking Verlag)
123 Seiten, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-938763-13-1

2010broeckingChristian Broecking unterhält sich in seinem neuen Buch mit Ornette Coleman über dessen ganz persönliche Sicht auf Musik und Gesellschaft. Coleman ist weit weniger Zorniger Schwarzer Mann als andere Kollegen seiner Generation. Er kommt zwar aus Armut und wuchs in einer rassistischen gesellschaft auf, doch sieht er seine Musik kaum durch dieses Spannungsfeld beeinflusst, sieht im Gegenteil in seiner Musik vor allem etwas Anti-Segregationistisches. In zwei Interviews spricht er über seinen Sohn, über Armut, Glück und Liebe, über Improvisation und darüber, wie man mit Musik die Welt verändern kann. Broecking unterhält sich außerdem mit zwei Weggefährten Colemans: Don Cherry und Charlie Haden. Cherry erzählt ihm über den Unterschied der Generationen im Jazz, über seine erste Taschentrompete, über Steve Lacy, der sein erster Lehrer war, über seine Zeit in Schweden und darüber, warum er anders als etliche seiner Kollegen nicht verbittert sei. Er berichtet von Ansatzschwierigkeiten, seitdem er ein künstliches Gebiss hat, über die Rolle der großen Schwarzen Musiker als Propheten, nicht role models, und natürlich über den Schock, den Ornette Colemans Musik anfangs bei den Leuten auslöste. Charlie Haden erzählt in vier Interviews über sein Quartet West und seine politischen Ambitionen, über das Liberation Music Orchestra, konservativen und progressiven Sound im Jazz. Er berichtet über seine Aufnahmen mit John Coltrane, über seine Reaktion auf den Hurricane Katrina in New Orleans, über die Musikindustrie, Country Music und darüber, welche Rolle Ornette Colemans Musik in seinem Leben spielte. In einem abschließenden Kapitel sammelt Broecking schließlich Äußerungen unterschiedlichster Wegbegleiter Colemans über den Saxophonisten, Trompeter, Geiger und Komponisten. Zu Worte kommen Pat Metheny, Bruce Lundvall, Jason Moran, Greg Osby, Geri Allen, Joshua Redman, Dewey Redman, Michael Cuscuna, Walter Norris, Vijay Iyer, Terence Blanchard, Dave Holland, David Sanborn, Hank Jones, Curtis Fuller, Philip Glass, Manfred Eicher, Barre Philips, Evan Parker, David Murray, Butch Morris, Anthony Braxton, George Lewis und Henry Threagill. “Klang der Freiheit” ist ein kleines Büchlein über Ornette Coleman, durchsetzt mit Fotos, die Broecking bei Konzerten oder im New Yorker Loft des Saxophonisten aufgenommen hat, und gibt in der Sammlung der Geschichten und Biographien, die sich immer wieder kreuzten, einen wunderbaren Einblick in die musikalische Ästhetik Ornette Colemans und die Umgebung, in der diese sich entwickelte.

(Wolfram Knauer, Februar 2010)


 

The Music of Django Reinhardt
von Benjamin Givan
Ann Arbor 2010 (University of Michigan Press)
242 Seiten; 29,95 US-$
ISBN: 978-0-472-03408-6

2010givan2010 wird überall in der Jazzwelt der 100. Geburtstag Django Reinhardts gefeiert, und neben unzähligen Geburtstags-Homages als Konzert oder auf CD legt die University of Michigan Press eine musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gitarristen vor, die auf der Dissertation basiert, die Benjamin Givan bereits 2003 an der Yale University eingereicht hatte. Givans Buch ist keine Biographie — davon gibt es inzwischen genügend –, sondern eine Auseinandersetzung mit der Technik des Gitarristen, der sich bei einem Feuer in seinem Wohnwagen 1928 die linke Hand so schwer verletzte, dass er deren Mittel- und Ringfinger nicht weiter benutzen konnte. Gleich im ersten Kapitel spekuliert Givan, welche Verletzungen das Feuer wohl konkret angerichtet haben könnten und welche Auswirkungen die Verletzungen auf Reinhardts Gitarrenspiel hatte. Givan analysiert mögliche Grifftechniken einzelner Titel und findet heraus, dass Reinhardt seinen Mittelfinger offenbar durchaus noch gezielt einsetzen konnte und dass er sein Handicap durch andere Griffmethoden wettmachte, etwa den Einsatz des Daumens für Bassnoten. Im zweiten Kapitel beschäftigt sich Givan mit der Beobachtung, dass, wo in anderen Werken auch aus dem Jazzkontext der einheitliche dynamische Bogen besonders wertgeschätzt wird, bei Reinhardt ein Moment laufender Diskontinuität eine wichtige Rolle spielt. Er untersucht dafür verschiedene Aufnahmen auf das Phänomen abrupter Brüche, die durch harmonische, rhythmische, melodische oder formale Entscheidungen des Gitarristen ausgelöst werden. Givan lässt bei aller analytischen Diskussion allerdings ein wenig die Tatsache außer Acht, dass “discontinuity” nicht wirklich der Gegensatz zu “unity” ist, dass Beschreibungen wie “Geschlossenheit”, “dramaturgischer Bogen” etc. durchaus mit der Idee musikalischer Brüche als stilistisches Werkzeug kompatibel sind. Im dritten Kapitel wendet Givan das Beispiel der Thomas Owens’schen Analyse von Improvisationsformeln im Spiel Charlie Parkers auf die Musik Reinhardts an, sucht also nach melodischen Formeln, die sich an bestimmten Stellen, etwa bei speziellen Harmoniewechseln, immer wieder finden. Im vierten Kapitel analysiert er drei “klassische” Soli Reinhardts: “I’ll See You In My Dreams”, “Love’s Melody” und “Embraceable You” — wie sonstwo im Buch einschließlich ausführlicher Solotranskriptionen. Givans fünftes Kapitel betrachtet spätere stilistische Änderungen im Gitarrenspiel Djangos, also den Einfluss des Bebop oder den Wechsel zur elektrisch verstärkten Gitarre. Biographische Notizen sind in Givans Buch auf ein Minimum beschränkt, auch Anmerkungen auf Einflüsse etwa anderer Gitarristen oder eine Diskussion der Musik der Manouche. Er schreibt eine analytische musikwissenschaftliche Studie, die für den “einfachen” Fan eher schwere Lektüre sein dürfte. Givan vermag dabei aus der Musik selbst heraus den Blick auf bestimmte Aspekte der Technik des Gitarristen zu lenken und dabei mit Hilfe der musikalischen Analyse die Kunst Django Reinhardts ein wenig näher zu erklären.

(Wolfram Knauer 2010)

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[:de]Neue Bücher 2011[:en]New Books 2011[:]

[:de]Clark. The Autobiography of Clark Terry
von Clark Terry (& Gwen Terry)
Berkeley 2011 (University of Berkeley Press)
322 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-520-26846-3

2011terryAls Clark Terry im Dezember letzten Jahres seinen 94sten Geburtstag feierte, schaute Wynton Marsalis und das komplette Lincoln Center Jazz Orchestra vorbei. Terry ist ein Säulenheiliger des Jazz, einer der ganz wenigen noch lebenden Zeitzeugen der Entwicklung dieser Musik vom Swing über den Bebop bis zu aktuellen Spielformen. Als junger Musiker erhielt er Zuspruch und Ermutigung von älteren Kollegen; später half er selbst jungen Musikern, angefangen von Miles Davis über Quincy Jones bis hin zu unzähligen Workshops und pädagogischen Jazzprojekten, der er mit-initiierte oder bei denen er mitwirkte. Terry kam in der lebendigen, blues-verbundenen Jazzszene von St. Louis zum Jazz, er spielte in den Orchestern von Charlie Barnet, Count Basie und Duke Ellington, er leitete seine eigenen Bands, und er war ein bei allen Kollegen hoch angesehener Stilist und Solist.

In seiner Autobiographie lässt er nun sein Leben Revue passieren. Es ist ein überaus persönliches Buch geworden, in dem Terry freimütig von seinem Groll über den Vater berichtet, aber auch davon, dass es ihm selbst nicht so viel besser gelungen sei, eine gute Beziehung zu seinem Sohn aufzubauen, in dem er von den Schwierigkeiten des Tourneelebens genauso erzählt wie von den wunderbaren Gelegenheiten, bei dem alles klappt und die Musik nur so aus ihm herausfließt. Er erzählt mit Witz und genügend Selbstreflexion, und insbesondere in den Kapiteln über seine Jugend und seine Bigband-Jahre erlaubt er seinen Lesern einen spannenden Blick hinter die Kulissen. Seine Erinnerung ans Great Lakes Naval Training Center, in dem Musiker für die Bands in allen Marinestützpunkten der Vereinigten Staaten ausgebildet wurden, ist ein auch jazzhistorisch interessanter Exkurs, war diese Ausbildung doch der Beginn vieler namhafter Karrieren des modernen Jazz.

Terrys Beschreibungen des Klavierstils von Count Basie oder des Organisationstalents Duke Ellingtons lassen die Musik unmittelbarer werden, geben einem das Gefühl, mehr zu verstehen über die Aufnahmen, die man aus jenen Jahren kennt, als der Trompeter mit dabei war. Seine Erinnerungen daran, wie er zum Flügelhorn kam oder wie er während seiner Zeit in den Fernsehstudios mehr zufällig seinen Gesangsstil des “Mumbling” erfand, ermuntern einen zum Plattenregal zu laufen, um Beispiele zu hören oder auf YouTube Filme anzuklicken, auf denen man ihn dann genau als den hoch-disziplinierten und professionellen Künstler erlebt, als den er sich auch selbst beschreibt.

Neben den vielen professionellen Erinnerungen lässt Terry aber auch die Probleme des Musikerlebens nicht außer Acht, berichtet, wie der offene Rassismus in den USA das Reisen für schwarze Bands schwierig machte, von Krankheiten und von der mangelnden Zeit, sich um Freunde, Familie und nicht zuletzt auch um sich selbst zu kümmern. Er erzählt, wie er weiterarbeiten musste, als seine Frau an schwer an Krebs erkrankte, um die Arztrechnungen zu bezahlen, und wie er so nicht anwesend war, als sie verstarb. Er berichtet von seinem Verlangen nach Nähe und Geborgenheit, und ist politisch unkorrekt genug, ziemlich genaue Vorstellungen davon zu haben, wofür die Frau im Haus zuständig sei – wobei er mit Gwen, seiner jetzigen Frau, dann aber eine Partnerin suchte und fand, die dazu in der Lage war, ihm auch kräftig Kontra zu geben. Es sind solche Momente, die das Buch besonders lesenswert machen, Momente, in denen man den Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und Musik zu erahnen scheint, in denen man in seinen Worten recht genau erkennt, was er in seiner Musik seit mehr als 70 Jahren sagt.

Die Leichtigkeit der Erzählung lässt höchstens in den letzten Kapiteln nach, in denen Terry mehr und mehr seinen Taschenkalender durchzublättern scheint, darauf bedacht, bloß keinen Namen der noch lebenden Kollegen oder seiner Schüler zu vergessen, möglichst viele Termine aufzuzählen, sich dabei des öfteren wiederholt und auch schon mal dieselbe Erinnerung unterschiedlichen Gegebenheiten zuordnet. Dieser Bruch im Manuskript, vom Erzählerischen zum Aufzählerischen, ist aber auch der einzige Wermutstropfen eines Buchs, das unbedingt zur Lektüre empfohlen sei, weil es so viel über die Wirklichkeit des Musikerdaseins im Amerika der 30er bis 60er Jahre erklärt.

Wolfram Knauer (Februar 2015)


 

Sophotocated Lady.
Jazzphotographien 1948-1965
von Susanne Schapowalow
Bad Oeynhausen 2011 (jazzprezzo)
200 Seiten, 55 Euro
ISBN: 9-978-3-9810250-9-9

2011schapowalowQuincy Jones schreibt ein Geleitwort, weil er sich gern an die junge Frau erinnert, die 1960 einen Monat lang mit ihm und seiner Band durch Europa reiste. Susanne Schapowalow begann ihre Karriere als Fotografin in den Mitt-1940er Jahren, fotografierte bald darauf Trümmergelände und Jazzmusiker. Sie war mit Olaf Hudtwalcker befreundet, der sie immer wieder nach Frankfurt einlud, wo sie 1948 für einen Artikel im Schwäbischen Tagblatt den Jazzkeller des dortigen Hot Club ablichtete. Mitte der 1950er Jahre war die gebürtige Hamburgerin bei allen Konzerten amerikanischer Stars in der Musikhalle zugegen, fotografierte Louis Armstrong, Duke Ellington, Gerry Mulligan, Lee Konitz, aber auch deutsche Musiker wie Klaus Doldinger, Caterina Valente, Paul Kuhn, Wolfgang Schlüter oder Rolf Kühn. Sie reiste zu Festivals in Düsseldorf und Essen, arbeitete für Joachim Ernst Berendt und andere, machte sich einen Namen als eine Fotografin, der es gelang, besondere Situationen festzuhalten: nicht bloß den Blick auf den arbeitenden Musiker auf der Bühne, sondern weit mehr den Menschen, den kreativ Schaffenden. Ihre Bilder waren in den 1950er und frühen 1960er Jahren in vielen Fachzeitschriften zu sehen. Das Hotel Ellington in Berlin stattete das gesamte Haus bei seiner Eröffnung im Jahr 2007 mit ihren Fotos aus, Restaurant, Lobby sowie alle Salons und Gästezimmer. Mitte der 1960er Jahre allerdings hatte sich Schapowalow vom aktiven Fotografieren zurückgezogen und eine erfolgreiche Bildagentur gegründet. Jetzt ist im jazzprezzo-Verlag das erste Buch erschienen, das die eindrucksvollen Bilder in angemessener Umgebung präsentiert. Dem Herausgeber Rainer Placke und dem Grafiker Ingo Wulff ist dabei ein großer Wurf gelungen: Papier, Gestaltung, Bildqualität, die Gruppierung der Fotos, die Beschriftungen, die begleitenden Texte – “Sophotocated Lady” hat alle Chancen zum Wunsch-Weihnachtsgeschenk für alle Jazzliebhaber zu werden. Unsere Empfehlung soll dabei nicht verschweigen, dass der Autor dieser Zeilen selbst ein Vorwort zum Buch verfasst hat und somit ein wenig befangen ist. Aber sei’s drum: Hätte er kein Belegexemplar erhalten, hätte auch er es sich zu Weihnachten gewünscht! Ein großer Wurf, eine großartige Fotografin, ein gelungenes Buch!

Wolfram Knauer (November 2011)


Carla Bley
von Amy C. Beal
Urbana/IL 2011 (University of Illinois Press)
113 Seiten, 22 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-0818-7

2011bealCarla Bley ist sicher eine der wichtigsten Komponistinnen des 20sten Jahrhundert – wobei die Einschränkungen dieses Satzes gleich mehrere sind, die alle so nicht stimmen. Weder hat ihre Kompositionskraft am 31. Dezember 1999 aufgehört, noch ist ihre Bedeutung geschlechterbeschränkt. In ihrem Buch will Amy C. Beal dem Phänomen der Pianistin, Komponistin und Bandleaderin historisch, aber durchaus auch musikalisch gerecht werden

Sie beginnt biographisch mit der Geburt von Lovella May Borg in Oakland, Kalifornien, um dann gleich die frühesten musikalischen Einflüsse aufzuzählen: absolutes Gehör, Ballettmusik von Erik Satie im Radio, Beethoven, Chopin, Grieg, Rachmaninoff am Klavier, protestantische Hymnen in der Kirche ihrer fundamentalistisch-gläubigen Eltern. Mit 17 begann sie in einem Club in Monterey Lounge-Piano zu spielen, besaß aber nur ein begrenztes Repertoire an Standards und konnte kaum improvisieren. Dann entdeckte sie den Jazz für sich, reiste nach New York, hörte Miles Davis und all die anderen Vorbilder. Zusammen mit Paul Bley zog sie 1957 zurück an die Westküste, wo sie mehr und mehr zu komponieren begann. Bley, George Russell, Steve Swallow und andere Musiker waren von ihren Stücken begeistert und spielten sie in diversen Bands, in denen sie arbeiteten.

Beal untersucht einige der frühen Kompositionen Bleys, “Ictus”, “Floater”, Walking Woman” und erklärt die Faszination dieser Stücke, die dazu führte, das 1962 etwa auf einem Duzend Alben Arrangements und Interpretationen dieser Werke zu finden waren. 1964 fanden sich die Bleys in New York im Zentrum einer Bewegung, die versuchte, die neuen Strömungen in der improvisierten Musik der USA zu kanalisieren. Bill Dixon hatte in einem New Yorker Club eine Konzertreihe ins Leben gerufen, die er “October Revolution in Jazz” nannte, und zugleich die Jazz Composers Guild gegründet, eine Musikerinitiative, der neben ihm und den Bleys Sun Ray, Roswell Rudd, John Tchicai, Archie Shepp und viele andere angehörten. Bley und Mantler fokussierten diese Initiative in einer Art All-Star Band, dem Jazz Composers Guild Orchestra.

Die Ehe der Bleys scheiterte, und Carla tat sich mit dem aus Österreich stammenden Trompeter Michael Mantler zusammen; aus ihrer 25 Jahre dauernden Beziehung stammt ihre gemeinsame Tochter Karen Mantler. 1967 gingen sie auf eine Europatournee, wo sie erstmals mit der aggressiven Kunst Peter Brötzmanns und Peter Kowalds konfrontiert wurden. Zugleich war sie fasziniert von den Klängen des Beatles-Albums “Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band”, das damals erschien. Sie veränderte ihre Klangsprache, arbeitete mit unterschiedlichen, oft kontrastierenden Klangfarbenschattierungen, wie Beal insbesondere an Bleys Suite “A Genuine Tong Funeral” zeigt. “Escalator Over the Hill” von 1972, eine Art Jazz-Opern-Fusion, ist sicher das Hauptwerk der Komponistin. Mit der Veröffentlichung dieses Werks auf Schallplatte begann Bley mit Mantler zugleich ein neues Kapitel ihrer Arbeit, gründete den New Music Distribution Service sowie das Label WATT Records, weitere Versuche von Musikern, ihre Musik auch rechtlich unter Kontrolle zu behalten.

1974 begann Bley mit eigenen, unterschiedlich besetzten Bigbandbesetzungen, und Beal untersucht die Einflüsse auf ihre Arbeit in diesen Jahren, Mingus, Haden, die christliche Tradition ihres Elternhauses, aber vor allem auch all die Musiker, mit denen sie in ihrer Karriere zusammenspielte und deren musikalische Sprache sie immer gern aufnahm. Beal geht auch auf Bleys “Fancy Chamber Music” ein, Musik also für kleinere Besetzungen einschließlich der engeren Zusammenarbeit mit Steve Swallow, seit langem ihrem musikalischen, daneben aber seit etlichen Jahren auch ihrem Lebenspartner.

Beals Buch ist eine Biographie, die der Persönlichkeit Carla Bley kaum wirklich zu Leibe rückt, zugleich eine Annäherung an die Musik, die ohne analytischen Fokus auskommt. Der Autorin gelingt es, die verschiedenen Einflüsse auf Bleys Werk zu erklären und zugleich ihr musikalisches Vokabular zu fassen. Sie liefert damit eine hervorragende Grundlage für weiterführende Studien – und auf eine Autobiographie der Pianistin und Komponistin würden sich nicht nur ihre Fans freuen.

Wolfram Knauer (August 2014)


Jazz Photography. A Bibliography Spanning 75 Years von Jan J. Mulder Almere/NL 2011 (Names & Numbers) 131 Seiten, 14 Euro (inclusive Porto in Europa) ISBN: 978-90-77260-18-0 Bezugsquelle: Names & Numbers, gehojazz@planet.nl 2011mulderNames & Numbers ist ein kleiner holländischer Verlag, der sich vor allem auf Diskographien spezialisiert hat. Der Sammler und Jazzhistoriker Jan J. Mulder hat sich mit seinem Buch über “Jazz Photography” einem Thema zugewandt, das mit dem Jazz fast genauso eng verbunden ist wie das der Tonaufzeichnung. Er beschreibt das Phänomen von Foto-Büchern, wie sie seit 1936 die Jazzgeschichte begleiten und dokumentieren. Jazz als lebendige Bühnenkunst bietet sich für Fotobände geradezu an, und jede Menge erstklassiger Fotokünstler, allen voran William Claxton, William Gottlieb oder Herman Leonard, haben durch ihre Sicht auf die Musik selbst Jazzgeschichte geschrieben. Mulders Auflistung ist eine Art kommentierte Bibliographie. Er geht chronologisch vor vom ersten “Foto-Album” mit 63 Bildern, 1936 herausgegeben von der holländischen Zeitschrift De Jazzwereld bis z Herb Snitzers “Glorious Days and Nights. A Jazz Memoir” von 2011. Jeder Eintrag enthält Informationen über Umfang, Material, Größe, Anzahl der enthaltenen Bilder, aber auch Beispiele der abgelichteten Künstler. Daneben nennt Mulder Wiederveröffentlichungen oder Veröffentlichungen in anderen Sprachen. Neben Büchern finden sich auch vereinzelte Postkartenserien; neben reinen Fotobüchern auch Bücher, in denen Fotos wenigstens eine größere Rolle spielen. Mulders Buch ist damit sicher vor allem ein Nachschlagewerk für Fotobuchsammler (ja, solche gibt es), daneben aber auch ein überaus hilfreicher nüchterner Überblick über ein über die Jahre immer stärker angewachsenes Verlags-Oeuvre. Wolfram Knauer (November 2013)


Joe Zawinuls Erdzeit. Interviews für ein Portrait von Robert Neumüller Weitra 2011 (Bibliothek der Provinz) 152 Seiten, 22 Euro ISBN: 978-3-85252945-5 2011neumuellerIm Mai 2006 begann Robert Neumüller mit den Dreharbeiten für einen Dokumentarfilm über den Pianisten, Keyboarder und Komponisten Joe Zawinul, einen der wenigen Europäer, die im Mutterland des Jazz Karriere machten. Der Film sollte ein Geschenk zu Zawinuls 75sten Geburtstag werden, aber im September 2007 verstarb der österreichische Nationalheld des Jazz. Und so wurde “Joe Zawinuls Erdzeit” ein filmischer Nachruf auf einen der bedeutenden Musiker des Jazz, einen der Miterfinder der Fusion, einen kreativen genauso wie kritischen Geist. Für die Dokumentation hatte Neumüller etliches an Interviewmaterial gesammelt, und nach Schnitt und Fertigstellung des Films fand er, dass dieses Material auch deshalb eine zusätzliche Verwertung erhalten sollte, weil er im Film nur Ausschnitte daraus hatte verwenden können. Im Buch lesen wir nun die Gespräche mit Zawinul. Es geht um aktuelle Projekte, biographische Stationen, um Österreich und Amerika, um seine Familie, um Friedrich Gulda, Miroslav Vitous, Miles Davis, Wayne Shorter, und die anderen Musiker von Weather Report. Es geht um Rhythmik, HipHop und Sport, um Mozart und Bach, um Improvisation, Konservatorien und vieles mehr. Zwischendrin finden sich aber auch Interviewausschnitte mit seiner (kurz vor ihm verstorbenen) Frau Maxine sowie mit seinen Söhnen und mit Wayne Shorter. Das alles ist nicht chronologisch, sondern so geordnet, wie es entstand, thematisch also. Es liest sich wie ein Film mit immer neuen Schnitten, Szenen, Themen. Am Ende meint man Joe Zawinul tatsächlich ein wenig näher zu kennen, den Menschen genauso wie den Musiker, sein Weltverständnis und sein Verständnis von Musik. Die Fotos zeigen ihn bei der Arbeit, aber auch in Drehsituationen für den Dokumentarfilm. Und so bietet das Buch am Ende sowohl ein interessantes “The Making of” wie auch eine überaus empfehlenswerte und sehr eigenständige Lektüre. Wolfram Knauer (September 2013)


Arbeitsfeld Schule und Musikschule. Zur künstlerischen Ausbildung von Musikpädagogen. Ein integratives Konzept von Hans-Joachim Heßler Duisburg 2011 (United Directions of Music) 163 Seiten, 18,90 Euro ISBN: 978-3-942677-2-8 2011hesslerAusgehend von der Feststellung, dass die Studieninhalte für Musikpädagogen für den Bereich der Schule wie auch der Musikschule dringend reformbedürftig sei, entwickelt Hans-Joachim Heßler in seinem Buch ein, wie er es nennt “integratives Konzept” einer solchen künstlerischen Ausbildung. Er identifiziert Musikpraxis als einen wichtigen allgemein-pädagogischen Ansatz in den Richtlinien für allgemeinbildende Schule und wiederholt Hans Günther Bastians gern zitierte Studie, nach der Musikpraxis bei Schülerinnen und Schülern die soziale Kompetenz besonders fördere. Rock und Pop hätten zwar seit Jahren ihren Platz im Musikunterricht gefunden, doch würde hier nach wie vor am “Traditionsprinzip” festgehalten, das vor allem die europäische Kunstmusiktradition festschreibe, andere musikalische Ansätze dagegen vernachlässige. Heßlers “integratives Konzept” will dem Traditionsprinzip eine zweite Säule beistellen, jene nämlich des Jazz, den er als “Weltmusik in einem umfassenden Sinne” begreift und als Basis der meisten populären Musikformen. Der Jazz sei von allen nicht-traditionellen Ansätzen am weitesten wissenschaftlich erfasst worden und überhaupt erfassbar, meint Heßler (zitiert in diesem Kapitel allerdings nur Nicht-Wissenschaftler); außerdem sei seine Didaktik – und hier bezieht er sich vor allem auf Deutschland – weitgehend ausgefeilt (als Beispiele verweist er allerdings ausgerechnet auf Aebersold-Kassetten). Er identifiziert als Jazzformen, die er für den unterricht für besonders geeignet halte: “a) Free-Jazz, b) Funk-, Rock und Pop-Jazz, c) Latin- und Ethno-Jazz und d) No-Wave”. Man mag über diese Begriffszuordnung streiten: So bezeichnet “No Wave” üblicherweise eigentlich eher jazz-fremde Musikrichtungen, das, was Heßler allerdings meint, ist irgendwo zwischen jener eklektizistischen, post-modern angehauchten Beliebigkeit der 1980er Jahre und John Zorns New Yorker Downtown-Szene angesiedelt, die vielleicht ganz zu Recht eines eigenen Namens zumindest in der Jazzwelt entbehrte. Dann zitiert der Autor als Begründung dafür, den Jazz als “Überbau” zu verstehen, Joachim Ernst Berendt: Rock sei nicht zu denken ohne Jazz, Jazz dagegen durchaus ohne Rock. Improvisation habe weithin anerkannte positive Lehr- und Lerneffekte und sei bekanntermaßen Grundmedium des Jazz. Improvisationsunterricht dürfte daher in keiner musikpädagogischen Ausbildung fehlen. In einem eigenen Kapitel fordert Heßler die Zusammenarbeit von Schule und Musikunterricht, durch die insbesondere das Heranführen ans Instrument, ans praktische Musikmachen gefördert werden könne. Er beschreibt die Anforderungen an die Lehrenden in verschiedenen Instrumentengattungen und fordert in seinem Schlusskapitel eine offenere und breitere Ausbildung von Musikpädagogen, ihre Befähigung insbesondere im Bereich auch der Neuen Musik und des Jazz, die ihnen ermöglichten, sich besonders offen auf andere stilistische Formen einzustellen, diverse Arten ethnischer Musikern etwa, Rock, Pop etc. Alles in allem formuliert Heßler ein aus seiner eigenen Praxis heraus verstandenes Konzept, das den Jazz als eine weitere Säule in der Ausbildung von Musikpädagogen festschreiben möchte. Man mag dieser Forderung folgen oder nicht; Heßlers Ausführungen bieten dann für beide Seiten das eine oder andere Argument. Wolfram Knauer (April 2013)


Autobiographie du Jazz von Jacques Réda Paris 2011 (Climats) 360 Seiten, 23 Euro ISBN: 978-2-0812-4880-9 2011redaJacques Réda präsentiert seine eigene Autobiographien des Jazz, ein Buch mit Darstellungen aller ihm besonders wichtig erscheinenden Musiker von den Anfangstagen bis fast in die Gegenwart und kurzen subjektiven Würdigungen. Dabei gibt es wenig Neues zu entdecken, Réda immerhin ist lange genug im Journalismus tätig, um die Einschätzung seiner Lieblinge interessant zu gestalten, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden und in den kurzen Abrissen eine Art musikalische Einordnung der Künstler vorzunehmen, ohne ins biographische oder diskographische Detail gehen zu müssen. Für den Kenner der Materie gibt es dabei wenig Neues zu entdecken, für den Neuling eignet sich das Buch als Nachschlagewerk oder knappe Einführung. Wie meist bei solch fast schon lexikalisch angelegten Büchern ist über die Auswahl der dokumentierten Künstler trefflich zu streiten, und auch die Länge der Artikel lässt mehr Aufschluss auf Rédas Geschmack als über die Bedeutung der Musiker zu. Wolfram Knauer (April 2013)


Tombeau de John Coltrane von Xavier Daverat Marseille 2011 (Parenthèses) 439 Seiten, 19 Euro ISBN: 978-2-86364-654-0 2011daveratDas “Grabmal” des John Coltrane, das Xavier Daverat in seinem Buch über den Saxophonisten aufstellt, ist weniger eine biographische Darstellung als vielmehr eine Annäherung an Coltrane als Künstler, dessen Stil auf der musikalischen Sprache des Bebop aufbaute, sie weiterentwickelte und in den Innovationen, die er mitentwickelte, selbst zu einem der einflussreichsten Musiker des Jazz machte. Im ersten Kapitel schreibt Daverat über Coltrane als jungen Parker-Schüler und die Anfänge der Ausbildung eines eigenen Stils. Im zweiten Kapitel beschreibt er den Einfluss, vor allem aber auch die Unterschiede zu Sonny Rollins. Kapitel 3 widmet sich Tranes Zeit bei Miles Davis, verortet den Saxophonisten dann in der Moderne des Jazz zwischen Monk und den jungen Free Jazzern. In weiteren Kapiteln untersucht Daverat das klassische Quartett des Meisters, geht auf dessen freie Phase ein und widmet sich dem spirituellen Spätwerk. Weitere Kapitel beschäftigen sich mit Tranes ästhetischer Haltung sowie der Position des Saxophonisten zur und in der Entwicklung der Avantgarde im Jazz der 1960er Jahre. Ein umfangreicher zweiter Teil des Buchs dann betrachtet (meist) nachfolgende Saxophonisten, alphabetisch geordnet von A wie George Adams bis Z wie Michael Zilber, und fragt nach dem Einfluss Coltranes auf deren Stilistik. Eine Diskographie Coltranes und ein Personenindex schließen das Buch ab. Daverats Buch ist vom Ansatz her eher ein Beitrag zu einem bereits geführten Coltrane-Diskurs in der Jazzforschung und weniger eine biographische Würdigung oder gar eine musikalische Hinleitung zur Musik des Saxophonisten. Insbesondere die zweite Hälfte des Buchs, in der sich der Autor auf die Suche nach “Coltranismen” im Stil anderer Saxophonisten macht, ist dabei eine hilfreiche Ergänzung zu einem bislang unzureichend bearbeiteten Teil der Coltrane-Forschung: seinem Einfluss nämlich auf andere Musiker, der sich entweder im klanglichen Andeuten oder aber auch in deutlicher Abgrenzung zum Vorbild äußert. Wolfram Knauer (März 2013)


West Meets East. Musik im interkulturellen Dialog herausgegeben von Alenka Barber-Kersovan & Harald Huber & Alfred Smudits Frankfurt 2011 (Peter Lang) 258 Seiten, 46,80 Euro ISBN: 978-3-631-61262-0 2011barber“East Meets West” hieß eine Tagung, die vom Institut für Popularmusik, vom Institut für Musiksoziologie, vom Arbeitskreis Studium Populärer Musik und vom Österreichischen Musikrat 2008 an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien durchgeführt wurde. Der vorliegende Sammelband enthält die Referate, elf an der Zahl, die sich verschiedenen Aspekten interkultureller Einflüsse nähern. Da gibt es generellere und speziellere Ansätze, wird über den “interkulturellen Dialog durch elektronische Musik” oder über den Einfluss östlicher Popmusik auf den Westen geschrieben, über “experimentellen Sound aus Beirut”, Tendenzen chinesischer Musik und andere Themen. Jazz kommt auch dabei vor, vor allem in zwei Beiträgen. Ekkehard Jost schaut auf “Tendenzen zum interkulturellen Mono- und Dialog im französischen Jazz der Gegenwart” und betrachtet dabei vor allem Beispiele von Michel Portal, Bernard Lubat und Uzeste Musical. Und Andreas Felber untersucht die manchmal fast biographisch anmutende, dann wieder vor allem strukturelle Integration von Jazz und indischen Musiktraditionen bei New Yorker Musikern und analysiert dabei Stücke von Sunny Jain, Rez Abbasi und Vijay Iyer. Alles in allem: ein Tagungsband mit sehr unterschiedlichen Beiträgen, inhaltlich genauso wie vom Ansatz her oder der analytischen Tiefenschärfe. Wolfram Knauer (März 2013)


David Baker. A Legacy in Music von Monika Herzig Bloomington 2011 (Indiana University Press) 422 Seiten, 29,95 US-Dollar ISBN: 978-0-253-35657-4 2011herzigDavid Baker hat mehrere Karrieren gemeistert: als Posaunist, Cellist, Komponist und Pädagoge. Monika Herzig, in Deutschland geborene Pianistin und Musikwissenschaftlerin, die seit 1991 in Bloomington, Indiana, der langjährigen Wirkungsstätte Bakers, lebt, nähert sich in ihrem Buch Bakers Biographie genauso an wie seiner Musik. Der biographische Teil beginnt 1931 mit Bakers Geburt in Indianapolis. Dort ging Baker zur Crispus Attacks High School, die einen Musikschwerpunkt besaß und durch die auch andere namhafte Musiker gegangen waren, unter ihnen etwa J.J. Johnson der dort 1941 seinen Abschluss gemacht hatte, der den jungen Kollegen in Indianapolis, also auch David Baker oder dem jungen Slide Hampton als Role Model diente. In den 1950er Jahren begann Bakers professionelle Karriere als Posaunist, der unter anderem mit Wes Montgomery spielte und 1959 ein Stipendium für die Lenox School of Jazz erhielt. Hier lernte er etliche Musiker kennen, mit denen er auch später noch zusammenarbeiten sollte, unter ihnen etwa George Russell, der Bakers Komposition “Kentucky Oysters” 1960 auf seinem “Stratusphunk”-Album aufnahm. 1960 saß Baker zudem in der Bigband, mit der Quincy Jones durch Europa tourte. Ein Autounfall zwang Baker 1964 dazu, die Posaune aufzugeben; nach dem Ausprobieren mehrerer Instrumente entschied er sich stattdessen Cello zu spielen. Zugleich schrieb er noch mehr und begann Ende der 1960er Jahre seine Karriere als Jazzpädagoge an der Jazzabteilung der Indiana University, deren Leiter er bald wurde. Herzig beschreibt Bakers pädagogische Konzepte in Bezug auf Gehörbildung, Improvisation, das Lernen eines Repertoires, Jazzgeschichte, Arrangement, Ensembleleitung oder seine Beteiligung an Publikations- und Workshopprojekten Jamey Aebersolds. Ein eigenes Kapitel widmet sie dem Bandkonzept seiner “21st Century Bebop Band”; darin auch untersucht Brent Wallarab Bakers kompositorischen Umgang mit dem Blues. David Ward-Steinman analysiert den Komponisten Baker und beschreibt seine Klaviersolo-, Kammermusik-, Chor- sowie Orchesterkompositionen. John Edward Hasse würdigt Bakers Zusammenarbeit mit den pädagogischen Programmen des Smithsoninan National Museum of American History und seinem Jazz Masterworks Orchestra. Willard Jenkins erläutert das soziale Bewusstsein Bakers, sein Engagement fürs National Endowment for the Arts, den National Council on the Arts, die National Jazz Service Organization und die International Association for Jazz Education. In einer Coda sammelt Herzig Aussagen verschiedener Musiker über ihren Kollegen, den Musiker und Pädagogen David Baker. Ein Anhang enthält zudem ein Werkverzeichnis seiner Kompositionen, weitere Anhänge außerdem eine Liste der Ehrungen und Preise, eine Auflistung der Ensembles in denen er mitwirkte sowie seiner Lehraufträge. Eine Auflistung eigener Veröffentlichungen und eine Diskographie wird schließlich von einer allgemeinen Bibliographie über Baker gefolgt Alles in allem bietet “David Baker. A Legacy in Music” einen hervorragenden Einblick in Bakers vielfältige Arbeit. Es ist keine Biographie im üblichen Sinn, sondern ein Buch, das verschiedene Ansätze miteinander verbindet, damit aber vielleicht besonders passend das Wirken dieses Musikers und Pädagogen würdigt. Wolfram Knauer (März 2013)


Plattensüchtig. Expeditionen in eine andere Welt. 7 Schallplattensammler im Interview von Jürgen Schmich Frankfurt/Main 2011 (Eigenverlag) 168 Seiten, 22 Euro ISBN: 978-3-00-036732-8 Zu bestellen über www.plattensuechtig.de 2011schmichNeben Briefmarken sind im 20sten Jahrhundert wohl Schallplatten zum begehrtesten Sammelobjekt geworden. Die Intensität des Sammelns aber besitzt eine große Spannbreite. Der eine sammelt, weil er jede Platte mit Erinnerungen verbindet; der andere durchaus auch im Bewusstsein des pekuniären Wertes der von ihm angehäuften Objekte. Während ersterer wahrscheinlich gern in seine Sammlung hineinhorcht, wird letzterer durchaus schon mal darauf achten, einige der wertvollsten Stücke “mint”, also ungespielt zu belassen, damit sie ihren Wert nicht einbüßen. Jürgen Schmich ist in sieben Gesprächen mit Sammlern ihrer Leidenschaft auf die Spur gekommen. Im Vorwort beschreibt er die verschiedenen Facetten des Sammelns, die Formatänderungen auf dem Tonträgermarkt, den Wandel im Sammelverhalten zwischen Plattenladen, Plattenbörse und eBay. Der einzige Jazzsammler des Buchs, Andreas Schmauder, machte irgendwann sein Hobby zum Beruf und eröffnete ein Schellackplattenantiquariat. Sein Sammlungsschwerpunkt liegt auf europäischem Jazz vor 1935. Er erzählt über seinen Weg zum Sammler, über Plattenspieler und Grammophone, darüber, wie es dazu kam, dass kein geringerer als Robert Crumb das Logo seines Ladens zeichnete, über seinen Vollständigkeitsanspruch, den Umgang mit den Platten, über Reinigung, Erfassung, Ordnung im Regal und überhaupt die Besessenheit hinterm Sammeln. 35.000 bis 40.000 Schellackplatten besäße er privat, seine wertvollste sei “Sweet Georgia Brown” von Kai Julian, die rarsten seien acht Testpressungen von Sam Wooding. Peter Bastine sammelt Picture Discs, also Platten, die ausnahmsweise nicht schwarz, sondern mit Bildern geschmückt sind. Daneben sammelt er auch abspielbare Postkarten. Auch er berichtet über die Quellen und über den Unterschied zwischen Sammler- und Marktwert seiner Schätze. Heinz-Günther Hartig sammelt Rock ‘n’ Roll, insbesondere Buddy Holly, aber auch Elvis. Er lässt auch andere an seine Plattensammlung unter der Voraussetzung, dass sie sie dort wieder einstellen, wo sie sie herausgenommen haben. Der im sächsischen Glauchau lebende Edmund Thielow sammelt vor allem Beatles-Platten. Er erzählt von den Problemen, in der DDR an West-Produktionen zu kommen, vom Versuch, sein Archiv öffentlich zu machen und von einer von ihm selbst gepressten John-Lennon-Gedenkplatte, auf der absolut nichts zu hören war. Der Zürcher Felix Aeppli sammelt die Rolling Stones und veröffentlichte Mitte der 1980er Jahre einen Werkkatalog der Band, der inzwischen im Internet nachschlagbar ist. Hans-Jürgen Finger sammelt deutsche Schlager, Chris Wallner Soul, Funk, House und Techno. Am Ende eines jeden Gesprächs legt Schmich seinen Gesprächspartnern den jeweils selben Fragebogen vor: Wie viele Platten haben Sie zurzeit? Die erste selbst gekaufte Platte? Lieblingsplatte? Die wertvollste? Die rarste? Die originellste? Die peinlichste? usw. Ansonsten lässt er die Sammler erzählen, fragt behutsam nach und nimmt sie dabei in ihrer Leidenschaft ernst, von der sie selbst wissen, dass sie eine nicht jedem vermittelbare Marotte ist, eine Sucht, wie der Buchtitel dies suggeriert. Nicht nur Sammler werden sich in den Gesprächen dieses lesenswerten Buchs wieder finden. Wolfram Knauer (März 2013)


Mr. Trumpet. The Trials, Tribualtions, and Triumph of Bunny Berigan von Michael P. Zirpolo Lanham/MD 2011 (Scarecrow Press) 551 Seiten, 59,95 US-Dollar ISBN: 978-0-8108-8152-5 2011zirpoloBunny Berigan gehört zu jenen Jazzmusikern, deren Legende durch ihr Spiel genauso begründet scheint wie durch ihr tragisches Ende – Berigan starb 1942 mit nur 33 Jahren an den Folgen seines Alkoholismus. Michael P. Zirpolo, Jazzfan und Rechtsanwalt aus Ohio, hat nun ein Buch geschrieben, das in der Sorgfalt seiner Recherche durchaus als definitive Bunny-Berigan-Biographie gelten darf. Zirpolo verfolgt dabei nicht nur die Stationen im Leben und Wirken des Trompeters von seiner Geburt und seiner Jugend in Wisconsin bis zu seinem Tod, sondern er hinterfragt auch die Arbeitsbedingungen – konkret mit Bezug auf Berigan, aber seine Recherche hilft daneben, die Jazzszene der 1930er Jahre ganz allgemein besser zu verstehen. Ende der 1920er Jahre ging Berigan von Wisconsin nach New York, spielte 1930 mit Hal Kemp und wurde 1931 ins CBS Studioorchester engagiert. Er machte sich einen Namen auf der mit Trompetern nicht gerade armen Jazzszene New Yorks und spielte bereits 1931 seine ersten Platten mit Benny Goodman ein. Mit 24 Jahren wurde er 1932 Mitglied des Paul Whiteman Orchesters und saß 1934 als zweiter Trompeter in der Benny Goodman Bigband. Nebenbei spielte er Mitte der 1930er Jahre in vielen der kleineren Clubs Manhattans und nahm auch unter eigenem Namen auf, 1936 etwa zum ersten Mal “I Can’t Get Started”, das aber erst in einer anderen Version aus dem nächsten Jahr ein nationaler Hit werden sollte. Berigan arbeitete immer wieder mit der Sängerin Lee Wiley, wurde aber auch als Solist so gefeiert , dass er Anfang 1937 den Schritt wagte, eine eigene Bigband aufzubauen. Zugleich allerdings wurde sein Alkoholproblem immer deutlicher und selbst in der Musikpresse diskutiert. Zirpolo beschreibt in diesen Kapiteln die Zwänge eines Bandleaders der Swingära, Konkurrenzdruck, gedrängte Tourpläne mit mehr One-Nighters als Wochen-Engagements, benennt die Einkünfte und stellt diesen die Kosten gegenüber, die ein Bandleader wie Berigan als Geschäftsführer seiner “Firma” hatte. Er erzählt den Werdegang der Berigan Bigband genauso wie er die Auswirkungen des Alkohols auf Berigans Bühnenverhalten beschreibt, nennt Aufnahmesessions und zitiert aus Erinnerungen von Musikern, mit denen Berigan zusammenarbeitete. 1940 gab der Trompeter sein Orchester kurzzeitig auf und wurde Mitglied des Tommy Dorsey Orchestra, tourte im Herbst desselben Jahres aber bereits wieder mit eigener Band. Zeitweise konnte er seine Musiker nicht pünktlich bezahlen und bekam darüber öffentlich verhandelte Probleme mit der mächtigen Musikergewerkschaft. Daneben aber ging es auch gesundheitlich bergab, und im Juni 1942 erlag er inneren Blutungen als Folge seines Alkoholabusus. “Die Legende beginnt” überschreibt Zirpolo das dem Tod folgende Kapitel, das die kritische Aufarbeitung des frisch Verstorbenen untersucht und diese bis in die Gegenwart verfolgt. Zirpolo bezieht sich für sein Buch ausführlich auf eine Sammlung zu Berigans Leben und Schaffen, die ein anderer Sammler und Privatforscher, nämlich Cedric Kinsley White, zusammengetragen hatte. Diese enthält viele zeitgenössische Presseberichte und macht Zirpolos Buch damit zu einer Biographie voller Verweise. Manchmal gerät das dann schon etwas zu präzise und für den Laien damit schwer lesbar, ist auf der anderen Seite aber genau deshalb eine exzellente Grundlage für jede weitere Auseinandersetzung mit Bunny Berigan. Die Musik selbst hat der Autor dabei allerdings doch etwas stark ausgeklammert: Musikalische Beschreibungen oder gar Wertungen finden sich höchstens in Zitaten anderer Autoren. Statt einer Diskographie verzeichnen Anhänge Berigans Airchecks und Radio Transcriptions; außerdem schließt ein sorgfältiges Register das Buch ab. Wolfram Knauer (März 2013)


Fela Kuti. This Bitch of a Life von Carlos Moore Berlin 2011 (Tolkemitt Verlag; nur erhältlich über Zweitausendeins, www.zweitausendeins.de) 384 Seiten, 19,90 Euro ISBN: 978-3-942048-42-2 2011mooreFela Antikulapo Kuti war der Star des Afrobeat, einer der einflussreichsten Musiker Afrikas im 20sten Jahrhundert. Auf dem von Aids gebeutelten Kontinent wandte er sich gegen Geburtenkontrolle, doch sein Tod an den Folgen seiner eigenen Aids-Erkrankung sensibilisierte letzten Endes viele Afrikaner für die Notwendigkeit eines effektiven Schutzes vor dieser Krankheit. Carlos Moore genoss das Vertrauen des Saxophonisten und Komponisten, als er in den frühen 1980er Jahren mit Fela an dem Manuskript arbeitete, das erstmals 1982 als authorisierte Biographie in englischer Sprache erschien. Nun hat er das Buch bis zum Tode Kutis fortgeschrieben und den autobiographischen und Fragen/Antwortteilen des Buchs ein kluges Nachwort beigegeben. Es ist immer noch lesenswert, wie Fela, der Star Afrikas über Politik, Frauen, afrikanische und afro-amerikanische Kultur reflektiert, wie sich Freunde vor allem Freundinnen und etliche seiner Ehefrauen (Fela lebte polygam und heiratete an einem Tag 27 Frauen) ausgesprochen offen zu ihm äußern. Es ist ein Buch über Kunst, Tradition, Macht und Liebe, über Selbstbewusstsein und die Kraft der Musik. Moores Buch erlaubt einen Einblick in die Weltsicht dieses Mannes, offen, ungeschönt, ein wenig Miles-Davis-esk sozusagen, auch nach dreißig Jahren ungemein lesenswert. Wolfram Knauer (Dezember 2012)


Bonanza. Insights and Wisdom from Professional Jazz Trombonists von Julie Gendrich Rottenburg 2011 (advance music) 563 Seiten, 31,95 Euro ISBN: 978-3-89221-113-6 2011gendrichJulie Gendrich wollte eigentlich ein paar Interviews mit Posaunisten führen, die in der Woody Herman Band gespielt hatten, und damit dem Beispiel des Autors Kurt Dietrich folgen, der 1995 im selben Verlag ein Buch über Duke Ellingtons Posaunisten veröffentlicht hatte. Als sie herausfand, dass Herman allein seit 1965 mehr als 100 Posaunisten in der Band hatte, entschied sie sich um und befragte stattdessen 40 Jazzposaunisten eigener Wahl, einige bekannter, andere eher in der zweiten Reihe. Ihre Fragen berühren biographische Details, Informationen über die spezifische Karriere, über Einflüsse und berufliche Erfahrungen, vor allem aber über instrumentalspezifische Dinge, Improvisation und vieles mehr. Die erste Frage des ersten Interviews im Buch ist ein gutes Beispiel für ihren Ansatz. Sie fragt Wayne Andre: “Ich versuche herauszufinden, wie professionelle Posaunisten zu improvisieren lernen, sowie, sofern sie ihren Schülern das Improvisieren beibringen, welche Übungen sie dafür benutzen.” Aber Jazzmusiker wären nicht Jazzmusiker, wenn nicht auch ihre Antworten improvisatorisch abschweifen würden. Andre antwortet, man müsse viel hören, zuhören, transkribieren, kopieren, und dann seinen eigenen Stil finden. Dann erzählt er, wie er selbst zur Posaune gekommen sei, nennt Lehrer, erzählt über Gigs mit Charlie Spivak, Sauter-Finegan und Woody Herman. Er erklärt, wie wichtig ein gutes Wissen über harmonische Zusammenhänge für einen Posaunisten ist, und zählt einige seiner Lieblingsposaunisten auf (und erklärt warum). Auf ähnliche Art und Weise unterhält sich Julie Gendrich z.B. mit Hal Crook, John Fedchock, Conrad Herwig, Don Lusher, Earl McIntyre, John Mosca, Ed Neumeister, Jim Pugh, Bill Reichenbach, Steve Turre, Mel Wanzo, Chris Washburne, Bill Watrous, Jiggs Whigham oer Phil Wilson, die alle bereitwillig aus der Werkstatt berichten. So richtet sich das Buch vor allem an Posaunisten, denen es jede Menge wertvolle Tipps vermittelt, eine kleine verbale Masterclass quasi bei immerhin 40 erfahrenen Kollegen. Wolfram Knauer (Dezember 2012)


Tiny. The Life and Discography of Tiny Kahn von Malcolm Walker Brighton 2011 (Discographical Forum) 46 Seiten erhältlich durch: Discographical Forum, discoforum@yahoo.com 2011walkerTiny Kahn umfasst gerade mal acht Jahre, von 1944 bis 1952, und doch erlangte der Schlagzeuger, dessen Name “Tiny” umgekehrt proportional zu seiner tatsächlichen Körperfülle war und der 1953 im Alter von gerade mal 29 Jahren starb, geradezu Legendenstatus unter Musikern. Zum Leben des Tiny Kahn finden sich in Malcolm Walkers dünner Mobnographie nur rudimentäre Informationen. Immerhin beginnt seine Diskographie beginnt mit der Reproduktion eines legendären Interviews, dass Kahn 1950 dem Magazin Down Beat gab, und in dem er erklärt, was den modernen Schlagzeuger ausmache, der weit mehr sei als ein Zeitgeber, in dem er sich zugleich an seine Zeit in den unterschiedlichsten Bands erinnert, Milt Britton etwa, Henry Jerome, Georgie Auld, Boyd Raeburn, Anita O’Day, Chubby Jackson und anderen. Der Rest des Büchleins ist eine veritable Diskographie, listet vor allem die Aufnahmen und mischt die Angaben mit Interviewauszügen aus Büchern, Zeitschriften und persönlichen Recherchen des Autors. Der Übersichtlichkeit sortiert Walker dabei nach Tonträger-Formaten (also: 78 / EP / LP / CD, wobei man sich zwischenzeitlich vielleicht sogar fragen könnte, ob nicht auch Internet-Ressourcen mit einbezogen werden könnten. Das führt dann gleich zur nächsten Frage: inwieweit nämlich Diskographien heute noch als mehr oder weniger hektographierte Blätter veröffentlicht werden sollten oder nicht vielleicht doch gleich als frei im Netz zugängliche PDF- oder sonstige Dateien. Die Kosten, die solche Recherchen verursachen, bringt der Verkauf des selbstgebundenen Büchleins sicher eh nicht herein. Warum dann nicht einfach den Streukreis breiter aufstellen? (Ein Beispiel einer Web-Diskographie zu Tiny Kahn findet sich hier – und an ihr hat Malcolm Walker übrigens auch mitgearbeitet.) Von solchen grundsätzlichen Fragen abgesehen ist die diskographische Arbeit, die Autoren wie Malcolm Walker oder andere in ihrer diskographischen Forschung machen, enorm wichtig für die Jazzforschung. Walker ist ein Veteran unter den Diskographen, betreibt diese Arbeit bereits seit den späten 1950er Jahren. Für den nicht Eingeweihten mögen Diskographien wie die seine(n) wie Erbsenzählerei wirken, tatsächlich aber sind all diese Aufnahmeverzeichnisse, einschließlich Besetzungen, veröffentlichter und unveröffentlichter Takes, Daten und Orte, Original- und Wiederveröffentlichungs-Nummern die Grundlage für eine eingehendere Beschäftigung mit der Musik. Eine Biographie, wie der Titel des Büchleins erwarten lässt, sollte man allerdings nicht wirklich erwarten. Wolfram Knauer (August 2012)


Pop Song Piracy. Disobedient Music Distribution since 1929 von Barry Kernfeld Chicago 2011 (University of Chicago Press) 273 Seiten, 29 US-Dollar ISBN: 978-0-226-43183-3 2011kernfeldDie Diskussion über Piraterie im Musikbereich scheint ein Kapitel aktuellster urheberrechtlicher Diskurse zu sein, ein Kapitel des Internetzeitalters. Tatsächlich aber ist die aktuelle Diskussion nur die zeitgemäße Ausprägung eines Themas, dass die Musikgeschichte des 20sten Jahrhunderts durchzieht, seitdem man von Popmusik sprechen kann, wie Barry Kernfeld in diesem Buch zeigt. Im April 1930, beginnt Kernfeld, habe die Polizei eine 80-jährige Frau vor Gericht gebracht, die beschuldigt wurde, urheberrechtlich geschützte Song-Hits vervielfältigt und für 5 Cents pro Exemplar verkauft zu haben. Der Verkauf illegal reproduzierter Songtexte, impliziert Kernfeld dabei, ist nur eine andere Facette dessen, was wir dieser Tage in Internet-Tauschbörsen sehen, die Verbreitung nämlich eigentlich urheberrechtlich geschützter Werke zu eigenem Nutzen, ob dieser nun kommerzieller oder nicht-kommerzieller Natur ist. Zwischen den beiden Extremen finden sich illegale Schallplattenpressungen, Fakebooks, Fotokopien von Notenmaterial, Piratenradios, illegal kopierte CDs, Bootleg-Konzertmitschnitte. Kernfeld erkennt wiederkehrende Faktoren in den jeweiligen Urheberrechtsbrüchen: Berühmte Musiker und mächtige Musikfirmen wollten alleinige Kontrolle über ihre Songs besitzen und andere daran hindern, diese zu verteilen, ohne dafür zu bezahlen. Andere wollten genau dies tun, sie also benutzen ohne zu zahlen und entwickeln Wege, die die Monopolisten nicht vorhersehen. Aus diesen widerstrebenden Interessen entwickelt sich ein Streit, der unterschiedliche Formen annimmt, aber meist im selben Ergebnis mündet: die Monopolisten müssen klein beigeben. Kernfeld untersucht die Praktiken, die irgendwo zwischen rechtlichem Ungehorsam und Kriminalität angesiedelt sind, für die unterschiedlichen Vertriebswege von Musik. Im ersten Teil beschäftigt er sich mit gedruckter Musik, beschreibt das nahezu perfekte Vertriebssystem der populären Musikindustrie der ausgehenden 1920er Jahre, nennt konkrete Fälle von Noten-Bootlegs und beschreibt die Reaktion der Industrie wie der Gesetzgebung darauf. Vor allem beschreibt er, wie die Musikindustrie irgendwann, als sie merkte, dass sie der Bootlegs nicht Herr wurde, eigene, legale Veröffentlichungen auf den Markt brachte, die den Bedarf der Bootlegs aufnahm und abdeckte. Ein Unterkapitel dieses ersten Teils widmet sich der Fake Books, denen Kernfeld bereits eine frühere Publikation gewidmet hatte. Er beschreibt, wie die ersten Popsong- dann die ersten Jazz-Fakebooks auf den Markt kamen, welchen Einfluss die Einführung des Fotokopierers hatte, wie die Rechtsprechung das Fotokopieren auch im musikpädagogischen Bereich beurteilte, wie es Ende der 1970er Jahre zu einer geradezu moralischen Kampagne gegen Urheberrechtsverletzungen im Musikbereich kam und wie sich trotz teilweise heftiger Verurteilungen das Problem bis heute gehalten habe. Ein zweiter Teil seines Buchs beschäftigt sich mit dem Thema der Radiopiraterie. Hier beschreibt Kernfeld die Piratensender, die sich in den späten 1950er Jahren in Skandinavien etablierten, er untersucht Rundfunkmonopole in verschiedenen Ländern und den Versuch, diese zu durchbrechen, aber auch die rechtliche Reaktion auf Piratensender. Teil Drei seines Buchs widmet sich der Piraterie im Bereich der Schallplatten und Tonaufzeichnung. Auch hier beschreibt Kernfeld die grundsätzliche rechtliche Lage und die unterschiedlichen Methoden der Plattenpiraterie seit den Mitt-1940er Jahren. Anfangs waren es illegale Plattenpressungen; später illegale Bandkopien, Bootleg-Platten, die als “nicht-authorisierte Neuveröffentlichungen” verkauft wurden, illegale digitale Kopien von CDs, schließlich das Song-Sharing oder File-Sharing jüngster Zeit. Kernfelds Buch erzählt eine überaus spannende Geschichte, in der die Urheberrechtsverletzungen in eine Art Marktkontext gesetzt werden, um aus ihnen durchaus auch ein Instrument der Marktentwicklung abzuleiten – letzten Endes, so zeigt er, führte Musikpiraterie dazu, dass sich die in ihren Vertriebsmethoden träge Musikindustrie bewegen musste, um dem Bedarf der Musikhörer sowohl in ihren Vertriebswegen wie auch bei den Kosten entgegenzukommen. Vor allem zeigt Kernfeld, dass hinter all dem sich wiederholende Muster zeigen, so dass eigentlich niemand in der Musikindustrie sich beklagen dürfte, das hätte man ja nicht ahnen können. Augen und Ohren auf, ist letztlich sein Plädoyer, denn in der Musikpiraterie steckt in der Regel jeweils ein Hinweis auf innovative Produkte oder Vertriebswege, die die Industrie selbst fast verschlafen hätte. Wolfram Knauer (August 2012)


The Wandering Who? A Study of Jewish Identity Politics von Gilad Atzmon Winchester 2011 (zero books) 202 Seiten, 8,99 Britische Pfund ISBN: 978-1-84694-875-6 2011atzmonGilad Atzmon ist alles, nur nicht maulfaul. Er ist bekannt dafür, seine Meinung zu sagen, keinem Streit aus dem Weg zu gehen. Er ist ein Mann des Wortes, ein glänzender Rhetoriker, den Widerspruch beflügelt, der es liebt, Argumente auszutauschen, seine Diskussionspartner auf logische Fehler in ihren Argumenten hinzuweisen. Er ist kein bequemer Mann. Ein wunderbarer Musiker übrigens, ein Saxophonist, der die musikalischen Lehren Charlie Parkers befolgt und sie mit den Erfahrungen jüdischer wie arabischer Musik seiner israelischen Heimat verbunden hat. Als Künstler aber sieht er sich eben nicht nur als stiller Musiker, sondern legt Wert auf seine Meinung, legt Wert auf seine Herkunft und darauf, sein Heimatland Israel auf seine politischen, ethischen und moralischen Grundsätze hin abzuklopfen und heftigst zu kritisieren. “The Wandering Who?” ist kein Jazzbuch, sondern eine “Studie jüdischer Identitätspolitik”, wie Gilad Atzmon sein Buch im Untertitel nennt. Sein Vorwort ist dabei das autobiographischste aller Kapitel. Atzmon erzählt von seinem charismatischen ultra-zionistischen Großvater, vom ersten Jazz, den er im Radio hörte, Charlie Parker mit Strings, der ihn dazu brachte, sich ein Saxophon zuzulegen. Er erzählt davon, wie er sich dieser Musik näherte, wie er sie erlernte und wie die Musik für ihn wichtiger wurde als der Wehrdienst, den er während des israelisch-libanesichen Kriegs ausübte. Er beschreibt seine zunehmende Politisierung, die sich erst in Skepsis, dann in Ärger äußerte und schließlich dazu führte, dass er sein Land 1993 verließ, um in London Philosophie zu studieren. Innerhalb einer Woche ergatterte er im Irish Pub Black Lion einen Gig, der den Beginn seiner internationalen Musikkarriere markierte. Atzmon erzählt, wie er in seinen Mitt-Dreißigern die arabische Musik, die er bislang völlig ignoriert hatte, für sich entdeckte. Die komplexen melodischen Linien, die mikrotonalen Verschiebungen in der Musik, meisterte er allerdings erst, als er die Musik so anging, wie man gemeinhin den Jazz angeht: auf sein inneres Ohr horchend. Das war’s dann aber auch mit dem Jazz in diesem Buch. Außer im Vorwort liest man im Hauptteil nicht mehr vom Jazz. Atzmon thematisiert Judaismus, Semitismus, Antisemitismus, Zionismus, sinniert über Erfolg und Misserfolg der amerikanischen Nahostpolitik. Zwischendrin stolpert man etwas unsanft über seine Interpretation des Holocaust als (immerhin auch von ihm in Anführungsstrichen gesetzten) “zionistischen Sieg”, nämlich einer argumentativen Verifikation zionistischer Theorien. Hier wird Atzmon in all seiner Streitlust zum Stammtischphilosophen, der einerseits auf die Komplexität der Zusammenhänge verweist, um sie auf andererseits zugleich in Schwarz und Weiß aufzuteilen. Er schreibt über Glauben und Ideologie, über Identität und Authentizität, über das Verhältnis jüdischer Identität zu ihrer nicht-jüdischen Umgebung. Seine Wortspiele sind geschmacklich fragwürdig, etwa wenn er ein Kapitel über Israels Landanspruch die Überschrift “Swindler’s List” gibt. Atzmon ist … nun, zumindest ein Verbalaktivist erster Güte. Mit seiner Liebe zur Polarisierung, die auch bei seinem Vortrag beim Darmstädter Jazzforum 2007 zu erleben war, ruft er zumindest bei denen oft genug Empörung hervor, die sich auf seine Art der Diskussion einlassen. Ob es tatsächlich “Mut” ist, wie er sich auf dem Buchcover attestieren lässt, die Weltpolitik gleichzeitig als komplexes Gebilde und als einfache Gleichung zu interpretieren, soll anderen überlassen bleiben. Atzmons grundsätzliche Überlegungen zur Identität sind insbesondere da interessant, wo sie auch seine musikalische Identität betreffen oder erklären helfen. Hierzu hatte er in seinem Darmstädter Vortrag, abgedruckt in den Darmstädter Beiträgen zur Jazzforschung mit dem Titel “Begegnungen. The World Meets Jazz” allerdings erheblich mehr gesagt. Aber “The Wandering Who?” ist auch kein Jazzbuch, sondern eine bewusst polemische Stellungnahme zu allgemeinen weltpolitischen Fragen. Wolfram Knauer (August 2012)


Creative License. The Law and Culture of Digital Sampling von Kembrew McLeod & Peter DiCola Durham 2011 (Duke University Press) 326 Seiten, 15,99 US-Dolalr ISBN: 978-0-8223-4875-7 2011mcleodWenn man es mit dem Geld, auch dem anderer Leute, nicht ganz so genau nimmt, nennt man das im Englischen schon mal euphemistisch “creative banking”. Das Buch “Creative License” spielt zumindest auf die Problematik zwischen kreativer Freiheit und urheberrechtlichem Schutz an, der durch Samplingprojekte der letzten 20 Jahre immer wieder in den Mittelpunkt der Diskussion gestellt wird. Kembrew McLeod und Peter DiCola beginnen ihr Buch mit dem Beispiel der Band Girl Talk und ihres Albums “Feed the Animals” von 2008, für das Remixer Gregg Gillis sich über dreihundert Schnipsel aus der auf Tonträger aufgenommenen Musikgeschichte bediente. Jeder einzelne Schnipsel sei so kurz gewesen, dass er selbst das als Zitat unter Bedingungen der Fair-Use-Regeln angesehen habe. Wie also funktioniert Sampling? Welche Kontroversen kann es auslösen? Lassen sich Samples selbst urheberrechtlich schützen? Schränkt das Copyright die künstlerische Freiheit ein? All dies sind Fragen, mit denen sich McLeod und DiCola ausführlich beschäftigen. Ihr erstes Kapitel nähert sich dem “golden age of sampling”, den 1980er Jahren also, in denen Bands wie die Beastie Boys oder Public Enemy für ihre Sampling-Hits bewundert wurden. Als Ende der 1980er Jahre HipHop zu einem großen Geschäft wurde, wurde die Technik des Sampling erstmals ethisch in Frage gestellt. Im zweiten Kapitel blättern die Autoren eine rechtliche wie kulturelle Geschichte der Soundcollage auf und berücksichtigen dabei nicht nur die Popmusik, sondern auch die Avantgarde, also Komponisten wie John Cage, Pierre Schaeffer oder Karlheinz Stockhausen. Schon Brahms hätte sich bei Beethoven bedient, führen sie die Idee des musikalischen Zitats in die Diskussion ein, und Stravinski habe Anleihen bei traditioneller Volksmusik gemacht. Jazz, Blues und HipHop seien kulturelle Praktiken gewesen, die Einflüsse aus allen möglichen Richtungen in sich aufnahmen. Sie beschreiben die Anfänge des digitalen Sampling, die Disco-Ära und die Mode des Remixes. Und sie gehen auf die neuen technologischen Möglichkeiten ein, die zuvor als selbstverständlich angesehene Kreativitätskonzepte in Frage stellten. “Pop Eats Itself”, fassen sie zusammen und kommen damit in Kapitel drei zu den einander widerstreitenden Interessen in der Lizensierung von Samples. Sie erklären die Rechtslage, fragen, wohin Urheberrechtshonorare fließen und geben einige konkrete Beispiele. Sampling, schreiben sie in einem Unterkapitel, rege durchaus auch den Dialog zwischen den musikalischen Generationen an. Das Thema außereuropäischer Musik wird genauso gestreift, hier am Beispiel von Brian Enos und David Byrnes Benutzung diverser “exotischer “Sängerinnen und Sänger. Die Autoren beschreiben Streitfälle und die Skepsis von Urhebern, ob es sich wohl lohnen würde zu klagen. Sie zitieren schließlich auch betroffene Musiker und geben deren Haltung wieder. Kapitel 4 widmet sich Gerichtsverfahren, die sich mit Samplingfällen auseinanderzusetzen hatten und den Auswirkungen von Urteilen auf die Samplingpraxis. Wie also soll man es richtig machen, welche Wege zum korrekten Umgang mit Samples gibt es, fragen die Autoren in Kapitel 5 und stellen sogenannte “sampling clerarance houses” vor, erklären auch den Vorteil einer solchen rechtlichen Abklärung. Ihr sechstes Kapitel beschäftigt sich mit den Konsequenzen eines ordentlichen Sampling-Clearance-Verfahrens für den kreativen Prozess, zeigt Auswege auf, wenn eine Clearance nicht geklappt hat (Transformieren oder Verfremden) und nennt Zahlen: die nämlich der Kosten für eine regelgerechte Sampling Clearance. Im letzten Kapitel schließlich skizzieren McLeod und DiCola eine mögliche Reform der Rechtslage, die allen Seiten gerecht werden solle, den Autoren auf der einen Seite nicht ihre Rechte streitig machen, den kreativen Samplern auf der anderen Seite nicht ihre Kreativität beschneiden solle. Jazz spielt in “Creative License” nur am Rande eine Rolle – bekannte Fälle aus dem Jazzbereich, etwa James Newton oder Herbie Hancock, werden nicht angeführt. Dennoch systematisiert das Buch eine allgegenwärtige musikalische Technik, die seit langem auch von Jazzmusikern oder von Musikern zwischen den Stilen genutzt wird. Das alles ist höchst anschaulich geschrieben und für denjenigen, der mit offenen Ohren etwas über Probleme aktueller Musik wissen will, eine überaus sinnvolle Lektüre. Wolfram Knauer (August 2012)


Brazilian Popular Music and Citizenship herausgegeben von Idelber Avelar & Christopher Dunn Durham 2011 (Duke University Press) 364 Seiten, 16,99 US-Dollar ISBN: 978-0-8223-4906-8 2011avelarBrasiliens Musikgeschichte blickt auf ähnlich komplexe kulturelle Verbindungen zurück wie der Jazz. Europäische und afrikanische Einflüsse, politische und soziale Bedeutungen von Musik sind spannende musikwissenschaftliche Studienfelder, denen dieses Buch sich widmet. Es schlägt dabei den Bogen von der politischen Funktion des Samba in den 1930er Jahren über den Status der Música Popular Brasileira in den 1960er und 1970er Jahren, Rock in den 1980ern, die schwarze musikalische Identität in Salvador da Bahia, HipHop in São Paulo und Funk in Rio de Janeiro. Die meisten der Autoren sind Anthropologen, Soziologen, Literaturwissenschaftler, was den Gesamtansatz des Buchs prägt: Eine analytische Herangehensweise findet sich nur in wenigen Kapiteln. Das Grundthema des Buchs ist dabei der Anspruch auf Bürgerrechte, den sich die Menschen in Brasilien mithilfe der Musik einforderten. Schwarze und gemischte Brasilianer wurden dank der Musik erstmals in der öffentlichen Aufmerksamkeit sichtbar; Musik kodierte Hoffnungen und Ängste während der Militärdiktatur der 1960er und 1970er Jahre; Musik half bei der Rekonstruktion eines demokratischen, selbstbewussten Brasiliens. Wir erfahren vom brasilianischen Bildungssystem und Heitor Villa-Lobos’s Massenchören, von der Auseinandersetzung des Gitarristen und Sängers Tom Zé mit brasilianischer Bürgerschaft, von der sozialen Funktion des HipHop in den Straßen von São Paulo, von der Re-Afrikanisierung brasilianischer Kultur in Salvador da Bahia und vielem mehr. “Brazilian Popular Music and Citizenship” will dabei keine umfassende Darstellung brasilianischer Musikkultur sein, sondern einen wissenschaftlich fundierten Einblick bieten in musikalische und gesellschaftliche Aspekte. Wolfram Knauer (August 2012)


Birds of Fire. Jazz, Rock, Funk, and the Creation of Fusion von Kevin Fellesz Durham 2011 (Duke University Press) 300 Seiten, 16,99 US-Dollar ISBN: 978-0-8223-5047-7 2011fellesz1969, beginnt Kevin Fellesz sein Buch, engagierte George Wein zum ersten mal Rockbands beim Newport Jazz Festival, um dadurch mehr junge Leute anzuziehen. Der Plan ging auf – zu gut allerdings, denn es kamen so viele Fans von Jethro Tull, Led Zeppelin, Sly and the Family Stone, dass die Tickets ausgingen und die Fans einfach die Zäune überrannten. Im Jahr darauf verpflichtete Wein mit den Allman Brothers eine zur Zeit der Buchung noch relativ unbekannte Band, die aber die Hitparaden rechtzeitig vor dem Festival stürmte und zu noch tumulthafteren Szenen führte. Die Stadtverwaltung von Newport war es leid und sagte das Festival 1971 daraufhin ab. Waren Rock und Jazz also zwei nicht nur in der Publikumserwartung, sondern auch in der Musik selbst so grundverschiedene Genres, dass sie beim besten Willen nicht zusammenzubringen waren? Die Musiker scherten sich nicht um stilistische Einordnungen und experimentierten einfach. Dabei stellten sie die Regeln ihres jeweiligen Genres durchaus in Frage und betonten ihre Unabhängigkeit von solchen Einengungen. Fusionmusiker passen weder ins Raster der Jazz- noch der Rockgeschichtsschreibung. Sie saßen zwischen den Stühlen. Im ersten Kapitel seines Buchs fragt Fellesz nach dem Begriff der Fusion selbst und nach den Konnotationen dieses Begriffs. Wofür also steht “Fusion”? Was wird hier miteinander verschmolzen? Welchen unterschiedlichen ästhetischen Regeln gehorchen die Elemente, die in diese Musikrichtung einfließen? Im zweiten Kapitel beschreibt er die Entwicklung der Fusionmusik in den 1970er Jahren und benennt die wichtigsten Bands und Musiker des Genres. Sein drittes Kapitel widmet sich den Beweggründen jener Musiker, die es in den späten 1960er Jahren als wichtig erachteten, eine solche Fusion zu generieren. In den vier nächsten Kapiteln beschäftigt sich Fellesz dann mit je einem konkreten Beispiel: Tony Williams in seinen Aufnahmen mit der Gruppe Lifetime, John McLaughlin zwischen Mahavishnu Orchestra und Shakti, Joni Mitchell sowie Herbie Hancock, um unterschiedliche musikalische wie ästhetische Ansätze aufzuzeigen sowie Nähe oder Entfernung vom Jazz zu bezeichnen. Fellesz benennt dabei Praktiken aus Jazz und Rock, diskutiert ihre ästhetischen wie rezeptionsspezifischen Implikationen, fragt nach Öffnungen, die weit über die direkt beteiligten Genres hinausgehen (also über Jazz und Rock eben auch weltmusikalische Einflüsse mit einbezogen) und diskutiert die Faszination, die einzelne Musiker aus der Rock- und Popmusiker zum Jazz hatten und die sie dazu bewogen, Jazzmusiker in ihre Projekte einzubeziehen. Am Beispiel Hancock geht er auch auf dessen umstrittene Verwendung von Pygmäenmusik und urheberrechtliche Aspekte in Bezug auf Fusionen mit ethnischer Musik ein. Im abschließenden Kapitel diskutiert er Hancocks “The Joni Letters” und fragt dabei, welche Konsequenzen die Fusion der 1970er Jahre für die Entwicklung der heutigen populären Musik hat. Felleszs Buch analysiert die Fusion aus dem Blickwinkel des interdisziplinären Musikwissenschaftlers – das Buch geht auf seine 2004 fertig gestellte Doktorarbeit an der University of California zurück. Das macht es für den Laien stellenweise zu einer mühsamen Lektüre – etwa, wenn Fellesz einen Begriff wie “Genre” diskutiert oder wenn er dann doch reichlich akademische Schattenkämpfe mit anderen Autoren ausficht. Liest man über diese dissertationsspezifischen Stilfragen hinweg, bleibt allerdings eine ausgewogene Annäherung an eine letzten Endes genau deshalb wichtige Periode der Jazzgeschichte, weil sie nicht nur auf das eigene Genre bezogen und auch deshalb außerhalb des Genres von Einfluss war. Wolfram Knauer (Juli 2012)


Jazz und Literatur in der DDR. Eine Untersuchung ausgewählter Beispiele von Michael Dörfel München 2011 (AVM) 118 Seiten, 34,90 Euro ISBN: 978-3-86924-013-8 2011doerfelJazz- und Literaturprojekte hatten in den 1950er Jahren in Westdeutschland, bald aber auch in der DDR Konjunktur, vielleicht ja, wie der Rezensent ins einem Beitrag zum 11. Darmstädter Jazzforum mutmaßt, weil die Dichtung ein probater Ersatz für das war, was andernorts mit folkloristischen musikalischen Vokabeln versucht wurde: eine Aneignung des afro-amerikanischen Jazz durch Einbeziehung eigener kultureller Versatzstücke. Michael Dörfel stellt sich in seinem Buch die Frage, wie die Jazz-und-Literatur-Projekte in der DDR funktionierten. Konkret untersucht Dörfel im ersten Kapitel Jazz- und Lyrik-Projekten wie: “Negerlyrik – Negermusik” von 1962, Übersetzungen und Nachdichtungen afrikanischer und afro-amerikanischer Texte von Janheinz Jahn und Stephan Hermlin mit Musik der Jazz-Optimisten; “Ströme. Negerlyrik aus zwei Kontinenten” von 1984 mit Texten zwischen Senghor und Langston Hughes und Musik einer Studioband unter Leitung von Michael Fuchs; die LPs “Jazz und Lyrik” / “Lyrik – Jazz – Prosa” von 1964/1965 mit internationalen Texten zwischen Tucholsky und Biermann und Musik der Jazz-Optimisten; sowie Jens Gerlachs “Jazz. Gedichte” von 1966/1968 mit Originalaufnahmen amerikanischer Jazz- und Blueskünstler. Dabei beschränkt er sich weitgehend auf eine Beschreibung der Texte und ihren Bezug zur verwandten Musik, ohne eine eingehende, den Kontext einbeziehende Analyse vorzunehmen. Ein weiteres Kapitel widmet sich solchen Romanen, die den Jazz zumindest als Teilthema nutzen. Hier fragt eine Annäherung danach, welche – insbesondere auch außermusikalische – Bedeutung dem Jazz in den Texten zugemessen wird. Untersuchungsobjekte sind Ulrich Plenzdorffs “Die neuen Leiden des jungen W.” (1972), Günter Kunerts “Der andere Planet. Ansichten von Amerika” (1974), Brigitte Reimanns “Franziska Linkerhand” (1974/1998) sowie Fritz Rudolf Fries’ “Der Weg nach Oobliadooh” (1966). Zusammenfassend stellt Dörfel fest, dass Jazz in literarischer Verwendung meist einen oppositionellen Standpunkt signalisiert, eine individuelle, private Nische, Manifestation von Phantasie und Kreativität. Nichts grundlegend Neues also, und im Fokus auf die Literatur vielleicht ein etwas einseitiger Ansatz. Der Leser wird auf jeden Fall neugierig insbesondere auf die Jazz-und-Lyrik-Aufnahmen, die der Autor im Anhang auch diskographisch dokumentiert. Ebenfalls im Anhang: ein aufschlussreiches Faksimile einer Aktennotiz des Ministeriums für Kultur, das den hilflosen Umgang des Staates mit der Einbeziehung des Gedichts “Ballade vom Briefträger William L. Moore aus Baltimore” von Wolf Biermann auf der Platte “Jazz und Lyrik” dokumentiert. Wolfram Knauer (Jul 2012)


Musical Echoes. South African Women Thinking in Jazz von Carol Ann Muller & Sathima Bea Benjamin Durham/NC 2011 (Duke University Press) 348 Seiten, 16,99 Britische Pfund ISBN: 978-0-8223-4914-3 2011benjaminSeit dem Erfolg Dollar Brands weiß die Jazzwelt, dass Südafrika dieser Musik einen ganz eigenen Zungenschlag beizugeben hat. Die Sängerin Sathima Bea Benjamin verließ zusammen mit Dollar Brand 1962 ihr Heimatland, um der Apartheid zu entkommen und in Europa zu leben. In ihrer Biographie schildern Benjamin und Carol Ann Muller die Situation als Musiker in Südafrika, ihren Weg zum und im Jazz. Muller stammt wie Benjamin aus Südafrika und ging wie Benjamin nach New York – während Benjamin dies auf Anraten Duke Ellingtons tat, der meinte, dort könnten sie und Brand mit der Musik, die sie machten, am besten überleben, ging Muller zum Studium in den Big Apple. Als Muller Benjamin in den frühen 1990er Jahren kennenlernte, war sie von der Geschichte der älteren Freundin fasziniert und schlug ihr vor, an einem gemeinsamen Buch zu arbeiten. Es dauerte noch 15 Jahre, bis das Buch fertig wurde, das die Lektüre lohnt als eine faszinierende Mischung aus Autobiographie und sozialgeschichtlicher Reflexion der autobiographischen Erfahrungen. Die 1936 geborene Sathima Bea Benjamin erzählt über ihre Kindheit und Jugend in Kapstadt, ihre Familie, erste Kontakte mit Musik, Klassik, leichtem Jazz, über Musik in der Missionsschule, im Radio, im Kino. Muller setzt ihre Erinnerungen dabei immer wieder in den Kontext der starren Gesellschaftsnormen Südafrikas, fragt nach den besonderen Konnotationen von Jazz im Apartheidregime. Wo man weit später einen deutlichen südafrikanischen Jazzstil konstatiert, da war sich in den 1950er Jahren niemand eines solchen lokalen Musikdialektes bewusst, schreibt Muller. Sie beschreibt die verschiedenen Szenen, in denen sich Benjamin bewegte, Szenen, die vor allem durch Klassen- und Hautfarbenunterschiede markiert waren. Muller nennt Bands und beschreibt Benjamins erste Engagements, etwa in einer “Coloured Jazz and Variety”-Show. Anfangs arbeitete die Sängerin außerdem als Lehrerin, um Geld zu verdienen, mehr und mehr nahmen dann die Auftritte den Hauptteil ihrer Arbeit ein. Ende der 1950er Jahre traf Benjamin auf den Pianisten Dollar Brand, der sie begleitete, sich bald auch in sie verliebte. Benjamin gab ihm Geld, um die Dollar Brand School of Music zu starten. Anfang der 1960er Jahren spielten die beiden regelmäßig in den Clubs von Kapstadt und Johannesburg, doch nach Unruhen verbot die Regierung im Jahr 1962 Aufführungen gemischter Ensembles, was insbesondere Jazzmusiker traf und auch für Brand und Benjamin die Arbeitsmöglichkeiten stark einschränkte. Als die beiden 1962 die Möglichkeit erhielten in die Schweiz zu reisen, ergriffen sie die Chance und gingen ins Exil, wie in derselben Zeit auch Miriam Makeba, Hugh Masekela und andere Musiker. In Europa trafen sie Duke Ellington, der sie unter seine Fittiche nahm, Brand mit einem von ihm protegierten Album zu seinem internationalen Durchbruch verhalf und die Karriere der beiden auch sonst anschob und den Brand als “wie mein wirklicher Großvater” beschreibt, als “den Dorfweisen”. Ein Exkurs des Buchs befasst sich mit der Rezeption Ellingtons in Südafrika, ein weiterer mit dem Einfluss Billie Holidays auf den Stil der Sängerin Sathima Bea Benjamin. Ellington hatte auch ein Album mit Benjamin produziert, dass allerdings erst drei Jahrzehnte später veröffentlicht wurde. Das Buch beschreibt die Umstände der Session und enthält eine Transkription der Studiogespräche zwischen Benjamin und Ellington. Brand und Benjamin bereisten Europa mit anderen südafrikanischen Exilmusikern und reisten 1965 in die USA, wo sie beim Newport Jazz Festival auftraten und dann – auf Anraten Ellingtons – in New York blieben. Für die Geburt ihres ersten Kinds reiste Benjamin dann aber nach Swaziland, weil sie ihr Kind unbedingt auf afrikanischem Boden zur Welt bringen wollte. Das ausführliche Kapitel über Migration endet mit verschiedenen Aspekten der Exil-Erfahrung für südafrikanische Musiker. Ein eigenes Kapitel ist den New Yorker Erfahrungen der Sängerin gewidmet. Mit einem Empfehlungsschreiben von Ruth Ellington ausgestattet zogen Brand und Benjamin ins legendäre Hotel Chelsea. Sie gründeten ihr eigenes Plattenlabel, Ekapa Records, und unterstützten offen die südafrikanische Befreiungsbewegung. Benjamin reflektiert über ihre Beziehung zur Stadt New York und vergleicht das Leben dort mit dem Leben in Kapstadt, Zürich und London. Muller diskutiert in diesem Kapitel außerdem anhand Benjamins eigener Erfahrungen Gender-Aspekte im Jazz. Ein weiteres Kapitel ist mit “Returning Home” überschrieben und behandelt Benjamins Album “Cape Town Love”, das sie 1999 in ihrer Heimatstadt aufgenommen hatte. Die letzten beiden Kapitel bringen uns in die Gegenwart sowohl Benjamins wie auch Mullers und fassen noch einmal die Schlussfolgerungen aus den Lebenserfahrungen der Sängerin und den Forschungserfahrungen der Co-Autorin zusammen. “Musical Echos” beschreitet einen für Autobiographien eher ungewöhnlichen Weg: Es erzählt auf der einen Seite die Geschichte der Sängerin Sathima Bea Benjamin, reflektiert dabei auf der anderen Seite aber laufend auf den Kontext sowohl der Erlebnisse der Protagonistin als auch aktueller Forschungsdiskurse. Es ist damit neben einer Biographie auch ein ernst zu nehmender Beitrag zur Forschung des Jazz und seiner weltweiten Rezeption. Wolfram Knauer (Juli 2012)


grubenklang.reloaded herausgegeben von Georg Graewe Berlin 2011 (Random Acoustics) 116 Seiten, beigelegte DVD, 45 Euro 2011graeweAus Anlass des Festivals Ruhr.2010 wurde der Pianist und Komponist Georg Graewe eingeladen, sein GrubenKlangOrchester wiederaufleben zu lassen, das 16 Jahre zuvor eigentlich aufgelöst worden war. Da ihm nicht danach war, nur in der Vergangenheit zu schwelgen, formierte er das Ensemble einfach neu, um “den aktuellen Stand meines Komponierens” widerzuspiegeln. Außerdem lud er Kollegen aus Musik, Literatur und anderen kreativen Genres ein, das Jahr mitzugestalten. Heraus kam eine Veranstaltungsreihe an unterschiedlichsten Orten des Ruhrgebiets, von denen viele Konzerte als Audio- und Videodokumente mitgeschnitten wurden. Die insgesamt 27 Konzerte umfassten Auftritte Graewes als Soloist, mit Kollegen oder dem GrubenKlangOrchester, aber auch etwa eine Klaviersolo-Konzertreihe. Das vorliegende Buch dokumentiert die Idee des Festivals sowie auf der CD Ausschnitte aus den das ganze Jahr über stattgefundenen Konzerten. In den Texten, größtenteils zweisprachig auf Deutsch und Englisch, finden sich Annäherungen sowohl an die Idee des GrubenKlangOrchesters wie auch an die Neuformation der Band, etwa in Brian Mortons Auslassung über das “Workshop”-hafte des Konzepts oder im Gespräch, das Johannes Fischer mit Graewe, der Dichterin Anja Utler und der Sängerin Almut Kühne über ihr gemeinsames Projekt führt. Morton macht sich in einem weiteren Kapitel Gedanken über die Idee des Klavierspiels, seines Klangs und seiner Behandlung im 21sten Jahrhundert. Kai Stefan Lothwesen nähert sich in einem kurzen Text der Position des Komponisten Georg Graewe an, indem er dessen Arbeit auf die Begriffe “sonic fiction”, “frictions” und “dictions” abklopft. Musikerkollege Steve Beresford wird einem Blindfoldtest unterzogen, bei dem er Stücke aus der beiliegenden DVD kommentiert. Und Morton kommt noch ein drittes Mal zu Wort mit einem Artikel über die Erzählkraft in Graewes Arbeit. Daneben gibt es jede Menge an Fotos, Gedichten, Zeichnungen, Partiturseiten und anderen Dokumenten, die Graewes kreatives Schaffen für Ruhr.2010 dokumentieren. Die DVD schließlich enthält Videos des GrubenKlangOrchesters (mit drei Titeln), eines Solorecitals Graewes, seines Duos mit der Sängerin Almut Kühne, seines ersten Streichquartetts (2. Satz), vorgetragen vom Koehne Quartet, sowie seiner Komposition “Alle kennen meine Visage” nach Tagebucheintragungen Albert Einsteins. In den Audiotracks finden sich Ausschnitte aus den Konzerten, radiogerecht zusammengeschnitten sowie von kommentiert von Nina Schröder (über “Piano Today mit Soloaufnahmen von Keith Tippett, Fred van Hove, Denman Maroney, Michael Wilhelmi, Christian Rieger, Sarah Nicholls, Craig Taborn, Marilyn Crispell, Oskar Aichinger und Johanna Borchert), Julia Neupert (über Graewes “new generation”-Projekt), Susanna Oldham (über “Ruhrkampf” mit Aufnahmen unter anderem von Daniel Erdmans Band “Das Kapital”) sowie diverse Mitschnitte der Literatur/Musik-Abende aus der Buchhandlung Napp in Bochum. Alle vier Audiofeatures (durchaus passend “Audio-Magazin” benannt) haben eine Länge von zwischen 35 Minuten und über anderthalb Stunden und bieten im Bildbereich eine Übersetzung des gelesenen Textes ins Englische bzw. Deutsche. Alles in allem ist “grubenklang.reloaded” ein beeindruckendes Dokument eines vollen Jahres im kreativen Schaffen des Georg Graewe, das in dieser Präsentation sowohl sinnlich erfassbar wie auch intellektuell durchdringbar wird und dem Leser/Hörer/Betrachter bei alledem trotzdem genügend Freiraum zu eigenen Erfahrungen bietet. Wolfram Knauer (Juli 2012)


Boom’s Blues. Muziek, journalistiek en vriendschap in oorlogstijd von Wim Verbei Haarlem/Netherlands 2011 (In de Knipscheer) 283 Seiten, 1 beiheftende CD, 34,50 Euro ISBN: 978-90-6265-667-7 2011verbeiFrans Boom war ein holländischer Sammler und Jazzfan, der Mitte der 1930er Jahre seine Liebe zur afro-amerikanischen Musik entdeckte. Er las De Jazzwereld, die holländische Jazzzeitschrift, die seit 1931 erschien, reiste 1939 zu Duke Ellingtons Konzert im Utrechter Tivoli, freundete sich mit dem Kritiker und Amateur-Musikwissenschaftler Will Gilbert an, der als Redakteur für De Jazzwereld wirkte und 1939 zusammen mit Constantin Poustochkine das Buch Jazzmuziek veröffentlichte. Zugleich sammelte Boom Platten des frühen Jazz und Blues. 1943, also inmitten der deutschen Besatzung der Niederlande, schrieb Boom sein eigenes Buch, das sich mit dem Blues befasste und diesen als satirische Liedform untersuchte. In “Boom’s Blues” erzählt Wim Verbei im ersten Teil die Geschichte des Musikwissenschafts-Autodidakten Frans Boom, seiner Liebe zu Jazz und Blues und der wechselvollen Geschichte seines Manuskripts. Im zweiten Teil des Buchs ist dann die komplette Untersuchung Booms aus dem Jahr 1943/1945 zu lesen. Die biographischen Kapitel werfen zugleich einen Blick auf die Faszination, die afro-amerikanische Musik in jenen Jahren auf Westeuropa und auch auf die holländische Jazzszene der 1930er und frühen 1940er Jahre ausübte. Der ländliche Blues allerdings, berichtet Verbei, sei in De Jazzwereld kaum vorgekommen. Gilberts Buch Jazzmuziek und seine Korrespondenz mit dem älteren Autoren und Mentor beeinflusste Boom dahin, sich vom Allgemeineren aufs Speziellere zu stürzen und den Blues näher zu untersuchen. Verbei zitiert immer wieder aus der Korrespondenz der beiden Freunde und Kollegen, etwa über Sprache und Slang in afro-amerikanischer Kultur, über idiomatische Wendungen und Sprachbilder in Bluestexten. Auffällig an den Briefen, schreibt Verbei, sei, dass darin nirgends von der deutschen Besatzung die Rede sei, die doch eigentlich das Leben im Land bestimmte. Verbei bringt den Leser kurz auf den Stand der Geschichte, erzählt, wie die Nazis nach kurzem Kampf das Land besetzten und bald sowohl die Politik als auch das Kulturleben bestimmten. Im November 1940 erschien die letzte Ausgabe von De Jazzwereld, in der sich Gilbert bereits gegen den Kunstwert des Jazz stellte. So ganz erklären ließe sich der Wandel in Gilberts Einstellung nicht, meint Verbei und betont noch einmal, dass es in seinen Briefen an Boom nie auch nur die Andeutung nationalsozialistischen Gedankenguts gegeben habe. Gilbert arbeitete in Folge für die Niederländische Musikkammer und formulierte die restriktiven Stilvorschriften für Unterhaltungsorchester, die in einem “Verbot negroider Elemente in Tanz- und Unterhaltungsmusik” führten (und ihn auch nach dem Krieg zu einer umstrittenen Person unter Jazzfreunden machte). Umso erstaunlicher also, dass Gilbert auch in diesen Jahren mit Boom über einen möglichen Aufsatz zum Blues korrespondierte, über das “profane Negerlied und seine Rituale in Afrika und den Vereinigten Staaten”. Aus dieser Korrespondenz heraus jedenfalls entstand Frans Booms Studie über den Blues. Es gab einzelne Vorbilder und Beispiele, aus denen er sich bedienen konnte, die Anthologie Slave Songs of the United States von 1867 etwa, W.C. Handys Blues – An Anthology von 1926, Winthrop Sargeants Jazz. Hot and Hybrid von 1938 sowie Frederic Ramsey Jr. und Charles Edward Smiths Jazzmen von 1939. Verbei beleuchtet die Diskussionen zwischen Gilbert und Boom, immer vor dem Hintergrund der zur selben Zeit herrschenden deutschen Besatzung der Niederlande. Von daher ist sein Buch auch ein Blick in die Beziehungen zwischen Forschung und System in jenen Jahren. Verbei verfolgt die Entstehung einzelner Argumentationslinien des Buchs aus der Korrespondenz der beiden Autoren heraus, insbesondere die semantischen Erklärungen sexueller Anspielungen in Bluestexten, aber auch die von Boom angestrengte Statistik zur Blues-Form. Ende 1943 war das Manuskript fertig, hätte aber im besetzten Holland nie gedruckt werden können. Verbei verfolgt die beiden Hauptprotagonisten bis zum Kriegsende und in die Nachkriegszeit. Inzwischen waren andere analytische Werke erschienen, etwa Rudi Bleshs Shining Trumpets, und auch Gilberts Jazzmuziek wurde 1947 in zweiter Auflage veröffentlicht. Boom ging Anfang der 1950er Jahre in den diplomatischen Dienst, erst nach Paris, dann nach Jakarta. Dort erkrankte er auf einer entlegenen Insel an Polyomyelitis und verstarb im Juli 1953. Sein Blues-Manuskript landete in den Händen des Jazzkenners Hans Rookmaaker. Während 1955 noch die Mitautorenschaft des umstrittenen Gilberts den Druck des Buchs verhinderte, sollte es 1971 auf Vermittlung des britischen Bluesforscher Paul Oliver nur unter Booms Namen (anglisiert als Frank Boom) im englischen Verlag November Books unter dem Titel Laughing to Keep from Crying erscheinen, was dann aber nie geschah. Das “Making of”, das Verbei in Boom’s Blues erzählt, enthält Verweise auf Landes- genauso wie Zeitgeschichte, und ist vor allem deshalb spannend zu lesen, weil man sich laufend die Gespaltenheit aller Beteiligten vor Augen halten muss, mit der diese ein von ihnen als wichtig empfundenes Thema bearbeiteten, obwohl alle politischen Gegebenheiten dagegen standen. Und so ist die Publikation des im Original auf Niederländisch verfassten Manuskripts eine willkommene und insbesondere nach dem Wissen um seine Entstehungsgeschichte hoch willkommene Ergänzung dieses Buchs, das auch sonst reich und aussagekräftig bebildert ist und auf der beiheftenden CD 24 Titel bereithält, die Boom in seinem Manuskript bespricht, sowie einen Ausschnitt aus einer Rundfunksendung von 1947, in der Boom “über Humor und Satire im Jazz” sinniert. Wolfram Knauer (Juni 2012)


Im Swing gegen den Gleichschritt. Die Jugend, der Jazz und die Nazis von Wolfgang Beyer & Monica Ladurner Salzburg 2011 (Residenz Verlag) 241 Seiten, 21,90 Euro ISBN: 978-3-7017-3218-0 2011beyerWolfgang Beyer und Monica Ladurner produzierten 2007 einen Film über Jugendliche, die sich den Regeln der Nazi-Diktatur nicht beugen wollten. Nach Erscheinen des preisgekrönten Films war es ihnen wichtig, ihre Quellen auch schriftlich zu dokumentieren, was sie im vorliegenden Buch taten. Das erste Kapitel ihres Buchs beschäftigt sich mit den österreichischen “Schlurfs”, beschreibt Aussehen und Mode der Jugendlichen, für die der Plattenspieler mit Jazzplatten nur ein Teil ihrer Jugendkultur war. Sie stellen die Örtlichkeiten vor, an denen vor dem und im Krieg in Wien Jazz gemacht wurde. Und sie sprechen mit Günther Schifter, der nicht so sehr Schlurf war als vielmehr Swing-Kid – die Unterscheidungen ließen sich an Modedetails genauso erkennen wie an der Ernsthaftigkeit ihrer Jazzliebe. Das zweite Kapitel betrachtet die swingende Jugendbewegung vor dem Hintergrund der staatlich verordneten Hitlerjugend. Im dritten Kapitel wird die nationalsozialistische Sicht auf den Jazz anhand etlicher zeitgenössischer Quellen dargestellt. Kapitel vier betrachtet die Tanzaspekte der Swingmusik und die Reaktion des Regimes darauf. Im nächsten Kapitel geht es um Sex, die Tatsache also, dass die Jugend, von der hier die Rede ist, gerade im besten Pubertätsalter sich befindet. Ein weiteres Kapitel handelt von den deutschen Swing Kids oder Swing Boys. Die Autoren sprechen mit Wolfgang Sauer, Coco Schumann und Günter Discher und reisen durch das Land: Berlin, Frankfurt und Hamburg. Weiter geht es zur Jazzjugend in der benachbarten Tschechoslowakei; hier sprechen die Autoren unter anderem mit dem bedeutenden Jazzkritiker Lubomir Doruzka. Ein weiteres Kapitel schließlich blickt nach Frankreich, wo die Zazous oder die Petits Swings aktiv waren. Die Nazis wetterten gegen den Jazz, aber die Swingfans schauten sich die ihre Musik diffamierenden Propagandafilme gerade wegen der Musik an, die da schlecht gemacht wurde, genauso wie andere in die Ausstellung “Entartete Kunst” gingen, um die Kunst zu sehen, die offiziell verboten war. Irgendwann wurde es den Nazis zu bunt und sie schritt gegen die swingenden Jugendbewegungen ein. Anhand von Quellen und Zeitzeugenberichten zeigen die Autoren, welche Maßnahmen ergriffen wurden und wie die Jazzer darauf reagierten. Zum Schluss gibt es einige Beispiele von Jugendlichen, die nicht nur durch ihren Musikgeschmack, sondern auch in ganz konkreten Aktionen Widerstand gegen das System leisteten. “Im Swing gegen den Gleichschritt” ist ein flüssiges Lesebuch über jene dunkle Seite deutscher Geschichte – und daneben eben auch österreichischer, tschechischer und französischer Geschichte. Es ist keine wissenschaftliche Studie, sondern will Stimmungen und Atmosphären vermitteln, sowohl aus der Faszination der Jugendlichen heraus als auch aus der Sicht eines Systems, das nicht zulassen wollte, dass Jugendliche mehr nach Freiheit streben als nach dem staatlich verordneten Gleichschritt. Wolfram Knauer (Mai 2012)


Basis-Diskothek Jazz von Ralf Dombrowski Stuttgart 4/2011 (Reclam Sachbuch) 272 Seiten, 6,40 Euro ISBN: 978-3-15-018657-2 2011dombrowskiRalf Dombrowskis Basis”-Diskothek Jazz” ist mittlerweile in der vierten Auflage erschienen. Die Sammlung wichtiger Aufnahmen der Jazzgeschichte erweist sich als sehr brauchbarer Leitfaden für Jazzfreunde und solche, die es werden wollen. Dombrowski diskutiert die Platten, die er vorstellt, sowohl aus der Situation der Musiker heraus wie auch ihre Bedeutung für die Jazzgeschichte und erklärt nebenbei, warum er selbst sie für die Aufnahme in sein Büchlein ausgewählt hat. Natürlich hätte er leicht die doppelte Menge an Aufnahmen aussuchen können, schreibt Dombrowski im Vorwort, aber es sollte ja doch ein handliches Buch sein. Über seine Entscheidungen kann man jedenfalls nicht meckern. Sicher wird dem einen oder anderen das eigene Lieblingsalbum fehlen; sicher würde man den einen oder anderen Plattentipp gegen einen anderen austauschen – aber das ist dann meist eher Geschmackssache. Im Großen und Ganzen liegt Dombrowski völlig richtig, und er hat für die vierte Auflage des Buches sogar noch fünf CDs hinzugenommen: Ornette Colemans Pulitzer-ausgezeichnetes “Sound Grammar”, Herbie Hancocks “The River, Joshua Redmans “Compass”, Esbjörn Svenssons “Leucocyte” sowie Heinz Sauers und Michael Wollnys “Melancolia”. Man ahnt, was bei der 5. oder 6. Auflage mit dabei sein könnte: Wollnys eigenes Trio [em] etwa oder Vijay Iyer zum Beispiel. Wer auch nur einen Teil der hier versammelten Alben im eigenen Plattenschrank hat, der hat jedenfalls einen guten Überblick über die Vielfalt der ersten hundert Jahre Jazzgeschichte. Wolfram Knauer (April 2012)


Sündiges Berlin. Die Zwanziger Jahre. Sex, Rausch, Untergang von Mel Gordon Wittlich 2011 (Index Verlag) 279 Seiten, 1 beiheftende CD, 39,99 Euro ISBN: 978-393687822-6 2011gordonDie frühe Jazzgeschichte Deutschlands wirkt fast zugedeckt durch die dunkle Ära des Dritten Reichs, in dem der Jazz verfemt und seine Anhänger verfolgt wurden. In den 20er Jahren aber war Deutschland genauso vom Fieber des Jazz gepackt wie alle anderen Länder des westlichen Europas. Und da Jazz vor allem eine Großstadtmusik war, wirkte er in den Metropolen am weitestreichenden, in Paris, London und Berlin. Da Jazz in jenen Jahren zugleich eine Musik zwischen den Stühlen war, in der die Körperlichkeit musikalischer Rhythmen und tanzender Menschen fast ein Synonym war für ungezügelte Sexualität (ob positiv oder negativ bewertet), ist es neben allem Wissen um musikalische Berührungen, um Einflüsse und Aufnahmen auch wichtig zu wissen, in welchen Kreisen der Jazz rezipiert und gehört wurde. Die Welt, die sich der Jazzmode in den 1920er Jahren hingab, war eben nicht nur die von Kennern und Musikern, sondern genauso die der Demimonde, die sich in Bordellen, schummrigen Kaschemmen, schwulen Bars oder in Untergrundzirkeln zwischen Freikörperkultur, Fetischklüngeln, Erotik und Verbrechen bewegte. Von diesen meist verschwiegenen Szenen berichtet das Buch “Sündiges Berlin” des amerikanischen Theaterwissenschaftlers Mel Gordon, der 1994 ein Theaterstück für Nina Hagen mit dem Titel “Die sieben Süchte und fünf Berufe der Anita Berber” plante, eine Schau um Musik von Weill und Hollaender, erotische Zeichnungen und pornographische Tänzen. Die Recherche dafür erwies sich als schwieriger als gedacht. Gordons Jagdeifer jedoch war geweckt, er nutzte private Kontakte in Europa und hatte innerhalb von vier Monaten jede Menge an bizarrem Material zusammen, das ein ganzes Buch füllen könnte. Was er dann auch tat… Prüde sollte man also nicht sein, wenn man in diesem Buch blättert, das im Coffeetable-Format daherkommt und in dem nackte Brüste und erigierte Penisse noch eher die harmloseren Abbildungen sind. Das Foto einer Selbststrangulierung ist da zu sehen, eine “therapeutische Zeichnung eines inhaftierten Vergewaltigers”, eine Selbstbefriedigungsmaschine für Frauen, die Zeichnung einer mit Eisendornen gespickten Klobrille, genannt “Der Sklaventhron”, Bilder von Flagellanten und Haarfetischisten und vielen anderen lustvollen oder brutalen “Vergnügen”. Gordon versucht das Exzentrische, das Perverse und das Unfassbare aus der Geschichte Berlins heraus zu erklären. Er beginnt mit den Mythen der Weimarer Republik, wie sie im “Blauen Engel” oder später im Film “Cabaret” wachgehalten wurden, zeigt Publikationen, die sich schon in den 1920er Jahren als “Führer durch das lasterhafte Berlin” anboten. Der Selbstsicht als Hauptstadt des Vergnügens entsprach die (zu Zeiten des I. Weltkriegs) feindliche Fremdsicht als “degeneriertes Deutschland”. In den Erfahrungen der Soldaten im Krieg sieht Gordon einen Grund für SM- und Fetischneigungen, die er als eine Art “Nebenwirkung von Kriegsneurosen” beschreibt. Aber auch das Wirtschaftschaos der Nachkriegszeit, die Unsicherheit darüber, was werden sollte, trug dazu bei, es nun “erst recht” knallen zu lassen. Nachlokale boomten, in denen die aktuelle Musik getanzt wurde – und das war in den 1920er Jahren meist Jazz in den seltsamsten Besetzungen. Die Hyperinflation ließ alle wirtschaftlichen Werte wertlos erscheinen und zugleich neue Wirtschaftszweige erstarken, oft eine ganz private Schattenwirtschaft in Hinter- und Schlafzimmern. Die Kapitel des Buchs handeln diese Schattenwirtschaft systematisch ab, die der Stadt Berlin bald ihren ganz eigenen Ruf einbringt. Das Kapitel “Stadt der Huren” beschreibt den Beruf der Prostitution und enthält auch ein Glossar, das die verschiedenen Angebote beschreibt, sowie eine Topographie des Rotlichts, Friedrichstraße, Nollendorfplatz und anderswo. Das Nachtleben war vital, und in einem eigenen Kapitel nimmt Gordon seine Leser mit auf eine abendliche Entdeckungsreise durch Kneipen, Bars, erotische Revuen und Tanzkaschemmen. “Berlin bedeutet Burschen” ist ein weiteres Kapitel überschrieben, das die schwule Kultur der Stadt beleuchtet, aber auch die Verfolgung von Homosexualität durch den Paragraphen 175. “Warme Schwestern” erklärt, dass auch die lesbische Subkultur in Berlin blühte und zählt Clubs und Vereine auf. “Grenzgänger” heißt ein Kapitel über Transvestiten und die Cross-Gender-Szene der Stadt. Unter “Strahlende Nacktheit” berichtet Gordon über das “unschuldigere” Nachtsein, die Freikörperkultur der 1920er Jahre, über Nudisten und Lebensreformer und ihre Ideen. Magnus Hirschfeld und sein Institut für Sexualwissenschaft erhalten ein eigenes Kapitel, in dem auch “sexuelle Triebstörungen”, reich bebildert, abgehandelt werden. Im Kapitel “Lustschmerz” liest man über SM-Praktiken und die versteckte Szene, in der diese gepflegt wurden. “Sexualmagie und Okkultismus” betrachtet erotische Kulte jener Jahre und ihre Gurus. “Verbrechen an der Spree” schließlich wendet sich insbesondere den Gewaltverbrechen zu, Lustmorden insbesondere, aber auch Verbrecherringen, in denen sich Banden zusammenschlossen. Die scheinbare Dekadenz der 1920er Jahre wurde vom Nazismus der 1930er abgelöst, der sich als eine auch moralische Bewegung verstand und der erotischen Unterwelt Berlins ein Ende bereiten wollte. Kurz geht Gordon auf die Verlogenheit nazistischer Propaganda in Bezug auf die Sexualität ein, beschreibt die Entwicklung zum stromlinienförmigen Einheitsdeutschen als Geschichtsrevisionismus und den Versuch vor allem die Kultur der Weimarer Republik zu zerstören. Zum Schluss finden sich eine Stadtkarte, in der die verschiedenen Etablissements und Szenen verzeichnet sind, sowie eine ausführliche Beschreibung von Treffpunkten, Bars, Tanzsälen und ihrem Publikum. Von Jazz ist, soviel sollte aus dieser Beschreibung des Inhalts klar sein, eher wenig zu lesen, und doch mag man zwischen den Zeilen den Eindruck einer Zwischenwelt erhalten, in der Jazz durchaus eine wichtige Rolle spielte. Die beiheftende CD bedient sich vor allem den gewagten Kabarettstimmen der 1920er, Claire Waldoff, Marlene Dietrich und Otto Reutter. Das Orchester Lajos Béla ist mit “Einen großen Nazi hat sie” zu hören und das Haarmann-Lied “Warte, warte nur ein Weilchen” in einer Interpretation von Hawe Schneider aus dem Jahr 1961. “Sündiges Berlin” ist bei alledem weder eine kritische noch eine wissenschaftliche Studie. Es ist ein unterhaltsames Buch, das für den Moment des Blätterns den voyeuristischen Trieb im Leser befriedigen mag. Eine durchwegs vergnügliche Lektüre also, mit flüssigen Texten und jeder Menge zeitgenössischer Fotos, Zeichnungen, Bilder und Dokumente. Man schaudert ein wenig, weiß aber, dass “Sex, Rausch und Untergang” für den Leser aller Voraussicht nach ohne jede schlimme Nachwirkung bleiben wird. Sündiges Berlin – wie schön! Wolfram Knauer (April 2012)


Black & White. The Jazz Piano von Peter Bölke Hamburg 2011 (Edel ear books) 156 Seiten, 4 beiheftende CDs, 39,95 Euro ISBN: 978-3-940004-96-3 2011jazzpianoIn seiner Reihe opulenter Coffeebook-Bände mit beiheftenden CDs legt der dem Vertrieb Edel zugehörige Verlag earbooks einen in Größe und Dicke an eine alte LP-Box erinnernden Bildband zum Thema “Jazz Piano” vor. Die vier im Deckel heftenden CDs geben das Thema vor: “Blues & Boogie-Woogie” lässt die großen Boogie-Heroen erklingen, Meade Lux Lewis, Pinetop Smith, Cow Cow Davenport, Albert Ammons und andere, aber auch Jelly Roll Morton und James P. Johnson, die eigentlich ins Thema der zweiten CD gehören, überschrieben “Nobilty at the Keyboard”. Hier sind Earl (Hines), Count (Basie) und Duke (Ellington) den Namensgeber, außer ihnen hört man Teddy Wilson, Hank Jones, Bud Powell und Thelonious Monk. Auf “Small Group, Great Sound” ist genau das präsent: die Trios etwa von Nat King Cole, Oscar Peterson und Erroll Garner, das Modern Jazz Quartet und das Dave Brubeck Quartet sowie George Shearing mit seinem Quintett. “A Funky Kind of Blues” schließlich präsentiert Aufnahmen des Hardbop zwischen Miles Davis und John Coltrane mit einer einzigen kleinen Ausnahmen, “Marionette”, gespielt vom Lennie Tristano Sextet. Das Buch zu den CDs ist hervorragend bebildert mit einer bunten Mischung aus Musikerportraits und stimmungsvollen Aufnahmen der diversen Zeiten und Örtlichkeiten, aus denen die Musik stammt. Peter Bölke fasst in seinem Text die Entwicklung des Jazzklavierspiels sowie die Biographien der auf den CDs dokumentierten Musiker und Bands zusammen. Wie bei anderen CD-/Buch-Alben des earbook-Verlags hört die Auswahl Anfang der 1960er Jahre auf, also vor gedweden musikalischen Freiheitsbewegungen oder Fusion-Experimenten. Diese Auswahl mag dem ernsthaften Jazzkenner einen Kritikpunkt wert sein, der dabei aber verkennt, an wen sich die Edition vor allem richtet: an den interessierten Jazz-Sympathisanten, der den Schritt zum Sammler und Vollständigkeitsfanatiker noch nicht gemacht hat. Hier findet er (oder sie) jede Menge Hörstoff und Information. Wolfram Knauer (April 2012)


Music Makes Me. Fred Astaire and Jazz von Todd Decker Berkeley 2011 (University of California Press) 375 Seiten, 29,95 US-Dollar ISBN: 978-0-520-26890-6 2011deckerJazz und Tanz sind enger miteinander verbunden als man in jüngsten Ausprägungen improvisierter Musik meinen möchte. Der Jazz begann als Tanzmusik, er war ein ständiger Begleiter der populären Bühnenkunst, und Tänzer in amerikanischen Ballsälen tanzten durchaus schon mal Soli, die denen von Jazzsolisten vergleichbar sein konnten. Todd Decker betrachtet in seinem Buch den vielleicht populärsten Tänzer des 20sten Jahrhunderts, Fred Astaire, aus der Sicht des Jazz, analysiert Filmclips und Tonaufnahmen auf rhythmische, melodische, formale und interaktive Aspekte. Das Ergebnis ist eine Studie, die Astaire als das Phänomen ernst nimmt, das er tatsächlich darstellt: ein Künstler, der sein Instrument (Beine und Füße) so beherrschte wie die Jazzer, mit denen er immer wieder zusammenarbeitete ihr Saxophon, ihre Trompete, ihr Piano. Decker stützt sich in seiner Arbeit vor allem auf filmische Dokumente, angefangen mit dem Titel, der zugleich dem Buch seinen Namen gab, “Musik Makes Me” aus dem Film “Flying Down to Rio” von 1933. Im ersten Teil seines Buchs ordnet der Autor Astaire ins amerikanische Showbusiness ein, wobei er neben seinen künstlerischen Qualitäten auch den sozialen, ästhetischen, gesellschaftlichen Kontext berücksichtigt, der Astaire besondere Möglichkeiten geboten habe. Er beschreibt die Unterschiede zu seinen Wettbewerbern und das Produkt, das Astaire auf dem populären Unterhaltungsmarkt so erfolgreich anbot. Er geht auch auf den afro-amerikanischen Einfluss ein, auf die Tatsache, dass etliche der frühen Stepptänzer schwarz waren und somit im hautfarben-bewussten Hollywood keine Chance auf eine Hauptrolle hatten. Schließlich betrachtet er Astaires Verhältnis zu Komponisten und Textdichtern, die ihm zum Teil Stücke direkt auf den Leib schrieben und stellt dabei fest, dass es Astaire in seiner Karriere immer wichtiger gewesen sei, musikalische Stücke zu interpretieren als musikalische Filme zu machen. Im zweiten Teil seines Buchs untersucht Decker die konkreten Produktionsbedingungen in Hollywood, wühlt in Archiven, um in den Drehbuchmanuskripten Notizen zu finden, die darauf hinweisen, wie Hollywood auf populäre Trends reagierte und wie die Drehbuchautoren ihrerseits musikalische Moden interpretierten. Generell ist Decker hier auch an der Überschneidung der beiden großen populären Industriebereiche interessiert, der Musik- und der Filmindustrie. Im dritten Teil fokussiert sich Dekker auf konkrete Ansätze in Astaires Tanz: auf die Interaktion mit seinen Tanzpartnern etwa, auf die Benutzung der Bluesform, auf stilistische Unsicherheiten der ausgehenden 1940er Jahren, in denen Swing noch nicht tot und Rock ‘n’ Roll noch nicht in waren, und schließlich auf Astaires Arbeit mit afro-amerikanischen Musikern. Astaire studierte seine Tanzszenen zwar bekanntlich haargenau ein, war aber zugleich, wie man spätestens durch seine Aufnahmen mit Jazz at the Philharmonic weiß, ein exzellenter Improvisator. Decker geht dabei durchaus ins Detail, erklärt Bewegungsabläufe, verfolgt Choreographien, lauscht darauf, welche Sounds die Tanzbewegungen hervorrufen. Er untersucht Astaire und die Körperlichkeit des Tanzes als Beispiel für jene so schwer zu definierende Qualität des “swing”. Und er beschreibt Filmszenen, die man glücklicherweise großteils auf YouTube nachsehen kann. Dabei landet man dann unweigerlich auch bei Astaires Fernsehauftritt mit der Count Basie Band (“Sweet Georgia Brown”), einem Auftritt, in dem Astaire eindeutig der Solist vor der Bigband ist, ein Solist, der genau dasselbe tut wie die Jazzsolisten, die ihn hier mit ihren Riffs begleiten: mit seinen Mitteln eine Geschichte erzählen. “Musik Makes Me” ist ein ungewöhnliches Jazzbuch, das einmal mehr deutlich macht, wie sehr “Jazz” die populäre Kultur des 20sten Jahrhunderts geprägt hat, als Musik, als Ausdrucks- und als Lebenshaltung. Wolfram Knauer (April 2012)


Rifftide. The Life and Opinions of Papa Jo Jones von Albert Murray & Paul Devlin Minneapolis 2011 (University of Minnesota Press) 173 Seiten, 18,95 US-$ ISBN: 978-0-8166-7301-8 2011jonesAlbert Murray, der große afro-amerikanische Jazzphilosoph und einflussreiche Schriftsteller, interviewte den Schlagzeuger Jo Jones zwischen 1977 und 1985 im Rahmen von Background-Recherchen zur Autobiographie von Count Basie, für die er als Coautor fungierte. Er legte die Bänder dann beiseite, bis er sie 2005 seinem ehemaligen Studenten Paul Devlin gab, um sie abzuschreiben. Das resultierende Buch, das erst jetzt erschien, ist eine ungewöhnliche und dennoch vorbildliche Autobiographie, die aus dem Hauptteil besteht, nämlich der selbst erzählten Lebensgeschichte Jo Jones’, aus einer einrahmenden Einleitung, in der Devlin die Entstehungsgeschichte des Projekts beschreibt, und aus einem Nachwort von Phil Schaap, das den Schlagzeuger in seinen späten Jahren näherbringt und auch dessen schon mal leicht gereizten Charakter erläutert, erklärt, warum Jones als Musiker beliebt, als Mensch schon mal gefürchtet war und was seinen Zorn in der Regel auslösen konnte. Jones eigene Geschichte aber ist fast selbst schon Literatur. Devlin hat einen Aufsatz Murrays sehr ernst genommen, in dem dieser beklagt, dass viele sogenannte “Autobiographien” durch zu viel Edieren die Authentizität genommen worden sei. Auch Devlin musste zusammenklauben und das Erzählte thematisch sortieren. Er behielt Jones’ Grammatik, und er behielt den erzählerischen, schon mal abschweifenden Duktus; er behielt ebenfalls die Verweise auf beiden Gesprächspartnern bekannte Personen, deren Identität dem nicht so eingeweihten Leser in einem umfangenden Apparat erklärt wird. Jo Jones’ Lebensgeschichte ist so keine fest chronologische Abhandlung von Ereignissen, sondern behält das Erzählerisch-Erinnernde, das sehr persönlich Beurteilende, manchmal auch eine gewisse Verbitterung über Missverständnisse der Geschichte oder die Überbewertung von Kollegen. Gangster in Kansas City; die eigene Vorbereitung auf Studiositzungen mit den Stars des Jazz – “Wenn du mit Ella Fitzgerald aufnimmst, hörst du dir vorher zwei Stunden lang nichts anderes als Ella Fitzgerald an, wenn du dann ins Studio kommst, denkst du nur noch Ella Fitzgerald” – , über das schwarze Showbusiness, über Rassismus, über Puerto Rico und Frankreich… Die Basie-Band, sagt Jones, sei eine richtige Institution gewesen, und jeder, der in der Band spielte, habe vom musikalischen Ethos des Orchesters genauso gelernt wie fürs Leben. Er erzählt, wie er in den Mitt-1930er Jahren Mitglied der Band wurde, erklärt, wie die legendäre All American Rhythm Section mit ihm, Basie, Freddie Green und Walter Page funktionierte, die kein Mikrophon gebraucht hätte, weil der Swing ihre Stärke war, unüberhörbar, so leise sie auch spielte. Jones erzählt über seine Erlebnisse im US-amerikanischen Süden, aber auch von seiner lebenslangen Neugier, seiner Liebe zu Büchern und Literatur, seiner Bewunderung für Autoren wie James Baldwin, Ralph Ellison, Langston Hughes und Albert Murray. Ein eigenes Kapitel ist Kollegen gewidmet, mit denen er “auch” zu tun hatte: Duke Ellington, Bill ‘Bojangles’ Robinson, Stepin Fetchit, Tommy Dorsey, Claude ‘Fiddler’ Williams, Jackie Robinson, Louis Armstrong, Joe Glaser, John Hammond und anderen. Und Jones, der “sharp dresser” erzählt, wie wichtig es ihm zeitlebens gewesen sei, klasse angezogen zu sein. Wie gesagt, dies Buch ist keine klassische Autobiographie. Als Gesprächspartner auf gleicher Augenhöhe gelingt es Albert Murray Jo Jones zum Erzählen zu bringen, und Paul Devlin schafft es, die erzählerische Stimmung beizubehalten, durchaus auch das Exkursorische in Jones’ Narrativ, das von einer Erinnerung in eine andere übergleitet, auch schon mal, ohne die angefangene Geschichte wirklich zu beenden. Er bringt damit eine Stimmung rüber, die einem den Musiker als Menschen nahebringt, der quasi überquillt vor Geschichten und Überzeugungen, vor Erlebnissen und festen Meinungen. Der 26-seitige Anmerkungsapparat ist da dringend nötig, um dem Leser die Verweise zu erklären, Anekdoten ins rechte Licht zu rücken oder auch schon mal Erinnerungen richtig zu stellen. Doch ist eine Autobiographie kein Geschichtsbuch, sondern höchstens eine Annäherung an die Erinnerungen von selbst Erlebtem. “Rifftide” kommt der komplexen Persönlichkeit des Papa Jo Jones weit näher als alles, was zuvor über ihn veröffentlicht wurde. 26 Jahre nach seinem Tod ist hier ein Buch erschienen, dass Jones als den kraftvollen, vorwärtstreibenden Menschen erleben lässt, der er auch als Schlagzeuger immer war. Wolfram Knauer (März 2012)


Kenny Ball’s and John Bennett’s Musical Skylarks. A Medley of Memories von Kenny Ball & John Bennett Clacton on Sea 2011 (Apex Publishing Ltd.) 203 Seiten, 12,99 Britische Pfund ISBN: 978-1-906358-98-3 2011ballDie Generation der britischen Trad-Jazzer kommt in die Jahre, ja teilweise stirbt sie bereits fort. Viele der Protagonisten dieses Stils sind sich vielleicht gar nicht bewusst, dass sie da in ihrem Streben danach, ihre amerikanischen Helden nachzuahmen, einen durchaus eigenständigen europäischen Stil kreierten, der für sich erheblichen Einfluss auf eine Generation von Musikern und Musikhörern hatte. Nun ja, rückwärtsgewandt bleibt diese Art des Musikmachens dennoch, und in einer Ästhetik, die vor allem nach vorne blickt, ist das wahrscheinlich das am meisten vernichtende Urteil. Da helfen zum Verständnis Bücher, die die Wirklichkeit des Musikmachens ein wenig beleuchten. Trompeter Kenny Ball und Posaunist John Bennett spielen bereits seit 1958 zusammen. In ihrer Doppelbiographie erzählen sie, wie sie zum Jazz kamen und welche Erlebnisse sie durch und mit dieser Musik hatten. Beide wurden in den 1930er Jahren geboren (Ball 1930, Bennett 1936), für beide gehört der Krieg zu ihren Jugenderinnerungen. Ball hörte seinen ersten Jazz 1940 von Platte, Artie Shaws “Begin the Beguine”; Bennett ließ sich 1943 von Tommy Dorseys “Boogie Woogie” begeistern. Nach dem Krieg arbeitete Ball als Klavierverkäufer in London. Er hatte sich 1943 seine erste Trompete gekauft und nach einem Lehrbuch geübt. Bennett war vom Spiel Kid Orys begeistert und lernte das Instrument im Schulorchester. Beide spielten in verschiedenen Bands, bevor sich ihre Wege kreuzten, als sie beide in der Terry Lightfoot Band waren. Im Oktober 1958 verließen sie diese Band gemeinsam und gründeten Kenny Ball’s Dixielanders, eine Band, mit der sie Musik wie die von Bobby Hackett, Jack Teagarden oder Eddie Condon spielen wollten. Die Band erhielt gute Kritiken und war in Jazzclubs in und um London zu hören, reiste bald aber auch durch ganz England und trat selbst in Deutschland auf. Ball und Bennett erzählen von solchen Konzertreisen, von Hits wie “Samantha”, von überaus aktiven Jahrzehnten insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren. Eine Tournee der Band durch die DDR im Jahr 1966 und eine Reise in die Sowjetunion im Jahr 1984 nimmt ein eigenes Kapitel des Buchs ein; in anderen Erinnerungen begleitet der Leser sie auf Reisen nach New Orleans, Australien oder Neuseeland. Hier zitieren die beiden Autoren ausgiebig aus ihren Tourneetagebüchern, weniger chronologisch als vielmehr thematisch sortiert, oder besser vielleicht: an den Anekdoten entlang. Es ist das alles eine kurzweilige Lektüre, die einen direkten Erfahrungsbericht zweier über ein halbes Jahrhundert im britischen Trad-Jazz aktiver Musiker bietet. Ein Register fehlt, im Fotobereich finden sich zur Hälfte offizielle Bandfotos. Der Untertitel “A Medley of Memories” ist Programm und das Buch damit sicher vor allem für Trad-Jazz-Fans interessant. Wolfram Knauer (März 2012)


Jazz Icons von Peter Bölke Hamburg 2011 (Edel earbooks) 156 Seiten, 8 beiheftende CDs, 49,95 Euro ISBN: 978-3-940004-86-4 2011iconsDie earbooks des Hamburger CD- und Buchverlags Edel sind eigentlich um ein Vielfaches “aufgeplusterte” CD-Begleitbooklets. Schallplattengröße, viele Fotos, Hardcover mit sorgsam in den Umschlag eingelassenen CDs; die Produktion des Buchs lässt es an nichts mangeln. “Jazz Icons” stellt die ganz Großen der Jazzgeschichte in Compilations vor. Die Auswahl der acht Künstler und ihrer Aufnahmen ist sicher repräsentativ – man hätte auch andere Namen wählen können, aber so ist es schon recht. Louis Armstrong ist mit Einspielungen zwischen 1947 und 1956 vertreten, darunter das großartige “Skookian”. Bei Coleman Hawkins fehlt weder “Body and Soul” noch das unbegleitete “Picasso” aus dem Jahr 1948. Billie Holidays Aufnahmen reichen von 1933 bis 1958 und decken damit ihre gesamte Karriere ab. Dizzy Gillespie wird mit Bebop und afrokubanischen Nummern aus den 1940er und 1950er Jahren repräsentiert. Bei Sonny Rollins fehlen weder “St. Thomas” noch “Blue Seven”. Miles Davis ist mit Charlie Parker zu hören, mit seinem Capital Nonett, seinen All Stars mit Milt Jackson und Thelonious Monk sowie mit seinem Quintett mit John Coltrane. Dave Brubeck ist im Trio und Quartett vertreten, mit Standards und ungeraden Rhythmen. Und John Coltrane spielt mit Miles, ist aber auch mit Aufnahmen aus seiner blues-lastigen Hardbop-Phase und mit seinem legendären “My Favorite Things” zu hören. Keine Fehler also; eine durchaus brauchbare Wahl der Aufnahmen, die auch in den jeweiligen Kapiteln des Buchs kurz erwähnt werden. Der Jazzfan kennt das alles, für ihn bieten auch die von Peter Bölke flott geschriebenen Biographien der Musiker (zweisprachig auf Deutsch und Englisch), die dabei auch auf die einzelnen Titel der beiliegenden CDs verweisen, nichts wirklich Neues. Die Fotos sind allesamt sehenswert; der Band enthält neben bekannten Aufnahmen durchaus auch viele Bilder, die so selten zu sehen waren. Leider werden die Namen der Fotografen an keiner Stelle genannt – bei einem Buch, das so auf die visuelle Komponente setzt, ein ernstes Versäumnis. Ansonsten gewiss ein passendes Geschenk für Jazzneulinge oder für Jazzfans, denen es nichts ausmacht, dass Compilations das, was man bereits in der Sammlung hat, gerne verdoppeln. Allemal blätterns- und hörenswert. Wolfram Knauer (März 2012)


Picture Infinity. Marshall Allen & The Sun Ra Arkestra von Sibylle Zerr Edingen-Neckarhausen 2011 (Sibylle Zerr) 152 Seiten, 25 Euro ISBN: 978-3-00-035497-7 www.sibylle-zerr.de 2011zerr1993 traf die Journalistin und Fotografin Sibylle Zerr Marshall Allen zum ersten Mal. Ein Clubbetreiber bat sie, ein Foto von Allen und ihm zu machen, wie er dem Saxophonisten zu seinem 80sten Geburtstag eine Whiskyflasche in die Hand drückte. Später fand Zerr heraus, dass Allen gar nicht Geburtstag hatte und dass er außerdem keinen Alkohol trank. Allen machte das alles nichts aus. Er, schreibt sie, nahm einfach die gute Stimmung des Publikums, das ihn feiern wollte, und transformierte diese mit dem Sun Ra Arkestra in pure Schönheit. Das Buch, das Zerr jetzt im Selbstverlag herausbrachte, ist eine Mischung aus Foto- und Sachbuch, in dem die Autorin und Fotografin in Bild und Text die Atmosphäre einfangen will, die Ras Musik bis heute umgibt. In kurzen, englischsprachigen Kapiteln beschreibt sie die Magie auf der Bühne und die Magie im Publikum sowie das Verschwimmen der Grenzen zwischen den beiden in jedem Konzert des Arkestra. Mehr als 80 Bilder, schwarzweiß wie Farbe, zeigen die Musiker auf der Bühne, in Interaktion mit dem Publikum, zwischen Koffern auf dem Bahnsteig. Zerr beschreibt, was nach dem Tod Sun Ras geschah, wie es Allen eine Weile verboten wurde, den Namen des Pianisten und seines Arkestra zu benutzen. Sie erzählt die Geschichte des Altsaxophonisten, der nach dem II. Weltkrieg in Europa stationiert war und zwei Jahre lang in Paris blieb, wo er mit James Moody auftrat und das Konservatorium besuchte. Sein ganzes Leben lang aber spielte er im Arkestra, und so macht es Sinn, dass er das Arkestra ins 21ste Jahrhundert führte. Sibylle Zerr erklärt das Kultische des Arkestra, die Freiheit der Musik. Sun Ra, sagt Marshall Allen, sei ein geborener Leader gewesen; er dagegen sei in der Band einer unter Gleichen, lerne von den anderen genau so viel wie die von ihm. Zerr beschreibt Sun Ras Konzept hinter “Strange Strings”, einer Aufnahmesitzung von 1966, bei der der Pianist seine Musiker ins Studio schickte, auf Instrumenten zu spielen, die sie noch nie zuvor gespielt hatten, um zu sehen, was passiert, um “unschuldig” spielen zu können. “Wir werden spielen, was Ihr nicht wisst. Und was Ihr nicht kennt, ist groß!” Sie beleuchtet all die jungen Musiker, die Sun Ra selbst nie erlebt hatten, jetzt aber im Arkestra dessen Tradition fortschreiben, wenn sie nicht sogar im legendären Haus in Philadelphia leben. Sun Ras Arkestra muss man eigentlich erleben. Man muss es hören und sehen und riechen – die Schminke, die exotisch-bunte Kleidung, die Instrumente. Zwischen zwei Buchdeckeln kommt Sibylle Zerr diesen Erlebnissen so nahe, wie es denn irgend geht: mit Bildern, die einen überaus lebendigen Eindruck von dem wiedergeben, was ein Sun-Ra-Konzert ausmacht – ein Erlebnis fürwahr, an dem keiner unbeteiligt bleibt –, und mit Texten, die sich von ganz unterschiedlichen Seiten dem Zauber der Musik und der Realität des Bandlebens und -tourens nähert. Lesenswert! Wolfram Knauer (März 2012)


Brötzmann. Arbeiten 1959-2010 herausgegeben von der Galerie Epikur Wuppertal 2011 (Galerie Epikur) 95 Seiten, 32 Euro ISBN: 978-3-925489-90-7 2011broetzmannIn den letzten Jahren ist Saxophonist Peter Brötzmann immer wieder auch als Bildender Künstler gewürdigt worden. Erst 2010 wurde seine grafische Kunst in der Gallerie The Narrows im australischen The Narrows ausgestellt. Die Wuppertaler Galerie Epikur hat diese Seite Brötzmanns kreativer Kunst nun mit einer Ausstellung und einem Bildband gewürdigt, eingeleitet von einem fachkundigen Aufsatz von Susanne Buckesfelder sowie zwei persönlichen Würdigungen von John Corbett und Mike Pearson. Als Refugium seines überaktiven Musikerlebens beschreibt Buckesfeld Brötzmanns Künstleratelier, und zeichnet dann die entwicklung ins einer Bildsprache nach. Musikbezüge gibt es genauso wie erotische Sujets, Ölgemälde, Aquarelle, Rrady-Mades und Holzschnitte. Das Durchblättern des wunderbaren Bildbandes macht auf jeden Fall eine weitere Seite Brötzmanns erlebbar. Wolfram Knauer (März 2012)


Populäre Musik und kulturelles Gedächtnis. Geschichtsschreibung – Archiv – Internet herausgegeben von Martin Pfleiderer Köln 2011 (Böhlau) 173 Seiten, 24,90 Euro ISBN: 978-3-412-20773-1 2011pfleidererDie Zahl der Forschungseinrichtungen nimmt zu, in denen populäre Musik und/oder Jazz dokumentiert und für die Nachwelt aufbewahrt wird. Bei einer Tagung im Herbst 2010 versammelte das Eisenacher Lippmann+Rau-Musikarchiv Kollegen vor allem aus den diversen deutschen Archiven sowie Forscher, die sich mit der Thematik der Musikbewahrung beschäftigen, ein, um über Notwendigkeiten, Möglichkeiten, Wünsche und Pläne der Kartierung und Archivierung populärer Musik zu sprechen. Dabei geht es um Archivierungstechniken, die grundlegende Aufgabe von Archiven, Beispiele konkreter Archivleistungen und immer wieder um das Paradoxon, dass Archive eine Musik speichern helfen, die eigentlich aus dem Liveerlebnis, aus Erfahrungen und Gefühlen bestehen. Die Tagung von 2010 war da sicher nur ein erster Schritt – hier sind auf lange Sicht länderübergreifende Kooperationen vonnöten, um, wie es hier so schön heißt, “immaterielles Kulturerbe” zu erhalten und zu archivieren. Neben Beiträgen des Herausgebers und von Nico Thom (Lippmann+Rau-Musikarchive Eisenach) finden sich in dem Buch etwa Artikel von Ulrich Duve und Peter Schulze (Klaus-Kuhnke-Archiv Bremen), von Wolfram Knauer und Doris Schröder (Jazzinstitut Darmstadt), von Nils Grosch (Volksliedarchiv Freiburg), von Siegfried Schmidt-Joos, Wolfgang Ernst, Tiago de Oliveira Pinto, Johannes Theurer und Holger Großmann. Wolfram Knauer (Februar 2012)


Five Perspectives on “Body and Soul” And Other Contributions to Music Performance Studies herausgegeben von Claudia Emmenegger & Olivier Senn Zürich 2011 (Chronos) 197 Seiten, 31 Euro ISBN: 978-3-0340-1048-1 2011emmeneggerDas vorliegende Buch hat zwei sehr voneinander unterschiedliche Teile: einen ersten, der die im Titel benannten fünf Perspektiven auf den Jazzstandard “Body and Soul” wirft, sowie einen zweiten, der sich mit allgemeinen und eher nicht jazzbezogenen Themen der Musikaufführung befasst. Im letzteren Teil ist der Beitrag über das Messen von Mikrotiming auch für Jazzforscher interessant, außerdem Elena Alessandris kurzer Ausflug in die Welt der Diskographie. “Body and Soul” ist ohne Zweifel einer der bedeutendsten Standards der Jazzgeschichte. Eine Beschäftigung mit diesem Titel beinhaltet dabei immer zwei Referenzpunkte: zum einen die Interpretation der Komposition von Johnny Green, zum zweiten die bewusste oder unbewusste Bezugnahme auf die legendäre Aufnahme von Coleman Hawkins aus dem Jahr 1939. José Antonio Bowen setzt sich in seinem Beitrag ganz allgemein mit der Aufnahmegeschichte des Titels auseinander und untersucht Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den vielen verschiedenen Versionen, instrumentalen genauso wie vokalen Interpretationen. Martin Pfleiderer analysiert das Stück als Meisterprüfung für Tenorsaxophonisten und betrachtet eingehender die Aufnahmen von Hawkins, Chu Berry, Lester Young, Ben Webster, Don Byas, Stan Getz und John Coltrane, wobei ihn neben der melodischen und harmonischen Interpretation vor allem auch die persönliche Soundgestalt der Tenoristen interessiert – und so finden sich in seinem Beitrag neben Transkriptionen auch Spektogramme, die etwa Websters luft-gefüllten Ton beleuchten helfen. Cynthia Folio und Alexander Brinkman hören sich Dexter Gordons Aufnahme des Standards von 1978 an und analysieren ihn in Hinblick auf motivische Bausteine, Beispiele von Polyrhythmik, Gordons ausführliche Schlusskadenz sowie seine immer wieder eingestreuten Zitate. John Gunther betrachtet drei jüngere Interpretationen des Stücks von Bill Frisell, Cassandra Wilson und Keith Jarrett. Olivier Senn schließlich hört sich Thelonious Monks Version vom Oktober 1962 an und untersucht in seiner Analyse den Abstraktionsgrad und die Abstraktionsmethoden, die Monk anwendet, um das Stück quasi musikalisch-analytisch auseinanderzunehmen und wiederzusammenzusetzen. Alle Beiträge entstanden als Referate zweier Symposien während einer Tagung, die 2009 in Luzern abgehalten wurde. Sie präsentieren eine musikwissenschaftliche Auseinandersetzung damit, wie man mit dem Mittel der Analyse auch improvisierter Musik nahekommen kann und bieten dank des vergleichbaren Themas tatsächlich unterschiedliche Perspektiven. Das Buch ist in englischer Sprache gehalten, im Anhang findet sich neben den Biographien der Autoren auch ein Namensindex der im Text erwähnten Personen. Wolfram Knauer (Februar 2012)


The Poconos In B Flat. The Incredible Jazz Legacy of the Pocono Mountains of Pennsylvania von Debbie Burke East Stroudsburg 2011 (Xlibris) 117 Seiten, 19,99 US-Dollar ISBN: 978-1-46913-459-8 2011burkeEin Buch über die unglaubliche Jazzszene der holsteinischen Schweiz? So in etwa kam es dem Rezensenten vor, als er Debbie Burkes Buch über die Jazzszene der Ponono Mountains in Pennsylvania auf den Schreibtisch erhielt. Die Poconos sind eine Urlaubs- und Freizeitregion im Nordosten Pennsylvanias, etwa anderthalb Autostunden von Manhattan entfernt. Eine größere Universität in East Stroudsburg ist in der Nähe, und ein Jazz Festival findet jährlich am Delaware Water Gap statt, der Wasserscheide in der bergigen Region. Ein paar namhafte Musiker haben sich hier niedergelassen, allen voran der Altsaxophonist Phil Woods, der seit kurz nach seiner Rückkehr aus Europa im Jahr 1972 hier lebt, der Pianist und Sänger Bob Dorough, der bereits seit den 1960er Jahren ein Haus in der Region besitzt, und der Sopransaxophonist David Liebman, der in die Poconas zog, weil sie nahe an New York waren und doch abgeschieden genug, um Rückzugsmöglichkeiten zu bieten. Neben ihnen befragt Burke aber auch Musiker wie den Pianisten John Coates, der eine Art Identifikationsfigur für die regionale Szene darstellt, den Schlagzeuger Bill Goodwin und den Pianisten Dave Frishberg. Der Bandleader und Arrangeur Fred Waring ist einer der wenigen nicht mehr lebenden Personen, die in ihrem Buch beleuchtet werden; ansonsten portraitiert sie auch außerhalb der Region eher weniger bekannte Künstler wie den Pianisten Bobby Avey, den Trompeter Danny Cahn, den Dirigenten Ralph Harrison, den Saxophonisten Bob Keller, den Bassisten Davey Lantz, die Saxophonistin Jay Rattman und andere. Die Kapitel sind kurzweilig geschriebene persönliche Schlaglichter, alphabetisch nach Künstlern sortiert, aber alles andere als enzyklopädische Artikel mit Daten und Fakten über die Karrieren der Beschriebenen. Meist geht es stattdessen um Einflüsse, um ästhetische Grundhaltungen, um die Entscheidung, in die Poconos zu ziehen und um die kreative Kraft, die die Gegend den Musikern gibt. Und irgendwie ahnt man am Ende des Buches, dass an alledem wohl etwas dran sein mag, dass die Ruhe und Friedlichkeit einer Landschaft den künstlerischen Ausdruck beeinflussen, verstärken, fokussieren kann. Wolfram Knauer (Februar 2012) A book about the incredible jazz scene of the Holsteinische Schweiz [a hilly region in Northern Germany]? Something like this went through the mind of the reviewer when he leafed through Debbie Burke’s book on the jazz scene of the Pocono Mountains. The Poconos are a holiday and leisure region in northeastern Pennsylvania, about a half hour drive from Manhattan. A major university is near in East Stroudsburg, and a jazz festival takes place annually at the Delaware Water Gap, the watershed in the mountainous region. A few well-known musicians have settled here, first and foremost the alto saxophonist Phil Woods, who has been living here since shortly after his return from Europe in 1972, the pianist and vocalist Bob Dorough, who owns a house in the region since the 1960s, and the soprano saxophonist David Liebman, who moved to the Poconos because they were close to New York and yet secluded enough to offer refuge. Apart from these Burke interviewed other musicians such as the pianist John Coates, who serves as a role model for the local scene, the drummer Bill Goodwin and the pianist Dave Frishberg. The bandleader and arranger Fred Waring is one of the few musicians in her book who is no longer alive; other artists she mentions are far less well-known outside the region, among them the pianist Bobby Avey, the trumpeter Danny Cahn, the conductor Ralph Harrison, the saxophonist Bob Keller, the bassist Davey Lantz, the saxophonist Jay Rattman and others. The chapters provide very personal spotlights written in an entertaining style, sorted alphabetically by artist, yet not providing too encyclopedic information about the careers of the described. She talks about influences, basic aesthetic attitudes, about why they decided to move to the Poconos and about the creative force the area provides to the musicians. And somehow at the end of the book one suspects that there may well be some truth to all of this, that the peace and tranquility of a landscape can affect, amplify and focus artistic expression. Wolfram Knauer (Februar 2012)


Wycliffe Gordon. Sing It First. Wycliffe Gordon’s Unique Approach to Trombone Playing Herausgegeben von Alan Raph Delevan/NY 2011 (Kendor Music) 38 Seiten, 17,95 US-Dollar 2011raphWycliffe Gordon ist einer der jüngeren Traditionalisten des Jazz. Er spielte in der Band von Wynton Marsalis, im Lincoln Center Jazz Orchestra und hat sich auch mit seinen eigenen Projekten den virtuos gespielten swingenden Jazz verschrieben. In diesem Heft, einer Art Schule für Posaunisten, gibt er einige Tipps weiter, die dem Posaunisten ermöglichen sollen auf seinem Instrument wie mit eigener Stimme zu spielen. Gordons Hauptregel wurde zum Titel des Büchleins: “Sing it first!” – Sing es erstmal, bevor Du es spielst! Und so gehöre jetzt zu seinen täglichen Übungen auch das Singen von allen möglichen Etüden. Das Buch wendet sich dabei an Musiker auf einem mittleren bis fortgeschrittenen Level. Ein erstes Kapitel rekapituliert Grundlagen des Akkordaufbaus. Gleich als nächstes geht’s ans Singen. “Man braucht keine gute Stimme um zu singen. Versuch die Tonhöhe genau zu treffen und arbeite später an der Artikulation.” Es kommt ein Kapitel über “Basics” auf der Posaune, dann Tipps und ein paar Übungen zum Aufwärmen, zum Finden eines Lehrers, zu Stil, Ansatz, Artikulation, Schnelligkeit, Ausdauer, hohen Noten, absolutem oder relativem Gehör, Rhythmik, dem Plunger. Die meisten der Tipps eignen sich vor allem für Posaunisten, wenn auch Gordons Grundregel eigentlich für jeden Musiker gelten sollte: Wenn Du es singen kannst, kannst Du es auch spielen! Wolfram Knauer (Februar 2012)


theoral no. 3 / Paul Lovens herausgegeben von Philipp Schmickl Nickelsdorf, November 2011 72 Seiten direkt zu beziehen über www.theoral.org 2011schmickl“theoral” ist eine Heftreihe herausgegeben von Philipp Schmickl (Texte) und Karin Weinhandl (Grafik), in der Künstler aus dem Bereich der improvisierten kreativen Musik zu Worte kommen. Der Name der Reihe leitet sich von “oral history” ab, Schmickl ist vor allem Stichwortgeber und lässt sein Gegenüber reden. Heft Nr. 3 widmet sich dem Schlagzeuger Paul Lovens, der ausführlich von seinen Einflüssen und seiner musikalischen Ästhetik berichtet. Schmickl ediert möglichst wenig, lässt Lovens reden, abschweifen, zurückkommen zum Thema. Lovens erzählt aus Aachen, von seiner frühen Faszination mit dem Jazz, Dixielandsozialisation und davon, wie er mit 17 oder 18 Jahren einen Set lang bei Dexter Gordon eingestiegen sei, “eine Lektion in timing”. Er erzählt offen, etwa davon, dass ein Konzert für ihn eigentlich beginnt, wenn er sich den Termin in den Kalender notiert, oder davon, dass man als Musiker gut daran tut, andere nicht zu beneiden. Er erzählt von seiner Wohnung in Aachen, in der sich Schallplatten und Bücher stapelten: “Es gibt Wege, die man nutzen kann, mit o einer Wendemöglichkeit, aber viele der Wege sind nur rückwärts wieder zu gehen, auf zentrale Punkte wie Küchenherd, Toilette, Fernsehsessel, Bett, dazwischen gibt’s Pfade.” Die Wohnung als Hirn, der Kopf als Archiv. Schlippenbach, Evan Parker, und wieder zurück nach Aachen, in den Jazzclub, für den er einen Schlüssel besaß. Eine Biographie aus Zufällen, “Es lief alles so, nicht viel drüber nachgedacht”… Jazzkurse Remscheid, Manfred Schoof lädt ihn ein in sein Quintett zu kommen, wo er Schlippenbach kennenlernte… Lovens philosophiert darüber, ob es unter Musikern Freundschaften geben könne oder vor allem Kollegialität; er erzählt davon, wie er mit dem Tod von Kollegen umgeht, Buschi Niebergall, Peter Kowald. Eine verrückte US-Tournee mit Eugene Chadbourne ist Thema genauso wie seine Zusammenarbeit mit Cecil Taylor oder “die drei Bassisten”, nämlich Niebergall, Maarten van Regteren Altena und Kowald, und immer wieder Brötzmann und Steve Lacy. Lovens redet übers Musikhören, darüber, wie er musikalische Entscheidungen träfe beim Spielen, über Lieblingsräume zum Musikhören und Lieblingsräume zum Spielen. Das alles liest sich nach nur wenigen Sätzen so, als würde Paul Lovens vor einem sitzen, die Augen aufblitzend bei Erinnerungen oder bei neuen Ideen, die er sich gleich in ein Notizbuch schreibt, ein wenig melancholisch, wenn er an alte Zeiten denkt, den Schalk durchaus im Nacken, die Selbstbetrachtung mit genügend Ironie, um über die Vergangenheit genauso lachen zu können wie über seine Gegenwart. Man liest sich fest, und dann ist’s schon ausgelesen, das kleine Büchlein, das doch so viel an Stoff fürs Nachdenken liefert und zugleich die Musizierfreude weitergibt, die man Paul Lovens auch auf der Bühne immer anmerkt, ein authentisches Portrait eines mehr als authentischen Musikers. Wolfram Knauer (Februar 2012)


L’art du jazz herausgegeben von Francis Hofstein Paris 2011 (éditions du Félin) 445 Seiten, 45 Euro ISBN: 978-2-86645-762-4 2011hofsteinKunst und Jazz – die Thematik der gegenseitigen Befruchtung, nun ja, vor allem des eindimensionalen Einflusses von der Musik auf die Bildende Kunst, ist in den letzten Jahren, beflügelt durch einige große Ausstellungen, von vielen Seiten betrachtet worden. Francis Hofstein hat mit dem von ihm herausgegebenen Buch L’art du jazz der Lektüre ein dickes, wunderbar bebildertes Opus hinzugefügt. Neben allgemeinen Artikeln über Jazz und Bildende Kunst oder das Image des Jazz als Vehikel der Werbung finden sich darin auch Gedichte oder Erinnerungen an Literaten und Musiker. Es sei ihm um die Interdisziplinarität des Jazz gegangen, erklärt Hofstein in seinem kurzen Vorwort, um das Verhältnis, das der Jazz immer wieder mit seiner Umgebung eingeht, der realen genauso wie der artifiziellen. Zu den Autoren der 40 Beiträge zählen Kritiker wie John McDonough (mit einem Artikel über Jazzmusiker als Werbeträger), Jean Szlamowicz (über die Anziehungskraft des Begriffs Jazz auf Käufer und Vermarkter) oder Greg Tate (über den afro-amerikanischen Maler Thornton Dial und seine Einflüsse aus dem Jazz), Musiker wie Barry Guy und Leo Smith (jeweils sehr lesenswert über ihre graphischen Partituren), Ellery Eskelin, Andrea Parkins und Jim Black (über Stimme und Bewegung), Nasheet Waits, Chad Taylor, Mike Reed, Gerald Cleaver und Tyshawn Sorey (über das Schlagzeug) und viele andere Autoren, die eine vom Herausgeber offenbar bewusst geförderte Vielfalt an Ansätzen vertreten, wie sich Jazz und andere Künste verbinden. Bebildert ist das alles mit Ausrissen aus Zeitschriften, Plakaten und Plattencovers, aber auch mit den Abbildungen von kleinen Jazz-Figurinen aus der Sammlung Hofsteins. Hofsteins Ansatz versammelt die Texte dabei wie eine Art Improvisation über ein Thema, bei dem jedes Solo etwas zu sagen hat, und man doch vom nächsten total überrascht wird. Das ist ein kurzweiliges Vergnügen, bei dem man jenes Thema mal besser erkennt, mal ein wenig suchen muss. Da widmet sich Clare Moss etwa der “schwarzen amerikanischen Stimme” als Klangideal; da betrachtet Alan Govenar J.J. Phillips Roman “Mojo Hand” von 1966, der durch die Begegnung des Autors mit dem Bluesmusiker Lightnin’ Hopkins geprägt war; da swingen Gedichte von Langston Hughes (in französischer Übersetzung); da stellt Hofstein selbst den Plattencover-Designer Jack Lonshein und die von ihm entworfenen Albumtitel vor; da widmet sich Bruce Dick dem Schriftsteller Richard Wright und der Tradition des Blues; da schreibt Saxophonist Nathan Davis über das Leben als exilamerikanischer Jazzmusiker im Paris der 1960er Jahre; da schaut Sonia Dellong sich Disney-Filme an, in denen Jazz eine wichtige Rolle spielt und fragt nach dem Image, die hier übergebracht wurde. Das Buch eignet sich zum Blättern und Sich-Fest-Lesen, es ist zugleich ein schönes Bilderbuch, dessen einziges Manko vielleicht ist, dass man sich Erklärungen der vielen Porzellanfigurinen und sonstigen jazzbezogenen Abbildungen wünschte, die übrigens nicht immer mit dem Inhalt der ihnen zugeordneten Artikel korrespondieren. Kurze Biographien der Autoren und ein Register stünden dem Buch ebenfalls gut zu Gesicht – ansonsten aber vermittelt die Lektüre die Freude am Spielen, die den Jazz doch eigentlich ausmacht. Chapeau! Wolfram Knauer (Januar 2012)


Kunst als Brücke zwischen den Kulturen. Afro-amerikanische Musik im Licht der schwarzen Bürgerrechtsbewegung von Jürg Martin Meili Bielefeld 2011 (transcript) 316 Seiten, 32,80 Euro ISBN: 978-3-8376-1732-0 UMS1732.inddNicht erst in den letzten Jahren wird Kunst als Brücke zwischen Kulturen im Zeitalter der Globalisierung erkannt. Schon immer waren Kunst und Kultur eine Möglichkeit, kulturelle Spannungen zu überbrücken. Jürg Martin Meilis Studie, die aus einer Dissertation an der Universität Zürich entstanden ist, betrachtet diesen Prozess der Brückenbildung aus unterschiedlichen Sichtweisen. Den Fokus seiner Untersuchung richtet er dabei auf afro-amerikanische Musik zwischen Spiritual und HipHop. Er beginnt mit Herkunft und Entwicklung der afro-amerikanischen Musik und schließt ein Kapitel über die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre an. Im dritten Kapitel interpretiert er ausgewählte Liedtexte im Kontext der afro-amerikanischen Erfahrung, beschreibt im vierten Kapitel die Rolle des Musikers als sozialer und politischer Mittler und vergleicht in Kapitel 5 den HipHop in seiner Funktion mit den “slave narratives” des 19sten Jahrhunderts. Etwas abrupt muss der Leser gleich darauf von Tupac Shakur zu Platon springen, wird quasi vom HipHop in die Antike gestürzt, für die der Autor sich Gedanken über die Bedeutung der Kunst macht, um abschließend – und damit auch wieder auf das afro-amerikanische Kernthema seines Buchs eingehend – auf Identität und Solidarität stiftende Aspekte von Kunst hinzuweisen. Meili findet bei alledem nichts wirklich Neues heraus; seine Verweise auf Sekundärliteratur zu afro-amerikanischer Musik lassen Lücken erkennen, zumal im bereich der jüngsten Literatur, die sich im Jazzbereich den von ihm beschriebenen Phänomenen bereits durchaus theoriekritisch angenommen hat. Vor allem aber kommt eines zu kurz: nämlich der Bezug auf die Musik selbst. Meilis Ansatz ist ein rein historischer oder textkritischer, der aber die Musik als … nunja, als Musik eben, fast vollständig außer Acht lässt. Doch erst, wenn man definiert, welche Funktion Musik als Musik besitzt, kann man auch ihre anderen Funktionen sinnvoll untersuchen. Wolfram Knauer (Januar 2012)


Thema Nr. 1. Sex und populäre Musik herausgegeben von Dietrich Helms & Thomas Phleps Bielefeld 2011 (transcript) 231 Seiten, 21,80 Euro ISBN: 978-3-8376-1571-5 UMS1571.inddBei der 20sten Arbeitstagung des Arbeitskreises Studium populärer Musik (ASPM) ging es 2009 in Halle um … Sex! Die zwölf Autoren der vorliegenden Tagungsdokumentation beleuchten dieses Thema von recht unterschiedlichen Seiten. Es geht um allgemeine Überlegungen zum Thema “Erotik und Musik “(Dietrich Helms), um sexualisierte Metaphorik in Vorkriegs-Bluestexten (Thomas Phleps), um Männerbilder im Heavy Metal (Dietmar Elflein), oder über Ideen von Weiblichkeit bei Madonna, der Riot Grrrl-Bewegung und Lady Ray Bitch (Erika Funk-Hennigs). Corinna Jean Timmermann hat Frankfurter DJanes befragt; Hans-Joachim Erwe reflektiert über “Je t’aime” und andere Stöhnsongs; und Paul Carr untersucht die Rolle des Sex in Frank Zappas Musik. Merle Mulder sowie Martin Pfleiderer blicken auf die Repräsentation oder Anfeindung von Schwulen im popkulturellen Umfeld und konkret in Poptexten. Thomas Burkhalter blickt auf die auf die sich wandelnde Frauenrolle in der arabischen Welt vor dem Hintergrund ihrer Präsenz in der Popkultur. Michael Ahlers und Christoph Jacke schließlich haben sich unters Volk gemischt und gefragt: Was hört ihr, wenn…? Der Jazz kommt in all diesen Themen eher am Rande vor. Die bunte Sicht auf Musik als Soundtrack erotischer Aktivität bzw. als selbst einflussnehmender Partner bei intimster Zweisamkeit allerdings macht neugierig, welche Wirkung wohl der Jazz hätte. Oder ist Jazz eher das romantische Vorspielt? Wolfram Knauer (Januar 2012)


Instant Composers Pool Orchestra. You have to see it von Ton Mijs (Fotos) & Kevin Whitehead (Text) Rotterdam 2011 (Mijs Cartografie & Vormgeving) 64 Seiten, 15 Euro ISBN: 978-908-1686211 (www.tonmijs.nl) 2011mijsNein, man muss es auch gehört haben! Aber eben auch gesehen… Der Jazz ist und bleibt Livemusik, und das holländische Instant Composers Pool Orchestra um Misha Mengelberg und Han Bennink ist ein Ensemble, das man besser im Konzert erlebt haben sollte, um zu wissen, welche Spannung aus den Gegensätzen zwischen Ordnung und Chaos in seiner Musik möglich ist. Der Fotograf Ton Mijs und der in Amsterdam lebende amerikanische Journalist haben mit diesem Büchlein dem ICP eine Liebeserklärung gemacht, die den so gar nicht musikorientierten Untertitel des Buchs erklärt und rechtfertigt. Es sind seltsam erklärende Bilder dabei: Etwa das Trommelfell auf dem Boden (oder ist es ein weißes Tablett?) mit einem Kamm darauf, während daneben, sorgfältig aufgereiht diverse Besen liegen. Oder Misha Mengelberg im Gespräch mit Tristan Honsinger und Ernst Glerum, die ihn ein wenig ungläubig anschauen, während Han Bennink sein Becken festschraubt. Mijs Fotos begleiten die Band bei einem Konzert im Amsterdamer Bimhuis im September 2009. Er fängt ein, wie sich Michael Moore einspielt, wie Honsinger sein Cello auspackt, wie Thomas Heberer die Noten sortiert, Pfeife und Feuerzeug quer zu den Stöcken auf der Tom liegen (Hennink scheint in Bildern zu leben), Mengelbergs Plastiktüte, ein Becher Kaffee und Chips auf dem Flügel, ein Soundcheck, der zugleich neue Absprachen enthält, aber irgendwie auch Ablenkung, auf dass bloß nicht alles ganz sicher läuft am Abend. Die Bühne ist leer, das Publikum da. Ansage und kurzes Gespräch mit Mengelberg. Bennink trommelt auf dem Boden, die Band spielt, hört zu, spielt weiter, lässt sich von Honsinger dirigieren, Conduction, Solo, Alle, Verbeugung, Schluss. Eine leere Bühne, ein paar Notenblätter liegen auf dem Boden, leere Stühle, der Flügel zugeklappt. Man ahnt, was da geschah an diesem Abend, und dann meint man doch, dass das Sehen nicht ausreicht: Man muss es schon hören. Aber wenn man es gehört hat, dann ist das Sehen zusätzlicher Gewinn. Ein wunderbares Fotobuch, dem der Text von Kevin Whitehead den Inhalt beigibt, eine einfühlsame Beschreibung des Konzerts. Und tatsächlich schaue ich auf die Rückseite des Buchs, ob nicht doch noch eine CD beiheftet. Leider nicht. Also sollte ich möglichst bald das ICP live hören. Oder mir eine CD aus dem Regal suchen… Wolfram Knauer (Januar 2012)


Respekt! Die Geschichte der Fire Music von Christian Broecking
Berlin 2011 (Verbrecher Verlag)
475 Seiten,
18 Euro
ISBN: 978-3-940426-67-3

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Kaum jemand kennt die amerikanische Jazzszene der letzten dreißig, vierzig Jahren so gut wie Christian Broecking, der mit vielen der Protagonisten insbesondere des afro-amerikanischen Jazz gesprochen und sie in Interviews für Tageszeitungen und Fachzeitschriften portraitiert hat.

Der neue, fast 500 Seiten starke Wälzer enthält drei bereits früher beim selben Verlag erschienene Bücher mit Aktualisierungen in den Kommentaren zu den Interviews: “Respekt!” von 2004, “Black Codes” von 2005 sowie “Jeder Ton eine Rettungsstation” von 2007.

Die Interviews, die letzten Endes (in nicht edierter Form) auch Basis von Broeckings jüngst erschienener Dissertation zum Selbstverständnis des afro-amerikanischen Jazz der letzten 20 Jahre ist, beleuchten ganz subjektiv die Sicht der Protagonisten zum Umfeld in den USA, zu gesellschaftlichen und ästhetischen Entwicklungen, zu Freiheit oder Tradition, zur politischen Verantwortung von Künstlern und vielem mehr.

Es sind gerade in der Sammlung wichtige Versatzstücke für das Verständnis einer Szene, die vom Wandel geprägt und doch der Tradition verpflichtet ist. Broecking ist in diesen Interviews zurückhaltender Chronist, neugierig und nachhakend, wobei sich Themen wie Politik, Verantwortung, Tradition oder Rassismus wie rote Fäden durch die Gespräche ziehen.

Alles in allem: Kurzweilig, lesenswert und in der klugen Weitsicht vieler der Gesprächspartner eine durchaus optimistische Fundgrube für jeden, der Angst um die Zukunft des Jazz hat.

Wolfram Knauer (Dezember 2011)


10 Jahre unerhört!. Zum Jubiläum des Zürcher unerhört!-Festivals
herausgegeben von Michael Stötzel
Zürich 2011 (Verein unerhört!)
122 Seiten

Das unerhört!-Festival in Zürich fand 2011 zum zehnten Mal statt, und die vorliegende Publikation würdigt die unterschiedlichen Seiten der Veranstaltung: Programmgestaltung, Einbeziehung der regionalen wie internationalen Szene, Veranstaltungsorganisation, Werbung und grafische Gestaltung der Werbemittel, Partner wie Club, Altenheim oder Museum, Kontakte zur Jazzausbildung im Land, aber auch Finanzierung und Catering für die auftretenden Musiker.

Das Ganze ist ein begeistertes und doch auch ehrliches Feiern, bei dem vor allem die Macher selbst von ihrer Arbeit berichten, quasi einen Blick in die Werkstatt der Festivalgestalter erlauben, in ihre Zweifel, in den Umgang mit Problemen, aber eben auch in die Freude über den Erfolg und die Ermutigung zum Risiko.

Es ist eine Festschrift, jubiläums-würdig und Lust machend auf mehr. Und ein wenig ermutigt es gerade in den Zeiten schwerer Finanzen, wie das gemeinsame Wollen aus einer klein-budgetierten Avantgarde-Veranstaltung ein kaum mehr aus der Landschaft der europäischen Festivals wegzudenkendes Event werden ließ, das durch Programmierung und Ermutigung der Musiker und ihrer Projekte schließlich selbst Einfluss auf die Entwicklung der präsentierten Musik genommen hat. Zum Schluss gibt es etliche Farbaufnahmen der Fotografin Francesca Pfeffer von Konzerten des Festivals, die allerdings vor allem die Bühnensituation, kaum die Atmosphäre der Veranstaltung dokumentiert.

Auch wir gratulieren jedenfalls: Bleibt weiter unerhört!

Wolfram Knauer (Dezember 2011)


Der Marsalis-Komplex. Studien zur gesellschaftlichen Relevanz des afroamerikanischen Jazz zwischen 1992 und 2007
Christian Broecking
Berlin 2011 (Broecking Verlag)
216 Seiten, 49,90 Euro
ISBN: 978-3-938763-32-2

Christian Broecking ist vielleicht der profundeste Kenner der gegenwärtigen afro-amerikanischen Jazzszene und ihrer ästhetischen Diskurse. Sein 1995 erschienenes Buch “Der Marsalis-Faktor” beschäftigte sich recht früh mit dem Phänomen des New Orleanser Trompeters Wynton Marsalis und seiner ästhetischen Entourage von Musikern, Kritikern und afro-amerikanischen Kulturphilosophen. Seither sammelte Broecking in seiner täglichen Arbeit weitere Zeugnisse über die Entwicklung eines afro-amerikanischen Bewusstseins für ästhetische Entwicklungen und fasste immer wieder die Erkenntnisse seiner journalistischen Feldforschung in Aufsätzen und Aufsatzsammlungen zusammen. Für seine musikwissenschaftliche Dissertation an der Technischen Universität Berlin hat Broecking seine eigenen jahrelangen Recherchen jetzt zur Grundlage einer systematischen Inhaltsanalyse gemacht und in einen größeren amerikanischen Ästhetikdiskurs eingeordnet.

Im “Marsalis-Komplex” geht es um “die Auseinandersetzung um die politische Relevanz, den gesellschaftlichen Nutzen und eine Re-Definition des (afro)amerikanischen Jazz”, die sich vor allem an der musikalischen Haltung von Wynton Marsalis festmachte. In einem ersten Kapitel zeichnet Broecking dabei die “Geschichte der Diskurse” nach, verweist auf die Prägung vieler Musiker durch den soziokulturellen Wandel der Bürgerrechtsbewegung und die im Jahrzehnt darauf eintretende Frustration durch die Realität. Er konstatiert eine Tendenz afro-amerikanischer Musiker, “mangelnde Anerkennung im eigenen Land durch den Bezug zur schwarzen Herkunftskultur zu kompensieren”.

Sein zweites Kapitel portraitiert die Interviewpartner und ihre jeweilige ästhetische Position. Es handelt sich dabei um Musiker und Theoretiker/Schriftsteller, konkret um: Albert Murray, Bill Dixon, Ornette Coleman, Betty Carter, Amiri Baraka, Eddie Harris, Archie Shepp, Lester Bowie, Stanley Crouch, David Murray, Steve Coleman, Don Byron, Greg Osby, Branford Marsalis, Wynton Marsalis and Terence Blanchard. Broecking weist in diesen Kurzportraits auch auf die Interviewsituation hin, Ort, Zeit und Stimmung während des Interviews.

Im dritten Kapitel skizziert Broecking sein methodisches Vorgehen, bevor er im vierten Kapitel zur Inhaltsanalyse kommt. Hierfür identifiziert er Themenbereiche wie “Marktzugang”, “Gesellschaftlicher Kontext”, “Identität”, “Rezeption”, “Spannungsfelder”, “Politische Intention”, “Transkulturalität” und hinterfragt diese Komplexe mithilfe von Zitaten aus seinen Interviews. Ein Ergebnis dieser Analyse ist dabei, dass “die Befragten in ihren Äußerungen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen ein heterogenes Meinungsgefüge” vermitteln, “das nicht mit der Rezeption einer als homogen empfundenen schwarzen Kultur korreliert”.

In einem Schlusskapitel überprüft Broecking die Aussagen aus den Interviews, die er zumeist in den 1990er Jahren geführt hatte, anhand der Entwicklungen seither, konzentriert sich dabei auf die Auswirkungen der gesellschaftlichen Akzeptanz eines Konzerthauses wie Jazz at Lincoln Center, auf Veränderungen der schwarzen Perspektive, auf politische Optionen der Musiker, die sich aus dem Kreis der Young Lions rekrutieren, auf den Themenkomplex Ästhetik und Kommerz, auf die sozialen und politischen Auswirkungen von Katrina und die mangelhaften Bewältigung der Folgen des Hurricane durch die amerikanische Regierung, sowie auf Veränderungen der Wahrnehmung afro-amerikanischer Musik in Europa, ausgelöst durch europäische Widerstände gegen die amerikanische Politik der letzten zwei Jahrzehnte.

Alles in allem zeichnet Christian Broecking ein überaus spannendes Bild des ästhetischen Diskurses im afro-amerikanischen Jazz der 1990er bis 2010er Jahre, einer Zeit, die politisch ja durchaus turbulent war, überschattet von zwei Irakkriegen, 9/11, Katrina und anderen Verunsicherungen des sozialen und gesellschaftlichen Gefüges in den USA. Er betrachtet die Sichtweise afro-amerikanischer Musiker ein wenig wie ein Außenseiter, nüchtern-analytisch aus ihren eigenen Argumenten heraus erklärend statt richtig stellend, und er vermag damit vielleicht gerade die Missverständnisse deutlich zu machen, die auf allen Seiten zu Lagerbildungen führten, welche die Positionen nach außen viel einheitlicher wirken lassen als sie es tatsächlich sind. Zugleich zeigt er, wie Quellenmaterial, sprich Interviews, systematisch und quellenkritisch genutzt werden können, um aktuelle Diskurse nachzuzeichnen. Viele der von ihm geführten Interviews sind anderswo nachzulesen – allerdings nur in edierter, nicht der original transkribierten Form. Hinzuweisen wäre übrigens beispielsweise auf Broeckings fast zeitlich mit dieser Dissertation erschienenes Buch “Respekt! Die Geschichte der Fire Music” (Verbrecher Verlag, Berlin 2011).

Wolfram Knauer (November 2011)


Norman Granz. The Man Who Used Jazz for Justice
Von Tad Herschorn
Berkeley 2011 (University of California Press)
470 Seiten, 34,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-520-26782-4

Er gehört zu den Nichtmusikern, die Jazzgeschichte geschrieben haben: der Impresario, Plattenfirmengründer und -boss Norman Granz. Nicht nur haben ihm viele Musiker wenigstens einen Teil ihrer Karriere zu verdanken; er hat Europa in den 1950er Jahren mit Jazz überschwemmt, und er hat quasi mitgeholfen einen eigenen Stil zu kreieren: jenen swing-orientierten intim besetzten Mainstream-Jazz der 1950er Jahre, in dem die (von ihm ebenfalls begründeten) Jazz-at-the-Philharmonic-Orgien ruhigere Ergebnisse einfuhren. Die Namen der Stars schmücken seinen Weg: Ella und Oscar (Peterson schrieb auch das Vorwort zum Buch), Prez und Lady Day, Basie und Ellington, Bird und King Cole … und sie alle haben ihren Platz in einer neuen Biographie, vorgelegt von Tad Hershorn, seines Zeichens einer der Mitarbeiter des Institute of Jazz Studies an der Rutgers University und somit an der Quelle jeder Menge Archivmaterials zur Jazzgeschichte.

Hershorn beginnt sein Buch mit der Anekdote, wie Granz und die Musiker seiner JATP-Tournee 1947 in Jackson, Michigan, an einem leeren Restaurant anhielten, dessen Besitzer sich weigerte die Musiker wegen ihrer Hautfarbe zu bedienen. Sie saßen dann drei Stunden hungrig lang am Tresen des Restaurants und begannen ihr Konzert entsprechend eine Stunde zu spät. Granz stellte sicher, das Konzert wie immer mit der amerikanischen Nationalhymne beginnen zu lassen, ging dann ans Mikrophon, erklärte die Verspätung und nannte auch den Namen des Restaurants. Nach dem Konzert rief er seine Anwälte an und ließ den Besitzer verklagen.

Diese Geschichte ist es, die Tad Hershorn erzählen will: die Geschichte eines jüdischen Sohns russischer Immigranten, der sich alles selbst beigebracht hatte: die Geschäftstüchtigkeit genauso wie den Sinn für die schönen Dinge des Lebens. Als er 21 Jahre alt war, erzählt Granz, hörte er Coleman Hawkins’ Aufnahme von “Body and Soul” und war gefangen. Er ging in die Clubs von Los Angeles, reiste nach New York und besuchte Minton’s und die anderen Spielorte in Harlem, in denen er nicht nur authentischen Jazz hörte, sondern auch die Entwicklungen mitbekam, die in jenen Jahren den Bebop entstehen ließen, freundete sich mit Musikern wie Roy Eldridge oder Billie Holiday an und hatte wohl auch eine schwarze Freundin.

Hershorn erzählt, wie Granz 1944 das erste Jazz at the Philharmonic-Konzert organisierte, nachdem er zuvor bereits Jam Sessions veranstaltet hatte. Es war ein Benefizkonzert zur Unterstützung der Verteidigung in einem Jugendgerichtsfall, der damals Los Angeles aufwühlte und für den auch bekannte Schauspieler sich mit ihrem Namen einsetzten. Das Konzert fand im Philharmonic Auditorium statt, und der Name blieb, später abgekürzt zu JATP, Markenzeichen und stilistische Beschreibung in einem. Der Armed Forces Radio Service durfte das Programm mitschneiden und gab ihm im Gegenzug die Masterbänder. Die begeisterten Granz so sehr, dass er sich entschloss, sie auf Platte herauszubringen – die ersten kommerziell veröffentlichen Live-Mitschnitte.

In den folgenden Jahren wurde JATP zum großen Publikumserfolg: ein ganz neues Genre der Jazzpräsentation, nicht zum Tanz, sondern zum Hören und Miterleben von virtuosen instrumentalen Wettstreiten. Das gefiel nicht jedem, aber für die Beteiligten – die Musiker genauso wie für Granz – war es ein gutes Geschäft. Nebenher produzierte er mit Gijon Mili den Kurzfilm “Jammin’ the Blues”, engagierte sich für Bürgerrechte, indem er die NAACP unterstützte, und gründete sein erstes Jazzlabel, Clef Records. Hershon erzählt von den Problemen, die granz mit Veranstaltern hatte, die weder die Ästhetik der JATP-Gruppen verstanden (viel Soli, wenig Arrangements) noch sich mit seinen Integrationsbemühungen abfinden konnten. Als er Ende der 40er Jahre Ella Fitzgerald und Oscar Peterson in seine Tourgruppe aufnahm, erhielt das Ensemble umso mehr an Popularität. 1951 brachte er JATP erstmals nach Europa. Er gründete ein zweites Label, Norgran, und schließlich jenes Label, das einem am ersten in den Sinn kommt, wenn man seinen Namen hört – auch weil es immer noch eine Marke ist: Verve. Granz’s große LP-Projekte in den 50er Jahren waren etwa Alben mit Fred Astaire, Solo- und Small-Group-Sessions mit Art Tatum, seine Charlie-Parker-Einspielungen mit Band, Orchester oder Streichern, die Songbooks von Ella Fitzgerald, Aufnahmen mit Billie Holiday und und und…

Hershorn listet all diese Aktivitäten auf und würzt sie mit Interviewausschnitten mit Musikern, Kollegen, Veranstaltern. So zitiert er beispielsweise aus unveröffentlichten Briefen, in denen Granz sich gegenüber dem New York Times-Kritiker John S. Wilson etwa über das unkollegiale Bühnenverhalten Frank Sinatras beklagt, der auf der Bühne rassistische Witze reiße und Ella und Basie in ihre eh viel zu kurz bemessenen Auftritte hineinregiere. Er beleuchtet Granz’s Verhältnis zu Journalisten, seine geschäftlichen Bandagen, die durchaus hart sein konnten, immer wieder sein vehementes Eintreten für Bürgerrechte, seine Freundschaft zu Pablo Picasso und seine Sammelleidenschaft für moderne Kunst. Eigentlich hatte Granz sich 1960 aus dem Plattengeschäft zurückgezogen. Als er 1973 ein JATP-Konzerte in Santa Monica mitschneiden ließ, interessierte sich die Polygram in Hamburg dafür und bot ihm an ihn zu unterstützen, wenn er ein neues Label gründen würde. Granz überlegte ein wenig, realisierte dann, dass seine legendären Aufnahmen mit Tatum aus den 1950er Jahren schon lange nicht mehr auf dem Markt waren, dass es eine Sünde sei, dass jemand wie Sarah Vaughan seit fünf Jahren nicht mehr ins Plattenstudio gegangen sei und entschied sich mit Pablo Records ein neues, nicht minder erfolgreiches und stilbildendes Label ins Leben zu rufen.

Bis zum Ende blieb Granz ein eigensinniger, in seinem Geschmack und seinen Qualitätsvorstellungen sehr klarer, politisch aktiver Mensch. Hershorns Buch erzählt diese Geschichte aus der Praxis des Musiklebens faktenreich und dennoch unterhaltsam und spannend zu lesen. Sorgfältig recherchiert ist “Norman Granz. The Man Who Used Jazz for Justice” ein wunderbares Buch, durch das man einmal mehr versteht, dass es manchmal einfach eines starken Menschen bedarf, um Impulse zu setzen, um Träume wahr werden zu lassen, um aus Ideen Erfolge zu machen.

Wolfram Knauer (November 2011)


Let’s Play Jazz. Einführung ins Jazzspiel für Klavier. Spielstücke in verschiedenen Jazz-Stilen und Improvisationsanleitungen
von Andreas Hertel
Wien 2011 (Doblinger)
51 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 979-0-012-200314

Andreas Hertels versteht “Let’s Play Jazz” als “Spielbuch für die Mittelstufe oder auch als Einstieg ins Leadsheet-Spiel und in die Improvisation”. Das Buch enthält 15 einfache Arrangements etwa über den Blues, Swingthemen, Rhythm-Changes, Balladen, über Bebop und ungerade Rhythmen bis Soul-Jazz und Bossa Nova. Jedem Arrangement folgen – auf Deutsch wie Englisch – Erläuterungen, Übungen und Improvisationstipps. Von einzelnen Stücken gibt es zusätzlich “vereinfachte” Fassungen des Arrangements. Hertel gibt Hinweise auf harmonische, melodische und rhythmische Besonderheiten. Eine beiheftende CD gibt zusätzlich einen Klangeindruck des im Heft Enthaltenen.

Wolfram Knauer (November 2011)


Louis Armstrong’s Hot Five and Hot Seven Recordings
von Brian Harker
New York 2011 (Oxford University Press)
186 Seiten, 16,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-538840-4

Brian Harker promovierte 1997 mit einer musikwissenschaftlichen Arbeit über Louis Armstrongs frühe musikalische Entwicklung. Für die neue Reihe des Verlags Oxford University Press mit Monographien zu bedeutenden Aufnahmen oder Aufnahme-Bündeln hat Harker jetzt ein Buch über Louis Armstrongs Hot Five und Hot Seven vorgelegt, das zweifellos als analytisches Standardwerk zur Musik Armstrongs bezeichnet werden darf.

Harker geht es nicht darum, die in der Jazzgeschichtsschreibung fast schon tot getrampelten Komplimente des Trompeters als ersten großen Solisten, als Erfinder und Innovator zu wiederholen, sondern er sieht ihn zugleich als einen Verdichter jazz- und popmusikalischer Entwicklungen seiner Zeit. Die Auswahl der von ihm analysierten Stücke soll unterschiedliche Aspekte in Armstrongs Werk aufzeigen helfen. In “Cornet Chop Suey” etwa stellt er die Virtuosität des Trompeters heraus und ordnet diese zugleich in Armstrongs Lebenswirklichkeit als auf Effekt achtender Bühnenkünstler ein. In “Big Butter and Egg Man” konzentriert er sich auf Armstrongs Art der Melodiebildung, auf motivische Beziehungen der Phrasen, die sein Solo zusammenhalten. Im “Potato Head Blues” zeigt er, wie Armstrong harmonie-basierte Soli angeht und über ihnen lange, zusammenhängende Linien erfindet. Der “S.O.L. Blues” sowie der “Gully Low Blues” zeigen Armstrong als Spezialisten für hohe Töne. Im “Savoy Blues” steht der Blues im Vordergrund der analytischen Betrachtung, den Armstrong mit farbigen Harmonisierungen ausschmückte. Der “West End Blues” schließlich ist die wohl klassischste aller klassischen Aufnahmen Satchmos, dessen Solo ein jeder Trompeter – und nicht nur Trompeter – über Jahrzehnte auswendig spielen konnten. Hier geht es Harker um die strukturelle Einheit, die Armstrong erreicht, obwohl er sich im Verlauf des Stücks einer ganzen Menge sehr unterschiedlicher stilistischer Vokabeln bedient.

Harker gelingt es in seinen Analysen, das Ohr des Lesers immer wieder auf konkrete klangliche Ereignisse zu lenken, innezuhalten und zu fragen, woher bestimmte musikalische Entscheidungen stammen, in welchem – auch kulturellen – Kontext sie zu hören sein könnten. Die musikalische Analyse und die Notenbeispiele, die Harker seinem Buch beifügt, sind dabei auch für den musikwissenschaftlichen Laien verdaubar, da der Autor immer klarmacht, wieso er sich ins Analysieren begibt und wie sich die Ergebnisse ins Gesamtbild seiner Argumentation einpassen.

Armstrong, schreibt Harker, war sich der Entwicklung des Jazz durchaus bewusst, nicht nur der Fähigkeit dieser Musik, Neues einzubeziehen, sondern auch der Notwendigkeit, die Stilistik dem Zeitgeist anzupassen. Wer auch immer die Hot Five- und Hot-Seven-Aufnahmen als “reinen Jazz” verstünde, authentisch und kommerziell unverfälscht, der höre nicht genau hin – und genau auf diese Momente der Entwicklung und der Reaktion Armstrongs auf musikalische Zeitgeschichte und Markt weist Harker in seinem Buch hin. Armstrong selbst seien seine Hot-Five-Aufnahmen bei weitem nicht so wichtig gewesen wie andere, kommerziell populärere Projekte. Selbst in seiner Karriere in den 20er Jahren hätten diese Aufnahmen nur einen kleinen Teil seiner Arbeit ausgemacht. Dennoch bieten sie vielleicht gerade deswegen, weil sie nicht als “Meisterwerke” angelegt waren, den Blick in die Werkstatt des Künstlers, in sein improvisatorisches Denken und sein ästhetisches Selbstverständnis.

Wolfram Knauer (Oktober 2011)


New Atlantis. Musicians Battle for the Survival of New Orleans
von John Swenson
New York 2011 (Oxford University Press)
284 Seiten, 27,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-975452-6

Als Ende August 2005 der Hurricane Katrina die Golfküste der Vereinigten Staaten erreichte, war dies eine der größten und nachhaltigsten Naturkatastrophen des Landes. Aber die Natur war nicht der einzig Schuldige an den Auswirkungen des Sturms. Die behördlichen Fehlleistungen in der Vorbereitung auf das Ereignis, während des Sturms und bei der Aufarbeitung der Schäden hatten mindestens genauso große Auswirkungen, sowohl ganz direkt auf das Leben und die Befindlichkeit der Betroffenen als auch indirekt am Verlust an Vertrauen in den Staat und seine Fähigkeit, den eigenen Bürgern zu helfen.

John Swenson dokumentiert in seinem Buch, wie Kultur und insbesondere die Musik im Zuge des größten Durcheinanders, der größten Unsicherheit, den Einwohnern von New Orleans Halt bot, wie New-Orleans-Musik, die schon immer stark in die Bürgergemeinschaft verankert war, auch jetzt wieder eine konkrete Funktion erhielt, die nämlich, das Überleben der Stadt zu sichern, den Menschen Hoffnung zu geben und die durch Sturm und Verwaltung verletzte Identität der Einwohner wiederherzustellen.

Swensons Ansatz ist zuallererst das Gespräch, die persönliche Betroffenheit. Er unterhält sich mit den Bürgern der Stadt, fragt sie nach ihren Erfahrungen, ihren Sorgen, nach Strategien, die sie nach Katrina entwickelten, um selbst und mit ihren Familien überleben zu können. Vor allem spricht er mit Musikern, Glen David, James und Troy Andrews etwa, Dr. John, Leroy Jones, Irvin Mayfield, Dr. Michael White und anderen. Es geht nur selten um den Sturm an sich, vor allem stattdessen um die durch Sturm und Nachwirkungen entstandenen Schäden materieller genauso wie physischer oder psychischer Natur. Wo die Behörden nicht halfen, musste man sich selbst helfen, das war allen Bürgern der Stadt am Mississippi bald deutlich. Die Arabi Wrecking Krewe etwa war ein Zusammenschluss von Musikern und Freunden, die sich gegenseitig bei Reparaturarbeiten oder dem Wiederaufbau ihrer Häuser halfen.

Die Stadt wieder bewohnbar machen war eine Sache, Spielorte wieder bespielbar machen eine andere. Wobei es bei letzteren erst einmal gar nicht ums Geldverdienen ging, sondern einfach ums Wohlfühlen, ums Erhalten der kulturellen Identität einer Stadt, die von aller Welt als dem Untergang geweiht gesehen wurde.

Swensons Buch ist keine Sozialstudie, sondern der Versuch, die Stimmung zwischen Enttäuschung und Zuversicht, zwischen Verlassensein und Selbsthilfe einzufangen und dabei die Rolle der Musik besonders zu betrachten. Er schildert die Frustration, die Unterbrechung des armen aber glücklichen Alltags, die Ängste, die Realitätschecks, denen ein jeder sich unterziehen musste, um zu entscheiden, ob die untergegangene Stadt es Wert sei, für sie zu kämpfen. Vor allem zeichnet er die Kreativität nach, die in dieser Stadt selbst in Zeiten größter Not steckt. Er benennt auch Kriminalität und die Gewalt, die die Straßen von New Orleans in den Post-Katrina-Jahren prägten und der Musiker wie die Andrews-Familie ganz bewusst Positives entgegensetzen wollten.

Neben der Schilderung der Einbindung von Musik ins soziale Gewissen der zu reparierenden Stadt ist vielleicht Swensons Vorstellung einer “post-Katrina music” die faszinierendste Erkenntnis seines Buchs. Hier spürt man gleichsam, wie etwas zuvorderst Nicht-Musikalisches zu musikalischem Neuland wird, das aber – man ist schließlich in New Orleans –an jeder Stelle die Verbindung zur Tradition behält. Swenson’s case-in-point sind etwa Trombone Shorty oder Leroy Jones. “New Atlantis” ist die Geschichte einer kurzzeitig unterbrochenen Beziehung zwischen Musikern und ihrer Stadt, die sie sich zurückeroberten, indem sie musikalisch in sie investierten. Und als der Autor gerade bei der Hoffnung auf eine bessere Zukunft angekommen ist, beendet Swenson sein Buch mit der Deepwater-Hiorizon-Tragödie vom April 2010, die zeigt, das Kämpfen allein nicht weiterhilft: Man muss weiter-kämpfen!

Wolfram Knauer (Oktober 2011)


Begegnungen. Wie der Jazz unsere Herzen gewann
herausgegeben von Klaus Neumeister & Lutz Eikelmann
Norderstedt 2011 (Sonrrie)
414 Seiten, 28,50 Euro
ISBN: 978-3-936968-19-4

Jazz ist immer noch eine Musik der Passion – sowohl die Musiker wie auch die Fans haben ihre eigene, oft sehr persönliche Beziehung zu dieser Musik aufgebaut. Von diesen Beziehungen handelt das Buch, das Klaus Neumeister und Lutz Eikelmann zusammengestellt haben und in dem Musiker genauso wie Jazzfans zu Worte kommen. Die Frage “Wie kamst Du zum Jazz” ist dabei für viele der Ausgangspunkt, daneben aber wird auch von einschneidenden Begegnungen mit großen Musikern erzählt, von besonderen Konzerterlebnissen, von einflussreichen Plattenaufnahmen.

Neben gestandenen Jazzmusikern wie Reimer von Essen, Ladi Geisler, Abbi Hübner, Peter ‘Banjo’ Meier, Hawe Schneider, Gerhard Vohwinkel oder Thorsten Zwingenberger finden sich so der Entertainer Götz Alsmann, der Filmemacher Marc Boettcher, der Betreiber des Berliner Yorkschlösschens, Olaf Dähmlow oder der Manager Hans-Olaf Henkel; weitere Erinnerungen stammen von Fans dieser Musik, von fleißigen Konzertgängern, von Sammlern – 66 Autoren insgesamt, die das dicke Buch zu einer Art Erinnerungsalbum des Jazz in Deutschland machen. Nun ja, man muss diesen Satz vielleicht ein wenig einschränken: Die meisten der Autoren sind vor allem mit dem Jazz zwischen New Orleans und Swing vertraut und diesem verbunden, etliche gehören zur Hamburger Szene, die lange Zeit bis heute als Hochburg des traditionellen Jazz in Deutschland gilt. Abbi Hübner beschreibt die Verbundenheit der Hamburger Musiker mit der Musik aus jener anderen Hafenstadt, New Orleans, sehr schön in verschiedenen seiner Kapitel in diesem Buch. Und verschiedene recht ausführliche Kapitel über Ken Colyer machen den Einfluss der britischen Trad-Scene auf viele der Bands im Norden Deutschlands verständlich.

Es geht hier also nicht um den modernen Jazz, der natürlich genauso die Herzen vieler Jazzfreunde erobert hat. Diese stilistische Beschränkung aber macht durchaus Sinn, handelt es sich bei dieser Sammlung von Erinnerungen doch auch um die Beschreibung einer recht klar umgrenzten “Szene”, die sich durch die vielen kreuzenden Wege und Erfahrungen, durch Erinnerungen daran, was einen denn persönlich zuerst am Jazz faszinierte, noch besser fassen und definieren lässt. Doch ist das Buch weit entfernt davon, eine nüchterne und systematische Szenebeschreibung zu sein. Es liefert Material zum “Gefühl” einer Szene, es versucht die Atmosphäre zu umreißen, die so viele junge Menschen faszinierte. Und es lässt ein wenig Wehmut aufkommen, dass diese Faszination denn doch oft in der Vergangenheit liegt.

Auch diesem Thema aber widmen sich die Autoren zum Schluss des Buchs, wenn Reimer von Essen etwa darum wirbt, junge Menschen sowohl fürs Ausüben als auch für den Genuss des alten Jazz zu begeistern, wenn Lutz Eikelmann auf junge Musiker und Bandleader hinweist, die in den 50er, 60er und 70er Jahren geboren wurden, und wenn Klaus Neumeister wohlwollend kritisch auf den traditionellen Jazz zwischen Amateurstatus und Professionalismus schaut.

Ein sehr persönliches, in den unterschiedlichen Ansätzen sehr abwechslungsreiches und allein schon deswegen lesenswertes Buch.

PS: Der Vollständigkeit halber sollte erwähnt werden, dass auch der Autor dieser Zeilen mit einem kurzen Bericht über seinen ersten Besuch in New York und seine Jazzeindrücke des Big Apple im Buch vertreten ist.

Wolfram Knauer (Oktober 2011)


Traditional New Orleans Jazz. Conversations With the Men Who Make the Music
von Thomas W. Jacobsen
Baton Rouge 2011 (Louisiana State University Press)
244 Seiten, 9,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8071-3779-6

New Orleans lebte immer davon, dass Musik in dieser Stadt mehr war als nur eine schöne Nebensächlichkeit. Bis heute hat Musik in New Orleans klare Funktionen innerhalb der Bürgergemeinschaft, bis heute ist Musik für die Bürger der Stadt identitätsstiftend. Und bis heute gibt es in New Orleans keinen Mangel (a) an Publikum und (b) an Musikernachwuchs, wobei die meisten der jungen Musiker sehr bewusst Bezug auf die lange Tradition des Jazz in ihrer Stadt nehmen.

Thomas W. Jacobsen stellt in seinem Buch neunzehn Musiker vor, die für die traditionelle Jazzszene in New Orleans um die Jahrtausendwende stehen. Die meisten seiner Interviews wurden ursprünglich in der Zeitschrift “The Mississippi Rag” veröffentlicht; Jacobsen hat sie für das Buch um knappe Vorworte ergänzt, in denen er die Aktivitäten der betreffenden Musiker seit der Veröffentlichung seiner Interviews referiert.

Durchwegs alle der Gespräche sind überaus lesenswert, egal ob Jacobsen sich mit Veteranen unterhält wie Lionel Ferbos oder Jack Maheu oder mit den jungen Wilden des Stils, Irvin Mayfield etwa, Evan Christopher oder Duke Heitker. Höhepunkte sind etwa das lebendige Gespräch mit Mayfield, der zum Zeitpunkt des Interviews gerade mal 18 Jahre alt war, allerdings bereits recht klare Vorstellungen davon hat, welches professionelle Ethos er als Jazzmusiker verfolgen muss, oder die Interviews mit Lucien Barbarin, Leroy Jones, Herlin Riley, Gregg Stafford, Joe Torregano und Dr. Michael White, deren musikalische Lebensgeschichten sich in ihrer Jugend alle in der Fairview Baptist Church Christian Band kreuzten, in der Danny Barker den Jugendlichen Lust auf die musikalischen Traditionen ihrer Heimatstadt machte und sie ermunterte, innerhalb dieser Traditionen ihren eigenen Weg zu finden.

Was am meisten fasziniert bei der Lektüre ist die Ernsthaftigkeit, mit der die Protagonisten ihre künstlerische Ästhetik verfolgen, eine Ästhetik, die manchmal dem Erfolg des Kommerzes untergeordnet werden muss (der in den meisten Fällen den Namen “Dukes of Dixieland” trägt), aber immer im Hintergrund des künstlerischen Anspruchs mitschwingt. Die Identifizierung dieser künstlerischen Ästhetik des New Orleans Jazz um die Jahrtausendwende ist das Verdienst der so einfühlsam geführten Gespräche, die, im Buch zusammengefasst, einen ganzen Stil umreißen, von der Spielhaltung über technische Details bis hin zur Situation der Szene in den 1990er, frühem 2000er Jahren. Katrina spielt in den Vor- und Nachworte Jacobsens eine Rolle, in denen er nicht versäumt zu erwähnen, wie der Hurrikane im Jahr 2005 die einzelnen portraitierten Musiker betroffen hat. Und neben den amerikanischen Vertretern des Stils kommen mit Clive Wilson, Brian Ogilvie und Trevor Richards auch Nicht-Amerikaner zu Worte, die sich zumindest für eine Zeitlang in New Orleans niederließen. Trevor Richards Zusammenfassung des Einflusses von Schlagzeuggrößen wie Zutty Singleton, Cozy Cole, Big Sid Catlett oder Chauncey Morehouse ist dabei besonders lesenswert.

Eine kurzweilige, überaus lehrreiche Lektüre über eine lokal-regionale Szene, die bis heute nichts an ihrer Lebendigkeit und ihrer Bedeutung für die Jazzentwicklung verloren hat.

Wolfram Knauer (September 2011)


Music In My Soul
von Noah Howard
Köln 2011 (buddy’s knife)
148 Seiten, 18 Euro
ISBN: 978-3-00-034401-5

Der Saxophonist Noah Howard verstarb im September 2010 im Alter von 67 Jahren in Südfrankreich. Wenige Tage vor seinem Tod schrieb er die letzten Worte seines autobiographischen Manuskripts, das Renata Da Rin jetzt in ihrer Buchreihe buddy’s knife herausgebracht hat.

Howard beginnt seine Erinnerungen mit den kulturellen Einflüssen seiner Heimatstadt New Orleans und der frühen Faszination, die er für Kultur und Musik aus aller Welt empfunden habe. Er war ein wissensdurstiges Kind und wollte die Welt entdecken, und seine Eltern, die nie weit über die Stadtgrenzen hinausgekommen waren, unterstützten seine Neugier. In New Orleans hörte er natürlich viel Musik, erinnert sich an R&B-Bands wie die von Fats Domino (die sein Cousin managte) und an Louis Armstrongs Besuch, als er zum King of Zulus gekürt wurde. Howard ging aber auch zu allen großen Konzerten der Stadt und hörte Live-Übertragungen im Radio. Und er begann Trompete zu spielen.

In seiner Jugend habe er eigentlich keine Diskriminierung gespürt, schreibt Howard, als aber in den späten 1950er Jahren die Bürgerrechtsbewegung Fahrt aufnahm, sorgten sich seine Eltern um ihn und ermutigten ihn, zum Militär zu gehen. In Kalifornien nahm aber die Trompete wieder auf, entschied sich aber irgendwann, sie gegen ein Altsaxophon einzutauschen. Er hörte John Coltrane und Ornette Coleman und erhielt eines Tages das Angebot, mit Rashied Ali zu spielen. Howard zog nach New York und beschreibt anschaulich die lebendige kulturelle und politische Szene dieser Stadt in den 1960er Jahren. Er erzählt von Konzerten mit Sun Ra, von seiner Freundschaft mit Charles Mingus und Albert Ayler und von seiner Zusammenarbeit mit Frank Wright.

1969 reiste Howard zum ersten Mal nach Europa, spielte auf verschiedenen Festivals und nahm Platten für das französische BYG-Label auf. Er wurde Teil der Expatriate-Szene zeitgenössischer schwarzer Musiker, die sich in jenen Jahren in Paris niederließen, und er erzählt, wie er im täglichen Engagement im Club Le Chat Qui Pêche sein eigenes Repertoire entwickeln und seinen eigenen Ton finden konnte. Erroll Garner sei einmal in den Club gekommen, habe zugehört und ihn ermutigt: Bleib dran, spiel die Phrasen und Stücke immer wieder, irgendwann werden die’s verstehen! Howard erzählt von Reisen und Konzerten in den 1970er Jahren und von der Reaktion des Publikums in verschiedenen europäischen Ländern. 1982 zog es ihn nach Kenia, wo er seine zukünftige Frau kennenlernte. Mit ihr zog er schließlich nach Antwerpen. Seite Ende der 1990er Jahre spielte er wieder öfter in den Vereinigten Staaten, nach der Jahrhundertwende reiste er auch in den Nahen Osten und nach Indien. Bei all seinen reisen besuchte er auch seine Heimatstadt New Orleans, und die Wüt über die Untätigkeit der Behörden bei der Rekonstruktion der Stadt nach Hurricane Katrina ist in seinen Zeilen greifbar.

Das Schlusskapitel ist überschrieben “Musikalische Reflektionen” und beschäftigt sich mit der Ästhetik des Jazz, mit Komposition und Improvisation, mit seinen Einflüssen und mit von ihm als herausragend gesehenen Platten. Es schließt mit den Worten “The End … for Now”. Nicht einmal zwei Wochen später starb Noah Howard, völlig unerwartet, an einer Hirnblutung. Seine Witwe ergänzt ihre Erfahrungen dieser letzten Tage in ihrem bewegenden Nachwort.

Noah Howards Autobiographie ist seine Lebensgeschichte, aber sie erklärt auch manches über die afro-amerikanische “Free-Jazz-Szene”, die Ende der 1960er Jahre in Europa Fuß fasste. Die Herausgeberin Renata Da Rin hat Howards Worte um Erinnerungen von Kollegen und Freunden des Saxophonisten ergänzt. Eine Diskographie schließt das Buch ab, das außerdem etliche seltene und private Fotos enthält. Noah Howard gelingt es in seiner Autobiographie einen sehr persönlichen Einblick in die Entwicklung und die ästhetischen Entscheidungen eines Musikers zu geben, der selbst mitmischte bei der Ausbildung experimenteller Spielformen im freien Jazz und der bis zuletzt neugierig und musikalisch offen blieb.

Wolfram Knauer (September 2011)


The Album Cover Art of Studio One Records
herausgegeben von Steve Barrow & Stuart Baker

London 2011 (Soul Jazz Books)
197 Seiten, 30 Britische Pfund
ISBN: 978-0-9554-817-7-2

Das von von Clement Dodd gegründete Label Studio One war eines der wichtigsten Plattenlabels für jamaikanische Musik der Nachkriegszeit. Dodd war in den 1950er Jahren zu den wichtigsten Musikproduzenten Jamaikas geworden. Nach der Unabhängigkeit des Landes gründete er das Label Studio One Records. Das vorliegende Buch erzählt in einem lesenswerten Aufsatz die Geschichte des Labels zwischen Jazz, R&B und Reggae, um dann vor allem – es handelt sich um ein großformatiges Fotobuch – die Plattencover abzubilden, die zum Teil exotisch wirken, zum Teil nostalgisch und zum Teil hochmodern.

Ein wenig scheint in den Fotos und grafischen Zusammenstellungen, in der Farbgebung und natürlich in der Mode der abgebildeten Künstler ein Selbstverständnis durch, das irgendwo zwischen Selbstbewusstsein und Hipness liegt. Einige der Alben wirken fast schon militant (das Silkscreen-Cover des “Best of Bob Marley”-Albums etwa), andere strahlen die Atmosphäre von Partymusik aus. Tanzende Schattenmenschen sind auf einem Cover für “Ska-au Go-Go” zu sehen, die Schatten von Palmen vor einem Vollmond auf “Carib Soul”. Einige der Coverfotos wirken wie Passbilder (Freddie McKay), andere wie gestellte Fashion-Shots (The Cables). Gestellte Aufnahmen am Seerosenteich in Multicolor (Winston Francis) stehen neben körnigen Schwarzweißfotos von Konzerten (The Gladiators), ein freier Männeroberkörper (Devon Russell) neben einem Minirock (Jerry Jones). Die Dub-Alben des Labels haben ihre ganz eigene, eher grafisch ausgerichtete Ästhetik mit Cartoons und kaligraphischen Spielereien. Die Calypso-Alben strahlen auch visuell gute Laune aus, die Gospel-Alben dagegen Ruhe und manchmal eine seltsame Heiligkeit (Sri Chinmoy). Die thematischen Showcase-Alben schließlich mischen die Elemente, bringen die Atmosphäre von Tanzclubs in Kingston rüber (“Partytime in Jamaica”) oder an die Simpsons erinnernde Karikaturen, allerdings aus dem Jahr 1963 (“Dance Hall ’63”).

Natürlich kriegt man beim Durchblättern Lust auf die Musik (eine Auswahl derer das Soul Jazz Label parallel veröffentlicht hat), und noch mehr sehnt man sich nach Secondhand-Plattenläden, in denen solche und ähnliche LPs, etwas abgegriffen in den Regalen stehen, in denen man wühlt und aus den bunten Plattenhüllen die Lust auf das Entdecken neuer Musik gewinnt.

Ach, was ist uns verloren gegangen, seufzt man, an die LP-Ära zurückdenkend und berührt dann mit der linken Hand den Bildschirm des drahtlos mit der Stereoanlage verbundenen iPhones, um im Shuffle-Modus zum nächsten Stück zu gelangen, in eine andere Vergangenheit oder in eine andere Gegenwart.

Wolfram Knauer (September 2011)


Jazz i Danmark, 1950-2010
herausgegeben von Olav Harsløf & Finn Slumtrup
Kopenhagen 2011 (Politikens Forlag)
624 Seiten, 450 Dänische Kronen
ISBN: 978-87-567-9565-4

Der dänische Kritiker Erik Wiedemann legte 1982 seine ausführliche Studie über die Frühzeit des Jazz in Dänemark vor, die etwa Ende der 1940er Jahre schloss. Wiedemanns Buch war aus seiner musikwissenschaftlichen Dissertation heraus entstanden und wandte sich damit durchaus auch an ein Spezialpublikum. Olav Harsløfs und Finn Slumptrups imposantes Opus über 60 Jahre dänischer Musikgeschichte von 1950 bis 2010 will den Bogen von Wiedemanns früherer Arbeit bis ins Jetzt schlagen.

Das Buch ist zugleich Lexikon und Geschichtsschreibung, betrachtet die Entwicklung des Jazz in Dänemark aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln. Biographische Kapitel, Notizen über wichtige Aufnahmen, Portraits von Clubs oder Festivals, ein Blick in die Studios oder hinter die Kulissen der Plattenfirmen, der dänische Rundfunk mit Programm und Bigband, die vielen Amerikaner, die sich in Kopenhagen niederließen und ihren Einfluss hinterließen, Traditionalisten und Avantgardisten, alter Heroen und junge Wilde – ihnen allen wird in diesem Buch Tribut gezollt; sie alle werden in die dänische Jazzgeschichte(n) einsortiert. Das wirkt manchmal etwas unübersichtlich und macht das Lesen durchaus schon mal mühselig, aber dann ist dieses sechshundertseitige Werk vielleicht auch nicht wirklich ein Buch zum Schnell-Mal-Durchlesen als vielmehr ein Buch zum Nachschlagen. Und so tun die Autoren gut daran, ihre Kapitel kurz zu halten und in vielen Unterkapiteln zu sortieren, die es dem Leser erlauben, sich Informationen, Geschichten, Geschichte so herauszuklauben, wie er es gerade möchte. Papa Bue? John Tchicai? Pierre Dørge? Niels-Henning Ørsted Pedersen? Svend Asmussen? Wer auch immer auf der dänischen Jazzszene der letzten 60 Jahre seine Spuren hinterließ, wird irgendwo und irgendwie erwähnt. Es findet sich unglaublich viel an Detailinformationen in den Seiten, auch zu Facetten, an die man zuerst vielleicht gar nicht denkt: die Behandlung des Jazz in der tagesaktuellen Presse etwa, Jazzzeitschriften, die Jazzpädagogik oder ganz allgemein die Jazzwirtschaft des Landes. Beim Querlesen fehlt wenn überhaupt vielleicht eine Darstellung der öffentlichen Förderung von jazz in Dänemark – eine für Dänen, für die dieses Buch vor allem verfasst wurde, vielleicht selbstverständliche Information, die aber vor allem für Nicht-Dänen interessant wäre. Die allerdings, das sei gleich zugegeben, werden wahrscheinlich eh nicht genügend dänische Sprachkenntnisse haben.

Die einzelnen Kapitel wurden von verschiedenen Autoren verfasst – und diese Unterschiedlichkeit merkt man sowohl im Stil als auch im Ansatz an ihr Thema. Tore Mortensen und Ole Izard Hoyer nehmen sich die 1950er Jahre vor, Kjelt Frandsen die 1960er, Jens Jørn Gjedsted die 1970er, Christian Munch-Hansen die 1980er und Ole Mathiessen die 1990er Jahre. Für die Jahre nach der Jahrtausendwende ist der historische Abstand zu gering, und so entschieden die Herausgeber hier zu einer Art Kolloquium aller mitwirkenden Autoren. Am Schluss ergänzt Erik Raben das ganze mit einer Diskographie wichtiger dänischer Aufnahmen. Und wie es sich für ein solches Übersichtswerk gehört, erschließt ein umfangreicher Namensindex das Buch für all diejenigen, die in den über 600 Seiten nach detaillierter Information suchen.

Eine wichtige Ergänzung zur Dokumentation der europäischen Geschichte des Jazz.

Eine ausführliche Diskographie zum dänischen Jazz verfasst vom namhaften dänischen Diskographen Erik Raben findet sich als Ergänzung zum Buch auf der Website www.jazzdiscography.dk.

Wolfram Knauer (September 2011)


Zwischen den Strömungen. Mein Leben mit dem Jazz
von Karlheinz Drechsel (herausgegeben von Ulf Drechsel)
Rudolstadt 2011 (Greifenverlag)
352 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-86939-005-5

Geschichte entsteht aus Erinnerungen, und so bedarf jede Art von Geschichtsschreibung der Sammlung von Erinnerungen. Wie wir aus der leidvollen Vergangenheit unseres Landes wissen, wird die Sammlung von offenen Erinnerungen aber oft genug durch politische Bedingungen begrenzt, und es dauert eine Weile, bis das, was anderswo den gesellschaftlichen und kulturellen Prozess begleitet, auch publizistisch nachgeholt wird. Es ist ja nicht so, dass die Erinnerungen nicht da wären oder dass die Erinnerungen innerhalb der jeweiligen Gruppen nicht ausgetauscht würden. Nur sind sie für Außenstehende noch Jahre post-faktum scheinbar reines Insiderwissen und werden, wenn sie endlich gesammelt und veröffentlicht werden, mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Der Jazz in der DDR ist so ein Geheimthema, das bislang vor allem entweder total nüchtern, Ereignisse aufzählend, oder aber völlig emotional, die Wut und die Hoffnungen benennend. aufgearbeitet wurde, selten aber autobiographisch offen, mit dem Wissen oder wenigstens dem Ahnen um die Eingebundenheit des eigenen Seins ins System, in die alles bestimmende Gesellschaft.

Karlheinz Drechsel versucht in seinem Buch, das er im Dialog mit seinem Sohn, dem Jazzredakteur Ulf Drechsel verfasst hat, genau das: eine Bestandsaufnahme seines Lebens vor dem Hintergrund zweier totalitärer Regime, die ihn nicht davon abhielten, seine ganze Energie der von ihm so geliebten Musik zu widmen, die in beiden Regimen eher schlecht gelitten war. Er berichtet, wie er im Dresden der 1930er Jahre groß wurde, mit Freunden Swing-Platten hörte und Schlagzeug spielte. Er erzählt von den unterschiedlichen politischen Ansichten in der eigenen Familie, die ihm zumindest früh bewusst machten, dass es zu jeder Meinung auch eine Gegenmeinung gab. Er erzählt von den Bombenangriffen auf Dresden, vom Sich-Neu-Finden im von den Sowjets besetzen Gebiet, aber vor allem davon, wie ihn bei alledem der Jazz begleitet hatte. Selbst in seiner Abiturprüfung hielt er vor versammelter Klasse einen Vortrag zum Thema Jazz.

Er erzählt von ersten Live-Jazz-Erlebnissen, 1943 mit Ernst van’t Hoff, 1948 mit Bully Buhlan und dem RBT-Orchester. Vor allem erzählt er davon, wie er selbst die kulturpolitischen Beschränkungen der DDR-Führung wahrnahm, und wie er auch wegen seines Jazzinteresses ständig irgendwo zwischen den Welten pendelte, bereits als er beim Ostberliner Deutschlandsender (der damals noch im Haus des Rundfunks in Westberlin untergebracht war) ein Volontariat ableistete und abends in der Westberliner Badewanne Jazz hörte. Für den Sender produzierte er Anfang 1952 seine ersten eigenen Sendungen, zehnminütige Features über “Jazz des Volkes” – in der DDR wurde zu jener Zeit sehr genau darauf geachtet, ob die Musik ideologisch vertretbar war. Beim Sender wurde er kurz darauf gekündigt – wie er später aus seiner Stasi-Akte erfuhr, auch wegen seiner “Westkontakte”.

Zurück in Dresden bekleidete Drechsel eine Weile die Stelle eines Redakteurs für den Stadtfunk in Radebeul, der ähnlich wie in der Sowjetunion öffentliche Straßenbeschallung auf wichtigen Straßen, Plätzen, Haltestellen etc. vornahm. Er hielt Vorträge beim Dresdner Kulturbund, schrieb Kritiken, war als Nachrichtensprecher aktiv – wobei er mindestens zwei seiner Rundfunkjobs damals durch eigene Unachtsamkeit wieder loswurde, etwa durch einen Aprilscherz, den die Rundfunkleitung überhaupt nicht lustig fand.

1956 gehörte Drechsel zu den Mitbegründern der IG Jazz bei der FDJ in Dresden. Er spricht über den Streit mit Reginald Rudorf und über die hinter diesem Streit steckenden unterschiedlichen Ansichten über musikalische und gesellschaftliche Aspekte des Jazz. Hier wie auch anderswo gibt Drechsel freimütigen (und oft durchaus auch selbstkritischen) Einblick in die Zwänge und die Möglichkeiten, die es im “real existierenden Sozialismus”gab, erstens seiner Liebe, dem Jazz zu fröhnen, und zweitens irgendwo zwischen Radio, Jazz und ewigen Auseinandersetzungen mit der restriktiven politischen Führung sein eigenes Auskommen zu finden.

1958 zog Drechsel nach Ostberlin, wo er eine Anstellung als Regieassistent beim Rundfunk erhielt. Er spricht über Mauerbau und die erste Tournee des Albert Mangelsdorff-Quintetts durch die DDR (1964), über seine Kontakte zu Horst Lippmann, dessen American Folk Blues Festival er im selben Jahr in den Osten brachte, und über eine geplante Vortragsreise nach Westdeutschland, die von der einladenden Deutschen Jazz Föderation dann aber abgesagt wurde. Er beleuchtet, mit welchen Problemen man zu tun hatte, wenn man im Osten neue Schallplatten kommen wollte, spricht ausführlich über seine Rundfunkerfahrungen, die sich ja über Jahrzehnte erstreckt, über die Präsentation und Unterstützung ostdeutscher Festivals durch den Rundfunks der DDR, über eigene Veranstaltungen und über die Struktur der Kulturveranstalter, die in der DDR Jazz präsentierten. Und natürlich berichtet er über das Dixieland-Festival in Dresden, das er von Anfang an begleitete.

Ein eigenes Kapitel erhält der Besuch Louis Armstrongs, der 1965 eine Tournee durch die DDR machte, und Drechsels Erinnerungen bringen Satchmo vor allem als Privatmann näher, dem auf dieser Reise zum ersten Mal die Situation der nach Westen völlig abgeschlossenen DDR wirklich bewusst wurde und der Parallelen zur Geschichte des Rassismus in seinem eigenen Land sah. Drechsel wurde ein beliebter Moderator, sagte etwa das Konzert von Ella Fitzgerald im Friedrichsstadtpalast an, tourte mit britischen Trad Bands durchs Land, trat aber auch als Moderator von Veranstaltungen in Erscheinung, die wenig mit Jazz zu tun hatten, etwa beim Schlagerfestival der Ostseestaaten, und sogar bei einer Europameisterschaft im Gewichtheben und einem Hunderennen.

Drechsel war immer ein Mann des ganzen Jazz. Als Moderator war er bei Dixielandfreunden genauso angesehen wie bei Anhängern der freieren Musik. In einem eigenen Kapitel arbeitet er die Besonderheit des DDR-Jazz der 1970er Jahre heraus und diskutiert die musikalische Radikalisierung und Abkapselung auf beiden Seiten des musikalischen Spektrums, eine stilistische Einseitigkeit, die nie seine Sache gewesen sei. Er spricht von Uli Gumpert, Ernst-Ludwig Petrowsky, Günther Fischer, Hannes Zerbe, Manfred Schulze, Friwi Sternberg und anderen. Die Wolf-Biermann-Ausbürgerung ist Thema und ihre Auswirkung auf die Jazzszene, die damals als nonverbale Kunst weniger misstrauisch beäugt wurde als die Rockszene. 1970 fuhr Drechsel Oliver Nelson in einer Art Geheimaktion nach Leipzig, um ihm das Bach-Museum zu zeigen und ihn außerdem auf der Orgel der Thomaskirche spielen zu lassen. Drechsel selbst durfte immer mal wieder zu besonderen Veranstaltungen, etwa zu den Jazztagen, nach Westberlin. Erst 1983 gelangte er als Begleiter der Dixieland All Stars zum ersten Mal in die USA, das Geburtsland des Jazz – fünf Tage Sacramento und fünf Tage New York.

1989 fiel die Mauer, und Drechsel fand sich nicht nur im bald wiedervereinigten Deutschland, sondern auch in einem Land wieder, in dem er unter Journalisten plötzlich als Konkurrenz empfunden wurde.

Er erzählt von seiner schriftstellerischen Arbeit, den Büchern “Faszination Jazz” und “Jazz objektiv” und seiner Diplomarbeit, mit der er 1975 ein Fernstudium abschloss und die den Titel trug: “Studie über die kulturpolitische und künstlerische Spezifik des Jazz – seine historische Entstehung und Entwicklung – seine internationale Verbreitung und sein Stellenwert im Ensemble der Künste der DDR”. Er berichtet von der Sektion Jazz im Komitee für Unterhaltungskunst der DDR und von der Abhängigkeit der Künstler von der Politik, aber auch von den Verbesserung der Lebensbedingungen von Musikern in den letztem acht bis zehn Jahren der DDR.

Und er erzählt davon, wie er nach der Wende Akteneinsicht bei der Gauck-Behörde nahm. Anlass seien Gerüchte gewesen, er selbst habe sei als Stasi-Spitzel aktiv gewesen. Er sei erschüttert gewesen, sagt er, als ihm der Behördenmitarbeiter gleich zahlreiche Leitz-Ordner zur Einsicht vorlegte. Post- und Telefonüberwachung, Berichte von IM’s aus allen möglichen Arbeitszusammenhängen. In diesem Kapitel liest man vor allem von schweren Enttäuschungen darüber, dass selbst langjährige vermeintliche Freunde Berichte an die Stasi lieferten und ihn bei anderen Jazzfreunden diskreditierten. Wie nebenbei erinnert sich Sohn Ulf daran, dass, wenn Gäste aus Westberlin oder aus dem Bundesgebiet bei ihnen zu Hause waren, “eigentlich immer ein Kissen auf das Telefon gelegt” wurde.

Karlheinz Drechsels Lebenserinnerungen sind ein ungemein persönliches Buch geworden, das weit mehr erzählt als seine Jazzgeschichte. Es ist die Geschichte eines Mannes mit einer Passion, die er gegen alle Widrigkeiten verfolgte und der er bis heute treu blieb. Ulf Drechsel hat das Buch im Interviewstil belassen, mal chronologisch, mal thematisch geordnet. Es liest sich leicht, wie erzählt, und hinterlässt zugleich tiefe Eindrücke. Bezogen auf den Jazz, sagt Drechsel zum Schluss, würde er heute nichts anders machen. Sein schwerster Fehler sei gewesen, “zu glauben, in einer Parteidiktatur als Genosse einen Einzelkampf für den Jazz bestehen zu können”. Es relativiert sich einiges bei der Lektüre dieses Buchs, das von der Bedeutung des Jazz handelt, von der Kraft der Musik, von menschlicher Leidenschaft. Karlheinz Drechsel hat mit seinen Erinnerungen an sein Jazzleben einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der deutschen Jazzgeschichte geliefert.

Wolfram Knauer (August 2011)

Nachtrag, Dezember 2011: Nachdem der Greifenverlag kurz nach der Veröffentlichung des Buchs Insolvenz anmelden musste, war dieses Buch eine Weile nicht mehr zu beziehen. Nun hat die Jazzwerkstatt eine Neuauflage vorgelegt, der aus Bonus eine CD mit historischen Aufnahmen der “DDR All Stars” aus dem Deutschen Hygienemuseum Dresden beiheftet. Neben Günter Hörig und seinen Dresdner Tanzsinfonikern ist etwa das Joachim Kühn Trio mit Ernst-Ludwig Petrowsky zu hören sowie Bands um Friedhelm Schönfeld, Joachim Graswurm, Reinhard Walter und andere.


Woodstock am Karpfenteich. Die Jazzwerkstatt Peitz
Herausgegeben von Ulli Blobel
Berlin 2011 (jazzwerkstatt)
207 Seiten, 1 beigeheftete CD, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-00-034405-3

Der Jazz in der DDR war für viele ein spannendes Thema: Musik der Freiheit – in einem totalitären System schien so etwas viel besser, aber auch viel romantischer greifbar als in den westlichen Demokratien, in dem der Jazz seine politische Funktion immer mehr zu verlieren drohte. Jazz aber war auch in Ostdeutschland eine überaus persönliche Angelegenheit, begleitete diverse sehr persönliche Wege der politischen, kulturellen und ästhetischen Bewusstwerdung, und von ihnen handelt dieses Buch. Nach einigen Gesamtdarstellungen zur Geschichte des Jazz in der DDR ist es dabei wohl auch an der Zeit, dass der Blick auf einzelne Personen bzw. wichtige, weil einflussreiche Events gerichtet wird. Die Jazzwerkstatt in Peitz in der Niederlausitz hatte in der Szene des zeitgenössischen freien Jazz bald einen Namen, der weit über die Größe der kleinen, noch heute weniger als 5.000 Einwohner zählenden Stadt hinausreichte: als Treffpunkt der frei improvisierenden Szene Europas und darüber hinaus, als im so abgeschlossenen Kulturleben der DDR eigentlich nicht vorstellbares Exotikum, das scheinbar gegen alle Regeln und Gesetze des real existierenden Sozialismus und seiner glänzend funktionierenden Bürokratie verstieß und dennoch elf Jahre lang ein Publikum aus dem ganzen Land anzog, für die jene Tage in Peitz identitätsstiftend waren, denen Peitz kreative Anregung genauso wie Trost bot, eine Art individualistisches Antidot zum sozialistischen Alltag.

Von dieser Stimmung berichtet das vorliegende Buch, herausgegeben von Ulli Blobel, zusammen mit Peter ‘Jimi’ Metag dem Gründer der Jazzwerkstatt Peitz, der dabei in Ansätzen auch seine eigene Geschichte vor Peitz und seither erzählt. Auch alle anderen Autoren nähern sich dem Thema von der persönlichen Warte: Für sie alle war das Abenteuer der Reise in die Niederlausitz offenbar genauso prägend wie die musikalischen Erlebnisse, die sie an den Nachmittagen und Abenden in Peitz erfuhren. Bert Noglik etwa bekennt, dass die Begegnungen in Peitz ihm dabei halfen, für sich “einen Beruf zu definieren, der damals in der DDR nicht vorgesehen war: Jazzpublizist”. Günter Baby Sommer berichtet von musikalischen Begegnungen, die nachhaltig blieben, insbesondere seinem Trio mit dem amerikanischen Trompeter Leo Smith und dem Wuppertaler Kontrabassisten Peter Kowald. Christoph Dieckmann erzählt, wie schwierig es war, im Osten an Platten zu kommen und welchen Wert Jazzplatten unter den Fans dort besaßen. Ulrich Steinmetzger und Wolf Kampmann erzählen von ihren Reisen nach Peitz, von den prägenden Erfahrungen, der Bewusstseinsveränderung über West und Ost, die mit dem Hören der freien Musik einherging. René Theska erzählt, wie Peitz ihn und weitere Jazzfreunde aus Ilmenau dazu anregte, mit Hilfe der AG Jazz Ilmenau selbst Konzerte zu organisieren. Steffen Wolle gibt Beispiele sowohl für den Umgang der Staatsmacht mit der suspekten Jazzszene wie auch für die kreativen Strategien, mit denen diese Szene die Staatsbürokratie immer wieder austrickste, austricksen musste. Am Schluss findet sich ein 50seitiger Anhang mit allen Besetzungen, die bei der Jazzwerkstatt Peitz zwischen 1973 und 1983 zu hören waren. Dazwischen viele Fotos, die die Atmosphäre einfangen, die Konzentration, die Erwartungshaltung, die oft wie eine Art Aufbruchsstimmung wirkt, nur, dass der tatsächliche Aufbruch erst sechs Jahre nach dem letzten Konzert in Peitz stattfinden sollte.

Die beiheftende CD schließlich enthält Mitschnitte von der Jazzwerkstatt 1981, ein Quintett mit Ulrich Humpert, Peter Brötzmann, Johannes Bauer, Harry Miller und Willi Kellers, das Conrad Bauer Bäserquintett, einen Solotitel Uwe Kropinskis sowie das Trio Leo Smith / Peter Kowald / Günter Baby Sommer.

“Woodstock am Karpfenteich” bietet einen Einblick in eine kreative Bewusstwerdungsphase, ist weder rein historische Dokumentation, noch musikologische Erklärung etwa des DDR-Jazz. Wenn überhaupt, dann ist dieses Buch die Sammlung von sehr persönlichen Erinnerungen an ein dreizehn Jahre lang gegen alle Wahrscheinlichkeit funktionierendes Experiment freier Improvisation. Es regt zum Nachdenken an, nicht nur für die, die dabei waren, sondern ganz allgemein, darüber, was wir mit Musik verbinden, egal, wo wir sie hören, welche Prägungen wir durch Musik erhielten und wie musikalische Erinnerungen Biographien verschränken können, die sonst kaum etwas miteinander zu tun haben.

Lebenswert!

Wolfram Knauer (Juli 2011)


John Coltrane. A Love Supreme
von Karl Lippegaus
Hamburg 2011 (edel:vita)
317 Seiten, 29,95 Euro
ISBN: 978-3-8419-0069-2

Karl Lippegaus beginnt sein Buch mit einer wenig verhüllten Liebeserklärung an John Coltrane, einer Erinnerung daran, wie er eines Morgens in Südfrankreich seine verkratzte LP “Live at the Village Vanguard” auflegte und ein Hahn mit Pharoah Sanders um die Wette krähte. Dann wird er sachlich, wie es sich für einen Biographen gehört. Er erzählt Coltranes Leben von der Kindheit in North Carolina über die Granoff School of Music in Philadelphia bis zu den ersten Gehversuchen in Bands wie der von Cleanhead Vinson. Er nennt Einflüsse, den Sound von Johnny Hodges etwa oder den großen Charlie Parker, seinen Freund Jimmy Heath oder Igor Strawinsky. Er nennt die großen Tenoristen an dessen Ideal Coltrane sich messen lassen musste und er versucht zu ergründen, was Trane etwa bei Dizzy Gillespie lernte, in dessen Bigband er Ende der 1940er Jahre spielte. Lippegaus begleitet den Saxophonisten in die Band von Miles Davis und Thelonious Monk, erkundet Coltranes Lektüre auf Reisen, seine philosophischen und spirituellen Entwicklungen jener Jahre. Er nähert sich der Musik dabei eher die Atmosphäre als die Musik selbst beschreibend. er lässt Musiker und Zeitzeugen zu Worte kommen, imaginiert sich die Stimmung, die wohl im Studio oder im Club geherrscht haben muss, in dem einige der Coltrane-Klassiker entstanden, stellt sich vor welchen Eindruck diese Stimmung und all die von ihm beschriebenen Einflüsse auf den Saxophonisten haben mussten und wie daraus das entstand, was wir bis heute auf Platte hören können. Seine Kapitelgliederung ist angenehm kleingliedrig, erlaubt das Zurseitelegen des Buchs – vielleicht um weiterzudenken oder aber die genannten Stücke zu hören. Immer wieder verweist er auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in den USA der Bürgerrechtsbewegung, in deren Kontext auch die musikalische Entwicklung Coltranes ihm zufolge unbedingt zu sehen ist.

Lippegaus beschreibt die Musik nicht so sehr als Produkt und fertiges Statement, sondern vielmehr als Prozess, als Entwicklung, und so gelingt es ihm, dem Leser (und Hörer) den Entwicklungswillen näher zu bringen, der Coltranes Musik von Anfang bis Ende prägte. In dieser Verbindung schafft Lippegaus dann auch, was vielleicht nur offenohrigen Autoren möglich ist: die allseits bekannten Daten und Fakten geben auch dieser Biographie die Struktur, aber er füllt sie außerdem mit dem Wollen und Denken, mit seiner Annäherung an die Visionen, aus denen sich Coltranes Kunst näherte. Ein überaus gelungenes Buch, geschmackvoll gesetzt, mit Fotos der verschiedenen Schaffenszeiten bebildert … lesenswert!

Wolfram Knauer (August 2011)


Jelly Roll Morton, The “Old Quadrille” and “Tiger Rag”. A Historiographic Revision
von Vincenzo Caporaletti
Lucca (Italien) 2011 (Libreria Musicale Italiana)
104 Seiten (Text auf Italienisch und Englisch), 25 Euro
ISBN: 978-88-7096-627-5

Alan Lomax holte den Pianisten und Komponisten Jelly Roll Morton 1938 ins Studio, um für die Library of Congress eine Dokumentation über sein Leben und die Entstehung des Jazz aufzuzeichnen, wahrscheinlich das erste Oral-History-Projekt der Jazzgeschichte. Morton saß am Flügel des Coolidge Auditoriums, eine Flasche Whisky nahebei, und Lomax gab ihm die Themen vor, ermunterte ihn dazu, Geschichten zu erzählen über New Orleans um die Jahrhundertwende, über berühmte und weniger berühmte Kollegen, über musikalische Einflüsse und seine eigene berufliche Entwicklung. Morton war zeitlebens ein Großsprecher und Angeber, jedenfalls hatte er keine Probleme damit, seine Leistungen auch gebührend in den Vordergrund zu rücken und die eine oder andere Tatsache der Jazzgeschichte zu seinen Gunsten zurechtzurücken. Am bekanntesten ist sein Satz “Ich erfand Jazz im Jahr 1902”, der sich in einem Down Beat-Artikel aus demselben Jahr der Aufnahmen fand.

Beim Interview mit Lomax, das Basis der später erschienenen Morton’schen Autobiographie “Mister Jelly Lord” sein sollte und mittlerweile vollständig als Tondokument erhältlich ist, übernahm Morton Autorenschaft für jede Menge unterschiedlicher Ereignisse. Musikhistorische vielleicht am interessantesten war seine Behauptung Urheber des “Tiger Rag” gewesen zu sein, den er tatsächlich aus unterschiedlichen Teilen einer alten Quadrille abgewandelt habe. Die Jazzgeschichtsschreibung berichtet anderes, schreibt den “Tiger Rag” Nick La Rocca zu und weiß außerdem, dass gerade dieses Stück auf der ersten Schallplatte der Jazzgeschichte zu hören war, eingespielt im Jahr 1917 von LaRoccas Original Dixieland Jazz Band. Die heutige Forschung will wissen, dass weder Morton noch LaRocca die tatsächlichen Urheber des “Tiger Rag” sind, wie Bruce Boyd Raeburn in seinem Vorwort zum vorliegenden Buch schreibt, sondern das LaRoccas Version tatsächlich ein Zusammenstückeln unterschiedlichster Versatzstücke ist, die Jack Stewart in einer Transkriptions-Edition identifiziert hat.

Vincenco Caporaletti, italienischer Musikwissenschaftler und Autor mehrerer analytischer Bücher zum Jazz, nimmt Mortons Performance der Evolution des “Tiger Rag” aus einer alten französischen Quadrille zum Anlass, Mortons Behauptung selbst zu hinterfragen, er selbst sei der wahre Komponist des Stücks, nicht Nick LaRocca. Die Legende, dass der “Tiger Rag” auf eine Quadrille zurückginge, habe in Musikerkreisen in New Orleans schon länger kursiert, erklärt Caporelletti und zitiert verschiedene Quellen. Mortons Inanspruchnahme der Autorenschaft allerdings sei wohl auch der Tatsache zu verdanken, dass er sich durch die Musikgeschichte der 1930er Jahre weitgehend vergessen gefühlt und vor den Mikrophonen der Library of Congress die Gelegenheit gesehen habe, die Geschichte zurechtzurücken, Tatsachen hin oder her. Caporaletti zeigt, wie Morton einem erstaunten Lomax fünf Teile der ursprünglichen Quadrille vorführt, auch um zu erklären, dass die Umwandlung in den “Tiger Rag” seine ureigene Leistung gewesen sei. Er vergleicht die formale und harmonische Struktur beider Stücke, stellt Ähnlichkeiten zwischen Mortons Library-of-Congress-Fassung und der Aufnahme der ODJB aus dem Jahr 1917 fest und verweist darüber hinaus auf Mortons eigene erste Aufnahme des Stücks aus dem Jahr 1924, das in der Form (und bis in die Klarinetten-Breaks hinein) der ODJB-Fassung folgt. Mit analytischen Feingespür schlussfolgert er, dass Mortons Herleitung aus der Quadrille tatsächlich eher belegt, dass dieser selbst den “Tiger Rag” vor allem durch die Aufnahme der ODJB kennengelernt habe.

Caporalettis Analyse kommt so der Wirklichkeit Morton’scher Aufschneiderei auf die Spur, macht uns allerdings zugleich darauf aufmerksam, dass in Mortons Geschichte mehr als ein Körnchen Wahrheit steckt: Wenn Morton auch nicht als Komponist des Stücks angesehen werden kann, so ist doch seine Herleitung aus der Quadrille ein hervorragendes Beispiel für die Aneignung traditionellen Materials durch den Jazz.

Der Anhang des Buchs enthält eine komplette Transkription des Interviews mit Morton sowie eines einer exakten Notation der fünf Quadrille-Sätze und des daraus resultieren “Tiger Rag” in Mortons Fassung. Die analytischen Teile des Buchs finden sich in einer italienischen und einer englischen Fassung, daneben druckt Caporaletti seine komplette Transkription der Aufnahme ab. Er schließt, alles in allem eine überaus interessante Lücke der Morton-Forschung und stößt zugleich genügend neue Türen auf, in die Musik hineinzuhorchen und dabei ästhetischen Entscheidungen auf die Schliche zu kommen.

Wolfram Knauer (August 2011)


Barney Wilen. Blue Monday
von Yves Buin
Bègles/Frankreich 2011 (Castor Music)
126 Seiten, 12 Euro
ISBN: 978-2-85920-862-2

Es ist durchaus interessant zu sehen, in welcher Gesellschaft das neue Buch über den französischen Saxophonisten Barney Wilen steht. Andere Bände der Biographienreihe befassen sich etwa mit Prince, Jimi Hendrix, Rory Gallagher, Bob Dylan, Bob Marley und anderen Größen aus Rock und Pop. Wilen wurde spätestens, nachdem er mit Miles Davis die Filmmusik zu “Fahrstuhl zum Schaffott” einspielte, als einer der wenigen europäischen Saxophonisten gehandelt, der den Amerikanern ebenbürtig seien.

Yves Buin begleitet den Musiker von seiner Geburt in Nizza im Jahr 1937 bis zu seinem Tod durch ein Krebsleiden im Jahr 1996. Wilen war von früher Jugend an begeistert vom Jazz, hörte die amerikanischen Musiker, die an der Côte d’Azur Station machten. Mit 17 ging er nach Paris, spielte mit französischen Freunden und mit Amerikanern, die sich in der Stadt niedergelassen hatten, Roy Haynes etwa oder Jimmy Gourley. 1956 war er bei einer Plattensession des Pianisten John Lewis mit von der Partie, und mit 20 nahm er seine erste Platte unter eigenem Namen auf. Buin verfolgt das Plattenschaffen des Saxophonisten zwischen Einfluss Charlie Parkers, Cool Jazz und Hardbop jener Jahre. Er beschreibt die Aufnahmesitzung mit Miles, die Pariser Jazzszene, die teilweise wie ein Exil-Amerika gewirkt haben mag, seine Filmmusikern etwa für Édouard Milonaro oder Roger Vadim, Free-Jazz-Experimente (“Dear Professor Leary”), die Band Jazz Hip, sein Comeback in den 1980er Jahren sowie die letzten Jahre seines Lebens, in denen er mit vielen jungen Musikern zusammenwirkte, die noch heute auf der französischen und internationalen Jazzszene aktiv sind.

Buin hangelt sich dabei von Album zu Album, beschreibt die Musik, weniger die Lebensentscheidungen und gibt auch nicht vor, alle ästhetischen Entscheidungen Wilens erklären zu können. Als Anhang präsentiert er Ausschnitte aus drei Interviews des Saxophonisten, die dieser dem französischen Jazz Magazine 1961, 1966 und 1972 gegeben hatte. So erhält Wilen dann doch noch eine Stimme und man kann über die beschriebenen Alben hinaus über Einflüsse, nationales Selbstverständnis oder den Einfluss afrikanischer Musik lesen. Ein willkommenes kleines Büchlein über einen weithin vergessenen Experimentator der europäischen Jazzszene.

Wolfram Knauer (August 2011)


The Studio Recordings of the Miles Davis Quintet, 1965-68
Oxford Studies in Recorded Jazz
Von Keith Waters
New York 2011 (Oxford University Press)
302 Seiten
ISBN: 978-0-19-539384-2

Ashley Kahn begann vor einigen Jahren mit Monografien, die sich nicht etwa der Biographie eines Künstlers, sondern einem einzelnen Werk, konkret: einer Schallplatte widmeten, etwa Miles Davis “Kind of Blue” oder John Coltranes “A Love Supreme”. Oxford University Press geht ähnlich, wenn auch gänzlich anders vor in seiner neuen Buchreihe mit dem Titel “Oxford Studies in Recorded Jazz”, in der jetzt die ersten Bände erschienen sind. Es ist eine musikwissenschaftliche Reihe, also stehen biographische oder sonstige historische Details eher im Hintergrund, spielen nur dann eine Rolle, wenn sie den musikalischen Ablauf oder musikalische Entscheidungen erklären helfen.

Der Musikwissenschaftler Keith Waters beginnt seinen Band über das berühmte zweite Miles Davis Quintet der 1960er Jahre mit einer allgemeinen stilistischen Darstellung des Quintetts, beschreibt, wo die einzelnen Musiker herkommen, aber auch die damals üblichen Studioabläufe (und begründet dabei, warum er die Liveaufnahmen des Quintetts bei seinen Beobachtungen außen vor lässt), die zum auf Platte veröffentlichten Klangergebnis führen. In Abrissen über die Personalstilistik der fünf Mitstreiter Miles Davis, Wayne Shorter, Herbie Hancock, Ron Carter und Tony Williams geht er kurz auch auf frühere Aufnahmen ein, um ihre Entwicklung zu beschreiben, zu erklären, wo die Musiker herkommen und wie sie zu dem Stil gelangt sind, den sie auf den Quintettaufnahmen der 1960er Jahre spielen. Ein zweites Kapitel erklärt analytische Ansätze, diskutiert dabei die Entwicklung und Bedeutung der modalen Spielweise, die Begründung für motivische Analysewege, diskutiert die Interaktion innerhalb der Gruppe, Zirkularkompositionen, das Moment der Form in Improvisation sowie Davis als Avantgardist.

Der Hauptteil des Buches widmet sich dann dein Platten des zweiten Miles Davis Quintet: “E.S.P.”, “Miles Smiles”, “Sorcerer”, “Nefertiti”, “Miles in the Sky” und “Filles de Kilimanjaro”. Waters arbeitet mit Transkriptionen, harmonischen, rhythmischen und formalen Analysen, beschreibt innermusikalische Beziehungen, Entwicklungen, Reaktionen, harmonische Spannungen und Auflösungen, dramaturgische Bögen und vieles mehr. Er enthält sich dabei größtenteils einer ästhetischen Wertung, spricht höchstens von “neuen Lösungen”, der “mühelosen Bewältigung technischer Hürden”, verweist aber durchaus auch etwa auf die “kontrollierte Freiheit”, mit der insbesondere Hancock Ideen des Freejazz Ornette-Coleman’scher Prägung in die Musik des Quintetts einbrachte. Immer wieder fragt er nach den Wurzeln im Hardbop und der langsamen Entfernung von hardbop-typischen musikalischen Vokabeln hin zu einer Spielweise, die letzten Endes eine glatte Entwicklung hin zur Davis’schen Fusion der späten 1960er Jahre darstellt. Eine Zusammenfassung fragt nach dem Erbe dieser Aufnahmen und stellt fest, dass sowohl das Repertoire als auch die Spielweise der Musiker bald Teil der Jazztradition wurden, die von jüngeren Musikern als Musterbeispiel empfunden wurden, auf die sie ihre eigenen weiteren Entdeckungsreisen aufbauen konnten.

Das Buch ist sicher keine leichte Kost – wer keine Noten lesen kann, von Harmonik wenig versteht und sich eh auf solch eine Abstraktionsebene über Musik nicht einlassen möchte, wird voraussichtlich wenig Spaß bei der Lektüre haben. Als Beispiel einer tiefgehenden Beschäftigung mit einem Teil-OEuvre der Musik Miles Davis und als Auftakt einer Reihe mit musikwissenschaftlich kompromisslosen Analysen wichtiger Aufnahmen des Jazz hat Oxford auf jeden Fall kraftvoll einen Ball ins Spiel geworfen, dem man wünscht, dass er von anderen aufgegriffen wird und zum intensiveren Diskurs über die Musik beitragen kann.

Wolfram Knauer (August 2011)


 

Alex Steinweiss. The Inventor of the Modern Album Cover
von Kevin Reagan & Kevin Heller
Köln 2011 (Taschen)
420 Seiten (Großformat), 49,99 Euro
ISBN: 978-3-8365-2771-2
[alle Texte in Englisch, Deutsch und Französisch]

Der Kölner Taschen-Verlag ist weltweit bekannt für seine opulenten Kunst- und Fotobücher. Ab und an kreuzen sich seine Wege dabei mit dem Jazz. Vor einigen Jahren etwa brachte Taschen (mit Hilfe des Jazzinstituts) das legendäre, ursprünglich bei Burda erschienene Buch “Jazz Life” von Joachim Ernst Berendt und William Claxton in einer um viele Bilder ergänzten Neuauflage heraus. Jetzt sammelt Kevin Reagan die Plattencover des Alex Steinweiss.

Wie es bei Covern so ist, sollte man auch hier mit dem Äußeren beginnen. Das Buch ist in einen festen Pappband gebunden, mit Lederrücken und Rückeneinkerbung, damit man es leicht aufblättern kann, ohne dass die Seiten brechen. Doch, nein, tatsächlich erinnert diese Aufmachung natürlich ganz bewusst an die ersten Schellackalben, die Anfang der 1940er Jahre bis zu fünf oder sechs Schellackplatten zusammenfassten und innen drin nichts als diese Platten hatten, in feste Papierumschläge gehüllt, die in das Cover eingebunden waren. Davor waren Schellackplatten meist einfach in Papiertüten verkauft worden, auf denen höchstens eine ganz generelle Werbung für die Plattenfirma abgedruckt war, aber weder Information zur auf der Platte enthaltenen Musik noch eine großartig künstlerische Covergestaltung.

Erst mit den Schellackalben änderte sich das, und wenn man gleich auf der Umschlaginnenseite einige dieser Alben sieht, weiß man auch, woher dieser Begriff “Album” stammt, den man heute für jede Einzel-LP oder -CD benutzt, der aber ursprünglich genau das bezeichnete: Eine Zusammenfassung mehrerer thematisch irgendwie zusammenhängender Einzelplatten, eingebunden in einen Hardcoverumschlag mit künstlerischer Gestaltung durch … und damit sind wir beim Thema, denn Alex Steinweiss war tatsächlich einer der ersten, der hier tätig wurde und kann mit Fug und Recht als “Erfinder des modernen Albumcovers” genannt werden, wie der Untertitel des Buchs suggeriert.

Steinweiss, der im Juli 2011 im Alter von 94 Jahren verstarb und somit die Veröffentlichung dieses Buchs noch miterleben konnte, erzählt im Gespräch mit Reagan seine Lebensgeschichte, vor allem aber über seine künstlerischen Vorstellungen, seine Einfälle, Konflikte mit den Auftraggebern, Lösungen. Steinweiss illustrierte sein erstes Album 1940 und erfand quasi 1948 die Papphülle für 30-cm-Schallplatten. Steven Heller ordnet seine Arbeit sowohl in die Verpackungs- wie auch die Kunstgeschichte des 20sten Jahrhunderts ein, benennt Vorbilder aus der Bildenden Kunst genauso wie dem Notendruck, Bauhaus und Klassizismus und berichtet über Werbestrategien der Plattenfirma Columbia, bei der Steinweiss in jenen frühen Jahren angestellt war.

Steinweiss erzählt von der Parsons School in New York und der Lehre beim österreichischen Plakatmaler Joseph Binder, über sein kleines Studio, in dem er die “Kompositionen” seiner Hüllendesigns entwarf, den Produktionsprozess, die Betriebsstruktur bei Columbia Records, seine Arbeit für die US-Navy für die er Poster und grafische Anleitungen zeichnete. Eine Seite zeigt die zuvor üblichen Alben-Cover und was Steinweiss daraus machte, von grau nach bunt, fantasievoll und voll Leben. Zwischendrin sieht man aber auch Logos und Briefköpfe, die er etwa für einen Friseur entwarf. Für seine Covers entwickelte Steinweiss darüber hinaus ein eigenes handgeschriebes Alphabet, das sich auf vielen seiner Hüllen wieder findet. Nebenbei entwarf er Werbebroschüren etwa für ein Schmerzmittel, die amerikanische Krebsgesellschaft und anderes.

Immer wieder ist man aber davon überrascht, welche Vielfalt Steinweiss mit deutlich wiedererkennbaren Mitteln in seiner Kunst ausdrücken konnte, die Gebrauchskunst war, aber gerade deshalb Dinge wagen konnte, die in der “freien” Kunst vielleicht gar nicht möglich gewesen wären. Magazine, Buchillustrationen, weitere Platten.

Nach Columbia arbeitete Steinweiss ab Mitte der 1950er Jahre für die Label Decca und London, baute nun immer mehr auch die Fotografie in seine Gestaltung ein. Und auch im Film war er ein gefragter Mann, entwarf Filmtitel etwa für Gary Grant und Audrey Hepburn, aber auch für “James Bond”-Filme. Als er sich 1974 zur Ruhe setzte, begann er Bilder zur Musik zu malen, bunt und märchenhaft. Das Buch zeigt Hunderte seiner Entwürfe, meist in der Originalgröße der kleineren 25-cm-Schallplatten. Man mag mit dem Blättern gar nicht aufhören, entdeckt Querverbindungen zwischen frühen und späten Entwürfen wundert sich über den Mut und die Direktheit, mit der Steinweiss seine Arbeit von Anfang an verfolgte. Persönliche Fotos eines langen, reichhaltigen und offenbar durchaus gutgelaunten Lebens schließen das Buch ab, das als Coffeetable-Buch dedacht ist und auf diesem coffee table garantiert jeder Kaffeestunde genügend schmunzelnden Gesprächsstoff bietet.

Wolfram Knauer (Juli 2011)


Joëlle Léandre Solo. Conversations
von Franck Médioni
Jerusalem 2011 (Kadima Collective)
161 Seiten, 1 CD, 1 DVD, 39 US-Dollar
ISBN: 8-85767-51020-3

Seit den frühen 1970er Jahren gehört die Kontrabassistin Joëlle Léandre zu den führenden Musikerinnen der europäischen improvisierten Musik – zusammen mit Irène Schweizer eine der wenigen Frauen in diesem Metier. Im Gespräch mit dem Journalisten Franck Médioni erzählt sie, wie sie zur Musik und zu ihrem Instrument gekommen ist. Sie habe sich hin- und hergezogen gefühlt zwischen der zeitgenössischen Klassik und dem Jazz, den sie als afro-amerikanische Musik eigentlich erst 1971 entdeckte, als sie auf einem Flohmarkt ein Album von Slam Stewart erstand, durch das ihr bewusst wurde, dass sich die klassischen Techniken durchaus mit denen des Jazz vermengen ließen. Sie hörte sich durch die großen Kontrabassisten des Jazz und entdeckte den Free Jazz und die freie Improvisation als eine Spielweise, in der sie eigene Ideen entwickeln konnte.

Im zweiten Kapitel benennt Léandre konkrete Einflüsse: die Komponisten John Cage und Giacinto Scelsi, welch letzteren sie 1978 in Rom traf, George Lewis, Derek Bailey und andere Musiker aus der frei improvisierenden Szene. Das dritte Kapitel widmet sie ihrem Instrument, spricht über ihr Verhältnis zum Kontrabass, die Körperlichkeit des Instruments und die Instrumentenhaftigkeit ihres eigenen Körpers. Sie spricht über technische Schwierigkeiten und Strategien, die sie entwickelte, diese zu überkommen, über die Erweiterung des Klangs durch Perkussion auf dem Basscorpus oder durch ihre eigene Stimme.

Kapitel 4 gehört dem Verhältnis von Improvisation und Komposition. Sie reflektiert über die Schwierigkeit der Klassifizierung ihrer Musik, die nicht wirklich Jazz, auf keinen Fall Klassik, natürlich kein Pop ist, vielleicht am ehesten eine Art Musik, wie sie ein jeder in sich habe… Kapitel 5 widmet Léandre der Lebenswirklichkeit einer reisenden Musikerin und überschreibt es mit “Nomad / Monad”. Sie spricht darin auch über die Probleme, sich als Frau in einer von Männern dominierten Welt durchzuboxen. Kapitel 6 beschäftigt sich mit der Bedeutung von Aufnahmen – live oder im Studio; Kapitel 7 mit Business- und politischen Aspekten ihrer Arbeit.

Über die ganze Strecke lässt Médioni Léandre einfach reden, und sie erzählt freimütig von einem Nomadenleben zwischen den stilistischen Stühlen, von einer so intensiven musikalischen Suche, dass sie selbst oft nicht mehr weiß, wie sie anderen erläutern kann, wohin diese Suche sie verschlagen hat. Das schafft dann vielleicht doch am ehesten die Musik selbst, und so ist es nur passend, dass das Buch musikalisch von zwei im Deckel eingebundenen Tonträgern gerahmt ist: der CD eines Soloauftrittes von 2005 sowie der DVD einer Soloperformance von 2009.

Wolfram Knauer (Juli 2011)


The 4th Quarter of the Triad. Tony Oxley. Fünf Jahrzehnte improvisierter Musik
von Uli Kurth
Hofheim 2011
256 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-936000-48-1

Zusammen mit Derek Bailey, Evan Parker und wenigen anderen gehört Tony Oxley zu den wichtigsten Musikern der “freien Szene” Englands. Uli Kurth begleitet Oxley auf eine Erinnerungsreise von Mainstream- und Tanzkapellen der späten 1950er Jahre über Hardbop-Ensembles der 1960er in die freie Improvisation, die Oxley zusammen mit seinen diversen Mitstreitern zu einer Art performativen Musiziersprache entwickelte, einer Improvisation, wie Kurth schreibt, “die allein auf Grund ihrer Ereignisdichte und vieler Seitenpfade nicht komponiert werden kann”. Kurth hat sich für das Buch über Monate mit Oxley in dessen Wohnung in Viersen getroffen, die unterschiedlichsten Themen angeschnitten und Oxley erzählen lassen: über Mitmusiker, die Londoner Szene der 1960er Jahre, musikalische Konzepte, Jazz oder Nicht-Jazz, grafische Notation, Elektronik. Zwischendrin analysiert Kurth einzelne, wegweisende Aufnahmen Oxleys, etwa “The Baptised Traveler” von 1969, “Ichnos” von 1971, Aufnahmen mit Cecil Taylor oder mit seinem eigenen Quartett. Diese analytischen Anmerkungen gehen tief, aber nicht auf vordergründig musikwissenschaftliche Art und Weise, sondern eng verzahnt mit der Schilderung der Aufnahme- und Spielsituation sowie mit Interviewausschnitten Oxleys zu den betreffenden Stücken. Oxley erzählt über seine Malerei, seinen Ausflug in die DDR, seine langjährige Zusammenarbeit mit Cecil Taylor und vieles andere. Kurth gelingt bei alledem ein fliegender Wechsel von nüchterner Biographie, erklärender Sozial- und Musikgeschichte, autobiographischen Einblicken und musikanalytischen Details. Oxleys Musik gehört sicher nicht zu den eingängigsten – das vorliegende Buch erlaubt einen sehr persönlichen Zugang.

Wolfram Knauer (Juli 2011)


Spirits Rejoice!. Albert Ayler und seine Botschaft
von Peter Niklas Wilson
Hofheim 2011 (2te Auflage; 1. Auflage 1996)
191 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-3-936000-87-0

Am 25. November 1970 wurde Albert Ayler aus dem East River gezogen. Die Umstände seines Todes wurden nie vollständig aufgeklärt. Dies versucht auch Peter Niklas Wilson nicht in der ersten Monographie, die überhaupt über diesen Saxophonisten erschien. Doch Wilsons Buch ist ein Beleg dafür, daß Recherchen noch mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Tod eines Musikers neue Erkenntnisse hervorbringen können. Wilson ist dafür sozusagen in die Vergangenheit gereist, hat Zeitzeugen ausfindig gemacht, die bislang von niemandem zum Leben Albert Aylers befragt worden waren, hat das Bild, das er so von der Person Aylers gewann, anhand der existierenden Interviews und Zeitschriftenberichte überprüft und all dies mit den Tondokumenten des Aylerschen Musikschaffens verbunden. Herausgekommen ist ein überaus lesenswertes Sachbuch mit Daten, Fakten, Anekdoten, musikalischen Analysen und einer Kurzbeschreibung der von Ayler veröffentlichten LPs.

Der 1936 im schwarzen Clevelander Stadtteil Mount Pleasant geborene Albert Ayler machte eine jazztypische Entwicklung durch. Mit sieben Jahren erhielt er seinen ersten Musikunterricht vom Vater, später in einer örtlichen Musikschule. Mit fünfzehn spielte er in lokalen Bands — eine Musik, die sich eher am Rhythm and Blues als am modernen Jazz der Zeit orientierte. Mit siebzehn wurde Ayler zum Profi-Musiker, ging mit dem Blues-Harmonika-Spieler Little Walter auf Tournee. Doch er spielte nicht nur R&B, sondern auch Bebop — in Cleveland nannte man ihn damals “Little Bird”. Von 1958 bis 1961 ging Ayler durch eine wichtige Schule: die der US-Armeekapellen. Viel der Repertoire-Besonderheiten des späteren Saxophonisten erklären sich aus seinen biographisch-musikalischen Begegnungen: der Rhythm and Blues in Cleveland, die Märsche und Tanzmusik der Armeekapellen. Bald wurde Ayler ins französische Orléans versetzt, machte Konzerttourneen durch ganz Europa. Zurück in Cleveland erfuhr Ayler eine zweite musikalische Initiation: die des Avantgardisten. Man hielt ihn entweder für einen Scharlatan oder für leicht verrückt. 1962 machte sich Ayler nach Schweden auf, wo er ein Interesse an seiner Musik erfahren hatte, das ihm in Cleveland nicht entgegengebracht wurde. Auch in Schweden aber mußte Ayler sich mit Tanzmusik durchschlagen; lernte allerdings auch einige Musiker kennen, die genau wie er dem “New Thing” anhingen: John Tchicai beispielsweise oder die Musiker des Cecil Taylor Trios. 1963 kam es in Schweden zu den ersten dokumentierten Aufnahmen: ein Repertoire üblicher Hardbop-Standards mit freien Improvisationen des Saxophonisten. Zurück in den USA zog es Ayler im Sommer 1963 nach New York, wo er ab und zu mit der Cecil Taylor Unit auftrat. 1964 folgte die erste Studioeinspielung “Spirits”, dann Aufnahmen für das Avantgarde-Label ESP, die ihn endlich zu einem musikalisch wahrgenommenen Phänomen der amerikanischen Jazzszene machten.

Mitte der 60er Jahre lag im schwarzen Amerika die Revolution in der Luft. Bürgerrechtsproteste, die Black-Power-Bewegung, frühe Zusammenschlüsse der Black Panthers und zornige Äußerungen der schwarzen Wortführer bestimmten das Klima. LeRoi Jones sah damals in der Musik des New Thing, und besonders in der Musik Albert Aylers den Aufruf zum Protest, zur Revolte. Ayler selbst allerdings äußerte sich nie dezidiert zu einer etwaigen politischen Funktion seiner Musik. “Musik und Politik — sie können auf gewisse Weise verknüpft sein, aber Musik ist Musik und Politik ist Politik”, zitiert Wilson den Saxophonisten.

Wilson betrachtet sowohl die Musik als auch die Ästhetik Aylers dabei durchaus kritisch. Den spirituellen Äußerungen Aylers, deren Resultate sich durchaus in seiner Musik wiederfinden lassen, stellt er da beispielsweise einen oft zornigen Kleinbürger mit Macho-Attitüden gegenüber, den er in den Äußerungen von Ayler-Freunden wie Michel Samson, Sunny Murray und anderen entdeckt. 1967 lernte Ayler Mary Parks (alias Mary Maria) kennen, die sein privates Leben und seine musikalische Karriere nachhaltend beeinflußte. John Coltrane vermittelte Ayler einen Plattenvertrag mit dem Label Impulse. Dessen Produzent Bob Thiele wollte den Saxophonisten einem weiteren Publikum bekannt machen — heraus kam “New Grass”, eine Platte mit Bläsersätzen und Background-Chören und einer offenen spirituellen Botschaft. Wilson argumentiert gegen etliche Kritiker, daß diese Entwicklung nicht einzig auf Thieles Drängen stattgefunden habe, sondern durch und durch dem musikalischen Willen Aylers und dem Einfluß seiner Lebensgefährtin Mary Parks entsprach. Aylers Tod im November 1970 ließ Spekulationen über Selbstmord aufkeimen, Spekulationen, die ihren Grund auch in depressiven Stimmungen hatten, denen Ayler in den letzten Jahren seines Lebens unterlag.

Dem biographischen Teil des Buchs folgt eine ausführliche analytische (dabei übrigens überaus lesbare) Würdigung der musikalischen Seite Albert Aylers. Wilson untersucht die unterschiedlichen Traditionsstränge, die sich in der Musik des Saxophonisten finden: die Musik der schwarzen Kirche, Rhythm ‘n’ Blues, Jazztradition, Märsche. Er gliedert die Entwicklung Aylers in vier Phasen, die des “Free Bop” (ca. bis 1964), die der “Shapes — From Notes to Sounds” (1964), die der “Universal Music” (1965-1967) und die der “Verbalisierung der Botschaft — From Sounds to Words” (ab 1968).

Peter Niklas Wilsons Buch ist nicht nur deshalb als ein Standardwerk zu Albert Aylers Leben und Schaffen einzustufen, weil es bislang [1997] die einzige Monographie über den Saxophonisten darstellt. Wilson ist es gelungen, ein umfassendes Bild des Menschen Ayler und seiner Musik zu geben, ein Bild, in dem die Biographie, die spirituelle und die musikalische Entwicklung gegenübergestellt und ihre vielfältigen Einflüsse aufeinander sinnvoll dargestellt werden.

Wolfram Knauer (Januar 1997)


“To make a lady out of jazz.” Die Jazzrezeption im Werk Erwin Schulhoffs
von Miriam Weiss

Neumünster 2011 (von Bockel Verlag)
458 Seiten, 48 Euro
ISBN: 978-3-932696-81-7

Der Jazz überrannte Europa in den 1920er Jahren in vielfacher Weise: als Tanz, als Musik, als Mode, als Lebensart. Es müssen also all die nicht-musikalischen Konnotationen immer mitgedacht werden, wenn man über die Jazzrezeption jener Jahre spricht. Jazz faszinierte Künstler aller Bereiche, Literaten, Maler, Bildhauer, Fotografen, Tanzmusiker genauso wie klassische Komponisten. Über die Jazzrezeption in der klassischen Musik Europas ist viel geschrieben worden. Miriam Weiss konzentriert sich auf einen Komponisten, keinen der “ganz Großen”, dafür einen, der weit mehr als andere den Jazz nicht nur für einzelne Werke, sondern über weite Strecken seines Schaffens als Inspiration nutzte.

Weiss ist sich der Konnotationen bewusst, die der Jazz für viele Künstler in der Zeit der Weimarer Republik bot; sie nennt Jazz in einem Kapitel klar als “Projektionsfläche für Klischees”. Sie beschreibt darin etliche der Missverständnisse, die mit dem Jazz verbunden waren und die letztlich zum weithin zitierten Diktion Theodor W. Adornos führte, der Jazz als eigenständige Kunst gar nicht wahrhaben wollte und ihn stattdessen vor allem als Teil der Kulturindustrie betrachtete. Sie beleuchtet Schulhoffs Kontakte zu den Dadaisten, vergleicht sein Verständnis von jazz mit dem etwa des Malers George Grosz und analysiert vor diesem Hintergrund Schulhoffs “Fünf Pittoresken für Klavier” von 1919.mit Sätzen wie “Foxtrott”, “Ragtime”, “One-Step” und “Maxixe”. Auch in der “Suite für Kammerorchester” findet sich ein “Ragtime” betitelter Satz, ein “Valse Boston” und als letzter ein mit “Jazz” überschriebener Satz (“Allegro con fuoco”). Während Schulhoff in Werken wie diesen rhythmische und klangliche Assoziationen an das versuchte, was ihm und etlichen anderen Komponisten als “Jazz” vorschwebte (kaum einer von ihnen hatte zu dieser Zeit selbst realen afro-amerikanischen Jazz gehört), greift er vor allem in seinen Klavierkompositionen der 1920er Jahre auf leichter zugängliches Material zurück, insbesondere die virtuose, stark vom Ragtime beeinflusste Novelty-Tradition, in deren Folge Kompositionen etwa von Zez Confrey auch auf europäischen Bühnen gespielt wurden. Die Genreklarheit ist auch hier nicht überall gegeben, ob Jazz oder Blues, Ragtime oder Tango – wichtig war vor allem die Anbindung an aktuell populäre Musikformen; ein tatsächliches Bewusstsein für Jazz als eine vorrangig mit Improvisation funktionierende afro-amerikanische Musik war bei europäischen Komponisten und auch bei Schulhoff kaum vorhanden. Erst in seiner “Hot-Sonate” für Altsaxophon und Klavier von 1930 nahm er in den Melodielinien scheinbar Bezug auf improvisatorische Vorbilder, aber auch auf die jazzspezifische Klangbildung mit Verschleifungen, dirty tones etc.

Die Jazzrezeption in der klassischen Musik des 20sten Jahrhunderts aber sollte auch nirgends als Übernahme von Jazz in ein anderes Genre missverstanden werden. Interessant sind vor allem die Inspirationen; interessant ist, wie die “andere” Sprache des Jazz Komponisten Möglichkeiten im Klanglichen, Rhythmischen, Harmonischen öffnet, weil sie mit technischen Mitteln neben den üblichen konventionellen Traditionen auf weitere aus der populären Musik verweisen können, Verweise, die letztlich sowohl Struktur bildend wie auch Ästhetik erweiternd wirken. Für Schulhoff wurde die Auseinandersetzung mit den Einflüssen aus dem Jazz jedenfalls stilbildend, nicht nur in den kammermusikalischen Werken seines OEuvres, sondern auch in größeren Gattungen, Ballett, Sinfonie und Oper. Weiss verfolgt die Jazzelemente in all diesen Kompositionen sorgfältig, analysiert rhythmische und melodische Details und erklärt so die spezifische Klangfarbe, die der Jazz seiner Musik beizugeben vermag.

Das Buch entsprang einer musikwissenschaftlichen Dissertation, und etliche der analytischen Details richten sich so vor allem an einen fachinternen Diskurs. Für den musikwissenschaftlichen Laien ist vor allem die genreübergreifende Beschäftigung vieler Künstler der 1920er Jahre mit dem Thema Jazz interessant, die Weiss insbesondere im Kapitel Dada ausführlich erörtert. Wie so oft in Büchern über die Jazzrezeption scheint dem Rezensenten auch hier ein Aspekt nicht deutlich genug erklärt: jener nämlich des produktiven Missverständnisses, dem sich so viele Künstler in jenen Jahren ausgesetzt waren, die mit Jazz ganz verschiedene Dinge konnotierten und zum Teil noch nicht einmal unter sich einig waren, was unter diesem Phänomen wohl zu verstehen sei. Das “Jazz” in diesem Sinne nichts mit dem zu tun hat, was man im Nachhinein als die Ursprünge einer afro-amerikanischen Kunstform definiert, also mit Oliver, Morton, Armstrong, Ellington, wird schnell klar, aber für welche unterschiedliche Konzepte “Jazz” genutzt werden konnte oder, wie Weiss schreibt, für welche Klischees der Jazz (und vor allem: welcher Jazz?) als Projektionsfläche dienen konnte, das ist bisher kaum strukturell überzeugend nachzulesen. Miriam Weiss nähert bei dieser Aufgabe wenigstens einem Teilkapitel: welche Funktion Jazz nämlich für die kompositorische wie ästhetische Arbeit im Schaffen Erwin Schulhoffs hatte. Der, schreibt sie, “erkannte die emotionale Wirkung und das brisante, weil provozierende Potential des Jazz”. Dieser habe sich bei Schulhoff im Verlauf der 1920er Jahre von der “aufmüpfigen Göre” zur “wohlerzogenen Lady” gewandelt, ein Prozess, der in seiner Musik nachvollziehen allemal spannend genug ist, ihm eine eigene Monographie zu widmen.


Flying High. A Jazz Life and Beyond
von Peter King
London 2011 (Northway Publications)
338 Seiten, 20 Englische Pfund
ISBN: 978-0-9550908-9-9

Peter King mag nicht zu den großen Namen der europäischen Jazzgeschichte gehören. Ein Altsaxophonist, der sein Spiel zeitlebens am großen Charlie Parker orientierte, dabei seine eigene Stimme fand, die aber nie zu weit ab war vom amerikanischen Modern Mainstream seiner Tage, ein Musiker, der von amerikanischen Kollegen auf Europatourneen wegen seiner stilistischen Verlässlichkeit gern engagiert wurde, zugleich aber auch wegen seiner persönlichen Probleme – insbesondere mit Drogen– schwierigste Zeiten durchmachte… ein musicians’ musician vor allem unter britischen Kollegen, der nichtsdestotrotz eine spannende Geschichte zu erzählen hat.

Spannend ist sie auch deshalb, weil sein Buch nicht einfach nur Musikerbegegnungen aneinanderreiht, wie man das leider sonst so häufig in Biographien und Autobiographien findet, sondern weil King recht offenherzig versucht, den Entscheidungen seines Lebens auf die Spur zu kommen, ob sie nun zu guten oder zu weniger guten Resultaten führten.

Eigentlich hatte er Aeronautiker werden wollen, schreibt er, doch Willis Conovers legendäre Radiosendung “Jazz Hour” änderte seinen Berufswunsch: Nun wollte er Jazzklarinettist werden. In jugendlichem Enthusiasmus versuchte er selbst eine Klarinette zu bauen, bis seine Eltern Mitleid mit ihm hatten und ihm ein preiswertes Instrument schenkten. Im Gymnasium stolperte er über Charlie Parker und entschied sich zusätzlich Altsaxophon zu lernen. Er tat sich mit anderen Jazzenthusiasten zusammen, die regelmäßig in einer Bäckerei spielten, die sich abendlich in eine Art Jazzclub verwandelte. Musik wurde mehr und mehr zu seiner Hauptbeschäftigung, und nach und nach traf er professionelle Musiker wie Gordon Beck, Kathy Stobart und Ronnie Scott, der ihn bat, im Oktober 1959 bei der Eröffnung seines ersten Clubs zu spielen. Von da ab spielte King (nicht zu verwechseln mit Pete King, dem langjährigen Manager Ronnie Scott’s) regelmäßig im Club, mit eigener Band genauso wie mit durchreisenden amerikanischen Musikern.

In seinem Buch erzählt der Saxophonist Geschichten über Tourneen etwa mit der John Dankworth Bigband, über seine Begegnung mit Bud Powell, über Ben Webster, Sonny Stitt, Tubby Hayes, Dave Holland (der mit ihm spielte, noch bevor Miles Davis ihn engagierte), Annie Ross, Dakota Staton und vielen andere. Europäischer Jazz, schreibt King, habe durch Plattenfirmen wie ECM durchaus einen spezifisch europäischen Sound erhalten, er selbst aber sei halt vor allem von den afro-amerikanischen Wurzeln des Jazz begeistert gewesen.

1962 heiratete King die Sängerin Joy Marshall, eine ungleiche und bald auch unglückliche Ehe, die schließlich in Chaos und Scheidung endete. King erzählt genauso offen wie von anderen persönlichen Entwicklungen seines Lebens von seinem Drogenmissbrauch: Kokain, Heroin, Zeug, für das er den größten Teil seiner Gage ausgab. Er erzählt, wie er mit Hilfe einer bekannten Londoner Ärztin, der auch Stan Getz und Bill Evans wegen ihrer Drogensucht behandelte, versuchte, von dem Stoff wegzukommmen. Später nahm er Methedrin und andere Ersatzdrogen, und in der neu erworbenen Freiheit begann King sich mit klassischer Musik und Literatur auseinanderzusetzen, aber auch die Malerei aufzugreifen. Seine zweite Frau akzeptierte die Tatsache mit einem Süchtigen zusammenzusein und gab ihm in ihrer Akzeptanz Halt.

King berichtet von Auftritten Plattensessions mit Philly Joe Jones, Hal Singer, Jimmy Witherspoon, über Tourneen mit Ray Charles, James Brown, Sacha Distel und Charlie Watts. … Die Geschichten nehmen kein Ende, werden aber auch nie langweilig, weil man eine Ehrlichkeit hinter ihnen spürt, die nicht der Selbstdarstellung geschuldet ist, sondern einer gewissen Selbsterkenntnis. King schreibt mit einer Offenheit, die selten ist in der Jazzwelt, beschreibt die Zwänge seiner Drogensucht, aber auch in welchen Zwängen sich viele der anderen Musiker befanden, mit denen er zusammenarbeitete und die unter ähnlichen Problemen zu leiden hatten. Das alles tut er nicht Mitleid heischend oder voll Vorwürfe, sondern nüchtern, mit einem distanzierten Augenzwinkern und dem Wissen, dass nicht alles okay war, was er oder andere gemacht haben, dass sie alle aber Menschen sind und dass auch eine Biographie aus dem Menschen keinen Heiligen machen sollte.

Zum Schluss erzählt er von seinen kompositorischen Ambitionen, einem Opernprojekt namens “Zyklon” über den Erfinder von Zyklon B, dem Gift, mit dem die Nazis Hunderttausende Menschen ermordeten. Und er gibt einen kurzen Einblick in sein anderes Hobby, das seinem ersten Berufswunsch geschuldet ist: dem Modell-Flugzeugbau, ein Gebiet, in dem er sich ebenfalls einen Namen machte.

Neben all den Einsichten in das tägliche Leben eines Jazzmusikers also ist dies vor allem ein ehrliches, manchmal überraschendes und damit ungemein lesenswertes Buch.

Wolfram Knauer (Juli 2011)


I Feel So Good. The Life and Times of Big Bill Broonzy
von Bob Riesman
Chicago 2011 (University of Chicago Press)
324 Seiten, 27,50 US-Dollar
ISBN: 978-0-226-71745-6

Bei der enormen Flut an Veröffentlichungen im Bereich von Jazz, Blues und Rhythm ‘n’ Blues ist man doch immer wieder erstaunt, wenn es einem Autoren gelingt, so weit unter die Oberfläche zu gelangen, wie dies Bob Riesman mit seiner neuen Biographie des Gitarristen und Sängers Big Bill Broonzy gelungen ist.

Riesman ist ein Kenner der Chicagoer Folk- und Blueszene, und im Vorwort seines Buchs erzählt er vom Verschleierungskünstler Broonzy, der Daten und sonstige Informationen nach Belieben veränderte und den Biographen so des öfteren in die Leere laufen ließ. In Amsterdam traf Riesman eine Frau, die ein Kind von Broonzy hatte und ihm einen Schuhkarton mit Briefen des Gitarristen in die Hand drückte. Er traf Verwandte in Arkansas, wühlte in Archiven und stückelte so die Lebensgeschichte weit über das hinaus zusammen, was Broonzy selbst 1955 in seiner von Yannick Bruynoghe edierten Autobiographie erzählt hat. Vor allem hinterfragt er viele der Geschichte, die Big Bill ähnlich ausschmückte wie er den Blues sang: mit Lyrik und dramatischem Geschick. Riesman geht Broonzys eigener Namensgebung auf den Grund (eigentlich hieß er (wahrscheinlich) Lee Conley Bradley. Er betrachtet das Arkansas im frühen 20sten Jahrhundert und vergleicht immer wieder die verschiedenen Versionen von Geschichten, die Broonzy über wichtige Ereignisse seines Lebens erzählte. Broonzy begann auf der Fiddle, und Riesman betrachtet die unterschiedlichen musikalischen Einflüsse, denen er als Junge augesetzt war. Er verfolgt den Aufstieg des Gitarristen und Sängers, der nach dem I. Weltkrieg nach Chicago ging und dort bald zu einem der führenden Bluesmusiker der Stadt wurde. 1938 sang er in der Carnegie Hall, und nach dem Krieg war sein Einfluss auf das Folk-Revival um Pete Seger und Studs Terkel nicht zu unterschätzen. In den 1950er Jahren bereiste Broonzy Europa und machte dort enormen Eindruck auf junge Rockmusiker, die in den 1960er Jahren aufbauend auf seinem Stil und dem anderer Bluesmusiker seiner Generation eine eigene populäre Musik schaffen sollten. Nebenbei gräbt Riesman viele biographische Details aus, über Broonzy als Ehemann dreier Frauen etwa und Vater eines Kindes auf dem Alten Kontinent. Zum Schluss des Buchs berichtet Riesman davon, wie Broonzy durch den Krebs erst seine Stimme, dann sein Leben verlor, just zu dem Zeitpunkt, als seine internationale Karriere einem neuen Höhepunkt zustrebte.

Bob Riesmans Buch ist vordergründig eine chronologisch erzählte Biographie und greift fast wie nebenbei viele Stränge der Popmusikkultur des 20sten Jahrhunderts auf. Das Buch ist akribisch recherchiert und dennoch flüssig zu lesen. Etliche seltene Fotos runden ein durch und durch gelungenes Werk ab. Die Geschichte des Blues und Broonzys Rolle darin wird durch das Buch nicht neu geschrieben. Viele Zusammenhänge aber werden klarer, weil persönlicher. Lesenswert!

Wolfram Knauer (Juni 2011)


Klaus Doldinger
von Rainer Thieme
Altenburg 2011 (Kamprad)
127 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-930550-81-4

Klaus Doldinger ist einer der namhaftesten deutschen Jazzmusiker, und seine Karriere hat viele Facetten: Begonnen hatte er mit den Feetwarmers, einer Düsseldorfer Dixieland-Band, um sich dann in den frühen 1960er Jahren moderneren Stilarten des Jazz zuzuwenden. Er experimentierte mit Latin Jazz, ging aber nie den Weg zum Free Jazz, hatte stattdessen ein Pseudonym, Paul Nero, unter dem er zwischen 1964 und 1970 elf Langspielplatten mit Tanzmusik einspielte. Seine Band Passport wurde zur führenden deutschen Fusion-Group seit den 1970er Jahren, und mit seiner Titelmelodie zum “Tatort” und der Filmmusik zu “Das Boot” verewigte der Saxophonist sich in der Film- und Fernsehmusikgeschichte.

Rainer Thiemes Buch ist vor allem eine Diskographie mit etwa 100 Seiten Auflistung von Plattensessions, Besetzungen, Reproduktion von LP- und CD-Covers, einer Liste der von Doldinger geschriebenen Filmmusiken und einem Titelindex mit Verweis auf die Platten, auf denen die Titel enthalten sind. Die Biographie des Saxophonisten nimmt dagegen gerade mal jeweils 12 Seiten (deutsch/englisch) ein. Sie ist eher eine nüchterne Zusammenfassung der Karrierestationen. Die Diskographie ist thematisch geordnet: Feetwarmers; Doldinger Quartett; Doldinger’s Motherhood; Doldinger’s Passport; Soloprohekte; Paul Nero; Soundtracks. Alle Platten sind mit Coverabbildungen, Titel- und Besetzungsliste, wo möglich Angaben zum Produzenten und zu Wiederveröffentlichungen dokumentiert. Da die Kapitelüberschriften in der Diskographie etwas zu unauffällig geraten sind, muss man im Buch ein wenig suchen, um die unterschiedlichen Abschnitte voneinander unterscheiden zu können. Davon abgesehen aber ist das Büchlein gewiss ein unverzichtbares Nachschlagewerk für jeden Doldinger-Fan und quasi ein Bestandskatalog für jeden Doldinger-Sammler.

Wolfram Knauer (April 2011)


Die Ernst Höllerhagen Story. Ein Jazzmusiker zwischen Nationalsozialismus und Wirtschaftswunder
von Heiner Bontrup & E. Dieter Fränzel
Wuppertal 2011 (NordPark)
184 Seiten, 15 Euro
ISBN_ 978-3-935421-42-3

Vor fünf Jahren erschien der opulente Band “Sounds like Whoopataal”, eine Lokal- und Regionalgeschichte des Jazz in Wuppertal von den 1920er Jahren über die Free-Jazz-Szene um Brötzmann, Kowald und Co. bis heute. Darin gab es ein ausführliches Kapitel über Ernst Höllerhagen, den Wuppertaler Klarinettisten, der zwischen 1934 und 1955 insgesamt 550 Titel mit verschiedenen Orchestern und unter eigenem Namen eingespielt hatte. Für dieses Kapitel recherchierten E. Dieter Fränzel und Heiner Bontrup in diversen Archiven, sprachen mit Angehörigen, Kollegen und Zeitzeugen und sammelten so viel spannende Information sowohl über seine musikalische Karriere als auch über sein persönliches Schicksal, dass sie sich entschlossen, ihm eine eigene Biographie zu widmen.

“Die Ernst Höllerhagen Story” beginnt dabei tragisch: mit dem Selbstmord des Klarinettisten, der am 11. Juli 1956 nicht zu einer Probe der Band Hazy Osterwalds erschienen war, und den man bald darauf erhängt in der Toilette fand. Freitod aus Einsamkeit, mutmaßen die beiden Autoren und begeben sich auf die Suche nach einem Leben “zwischen Nationalsozialismus und Wirtschaftswunder”. Höllerhagens Schwester Martha Blockhaus erzählt von der Kindheit und Jugend ihres Bruders, von der Familie, von der Zeit in Wuppertal. In den 1920er Jahren, geht die Legende, habe Höllerhagen mit dem amerikanischen Pianisten Sam Wooding gespielt, und Bontrup und Fränzel klopfen sie auf ihre Wahrscheinlichkeit ab, finden aber auch keine definitiven Belege.

1932 jedenfalls begann Höllerhagen seine professionelle Musikerkarriere in der Band von Jack Alban. In den Jahren darauf trifft er holländische genauso wie Schweizer Kollegen und knüpft Netzwerke, die ihm später hilfreich sein sollten. Er spielt in diversen Bands in den Niederlanden, etwa der des Pianisten Mike Weersma, hat danach ein paar Gigs in der Schweiz, dann wieder in Holland und Belgien, um schließlich auf der Berliner Szene Fuß zu fassen. Es ist ein Leben mit vielen Stationen: Bald ist Höllerhagen zurück in der Schweiz, spielt dort mit den “Berries”, die unter anderem den Tenorsaxophonisten Coleman Hawkins bei Plattenaufnahmen begleiten. Er wirkte in Teddy Stauffers Band, parlierte, Stauffers Biographie zufolge, einen “Heil Hitler”-Gruß schon mal mit “Heil Goodman” und blieb 1939 mit Stauffer in der Schweiz. Dort machte er Aufnahmen unter eigenem Namen, spielte mit dem Amerikaner Willie Lewis und freundete sich mit Hazy Osterwald an. Mit dessen Sextett trat Höllerhagen 1949 beim Paris Jazz Festival auf, und auf einem Foto im Buch ist Höllerhagen am Tisch neben Max Roach und Kenny Dorham zu sehen. In den 1950er Jahren wurde Osterwalds Band mit Höllerhagen immer wieder für deutsche Spielfilme verpflichtet, die mit leichter Kost von den Zerstörungen des Krieges ablenken sollten. Die Osterwald-Band spielte Jazz und Tanzmusik, und Höllerhagens Spiel wurde von Kritikern wie Kollegen gern mit dem Benny Goodmans verglichen – der Pianist Joe Turner schrieb auf ein Foto gar die Widmung: “To the biggest threat to Benny Goodman”.

Ein aufregendes Musikerleben also – woher, fragen die Autoren, stammen dann die Depressionen, die Höllerhagen offenbar immer mehr einholten? 1943 heiratete er die Jugendliebe Hazy Osterwalds, bekam noch im selben Jahr ein Kind. 10 Jahre später lässt seine Frau sich von ihm scheiden, zieht mit der Tochter in die USA und lehnt jeden weiteren Kontakt zu ihm ab. Kurze Zeit vor seinem Selbstmord erlitt er eine Nervenentzündung im Lippenbereich, so dass er wochenlang nicht spielen konnte. Auch hatte er eine “Herzattacke”, und sah die Gefahr, irgendwann nicht mehr als Musiker arbeiten zu können. Diese Faktoren mögen Gründe für seinen Freitod gewesen sein.

Das letzte Drittel des Buchs nimmt eine ausführliche Diskographie der Titel ein, die Höllerhagen zwischen 1934 und 1955 mit diversen Bands einspielte. Bontrup und Fränzel haben mit der “Ernst Höllerhagen Story” ein interessantes Kapitel deutscher und europäischer Musikgeschichte dokumentiert. Neben dem Schicksal des Klarinettisten wird dabei vor allem die Beweglichkeit deutlich, die Musiker im Jazz- und Tanzmusikbereich jener Jahre haben mussten, weil die Engagements sie nun mal in unterschiedliche Regionen verschlagen konnten.

Wolfram Knauer (April 2011)[:en]Clark. The Autobiography of Clark Terry
von Clark Terry (& Gwen Terry)
Berkeley 2011 (University of Berkeley Press)
322 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-520-26846-3

2011terryAls Clark Terry im Dezember letzten Jahres seinen 94sten Geburtstag feierte, schaute Wynton Marsalis und das komplette Lincoln Center Jazz Orchestra vorbei. Terry ist ein Säulenheiliger des Jazz, einer der ganz wenigen noch lebenden Zeitzeugen der Entwicklung dieser Musik vom Swing über den Bebop bis zu aktuellen Spielformen. Als junger Musiker erhielt er Zuspruch und Ermutigung von älteren Kollegen; später half er selbst jungen Musikern, angefangen von Miles Davis über Quincy Jones bis hin zu unzähligen Workshops und pädagogischen Jazzprojekten, der er mit-initiierte oder bei denen er mitwirkte. Terry kam in der lebendigen, blues-verbundenen Jazzszene von St. Louis zum Jazz, er spielte in den Orchestern von Charlie Barnet, Count Basie und Duke Ellington, er leitete seine eigenen Bands, und er war ein bei allen Kollegen hoch angesehener Stilist und Solist.

In seiner Autobiographie lässt er nun sein Leben Revue passieren. Es ist ein überaus persönliches Buch geworden, in dem Terry freimütig von seinem Groll über den Vater berichtet, aber auch davon, dass es ihm selbst nicht so viel besser gelungen sei, eine gute Beziehung zu seinem Sohn aufzubauen, in dem er von den Schwierigkeiten des Tourneelebens genauso erzählt wie von den wunderbaren Gelegenheiten, bei dem alles klappt und die Musik nur so aus ihm herausfließt. Er erzählt mit Witz und genügend Selbstreflexion, und insbesondere in den Kapiteln über seine Jugend und seine Bigband-Jahre erlaubt er seinen Lesern einen spannenden Blick hinter die Kulissen. Seine Erinnerung ans Great Lakes Naval Training Center, in dem Musiker für die Bands in allen Marinestützpunkten der Vereinigten Staaten ausgebildet wurden, ist ein auch jazzhistorisch interessanter Exkurs, war diese Ausbildung doch der Beginn vieler namhafter Karrieren des modernen Jazz.

Terrys Beschreibungen des Klavierstils von Count Basie oder des Organisationstalents Duke Ellingtons lassen die Musik unmittelbarer werden, geben einem das Gefühl, mehr zu verstehen über die Aufnahmen, die man aus jenen Jahren kennt, als der Trompeter mit dabei war. Seine Erinnerungen daran, wie er zum Flügelhorn kam oder wie er während seiner Zeit in den Fernsehstudios mehr zufällig seinen Gesangsstil des “Mumbling” erfand, ermuntern einen zum Plattenregal zu laufen, um Beispiele zu hören oder auf YouTube Filme anzuklicken, auf denen man ihn dann genau als den hoch-disziplinierten und professionellen Künstler erlebt, als den er sich auch selbst beschreibt.

Neben den vielen professionellen Erinnerungen lässt Terry aber auch die Probleme des Musikerlebens nicht außer Acht, berichtet, wie der offene Rassismus in den USA das Reisen für schwarze Bands schwierig machte, von Krankheiten und von der mangelnden Zeit, sich um Freunde, Familie und nicht zuletzt auch um sich selbst zu kümmern. Er erzählt, wie er weiterarbeiten musste, als seine Frau an schwer an Krebs erkrankte, um die Arztrechnungen zu bezahlen, und wie er so nicht anwesend war, als sie verstarb. Er berichtet von seinem Verlangen nach Nähe und Geborgenheit, und ist politisch unkorrekt genug, ziemlich genaue Vorstellungen davon zu haben, wofür die Frau im Haus zuständig sei – wobei er mit Gwen, seiner jetzigen Frau, dann aber eine Partnerin suchte und fand, die dazu in der Lage war, ihm auch kräftig Kontra zu geben. Es sind solche Momente, die das Buch besonders lesenswert machen, Momente, in denen man den Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und Musik zu erahnen scheint, in denen man in seinen Worten recht genau erkennt, was er in seiner Musik seit mehr als 70 Jahren sagt.

Die Leichtigkeit der Erzählung lässt höchstens in den letzten Kapiteln nach, in denen Terry mehr und mehr seinen Taschenkalender durchzublättern scheint, darauf bedacht, bloß keinen Namen der noch lebenden Kollegen oder seiner Schüler zu vergessen, möglichst viele Termine aufzuzählen, sich dabei des öfteren wiederholt und auch schon mal dieselbe Erinnerung unterschiedlichen Gegebenheiten zuordnet. Dieser Bruch im Manuskript, vom Erzählerischen zum Aufzählerischen, ist aber auch der einzige Wermutstropfen eines Buchs, das unbedingt zur Lektüre empfohlen sei, weil es so viel über die Wirklichkeit des Musikerdaseins im Amerika der 30er bis 60er Jahre erklärt.

Wolfram Knauer (Februar 2015)


 

Sophotocated Lady.
Jazzphotographien 1948-1965
von Susanne Schapowalow
Bad Oeynhausen 2011 (jazzprezzo)
200 Seiten, 55 Euro
ISBN: 9-978-3-9810250-9-9

2011schapowalowQuincy Jones schreibt ein Geleitwort, weil er sich gern an die junge Frau erinnert, die 1960 einen Monat lang mit ihm und seiner Band durch Europa reiste. Susanne Schapowalow begann ihre Karriere als Fotografin in den Mitt-1940er Jahren, fotografierte bald darauf Trümmergelände und Jazzmusiker. Sie war mit Olaf Hudtwalcker befreundet, der sie immer wieder nach Frankfurt einlud, wo sie 1948 für einen Artikel im Schwäbischen Tagblatt den Jazzkeller des dortigen Hot Club ablichtete. Mitte der 1950er Jahre war die gebürtige Hamburgerin bei allen Konzerten amerikanischer Stars in der Musikhalle zugegen, fotografierte Louis Armstrong, Duke Ellington, Gerry Mulligan, Lee Konitz, aber auch deutsche Musiker wie Klaus Doldinger, Caterina Valente, Paul Kuhn, Wolfgang Schlüter oder Rolf Kühn. Sie reiste zu Festivals in Düsseldorf und Essen, arbeitete für Joachim Ernst Berendt und andere, machte sich einen Namen als eine Fotografin, der es gelang, besondere Situationen festzuhalten: nicht bloß den Blick auf den arbeitenden Musiker auf der Bühne, sondern weit mehr den Menschen, den kreativ Schaffenden. Ihre Bilder waren in den 1950er und frühen 1960er Jahren in vielen Fachzeitschriften zu sehen. Das Hotel Ellington in Berlin stattete das gesamte Haus bei seiner Eröffnung im Jahr 2007 mit ihren Fotos aus, Restaurant, Lobby sowie alle Salons und Gästezimmer. Mitte der 1960er Jahre allerdings hatte sich Schapowalow vom aktiven Fotografieren zurückgezogen und eine erfolgreiche Bildagentur gegründet. Jetzt ist im jazzprezzo-Verlag das erste Buch erschienen, das die eindrucksvollen Bilder in angemessener Umgebung präsentiert. Dem Herausgeber Rainer Placke und dem Grafiker Ingo Wulff ist dabei ein großer Wurf gelungen: Papier, Gestaltung, Bildqualität, die Gruppierung der Fotos, die Beschriftungen, die begleitenden Texte – “Sophotocated Lady” hat alle Chancen zum Wunsch-Weihnachtsgeschenk für alle Jazzliebhaber zu werden. Unsere Empfehlung soll dabei nicht verschweigen, dass der Autor dieser Zeilen selbst ein Vorwort zum Buch verfasst hat und somit ein wenig befangen ist. Aber sei’s drum: Hätte er kein Belegexemplar erhalten, hätte auch er es sich zu Weihnachten gewünscht! Ein großer Wurf, eine großartige Fotografin, ein gelungenes Buch!

Wolfram Knauer (November 2011)


Carla Bley
von Amy C. Beal
Urbana/IL 2011 (University of Illinois Press)
113 Seiten, 22 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-0818-7

2011bealCarla Bley ist sicher eine der wichtigsten Komponistinnen des 20sten Jahrhundert – wobei die Einschränkungen dieses Satzes gleich mehrere sind, die alle so nicht stimmen. Weder hat ihre Kompositionskraft am 31. Dezember 1999 aufgehört, noch ist ihre Bedeutung geschlechterbeschränkt. In ihrem Buch will Amy C. Beal dem Phänomen der Pianistin, Komponistin und Bandleaderin historisch, aber durchaus auch musikalisch gerecht werden

Sie beginnt biographisch mit der Geburt von Lovella May Borg in Oakland, Kalifornien, um dann gleich die frühesten musikalischen Einflüsse aufzuzählen: absolutes Gehör, Ballettmusik von Erik Satie im Radio, Beethoven, Chopin, Grieg, Rachmaninoff am Klavier, protestantische Hymnen in der Kirche ihrer fundamentalistisch-gläubigen Eltern. Mit 17 begann sie in einem Club in Monterey Lounge-Piano zu spielen, besaß aber nur ein begrenztes Repertoire an Standards und konnte kaum improvisieren. Dann entdeckte sie den Jazz für sich, reiste nach New York, hörte Miles Davis und all die anderen Vorbilder. Zusammen mit Paul Bley zog sie 1957 zurück an die Westküste, wo sie mehr und mehr zu komponieren begann. Bley, George Russell, Steve Swallow und andere Musiker waren von ihren Stücken begeistert und spielten sie in diversen Bands, in denen sie arbeiteten.

Beal untersucht einige der frühen Kompositionen Bleys, “Ictus”, “Floater”, Walking Woman” und erklärt die Faszination dieser Stücke, die dazu führte, das 1962 etwa auf einem Duzend Alben Arrangements und Interpretationen dieser Werke zu finden waren. 1964 fanden sich die Bleys in New York im Zentrum einer Bewegung, die versuchte, die neuen Strömungen in der improvisierten Musik der USA zu kanalisieren. Bill Dixon hatte in einem New Yorker Club eine Konzertreihe ins Leben gerufen, die er “October Revolution in Jazz” nannte, und zugleich die Jazz Composers Guild gegründet, eine Musikerinitiative, der neben ihm und den Bleys Sun Ray, Roswell Rudd, John Tchicai, Archie Shepp und viele andere angehörten. Bley und Mantler fokussierten diese Initiative in einer Art All-Star Band, dem Jazz Composers Guild Orchestra.

Die Ehe der Bleys scheiterte, und Carla tat sich mit dem aus Österreich stammenden Trompeter Michael Mantler zusammen; aus ihrer 25 Jahre dauernden Beziehung stammt ihre gemeinsame Tochter Karen Mantler. 1967 gingen sie auf eine Europatournee, wo sie erstmals mit der aggressiven Kunst Peter Brötzmanns und Peter Kowalds konfrontiert wurden. Zugleich war sie fasziniert von den Klängen des Beatles-Albums “Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band”, das damals erschien. Sie veränderte ihre Klangsprache, arbeitete mit unterschiedlichen, oft kontrastierenden Klangfarbenschattierungen, wie Beal insbesondere an Bleys Suite “A Genuine Tong Funeral” zeigt. “Escalator Over the Hill” von 1972, eine Art Jazz-Opern-Fusion, ist sicher das Hauptwerk der Komponistin. Mit der Veröffentlichung dieses Werks auf Schallplatte begann Bley mit Mantler zugleich ein neues Kapitel ihrer Arbeit, gründete den New Music Distribution Service sowie das Label WATT Records, weitere Versuche von Musikern, ihre Musik auch rechtlich unter Kontrolle zu behalten.

1974 begann Bley mit eigenen, unterschiedlich besetzten Bigbandbesetzungen, und Beal untersucht die Einflüsse auf ihre Arbeit in diesen Jahren, Mingus, Haden, die christliche Tradition ihres Elternhauses, aber vor allem auch all die Musiker, mit denen sie in ihrer Karriere zusammenspielte und deren musikalische Sprache sie immer gern aufnahm. Beal geht auch auf Bleys “Fancy Chamber Music” ein, Musik also für kleinere Besetzungen einschließlich der engeren Zusammenarbeit mit Steve Swallow, seit langem ihrem musikalischen, daneben aber seit etlichen Jahren auch ihrem Lebenspartner.

Beals Buch ist eine Biographie, die der Persönlichkeit Carla Bley kaum wirklich zu Leibe rückt, zugleich eine Annäherung an die Musik, die ohne analytischen Fokus auskommt. Der Autorin gelingt es, die verschiedenen Einflüsse auf Bleys Werk zu erklären und zugleich ihr musikalisches Vokabular zu fassen. Sie liefert damit eine hervorragende Grundlage für weiterführende Studien – und auf eine Autobiographie der Pianistin und Komponistin würden sich nicht nur ihre Fans freuen.

Wolfram Knauer (August 2014)


Jazz Photography. A Bibliography Spanning 75 Years von Jan J. Mulder Almere/NL 2011 (Names & Numbers) 131 Seiten, 14 Euro (inclusive Porto in Europa) ISBN: 978-90-77260-18-0 Bezugsquelle: Names & Numbers, gehojazz@planet.nl 2011mulderNames & Numbers ist ein kleiner holländischer Verlag, der sich vor allem auf Diskographien spezialisiert hat. Der Sammler und Jazzhistoriker Jan J. Mulder hat sich mit seinem Buch über “Jazz Photography” einem Thema zugewandt, das mit dem Jazz fast genauso eng verbunden ist wie das der Tonaufzeichnung. Er beschreibt das Phänomen von Foto-Büchern, wie sie seit 1936 die Jazzgeschichte begleiten und dokumentieren. Jazz als lebendige Bühnenkunst bietet sich für Fotobände geradezu an, und jede Menge erstklassiger Fotokünstler, allen voran William Claxton, William Gottlieb oder Herman Leonard, haben durch ihre Sicht auf die Musik selbst Jazzgeschichte geschrieben. Mulders Auflistung ist eine Art kommentierte Bibliographie. Er geht chronologisch vor vom ersten “Foto-Album” mit 63 Bildern, 1936 herausgegeben von der holländischen Zeitschrift De Jazzwereld bis z Herb Snitzers “Glorious Days and Nights. A Jazz Memoir” von 2011. Jeder Eintrag enthält Informationen über Umfang, Material, Größe, Anzahl der enthaltenen Bilder, aber auch Beispiele der abgelichteten Künstler. Daneben nennt Mulder Wiederveröffentlichungen oder Veröffentlichungen in anderen Sprachen. Neben Büchern finden sich auch vereinzelte Postkartenserien; neben reinen Fotobüchern auch Bücher, in denen Fotos wenigstens eine größere Rolle spielen. Mulders Buch ist damit sicher vor allem ein Nachschlagewerk für Fotobuchsammler (ja, solche gibt es), daneben aber auch ein überaus hilfreicher nüchterner Überblick über ein über die Jahre immer stärker angewachsenes Verlags-Oeuvre. Wolfram Knauer (November 2013)


Joe Zawinuls Erdzeit. Interviews für ein Portrait von Robert Neumüller Weitra 2011 (Bibliothek der Provinz) 152 Seiten, 22 Euro ISBN: 978-3-85252945-5 2011neumuellerIm Mai 2006 begann Robert Neumüller mit den Dreharbeiten für einen Dokumentarfilm über den Pianisten, Keyboarder und Komponisten Joe Zawinul, einen der wenigen Europäer, die im Mutterland des Jazz Karriere machten. Der Film sollte ein Geschenk zu Zawinuls 75sten Geburtstag werden, aber im September 2007 verstarb der österreichische Nationalheld des Jazz. Und so wurde “Joe Zawinuls Erdzeit” ein filmischer Nachruf auf einen der bedeutenden Musiker des Jazz, einen der Miterfinder der Fusion, einen kreativen genauso wie kritischen Geist. Für die Dokumentation hatte Neumüller etliches an Interviewmaterial gesammelt, und nach Schnitt und Fertigstellung des Films fand er, dass dieses Material auch deshalb eine zusätzliche Verwertung erhalten sollte, weil er im Film nur Ausschnitte daraus hatte verwenden können. Im Buch lesen wir nun die Gespräche mit Zawinul. Es geht um aktuelle Projekte, biographische Stationen, um Österreich und Amerika, um seine Familie, um Friedrich Gulda, Miroslav Vitous, Miles Davis, Wayne Shorter, und die anderen Musiker von Weather Report. Es geht um Rhythmik, HipHop und Sport, um Mozart und Bach, um Improvisation, Konservatorien und vieles mehr. Zwischendrin finden sich aber auch Interviewausschnitte mit seiner (kurz vor ihm verstorbenen) Frau Maxine sowie mit seinen Söhnen und mit Wayne Shorter. Das alles ist nicht chronologisch, sondern so geordnet, wie es entstand, thematisch also. Es liest sich wie ein Film mit immer neuen Schnitten, Szenen, Themen. Am Ende meint man Joe Zawinul tatsächlich ein wenig näher zu kennen, den Menschen genauso wie den Musiker, sein Weltverständnis und sein Verständnis von Musik. Die Fotos zeigen ihn bei der Arbeit, aber auch in Drehsituationen für den Dokumentarfilm. Und so bietet das Buch am Ende sowohl ein interessantes “The Making of” wie auch eine überaus empfehlenswerte und sehr eigenständige Lektüre. Wolfram Knauer (September 2013)


Arbeitsfeld Schule und Musikschule. Zur künstlerischen Ausbildung von Musikpädagogen. Ein integratives Konzept von Hans-Joachim Heßler Duisburg 2011 (United Directions of Music) 163 Seiten, 18,90 Euro ISBN: 978-3-942677-2-8 2011hesslerAusgehend von der Feststellung, dass die Studieninhalte für Musikpädagogen für den Bereich der Schule wie auch der Musikschule dringend reformbedürftig sei, entwickelt Hans-Joachim Heßler in seinem Buch ein, wie er es nennt “integratives Konzept” einer solchen künstlerischen Ausbildung. Er identifiziert Musikpraxis als einen wichtigen allgemein-pädagogischen Ansatz in den Richtlinien für allgemeinbildende Schule und wiederholt Hans Günther Bastians gern zitierte Studie, nach der Musikpraxis bei Schülerinnen und Schülern die soziale Kompetenz besonders fördere. Rock und Pop hätten zwar seit Jahren ihren Platz im Musikunterricht gefunden, doch würde hier nach wie vor am “Traditionsprinzip” festgehalten, das vor allem die europäische Kunstmusiktradition festschreibe, andere musikalische Ansätze dagegen vernachlässige. Heßlers “integratives Konzept” will dem Traditionsprinzip eine zweite Säule beistellen, jene nämlich des Jazz, den er als “Weltmusik in einem umfassenden Sinne” begreift und als Basis der meisten populären Musikformen. Der Jazz sei von allen nicht-traditionellen Ansätzen am weitesten wissenschaftlich erfasst worden und überhaupt erfassbar, meint Heßler (zitiert in diesem Kapitel allerdings nur Nicht-Wissenschaftler); außerdem sei seine Didaktik – und hier bezieht er sich vor allem auf Deutschland – weitgehend ausgefeilt (als Beispiele verweist er allerdings ausgerechnet auf Aebersold-Kassetten). Er identifiziert als Jazzformen, die er für den unterricht für besonders geeignet halte: “a) Free-Jazz, b) Funk-, Rock und Pop-Jazz, c) Latin- und Ethno-Jazz und d) No-Wave”. Man mag über diese Begriffszuordnung streiten: So bezeichnet “No Wave” üblicherweise eigentlich eher jazz-fremde Musikrichtungen, das, was Heßler allerdings meint, ist irgendwo zwischen jener eklektizistischen, post-modern angehauchten Beliebigkeit der 1980er Jahre und John Zorns New Yorker Downtown-Szene angesiedelt, die vielleicht ganz zu Recht eines eigenen Namens zumindest in der Jazzwelt entbehrte. Dann zitiert der Autor als Begründung dafür, den Jazz als “Überbau” zu verstehen, Joachim Ernst Berendt: Rock sei nicht zu denken ohne Jazz, Jazz dagegen durchaus ohne Rock. Improvisation habe weithin anerkannte positive Lehr- und Lerneffekte und sei bekanntermaßen Grundmedium des Jazz. Improvisationsunterricht dürfte daher in keiner musikpädagogischen Ausbildung fehlen. In einem eigenen Kapitel fordert Heßler die Zusammenarbeit von Schule und Musikunterricht, durch die insbesondere das Heranführen ans Instrument, ans praktische Musikmachen gefördert werden könne. Er beschreibt die Anforderungen an die Lehrenden in verschiedenen Instrumentengattungen und fordert in seinem Schlusskapitel eine offenere und breitere Ausbildung von Musikpädagogen, ihre Befähigung insbesondere im Bereich auch der Neuen Musik und des Jazz, die ihnen ermöglichten, sich besonders offen auf andere stilistische Formen einzustellen, diverse Arten ethnischer Musikern etwa, Rock, Pop etc. Alles in allem formuliert Heßler ein aus seiner eigenen Praxis heraus verstandenes Konzept, das den Jazz als eine weitere Säule in der Ausbildung von Musikpädagogen festschreiben möchte. Man mag dieser Forderung folgen oder nicht; Heßlers Ausführungen bieten dann für beide Seiten das eine oder andere Argument. Wolfram Knauer (April 2013)


Autobiographie du Jazz von Jacques Réda Paris 2011 (Climats) 360 Seiten, 23 Euro ISBN: 978-2-0812-4880-9 2011redaJacques Réda präsentiert seine eigene Autobiographien des Jazz, ein Buch mit Darstellungen aller ihm besonders wichtig erscheinenden Musiker von den Anfangstagen bis fast in die Gegenwart und kurzen subjektiven Würdigungen. Dabei gibt es wenig Neues zu entdecken, Réda immerhin ist lange genug im Journalismus tätig, um die Einschätzung seiner Lieblinge interessant zu gestalten, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden und in den kurzen Abrissen eine Art musikalische Einordnung der Künstler vorzunehmen, ohne ins biographische oder diskographische Detail gehen zu müssen. Für den Kenner der Materie gibt es dabei wenig Neues zu entdecken, für den Neuling eignet sich das Buch als Nachschlagewerk oder knappe Einführung. Wie meist bei solch fast schon lexikalisch angelegten Büchern ist über die Auswahl der dokumentierten Künstler trefflich zu streiten, und auch die Länge der Artikel lässt mehr Aufschluss auf Rédas Geschmack als über die Bedeutung der Musiker zu. Wolfram Knauer (April 2013)


Tombeau de John Coltrane von Xavier Daverat Marseille 2011 (Parenthèses) 439 Seiten, 19 Euro ISBN: 978-2-86364-654-0 2011daveratDas “Grabmal” des John Coltrane, das Xavier Daverat in seinem Buch über den Saxophonisten aufstellt, ist weniger eine biographische Darstellung als vielmehr eine Annäherung an Coltrane als Künstler, dessen Stil auf der musikalischen Sprache des Bebop aufbaute, sie weiterentwickelte und in den Innovationen, die er mitentwickelte, selbst zu einem der einflussreichsten Musiker des Jazz machte. Im ersten Kapitel schreibt Daverat über Coltrane als jungen Parker-Schüler und die Anfänge der Ausbildung eines eigenen Stils. Im zweiten Kapitel beschreibt er den Einfluss, vor allem aber auch die Unterschiede zu Sonny Rollins. Kapitel 3 widmet sich Tranes Zeit bei Miles Davis, verortet den Saxophonisten dann in der Moderne des Jazz zwischen Monk und den jungen Free Jazzern. In weiteren Kapiteln untersucht Daverat das klassische Quartett des Meisters, geht auf dessen freie Phase ein und widmet sich dem spirituellen Spätwerk. Weitere Kapitel beschäftigen sich mit Tranes ästhetischer Haltung sowie der Position des Saxophonisten zur und in der Entwicklung der Avantgarde im Jazz der 1960er Jahre. Ein umfangreicher zweiter Teil des Buchs dann betrachtet (meist) nachfolgende Saxophonisten, alphabetisch geordnet von A wie George Adams bis Z wie Michael Zilber, und fragt nach dem Einfluss Coltranes auf deren Stilistik. Eine Diskographie Coltranes und ein Personenindex schließen das Buch ab. Daverats Buch ist vom Ansatz her eher ein Beitrag zu einem bereits geführten Coltrane-Diskurs in der Jazzforschung und weniger eine biographische Würdigung oder gar eine musikalische Hinleitung zur Musik des Saxophonisten. Insbesondere die zweite Hälfte des Buchs, in der sich der Autor auf die Suche nach “Coltranismen” im Stil anderer Saxophonisten macht, ist dabei eine hilfreiche Ergänzung zu einem bislang unzureichend bearbeiteten Teil der Coltrane-Forschung: seinem Einfluss nämlich auf andere Musiker, der sich entweder im klanglichen Andeuten oder aber auch in deutlicher Abgrenzung zum Vorbild äußert. Wolfram Knauer (März 2013)


West Meets East. Musik im interkulturellen Dialog herausgegeben von Alenka Barber-Kersovan & Harald Huber & Alfred Smudits Frankfurt 2011 (Peter Lang) 258 Seiten, 46,80 Euro ISBN: 978-3-631-61262-0 2011barber“East Meets West” hieß eine Tagung, die vom Institut für Popularmusik, vom Institut für Musiksoziologie, vom Arbeitskreis Studium Populärer Musik und vom Österreichischen Musikrat 2008 an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien durchgeführt wurde. Der vorliegende Sammelband enthält die Referate, elf an der Zahl, die sich verschiedenen Aspekten interkultureller Einflüsse nähern. Da gibt es generellere und speziellere Ansätze, wird über den “interkulturellen Dialog durch elektronische Musik” oder über den Einfluss östlicher Popmusik auf den Westen geschrieben, über “experimentellen Sound aus Beirut”, Tendenzen chinesischer Musik und andere Themen. Jazz kommt auch dabei vor, vor allem in zwei Beiträgen. Ekkehard Jost schaut auf “Tendenzen zum interkulturellen Mono- und Dialog im französischen Jazz der Gegenwart” und betrachtet dabei vor allem Beispiele von Michel Portal, Bernard Lubat und Uzeste Musical. Und Andreas Felber untersucht die manchmal fast biographisch anmutende, dann wieder vor allem strukturelle Integration von Jazz und indischen Musiktraditionen bei New Yorker Musikern und analysiert dabei Stücke von Sunny Jain, Rez Abbasi und Vijay Iyer. Alles in allem: ein Tagungsband mit sehr unterschiedlichen Beiträgen, inhaltlich genauso wie vom Ansatz her oder der analytischen Tiefenschärfe. Wolfram Knauer (März 2013)


David Baker. A Legacy in Music von Monika Herzig Bloomington 2011 (Indiana University Press) 422 Seiten, 29,95 US-Dollar ISBN: 978-0-253-35657-4 2011herzigDavid Baker hat mehrere Karrieren gemeistert: als Posaunist, Cellist, Komponist und Pädagoge. Monika Herzig, in Deutschland geborene Pianistin und Musikwissenschaftlerin, die seit 1991 in Bloomington, Indiana, der langjährigen Wirkungsstätte Bakers, lebt, nähert sich in ihrem Buch Bakers Biographie genauso an wie seiner Musik. Der biographische Teil beginnt 1931 mit Bakers Geburt in Indianapolis. Dort ging Baker zur Crispus Attacks High School, die einen Musikschwerpunkt besaß und durch die auch andere namhafte Musiker gegangen waren, unter ihnen etwa J.J. Johnson der dort 1941 seinen Abschluss gemacht hatte, der den jungen Kollegen in Indianapolis, also auch David Baker oder dem jungen Slide Hampton als Role Model diente. In den 1950er Jahren begann Bakers professionelle Karriere als Posaunist, der unter anderem mit Wes Montgomery spielte und 1959 ein Stipendium für die Lenox School of Jazz erhielt. Hier lernte er etliche Musiker kennen, mit denen er auch später noch zusammenarbeiten sollte, unter ihnen etwa George Russell, der Bakers Komposition “Kentucky Oysters” 1960 auf seinem “Stratusphunk”-Album aufnahm. 1960 saß Baker zudem in der Bigband, mit der Quincy Jones durch Europa tourte. Ein Autounfall zwang Baker 1964 dazu, die Posaune aufzugeben; nach dem Ausprobieren mehrerer Instrumente entschied er sich stattdessen Cello zu spielen. Zugleich schrieb er noch mehr und begann Ende der 1960er Jahre seine Karriere als Jazzpädagoge an der Jazzabteilung der Indiana University, deren Leiter er bald wurde. Herzig beschreibt Bakers pädagogische Konzepte in Bezug auf Gehörbildung, Improvisation, das Lernen eines Repertoires, Jazzgeschichte, Arrangement, Ensembleleitung oder seine Beteiligung an Publikations- und Workshopprojekten Jamey Aebersolds. Ein eigenes Kapitel widmet sie dem Bandkonzept seiner “21st Century Bebop Band”; darin auch untersucht Brent Wallarab Bakers kompositorischen Umgang mit dem Blues. David Ward-Steinman analysiert den Komponisten Baker und beschreibt seine Klaviersolo-, Kammermusik-, Chor- sowie Orchesterkompositionen. John Edward Hasse würdigt Bakers Zusammenarbeit mit den pädagogischen Programmen des Smithsoninan National Museum of American History und seinem Jazz Masterworks Orchestra. Willard Jenkins erläutert das soziale Bewusstsein Bakers, sein Engagement fürs National Endowment for the Arts, den National Council on the Arts, die National Jazz Service Organization und die International Association for Jazz Education. In einer Coda sammelt Herzig Aussagen verschiedener Musiker über ihren Kollegen, den Musiker und Pädagogen David Baker. Ein Anhang enthält zudem ein Werkverzeichnis seiner Kompositionen, weitere Anhänge außerdem eine Liste der Ehrungen und Preise, eine Auflistung der Ensembles in denen er mitwirkte sowie seiner Lehraufträge. Eine Auflistung eigener Veröffentlichungen und eine Diskographie wird schließlich von einer allgemeinen Bibliographie über Baker gefolgt Alles in allem bietet “David Baker. A Legacy in Music” einen hervorragenden Einblick in Bakers vielfältige Arbeit. Es ist keine Biographie im üblichen Sinn, sondern ein Buch, das verschiedene Ansätze miteinander verbindet, damit aber vielleicht besonders passend das Wirken dieses Musikers und Pädagogen würdigt. Wolfram Knauer (März 2013)


Plattensüchtig. Expeditionen in eine andere Welt. 7 Schallplattensammler im Interview von Jürgen Schmich Frankfurt/Main 2011 (Eigenverlag) 168 Seiten, 22 Euro ISBN: 978-3-00-036732-8 Zu bestellen über www.plattensuechtig.de 2011schmichNeben Briefmarken sind im 20sten Jahrhundert wohl Schallplatten zum begehrtesten Sammelobjekt geworden. Die Intensität des Sammelns aber besitzt eine große Spannbreite. Der eine sammelt, weil er jede Platte mit Erinnerungen verbindet; der andere durchaus auch im Bewusstsein des pekuniären Wertes der von ihm angehäuften Objekte. Während ersterer wahrscheinlich gern in seine Sammlung hineinhorcht, wird letzterer durchaus schon mal darauf achten, einige der wertvollsten Stücke “mint”, also ungespielt zu belassen, damit sie ihren Wert nicht einbüßen. Jürgen Schmich ist in sieben Gesprächen mit Sammlern ihrer Leidenschaft auf die Spur gekommen. Im Vorwort beschreibt er die verschiedenen Facetten des Sammelns, die Formatänderungen auf dem Tonträgermarkt, den Wandel im Sammelverhalten zwischen Plattenladen, Plattenbörse und eBay. Der einzige Jazzsammler des Buchs, Andreas Schmauder, machte irgendwann sein Hobby zum Beruf und eröffnete ein Schellackplattenantiquariat. Sein Sammlungsschwerpunkt liegt auf europäischem Jazz vor 1935. Er erzählt über seinen Weg zum Sammler, über Plattenspieler und Grammophone, darüber, wie es dazu kam, dass kein geringerer als Robert Crumb das Logo seines Ladens zeichnete, über seinen Vollständigkeitsanspruch, den Umgang mit den Platten, über Reinigung, Erfassung, Ordnung im Regal und überhaupt die Besessenheit hinterm Sammeln. 35.000 bis 40.000 Schellackplatten besäße er privat, seine wertvollste sei “Sweet Georgia Brown” von Kai Julian, die rarsten seien acht Testpressungen von Sam Wooding. Peter Bastine sammelt Picture Discs, also Platten, die ausnahmsweise nicht schwarz, sondern mit Bildern geschmückt sind. Daneben sammelt er auch abspielbare Postkarten. Auch er berichtet über die Quellen und über den Unterschied zwischen Sammler- und Marktwert seiner Schätze. Heinz-Günther Hartig sammelt Rock ‘n’ Roll, insbesondere Buddy Holly, aber auch Elvis. Er lässt auch andere an seine Plattensammlung unter der Voraussetzung, dass sie sie dort wieder einstellen, wo sie sie herausgenommen haben. Der im sächsischen Glauchau lebende Edmund Thielow sammelt vor allem Beatles-Platten. Er erzählt von den Problemen, in der DDR an West-Produktionen zu kommen, vom Versuch, sein Archiv öffentlich zu machen und von einer von ihm selbst gepressten John-Lennon-Gedenkplatte, auf der absolut nichts zu hören war. Der Zürcher Felix Aeppli sammelt die Rolling Stones und veröffentlichte Mitte der 1980er Jahre einen Werkkatalog der Band, der inzwischen im Internet nachschlagbar ist. Hans-Jürgen Finger sammelt deutsche Schlager, Chris Wallner Soul, Funk, House und Techno. Am Ende eines jeden Gesprächs legt Schmich seinen Gesprächspartnern den jeweils selben Fragebogen vor: Wie viele Platten haben Sie zurzeit? Die erste selbst gekaufte Platte? Lieblingsplatte? Die wertvollste? Die rarste? Die originellste? Die peinlichste? usw. Ansonsten lässt er die Sammler erzählen, fragt behutsam nach und nimmt sie dabei in ihrer Leidenschaft ernst, von der sie selbst wissen, dass sie eine nicht jedem vermittelbare Marotte ist, eine Sucht, wie der Buchtitel dies suggeriert. Nicht nur Sammler werden sich in den Gesprächen dieses lesenswerten Buchs wieder finden. Wolfram Knauer (März 2013)


Mr. Trumpet. The Trials, Tribualtions, and Triumph of Bunny Berigan von Michael P. Zirpolo Lanham/MD 2011 (Scarecrow Press) 551 Seiten, 59,95 US-Dollar ISBN: 978-0-8108-8152-5 2011zirpoloBunny Berigan gehört zu jenen Jazzmusikern, deren Legende durch ihr Spiel genauso begründet scheint wie durch ihr tragisches Ende – Berigan starb 1942 mit nur 33 Jahren an den Folgen seines Alkoholismus. Michael P. Zirpolo, Jazzfan und Rechtsanwalt aus Ohio, hat nun ein Buch geschrieben, das in der Sorgfalt seiner Recherche durchaus als definitive Bunny-Berigan-Biographie gelten darf. Zirpolo verfolgt dabei nicht nur die Stationen im Leben und Wirken des Trompeters von seiner Geburt und seiner Jugend in Wisconsin bis zu seinem Tod, sondern er hinterfragt auch die Arbeitsbedingungen – konkret mit Bezug auf Berigan, aber seine Recherche hilft daneben, die Jazzszene der 1930er Jahre ganz allgemein besser zu verstehen. Ende der 1920er Jahre ging Berigan von Wisconsin nach New York, spielte 1930 mit Hal Kemp und wurde 1931 ins CBS Studioorchester engagiert. Er machte sich einen Namen auf der mit Trompetern nicht gerade armen Jazzszene New Yorks und spielte bereits 1931 seine ersten Platten mit Benny Goodman ein. Mit 24 Jahren wurde er 1932 Mitglied des Paul Whiteman Orchesters und saß 1934 als zweiter Trompeter in der Benny Goodman Bigband. Nebenbei spielte er Mitte der 1930er Jahre in vielen der kleineren Clubs Manhattans und nahm auch unter eigenem Namen auf, 1936 etwa zum ersten Mal “I Can’t Get Started”, das aber erst in einer anderen Version aus dem nächsten Jahr ein nationaler Hit werden sollte. Berigan arbeitete immer wieder mit der Sängerin Lee Wiley, wurde aber auch als Solist so gefeiert , dass er Anfang 1937 den Schritt wagte, eine eigene Bigband aufzubauen. Zugleich allerdings wurde sein Alkoholproblem immer deutlicher und selbst in der Musikpresse diskutiert. Zirpolo beschreibt in diesen Kapiteln die Zwänge eines Bandleaders der Swingära, Konkurrenzdruck, gedrängte Tourpläne mit mehr One-Nighters als Wochen-Engagements, benennt die Einkünfte und stellt diesen die Kosten gegenüber, die ein Bandleader wie Berigan als Geschäftsführer seiner “Firma” hatte. Er erzählt den Werdegang der Berigan Bigband genauso wie er die Auswirkungen des Alkohols auf Berigans Bühnenverhalten beschreibt, nennt Aufnahmesessions und zitiert aus Erinnerungen von Musikern, mit denen Berigan zusammenarbeitete. 1940 gab der Trompeter sein Orchester kurzzeitig auf und wurde Mitglied des Tommy Dorsey Orchestra, tourte im Herbst desselben Jahres aber bereits wieder mit eigener Band. Zeitweise konnte er seine Musiker nicht pünktlich bezahlen und bekam darüber öffentlich verhandelte Probleme mit der mächtigen Musikergewerkschaft. Daneben aber ging es auch gesundheitlich bergab, und im Juni 1942 erlag er inneren Blutungen als Folge seines Alkoholabusus. “Die Legende beginnt” überschreibt Zirpolo das dem Tod folgende Kapitel, das die kritische Aufarbeitung des frisch Verstorbenen untersucht und diese bis in die Gegenwart verfolgt. Zirpolo bezieht sich für sein Buch ausführlich auf eine Sammlung zu Berigans Leben und Schaffen, die ein anderer Sammler und Privatforscher, nämlich Cedric Kinsley White, zusammengetragen hatte. Diese enthält viele zeitgenössische Presseberichte und macht Zirpolos Buch damit zu einer Biographie voller Verweise. Manchmal gerät das dann schon etwas zu präzise und für den Laien damit schwer lesbar, ist auf der anderen Seite aber genau deshalb eine exzellente Grundlage für jede weitere Auseinandersetzung mit Bunny Berigan. Die Musik selbst hat der Autor dabei allerdings doch etwas stark ausgeklammert: Musikalische Beschreibungen oder gar Wertungen finden sich höchstens in Zitaten anderer Autoren. Statt einer Diskographie verzeichnen Anhänge Berigans Airchecks und Radio Transcriptions; außerdem schließt ein sorgfältiges Register das Buch ab. Wolfram Knauer (März 2013)


Fela Kuti. This Bitch of a Life von Carlos Moore Berlin 2011 (Tolkemitt Verlag; nur erhältlich über Zweitausendeins, www.zweitausendeins.de) 384 Seiten, 19,90 Euro ISBN: 978-3-942048-42-2 2011mooreFela Antikulapo Kuti war der Star des Afrobeat, einer der einflussreichsten Musiker Afrikas im 20sten Jahrhundert. Auf dem von Aids gebeutelten Kontinent wandte er sich gegen Geburtenkontrolle, doch sein Tod an den Folgen seiner eigenen Aids-Erkrankung sensibilisierte letzten Endes viele Afrikaner für die Notwendigkeit eines effektiven Schutzes vor dieser Krankheit. Carlos Moore genoss das Vertrauen des Saxophonisten und Komponisten, als er in den frühen 1980er Jahren mit Fela an dem Manuskript arbeitete, das erstmals 1982 als authorisierte Biographie in englischer Sprache erschien. Nun hat er das Buch bis zum Tode Kutis fortgeschrieben und den autobiographischen und Fragen/Antwortteilen des Buchs ein kluges Nachwort beigegeben. Es ist immer noch lesenswert, wie Fela, der Star Afrikas über Politik, Frauen, afrikanische und afro-amerikanische Kultur reflektiert, wie sich Freunde vor allem Freundinnen und etliche seiner Ehefrauen (Fela lebte polygam und heiratete an einem Tag 27 Frauen) ausgesprochen offen zu ihm äußern. Es ist ein Buch über Kunst, Tradition, Macht und Liebe, über Selbstbewusstsein und die Kraft der Musik. Moores Buch erlaubt einen Einblick in die Weltsicht dieses Mannes, offen, ungeschönt, ein wenig Miles-Davis-esk sozusagen, auch nach dreißig Jahren ungemein lesenswert. Wolfram Knauer (Dezember 2012)


Bonanza. Insights and Wisdom from Professional Jazz Trombonists von Julie Gendrich Rottenburg 2011 (advance music) 563 Seiten, 31,95 Euro ISBN: 978-3-89221-113-6 2011gendrichJulie Gendrich wollte eigentlich ein paar Interviews mit Posaunisten führen, die in der Woody Herman Band gespielt hatten, und damit dem Beispiel des Autors Kurt Dietrich folgen, der 1995 im selben Verlag ein Buch über Duke Ellingtons Posaunisten veröffentlicht hatte. Als sie herausfand, dass Herman allein seit 1965 mehr als 100 Posaunisten in der Band hatte, entschied sie sich um und befragte stattdessen 40 Jazzposaunisten eigener Wahl, einige bekannter, andere eher in der zweiten Reihe. Ihre Fragen berühren biographische Details, Informationen über die spezifische Karriere, über Einflüsse und berufliche Erfahrungen, vor allem aber über instrumentalspezifische Dinge, Improvisation und vieles mehr. Die erste Frage des ersten Interviews im Buch ist ein gutes Beispiel für ihren Ansatz. Sie fragt Wayne Andre: “Ich versuche herauszufinden, wie professionelle Posaunisten zu improvisieren lernen, sowie, sofern sie ihren Schülern das Improvisieren beibringen, welche Übungen sie dafür benutzen.” Aber Jazzmusiker wären nicht Jazzmusiker, wenn nicht auch ihre Antworten improvisatorisch abschweifen würden. Andre antwortet, man müsse viel hören, zuhören, transkribieren, kopieren, und dann seinen eigenen Stil finden. Dann erzählt er, wie er selbst zur Posaune gekommen sei, nennt Lehrer, erzählt über Gigs mit Charlie Spivak, Sauter-Finegan und Woody Herman. Er erklärt, wie wichtig ein gutes Wissen über harmonische Zusammenhänge für einen Posaunisten ist, und zählt einige seiner Lieblingsposaunisten auf (und erklärt warum). Auf ähnliche Art und Weise unterhält sich Julie Gendrich z.B. mit Hal Crook, John Fedchock, Conrad Herwig, Don Lusher, Earl McIntyre, John Mosca, Ed Neumeister, Jim Pugh, Bill Reichenbach, Steve Turre, Mel Wanzo, Chris Washburne, Bill Watrous, Jiggs Whigham oer Phil Wilson, die alle bereitwillig aus der Werkstatt berichten. So richtet sich das Buch vor allem an Posaunisten, denen es jede Menge wertvolle Tipps vermittelt, eine kleine verbale Masterclass quasi bei immerhin 40 erfahrenen Kollegen. Wolfram Knauer (Dezember 2012)


Tiny. The Life and Discography of Tiny Kahn von Malcolm Walker Brighton 2011 (Discographical Forum) 46 Seiten erhältlich durch: Discographical Forum, discoforum@yahoo.com 2011walkerTiny Kahn umfasst gerade mal acht Jahre, von 1944 bis 1952, und doch erlangte der Schlagzeuger, dessen Name “Tiny” umgekehrt proportional zu seiner tatsächlichen Körperfülle war und der 1953 im Alter von gerade mal 29 Jahren starb, geradezu Legendenstatus unter Musikern. Zum Leben des Tiny Kahn finden sich in Malcolm Walkers dünner Mobnographie nur rudimentäre Informationen. Immerhin beginnt seine Diskographie beginnt mit der Reproduktion eines legendären Interviews, dass Kahn 1950 dem Magazin Down Beat gab, und in dem er erklärt, was den modernen Schlagzeuger ausmache, der weit mehr sei als ein Zeitgeber, in dem er sich zugleich an seine Zeit in den unterschiedlichsten Bands erinnert, Milt Britton etwa, Henry Jerome, Georgie Auld, Boyd Raeburn, Anita O’Day, Chubby Jackson und anderen. Der Rest des Büchleins ist eine veritable Diskographie, listet vor allem die Aufnahmen und mischt die Angaben mit Interviewauszügen aus Büchern, Zeitschriften und persönlichen Recherchen des Autors. Der Übersichtlichkeit sortiert Walker dabei nach Tonträger-Formaten (also: 78 / EP / LP / CD, wobei man sich zwischenzeitlich vielleicht sogar fragen könnte, ob nicht auch Internet-Ressourcen mit einbezogen werden könnten. Das führt dann gleich zur nächsten Frage: inwieweit nämlich Diskographien heute noch als mehr oder weniger hektographierte Blätter veröffentlicht werden sollten oder nicht vielleicht doch gleich als frei im Netz zugängliche PDF- oder sonstige Dateien. Die Kosten, die solche Recherchen verursachen, bringt der Verkauf des selbstgebundenen Büchleins sicher eh nicht herein. Warum dann nicht einfach den Streukreis breiter aufstellen? (Ein Beispiel einer Web-Diskographie zu Tiny Kahn findet sich hier – und an ihr hat Malcolm Walker übrigens auch mitgearbeitet.) Von solchen grundsätzlichen Fragen abgesehen ist die diskographische Arbeit, die Autoren wie Malcolm Walker oder andere in ihrer diskographischen Forschung machen, enorm wichtig für die Jazzforschung. Walker ist ein Veteran unter den Diskographen, betreibt diese Arbeit bereits seit den späten 1950er Jahren. Für den nicht Eingeweihten mögen Diskographien wie die seine(n) wie Erbsenzählerei wirken, tatsächlich aber sind all diese Aufnahmeverzeichnisse, einschließlich Besetzungen, veröffentlichter und unveröffentlichter Takes, Daten und Orte, Original- und Wiederveröffentlichungs-Nummern die Grundlage für eine eingehendere Beschäftigung mit der Musik. Eine Biographie, wie der Titel des Büchleins erwarten lässt, sollte man allerdings nicht wirklich erwarten. Wolfram Knauer (August 2012)


Pop Song Piracy. Disobedient Music Distribution since 1929 von Barry Kernfeld Chicago 2011 (University of Chicago Press) 273 Seiten, 29 US-Dollar ISBN: 978-0-226-43183-3 2011kernfeldDie Diskussion über Piraterie im Musikbereich scheint ein Kapitel aktuellster urheberrechtlicher Diskurse zu sein, ein Kapitel des Internetzeitalters. Tatsächlich aber ist die aktuelle Diskussion nur die zeitgemäße Ausprägung eines Themas, dass die Musikgeschichte des 20sten Jahrhunderts durchzieht, seitdem man von Popmusik sprechen kann, wie Barry Kernfeld in diesem Buch zeigt. Im April 1930, beginnt Kernfeld, habe die Polizei eine 80-jährige Frau vor Gericht gebracht, die beschuldigt wurde, urheberrechtlich geschützte Song-Hits vervielfältigt und für 5 Cents pro Exemplar verkauft zu haben. Der Verkauf illegal reproduzierter Songtexte, impliziert Kernfeld dabei, ist nur eine andere Facette dessen, was wir dieser Tage in Internet-Tauschbörsen sehen, die Verbreitung nämlich eigentlich urheberrechtlich geschützter Werke zu eigenem Nutzen, ob dieser nun kommerzieller oder nicht-kommerzieller Natur ist. Zwischen den beiden Extremen finden sich illegale Schallplattenpressungen, Fakebooks, Fotokopien von Notenmaterial, Piratenradios, illegal kopierte CDs, Bootleg-Konzertmitschnitte. Kernfeld erkennt wiederkehrende Faktoren in den jeweiligen Urheberrechtsbrüchen: Berühmte Musiker und mächtige Musikfirmen wollten alleinige Kontrolle über ihre Songs besitzen und andere daran hindern, diese zu verteilen, ohne dafür zu bezahlen. Andere wollten genau dies tun, sie also benutzen ohne zu zahlen und entwickeln Wege, die die Monopolisten nicht vorhersehen. Aus diesen widerstrebenden Interessen entwickelt sich ein Streit, der unterschiedliche Formen annimmt, aber meist im selben Ergebnis mündet: die Monopolisten müssen klein beigeben. Kernfeld untersucht die Praktiken, die irgendwo zwischen rechtlichem Ungehorsam und Kriminalität angesiedelt sind, für die unterschiedlichen Vertriebswege von Musik. Im ersten Teil beschäftigt er sich mit gedruckter Musik, beschreibt das nahezu perfekte Vertriebssystem der populären Musikindustrie der ausgehenden 1920er Jahre, nennt konkrete Fälle von Noten-Bootlegs und beschreibt die Reaktion der Industrie wie der Gesetzgebung darauf. Vor allem beschreibt er, wie die Musikindustrie irgendwann, als sie merkte, dass sie der Bootlegs nicht Herr wurde, eigene, legale Veröffentlichungen auf den Markt brachte, die den Bedarf der Bootlegs aufnahm und abdeckte. Ein Unterkapitel dieses ersten Teils widmet sich der Fake Books, denen Kernfeld bereits eine frühere Publikation gewidmet hatte. Er beschreibt, wie die ersten Popsong- dann die ersten Jazz-Fakebooks auf den Markt kamen, welchen Einfluss die Einführung des Fotokopierers hatte, wie die Rechtsprechung das Fotokopieren auch im musikpädagogischen Bereich beurteilte, wie es Ende der 1970er Jahre zu einer geradezu moralischen Kampagne gegen Urheberrechtsverletzungen im Musikbereich kam und wie sich trotz teilweise heftiger Verurteilungen das Problem bis heute gehalten habe. Ein zweiter Teil seines Buchs beschäftigt sich mit dem Thema der Radiopiraterie. Hier beschreibt Kernfeld die Piratensender, die sich in den späten 1950er Jahren in Skandinavien etablierten, er untersucht Rundfunkmonopole in verschiedenen Ländern und den Versuch, diese zu durchbrechen, aber auch die rechtliche Reaktion auf Piratensender. Teil Drei seines Buchs widmet sich der Piraterie im Bereich der Schallplatten und Tonaufzeichnung. Auch hier beschreibt Kernfeld die grundsätzliche rechtliche Lage und die unterschiedlichen Methoden der Plattenpiraterie seit den Mitt-1940er Jahren. Anfangs waren es illegale Plattenpressungen; später illegale Bandkopien, Bootleg-Platten, die als “nicht-authorisierte Neuveröffentlichungen” verkauft wurden, illegale digitale Kopien von CDs, schließlich das Song-Sharing oder File-Sharing jüngster Zeit. Kernfelds Buch erzählt eine überaus spannende Geschichte, in der die Urheberrechtsverletzungen in eine Art Marktkontext gesetzt werden, um aus ihnen durchaus auch ein Instrument der Marktentwicklung abzuleiten – letzten Endes, so zeigt er, führte Musikpiraterie dazu, dass sich die in ihren Vertriebsmethoden träge Musikindustrie bewegen musste, um dem Bedarf der Musikhörer sowohl in ihren Vertriebswegen wie auch bei den Kosten entgegenzukommen. Vor allem zeigt Kernfeld, dass hinter all dem sich wiederholende Muster zeigen, so dass eigentlich niemand in der Musikindustrie sich beklagen dürfte, das hätte man ja nicht ahnen können. Augen und Ohren auf, ist letztlich sein Plädoyer, denn in der Musikpiraterie steckt in der Regel jeweils ein Hinweis auf innovative Produkte oder Vertriebswege, die die Industrie selbst fast verschlafen hätte. Wolfram Knauer (August 2012)


The Wandering Who? A Study of Jewish Identity Politics von Gilad Atzmon Winchester 2011 (zero books) 202 Seiten, 8,99 Britische Pfund ISBN: 978-1-84694-875-6 2011atzmonGilad Atzmon ist alles, nur nicht maulfaul. Er ist bekannt dafür, seine Meinung zu sagen, keinem Streit aus dem Weg zu gehen. Er ist ein Mann des Wortes, ein glänzender Rhetoriker, den Widerspruch beflügelt, der es liebt, Argumente auszutauschen, seine Diskussionspartner auf logische Fehler in ihren Argumenten hinzuweisen. Er ist kein bequemer Mann. Ein wunderbarer Musiker übrigens, ein Saxophonist, der die musikalischen Lehren Charlie Parkers befolgt und sie mit den Erfahrungen jüdischer wie arabischer Musik seiner israelischen Heimat verbunden hat. Als Künstler aber sieht er sich eben nicht nur als stiller Musiker, sondern legt Wert auf seine Meinung, legt Wert auf seine Herkunft und darauf, sein Heimatland Israel auf seine politischen, ethischen und moralischen Grundsätze hin abzuklopfen und heftigst zu kritisieren. “The Wandering Who?” ist kein Jazzbuch, sondern eine “Studie jüdischer Identitätspolitik”, wie Gilad Atzmon sein Buch im Untertitel nennt. Sein Vorwort ist dabei das autobiographischste aller Kapitel. Atzmon erzählt von seinem charismatischen ultra-zionistischen Großvater, vom ersten Jazz, den er im Radio hörte, Charlie Parker mit Strings, der ihn dazu brachte, sich ein Saxophon zuzulegen. Er erzählt davon, wie er sich dieser Musik näherte, wie er sie erlernte und wie die Musik für ihn wichtiger wurde als der Wehrdienst, den er während des israelisch-libanesichen Kriegs ausübte. Er beschreibt seine zunehmende Politisierung, die sich erst in Skepsis, dann in Ärger äußerte und schließlich dazu führte, dass er sein Land 1993 verließ, um in London Philosophie zu studieren. Innerhalb einer Woche ergatterte er im Irish Pub Black Lion einen Gig, der den Beginn seiner internationalen Musikkarriere markierte. Atzmon erzählt, wie er in seinen Mitt-Dreißigern die arabische Musik, die er bislang völlig ignoriert hatte, für sich entdeckte. Die komplexen melodischen Linien, die mikrotonalen Verschiebungen in der Musik, meisterte er allerdings erst, als er die Musik so anging, wie man gemeinhin den Jazz angeht: auf sein inneres Ohr horchend. Das war’s dann aber auch mit dem Jazz in diesem Buch. Außer im Vorwort liest man im Hauptteil nicht mehr vom Jazz. Atzmon thematisiert Judaismus, Semitismus, Antisemitismus, Zionismus, sinniert über Erfolg und Misserfolg der amerikanischen Nahostpolitik. Zwischendrin stolpert man etwas unsanft über seine Interpretation des Holocaust als (immerhin auch von ihm in Anführungsstrichen gesetzten) “zionistischen Sieg”, nämlich einer argumentativen Verifikation zionistischer Theorien. Hier wird Atzmon in all seiner Streitlust zum Stammtischphilosophen, der einerseits auf die Komplexität der Zusammenhänge verweist, um sie auf andererseits zugleich in Schwarz und Weiß aufzuteilen. Er schreibt über Glauben und Ideologie, über Identität und Authentizität, über das Verhältnis jüdischer Identität zu ihrer nicht-jüdischen Umgebung. Seine Wortspiele sind geschmacklich fragwürdig, etwa wenn er ein Kapitel über Israels Landanspruch die Überschrift “Swindler’s List” gibt. Atzmon ist … nun, zumindest ein Verbalaktivist erster Güte. Mit seiner Liebe zur Polarisierung, die auch bei seinem Vortrag beim Darmstädter Jazzforum 2007 zu erleben war, ruft er zumindest bei denen oft genug Empörung hervor, die sich auf seine Art der Diskussion einlassen. Ob es tatsächlich “Mut” ist, wie er sich auf dem Buchcover attestieren lässt, die Weltpolitik gleichzeitig als komplexes Gebilde und als einfache Gleichung zu interpretieren, soll anderen überlassen bleiben. Atzmons grundsätzliche Überlegungen zur Identität sind insbesondere da interessant, wo sie auch seine musikalische Identität betreffen oder erklären helfen. Hierzu hatte er in seinem Darmstädter Vortrag, abgedruckt in den Darmstädter Beiträgen zur Jazzforschung mit dem Titel “Begegnungen. The World Meets Jazz” allerdings erheblich mehr gesagt. Aber “The Wandering Who?” ist auch kein Jazzbuch, sondern eine bewusst polemische Stellungnahme zu allgemeinen weltpolitischen Fragen. Wolfram Knauer (August 2012)


Creative License. The Law and Culture of Digital Sampling von Kembrew McLeod & Peter DiCola Durham 2011 (Duke University Press) 326 Seiten, 15,99 US-Dolalr ISBN: 978-0-8223-4875-7 2011mcleodWenn man es mit dem Geld, auch dem anderer Leute, nicht ganz so genau nimmt, nennt man das im Englischen schon mal euphemistisch “creative banking”. Das Buch “Creative License” spielt zumindest auf die Problematik zwischen kreativer Freiheit und urheberrechtlichem Schutz an, der durch Samplingprojekte der letzten 20 Jahre immer wieder in den Mittelpunkt der Diskussion gestellt wird. Kembrew McLeod und Peter DiCola beginnen ihr Buch mit dem Beispiel der Band Girl Talk und ihres Albums “Feed the Animals” von 2008, für das Remixer Gregg Gillis sich über dreihundert Schnipsel aus der auf Tonträger aufgenommenen Musikgeschichte bediente. Jeder einzelne Schnipsel sei so kurz gewesen, dass er selbst das als Zitat unter Bedingungen der Fair-Use-Regeln angesehen habe. Wie also funktioniert Sampling? Welche Kontroversen kann es auslösen? Lassen sich Samples selbst urheberrechtlich schützen? Schränkt das Copyright die künstlerische Freiheit ein? All dies sind Fragen, mit denen sich McLeod und DiCola ausführlich beschäftigen. Ihr erstes Kapitel nähert sich dem “golden age of sampling”, den 1980er Jahren also, in denen Bands wie die Beastie Boys oder Public Enemy für ihre Sampling-Hits bewundert wurden. Als Ende der 1980er Jahre HipHop zu einem großen Geschäft wurde, wurde die Technik des Sampling erstmals ethisch in Frage gestellt. Im zweiten Kapitel blättern die Autoren eine rechtliche wie kulturelle Geschichte der Soundcollage auf und berücksichtigen dabei nicht nur die Popmusik, sondern auch die Avantgarde, also Komponisten wie John Cage, Pierre Schaeffer oder Karlheinz Stockhausen. Schon Brahms hätte sich bei Beethoven bedient, führen sie die Idee des musikalischen Zitats in die Diskussion ein, und Stravinski habe Anleihen bei traditioneller Volksmusik gemacht. Jazz, Blues und HipHop seien kulturelle Praktiken gewesen, die Einflüsse aus allen möglichen Richtungen in sich aufnahmen. Sie beschreiben die Anfänge des digitalen Sampling, die Disco-Ära und die Mode des Remixes. Und sie gehen auf die neuen technologischen Möglichkeiten ein, die zuvor als selbstverständlich angesehene Kreativitätskonzepte in Frage stellten. “Pop Eats Itself”, fassen sie zusammen und kommen damit in Kapitel drei zu den einander widerstreitenden Interessen in der Lizensierung von Samples. Sie erklären die Rechtslage, fragen, wohin Urheberrechtshonorare fließen und geben einige konkrete Beispiele. Sampling, schreiben sie in einem Unterkapitel, rege durchaus auch den Dialog zwischen den musikalischen Generationen an. Das Thema außereuropäischer Musik wird genauso gestreift, hier am Beispiel von Brian Enos und David Byrnes Benutzung diverser “exotischer “Sängerinnen und Sänger. Die Autoren beschreiben Streitfälle und die Skepsis von Urhebern, ob es sich wohl lohnen würde zu klagen. Sie zitieren schließlich auch betroffene Musiker und geben deren Haltung wieder. Kapitel 4 widmet sich Gerichtsverfahren, die sich mit Samplingfällen auseinanderzusetzen hatten und den Auswirkungen von Urteilen auf die Samplingpraxis. Wie also soll man es richtig machen, welche Wege zum korrekten Umgang mit Samples gibt es, fragen die Autoren in Kapitel 5 und stellen sogenannte “sampling clerarance houses” vor, erklären auch den Vorteil einer solchen rechtlichen Abklärung. Ihr sechstes Kapitel beschäftigt sich mit den Konsequenzen eines ordentlichen Sampling-Clearance-Verfahrens für den kreativen Prozess, zeigt Auswege auf, wenn eine Clearance nicht geklappt hat (Transformieren oder Verfremden) und nennt Zahlen: die nämlich der Kosten für eine regelgerechte Sampling Clearance. Im letzten Kapitel schließlich skizzieren McLeod und DiCola eine mögliche Reform der Rechtslage, die allen Seiten gerecht werden solle, den Autoren auf der einen Seite nicht ihre Rechte streitig machen, den kreativen Samplern auf der anderen Seite nicht ihre Kreativität beschneiden solle. Jazz spielt in “Creative License” nur am Rande eine Rolle – bekannte Fälle aus dem Jazzbereich, etwa James Newton oder Herbie Hancock, werden nicht angeführt. Dennoch systematisiert das Buch eine allgegenwärtige musikalische Technik, die seit langem auch von Jazzmusikern oder von Musikern zwischen den Stilen genutzt wird. Das alles ist höchst anschaulich geschrieben und für denjenigen, der mit offenen Ohren etwas über Probleme aktueller Musik wissen will, eine überaus sinnvolle Lektüre. Wolfram Knauer (August 2012)


Brazilian Popular Music and Citizenship herausgegeben von Idelber Avelar & Christopher Dunn Durham 2011 (Duke University Press) 364 Seiten, 16,99 US-Dollar ISBN: 978-0-8223-4906-8 2011avelarBrasiliens Musikgeschichte blickt auf ähnlich komplexe kulturelle Verbindungen zurück wie der Jazz. Europäische und afrikanische Einflüsse, politische und soziale Bedeutungen von Musik sind spannende musikwissenschaftliche Studienfelder, denen dieses Buch sich widmet. Es schlägt dabei den Bogen von der politischen Funktion des Samba in den 1930er Jahren über den Status der Música Popular Brasileira in den 1960er und 1970er Jahren, Rock in den 1980ern, die schwarze musikalische Identität in Salvador da Bahia, HipHop in São Paulo und Funk in Rio de Janeiro. Die meisten der Autoren sind Anthropologen, Soziologen, Literaturwissenschaftler, was den Gesamtansatz des Buchs prägt: Eine analytische Herangehensweise findet sich nur in wenigen Kapiteln. Das Grundthema des Buchs ist dabei der Anspruch auf Bürgerrechte, den sich die Menschen in Brasilien mithilfe der Musik einforderten. Schwarze und gemischte Brasilianer wurden dank der Musik erstmals in der öffentlichen Aufmerksamkeit sichtbar; Musik kodierte Hoffnungen und Ängste während der Militärdiktatur der 1960er und 1970er Jahre; Musik half bei der Rekonstruktion eines demokratischen, selbstbewussten Brasiliens. Wir erfahren vom brasilianischen Bildungssystem und Heitor Villa-Lobos’s Massenchören, von der Auseinandersetzung des Gitarristen und Sängers Tom Zé mit brasilianischer Bürgerschaft, von der sozialen Funktion des HipHop in den Straßen von São Paulo, von der Re-Afrikanisierung brasilianischer Kultur in Salvador da Bahia und vielem mehr. “Brazilian Popular Music and Citizenship” will dabei keine umfassende Darstellung brasilianischer Musikkultur sein, sondern einen wissenschaftlich fundierten Einblick bieten in musikalische und gesellschaftliche Aspekte. Wolfram Knauer (August 2012)


Birds of Fire. Jazz, Rock, Funk, and the Creation of Fusion von Kevin Fellesz Durham 2011 (Duke University Press) 300 Seiten, 16,99 US-Dollar ISBN: 978-0-8223-5047-7 2011fellesz1969, beginnt Kevin Fellesz sein Buch, engagierte George Wein zum ersten mal Rockbands beim Newport Jazz Festival, um dadurch mehr junge Leute anzuziehen. Der Plan ging auf – zu gut allerdings, denn es kamen so viele Fans von Jethro Tull, Led Zeppelin, Sly and the Family Stone, dass die Tickets ausgingen und die Fans einfach die Zäune überrannten. Im Jahr darauf verpflichtete Wein mit den Allman Brothers eine zur Zeit der Buchung noch relativ unbekannte Band, die aber die Hitparaden rechtzeitig vor dem Festival stürmte und zu noch tumulthafteren Szenen führte. Die Stadtverwaltung von Newport war es leid und sagte das Festival 1971 daraufhin ab. Waren Rock und Jazz also zwei nicht nur in der Publikumserwartung, sondern auch in der Musik selbst so grundverschiedene Genres, dass sie beim besten Willen nicht zusammenzubringen waren? Die Musiker scherten sich nicht um stilistische Einordnungen und experimentierten einfach. Dabei stellten sie die Regeln ihres jeweiligen Genres durchaus in Frage und betonten ihre Unabhängigkeit von solchen Einengungen. Fusionmusiker passen weder ins Raster der Jazz- noch der Rockgeschichtsschreibung. Sie saßen zwischen den Stühlen. Im ersten Kapitel seines Buchs fragt Fellesz nach dem Begriff der Fusion selbst und nach den Konnotationen dieses Begriffs. Wofür also steht “Fusion”? Was wird hier miteinander verschmolzen? Welchen unterschiedlichen ästhetischen Regeln gehorchen die Elemente, die in diese Musikrichtung einfließen? Im zweiten Kapitel beschreibt er die Entwicklung der Fusionmusik in den 1970er Jahren und benennt die wichtigsten Bands und Musiker des Genres. Sein drittes Kapitel widmet sich den Beweggründen jener Musiker, die es in den späten 1960er Jahren als wichtig erachteten, eine solche Fusion zu generieren. In den vier nächsten Kapiteln beschäftigt sich Fellesz dann mit je einem konkreten Beispiel: Tony Williams in seinen Aufnahmen mit der Gruppe Lifetime, John McLaughlin zwischen Mahavishnu Orchestra und Shakti, Joni Mitchell sowie Herbie Hancock, um unterschiedliche musikalische wie ästhetische Ansätze aufzuzeigen sowie Nähe oder Entfernung vom Jazz zu bezeichnen. Fellesz benennt dabei Praktiken aus Jazz und Rock, diskutiert ihre ästhetischen wie rezeptionsspezifischen Implikationen, fragt nach Öffnungen, die weit über die direkt beteiligten Genres hinausgehen (also über Jazz und Rock eben auch weltmusikalische Einflüsse mit einbezogen) und diskutiert die Faszination, die einzelne Musiker aus der Rock- und Popmusiker zum Jazz hatten und die sie dazu bewogen, Jazzmusiker in ihre Projekte einzubeziehen. Am Beispiel Hancock geht er auch auf dessen umstrittene Verwendung von Pygmäenmusik und urheberrechtliche Aspekte in Bezug auf Fusionen mit ethnischer Musik ein. Im abschließenden Kapitel diskutiert er Hancocks “The Joni Letters” und fragt dabei, welche Konsequenzen die Fusion der 1970er Jahre für die Entwicklung der heutigen populären Musik hat. Felleszs Buch analysiert die Fusion aus dem Blickwinkel des interdisziplinären Musikwissenschaftlers – das Buch geht auf seine 2004 fertig gestellte Doktorarbeit an der University of California zurück. Das macht es für den Laien stellenweise zu einer mühsamen Lektüre – etwa, wenn Fellesz einen Begriff wie “Genre” diskutiert oder wenn er dann doch reichlich akademische Schattenkämpfe mit anderen Autoren ausficht. Liest man über diese dissertationsspezifischen Stilfragen hinweg, bleibt allerdings eine ausgewogene Annäherung an eine letzten Endes genau deshalb wichtige Periode der Jazzgeschichte, weil sie nicht nur auf das eigene Genre bezogen und auch deshalb außerhalb des Genres von Einfluss war. Wolfram Knauer (Juli 2012)


Jazz und Literatur in der DDR. Eine Untersuchung ausgewählter Beispiele von Michael Dörfel München 2011 (AVM) 118 Seiten, 34,90 Euro ISBN: 978-3-86924-013-8 2011doerfelJazz- und Literaturprojekte hatten in den 1950er Jahren in Westdeutschland, bald aber auch in der DDR Konjunktur, vielleicht ja, wie der Rezensent ins einem Beitrag zum 11. Darmstädter Jazzforum mutmaßt, weil die Dichtung ein probater Ersatz für das war, was andernorts mit folkloristischen musikalischen Vokabeln versucht wurde: eine Aneignung des afro-amerikanischen Jazz durch Einbeziehung eigener kultureller Versatzstücke. Michael Dörfel stellt sich in seinem Buch die Frage, wie die Jazz-und-Literatur-Projekte in der DDR funktionierten. Konkret untersucht Dörfel im ersten Kapitel Jazz- und Lyrik-Projekten wie: “Negerlyrik – Negermusik” von 1962, Übersetzungen und Nachdichtungen afrikanischer und afro-amerikanischer Texte von Janheinz Jahn und Stephan Hermlin mit Musik der Jazz-Optimisten; “Ströme. Negerlyrik aus zwei Kontinenten” von 1984 mit Texten zwischen Senghor und Langston Hughes und Musik einer Studioband unter Leitung von Michael Fuchs; die LPs “Jazz und Lyrik” / “Lyrik – Jazz – Prosa” von 1964/1965 mit internationalen Texten zwischen Tucholsky und Biermann und Musik der Jazz-Optimisten; sowie Jens Gerlachs “Jazz. Gedichte” von 1966/1968 mit Originalaufnahmen amerikanischer Jazz- und Blueskünstler. Dabei beschränkt er sich weitgehend auf eine Beschreibung der Texte und ihren Bezug zur verwandten Musik, ohne eine eingehende, den Kontext einbeziehende Analyse vorzunehmen. Ein weiteres Kapitel widmet sich solchen Romanen, die den Jazz zumindest als Teilthema nutzen. Hier fragt eine Annäherung danach, welche – insbesondere auch außermusikalische – Bedeutung dem Jazz in den Texten zugemessen wird. Untersuchungsobjekte sind Ulrich Plenzdorffs “Die neuen Leiden des jungen W.” (1972), Günter Kunerts “Der andere Planet. Ansichten von Amerika” (1974), Brigitte Reimanns “Franziska Linkerhand” (1974/1998) sowie Fritz Rudolf Fries’ “Der Weg nach Oobliadooh” (1966). Zusammenfassend stellt Dörfel fest, dass Jazz in literarischer Verwendung meist einen oppositionellen Standpunkt signalisiert, eine individuelle, private Nische, Manifestation von Phantasie und Kreativität. Nichts grundlegend Neues also, und im Fokus auf die Literatur vielleicht ein etwas einseitiger Ansatz. Der Leser wird auf jeden Fall neugierig insbesondere auf die Jazz-und-Lyrik-Aufnahmen, die der Autor im Anhang auch diskographisch dokumentiert. Ebenfalls im Anhang: ein aufschlussreiches Faksimile einer Aktennotiz des Ministeriums für Kultur, das den hilflosen Umgang des Staates mit der Einbeziehung des Gedichts “Ballade vom Briefträger William L. Moore aus Baltimore” von Wolf Biermann auf der Platte “Jazz und Lyrik” dokumentiert. Wolfram Knauer (Jul 2012)


Musical Echoes. South African Women Thinking in Jazz von Carol Ann Muller & Sathima Bea Benjamin Durham/NC 2011 (Duke University Press) 348 Seiten, 16,99 Britische Pfund ISBN: 978-0-8223-4914-3 2011benjaminSeit dem Erfolg Dollar Brands weiß die Jazzwelt, dass Südafrika dieser Musik einen ganz eigenen Zungenschlag beizugeben hat. Die Sängerin Sathima Bea Benjamin verließ zusammen mit Dollar Brand 1962 ihr Heimatland, um der Apartheid zu entkommen und in Europa zu leben. In ihrer Biographie schildern Benjamin und Carol Ann Muller die Situation als Musiker in Südafrika, ihren Weg zum und im Jazz. Muller stammt wie Benjamin aus Südafrika und ging wie Benjamin nach New York – während Benjamin dies auf Anraten Duke Ellingtons tat, der meinte, dort könnten sie und Brand mit der Musik, die sie machten, am besten überleben, ging Muller zum Studium in den Big Apple. Als Muller Benjamin in den frühen 1990er Jahren kennenlernte, war sie von der Geschichte der älteren Freundin fasziniert und schlug ihr vor, an einem gemeinsamen Buch zu arbeiten. Es dauerte noch 15 Jahre, bis das Buch fertig wurde, das die Lektüre lohnt als eine faszinierende Mischung aus Autobiographie und sozialgeschichtlicher Reflexion der autobiographischen Erfahrungen. Die 1936 geborene Sathima Bea Benjamin erzählt über ihre Kindheit und Jugend in Kapstadt, ihre Familie, erste Kontakte mit Musik, Klassik, leichtem Jazz, über Musik in der Missionsschule, im Radio, im Kino. Muller setzt ihre Erinnerungen dabei immer wieder in den Kontext der starren Gesellschaftsnormen Südafrikas, fragt nach den besonderen Konnotationen von Jazz im Apartheidregime. Wo man weit später einen deutlichen südafrikanischen Jazzstil konstatiert, da war sich in den 1950er Jahren niemand eines solchen lokalen Musikdialektes bewusst, schreibt Muller. Sie beschreibt die verschiedenen Szenen, in denen sich Benjamin bewegte, Szenen, die vor allem durch Klassen- und Hautfarbenunterschiede markiert waren. Muller nennt Bands und beschreibt Benjamins erste Engagements, etwa in einer “Coloured Jazz and Variety”-Show. Anfangs arbeitete die Sängerin außerdem als Lehrerin, um Geld zu verdienen, mehr und mehr nahmen dann die Auftritte den Hauptteil ihrer Arbeit ein. Ende der 1950er Jahre traf Benjamin auf den Pianisten Dollar Brand, der sie begleitete, sich bald auch in sie verliebte. Benjamin gab ihm Geld, um die Dollar Brand School of Music zu starten. Anfang der 1960er Jahren spielten die beiden regelmäßig in den Clubs von Kapstadt und Johannesburg, doch nach Unruhen verbot die Regierung im Jahr 1962 Aufführungen gemischter Ensembles, was insbesondere Jazzmusiker traf und auch für Brand und Benjamin die Arbeitsmöglichkeiten stark einschränkte. Als die beiden 1962 die Möglichkeit erhielten in die Schweiz zu reisen, ergriffen sie die Chance und gingen ins Exil, wie in derselben Zeit auch Miriam Makeba, Hugh Masekela und andere Musiker. In Europa trafen sie Duke Ellington, der sie unter seine Fittiche nahm, Brand mit einem von ihm protegierten Album zu seinem internationalen Durchbruch verhalf und die Karriere der beiden auch sonst anschob und den Brand als “wie mein wirklicher Großvater” beschreibt, als “den Dorfweisen”. Ein Exkurs des Buchs befasst sich mit der Rezeption Ellingtons in Südafrika, ein weiterer mit dem Einfluss Billie Holidays auf den Stil der Sängerin Sathima Bea Benjamin. Ellington hatte auch ein Album mit Benjamin produziert, dass allerdings erst drei Jahrzehnte später veröffentlicht wurde. Das Buch beschreibt die Umstände der Session und enthält eine Transkription der Studiogespräche zwischen Benjamin und Ellington. Brand und Benjamin bereisten Europa mit anderen südafrikanischen Exilmusikern und reisten 1965 in die USA, wo sie beim Newport Jazz Festival auftraten und dann – auf Anraten Ellingtons – in New York blieben. Für die Geburt ihres ersten Kinds reiste Benjamin dann aber nach Swaziland, weil sie ihr Kind unbedingt auf afrikanischem Boden zur Welt bringen wollte. Das ausführliche Kapitel über Migration endet mit verschiedenen Aspekten der Exil-Erfahrung für südafrikanische Musiker. Ein eigenes Kapitel ist den New Yorker Erfahrungen der Sängerin gewidmet. Mit einem Empfehlungsschreiben von Ruth Ellington ausgestattet zogen Brand und Benjamin ins legendäre Hotel Chelsea. Sie gründeten ihr eigenes Plattenlabel, Ekapa Records, und unterstützten offen die südafrikanische Befreiungsbewegung. Benjamin reflektiert über ihre Beziehung zur Stadt New York und vergleicht das Leben dort mit dem Leben in Kapstadt, Zürich und London. Muller diskutiert in diesem Kapitel außerdem anhand Benjamins eigener Erfahrungen Gender-Aspekte im Jazz. Ein weiteres Kapitel ist mit “Returning Home” überschrieben und behandelt Benjamins Album “Cape Town Love”, das sie 1999 in ihrer Heimatstadt aufgenommen hatte. Die letzten beiden Kapitel bringen uns in die Gegenwart sowohl Benjamins wie auch Mullers und fassen noch einmal die Schlussfolgerungen aus den Lebenserfahrungen der Sängerin und den Forschungserfahrungen der Co-Autorin zusammen. “Musical Echos” beschreitet einen für Autobiographien eher ungewöhnlichen Weg: Es erzählt auf der einen Seite die Geschichte der Sängerin Sathima Bea Benjamin, reflektiert dabei auf der anderen Seite aber laufend auf den Kontext sowohl der Erlebnisse der Protagonistin als auch aktueller Forschungsdiskurse. Es ist damit neben einer Biographie auch ein ernst zu nehmender Beitrag zur Forschung des Jazz und seiner weltweiten Rezeption. Wolfram Knauer (Juli 2012)


grubenklang.reloaded herausgegeben von Georg Graewe Berlin 2011 (Random Acoustics) 116 Seiten, beigelegte DVD, 45 Euro 2011graeweAus Anlass des Festivals Ruhr.2010 wurde der Pianist und Komponist Georg Graewe eingeladen, sein GrubenKlangOrchester wiederaufleben zu lassen, das 16 Jahre zuvor eigentlich aufgelöst worden war. Da ihm nicht danach war, nur in der Vergangenheit zu schwelgen, formierte er das Ensemble einfach neu, um “den aktuellen Stand meines Komponierens” widerzuspiegeln. Außerdem lud er Kollegen aus Musik, Literatur und anderen kreativen Genres ein, das Jahr mitzugestalten. Heraus kam eine Veranstaltungsreihe an unterschiedlichsten Orten des Ruhrgebiets, von denen viele Konzerte als Audio- und Videodokumente mitgeschnitten wurden. Die insgesamt 27 Konzerte umfassten Auftritte Graewes als Soloist, mit Kollegen oder dem GrubenKlangOrchester, aber auch etwa eine Klaviersolo-Konzertreihe. Das vorliegende Buch dokumentiert die Idee des Festivals sowie auf der CD Ausschnitte aus den das ganze Jahr über stattgefundenen Konzerten. In den Texten, größtenteils zweisprachig auf Deutsch und Englisch, finden sich Annäherungen sowohl an die Idee des GrubenKlangOrchesters wie auch an die Neuformation der Band, etwa in Brian Mortons Auslassung über das “Workshop”-hafte des Konzepts oder im Gespräch, das Johannes Fischer mit Graewe, der Dichterin Anja Utler und der Sängerin Almut Kühne über ihr gemeinsames Projekt führt. Morton macht sich in einem weiteren Kapitel Gedanken über die Idee des Klavierspiels, seines Klangs und seiner Behandlung im 21sten Jahrhundert. Kai Stefan Lothwesen nähert sich in einem kurzen Text der Position des Komponisten Georg Graewe an, indem er dessen Arbeit auf die Begriffe “sonic fiction”, “frictions” und “dictions” abklopft. Musikerkollege Steve Beresford wird einem Blindfoldtest unterzogen, bei dem er Stücke aus der beiliegenden DVD kommentiert. Und Morton kommt noch ein drittes Mal zu Wort mit einem Artikel über die Erzählkraft in Graewes Arbeit. Daneben gibt es jede Menge an Fotos, Gedichten, Zeichnungen, Partiturseiten und anderen Dokumenten, die Graewes kreatives Schaffen für Ruhr.2010 dokumentieren. Die DVD schließlich enthält Videos des GrubenKlangOrchesters (mit drei Titeln), eines Solorecitals Graewes, seines Duos mit der Sängerin Almut Kühne, seines ersten Streichquartetts (2. Satz), vorgetragen vom Koehne Quartet, sowie seiner Komposition “Alle kennen meine Visage” nach Tagebucheintragungen Albert Einsteins. In den Audiotracks finden sich Ausschnitte aus den Konzerten, radiogerecht zusammengeschnitten sowie von kommentiert von Nina Schröder (über “Piano Today mit Soloaufnahmen von Keith Tippett, Fred van Hove, Denman Maroney, Michael Wilhelmi, Christian Rieger, Sarah Nicholls, Craig Taborn, Marilyn Crispell, Oskar Aichinger und Johanna Borchert), Julia Neupert (über Graewes “new generation”-Projekt), Susanna Oldham (über “Ruhrkampf” mit Aufnahmen unter anderem von Daniel Erdmans Band “Das Kapital”) sowie diverse Mitschnitte der Literatur/Musik-Abende aus der Buchhandlung Napp in Bochum. Alle vier Audiofeatures (durchaus passend “Audio-Magazin” benannt) haben eine Länge von zwischen 35 Minuten und über anderthalb Stunden und bieten im Bildbereich eine Übersetzung des gelesenen Textes ins Englische bzw. Deutsche. Alles in allem ist “grubenklang.reloaded” ein beeindruckendes Dokument eines vollen Jahres im kreativen Schaffen des Georg Graewe, das in dieser Präsentation sowohl sinnlich erfassbar wie auch intellektuell durchdringbar wird und dem Leser/Hörer/Betrachter bei alledem trotzdem genügend Freiraum zu eigenen Erfahrungen bietet. Wolfram Knauer (Juli 2012)


Boom’s Blues. Muziek, journalistiek en vriendschap in oorlogstijd von Wim Verbei Haarlem/Netherlands 2011 (In de Knipscheer) 283 Seiten, 1 beiheftende CD, 34,50 Euro ISBN: 978-90-6265-667-7 2011verbeiFrans Boom war ein holländischer Sammler und Jazzfan, der Mitte der 1930er Jahre seine Liebe zur afro-amerikanischen Musik entdeckte. Er las De Jazzwereld, die holländische Jazzzeitschrift, die seit 1931 erschien, reiste 1939 zu Duke Ellingtons Konzert im Utrechter Tivoli, freundete sich mit dem Kritiker und Amateur-Musikwissenschaftler Will Gilbert an, der als Redakteur für De Jazzwereld wirkte und 1939 zusammen mit Constantin Poustochkine das Buch Jazzmuziek veröffentlichte. Zugleich sammelte Boom Platten des frühen Jazz und Blues. 1943, also inmitten der deutschen Besatzung der Niederlande, schrieb Boom sein eigenes Buch, das sich mit dem Blues befasste und diesen als satirische Liedform untersuchte. In “Boom’s Blues” erzählt Wim Verbei im ersten Teil die Geschichte des Musikwissenschafts-Autodidakten Frans Boom, seiner Liebe zu Jazz und Blues und der wechselvollen Geschichte seines Manuskripts. Im zweiten Teil des Buchs ist dann die komplette Untersuchung Booms aus dem Jahr 1943/1945 zu lesen. Die biographischen Kapitel werfen zugleich einen Blick auf die Faszination, die afro-amerikanische Musik in jenen Jahren auf Westeuropa und auch auf die holländische Jazzszene der 1930er und frühen 1940er Jahre ausübte. Der ländliche Blues allerdings, berichtet Verbei, sei in De Jazzwereld kaum vorgekommen. Gilberts Buch Jazzmuziek und seine Korrespondenz mit dem älteren Autoren und Mentor beeinflusste Boom dahin, sich vom Allgemeineren aufs Speziellere zu stürzen und den Blues näher zu untersuchen. Verbei zitiert immer wieder aus der Korrespondenz der beiden Freunde und Kollegen, etwa über Sprache und Slang in afro-amerikanischer Kultur, über idiomatische Wendungen und Sprachbilder in Bluestexten. Auffällig an den Briefen, schreibt Verbei, sei, dass darin nirgends von der deutschen Besatzung die Rede sei, die doch eigentlich das Leben im Land bestimmte. Verbei bringt den Leser kurz auf den Stand der Geschichte, erzählt, wie die Nazis nach kurzem Kampf das Land besetzten und bald sowohl die Politik als auch das Kulturleben bestimmten. Im November 1940 erschien die letzte Ausgabe von De Jazzwereld, in der sich Gilbert bereits gegen den Kunstwert des Jazz stellte. So ganz erklären ließe sich der Wandel in Gilberts Einstellung nicht, meint Verbei und betont noch einmal, dass es in seinen Briefen an Boom nie auch nur die Andeutung nationalsozialistischen Gedankenguts gegeben habe. Gilbert arbeitete in Folge für die Niederländische Musikkammer und formulierte die restriktiven Stilvorschriften für Unterhaltungsorchester, die in einem “Verbot negroider Elemente in Tanz- und Unterhaltungsmusik” führten (und ihn auch nach dem Krieg zu einer umstrittenen Person unter Jazzfreunden machte). Umso erstaunlicher also, dass Gilbert auch in diesen Jahren mit Boom über einen möglichen Aufsatz zum Blues korrespondierte, über das “profane Negerlied und seine Rituale in Afrika und den Vereinigten Staaten”. Aus dieser Korrespondenz heraus jedenfalls entstand Frans Booms Studie über den Blues. Es gab einzelne Vorbilder und Beispiele, aus denen er sich bedienen konnte, die Anthologie Slave Songs of the United States von 1867 etwa, W.C. Handys Blues – An Anthology von 1926, Winthrop Sargeants Jazz. Hot and Hybrid von 1938 sowie Frederic Ramsey Jr. und Charles Edward Smiths Jazzmen von 1939. Verbei beleuchtet die Diskussionen zwischen Gilbert und Boom, immer vor dem Hintergrund der zur selben Zeit herrschenden deutschen Besatzung der Niederlande. Von daher ist sein Buch auch ein Blick in die Beziehungen zwischen Forschung und System in jenen Jahren. Verbei verfolgt die Entstehung einzelner Argumentationslinien des Buchs aus der Korrespondenz der beiden Autoren heraus, insbesondere die semantischen Erklärungen sexueller Anspielungen in Bluestexten, aber auch die von Boom angestrengte Statistik zur Blues-Form. Ende 1943 war das Manuskript fertig, hätte aber im besetzten Holland nie gedruckt werden können. Verbei verfolgt die beiden Hauptprotagonisten bis zum Kriegsende und in die Nachkriegszeit. Inzwischen waren andere analytische Werke erschienen, etwa Rudi Bleshs Shining Trumpets, und auch Gilberts Jazzmuziek wurde 1947 in zweiter Auflage veröffentlicht. Boom ging Anfang der 1950er Jahre in den diplomatischen Dienst, erst nach Paris, dann nach Jakarta. Dort erkrankte er auf einer entlegenen Insel an Polyomyelitis und verstarb im Juli 1953. Sein Blues-Manuskript landete in den Händen des Jazzkenners Hans Rookmaaker. Während 1955 noch die Mitautorenschaft des umstrittenen Gilberts den Druck des Buchs verhinderte, sollte es 1971 auf Vermittlung des britischen Bluesforscher Paul Oliver nur unter Booms Namen (anglisiert als Frank Boom) im englischen Verlag November Books unter dem Titel Laughing to Keep from Crying erscheinen, was dann aber nie geschah. Das “Making of”, das Verbei in Boom’s Blues erzählt, enthält Verweise auf Landes- genauso wie Zeitgeschichte, und ist vor allem deshalb spannend zu lesen, weil man sich laufend die Gespaltenheit aller Beteiligten vor Augen halten muss, mit der diese ein von ihnen als wichtig empfundenes Thema bearbeiteten, obwohl alle politischen Gegebenheiten dagegen standen. Und so ist die Publikation des im Original auf Niederländisch verfassten Manuskripts eine willkommene und insbesondere nach dem Wissen um seine Entstehungsgeschichte hoch willkommene Ergänzung dieses Buchs, das auch sonst reich und aussagekräftig bebildert ist und auf der beiheftenden CD 24 Titel bereithält, die Boom in seinem Manuskript bespricht, sowie einen Ausschnitt aus einer Rundfunksendung von 1947, in der Boom “über Humor und Satire im Jazz” sinniert. Wolfram Knauer (Juni 2012)


Im Swing gegen den Gleichschritt. Die Jugend, der Jazz und die Nazis von Wolfgang Beyer & Monica Ladurner Salzburg 2011 (Residenz Verlag) 241 Seiten, 21,90 Euro ISBN: 978-3-7017-3218-0 2011beyerWolfgang Beyer und Monica Ladurner produzierten 2007 einen Film über Jugendliche, die sich den Regeln der Nazi-Diktatur nicht beugen wollten. Nach Erscheinen des preisgekrönten Films war es ihnen wichtig, ihre Quellen auch schriftlich zu dokumentieren, was sie im vorliegenden Buch taten. Das erste Kapitel ihres Buchs beschäftigt sich mit den österreichischen “Schlurfs”, beschreibt Aussehen und Mode der Jugendlichen, für die der Plattenspieler mit Jazzplatten nur ein Teil ihrer Jugendkultur war. Sie stellen die Örtlichkeiten vor, an denen vor dem und im Krieg in Wien Jazz gemacht wurde. Und sie sprechen mit Günther Schifter, der nicht so sehr Schlurf war als vielmehr Swing-Kid – die Unterscheidungen ließen sich an Modedetails genauso erkennen wie an der Ernsthaftigkeit ihrer Jazzliebe. Das zweite Kapitel betrachtet die swingende Jugendbewegung vor dem Hintergrund der staatlich verordneten Hitlerjugend. Im dritten Kapitel wird die nationalsozialistische Sicht auf den Jazz anhand etlicher zeitgenössischer Quellen dargestellt. Kapitel vier betrachtet die Tanzaspekte der Swingmusik und die Reaktion des Regimes darauf. Im nächsten Kapitel geht es um Sex, die Tatsache also, dass die Jugend, von der hier die Rede ist, gerade im besten Pubertätsalter sich befindet. Ein weiteres Kapitel handelt von den deutschen Swing Kids oder Swing Boys. Die Autoren sprechen mit Wolfgang Sauer, Coco Schumann und Günter Discher und reisen durch das Land: Berlin, Frankfurt und Hamburg. Weiter geht es zur Jazzjugend in der benachbarten Tschechoslowakei; hier sprechen die Autoren unter anderem mit dem bedeutenden Jazzkritiker Lubomir Doruzka. Ein weiteres Kapitel schließlich blickt nach Frankreich, wo die Zazous oder die Petits Swings aktiv waren. Die Nazis wetterten gegen den Jazz, aber die Swingfans schauten sich die ihre Musik diffamierenden Propagandafilme gerade wegen der Musik an, die da schlecht gemacht wurde, genauso wie andere in die Ausstellung “Entartete Kunst” gingen, um die Kunst zu sehen, die offiziell verboten war. Irgendwann wurde es den Nazis zu bunt und sie schritt gegen die swingenden Jugendbewegungen ein. Anhand von Quellen und Zeitzeugenberichten zeigen die Autoren, welche Maßnahmen ergriffen wurden und wie die Jazzer darauf reagierten. Zum Schluss gibt es einige Beispiele von Jugendlichen, die nicht nur durch ihren Musikgeschmack, sondern auch in ganz konkreten Aktionen Widerstand gegen das System leisteten. “Im Swing gegen den Gleichschritt” ist ein flüssiges Lesebuch über jene dunkle Seite deutscher Geschichte – und daneben eben auch österreichischer, tschechischer und französischer Geschichte. Es ist keine wissenschaftliche Studie, sondern will Stimmungen und Atmosphären vermitteln, sowohl aus der Faszination der Jugendlichen heraus als auch aus der Sicht eines Systems, das nicht zulassen wollte, dass Jugendliche mehr nach Freiheit streben als nach dem staatlich verordneten Gleichschritt. Wolfram Knauer (Mai 2012)


Basis-Diskothek Jazz von Ralf Dombrowski Stuttgart 4/2011 (Reclam Sachbuch) 272 Seiten, 6,40 Euro ISBN: 978-3-15-018657-2 2011dombrowskiRalf Dombrowskis Basis”-Diskothek Jazz” ist mittlerweile in der vierten Auflage erschienen. Die Sammlung wichtiger Aufnahmen der Jazzgeschichte erweist sich als sehr brauchbarer Leitfaden für Jazzfreunde und solche, die es werden wollen. Dombrowski diskutiert die Platten, die er vorstellt, sowohl aus der Situation der Musiker heraus wie auch ihre Bedeutung für die Jazzgeschichte und erklärt nebenbei, warum er selbst sie für die Aufnahme in sein Büchlein ausgewählt hat. Natürlich hätte er leicht die doppelte Menge an Aufnahmen aussuchen können, schreibt Dombrowski im Vorwort, aber es sollte ja doch ein handliches Buch sein. Über seine Entscheidungen kann man jedenfalls nicht meckern. Sicher wird dem einen oder anderen das eigene Lieblingsalbum fehlen; sicher würde man den einen oder anderen Plattentipp gegen einen anderen austauschen – aber das ist dann meist eher Geschmackssache. Im Großen und Ganzen liegt Dombrowski völlig richtig, und er hat für die vierte Auflage des Buches sogar noch fünf CDs hinzugenommen: Ornette Colemans Pulitzer-ausgezeichnetes “Sound Grammar”, Herbie Hancocks “The River, Joshua Redmans “Compass”, Esbjörn Svenssons “Leucocyte” sowie Heinz Sauers und Michael Wollnys “Melancolia”. Man ahnt, was bei der 5. oder 6. Auflage mit dabei sein könnte: Wollnys eigenes Trio [em] etwa oder Vijay Iyer zum Beispiel. Wer auch nur einen Teil der hier versammelten Alben im eigenen Plattenschrank hat, der hat jedenfalls einen guten Überblick über die Vielfalt der ersten hundert Jahre Jazzgeschichte. Wolfram Knauer (April 2012)


Sündiges Berlin. Die Zwanziger Jahre. Sex, Rausch, Untergang von Mel Gordon Wittlich 2011 (Index Verlag) 279 Seiten, 1 beiheftende CD, 39,99 Euro ISBN: 978-393687822-6 2011gordonDie frühe Jazzgeschichte Deutschlands wirkt fast zugedeckt durch die dunkle Ära des Dritten Reichs, in dem der Jazz verfemt und seine Anhänger verfolgt wurden. In den 20er Jahren aber war Deutschland genauso vom Fieber des Jazz gepackt wie alle anderen Länder des westlichen Europas. Und da Jazz vor allem eine Großstadtmusik war, wirkte er in den Metropolen am weitestreichenden, in Paris, London und Berlin. Da Jazz in jenen Jahren zugleich eine Musik zwischen den Stühlen war, in der die Körperlichkeit musikalischer Rhythmen und tanzender Menschen fast ein Synonym war für ungezügelte Sexualität (ob positiv oder negativ bewertet), ist es neben allem Wissen um musikalische Berührungen, um Einflüsse und Aufnahmen auch wichtig zu wissen, in welchen Kreisen der Jazz rezipiert und gehört wurde. Die Welt, die sich der Jazzmode in den 1920er Jahren hingab, war eben nicht nur die von Kennern und Musikern, sondern genauso die der Demimonde, die sich in Bordellen, schummrigen Kaschemmen, schwulen Bars oder in Untergrundzirkeln zwischen Freikörperkultur, Fetischklüngeln, Erotik und Verbrechen bewegte. Von diesen meist verschwiegenen Szenen berichtet das Buch “Sündiges Berlin” des amerikanischen Theaterwissenschaftlers Mel Gordon, der 1994 ein Theaterstück für Nina Hagen mit dem Titel “Die sieben Süchte und fünf Berufe der Anita Berber” plante, eine Schau um Musik von Weill und Hollaender, erotische Zeichnungen und pornographische Tänzen. Die Recherche dafür erwies sich als schwieriger als gedacht. Gordons Jagdeifer jedoch war geweckt, er nutzte private Kontakte in Europa und hatte innerhalb von vier Monaten jede Menge an bizarrem Material zusammen, das ein ganzes Buch füllen könnte. Was er dann auch tat… Prüde sollte man also nicht sein, wenn man in diesem Buch blättert, das im Coffeetable-Format daherkommt und in dem nackte Brüste und erigierte Penisse noch eher die harmloseren Abbildungen sind. Das Foto einer Selbststrangulierung ist da zu sehen, eine “therapeutische Zeichnung eines inhaftierten Vergewaltigers”, eine Selbstbefriedigungsmaschine für Frauen, die Zeichnung einer mit Eisendornen gespickten Klobrille, genannt “Der Sklaventhron”, Bilder von Flagellanten und Haarfetischisten und vielen anderen lustvollen oder brutalen “Vergnügen”. Gordon versucht das Exzentrische, das Perverse und das Unfassbare aus der Geschichte Berlins heraus zu erklären. Er beginnt mit den Mythen der Weimarer Republik, wie sie im “Blauen Engel” oder später im Film “Cabaret” wachgehalten wurden, zeigt Publikationen, die sich schon in den 1920er Jahren als “Führer durch das lasterhafte Berlin” anboten. Der Selbstsicht als Hauptstadt des Vergnügens entsprach die (zu Zeiten des I. Weltkriegs) feindliche Fremdsicht als “degeneriertes Deutschland”. In den Erfahrungen der Soldaten im Krieg sieht Gordon einen Grund für SM- und Fetischneigungen, die er als eine Art “Nebenwirkung von Kriegsneurosen” beschreibt. Aber auch das Wirtschaftschaos der Nachkriegszeit, die Unsicherheit darüber, was werden sollte, trug dazu bei, es nun “erst recht” knallen zu lassen. Nachlokale boomten, in denen die aktuelle Musik getanzt wurde – und das war in den 1920er Jahren meist Jazz in den seltsamsten Besetzungen. Die Hyperinflation ließ alle wirtschaftlichen Werte wertlos erscheinen und zugleich neue Wirtschaftszweige erstarken, oft eine ganz private Schattenwirtschaft in Hinter- und Schlafzimmern. Die Kapitel des Buchs handeln diese Schattenwirtschaft systematisch ab, die der Stadt Berlin bald ihren ganz eigenen Ruf einbringt. Das Kapitel “Stadt der Huren” beschreibt den Beruf der Prostitution und enthält auch ein Glossar, das die verschiedenen Angebote beschreibt, sowie eine Topographie des Rotlichts, Friedrichstraße, Nollendorfplatz und anderswo. Das Nachtleben war vital, und in einem eigenen Kapitel nimmt Gordon seine Leser mit auf eine abendliche Entdeckungsreise durch Kneipen, Bars, erotische Revuen und Tanzkaschemmen. “Berlin bedeutet Burschen” ist ein weiteres Kapitel überschrieben, das die schwule Kultur der Stadt beleuchtet, aber auch die Verfolgung von Homosexualität durch den Paragraphen 175. “Warme Schwestern” erklärt, dass auch die lesbische Subkultur in Berlin blühte und zählt Clubs und Vereine auf. “Grenzgänger” heißt ein Kapitel über Transvestiten und die Cross-Gender-Szene der Stadt. Unter “Strahlende Nacktheit” berichtet Gordon über das “unschuldigere” Nachtsein, die Freikörperkultur der 1920er Jahre, über Nudisten und Lebensreformer und ihre Ideen. Magnus Hirschfeld und sein Institut für Sexualwissenschaft erhalten ein eigenes Kapitel, in dem auch “sexuelle Triebstörungen”, reich bebildert, abgehandelt werden. Im Kapitel “Lustschmerz” liest man über SM-Praktiken und die versteckte Szene, in der diese gepflegt wurden. “Sexualmagie und Okkultismus” betrachtet erotische Kulte jener Jahre und ihre Gurus. “Verbrechen an der Spree” schließlich wendet sich insbesondere den Gewaltverbrechen zu, Lustmorden insbesondere, aber auch Verbrecherringen, in denen sich Banden zusammenschlossen. Die scheinbare Dekadenz der 1920er Jahre wurde vom Nazismus der 1930er abgelöst, der sich als eine auch moralische Bewegung verstand und der erotischen Unterwelt Berlins ein Ende bereiten wollte. Kurz geht Gordon auf die Verlogenheit nazistischer Propaganda in Bezug auf die Sexualität ein, beschreibt die Entwicklung zum stromlinienförmigen Einheitsdeutschen als Geschichtsrevisionismus und den Versuch vor allem die Kultur der Weimarer Republik zu zerstören. Zum Schluss finden sich eine Stadtkarte, in der die verschiedenen Etablissements und Szenen verzeichnet sind, sowie eine ausführliche Beschreibung von Treffpunkten, Bars, Tanzsälen und ihrem Publikum. Von Jazz ist, soviel sollte aus dieser Beschreibung des Inhalts klar sein, eher wenig zu lesen, und doch mag man zwischen den Zeilen den Eindruck einer Zwischenwelt erhalten, in der Jazz durchaus eine wichtige Rolle spielte. Die beiheftende CD bedient sich vor allem den gewagten Kabarettstimmen der 1920er, Claire Waldoff, Marlene Dietrich und Otto Reutter. Das Orchester Lajos Béla ist mit “Einen großen Nazi hat sie” zu hören und das Haarmann-Lied “Warte, warte nur ein Weilchen” in einer Interpretation von Hawe Schneider aus dem Jahr 1961. “Sündiges Berlin” ist bei alledem weder eine kritische noch eine wissenschaftliche Studie. Es ist ein unterhaltsames Buch, das für den Moment des Blätterns den voyeuristischen Trieb im Leser befriedigen mag. Eine durchwegs vergnügliche Lektüre also, mit flüssigen Texten und jeder Menge zeitgenössischer Fotos, Zeichnungen, Bilder und Dokumente. Man schaudert ein wenig, weiß aber, dass “Sex, Rausch und Untergang” für den Leser aller Voraussicht nach ohne jede schlimme Nachwirkung bleiben wird. Sündiges Berlin – wie schön! Wolfram Knauer (April 2012)


Black & White. The Jazz Piano von Peter Bölke Hamburg 2011 (Edel ear books) 156 Seiten, 4 beiheftende CDs, 39,95 Euro ISBN: 978-3-940004-96-3 2011jazzpianoIn seiner Reihe opulenter Coffeebook-Bände mit beiheftenden CDs legt der dem Vertrieb Edel zugehörige Verlag earbooks einen in Größe und Dicke an eine alte LP-Box erinnernden Bildband zum Thema “Jazz Piano” vor. Die vier im Deckel heftenden CDs geben das Thema vor: “Blues & Boogie-Woogie” lässt die großen Boogie-Heroen erklingen, Meade Lux Lewis, Pinetop Smith, Cow Cow Davenport, Albert Ammons und andere, aber auch Jelly Roll Morton und James P. Johnson, die eigentlich ins Thema der zweiten CD gehören, überschrieben “Nobilty at the Keyboard”. Hier sind Earl (Hines), Count (Basie) und Duke (Ellington) den Namensgeber, außer ihnen hört man Teddy Wilson, Hank Jones, Bud Powell und Thelonious Monk. Auf “Small Group, Great Sound” ist genau das präsent: die Trios etwa von Nat King Cole, Oscar Peterson und Erroll Garner, das Modern Jazz Quartet und das Dave Brubeck Quartet sowie George Shearing mit seinem Quintett. “A Funky Kind of Blues” schließlich präsentiert Aufnahmen des Hardbop zwischen Miles Davis und John Coltrane mit einer einzigen kleinen Ausnahmen, “Marionette”, gespielt vom Lennie Tristano Sextet. Das Buch zu den CDs ist hervorragend bebildert mit einer bunten Mischung aus Musikerportraits und stimmungsvollen Aufnahmen der diversen Zeiten und Örtlichkeiten, aus denen die Musik stammt. Peter Bölke fasst in seinem Text die Entwicklung des Jazzklavierspiels sowie die Biographien der auf den CDs dokumentierten Musiker und Bands zusammen. Wie bei anderen CD-/Buch-Alben des earbook-Verlags hört die Auswahl Anfang der 1960er Jahre auf, also vor gedweden musikalischen Freiheitsbewegungen oder Fusion-Experimenten. Diese Auswahl mag dem ernsthaften Jazzkenner einen Kritikpunkt wert sein, der dabei aber verkennt, an wen sich die Edition vor allem richtet: an den interessierten Jazz-Sympathisanten, der den Schritt zum Sammler und Vollständigkeitsfanatiker noch nicht gemacht hat. Hier findet er (oder sie) jede Menge Hörstoff und Information. Wolfram Knauer (April 2012)


Music Makes Me. Fred Astaire and Jazz von Todd Decker Berkeley 2011 (University of California Press) 375 Seiten, 29,95 US-Dollar ISBN: 978-0-520-26890-6 2011deckerJazz und Tanz sind enger miteinander verbunden als man in jüngsten Ausprägungen improvisierter Musik meinen möchte. Der Jazz begann als Tanzmusik, er war ein ständiger Begleiter der populären Bühnenkunst, und Tänzer in amerikanischen Ballsälen tanzten durchaus schon mal Soli, die denen von Jazzsolisten vergleichbar sein konnten. Todd Decker betrachtet in seinem Buch den vielleicht populärsten Tänzer des 20sten Jahrhunderts, Fred Astaire, aus der Sicht des Jazz, analysiert Filmclips und Tonaufnahmen auf rhythmische, melodische, formale und interaktive Aspekte. Das Ergebnis ist eine Studie, die Astaire als das Phänomen ernst nimmt, das er tatsächlich darstellt: ein Künstler, der sein Instrument (Beine und Füße) so beherrschte wie die Jazzer, mit denen er immer wieder zusammenarbeitete ihr Saxophon, ihre Trompete, ihr Piano. Decker stützt sich in seiner Arbeit vor allem auf filmische Dokumente, angefangen mit dem Titel, der zugleich dem Buch seinen Namen gab, “Musik Makes Me” aus dem Film “Flying Down to Rio” von 1933. Im ersten Teil seines Buchs ordnet der Autor Astaire ins amerikanische Showbusiness ein, wobei er neben seinen künstlerischen Qualitäten auch den sozialen, ästhetischen, gesellschaftlichen Kontext berücksichtigt, der Astaire besondere Möglichkeiten geboten habe. Er beschreibt die Unterschiede zu seinen Wettbewerbern und das Produkt, das Astaire auf dem populären Unterhaltungsmarkt so erfolgreich anbot. Er geht auch auf den afro-amerikanischen Einfluss ein, auf die Tatsache, dass etliche der frühen Stepptänzer schwarz waren und somit im hautfarben-bewussten Hollywood keine Chance auf eine Hauptrolle hatten. Schließlich betrachtet er Astaires Verhältnis zu Komponisten und Textdichtern, die ihm zum Teil Stücke direkt auf den Leib schrieben und stellt dabei fest, dass es Astaire in seiner Karriere immer wichtiger gewesen sei, musikalische Stücke zu interpretieren als musikalische Filme zu machen. Im zweiten Teil seines Buchs untersucht Decker die konkreten Produktionsbedingungen in Hollywood, wühlt in Archiven, um in den Drehbuchmanuskripten Notizen zu finden, die darauf hinweisen, wie Hollywood auf populäre Trends reagierte und wie die Drehbuchautoren ihrerseits musikalische Moden interpretierten. Generell ist Decker hier auch an der Überschneidung der beiden großen populären Industriebereiche interessiert, der Musik- und der Filmindustrie. Im dritten Teil fokussiert sich Dekker auf konkrete Ansätze in Astaires Tanz: auf die Interaktion mit seinen Tanzpartnern etwa, auf die Benutzung der Bluesform, auf stilistische Unsicherheiten der ausgehenden 1940er Jahren, in denen Swing noch nicht tot und Rock ‘n’ Roll noch nicht in waren, und schließlich auf Astaires Arbeit mit afro-amerikanischen Musikern. Astaire studierte seine Tanzszenen zwar bekanntlich haargenau ein, war aber zugleich, wie man spätestens durch seine Aufnahmen mit Jazz at the Philharmonic weiß, ein exzellenter Improvisator. Decker geht dabei durchaus ins Detail, erklärt Bewegungsabläufe, verfolgt Choreographien, lauscht darauf, welche Sounds die Tanzbewegungen hervorrufen. Er untersucht Astaire und die Körperlichkeit des Tanzes als Beispiel für jene so schwer zu definierende Qualität des “swing”. Und er beschreibt Filmszenen, die man glücklicherweise großteils auf YouTube nachsehen kann. Dabei landet man dann unweigerlich auch bei Astaires Fernsehauftritt mit der Count Basie Band (“Sweet Georgia Brown”), einem Auftritt, in dem Astaire eindeutig der Solist vor der Bigband ist, ein Solist, der genau dasselbe tut wie die Jazzsolisten, die ihn hier mit ihren Riffs begleiten: mit seinen Mitteln eine Geschichte erzählen. “Musik Makes Me” ist ein ungewöhnliches Jazzbuch, das einmal mehr deutlich macht, wie sehr “Jazz” die populäre Kultur des 20sten Jahrhunderts geprägt hat, als Musik, als Ausdrucks- und als Lebenshaltung. Wolfram Knauer (April 2012)


Rifftide. The Life and Opinions of Papa Jo Jones von Albert Murray & Paul Devlin Minneapolis 2011 (University of Minnesota Press) 173 Seiten, 18,95 US-$ ISBN: 978-0-8166-7301-8 2011jonesAlbert Murray, der große afro-amerikanische Jazzphilosoph und einflussreiche Schriftsteller, interviewte den Schlagzeuger Jo Jones zwischen 1977 und 1985 im Rahmen von Background-Recherchen zur Autobiographie von Count Basie, für die er als Coautor fungierte. Er legte die Bänder dann beiseite, bis er sie 2005 seinem ehemaligen Studenten Paul Devlin gab, um sie abzuschreiben. Das resultierende Buch, das erst jetzt erschien, ist eine ungewöhnliche und dennoch vorbildliche Autobiographie, die aus dem Hauptteil besteht, nämlich der selbst erzählten Lebensgeschichte Jo Jones’, aus einer einrahmenden Einleitung, in der Devlin die Entstehungsgeschichte des Projekts beschreibt, und aus einem Nachwort von Phil Schaap, das den Schlagzeuger in seinen späten Jahren näherbringt und auch dessen schon mal leicht gereizten Charakter erläutert, erklärt, warum Jones als Musiker beliebt, als Mensch schon mal gefürchtet war und was seinen Zorn in der Regel auslösen konnte. Jones eigene Geschichte aber ist fast selbst schon Literatur. Devlin hat einen Aufsatz Murrays sehr ernst genommen, in dem dieser beklagt, dass viele sogenannte “Autobiographien” durch zu viel Edieren die Authentizität genommen worden sei. Auch Devlin musste zusammenklauben und das Erzählte thematisch sortieren. Er behielt Jones’ Grammatik, und er behielt den erzählerischen, schon mal abschweifenden Duktus; er behielt ebenfalls die Verweise auf beiden Gesprächspartnern bekannte Personen, deren Identität dem nicht so eingeweihten Leser in einem umfangenden Apparat erklärt wird. Jo Jones’ Lebensgeschichte ist so keine fest chronologische Abhandlung von Ereignissen, sondern behält das Erzählerisch-Erinnernde, das sehr persönlich Beurteilende, manchmal auch eine gewisse Verbitterung über Missverständnisse der Geschichte oder die Überbewertung von Kollegen. Gangster in Kansas City; die eigene Vorbereitung auf Studiositzungen mit den Stars des Jazz – “Wenn du mit Ella Fitzgerald aufnimmst, hörst du dir vorher zwei Stunden lang nichts anderes als Ella Fitzgerald an, wenn du dann ins Studio kommst, denkst du nur noch Ella Fitzgerald” – , über das schwarze Showbusiness, über Rassismus, über Puerto Rico und Frankreich… Die Basie-Band, sagt Jones, sei eine richtige Institution gewesen, und jeder, der in der Band spielte, habe vom musikalischen Ethos des Orchesters genauso gelernt wie fürs Leben. Er erzählt, wie er in den Mitt-1930er Jahren Mitglied der Band wurde, erklärt, wie die legendäre All American Rhythm Section mit ihm, Basie, Freddie Green und Walter Page funktionierte, die kein Mikrophon gebraucht hätte, weil der Swing ihre Stärke war, unüberhörbar, so leise sie auch spielte. Jones erzählt über seine Erlebnisse im US-amerikanischen Süden, aber auch von seiner lebenslangen Neugier, seiner Liebe zu Büchern und Literatur, seiner Bewunderung für Autoren wie James Baldwin, Ralph Ellison, Langston Hughes und Albert Murray. Ein eigenes Kapitel ist Kollegen gewidmet, mit denen er “auch” zu tun hatte: Duke Ellington, Bill ‘Bojangles’ Robinson, Stepin Fetchit, Tommy Dorsey, Claude ‘Fiddler’ Williams, Jackie Robinson, Louis Armstrong, Joe Glaser, John Hammond und anderen. Und Jones, der “sharp dresser” erzählt, wie wichtig es ihm zeitlebens gewesen sei, klasse angezogen zu sein. Wie gesagt, dies Buch ist keine klassische Autobiographie. Als Gesprächspartner auf gleicher Augenhöhe gelingt es Albert Murray Jo Jones zum Erzählen zu bringen, und Paul Devlin schafft es, die erzählerische Stimmung beizubehalten, durchaus auch das Exkursorische in Jones’ Narrativ, das von einer Erinnerung in eine andere übergleitet, auch schon mal, ohne die angefangene Geschichte wirklich zu beenden. Er bringt damit eine Stimmung rüber, die einem den Musiker als Menschen nahebringt, der quasi überquillt vor Geschichten und Überzeugungen, vor Erlebnissen und festen Meinungen. Der 26-seitige Anmerkungsapparat ist da dringend nötig, um dem Leser die Verweise zu erklären, Anekdoten ins rechte Licht zu rücken oder auch schon mal Erinnerungen richtig zu stellen. Doch ist eine Autobiographie kein Geschichtsbuch, sondern höchstens eine Annäherung an die Erinnerungen von selbst Erlebtem. “Rifftide” kommt der komplexen Persönlichkeit des Papa Jo Jones weit näher als alles, was zuvor über ihn veröffentlicht wurde. 26 Jahre nach seinem Tod ist hier ein Buch erschienen, dass Jones als den kraftvollen, vorwärtstreibenden Menschen erleben lässt, der er auch als Schlagzeuger immer war. Wolfram Knauer (März 2012)


Kenny Ball’s and John Bennett’s Musical Skylarks. A Medley of Memories von Kenny Ball & John Bennett Clacton on Sea 2011 (Apex Publishing Ltd.) 203 Seiten, 12,99 Britische Pfund ISBN: 978-1-906358-98-3 2011ballDie Generation der britischen Trad-Jazzer kommt in die Jahre, ja teilweise stirbt sie bereits fort. Viele der Protagonisten dieses Stils sind sich vielleicht gar nicht bewusst, dass sie da in ihrem Streben danach, ihre amerikanischen Helden nachzuahmen, einen durchaus eigenständigen europäischen Stil kreierten, der für sich erheblichen Einfluss auf eine Generation von Musikern und Musikhörern hatte. Nun ja, rückwärtsgewandt bleibt diese Art des Musikmachens dennoch, und in einer Ästhetik, die vor allem nach vorne blickt, ist das wahrscheinlich das am meisten vernichtende Urteil. Da helfen zum Verständnis Bücher, die die Wirklichkeit des Musikmachens ein wenig beleuchten. Trompeter Kenny Ball und Posaunist John Bennett spielen bereits seit 1958 zusammen. In ihrer Doppelbiographie erzählen sie, wie sie zum Jazz kamen und welche Erlebnisse sie durch und mit dieser Musik hatten. Beide wurden in den 1930er Jahren geboren (Ball 1930, Bennett 1936), für beide gehört der Krieg zu ihren Jugenderinnerungen. Ball hörte seinen ersten Jazz 1940 von Platte, Artie Shaws “Begin the Beguine”; Bennett ließ sich 1943 von Tommy Dorseys “Boogie Woogie” begeistern. Nach dem Krieg arbeitete Ball als Klavierverkäufer in London. Er hatte sich 1943 seine erste Trompete gekauft und nach einem Lehrbuch geübt. Bennett war vom Spiel Kid Orys begeistert und lernte das Instrument im Schulorchester. Beide spielten in verschiedenen Bands, bevor sich ihre Wege kreuzten, als sie beide in der Terry Lightfoot Band waren. Im Oktober 1958 verließen sie diese Band gemeinsam und gründeten Kenny Ball’s Dixielanders, eine Band, mit der sie Musik wie die von Bobby Hackett, Jack Teagarden oder Eddie Condon spielen wollten. Die Band erhielt gute Kritiken und war in Jazzclubs in und um London zu hören, reiste bald aber auch durch ganz England und trat selbst in Deutschland auf. Ball und Bennett erzählen von solchen Konzertreisen, von Hits wie “Samantha”, von überaus aktiven Jahrzehnten insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren. Eine Tournee der Band durch die DDR im Jahr 1966 und eine Reise in die Sowjetunion im Jahr 1984 nimmt ein eigenes Kapitel des Buchs ein; in anderen Erinnerungen begleitet der Leser sie auf Reisen nach New Orleans, Australien oder Neuseeland. Hier zitieren die beiden Autoren ausgiebig aus ihren Tourneetagebüchern, weniger chronologisch als vielmehr thematisch sortiert, oder besser vielleicht: an den Anekdoten entlang. Es ist das alles eine kurzweilige Lektüre, die einen direkten Erfahrungsbericht zweier über ein halbes Jahrhundert im britischen Trad-Jazz aktiver Musiker bietet. Ein Register fehlt, im Fotobereich finden sich zur Hälfte offizielle Bandfotos. Der Untertitel “A Medley of Memories” ist Programm und das Buch damit sicher vor allem für Trad-Jazz-Fans interessant. Wolfram Knauer (März 2012)


Jazz Icons von Peter Bölke Hamburg 2011 (Edel earbooks) 156 Seiten, 8 beiheftende CDs, 49,95 Euro ISBN: 978-3-940004-86-4 2011iconsDie earbooks des Hamburger CD- und Buchverlags Edel sind eigentlich um ein Vielfaches “aufgeplusterte” CD-Begleitbooklets. Schallplattengröße, viele Fotos, Hardcover mit sorgsam in den Umschlag eingelassenen CDs; die Produktion des Buchs lässt es an nichts mangeln. “Jazz Icons” stellt die ganz Großen der Jazzgeschichte in Compilations vor. Die Auswahl der acht Künstler und ihrer Aufnahmen ist sicher repräsentativ – man hätte auch andere Namen wählen können, aber so ist es schon recht. Louis Armstrong ist mit Einspielungen zwischen 1947 und 1956 vertreten, darunter das großartige “Skookian”. Bei Coleman Hawkins fehlt weder “Body and Soul” noch das unbegleitete “Picasso” aus dem Jahr 1948. Billie Holidays Aufnahmen reichen von 1933 bis 1958 und decken damit ihre gesamte Karriere ab. Dizzy Gillespie wird mit Bebop und afrokubanischen Nummern aus den 1940er und 1950er Jahren repräsentiert. Bei Sonny Rollins fehlen weder “St. Thomas” noch “Blue Seven”. Miles Davis ist mit Charlie Parker zu hören, mit seinem Capital Nonett, seinen All Stars mit Milt Jackson und Thelonious Monk sowie mit seinem Quintett mit John Coltrane. Dave Brubeck ist im Trio und Quartett vertreten, mit Standards und ungeraden Rhythmen. Und John Coltrane spielt mit Miles, ist aber auch mit Aufnahmen aus seiner blues-lastigen Hardbop-Phase und mit seinem legendären “My Favorite Things” zu hören. Keine Fehler also; eine durchaus brauchbare Wahl der Aufnahmen, die auch in den jeweiligen Kapiteln des Buchs kurz erwähnt werden. Der Jazzfan kennt das alles, für ihn bieten auch die von Peter Bölke flott geschriebenen Biographien der Musiker (zweisprachig auf Deutsch und Englisch), die dabei auch auf die einzelnen Titel der beiliegenden CDs verweisen, nichts wirklich Neues. Die Fotos sind allesamt sehenswert; der Band enthält neben bekannten Aufnahmen durchaus auch viele Bilder, die so selten zu sehen waren. Leider werden die Namen der Fotografen an keiner Stelle genannt – bei einem Buch, das so auf die visuelle Komponente setzt, ein ernstes Versäumnis. Ansonsten gewiss ein passendes Geschenk für Jazzneulinge oder für Jazzfans, denen es nichts ausmacht, dass Compilations das, was man bereits in der Sammlung hat, gerne verdoppeln. Allemal blätterns- und hörenswert. Wolfram Knauer (März 2012)


Picture Infinity. Marshall Allen & The Sun Ra Arkestra von Sibylle Zerr Edingen-Neckarhausen 2011 (Sibylle Zerr) 152 Seiten, 25 Euro ISBN: 978-3-00-035497-7 www.sibylle-zerr.de 2011zerr1993 traf die Journalistin und Fotografin Sibylle Zerr Marshall Allen zum ersten Mal. Ein Clubbetreiber bat sie, ein Foto von Allen und ihm zu machen, wie er dem Saxophonisten zu seinem 80sten Geburtstag eine Whiskyflasche in die Hand drückte. Später fand Zerr heraus, dass Allen gar nicht Geburtstag hatte und dass er außerdem keinen Alkohol trank. Allen machte das alles nichts aus. Er, schreibt sie, nahm einfach die gute Stimmung des Publikums, das ihn feiern wollte, und transformierte diese mit dem Sun Ra Arkestra in pure Schönheit. Das Buch, das Zerr jetzt im Selbstverlag herausbrachte, ist eine Mischung aus Foto- und Sachbuch, in dem die Autorin und Fotografin in Bild und Text die Atmosphäre einfangen will, die Ras Musik bis heute umgibt. In kurzen, englischsprachigen Kapiteln beschreibt sie die Magie auf der Bühne und die Magie im Publikum sowie das Verschwimmen der Grenzen zwischen den beiden in jedem Konzert des Arkestra. Mehr als 80 Bilder, schwarzweiß wie Farbe, zeigen die Musiker auf der Bühne, in Interaktion mit dem Publikum, zwischen Koffern auf dem Bahnsteig. Zerr beschreibt, was nach dem Tod Sun Ras geschah, wie es Allen eine Weile verboten wurde, den Namen des Pianisten und seines Arkestra zu benutzen. Sie erzählt die Geschichte des Altsaxophonisten, der nach dem II. Weltkrieg in Europa stationiert war und zwei Jahre lang in Paris blieb, wo er mit James Moody auftrat und das Konservatorium besuchte. Sein ganzes Leben lang aber spielte er im Arkestra, und so macht es Sinn, dass er das Arkestra ins 21ste Jahrhundert führte. Sibylle Zerr erklärt das Kultische des Arkestra, die Freiheit der Musik. Sun Ra, sagt Marshall Allen, sei ein geborener Leader gewesen; er dagegen sei in der Band einer unter Gleichen, lerne von den anderen genau so viel wie die von ihm. Zerr beschreibt Sun Ras Konzept hinter “Strange Strings”, einer Aufnahmesitzung von 1966, bei der der Pianist seine Musiker ins Studio schickte, auf Instrumenten zu spielen, die sie noch nie zuvor gespielt hatten, um zu sehen, was passiert, um “unschuldig” spielen zu können. “Wir werden spielen, was Ihr nicht wisst. Und was Ihr nicht kennt, ist groß!” Sie beleuchtet all die jungen Musiker, die Sun Ra selbst nie erlebt hatten, jetzt aber im Arkestra dessen Tradition fortschreiben, wenn sie nicht sogar im legendären Haus in Philadelphia leben. Sun Ras Arkestra muss man eigentlich erleben. Man muss es hören und sehen und riechen – die Schminke, die exotisch-bunte Kleidung, die Instrumente. Zwischen zwei Buchdeckeln kommt Sibylle Zerr diesen Erlebnissen so nahe, wie es denn irgend geht: mit Bildern, die einen überaus lebendigen Eindruck von dem wiedergeben, was ein Sun-Ra-Konzert ausmacht – ein Erlebnis fürwahr, an dem keiner unbeteiligt bleibt –, und mit Texten, die sich von ganz unterschiedlichen Seiten dem Zauber der Musik und der Realität des Bandlebens und -tourens nähert. Lesenswert! Wolfram Knauer (März 2012)


Brötzmann. Arbeiten 1959-2010 herausgegeben von der Galerie Epikur Wuppertal 2011 (Galerie Epikur) 95 Seiten, 32 Euro ISBN: 978-3-925489-90-7 2011broetzmannIn den letzten Jahren ist Saxophonist Peter Brötzmann immer wieder auch als Bildender Künstler gewürdigt worden. Erst 2010 wurde seine grafische Kunst in der Gallerie The Narrows im australischen The Narrows ausgestellt. Die Wuppertaler Galerie Epikur hat diese Seite Brötzmanns kreativer Kunst nun mit einer Ausstellung und einem Bildband gewürdigt, eingeleitet von einem fachkundigen Aufsatz von Susanne Buckesfelder sowie zwei persönlichen Würdigungen von John Corbett und Mike Pearson. Als Refugium seines überaktiven Musikerlebens beschreibt Buckesfeld Brötzmanns Künstleratelier, und zeichnet dann die entwicklung ins einer Bildsprache nach. Musikbezüge gibt es genauso wie erotische Sujets, Ölgemälde, Aquarelle, Rrady-Mades und Holzschnitte. Das Durchblättern des wunderbaren Bildbandes macht auf jeden Fall eine weitere Seite Brötzmanns erlebbar. Wolfram Knauer (März 2012)


Populäre Musik und kulturelles Gedächtnis. Geschichtsschreibung – Archiv – Internet herausgegeben von Martin Pfleiderer Köln 2011 (Böhlau) 173 Seiten, 24,90 Euro ISBN: 978-3-412-20773-1 2011pfleidererDie Zahl der Forschungseinrichtungen nimmt zu, in denen populäre Musik und/oder Jazz dokumentiert und für die Nachwelt aufbewahrt wird. Bei einer Tagung im Herbst 2010 versammelte das Eisenacher Lippmann+Rau-Musikarchiv Kollegen vor allem aus den diversen deutschen Archiven sowie Forscher, die sich mit der Thematik der Musikbewahrung beschäftigen, ein, um über Notwendigkeiten, Möglichkeiten, Wünsche und Pläne der Kartierung und Archivierung populärer Musik zu sprechen. Dabei geht es um Archivierungstechniken, die grundlegende Aufgabe von Archiven, Beispiele konkreter Archivleistungen und immer wieder um das Paradoxon, dass Archive eine Musik speichern helfen, die eigentlich aus dem Liveerlebnis, aus Erfahrungen und Gefühlen bestehen. Die Tagung von 2010 war da sicher nur ein erster Schritt – hier sind auf lange Sicht länderübergreifende Kooperationen vonnöten, um, wie es hier so schön heißt, “immaterielles Kulturerbe” zu erhalten und zu archivieren. Neben Beiträgen des Herausgebers und von Nico Thom (Lippmann+Rau-Musikarchive Eisenach) finden sich in dem Buch etwa Artikel von Ulrich Duve und Peter Schulze (Klaus-Kuhnke-Archiv Bremen), von Wolfram Knauer und Doris Schröder (Jazzinstitut Darmstadt), von Nils Grosch (Volksliedarchiv Freiburg), von Siegfried Schmidt-Joos, Wolfgang Ernst, Tiago de Oliveira Pinto, Johannes Theurer und Holger Großmann. Wolfram Knauer (Februar 2012)


Five Perspectives on “Body and Soul” And Other Contributions to Music Performance Studies herausgegeben von Claudia Emmenegger & Olivier Senn Zürich 2011 (Chronos) 197 Seiten, 31 Euro ISBN: 978-3-0340-1048-1 2011emmeneggerDas vorliegende Buch hat zwei sehr voneinander unterschiedliche Teile: einen ersten, der die im Titel benannten fünf Perspektiven auf den Jazzstandard “Body and Soul” wirft, sowie einen zweiten, der sich mit allgemeinen und eher nicht jazzbezogenen Themen der Musikaufführung befasst. Im letzteren Teil ist der Beitrag über das Messen von Mikrotiming auch für Jazzforscher interessant, außerdem Elena Alessandris kurzer Ausflug in die Welt der Diskographie. “Body and Soul” ist ohne Zweifel einer der bedeutendsten Standards der Jazzgeschichte. Eine Beschäftigung mit diesem Titel beinhaltet dabei immer zwei Referenzpunkte: zum einen die Interpretation der Komposition von Johnny Green, zum zweiten die bewusste oder unbewusste Bezugnahme auf die legendäre Aufnahme von Coleman Hawkins aus dem Jahr 1939. José Antonio Bowen setzt sich in seinem Beitrag ganz allgemein mit der Aufnahmegeschichte des Titels auseinander und untersucht Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den vielen verschiedenen Versionen, instrumentalen genauso wie vokalen Interpretationen. Martin Pfleiderer analysiert das Stück als Meisterprüfung für Tenorsaxophonisten und betrachtet eingehender die Aufnahmen von Hawkins, Chu Berry, Lester Young, Ben Webster, Don Byas, Stan Getz und John Coltrane, wobei ihn neben der melodischen und harmonischen Interpretation vor allem auch die persönliche Soundgestalt der Tenoristen interessiert – und so finden sich in seinem Beitrag neben Transkriptionen auch Spektogramme, die etwa Websters luft-gefüllten Ton beleuchten helfen. Cynthia Folio und Alexander Brinkman hören sich Dexter Gordons Aufnahme des Standards von 1978 an und analysieren ihn in Hinblick auf motivische Bausteine, Beispiele von Polyrhythmik, Gordons ausführliche Schlusskadenz sowie seine immer wieder eingestreuten Zitate. John Gunther betrachtet drei jüngere Interpretationen des Stücks von Bill Frisell, Cassandra Wilson und Keith Jarrett. Olivier Senn schließlich hört sich Thelonious Monks Version vom Oktober 1962 an und untersucht in seiner Analyse den Abstraktionsgrad und die Abstraktionsmethoden, die Monk anwendet, um das Stück quasi musikalisch-analytisch auseinanderzunehmen und wiederzusammenzusetzen. Alle Beiträge entstanden als Referate zweier Symposien während einer Tagung, die 2009 in Luzern abgehalten wurde. Sie präsentieren eine musikwissenschaftliche Auseinandersetzung damit, wie man mit dem Mittel der Analyse auch improvisierter Musik nahekommen kann und bieten dank des vergleichbaren Themas tatsächlich unterschiedliche Perspektiven. Das Buch ist in englischer Sprache gehalten, im Anhang findet sich neben den Biographien der Autoren auch ein Namensindex der im Text erwähnten Personen. Wolfram Knauer (Februar 2012)


The Poconos In B Flat. The Incredible Jazz Legacy of the Pocono Mountains of Pennsylvania von Debbie Burke East Stroudsburg 2011 (Xlibris) 117 Seiten, 19,99 US-Dollar ISBN: 978-1-46913-459-8 2011burkeEin Buch über die unglaubliche Jazzszene der holsteinischen Schweiz? So in etwa kam es dem Rezensenten vor, als er Debbie Burkes Buch über die Jazzszene der Ponono Mountains in Pennsylvania auf den Schreibtisch erhielt. Die Poconos sind eine Urlaubs- und Freizeitregion im Nordosten Pennsylvanias, etwa anderthalb Autostunden von Manhattan entfernt. Eine größere Universität in East Stroudsburg ist in der Nähe, und ein Jazz Festival findet jährlich am Delaware Water Gap statt, der Wasserscheide in der bergigen Region. Ein paar namhafte Musiker haben sich hier niedergelassen, allen voran der Altsaxophonist Phil Woods, der seit kurz nach seiner Rückkehr aus Europa im Jahr 1972 hier lebt, der Pianist und Sänger Bob Dorough, der bereits seit den 1960er Jahren ein Haus in der Region besitzt, und der Sopransaxophonist David Liebman, der in die Poconas zog, weil sie nahe an New York waren und doch abgeschieden genug, um Rückzugsmöglichkeiten zu bieten. Neben ihnen befragt Burke aber auch Musiker wie den Pianisten John Coates, der eine Art Identifikationsfigur für die regionale Szene darstellt, den Schlagzeuger Bill Goodwin und den Pianisten Dave Frishberg. Der Bandleader und Arrangeur Fred Waring ist einer der wenigen nicht mehr lebenden Personen, die in ihrem Buch beleuchtet werden; ansonsten portraitiert sie auch außerhalb der Region eher weniger bekannte Künstler wie den Pianisten Bobby Avey, den Trompeter Danny Cahn, den Dirigenten Ralph Harrison, den Saxophonisten Bob Keller, den Bassisten Davey Lantz, die Saxophonistin Jay Rattman und andere. Die Kapitel sind kurzweilig geschriebene persönliche Schlaglichter, alphabetisch nach Künstlern sortiert, aber alles andere als enzyklopädische Artikel mit Daten und Fakten über die Karrieren der Beschriebenen. Meist geht es stattdessen um Einflüsse, um ästhetische Grundhaltungen, um die Entscheidung, in die Poconos zu ziehen und um die kreative Kraft, die die Gegend den Musikern gibt. Und irgendwie ahnt man am Ende des Buches, dass an alledem wohl etwas dran sein mag, dass die Ruhe und Friedlichkeit einer Landschaft den künstlerischen Ausdruck beeinflussen, verstärken, fokussieren kann. Wolfram Knauer (Februar 2012) A book about the incredible jazz scene of the Holsteinische Schweiz [a hilly region in Northern Germany]? Something like this went through the mind of the reviewer when he leafed through Debbie Burke’s book on the jazz scene of the Pocono Mountains. The Poconos are a holiday and leisure region in northeastern Pennsylvania, about a half hour drive from Manhattan. A major university is near in East Stroudsburg, and a jazz festival takes place annually at the Delaware Water Gap, the watershed in the mountainous region. A few well-known musicians have settled here, first and foremost the alto saxophonist Phil Woods, who has been living here since shortly after his return from Europe in 1972, the pianist and vocalist Bob Dorough, who owns a house in the region since the 1960s, and the soprano saxophonist David Liebman, who moved to the Poconos because they were close to New York and yet secluded enough to offer refuge. Apart from these Burke interviewed other musicians such as the pianist John Coates, who serves as a role model for the local scene, the drummer Bill Goodwin and the pianist Dave Frishberg. The bandleader and arranger Fred Waring is one of the few musicians in her book who is no longer alive; other artists she mentions are far less well-known outside the region, among them the pianist Bobby Avey, the trumpeter Danny Cahn, the conductor Ralph Harrison, the saxophonist Bob Keller, the bassist Davey Lantz, the saxophonist Jay Rattman and others. The chapters provide very personal spotlights written in an entertaining style, sorted alphabetically by artist, yet not providing too encyclopedic information about the careers of the described. She talks about influences, basic aesthetic attitudes, about why they decided to move to the Poconos and about the creative force the area provides to the musicians. And somehow at the end of the book one suspects that there may well be some truth to all of this, that the peace and tranquility of a landscape can affect, amplify and focus artistic expression. Wolfram Knauer (Februar 2012)


Wycliffe Gordon. Sing It First. Wycliffe Gordon’s Unique Approach to Trombone Playing Herausgegeben von Alan Raph Delevan/NY 2011 (Kendor Music) 38 Seiten, 17,95 US-Dollar 2011raphWycliffe Gordon ist einer der jüngeren Traditionalisten des Jazz. Er spielte in der Band von Wynton Marsalis, im Lincoln Center Jazz Orchestra und hat sich auch mit seinen eigenen Projekten den virtuos gespielten swingenden Jazz verschrieben. In diesem Heft, einer Art Schule für Posaunisten, gibt er einige Tipps weiter, die dem Posaunisten ermöglichen sollen auf seinem Instrument wie mit eigener Stimme zu spielen. Gordons Hauptregel wurde zum Titel des Büchleins: “Sing it first!” – Sing es erstmal, bevor Du es spielst! Und so gehöre jetzt zu seinen täglichen Übungen auch das Singen von allen möglichen Etüden. Das Buch wendet sich dabei an Musiker auf einem mittleren bis fortgeschrittenen Level. Ein erstes Kapitel rekapituliert Grundlagen des Akkordaufbaus. Gleich als nächstes geht’s ans Singen. “Man braucht keine gute Stimme um zu singen. Versuch die Tonhöhe genau zu treffen und arbeite später an der Artikulation.” Es kommt ein Kapitel über “Basics” auf der Posaune, dann Tipps und ein paar Übungen zum Aufwärmen, zum Finden eines Lehrers, zu Stil, Ansatz, Artikulation, Schnelligkeit, Ausdauer, hohen Noten, absolutem oder relativem Gehör, Rhythmik, dem Plunger. Die meisten der Tipps eignen sich vor allem für Posaunisten, wenn auch Gordons Grundregel eigentlich für jeden Musiker gelten sollte: Wenn Du es singen kannst, kannst Du es auch spielen! Wolfram Knauer (Februar 2012)


theoral no. 3 / Paul Lovens herausgegeben von Philipp Schmickl Nickelsdorf, November 2011 72 Seiten direkt zu beziehen über www.theoral.org 2011schmickl“theoral” ist eine Heftreihe herausgegeben von Philipp Schmickl (Texte) und Karin Weinhandl (Grafik), in der Künstler aus dem Bereich der improvisierten kreativen Musik zu Worte kommen. Der Name der Reihe leitet sich von “oral history” ab, Schmickl ist vor allem Stichwortgeber und lässt sein Gegenüber reden. Heft Nr. 3 widmet sich dem Schlagzeuger Paul Lovens, der ausführlich von seinen Einflüssen und seiner musikalischen Ästhetik berichtet. Schmickl ediert möglichst wenig, lässt Lovens reden, abschweifen, zurückkommen zum Thema. Lovens erzählt aus Aachen, von seiner frühen Faszination mit dem Jazz, Dixielandsozialisation und davon, wie er mit 17 oder 18 Jahren einen Set lang bei Dexter Gordon eingestiegen sei, “eine Lektion in timing”. Er erzählt offen, etwa davon, dass ein Konzert für ihn eigentlich beginnt, wenn er sich den Termin in den Kalender notiert, oder davon, dass man als Musiker gut daran tut, andere nicht zu beneiden. Er erzählt von seiner Wohnung in Aachen, in der sich Schallplatten und Bücher stapelten: “Es gibt Wege, die man nutzen kann, mit o einer Wendemöglichkeit, aber viele der Wege sind nur rückwärts wieder zu gehen, auf zentrale Punkte wie Küchenherd, Toilette, Fernsehsessel, Bett, dazwischen gibt’s Pfade.” Die Wohnung als Hirn, der Kopf als Archiv. Schlippenbach, Evan Parker, und wieder zurück nach Aachen, in den Jazzclub, für den er einen Schlüssel besaß. Eine Biographie aus Zufällen, “Es lief alles so, nicht viel drüber nachgedacht”… Jazzkurse Remscheid, Manfred Schoof lädt ihn ein in sein Quintett zu kommen, wo er Schlippenbach kennenlernte… Lovens philosophiert darüber, ob es unter Musikern Freundschaften geben könne oder vor allem Kollegialität; er erzählt davon, wie er mit dem Tod von Kollegen umgeht, Buschi Niebergall, Peter Kowald. Eine verrückte US-Tournee mit Eugene Chadbourne ist Thema genauso wie seine Zusammenarbeit mit Cecil Taylor oder “die drei Bassisten”, nämlich Niebergall, Maarten van Regteren Altena und Kowald, und immer wieder Brötzmann und Steve Lacy. Lovens redet übers Musikhören, darüber, wie er musikalische Entscheidungen träfe beim Spielen, über Lieblingsräume zum Musikhören und Lieblingsräume zum Spielen. Das alles liest sich nach nur wenigen Sätzen so, als würde Paul Lovens vor einem sitzen, die Augen aufblitzend bei Erinnerungen oder bei neuen Ideen, die er sich gleich in ein Notizbuch schreibt, ein wenig melancholisch, wenn er an alte Zeiten denkt, den Schalk durchaus im Nacken, die Selbstbetrachtung mit genügend Ironie, um über die Vergangenheit genauso lachen zu können wie über seine Gegenwart. Man liest sich fest, und dann ist’s schon ausgelesen, das kleine Büchlein, das doch so viel an Stoff fürs Nachdenken liefert und zugleich die Musizierfreude weitergibt, die man Paul Lovens auch auf der Bühne immer anmerkt, ein authentisches Portrait eines mehr als authentischen Musikers. Wolfram Knauer (Februar 2012)


L’art du jazz herausgegeben von Francis Hofstein Paris 2011 (éditions du Félin) 445 Seiten, 45 Euro ISBN: 978-2-86645-762-4 2011hofsteinKunst und Jazz – die Thematik der gegenseitigen Befruchtung, nun ja, vor allem des eindimensionalen Einflusses von der Musik auf die Bildende Kunst, ist in den letzten Jahren, beflügelt durch einige große Ausstellungen, von vielen Seiten betrachtet worden. Francis Hofstein hat mit dem von ihm herausgegebenen Buch L’art du jazz der Lektüre ein dickes, wunderbar bebildertes Opus hinzugefügt. Neben allgemeinen Artikeln über Jazz und Bildende Kunst oder das Image des Jazz als Vehikel der Werbung finden sich darin auch Gedichte oder Erinnerungen an Literaten und Musiker. Es sei ihm um die Interdisziplinarität des Jazz gegangen, erklärt Hofstein in seinem kurzen Vorwort, um das Verhältnis, das der Jazz immer wieder mit seiner Umgebung eingeht, der realen genauso wie der artifiziellen. Zu den Autoren der 40 Beiträge zählen Kritiker wie John McDonough (mit einem Artikel über Jazzmusiker als Werbeträger), Jean Szlamowicz (über die Anziehungskraft des Begriffs Jazz auf Käufer und Vermarkter) oder Greg Tate (über den afro-amerikanischen Maler Thornton Dial und seine Einflüsse aus dem Jazz), Musiker wie Barry Guy und Leo Smith (jeweils sehr lesenswert über ihre graphischen Partituren), Ellery Eskelin, Andrea Parkins und Jim Black (über Stimme und Bewegung), Nasheet Waits, Chad Taylor, Mike Reed, Gerald Cleaver und Tyshawn Sorey (über das Schlagzeug) und viele andere Autoren, die eine vom Herausgeber offenbar bewusst geförderte Vielfalt an Ansätzen vertreten, wie sich Jazz und andere Künste verbinden. Bebildert ist das alles mit Ausrissen aus Zeitschriften, Plakaten und Plattencovers, aber auch mit den Abbildungen von kleinen Jazz-Figurinen aus der Sammlung Hofsteins. Hofsteins Ansatz versammelt die Texte dabei wie eine Art Improvisation über ein Thema, bei dem jedes Solo etwas zu sagen hat, und man doch vom nächsten total überrascht wird. Das ist ein kurzweiliges Vergnügen, bei dem man jenes Thema mal besser erkennt, mal ein wenig suchen muss. Da widmet sich Clare Moss etwa der “schwarzen amerikanischen Stimme” als Klangideal; da betrachtet Alan Govenar J.J. Phillips Roman “Mojo Hand” von 1966, der durch die Begegnung des Autors mit dem Bluesmusiker Lightnin’ Hopkins geprägt war; da swingen Gedichte von Langston Hughes (in französischer Übersetzung); da stellt Hofstein selbst den Plattencover-Designer Jack Lonshein und die von ihm entworfenen Albumtitel vor; da widmet sich Bruce Dick dem Schriftsteller Richard Wright und der Tradition des Blues; da schreibt Saxophonist Nathan Davis über das Leben als exilamerikanischer Jazzmusiker im Paris der 1960er Jahre; da schaut Sonia Dellong sich Disney-Filme an, in denen Jazz eine wichtige Rolle spielt und fragt nach dem Image, die hier übergebracht wurde. Das Buch eignet sich zum Blättern und Sich-Fest-Lesen, es ist zugleich ein schönes Bilderbuch, dessen einziges Manko vielleicht ist, dass man sich Erklärungen der vielen Porzellanfigurinen und sonstigen jazzbezogenen Abbildungen wünschte, die übrigens nicht immer mit dem Inhalt der ihnen zugeordneten Artikel korrespondieren. Kurze Biographien der Autoren und ein Register stünden dem Buch ebenfalls gut zu Gesicht – ansonsten aber vermittelt die Lektüre die Freude am Spielen, die den Jazz doch eigentlich ausmacht. Chapeau! Wolfram Knauer (Januar 2012)


Kunst als Brücke zwischen den Kulturen. Afro-amerikanische Musik im Licht der schwarzen Bürgerrechtsbewegung von Jürg Martin Meili Bielefeld 2011 (transcript) 316 Seiten, 32,80 Euro ISBN: 978-3-8376-1732-0 UMS1732.inddNicht erst in den letzten Jahren wird Kunst als Brücke zwischen Kulturen im Zeitalter der Globalisierung erkannt. Schon immer waren Kunst und Kultur eine Möglichkeit, kulturelle Spannungen zu überbrücken. Jürg Martin Meilis Studie, die aus einer Dissertation an der Universität Zürich entstanden ist, betrachtet diesen Prozess der Brückenbildung aus unterschiedlichen Sichtweisen. Den Fokus seiner Untersuchung richtet er dabei auf afro-amerikanische Musik zwischen Spiritual und HipHop. Er beginnt mit Herkunft und Entwicklung der afro-amerikanischen Musik und schließt ein Kapitel über die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre an. Im dritten Kapitel interpretiert er ausgewählte Liedtexte im Kontext der afro-amerikanischen Erfahrung, beschreibt im vierten Kapitel die Rolle des Musikers als sozialer und politischer Mittler und vergleicht in Kapitel 5 den HipHop in seiner Funktion mit den “slave narratives” des 19sten Jahrhunderts. Etwas abrupt muss der Leser gleich darauf von Tupac Shakur zu Platon springen, wird quasi vom HipHop in die Antike gestürzt, für die der Autor sich Gedanken über die Bedeutung der Kunst macht, um abschließend – und damit auch wieder auf das afro-amerikanische Kernthema seines Buchs eingehend – auf Identität und Solidarität stiftende Aspekte von Kunst hinzuweisen. Meili findet bei alledem nichts wirklich Neues heraus; seine Verweise auf Sekundärliteratur zu afro-amerikanischer Musik lassen Lücken erkennen, zumal im bereich der jüngsten Literatur, die sich im Jazzbereich den von ihm beschriebenen Phänomenen bereits durchaus theoriekritisch angenommen hat. Vor allem aber kommt eines zu kurz: nämlich der Bezug auf die Musik selbst. Meilis Ansatz ist ein rein historischer oder textkritischer, der aber die Musik als … nunja, als Musik eben, fast vollständig außer Acht lässt. Doch erst, wenn man definiert, welche Funktion Musik als Musik besitzt, kann man auch ihre anderen Funktionen sinnvoll untersuchen. Wolfram Knauer (Januar 2012)


Thema Nr. 1. Sex und populäre Musik herausgegeben von Dietrich Helms & Thomas Phleps Bielefeld 2011 (transcript) 231 Seiten, 21,80 Euro ISBN: 978-3-8376-1571-5 UMS1571.inddBei der 20sten Arbeitstagung des Arbeitskreises Studium populärer Musik (ASPM) ging es 2009 in Halle um … Sex! Die zwölf Autoren der vorliegenden Tagungsdokumentation beleuchten dieses Thema von recht unterschiedlichen Seiten. Es geht um allgemeine Überlegungen zum Thema “Erotik und Musik “(Dietrich Helms), um sexualisierte Metaphorik in Vorkriegs-Bluestexten (Thomas Phleps), um Männerbilder im Heavy Metal (Dietmar Elflein), oder über Ideen von Weiblichkeit bei Madonna, der Riot Grrrl-Bewegung und Lady Ray Bitch (Erika Funk-Hennigs). Corinna Jean Timmermann hat Frankfurter DJanes befragt; Hans-Joachim Erwe reflektiert über “Je t’aime” und andere Stöhnsongs; und Paul Carr untersucht die Rolle des Sex in Frank Zappas Musik. Merle Mulder sowie Martin Pfleiderer blicken auf die Repräsentation oder Anfeindung von Schwulen im popkulturellen Umfeld und konkret in Poptexten. Thomas Burkhalter blickt auf die auf die sich wandelnde Frauenrolle in der arabischen Welt vor dem Hintergrund ihrer Präsenz in der Popkultur. Michael Ahlers und Christoph Jacke schließlich haben sich unters Volk gemischt und gefragt: Was hört ihr, wenn…? Der Jazz kommt in all diesen Themen eher am Rande vor. Die bunte Sicht auf Musik als Soundtrack erotischer Aktivität bzw. als selbst einflussnehmender Partner bei intimster Zweisamkeit allerdings macht neugierig, welche Wirkung wohl der Jazz hätte. Oder ist Jazz eher das romantische Vorspielt? Wolfram Knauer (Januar 2012)


Instant Composers Pool Orchestra. You have to see it von Ton Mijs (Fotos) & Kevin Whitehead (Text) Rotterdam 2011 (Mijs Cartografie & Vormgeving) 64 Seiten, 15 Euro ISBN: 978-908-1686211 (www.tonmijs.nl) 2011mijsNein, man muss es auch gehört haben! Aber eben auch gesehen… Der Jazz ist und bleibt Livemusik, und das holländische Instant Composers Pool Orchestra um Misha Mengelberg und Han Bennink ist ein Ensemble, das man besser im Konzert erlebt haben sollte, um zu wissen, welche Spannung aus den Gegensätzen zwischen Ordnung und Chaos in seiner Musik möglich ist. Der Fotograf Ton Mijs und der in Amsterdam lebende amerikanische Journalist haben mit diesem Büchlein dem ICP eine Liebeserklärung gemacht, die den so gar nicht musikorientierten Untertitel des Buchs erklärt und rechtfertigt. Es sind seltsam erklärende Bilder dabei: Etwa das Trommelfell auf dem Boden (oder ist es ein weißes Tablett?) mit einem Kamm darauf, während daneben, sorgfältig aufgereiht diverse Besen liegen. Oder Misha Mengelberg im Gespräch mit Tristan Honsinger und Ernst Glerum, die ihn ein wenig ungläubig anschauen, während Han Bennink sein Becken festschraubt. Mijs Fotos begleiten die Band bei einem Konzert im Amsterdamer Bimhuis im September 2009. Er fängt ein, wie sich Michael Moore einspielt, wie Honsinger sein Cello auspackt, wie Thomas Heberer die Noten sortiert, Pfeife und Feuerzeug quer zu den Stöcken auf der Tom liegen (Hennink scheint in Bildern zu leben), Mengelbergs Plastiktüte, ein Becher Kaffee und Chips auf dem Flügel, ein Soundcheck, der zugleich neue Absprachen enthält, aber irgendwie auch Ablenkung, auf dass bloß nicht alles ganz sicher läuft am Abend. Die Bühne ist leer, das Publikum da. Ansage und kurzes Gespräch mit Mengelberg. Bennink trommelt auf dem Boden, die Band spielt, hört zu, spielt weiter, lässt sich von Honsinger dirigieren, Conduction, Solo, Alle, Verbeugung, Schluss. Eine leere Bühne, ein paar Notenblätter liegen auf dem Boden, leere Stühle, der Flügel zugeklappt. Man ahnt, was da geschah an diesem Abend, und dann meint man doch, dass das Sehen nicht ausreicht: Man muss es schon hören. Aber wenn man es gehört hat, dann ist das Sehen zusätzlicher Gewinn. Ein wunderbares Fotobuch, dem der Text von Kevin Whitehead den Inhalt beigibt, eine einfühlsame Beschreibung des Konzerts. Und tatsächlich schaue ich auf die Rückseite des Buchs, ob nicht doch noch eine CD beiheftet. Leider nicht. Also sollte ich möglichst bald das ICP live hören. Oder mir eine CD aus dem Regal suchen… Wolfram Knauer (Januar 2012)


Respekt! Die Geschichte der Fire Music von Christian Broecking
Berlin 2011 (Verbrecher Verlag)
475 Seiten,
18 Euro
ISBN: 978-3-940426-67-3

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Kaum jemand kennt die amerikanische Jazzszene der letzten dreißig, vierzig Jahren so gut wie Christian Broecking, der mit vielen der Protagonisten insbesondere des afro-amerikanischen Jazz gesprochen und sie in Interviews für Tageszeitungen und Fachzeitschriften portraitiert hat.

Der neue, fast 500 Seiten starke Wälzer enthält drei bereits früher beim selben Verlag erschienene Bücher mit Aktualisierungen in den Kommentaren zu den Interviews: “Respekt!” von 2004, “Black Codes” von 2005 sowie “Jeder Ton eine Rettungsstation” von 2007.

Die Interviews, die letzten Endes (in nicht edierter Form) auch Basis von Broeckings jüngst erschienener Dissertation zum Selbstverständnis des afro-amerikanischen Jazz der letzten 20 Jahre ist, beleuchten ganz subjektiv die Sicht der Protagonisten zum Umfeld in den USA, zu gesellschaftlichen und ästhetischen Entwicklungen, zu Freiheit oder Tradition, zur politischen Verantwortung von Künstlern und vielem mehr.

Es sind gerade in der Sammlung wichtige Versatzstücke für das Verständnis einer Szene, die vom Wandel geprägt und doch der Tradition verpflichtet ist. Broecking ist in diesen Interviews zurückhaltender Chronist, neugierig und nachhakend, wobei sich Themen wie Politik, Verantwortung, Tradition oder Rassismus wie rote Fäden durch die Gespräche ziehen.

Alles in allem: Kurzweilig, lesenswert und in der klugen Weitsicht vieler der Gesprächspartner eine durchaus optimistische Fundgrube für jeden, der Angst um die Zukunft des Jazz hat.

Wolfram Knauer (Dezember 2011)


10 Jahre unerhört!. Zum Jubiläum des Zürcher unerhört!-Festivals
herausgegeben von Michael Stötzel
Zürich 2011 (Verein unerhört!)
122 Seiten

Das unerhört!-Festival in Zürich fand 2011 zum zehnten Mal statt, und die vorliegende Publikation würdigt die unterschiedlichen Seiten der Veranstaltung: Programmgestaltung, Einbeziehung der regionalen wie internationalen Szene, Veranstaltungsorganisation, Werbung und grafische Gestaltung der Werbemittel, Partner wie Club, Altenheim oder Museum, Kontakte zur Jazzausbildung im Land, aber auch Finanzierung und Catering für die auftretenden Musiker.

Das Ganze ist ein begeistertes und doch auch ehrliches Feiern, bei dem vor allem die Macher selbst von ihrer Arbeit berichten, quasi einen Blick in die Werkstatt der Festivalgestalter erlauben, in ihre Zweifel, in den Umgang mit Problemen, aber eben auch in die Freude über den Erfolg und die Ermutigung zum Risiko.

Es ist eine Festschrift, jubiläums-würdig und Lust machend auf mehr. Und ein wenig ermutigt es gerade in den Zeiten schwerer Finanzen, wie das gemeinsame Wollen aus einer klein-budgetierten Avantgarde-Veranstaltung ein kaum mehr aus der Landschaft der europäischen Festivals wegzudenkendes Event werden ließ, das durch Programmierung und Ermutigung der Musiker und ihrer Projekte schließlich selbst Einfluss auf die Entwicklung der präsentierten Musik genommen hat. Zum Schluss gibt es etliche Farbaufnahmen der Fotografin Francesca Pfeffer von Konzerten des Festivals, die allerdings vor allem die Bühnensituation, kaum die Atmosphäre der Veranstaltung dokumentiert.

Auch wir gratulieren jedenfalls: Bleibt weiter unerhört!

Wolfram Knauer (Dezember 2011)


Der Marsalis-Komplex. Studien zur gesellschaftlichen Relevanz des afroamerikanischen Jazz zwischen 1992 und 2007
Christian Broecking
Berlin 2011 (Broecking Verlag)
216 Seiten, 49,90 Euro
ISBN: 978-3-938763-32-2

Christian Broecking ist vielleicht der profundeste Kenner der gegenwärtigen afro-amerikanischen Jazzszene und ihrer ästhetischen Diskurse. Sein 1995 erschienenes Buch “Der Marsalis-Faktor” beschäftigte sich recht früh mit dem Phänomen des New Orleanser Trompeters Wynton Marsalis und seiner ästhetischen Entourage von Musikern, Kritikern und afro-amerikanischen Kulturphilosophen. Seither sammelte Broecking in seiner täglichen Arbeit weitere Zeugnisse über die Entwicklung eines afro-amerikanischen Bewusstseins für ästhetische Entwicklungen und fasste immer wieder die Erkenntnisse seiner journalistischen Feldforschung in Aufsätzen und Aufsatzsammlungen zusammen. Für seine musikwissenschaftliche Dissertation an der Technischen Universität Berlin hat Broecking seine eigenen jahrelangen Recherchen jetzt zur Grundlage einer systematischen Inhaltsanalyse gemacht und in einen größeren amerikanischen Ästhetikdiskurs eingeordnet.

Im “Marsalis-Komplex” geht es um “die Auseinandersetzung um die politische Relevanz, den gesellschaftlichen Nutzen und eine Re-Definition des (afro)amerikanischen Jazz”, die sich vor allem an der musikalischen Haltung von Wynton Marsalis festmachte. In einem ersten Kapitel zeichnet Broecking dabei die “Geschichte der Diskurse” nach, verweist auf die Prägung vieler Musiker durch den soziokulturellen Wandel der Bürgerrechtsbewegung und die im Jahrzehnt darauf eintretende Frustration durch die Realität. Er konstatiert eine Tendenz afro-amerikanischer Musiker, “mangelnde Anerkennung im eigenen Land durch den Bezug zur schwarzen Herkunftskultur zu kompensieren”.

Sein zweites Kapitel portraitiert die Interviewpartner und ihre jeweilige ästhetische Position. Es handelt sich dabei um Musiker und Theoretiker/Schriftsteller, konkret um: Albert Murray, Bill Dixon, Ornette Coleman, Betty Carter, Amiri Baraka, Eddie Harris, Archie Shepp, Lester Bowie, Stanley Crouch, David Murray, Steve Coleman, Don Byron, Greg Osby, Branford Marsalis, Wynton Marsalis and Terence Blanchard. Broecking weist in diesen Kurzportraits auch auf die Interviewsituation hin, Ort, Zeit und Stimmung während des Interviews.

Im dritten Kapitel skizziert Broecking sein methodisches Vorgehen, bevor er im vierten Kapitel zur Inhaltsanalyse kommt. Hierfür identifiziert er Themenbereiche wie “Marktzugang”, “Gesellschaftlicher Kontext”, “Identität”, “Rezeption”, “Spannungsfelder”, “Politische Intention”, “Transkulturalität” und hinterfragt diese Komplexe mithilfe von Zitaten aus seinen Interviews. Ein Ergebnis dieser Analyse ist dabei, dass “die Befragten in ihren Äußerungen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen ein heterogenes Meinungsgefüge” vermitteln, “das nicht mit der Rezeption einer als homogen empfundenen schwarzen Kultur korreliert”.

In einem Schlusskapitel überprüft Broecking die Aussagen aus den Interviews, die er zumeist in den 1990er Jahren geführt hatte, anhand der Entwicklungen seither, konzentriert sich dabei auf die Auswirkungen der gesellschaftlichen Akzeptanz eines Konzerthauses wie Jazz at Lincoln Center, auf Veränderungen der schwarzen Perspektive, auf politische Optionen der Musiker, die sich aus dem Kreis der Young Lions rekrutieren, auf den Themenkomplex Ästhetik und Kommerz, auf die sozialen und politischen Auswirkungen von Katrina und die mangelhaften Bewältigung der Folgen des Hurricane durch die amerikanische Regierung, sowie auf Veränderungen der Wahrnehmung afro-amerikanischer Musik in Europa, ausgelöst durch europäische Widerstände gegen die amerikanische Politik der letzten zwei Jahrzehnte.

Alles in allem zeichnet Christian Broecking ein überaus spannendes Bild des ästhetischen Diskurses im afro-amerikanischen Jazz der 1990er bis 2010er Jahre, einer Zeit, die politisch ja durchaus turbulent war, überschattet von zwei Irakkriegen, 9/11, Katrina und anderen Verunsicherungen des sozialen und gesellschaftlichen Gefüges in den USA. Er betrachtet die Sichtweise afro-amerikanischer Musiker ein wenig wie ein Außenseiter, nüchtern-analytisch aus ihren eigenen Argumenten heraus erklärend statt richtig stellend, und er vermag damit vielleicht gerade die Missverständnisse deutlich zu machen, die auf allen Seiten zu Lagerbildungen führten, welche die Positionen nach außen viel einheitlicher wirken lassen als sie es tatsächlich sind. Zugleich zeigt er, wie Quellenmaterial, sprich Interviews, systematisch und quellenkritisch genutzt werden können, um aktuelle Diskurse nachzuzeichnen. Viele der von ihm geführten Interviews sind anderswo nachzulesen – allerdings nur in edierter, nicht der original transkribierten Form. Hinzuweisen wäre übrigens beispielsweise auf Broeckings fast zeitlich mit dieser Dissertation erschienenes Buch “Respekt! Die Geschichte der Fire Music” (Verbrecher Verlag, Berlin 2011).

Wolfram Knauer (November 2011)


Norman Granz. The Man Who Used Jazz for Justice
Von Tad Herschorn
Berkeley 2011 (University of California Press)
470 Seiten, 34,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-520-26782-4

Er gehört zu den Nichtmusikern, die Jazzgeschichte geschrieben haben: der Impresario, Plattenfirmengründer und -boss Norman Granz. Nicht nur haben ihm viele Musiker wenigstens einen Teil ihrer Karriere zu verdanken; er hat Europa in den 1950er Jahren mit Jazz überschwemmt, und er hat quasi mitgeholfen einen eigenen Stil zu kreieren: jenen swing-orientierten intim besetzten Mainstream-Jazz der 1950er Jahre, in dem die (von ihm ebenfalls begründeten) Jazz-at-the-Philharmonic-Orgien ruhigere Ergebnisse einfuhren. Die Namen der Stars schmücken seinen Weg: Ella und Oscar (Peterson schrieb auch das Vorwort zum Buch), Prez und Lady Day, Basie und Ellington, Bird und King Cole … und sie alle haben ihren Platz in einer neuen Biographie, vorgelegt von Tad Hershorn, seines Zeichens einer der Mitarbeiter des Institute of Jazz Studies an der Rutgers University und somit an der Quelle jeder Menge Archivmaterials zur Jazzgeschichte.

Hershorn beginnt sein Buch mit der Anekdote, wie Granz und die Musiker seiner JATP-Tournee 1947 in Jackson, Michigan, an einem leeren Restaurant anhielten, dessen Besitzer sich weigerte die Musiker wegen ihrer Hautfarbe zu bedienen. Sie saßen dann drei Stunden hungrig lang am Tresen des Restaurants und begannen ihr Konzert entsprechend eine Stunde zu spät. Granz stellte sicher, das Konzert wie immer mit der amerikanischen Nationalhymne beginnen zu lassen, ging dann ans Mikrophon, erklärte die Verspätung und nannte auch den Namen des Restaurants. Nach dem Konzert rief er seine Anwälte an und ließ den Besitzer verklagen.

Diese Geschichte ist es, die Tad Hershorn erzählen will: die Geschichte eines jüdischen Sohns russischer Immigranten, der sich alles selbst beigebracht hatte: die Geschäftstüchtigkeit genauso wie den Sinn für die schönen Dinge des Lebens. Als er 21 Jahre alt war, erzählt Granz, hörte er Coleman Hawkins’ Aufnahme von “Body and Soul” und war gefangen. Er ging in die Clubs von Los Angeles, reiste nach New York und besuchte Minton’s und die anderen Spielorte in Harlem, in denen er nicht nur authentischen Jazz hörte, sondern auch die Entwicklungen mitbekam, die in jenen Jahren den Bebop entstehen ließen, freundete sich mit Musikern wie Roy Eldridge oder Billie Holiday an und hatte wohl auch eine schwarze Freundin.

Hershorn erzählt, wie Granz 1944 das erste Jazz at the Philharmonic-Konzert organisierte, nachdem er zuvor bereits Jam Sessions veranstaltet hatte. Es war ein Benefizkonzert zur Unterstützung der Verteidigung in einem Jugendgerichtsfall, der damals Los Angeles aufwühlte und für den auch bekannte Schauspieler sich mit ihrem Namen einsetzten. Das Konzert fand im Philharmonic Auditorium statt, und der Name blieb, später abgekürzt zu JATP, Markenzeichen und stilistische Beschreibung in einem. Der Armed Forces Radio Service durfte das Programm mitschneiden und gab ihm im Gegenzug die Masterbänder. Die begeisterten Granz so sehr, dass er sich entschloss, sie auf Platte herauszubringen – die ersten kommerziell veröffentlichen Live-Mitschnitte.

In den folgenden Jahren wurde JATP zum großen Publikumserfolg: ein ganz neues Genre der Jazzpräsentation, nicht zum Tanz, sondern zum Hören und Miterleben von virtuosen instrumentalen Wettstreiten. Das gefiel nicht jedem, aber für die Beteiligten – die Musiker genauso wie für Granz – war es ein gutes Geschäft. Nebenher produzierte er mit Gijon Mili den Kurzfilm “Jammin’ the Blues”, engagierte sich für Bürgerrechte, indem er die NAACP unterstützte, und gründete sein erstes Jazzlabel, Clef Records. Hershon erzählt von den Problemen, die granz mit Veranstaltern hatte, die weder die Ästhetik der JATP-Gruppen verstanden (viel Soli, wenig Arrangements) noch sich mit seinen Integrationsbemühungen abfinden konnten. Als er Ende der 40er Jahre Ella Fitzgerald und Oscar Peterson in seine Tourgruppe aufnahm, erhielt das Ensemble umso mehr an Popularität. 1951 brachte er JATP erstmals nach Europa. Er gründete ein zweites Label, Norgran, und schließlich jenes Label, das einem am ersten in den Sinn kommt, wenn man seinen Namen hört – auch weil es immer noch eine Marke ist: Verve. Granz’s große LP-Projekte in den 50er Jahren waren etwa Alben mit Fred Astaire, Solo- und Small-Group-Sessions mit Art Tatum, seine Charlie-Parker-Einspielungen mit Band, Orchester oder Streichern, die Songbooks von Ella Fitzgerald, Aufnahmen mit Billie Holiday und und und…

Hershorn listet all diese Aktivitäten auf und würzt sie mit Interviewausschnitten mit Musikern, Kollegen, Veranstaltern. So zitiert er beispielsweise aus unveröffentlichten Briefen, in denen Granz sich gegenüber dem New York Times-Kritiker John S. Wilson etwa über das unkollegiale Bühnenverhalten Frank Sinatras beklagt, der auf der Bühne rassistische Witze reiße und Ella und Basie in ihre eh viel zu kurz bemessenen Auftritte hineinregiere. Er beleuchtet Granz’s Verhältnis zu Journalisten, seine geschäftlichen Bandagen, die durchaus hart sein konnten, immer wieder sein vehementes Eintreten für Bürgerrechte, seine Freundschaft zu Pablo Picasso und seine Sammelleidenschaft für moderne Kunst. Eigentlich hatte Granz sich 1960 aus dem Plattengeschäft zurückgezogen. Als er 1973 ein JATP-Konzerte in Santa Monica mitschneiden ließ, interessierte sich die Polygram in Hamburg dafür und bot ihm an ihn zu unterstützen, wenn er ein neues Label gründen würde. Granz überlegte ein wenig, realisierte dann, dass seine legendären Aufnahmen mit Tatum aus den 1950er Jahren schon lange nicht mehr auf dem Markt waren, dass es eine Sünde sei, dass jemand wie Sarah Vaughan seit fünf  Jahren nicht mehr ins Plattenstudio gegangen sei und entschied sich mit Pablo Records ein neues, nicht minder erfolgreiches und stilbildendes Label ins Leben zu rufen.

Bis zum Ende blieb Granz ein eigensinniger, in seinem Geschmack und seinen Qualitätsvorstellungen sehr klarer, politisch aktiver Mensch. Hershorns Buch erzählt diese Geschichte aus der Praxis des Musiklebens faktenreich und dennoch unterhaltsam und spannend zu lesen. Sorgfältig recherchiert ist “Norman Granz. The Man Who Used Jazz for Justice” ein wunderbares Buch, durch das man einmal mehr versteht, dass es manchmal einfach eines starken Menschen bedarf, um Impulse zu setzen, um Träume wahr werden zu lassen, um aus Ideen Erfolge zu machen.

Wolfram Knauer (November 2011)


Let’s Play Jazz. Einführung ins Jazzspiel für Klavier. Spielstücke in verschiedenen Jazz-Stilen und Improvisationsanleitungen
von Andreas Hertel
Wien 2011 (Doblinger)
51 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 979-0-012-200314

Andreas Hertels versteht “Let’s Play Jazz” als “Spielbuch für die Mittelstufe oder auch als Einstieg ins Leadsheet-Spiel und in die Improvisation”. Das Buch enthält 15 einfache Arrangements etwa über den Blues, Swingthemen, Rhythm-Changes, Balladen, über Bebop und ungerade Rhythmen bis Soul-Jazz und Bossa Nova. Jedem Arrangement folgen – auf Deutsch wie Englisch – Erläuterungen, Übungen und Improvisationstipps. Von einzelnen Stücken gibt es zusätzlich “vereinfachte” Fassungen des Arrangements. Hertel gibt Hinweise auf harmonische, melodische und rhythmische Besonderheiten. Eine beiheftende CD gibt zusätzlich einen Klangeindruck des im Heft Enthaltenen.

Wolfram Knauer (November 2011)


Louis Armstrong’s Hot Five and Hot Seven Recordings
von Brian Harker
New York 2011 (Oxford University Press)
186 Seiten, 16,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-538840-4

Brian Harker promovierte 1997 mit einer musikwissenschaftlichen Arbeit über Louis Armstrongs frühe musikalische Entwicklung. Für die neue Reihe des Verlags Oxford University Press mit Monographien zu bedeutenden Aufnahmen oder Aufnahme-Bündeln hat Harker jetzt ein Buch über Louis Armstrongs Hot Five und Hot Seven vorgelegt, das zweifellos als analytisches Standardwerk zur Musik Armstrongs bezeichnet werden darf.

Harker geht es nicht darum, die in der Jazzgeschichtsschreibung fast schon tot getrampelten Komplimente des Trompeters als ersten großen Solisten, als Erfinder und Innovator zu wiederholen, sondern er sieht ihn zugleich als einen Verdichter jazz- und popmusikalischer Entwicklungen seiner Zeit. Die Auswahl der von ihm analysierten Stücke soll unterschiedliche Aspekte in Armstrongs Werk aufzeigen helfen. In “Cornet Chop Suey” etwa stellt er die Virtuosität des Trompeters heraus und ordnet diese zugleich in Armstrongs Lebenswirklichkeit als auf Effekt achtender Bühnenkünstler ein. In “Big Butter and Egg Man” konzentriert er sich auf Armstrongs Art der Melodiebildung, auf motivische Beziehungen der Phrasen, die sein Solo zusammenhalten. Im “Potato Head Blues” zeigt er, wie Armstrong harmonie-basierte Soli angeht und über ihnen lange, zusammenhängende Linien erfindet. Der “S.O.L. Blues” sowie der “Gully Low Blues” zeigen Armstrong als Spezialisten für hohe Töne. Im “Savoy Blues” steht der Blues im Vordergrund der analytischen Betrachtung, den Armstrong mit farbigen Harmonisierungen ausschmückte. Der “West End Blues” schließlich ist die wohl klassischste aller klassischen Aufnahmen Satchmos, dessen Solo ein jeder Trompeter – und nicht nur Trompeter – über Jahrzehnte auswendig spielen konnten. Hier geht es Harker um die strukturelle Einheit, die Armstrong erreicht, obwohl er sich im Verlauf des Stücks einer ganzen Menge sehr unterschiedlicher stilistischer Vokabeln bedient.

Harker gelingt es in seinen Analysen, das Ohr des Lesers immer wieder auf konkrete klangliche Ereignisse zu lenken, innezuhalten und zu fragen, woher bestimmte musikalische Entscheidungen stammen, in welchem – auch kulturellen – Kontext sie zu hören sein könnten. Die musikalische Analyse und die Notenbeispiele, die Harker seinem Buch beifügt, sind dabei auch für den musikwissenschaftlichen Laien verdaubar, da der Autor immer klarmacht, wieso er sich ins Analysieren begibt und wie sich die Ergebnisse ins Gesamtbild seiner Argumentation einpassen.

Armstrong, schreibt Harker, war sich der Entwicklung des Jazz durchaus bewusst, nicht nur der Fähigkeit dieser Musik, Neues einzubeziehen, sondern auch der Notwendigkeit, die Stilistik dem Zeitgeist anzupassen. Wer auch immer die Hot Five- und Hot-Seven-Aufnahmen als “reinen Jazz” verstünde, authentisch und kommerziell unverfälscht, der höre nicht genau hin – und genau auf diese Momente der Entwicklung und der Reaktion Armstrongs auf musikalische Zeitgeschichte und Markt weist Harker in seinem Buch hin. Armstrong selbst seien seine Hot-Five-Aufnahmen bei weitem nicht so wichtig gewesen wie andere, kommerziell populärere Projekte. Selbst in seiner Karriere in den 20er Jahren hätten diese Aufnahmen nur einen kleinen Teil seiner Arbeit ausgemacht. Dennoch bieten sie vielleicht gerade deswegen, weil sie nicht als “Meisterwerke” angelegt waren, den Blick in die Werkstatt des Künstlers, in sein improvisatorisches Denken und sein ästhetisches Selbstverständnis.

Wolfram Knauer (Oktober 2011)


New Atlantis. Musicians Battle for the Survival of New Orleans
von John Swenson
New York 2011 (Oxford University Press)
284 Seiten, 27,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-975452-6

Als Ende August 2005 der Hurricane Katrina die Golfküste der Vereinigten Staaten erreichte, war dies eine der größten und nachhaltigsten Naturkatastrophen des Landes. Aber die Natur war nicht der einzig Schuldige an den Auswirkungen des Sturms. Die behördlichen Fehlleistungen in der Vorbereitung auf das Ereignis, während des Sturms und bei der Aufarbeitung der Schäden hatten mindestens genauso große Auswirkungen, sowohl ganz direkt auf das Leben und die Befindlichkeit der Betroffenen als auch indirekt am Verlust an Vertrauen in den Staat und seine Fähigkeit, den eigenen Bürgern zu helfen.

John Swenson dokumentiert in seinem Buch, wie Kultur und insbesondere die Musik im Zuge des größten Durcheinanders, der größten Unsicherheit, den Einwohnern von New Orleans Halt bot, wie New-Orleans-Musik, die schon immer stark in die Bürgergemeinschaft verankert war, auch jetzt wieder eine konkrete Funktion erhielt, die nämlich, das Überleben der Stadt zu sichern, den Menschen Hoffnung zu geben und die durch Sturm und Verwaltung verletzte Identität der Einwohner wiederherzustellen.

Swensons Ansatz ist zuallererst das Gespräch, die persönliche Betroffenheit. Er unterhält sich mit den Bürgern der Stadt, fragt sie nach ihren Erfahrungen, ihren Sorgen, nach Strategien, die sie nach Katrina entwickelten, um selbst und mit ihren Familien überleben zu können. Vor allem spricht er mit Musikern, Glen David, James und Troy Andrews etwa, Dr. John, Leroy Jones, Irvin Mayfield, Dr. Michael White und anderen. Es geht nur selten um den Sturm an sich, vor allem stattdessen um die durch Sturm und Nachwirkungen entstandenen Schäden materieller genauso wie physischer oder psychischer Natur. Wo die Behörden nicht halfen, musste man sich selbst helfen, das war allen Bürgern der Stadt am Mississippi bald deutlich. Die Arabi Wrecking Krewe etwa war ein Zusammenschluss von Musikern und Freunden, die sich gegenseitig bei Reparaturarbeiten oder dem Wiederaufbau ihrer Häuser halfen.

Die Stadt wieder bewohnbar machen war eine Sache, Spielorte wieder bespielbar machen eine andere. Wobei es bei letzteren erst einmal gar nicht ums Geldverdienen ging, sondern einfach ums Wohlfühlen, ums Erhalten der kulturellen Identität einer Stadt, die von aller Welt als dem Untergang geweiht gesehen wurde.

Swensons Buch ist keine Sozialstudie, sondern der Versuch, die Stimmung zwischen Enttäuschung und Zuversicht, zwischen Verlassensein und Selbsthilfe einzufangen und dabei die Rolle der Musik besonders zu betrachten. Er schildert die Frustration, die Unterbrechung des armen aber glücklichen Alltags, die Ängste, die Realitätschecks, denen ein jeder sich unterziehen musste, um zu entscheiden, ob die untergegangene Stadt es Wert sei, für sie zu kämpfen. Vor allem zeichnet er die Kreativität nach, die in dieser Stadt selbst in Zeiten größter Not steckt. Er benennt auch Kriminalität und die Gewalt, die die Straßen von New Orleans in den Post-Katrina-Jahren prägten und der Musiker wie die Andrews-Familie ganz bewusst Positives entgegensetzen wollten.

Neben der Schilderung der Einbindung von Musik ins soziale Gewissen der zu reparierenden Stadt ist vielleicht Swensons Vorstellung einer “post-Katrina music” die faszinierendste Erkenntnis seines Buchs. Hier spürt man gleichsam, wie etwas zuvorderst Nicht-Musikalisches zu musikalischem Neuland wird, das aber – man ist schließlich in New Orleans –an jeder Stelle die Verbindung zur Tradition behält. Swenson’s case-in-point sind etwa Trombone Shorty oder Leroy Jones. “New Atlantis” ist die Geschichte einer kurzzeitig unterbrochenen Beziehung zwischen Musikern und ihrer Stadt, die sie sich zurückeroberten, indem sie musikalisch in sie investierten. Und als der Autor gerade bei der Hoffnung auf eine bessere Zukunft angekommen ist, beendet Swenson sein Buch mit der Deepwater-Hiorizon-Tragödie vom April 2010, die zeigt, das Kämpfen allein nicht weiterhilft: Man muss weiter-kämpfen!

Wolfram Knauer (Oktober 2011)


Begegnungen. Wie der Jazz unsere Herzen gewann
herausgegeben von Klaus Neumeister & Lutz Eikelmann
Norderstedt 2011 (Sonrrie)
414 Seiten, 28,50 Euro
ISBN: 978-3-936968-19-4

Jazz ist immer noch eine Musik der Passion – sowohl die Musiker wie auch die Fans haben ihre eigene, oft sehr persönliche Beziehung zu dieser Musik aufgebaut. Von diesen Beziehungen handelt das Buch, das Klaus Neumeister und Lutz Eikelmann zusammengestellt haben und in dem Musiker genauso wie Jazzfans zu Worte kommen. Die Frage “Wie kamst Du zum Jazz” ist dabei für viele der Ausgangspunkt, daneben aber wird auch von einschneidenden Begegnungen mit großen Musikern erzählt, von besonderen Konzerterlebnissen, von einflussreichen Plattenaufnahmen.

Neben gestandenen Jazzmusikern wie Reimer von Essen, Ladi Geisler, Abbi Hübner, Peter ‘Banjo’ Meier, Hawe Schneider, Gerhard Vohwinkel oder Thorsten Zwingenberger finden sich so der Entertainer Götz Alsmann, der Filmemacher Marc Boettcher, der Betreiber des Berliner Yorkschlösschens, Olaf Dähmlow oder der Manager Hans-Olaf Henkel; weitere Erinnerungen stammen von Fans dieser Musik, von fleißigen Konzertgängern, von Sammlern – 66 Autoren insgesamt, die das dicke Buch zu einer Art Erinnerungsalbum des Jazz in Deutschland machen. Nun ja, man muss diesen Satz vielleicht ein wenig einschränken: Die meisten der Autoren sind vor allem mit dem Jazz zwischen New Orleans und Swing vertraut und diesem verbunden, etliche gehören zur Hamburger Szene, die lange Zeit bis heute als Hochburg des traditionellen Jazz in Deutschland gilt. Abbi Hübner beschreibt die Verbundenheit der Hamburger Musiker mit der Musik aus jener anderen Hafenstadt, New Orleans, sehr schön in verschiedenen seiner Kapitel in diesem Buch. Und verschiedene recht ausführliche Kapitel über Ken Colyer machen den Einfluss der britischen Trad-Scene auf viele der Bands im Norden Deutschlands verständlich.

Es geht hier also nicht um den modernen Jazz, der natürlich genauso die Herzen vieler Jazzfreunde erobert hat. Diese stilistische Beschränkung aber macht durchaus Sinn, handelt es sich bei dieser Sammlung von Erinnerungen doch auch um die Beschreibung einer recht klar umgrenzten “Szene”, die sich durch die vielen kreuzenden Wege und Erfahrungen, durch Erinnerungen daran, was einen denn persönlich zuerst am Jazz faszinierte, noch besser fassen und definieren lässt. Doch ist das Buch weit entfernt davon, eine nüchterne und systematische Szenebeschreibung zu sein. Es liefert Material zum “Gefühl” einer Szene, es versucht die Atmosphäre zu umreißen, die so viele junge Menschen faszinierte. Und es lässt ein wenig Wehmut aufkommen, dass diese Faszination denn doch oft in der Vergangenheit liegt.

Auch diesem Thema aber widmen sich die Autoren zum Schluss des Buchs, wenn Reimer von Essen etwa darum wirbt, junge Menschen sowohl fürs Ausüben als auch für den Genuss des alten Jazz zu begeistern, wenn Lutz Eikelmann auf junge Musiker und Bandleader hinweist, die in den 50er, 60er und 70er Jahren geboren wurden, und wenn Klaus Neumeister wohlwollend kritisch auf den traditionellen Jazz zwischen Amateurstatus und Professionalismus schaut.

Ein sehr persönliches, in den unterschiedlichen Ansätzen sehr abwechslungsreiches und allein schon deswegen lesenswertes Buch.

PS: Der Vollständigkeit halber sollte erwähnt werden, dass auch der Autor dieser Zeilen mit einem kurzen Bericht über seinen ersten Besuch in New York und seine Jazzeindrücke des Big Apple im Buch vertreten ist.

Wolfram Knauer (Oktober 2011)


Traditional New Orleans Jazz. Conversations With the Men Who Make the Music
von Thomas W. Jacobsen
Baton Rouge 2011 (Louisiana State University Press)
244 Seiten, 9,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8071-3779-6

New Orleans lebte immer davon, dass Musik in dieser Stadt mehr war als nur eine schöne Nebensächlichkeit. Bis heute hat Musik in New Orleans klare Funktionen innerhalb der Bürgergemeinschaft, bis heute ist Musik für die Bürger der Stadt identitätsstiftend. Und bis heute gibt es in New Orleans keinen Mangel (a) an Publikum und (b) an Musikernachwuchs, wobei die meisten der jungen Musiker sehr bewusst Bezug auf die lange Tradition des Jazz in ihrer Stadt nehmen.

Thomas W. Jacobsen stellt in seinem Buch neunzehn Musiker vor, die für die traditionelle Jazzszene in New Orleans um die Jahrtausendwende stehen. Die meisten seiner Interviews wurden ursprünglich in der Zeitschrift “The Mississippi Rag” veröffentlicht; Jacobsen hat sie für das Buch um knappe Vorworte ergänzt, in denen er die Aktivitäten der betreffenden Musiker seit der Veröffentlichung seiner Interviews referiert.

Durchwegs alle der Gespräche sind überaus lesenswert, egal ob Jacobsen sich mit Veteranen unterhält wie Lionel Ferbos oder Jack Maheu oder mit den jungen Wilden des Stils, Irvin Mayfield etwa, Evan Christopher oder Duke Heitker. Höhepunkte sind etwa das lebendige Gespräch mit Mayfield, der zum Zeitpunkt des Interviews gerade mal 18 Jahre alt war, allerdings bereits recht klare Vorstellungen davon hat, welches professionelle Ethos er als Jazzmusiker verfolgen muss, oder die Interviews mit Lucien Barbarin, Leroy Jones, Herlin Riley, Gregg Stafford, Joe Torregano und Dr. Michael White, deren musikalische Lebensgeschichten sich in ihrer Jugend alle in der Fairview Baptist Church Christian Band kreuzten, in der Danny Barker den Jugendlichen Lust auf die musikalischen Traditionen ihrer Heimatstadt machte und sie ermunterte, innerhalb dieser Traditionen ihren eigenen Weg zu finden.

Was am meisten fasziniert bei der Lektüre ist die Ernsthaftigkeit, mit der die Protagonisten ihre künstlerische Ästhetik verfolgen, eine Ästhetik, die manchmal dem Erfolg des  Kommerzes untergeordnet werden muss (der in den meisten Fällen den Namen “Dukes of Dixieland” trägt), aber immer im Hintergrund des künstlerischen Anspruchs mitschwingt. Die Identifizierung dieser künstlerischen Ästhetik des New Orleans Jazz um die Jahrtausendwende ist das Verdienst der so einfühlsam geführten Gespräche, die, im Buch zusammengefasst, einen ganzen Stil umreißen, von der Spielhaltung über technische Details bis hin zur Situation der Szene in den 1990er, frühem 2000er Jahren. Katrina spielt in den Vor- und Nachworte Jacobsens eine Rolle, in denen er nicht versäumt zu erwähnen, wie der Hurrikane im Jahr 2005 die einzelnen portraitierten Musiker betroffen hat. Und neben den amerikanischen Vertretern des Stils kommen mit Clive Wilson, Brian Ogilvie und Trevor Richards auch Nicht-Amerikaner zu Worte, die sich zumindest für eine Zeitlang in New Orleans niederließen. Trevor Richards Zusammenfassung des Einflusses von Schlagzeuggrößen wie Zutty Singleton, Cozy Cole, Big Sid Catlett oder Chauncey Morehouse ist dabei besonders lesenswert.

Eine kurzweilige, überaus lehrreiche Lektüre über eine lokal-regionale Szene, die bis heute nichts an ihrer Lebendigkeit und ihrer Bedeutung für die Jazzentwicklung verloren hat.

Wolfram Knauer (September 2011)


Music In My Soul
von Noah Howard
Köln 2011 (buddy’s knife)
148 Seiten, 18 Euro
ISBN: 978-3-00-034401-5

Der Saxophonist Noah Howard verstarb im September 2010 im Alter von 67 Jahren in Südfrankreich. Wenige Tage vor seinem Tod schrieb er die letzten Worte seines autobiographischen Manuskripts, das Renata Da Rin jetzt in ihrer Buchreihe buddy’s knife herausgebracht hat.

Howard beginnt seine Erinnerungen mit den kulturellen Einflüssen seiner Heimatstadt New Orleans und der frühen Faszination, die er für Kultur und Musik aus aller Welt empfunden habe. Er war ein wissensdurstiges Kind und wollte die Welt entdecken, und seine Eltern, die nie weit über die Stadtgrenzen hinausgekommen waren, unterstützten seine Neugier. In New Orleans hörte er natürlich viel Musik, erinnert sich an R&B-Bands wie die von Fats Domino (die sein Cousin managte) und an Louis Armstrongs Besuch, als er zum King of Zulus gekürt wurde. Howard ging aber auch zu allen großen Konzerten der Stadt und hörte Live-Übertragungen im Radio. Und er begann Trompete zu spielen.

In seiner Jugend habe er eigentlich keine Diskriminierung gespürt, schreibt Howard, als aber in den späten 1950er Jahren die Bürgerrechtsbewegung Fahrt aufnahm, sorgten sich seine Eltern um ihn und ermutigten ihn, zum Militär zu gehen. In Kalifornien nahm aber die Trompete wieder auf, entschied sich aber irgendwann, sie gegen ein Altsaxophon einzutauschen. Er hörte John Coltrane und Ornette Coleman und erhielt eines Tages das Angebot, mit Rashied Ali zu spielen. Howard zog nach New York und beschreibt anschaulich die lebendige kulturelle und politische Szene dieser Stadt in den 1960er Jahren. Er erzählt von Konzerten mit Sun Ra, von seiner Freundschaft mit Charles Mingus und Albert Ayler und von seiner Zusammenarbeit mit Frank Wright.

1969 reiste Howard zum ersten Mal nach Europa, spielte auf verschiedenen Festivals und nahm Platten für das französische BYG-Label auf. Er wurde Teil der Expatriate-Szene zeitgenössischer schwarzer Musiker, die sich in jenen Jahren in Paris niederließen, und er erzählt, wie er im täglichen Engagement im Club Le Chat Qui Pêche sein eigenes Repertoire entwickeln und seinen eigenen Ton finden konnte. Erroll Garner sei einmal in den Club gekommen, habe zugehört und ihn ermutigt: Bleib dran, spiel die Phrasen und Stücke immer wieder, irgendwann werden die’s verstehen! Howard erzählt von Reisen und Konzerten in den 1970er Jahren und von der Reaktion des Publikums in verschiedenen europäischen Ländern. 1982 zog es ihn nach Kenia, wo er seine zukünftige Frau kennenlernte. Mit ihr zog er schließlich nach Antwerpen. Seite Ende der 1990er Jahre spielte er wieder öfter in den Vereinigten Staaten, nach der Jahrhundertwende reiste er auch in den Nahen Osten und nach Indien. Bei all seinen reisen besuchte er auch seine Heimatstadt New Orleans, und die Wüt über die Untätigkeit der Behörden bei der Rekonstruktion der Stadt nach Hurricane Katrina ist in seinen Zeilen greifbar.

Das Schlusskapitel ist überschrieben “Musikalische Reflektionen” und beschäftigt sich mit der Ästhetik des Jazz, mit Komposition und Improvisation, mit seinen Einflüssen und mit von ihm als herausragend gesehenen Platten. Es schließt mit den Worten “The End … for Now”. Nicht einmal zwei Wochen später starb Noah Howard, völlig unerwartet, an einer Hirnblutung. Seine Witwe ergänzt ihre Erfahrungen dieser letzten Tage in ihrem bewegenden Nachwort.

Noah Howards Autobiographie ist seine Lebensgeschichte, aber sie erklärt auch manches über die afro-amerikanische “Free-Jazz-Szene”, die Ende der 1960er Jahre in Europa Fuß fasste. Die Herausgeberin Renata Da Rin hat Howards Worte um Erinnerungen von Kollegen und Freunden des Saxophonisten ergänzt. Eine Diskographie schließt das Buch ab, das außerdem etliche seltene und private Fotos enthält. Noah Howard gelingt es in seiner Autobiographie einen sehr persönlichen Einblick in die Entwicklung und die ästhetischen Entscheidungen eines Musikers zu geben, der selbst mitmischte bei der Ausbildung experimenteller Spielformen im freien Jazz und der bis zuletzt neugierig und musikalisch offen blieb.

Wolfram Knauer (September 2011)


The Album Cover Art of Studio One Records
herausgegeben von Steve Barrow & Stuart Baker

London 2011 (Soul Jazz Books)
197 Seiten, 30 Britische Pfund
ISBN: 978-0-9554-817-7-2

Das von von Clement Dodd gegründete Label Studio One war eines der wichtigsten Plattenlabels für jamaikanische Musik der Nachkriegszeit. Dodd war in den 1950er Jahren zu den wichtigsten Musikproduzenten Jamaikas geworden. Nach der Unabhängigkeit des Landes gründete er das Label Studio One Records. Das vorliegende Buch erzählt in einem lesenswerten Aufsatz die Geschichte des Labels zwischen Jazz, R&B und Reggae, um dann vor allem – es handelt sich um ein großformatiges Fotobuch – die Plattencover abzubilden, die zum Teil exotisch wirken, zum Teil nostalgisch und zum Teil hochmodern.

Ein wenig scheint in den Fotos und grafischen Zusammenstellungen, in der Farbgebung und natürlich in der Mode der abgebildeten Künstler ein Selbstverständnis durch, das irgendwo zwischen Selbstbewusstsein und Hipness liegt. Einige der Alben wirken fast schon militant (das Silkscreen-Cover des “Best of Bob Marley”-Albums etwa), andere strahlen die Atmosphäre von Partymusik aus. Tanzende Schattenmenschen sind auf einem Cover für “Ska-au Go-Go” zu sehen, die Schatten von Palmen vor einem Vollmond auf “Carib Soul”. Einige der Coverfotos wirken wie Passbilder (Freddie McKay), andere wie gestellte Fashion-Shots (The Cables). Gestellte Aufnahmen am Seerosenteich in Multicolor (Winston Francis) stehen neben körnigen Schwarzweißfotos von Konzerten (The Gladiators), ein freier Männeroberkörper (Devon Russell) neben einem Minirock (Jerry Jones). Die Dub-Alben des Labels haben ihre ganz eigene, eher grafisch ausgerichtete Ästhetik mit Cartoons und kaligraphischen Spielereien. Die Calypso-Alben strahlen auch visuell gute Laune aus, die Gospel-Alben dagegen Ruhe und manchmal eine seltsame Heiligkeit (Sri Chinmoy). Die thematischen Showcase-Alben schließlich mischen die Elemente, bringen die Atmosphäre von Tanzclubs in Kingston rüber (“Partytime in Jamaica”) oder an die Simpsons erinnernde Karikaturen, allerdings aus dem Jahr 1963 (“Dance Hall ’63”).

Natürlich kriegt man beim Durchblättern Lust auf die Musik (eine Auswahl derer das Soul Jazz Label parallel veröffentlicht hat), und noch mehr sehnt man sich nach Secondhand-Plattenläden, in denen solche und ähnliche LPs, etwas abgegriffen in den Regalen stehen, in denen man wühlt und aus den bunten Plattenhüllen die Lust auf das Entdecken neuer Musik gewinnt.

Ach, was ist uns verloren gegangen, seufzt man, an die LP-Ära zurückdenkend und berührt dann mit der linken Hand den Bildschirm des drahtlos mit der Stereoanlage verbundenen iPhones, um im Shuffle-Modus zum nächsten Stück zu gelangen, in eine andere Vergangenheit oder in eine andere Gegenwart.

Wolfram Knauer (September 2011)


Jazz i Danmark, 1950-2010
herausgegeben von Olav Harsløf & Finn Slumtrup
Kopenhagen 2011 (Politikens Forlag)
624 Seiten, 450 Dänische Kronen
ISBN: 978-87-567-9565-4

Der dänische Kritiker Erik Wiedemann legte 1982 seine ausführliche Studie über die Frühzeit des Jazz in Dänemark vor, die etwa Ende der 1940er Jahre schloss. Wiedemanns Buch war aus seiner musikwissenschaftlichen Dissertation heraus entstanden und wandte sich damit durchaus auch an ein Spezialpublikum. Olav Harsløfs und Finn Slumptrups imposantes Opus über 60 Jahre dänischer Musikgeschichte von 1950 bis 2010 will den Bogen von Wiedemanns früherer Arbeit bis ins Jetzt schlagen.

Das Buch ist zugleich Lexikon und Geschichtsschreibung, betrachtet die Entwicklung des Jazz in Dänemark aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln. Biographische Kapitel, Notizen über wichtige Aufnahmen, Portraits von Clubs oder Festivals, ein Blick in die Studios oder hinter die Kulissen der Plattenfirmen, der dänische Rundfunk mit Programm und Bigband, die vielen Amerikaner, die sich in Kopenhagen niederließen und ihren Einfluss hinterließen, Traditionalisten und Avantgardisten, alter Heroen und junge Wilde – ihnen allen wird in diesem Buch Tribut gezollt; sie alle werden in die dänische Jazzgeschichte(n) einsortiert. Das wirkt manchmal etwas unübersichtlich und macht das Lesen durchaus schon mal mühselig, aber dann ist dieses sechshundertseitige Werk vielleicht auch nicht wirklich ein Buch zum Schnell-Mal-Durchlesen als vielmehr ein Buch zum Nachschlagen. Und so tun die Autoren gut daran, ihre Kapitel kurz zu halten und in vielen Unterkapiteln zu sortieren, die es dem Leser erlauben, sich Informationen, Geschichten, Geschichte so herauszuklauben, wie er es gerade möchte. Papa Bue? John Tchicai? Pierre Dørge? Niels-Henning Ørsted Pedersen? Svend Asmussen? Wer auch immer auf der dänischen Jazzszene der letzten 60 Jahre seine Spuren hinterließ, wird irgendwo und irgendwie erwähnt. Es findet sich unglaublich viel an Detailinformationen in den Seiten, auch zu Facetten, an die man zuerst vielleicht gar nicht denkt: die Behandlung des Jazz in der tagesaktuellen Presse etwa, Jazzzeitschriften, die Jazzpädagogik oder ganz allgemein die Jazzwirtschaft des Landes. Beim Querlesen fehlt wenn überhaupt vielleicht eine Darstellung der öffentlichen Förderung von jazz in Dänemark – eine für Dänen, für die dieses Buch vor allem verfasst wurde, vielleicht selbstverständliche Information, die aber vor allem für Nicht-Dänen interessant wäre. Die allerdings, das sei gleich zugegeben, werden wahrscheinlich eh nicht genügend dänische Sprachkenntnisse haben.

Die einzelnen Kapitel wurden von verschiedenen Autoren verfasst – und diese Unterschiedlichkeit merkt man sowohl im Stil als auch im Ansatz an ihr Thema. Tore Mortensen und Ole Izard Hoyer nehmen sich die 1950er Jahre vor, Kjelt Frandsen die 1960er, Jens Jørn Gjedsted die 1970er, Christian Munch-Hansen die 1980er und Ole Mathiessen die 1990er Jahre. Für die Jahre nach der Jahrtausendwende ist der historische Abstand zu gering, und so entschieden die Herausgeber hier zu einer Art Kolloquium aller mitwirkenden Autoren. Am Schluss ergänzt Erik Raben das ganze mit einer Diskographie wichtiger dänischer Aufnahmen. Und wie es sich für ein solches Übersichtswerk gehört, erschließt ein umfangreicher Namensindex das Buch für all diejenigen, die in den über 600 Seiten nach detaillierter Information suchen.

Eine wichtige Ergänzung zur Dokumentation der europäischen Geschichte des Jazz.

Eine ausführliche Diskographie zum dänischen Jazz verfasst vom namhaften dänischen Diskographen Erik Raben findet sich als Ergänzung zum Buch auf der Website www.jazzdiscography.dk.

Wolfram Knauer (September 2011)


Zwischen den Strömungen. Mein Leben mit dem Jazz
von Karlheinz Drechsel (herausgegeben von Ulf Drechsel)
Rudolstadt 2011 (Greifenverlag)
352 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-86939-005-5

Geschichte entsteht aus Erinnerungen, und so bedarf jede Art von Geschichtsschreibung der Sammlung von Erinnerungen. Wie wir aus der leidvollen Vergangenheit unseres Landes wissen, wird die Sammlung von offenen Erinnerungen aber oft genug durch politische Bedingungen begrenzt, und es dauert eine Weile, bis das, was anderswo den gesellschaftlichen und kulturellen Prozess begleitet, auch publizistisch nachgeholt wird. Es ist ja nicht so, dass die Erinnerungen nicht da wären oder dass die Erinnerungen innerhalb der jeweiligen Gruppen nicht ausgetauscht würden. Nur sind sie für Außenstehende noch Jahre post-faktum scheinbar reines Insiderwissen und werden, wenn sie endlich gesammelt und veröffentlicht werden, mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Der Jazz in der DDR ist so ein Geheimthema, das bislang vor allem entweder total nüchtern, Ereignisse aufzählend, oder aber völlig emotional, die Wut und die Hoffnungen benennend. aufgearbeitet wurde, selten aber autobiographisch offen, mit dem Wissen oder wenigstens dem Ahnen um die Eingebundenheit des eigenen Seins ins System, in die alles bestimmende Gesellschaft.

Karlheinz Drechsel versucht in seinem Buch, das er im Dialog mit seinem Sohn, dem Jazzredakteur Ulf Drechsel verfasst hat, genau das: eine Bestandsaufnahme seines Lebens vor dem Hintergrund zweier totalitärer Regime, die ihn nicht davon abhielten, seine ganze Energie der von ihm so geliebten Musik zu widmen, die in beiden Regimen eher schlecht gelitten war. Er berichtet, wie er im Dresden der 1930er Jahre groß wurde, mit Freunden Swing-Platten hörte und Schlagzeug spielte. Er erzählt von den unterschiedlichen politischen Ansichten in der eigenen Familie, die ihm zumindest früh bewusst machten, dass es zu jeder Meinung auch eine Gegenmeinung gab. Er erzählt von den Bombenangriffen auf Dresden, vom Sich-Neu-Finden im von den Sowjets besetzen Gebiet, aber vor allem davon, wie ihn bei alledem der Jazz begleitet hatte. Selbst in seiner Abiturprüfung hielt er vor versammelter Klasse einen Vortrag zum Thema Jazz.

Er erzählt von ersten Live-Jazz-Erlebnissen, 1943 mit Ernst van’t Hoff, 1948 mit Bully Buhlan und dem RBT-Orchester. Vor allem erzählt er davon, wie er selbst die kulturpolitischen Beschränkungen der DDR-Führung wahrnahm, und wie er auch wegen seines Jazzinteresses ständig irgendwo zwischen den Welten pendelte, bereits als er beim Ostberliner Deutschlandsender (der damals noch im Haus des Rundfunks in Westberlin untergebracht war) ein Volontariat ableistete und abends in der Westberliner Badewanne Jazz hörte. Für den Sender produzierte er Anfang 1952 seine ersten eigenen Sendungen, zehnminütige Features über “Jazz des Volkes” – in der DDR wurde zu jener Zeit sehr genau darauf geachtet, ob die Musik ideologisch vertretbar war. Beim Sender wurde er kurz darauf gekündigt – wie er später aus seiner Stasi-Akte erfuhr, auch wegen seiner “Westkontakte”.

Zurück in Dresden bekleidete Drechsel eine Weile die Stelle eines Redakteurs für den Stadtfunk in Radebeul, der ähnlich wie in der Sowjetunion öffentliche Straßenbeschallung auf wichtigen Straßen, Plätzen, Haltestellen etc. vornahm. Er hielt Vorträge beim Dresdner Kulturbund, schrieb Kritiken, war als Nachrichtensprecher aktiv – wobei er mindestens zwei seiner Rundfunkjobs damals durch eigene Unachtsamkeit wieder loswurde, etwa durch einen Aprilscherz, den die Rundfunkleitung überhaupt nicht lustig fand.

1956 gehörte Drechsel zu den Mitbegründern der IG Jazz bei der FDJ in Dresden. Er spricht über den Streit mit Reginald Rudorf und über die hinter diesem Streit steckenden unterschiedlichen Ansichten über musikalische und gesellschaftliche Aspekte des Jazz. Hier wie auch anderswo gibt Drechsel freimütigen (und oft durchaus auch selbstkritischen) Einblick in die Zwänge und die Möglichkeiten, die es im “real existierenden Sozialismus”gab, erstens seiner Liebe, dem Jazz zu fröhnen, und zweitens irgendwo zwischen Radio, Jazz und ewigen Auseinandersetzungen mit der restriktiven politischen Führung sein eigenes Auskommen zu finden.

1958 zog Drechsel nach Ostberlin, wo er eine Anstellung als Regieassistent beim Rundfunk erhielt. Er spricht über Mauerbau und die erste Tournee des Albert Mangelsdorff-Quintetts durch die DDR (1964), über seine Kontakte zu Horst Lippmann, dessen American Folk Blues Festival er im selben Jahr in den Osten brachte, und über eine geplante Vortragsreise nach Westdeutschland, die von der einladenden Deutschen Jazz Föderation dann aber abgesagt wurde. Er beleuchtet, mit welchen Problemen man zu tun hatte, wenn man im Osten neue Schallplatten kommen wollte, spricht ausführlich über seine Rundfunkerfahrungen, die sich ja über Jahrzehnte erstreckt, über die Präsentation und Unterstützung ostdeutscher Festivals durch den Rundfunks der DDR, über eigene Veranstaltungen und über die Struktur der Kulturveranstalter, die in der DDR Jazz präsentierten. Und natürlich berichtet er über das Dixieland-Festival in Dresden, das er von Anfang an begleitete.

Ein eigenes Kapitel erhält der Besuch Louis Armstrongs, der 1965 eine Tournee durch die DDR machte, und Drechsels Erinnerungen bringen Satchmo vor allem als Privatmann näher, dem auf dieser Reise zum ersten Mal die Situation der nach Westen völlig abgeschlossenen DDR wirklich bewusst wurde und der Parallelen zur Geschichte des Rassismus in seinem eigenen Land sah. Drechsel wurde ein beliebter Moderator, sagte etwa das Konzert von Ella Fitzgerald im Friedrichsstadtpalast an, tourte mit britischen Trad Bands durchs Land, trat aber auch als Moderator von Veranstaltungen in Erscheinung, die wenig mit Jazz zu tun hatten, etwa beim Schlagerfestival der Ostseestaaten, und sogar bei einer Europameisterschaft im Gewichtheben und einem Hunderennen.

Drechsel war immer ein Mann des ganzen Jazz. Als Moderator war er bei Dixielandfreunden genauso angesehen wie bei Anhängern der freieren Musik. In einem eigenen Kapitel arbeitet er die Besonderheit des DDR-Jazz der 1970er Jahre heraus und diskutiert die musikalische Radikalisierung und Abkapselung auf beiden Seiten des musikalischen Spektrums, eine stilistische Einseitigkeit, die nie seine Sache gewesen sei. Er spricht von Uli Gumpert, Ernst-Ludwig Petrowsky, Günther Fischer, Hannes Zerbe, Manfred Schulze, Friwi Sternberg und anderen. Die Wolf-Biermann-Ausbürgerung ist Thema und ihre Auswirkung auf die Jazzszene, die damals als nonverbale Kunst weniger misstrauisch beäugt wurde als die Rockszene. 1970 fuhr Drechsel Oliver Nelson in einer Art Geheimaktion nach Leipzig, um ihm das Bach-Museum zu zeigen und ihn außerdem auf der Orgel der Thomaskirche spielen zu lassen. Drechsel selbst durfte immer mal wieder zu besonderen Veranstaltungen, etwa zu den Jazztagen, nach Westberlin. Erst 1983 gelangte er als Begleiter der Dixieland All Stars zum ersten Mal in die USA, das Geburtsland des Jazz – fünf Tage Sacramento und fünf Tage New York.

1989 fiel die Mauer, und Drechsel fand sich nicht nur im bald wiedervereinigten Deutschland, sondern auch in einem Land wieder, in dem er unter Journalisten plötzlich als Konkurrenz empfunden wurde.

Er erzählt von seiner schriftstellerischen Arbeit, den Büchern “Faszination Jazz” und “Jazz objektiv” und seiner Diplomarbeit, mit der er 1975 ein Fernstudium abschloss und die den Titel trug: “Studie über die kulturpolitische und künstlerische Spezifik des Jazz – seine historische Entstehung und Entwicklung – seine internationale Verbreitung und sein Stellenwert im Ensemble der Künste der DDR”. Er berichtet von der Sektion Jazz im Komitee für Unterhaltungskunst der DDR und von der Abhängigkeit der Künstler von der Politik, aber auch von den Verbesserung der Lebensbedingungen von Musikern in den letztem acht bis zehn Jahren der DDR.

Und er erzählt davon, wie er nach der Wende Akteneinsicht bei der Gauck-Behörde nahm. Anlass seien Gerüchte gewesen, er selbst habe sei als Stasi-Spitzel aktiv gewesen. Er sei erschüttert gewesen, sagt er, als ihm der Behördenmitarbeiter gleich zahlreiche Leitz-Ordner zur Einsicht vorlegte. Post- und Telefonüberwachung, Berichte von IM’s aus allen möglichen Arbeitszusammenhängen. In diesem Kapitel liest man vor allem von schweren Enttäuschungen darüber, dass selbst langjährige vermeintliche Freunde Berichte an die Stasi lieferten und ihn bei anderen Jazzfreunden diskreditierten. Wie nebenbei erinnert sich Sohn Ulf daran, dass, wenn Gäste aus Westberlin oder aus dem Bundesgebiet bei ihnen zu Hause waren, “eigentlich immer ein Kissen auf das Telefon gelegt” wurde.

Karlheinz Drechsels Lebenserinnerungen sind ein ungemein persönliches Buch geworden, das weit mehr erzählt als seine Jazzgeschichte. Es ist die Geschichte eines Mannes mit einer Passion, die er gegen alle Widrigkeiten verfolgte und der er bis heute treu blieb. Ulf Drechsel hat das Buch im Interviewstil belassen, mal chronologisch, mal thematisch geordnet. Es liest sich leicht, wie erzählt, und hinterlässt zugleich tiefe Eindrücke. Bezogen auf den Jazz, sagt Drechsel zum Schluss, würde er heute nichts anders machen. Sein schwerster Fehler sei gewesen, “zu glauben, in einer Parteidiktatur als Genosse einen Einzelkampf für den Jazz bestehen zu können”. Es relativiert sich einiges bei der Lektüre dieses Buchs, das von der Bedeutung des Jazz handelt, von der Kraft der Musik, von menschlicher Leidenschaft. Karlheinz Drechsel hat mit seinen Erinnerungen an sein Jazzleben einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der deutschen Jazzgeschichte geliefert.

Wolfram Knauer (August 2011)

Nachtrag, Dezember 2011: Nachdem der Greifenverlag kurz nach der Veröffentlichung des Buchs Insolvenz anmelden musste, war dieses Buch eine Weile nicht mehr zu beziehen. Nun hat die Jazzwerkstatt eine Neuauflage vorgelegt, der aus Bonus eine CD mit historischen Aufnahmen der “DDR All Stars” aus dem Deutschen Hygienemuseum Dresden beiheftet. Neben Günter Hörig und seinen Dresdner Tanzsinfonikern ist etwa das Joachim Kühn Trio mit Ernst-Ludwig Petrowsky zu hören sowie Bands um Friedhelm Schönfeld, Joachim Graswurm, Reinhard Walter und andere.


Woodstock am Karpfenteich. Die Jazzwerkstatt Peitz
Herausgegeben von Ulli Blobel
Berlin 2011 (jazzwerkstatt)
207 Seiten, 1 beigeheftete CD, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-00-034405-3

Der Jazz in der DDR war für viele ein spannendes Thema: Musik der Freiheit – in einem totalitären System schien so etwas viel besser, aber auch viel romantischer greifbar als in den westlichen Demokratien, in dem der Jazz seine politische Funktion immer mehr zu verlieren drohte. Jazz aber war auch in Ostdeutschland eine überaus persönliche Angelegenheit, begleitete diverse sehr persönliche Wege der politischen, kulturellen und ästhetischen Bewusstwerdung, und von ihnen handelt dieses Buch. Nach einigen Gesamtdarstellungen zur Geschichte des Jazz in der DDR ist es dabei wohl auch an der Zeit, dass der Blick auf einzelne Personen bzw. wichtige, weil einflussreiche Events gerichtet wird. Die Jazzwerkstatt in Peitz in der Niederlausitz hatte in der Szene des zeitgenössischen freien Jazz bald einen Namen, der weit über die Größe der kleinen, noch heute weniger als 5.000 Einwohner zählenden Stadt hinausreichte: als Treffpunkt der frei improvisierenden Szene Europas und darüber hinaus, als im so abgeschlossenen Kulturleben der DDR eigentlich nicht vorstellbares Exotikum, das scheinbar gegen alle Regeln und Gesetze des real existierenden Sozialismus und seiner glänzend funktionierenden Bürokratie verstieß und dennoch elf Jahre lang ein Publikum aus dem ganzen Land anzog, für die jene Tage in Peitz identitätsstiftend waren, denen Peitz kreative Anregung genauso wie Trost bot, eine Art individualistisches Antidot zum sozialistischen Alltag.

Von dieser Stimmung berichtet das vorliegende Buch, herausgegeben von Ulli Blobel, zusammen mit Peter ‘Jimi’ Metag dem Gründer der Jazzwerkstatt Peitz, der dabei in Ansätzen auch seine eigene Geschichte vor Peitz und seither erzählt. Auch alle anderen Autoren nähern sich dem Thema von der persönlichen Warte: Für sie alle war das Abenteuer der Reise in die Niederlausitz offenbar genauso prägend wie die musikalischen Erlebnisse, die sie an den Nachmittagen und Abenden in Peitz erfuhren. Bert Noglik etwa bekennt, dass die Begegnungen in Peitz ihm dabei halfen, für sich “einen Beruf zu definieren, der damals in der DDR nicht vorgesehen war: Jazzpublizist”. Günter Baby Sommer berichtet von musikalischen Begegnungen, die nachhaltig blieben, insbesondere seinem Trio mit dem amerikanischen Trompeter Leo Smith und dem Wuppertaler Kontrabassisten Peter Kowald. Christoph Dieckmann erzählt, wie schwierig es war, im Osten an Platten zu kommen und welchen Wert Jazzplatten unter den Fans dort besaßen. Ulrich Steinmetzger und Wolf Kampmann erzählen von ihren Reisen nach Peitz, von den prägenden Erfahrungen, der Bewusstseinsveränderung über West und Ost, die mit dem Hören der freien Musik einherging. René Theska erzählt, wie Peitz ihn und weitere Jazzfreunde aus Ilmenau dazu anregte, mit Hilfe der AG Jazz Ilmenau selbst Konzerte zu organisieren. Steffen Wolle gibt Beispiele sowohl für den Umgang der Staatsmacht mit der suspekten Jazzszene wie auch für die kreativen Strategien, mit denen diese Szene die Staatsbürokratie immer wieder austrickste, austricksen musste. Am Schluss findet sich ein 50seitiger Anhang mit allen Besetzungen, die bei der Jazzwerkstatt Peitz zwischen 1973 und 1983 zu hören waren. Dazwischen viele Fotos, die die Atmosphäre einfangen, die Konzentration, die Erwartungshaltung, die oft wie eine Art Aufbruchsstimmung wirkt, nur, dass der tatsächliche Aufbruch erst sechs Jahre nach dem letzten Konzert in Peitz stattfinden sollte.

Die beiheftende CD schließlich enthält Mitschnitte von der Jazzwerkstatt 1981, ein Quintett mit Ulrich Humpert, Peter Brötzmann, Johannes Bauer, Harry Miller und Willi Kellers, das Conrad Bauer Bäserquintett, einen Solotitel Uwe Kropinskis sowie das Trio Leo Smith / Peter Kowald / Günter Baby Sommer.

“Woodstock am Karpfenteich” bietet einen Einblick in eine kreative Bewusstwerdungsphase, ist weder rein historische Dokumentation, noch musikologische Erklärung etwa des DDR-Jazz. Wenn überhaupt, dann ist dieses Buch die Sammlung von sehr persönlichen Erinnerungen an ein dreizehn Jahre lang gegen alle Wahrscheinlichkeit funktionierendes Experiment freier Improvisation. Es regt zum Nachdenken an, nicht nur für die, die dabei waren, sondern ganz allgemein, darüber, was wir mit Musik verbinden, egal, wo wir sie hören, welche Prägungen wir durch Musik erhielten und wie musikalische Erinnerungen Biographien verschränken können, die sonst kaum etwas miteinander zu tun haben.

Lebenswert!

Wolfram Knauer (Juli 2011)


John Coltrane. A Love Supreme
von Karl Lippegaus
Hamburg 2011 (edel:vita)
317 Seiten, 29,95 Euro
ISBN: 978-3-8419-0069-2

Karl Lippegaus beginnt sein Buch mit einer wenig verhüllten Liebeserklärung an John Coltrane, einer Erinnerung daran, wie er eines Morgens in Südfrankreich seine verkratzte LP “Live at the Village Vanguard” auflegte und ein Hahn mit Pharoah Sanders um die Wette krähte. Dann wird er sachlich, wie es sich für einen Biographen gehört. Er erzählt Coltranes Leben von der Kindheit in North Carolina über die Granoff School of Music in Philadelphia bis zu den ersten Gehversuchen in Bands wie der von Cleanhead Vinson. Er nennt Einflüsse, den Sound von Johnny Hodges etwa oder den großen Charlie Parker, seinen Freund Jimmy Heath oder Igor Strawinsky. Er nennt die großen Tenoristen an dessen Ideal Coltrane sich messen lassen musste und er versucht zu ergründen, was Trane etwa bei Dizzy Gillespie lernte, in dessen Bigband er Ende der 1940er Jahre spielte. Lippegaus begleitet den Saxophonisten in die Band von Miles Davis und Thelonious Monk, erkundet Coltranes Lektüre auf Reisen, seine philosophischen und spirituellen Entwicklungen jener Jahre. Er nähert sich der Musik dabei eher die Atmosphäre als die Musik selbst beschreibend. er lässt Musiker und Zeitzeugen zu Worte kommen, imaginiert sich die Stimmung, die wohl im Studio oder im Club geherrscht haben muss, in dem einige der Coltrane-Klassiker entstanden, stellt sich vor welchen Eindruck diese Stimmung und all die von ihm beschriebenen Einflüsse auf den Saxophonisten haben mussten und wie daraus das entstand, was wir bis heute auf Platte hören können. Seine Kapitelgliederung ist angenehm kleingliedrig, erlaubt das Zurseitelegen des Buchs – vielleicht um weiterzudenken oder aber die genannten Stücke zu hören. Immer wieder verweist er auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in den USA der Bürgerrechtsbewegung, in deren Kontext auch die musikalische Entwicklung Coltranes ihm zufolge unbedingt zu sehen ist.

Lippegaus beschreibt die Musik nicht so sehr als Produkt und fertiges Statement, sondern vielmehr als Prozess, als Entwicklung, und so gelingt es ihm, dem Leser (und Hörer) den Entwicklungswillen näher zu bringen, der Coltranes Musik von Anfang bis Ende prägte. In dieser Verbindung schafft Lippegaus dann auch, was vielleicht nur offenohrigen Autoren möglich ist: die allseits bekannten Daten und Fakten geben auch dieser Biographie die Struktur, aber er füllt sie außerdem mit dem Wollen und Denken, mit seiner Annäherung an die Visionen, aus denen sich Coltranes Kunst näherte. Ein überaus gelungenes Buch, geschmackvoll gesetzt, mit Fotos der verschiedenen Schaffenszeiten bebildert … lesenswert!

Wolfram Knauer (August 2011)


Jelly Roll Morton, The “Old Quadrille” and “Tiger Rag”. A Historiographic Revision
von Vincenzo Caporaletti
Lucca (Italien) 2011 (Libreria Musicale Italiana)
104 Seiten (Text auf Italienisch und Englisch), 25 Euro
ISBN: 978-88-7096-627-5

Alan Lomax holte den Pianisten und Komponisten Jelly Roll Morton 1938 ins Studio, um für die Library of Congress eine Dokumentation über sein Leben und die Entstehung des Jazz aufzuzeichnen, wahrscheinlich das erste Oral-History-Projekt der Jazzgeschichte. Morton saß am Flügel des Coolidge Auditoriums, eine Flasche Whisky nahebei, und Lomax gab ihm die Themen vor, ermunterte ihn dazu, Geschichten zu erzählen über New Orleans um die Jahrhundertwende, über berühmte und weniger berühmte Kollegen, über musikalische Einflüsse und seine eigene berufliche Entwicklung. Morton war zeitlebens ein Großsprecher und Angeber, jedenfalls hatte er keine Probleme damit, seine Leistungen auch gebührend in den Vordergrund zu rücken und die eine oder andere Tatsache der Jazzgeschichte zu seinen Gunsten zurechtzurücken. Am bekanntesten ist sein Satz “Ich erfand Jazz im Jahr 1902”, der sich in einem Down Beat-Artikel aus demselben Jahr der Aufnahmen fand.

Beim Interview mit Lomax, das Basis der später erschienenen Morton’schen Autobiographie “Mister Jelly Lord” sein sollte und mittlerweile vollständig als Tondokument erhältlich ist, übernahm Morton Autorenschaft für jede Menge unterschiedlicher Ereignisse. Musikhistorische vielleicht am interessantesten war seine Behauptung Urheber des “Tiger Rag” gewesen zu sein, den er tatsächlich aus unterschiedlichen Teilen einer alten Quadrille abgewandelt habe. Die Jazzgeschichtsschreibung berichtet anderes, schreibt den “Tiger Rag” Nick La Rocca zu und weiß außerdem, dass gerade dieses Stück auf der ersten Schallplatte der Jazzgeschichte zu hören war, eingespielt im Jahr 1917 von LaRoccas Original Dixieland Jazz Band. Die heutige Forschung will wissen, dass weder Morton noch LaRocca die tatsächlichen Urheber des “Tiger Rag” sind, wie Bruce Boyd Raeburn in seinem Vorwort zum vorliegenden Buch schreibt, sondern das LaRoccas Version tatsächlich ein Zusammenstückeln unterschiedlichster Versatzstücke ist, die Jack Stewart in einer Transkriptions-Edition identifiziert hat.

Vincenco Caporaletti, italienischer Musikwissenschaftler und Autor mehrerer analytischer Bücher zum Jazz, nimmt Mortons Performance der Evolution des “Tiger Rag” aus einer alten französischen Quadrille zum Anlass, Mortons Behauptung selbst zu hinterfragen, er selbst sei der wahre Komponist des Stücks, nicht Nick LaRocca. Die Legende, dass der “Tiger Rag” auf eine Quadrille zurückginge, habe in Musikerkreisen in New Orleans schon länger kursiert, erklärt Caporelletti und zitiert verschiedene Quellen. Mortons Inanspruchnahme der Autorenschaft allerdings sei wohl auch der Tatsache zu verdanken, dass er sich durch die Musikgeschichte der 1930er Jahre weitgehend vergessen gefühlt und vor den Mikrophonen der Library of Congress die Gelegenheit gesehen habe, die Geschichte zurechtzurücken, Tatsachen hin oder her. Caporaletti zeigt, wie Morton einem erstaunten Lomax fünf Teile der ursprünglichen Quadrille vorführt, auch um zu erklären, dass die Umwandlung in den “Tiger Rag” seine ureigene Leistung gewesen sei. Er vergleicht die formale und harmonische Struktur beider Stücke, stellt Ähnlichkeiten zwischen Mortons Library-of-Congress-Fassung und der Aufnahme der ODJB aus dem Jahr 1917 fest und verweist darüber hinaus auf Mortons eigene erste Aufnahme des Stücks aus dem Jahr 1924, das in der Form (und bis in die Klarinetten-Breaks hinein) der ODJB-Fassung folgt. Mit analytischen Feingespür schlussfolgert er, dass Mortons Herleitung aus der Quadrille tatsächlich eher belegt, dass dieser selbst den “Tiger Rag” vor allem durch die Aufnahme der ODJB kennengelernt habe.

Caporalettis Analyse kommt so der Wirklichkeit Morton’scher Aufschneiderei auf die Spur, macht uns allerdings zugleich darauf aufmerksam, dass in Mortons Geschichte mehr als ein Körnchen Wahrheit steckt: Wenn Morton auch nicht als Komponist des Stücks angesehen werden kann, so ist doch seine Herleitung aus der Quadrille ein hervorragendes Beispiel für die Aneignung traditionellen Materials durch den Jazz.

Der Anhang des Buchs enthält eine komplette Transkription des Interviews mit Morton sowie eines einer exakten Notation der fünf Quadrille-Sätze und des daraus resultieren “Tiger Rag” in Mortons Fassung. Die analytischen Teile des Buchs finden sich in einer italienischen und einer englischen Fassung, daneben druckt Caporaletti seine komplette Transkription der Aufnahme ab. Er schließt, alles in allem eine überaus interessante Lücke der Morton-Forschung und stößt zugleich genügend neue Türen auf, in die Musik hineinzuhorchen und dabei ästhetischen Entscheidungen auf die Schliche zu kommen.

Wolfram Knauer (August 2011)


Barney Wilen. Blue Monday
von Yves Buin
Bègles/Frankreich 2011 (Castor Music)
126 Seiten, 12 Euro
ISBN: 978-2-85920-862-2

Es ist durchaus interessant zu sehen, in welcher Gesellschaft das neue Buch über den französischen Saxophonisten Barney Wilen steht. Andere Bände der Biographienreihe befassen sich etwa mit Prince, Jimi Hendrix, Rory Gallagher, Bob Dylan, Bob Marley und anderen Größen aus Rock und Pop. Wilen wurde spätestens, nachdem er mit Miles Davis die Filmmusik zu “Fahrstuhl zum Schaffott” einspielte, als einer der wenigen europäischen Saxophonisten gehandelt, der den Amerikanern ebenbürtig seien.

Yves Buin begleitet den Musiker von seiner Geburt in Nizza im Jahr 1937 bis zu seinem Tod durch ein Krebsleiden im Jahr 1996. Wilen war von früher Jugend an begeistert vom Jazz, hörte die amerikanischen Musiker, die an der Côte d’Azur Station machten. Mit 17 ging er nach Paris, spielte mit französischen Freunden und mit Amerikanern, die sich in der Stadt niedergelassen hatten, Roy Haynes etwa oder Jimmy Gourley. 1956 war er bei einer Plattensession des Pianisten John Lewis mit von der Partie, und mit 20 nahm er seine erste Platte unter eigenem Namen auf. Buin verfolgt das Plattenschaffen des Saxophonisten zwischen Einfluss Charlie Parkers, Cool Jazz und Hardbop jener Jahre. Er beschreibt die Aufnahmesitzung mit Miles, die Pariser Jazzszene, die teilweise wie ein Exil-Amerika gewirkt haben mag, seine Filmmusikern etwa für Édouard Milonaro oder Roger Vadim, Free-Jazz-Experimente (“Dear Professor Leary”), die Band Jazz Hip, sein Comeback in den 1980er Jahren sowie die letzten Jahre seines Lebens, in denen er mit vielen jungen Musikern zusammenwirkte, die noch heute auf der französischen und internationalen Jazzszene aktiv sind.

Buin hangelt sich dabei von Album zu Album, beschreibt die Musik, weniger die Lebensentscheidungen und gibt auch nicht vor, alle ästhetischen Entscheidungen Wilens erklären zu können. Als Anhang präsentiert er Ausschnitte aus drei Interviews des Saxophonisten, die dieser dem französischen Jazz Magazine 1961, 1966 und 1972 gegeben hatte. So erhält Wilen dann doch noch eine Stimme und man kann über die beschriebenen Alben hinaus über Einflüsse, nationales Selbstverständnis oder den Einfluss afrikanischer Musik lesen. Ein willkommenes kleines Büchlein über einen weithin vergessenen Experimentator der europäischen Jazzszene.

Wolfram Knauer (August 2011)


The Studio Recordings of the Miles Davis Quintet, 1965-68
Oxford Studies in Recorded Jazz
Von Keith Waters
New York 2011 (Oxford University Press)
302 Seiten
ISBN: 978-0-19-539384-2

Ashley Kahn begann vor einigen Jahren mit Monografien, die sich nicht etwa der Biographie eines Künstlers, sondern einem einzelnen Werk, konkret: einer Schallplatte widmeten, etwa Miles Davis “Kind of Blue” oder John Coltranes “A Love Supreme”. Oxford University Press geht ähnlich, wenn auch gänzlich anders vor in seiner neuen Buchreihe mit dem Titel “Oxford Studies in Recorded Jazz”, in der jetzt die ersten Bände erschienen sind. Es ist eine musikwissenschaftliche Reihe, also stehen biographische oder sonstige historische Details eher im Hintergrund, spielen nur dann eine Rolle, wenn sie den musikalischen Ablauf oder musikalische Entscheidungen erklären helfen.

Der Musikwissenschaftler Keith Waters beginnt seinen Band über das berühmte zweite Miles Davis Quintet der 1960er Jahre mit einer allgemeinen stilistischen Darstellung des Quintetts, beschreibt, wo die einzelnen Musiker herkommen, aber auch die damals üblichen Studioabläufe (und begründet dabei, warum er die Liveaufnahmen des Quintetts bei seinen Beobachtungen außen vor lässt), die zum auf Platte veröffentlichten Klangergebnis führen. In Abrissen über die Personalstilistik der fünf Mitstreiter Miles Davis, Wayne Shorter, Herbie Hancock, Ron Carter und Tony Williams geht er kurz auch auf frühere Aufnahmen ein, um ihre Entwicklung zu beschreiben, zu erklären, wo die Musiker herkommen und wie sie zu dem Stil gelangt sind, den sie auf den Quintettaufnahmen der 1960er Jahre spielen. Ein zweites Kapitel erklärt analytische Ansätze, diskutiert dabei die Entwicklung und Bedeutung der modalen Spielweise, die Begründung für motivische Analysewege, diskutiert die Interaktion innerhalb der Gruppe, Zirkularkompositionen, das Moment der Form in Improvisation sowie Davis als Avantgardist.

Der Hauptteil des Buches widmet sich dann dein Platten des zweiten Miles Davis Quintet: “E.S.P.”, “Miles Smiles”, “Sorcerer”, “Nefertiti”, “Miles in the Sky” und “Filles de Kilimanjaro”. Waters arbeitet mit Transkriptionen, harmonischen, rhythmischen und formalen Analysen, beschreibt innermusikalische Beziehungen, Entwicklungen, Reaktionen, harmonische Spannungen und Auflösungen, dramaturgische Bögen und vieles mehr. Er enthält sich dabei größtenteils einer ästhetischen Wertung, spricht höchstens von “neuen Lösungen”, der “mühelosen Bewältigung technischer Hürden”, verweist aber durchaus auch etwa auf die “kontrollierte Freiheit”, mit der insbesondere Hancock Ideen des Freejazz Ornette-Coleman’scher Prägung in die Musik des Quintetts einbrachte. Immer wieder fragt er nach den Wurzeln im Hardbop und der langsamen Entfernung von hardbop-typischen musikalischen Vokabeln hin zu einer Spielweise, die letzten Endes eine glatte Entwicklung hin zur Davis’schen Fusion der späten 1960er Jahre darstellt. Eine Zusammenfassung fragt nach dem Erbe dieser Aufnahmen und stellt fest, dass sowohl das Repertoire als auch die Spielweise der Musiker bald Teil der Jazztradition wurden, die von jüngeren Musikern als Musterbeispiel empfunden wurden, auf die sie ihre eigenen weiteren Entdeckungsreisen aufbauen konnten.

Das Buch ist sicher keine leichte Kost – wer keine Noten lesen kann, von Harmonik wenig versteht und sich eh auf solch eine Abstraktionsebene über Musik nicht einlassen möchte, wird voraussichtlich wenig Spaß bei der Lektüre haben. Als Beispiel einer tiefgehenden Beschäftigung mit einem Teil-OEuvre der Musik Miles Davis und als Auftakt einer Reihe mit musikwissenschaftlich kompromisslosen Analysen wichtiger Aufnahmen des Jazz hat Oxford auf jeden Fall kraftvoll einen Ball ins Spiel geworfen, dem man wünscht, dass er von anderen aufgegriffen wird und zum intensiveren Diskurs über die Musik beitragen kann.

Wolfram Knauer (August 2011)


 

Alex Steinweiss. The Inventor of the Modern Album Cover
von Kevin Reagan & Kevin Heller
Köln 2011 (Taschen)
420 Seiten (Großformat), 49,99 Euro
ISBN: 978-3-8365-2771-2
[alle Texte in Englisch, Deutsch und Französisch]

Der Kölner Taschen-Verlag ist weltweit bekannt für seine opulenten Kunst- und Fotobücher. Ab und an kreuzen sich seine Wege dabei mit dem Jazz. Vor einigen Jahren etwa brachte Taschen (mit Hilfe des Jazzinstituts) das legendäre, ursprünglich bei  Burda erschienene Buch “Jazz Life” von Joachim Ernst Berendt und William Claxton in einer um viele Bilder ergänzten Neuauflage heraus. Jetzt sammelt Kevin Reagan die Plattencover des Alex Steinweiss.

Wie es bei Covern so ist, sollte man auch hier mit dem Äußeren beginnen. Das Buch ist in einen festen Pappband gebunden, mit Lederrücken und Rückeneinkerbung, damit man es leicht aufblättern kann, ohne dass die Seiten brechen. Doch, nein, tatsächlich erinnert diese Aufmachung natürlich ganz bewusst an die ersten Schellackalben, die Anfang der 1940er Jahre bis zu fünf oder sechs Schellackplatten zusammenfassten und innen drin nichts als diese Platten hatten, in feste Papierumschläge gehüllt, die in das Cover eingebunden waren. Davor waren Schellackplatten meist einfach in Papiertüten verkauft worden, auf denen höchstens eine ganz generelle Werbung für die Plattenfirma abgedruckt war, aber weder Information zur auf der Platte enthaltenen Musik noch eine großartig künstlerische Covergestaltung.

Erst mit den Schellackalben änderte sich das, und wenn man gleich auf der Umschlaginnenseite einige dieser Alben sieht, weiß man auch, woher dieser Begriff “Album” stammt, den man heute für jede Einzel-LP oder -CD benutzt, der aber ursprünglich genau das bezeichnete: Eine Zusammenfassung mehrerer thematisch irgendwie zusammenhängender Einzelplatten, eingebunden in einen Hardcoverumschlag mit künstlerischer Gestaltung durch … und damit sind wir beim Thema, denn Alex Steinweiss war tatsächlich einer der ersten, der hier tätig wurde und kann mit Fug und Recht als “Erfinder des modernen Albumcovers” genannt werden, wie der Untertitel des Buchs suggeriert.

Steinweiss, der im Juli 2011 im Alter von 94 Jahren verstarb und somit die Veröffentlichung dieses Buchs noch miterleben konnte, erzählt im Gespräch mit Reagan seine Lebensgeschichte, vor allem aber über seine künstlerischen Vorstellungen, seine Einfälle, Konflikte mit den Auftraggebern, Lösungen. Steinweiss illustrierte sein erstes Album 1940 und erfand quasi 1948 die Papphülle für 30-cm-Schallplatten. Steven Heller ordnet seine Arbeit sowohl in die Verpackungs- wie auch die Kunstgeschichte des 20sten Jahrhunderts ein, benennt Vorbilder aus der Bildenden Kunst genauso wie dem Notendruck, Bauhaus und Klassizismus und berichtet über Werbestrategien der Plattenfirma Columbia, bei der Steinweiss in jenen frühen Jahren angestellt war.

Steinweiss erzählt von der Parsons School in New York und der Lehre beim österreichischen Plakatmaler Joseph Binder, über sein kleines Studio, in dem er die “Kompositionen” seiner Hüllendesigns entwarf, den Produktionsprozess, die Betriebsstruktur bei Columbia Records, seine Arbeit für die US-Navy für die er Poster und grafische Anleitungen zeichnete. Eine Seite zeigt die zuvor üblichen Alben-Cover und was Steinweiss daraus machte, von grau nach bunt, fantasievoll und voll Leben. Zwischendrin sieht man aber auch Logos und Briefköpfe, die er etwa für einen Friseur entwarf. Für seine Covers entwickelte Steinweiss darüber hinaus ein eigenes handgeschriebes Alphabet, das sich auf vielen seiner Hüllen wieder findet. Nebenbei entwarf er Werbebroschüren etwa für ein Schmerzmittel, die amerikanische Krebsgesellschaft und anderes.

Immer wieder ist man aber davon überrascht, welche Vielfalt Steinweiss mit deutlich wiedererkennbaren Mitteln in seiner Kunst ausdrücken konnte, die Gebrauchskunst war, aber gerade deshalb Dinge wagen konnte, die in der “freien” Kunst vielleicht gar nicht möglich gewesen wären. Magazine, Buchillustrationen, weitere Platten.

Nach Columbia arbeitete Steinweiss ab Mitte der 1950er Jahre für die Label Decca und London, baute nun immer mehr auch die Fotografie in seine Gestaltung ein. Und auch im Film war er ein gefragter Mann, entwarf Filmtitel etwa für Gary Grant und Audrey Hepburn, aber auch für “James Bond”-Filme. Als er sich 1974 zur Ruhe setzte, begann er Bilder zur Musik zu malen, bunt und märchenhaft. Das Buch zeigt Hunderte seiner Entwürfe, meist in der Originalgröße der kleineren 25-cm-Schallplatten. Man mag mit dem Blättern gar nicht aufhören, entdeckt Querverbindungen zwischen frühen und späten Entwürfen wundert sich über den Mut und die Direktheit, mit der Steinweiss seine Arbeit von Anfang an verfolgte. Persönliche Fotos eines langen, reichhaltigen und offenbar durchaus gutgelaunten Lebens schließen das Buch ab, das als Coffeetable-Buch dedacht ist und auf diesem coffee table garantiert jeder Kaffeestunde genügend schmunzelnden Gesprächsstoff bietet.

Wolfram Knauer (Juli 2011)


Joëlle Léandre Solo. Conversations
von Franck Médioni
Jerusalem 2011 (Kadima Collective)
161 Seiten, 1 CD, 1 DVD, 39 US-Dollar
ISBN: 8-85767-51020-3

Seit den frühen 1970er Jahren gehört die Kontrabassistin Joëlle Léandre zu den führenden Musikerinnen der europäischen improvisierten Musik – zusammen mit Irène Schweizer eine der wenigen Frauen in diesem Metier. Im Gespräch mit dem Journalisten Franck Médioni erzählt sie, wie sie zur Musik und zu ihrem Instrument gekommen ist. Sie habe sich hin- und hergezogen gefühlt zwischen der zeitgenössischen Klassik und dem Jazz, den sie als afro-amerikanische Musik eigentlich erst 1971 entdeckte, als sie auf einem Flohmarkt ein Album von Slam Stewart erstand, durch das ihr bewusst wurde, dass sich die klassischen Techniken durchaus mit denen des Jazz vermengen ließen. Sie hörte sich durch die großen Kontrabassisten des Jazz und entdeckte den Free Jazz und die freie Improvisation als eine Spielweise, in der sie eigene Ideen entwickeln konnte.

Im zweiten Kapitel benennt Léandre konkrete Einflüsse: die Komponisten John Cage und Giacinto Scelsi, welch letzteren sie 1978 in Rom traf, George Lewis, Derek Bailey und andere Musiker aus der frei improvisierenden Szene. Das dritte Kapitel widmet sie ihrem Instrument, spricht über ihr Verhältnis zum Kontrabass, die Körperlichkeit des Instruments und die Instrumentenhaftigkeit ihres eigenen Körpers. Sie spricht über technische Schwierigkeiten und Strategien, die sie entwickelte, diese zu überkommen, über die Erweiterung des Klangs durch Perkussion auf dem Basscorpus oder durch ihre eigene Stimme.

Kapitel 4 gehört dem Verhältnis von Improvisation und Komposition. Sie reflektiert über die Schwierigkeit der Klassifizierung ihrer Musik, die nicht wirklich Jazz, auf keinen Fall Klassik, natürlich kein Pop ist, vielleicht am ehesten eine Art Musik, wie sie ein jeder in sich habe… Kapitel 5 widmet Léandre der Lebenswirklichkeit einer reisenden Musikerin und überschreibt es mit “Nomad / Monad”. Sie spricht darin auch über die Probleme, sich als Frau in einer von Männern dominierten Welt durchzuboxen. Kapitel 6 beschäftigt sich mit der Bedeutung von Aufnahmen – live oder im Studio; Kapitel 7 mit Business- und politischen Aspekten ihrer Arbeit.

Über die ganze Strecke lässt Médioni Léandre einfach reden, und sie erzählt freimütig von einem Nomadenleben zwischen den stilistischen Stühlen, von einer so intensiven musikalischen Suche, dass sie selbst oft nicht mehr weiß, wie sie anderen erläutern kann, wohin diese Suche sie verschlagen hat. Das schafft dann vielleicht doch am ehesten die Musik selbst, und so ist es nur passend, dass das Buch musikalisch von zwei im Deckel eingebundenen Tonträgern gerahmt ist: der CD eines Soloauftrittes von 2005 sowie der DVD einer Soloperformance von 2009.

Wolfram Knauer (Juli 2011)


The 4th Quarter of the Triad. Tony Oxley. Fünf Jahrzehnte improvisierter Musik
von Uli Kurth
Hofheim 2011
256 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-936000-48-1

Zusammen mit Derek Bailey, Evan Parker und wenigen anderen gehört Tony Oxley zu den wichtigsten Musikern der “freien Szene” Englands. Uli Kurth begleitet Oxley auf eine Erinnerungsreise von Mainstream- und Tanzkapellen der späten 1950er Jahre über Hardbop-Ensembles der 1960er in die freie Improvisation, die Oxley zusammen mit seinen diversen Mitstreitern zu einer Art performativen Musiziersprache entwickelte, einer Improvisation, wie Kurth schreibt, “die allein auf Grund ihrer Ereignisdichte und vieler Seitenpfade nicht komponiert werden kann”. Kurth hat sich für das Buch über Monate mit Oxley in dessen Wohnung in Viersen getroffen, die unterschiedlichsten Themen angeschnitten und Oxley erzählen lassen: über Mitmusiker, die Londoner Szene der 1960er Jahre, musikalische Konzepte, Jazz oder Nicht-Jazz, grafische Notation, Elektronik. Zwischendrin analysiert Kurth einzelne, wegweisende Aufnahmen Oxleys, etwa “The Baptised Traveler” von 1969, “Ichnos” von 1971, Aufnahmen mit Cecil Taylor oder mit seinem eigenen Quartett. Diese analytischen Anmerkungen gehen tief, aber nicht auf vordergründig musikwissenschaftliche Art und Weise, sondern eng verzahnt mit der Schilderung der Aufnahme- und Spielsituation sowie mit Interviewausschnitten Oxleys zu den betreffenden Stücken. Oxley erzählt über seine Malerei, seinen Ausflug in die DDR, seine langjährige Zusammenarbeit mit Cecil Taylor und vieles andere. Kurth gelingt bei alledem ein fliegender Wechsel von nüchterner Biographie, erklärender Sozial- und Musikgeschichte, autobiographischen Einblicken und musikanalytischen Details. Oxleys Musik gehört sicher nicht zu den eingängigsten – das vorliegende Buch erlaubt einen sehr persönlichen Zugang.

Wolfram Knauer (Juli 2011)


Spirits Rejoice!. Albert Ayler und seine Botschaft
von Peter Niklas Wilson
Hofheim 2011 (2te Auflage; 1. Auflage 1996)
191 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-3-936000-87-0

Am 25. November 1970 wurde Albert Ayler aus dem East River gezogen. Die Umstände seines Todes wurden nie vollständig aufgeklärt. Dies versucht auch Peter Niklas Wilson nicht in der ersten Monographie, die überhaupt über diesen Saxophonisten erschien. Doch Wilsons Buch ist ein Beleg dafür, daß Recherchen noch mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Tod eines Musikers neue Erkenntnisse hervorbringen können. Wilson ist dafür sozusagen in die Vergangenheit gereist, hat Zeitzeugen ausfindig gemacht, die bislang von niemandem zum Leben Albert Aylers befragt worden waren, hat das Bild, das er so von der Person Aylers gewann, anhand der existierenden Interviews und Zeitschriftenberichte überprüft und all dies mit den Tondokumenten des Aylerschen Musikschaffens verbunden. Herausgekommen ist ein überaus lesenswertes Sachbuch mit Daten, Fakten, Anekdoten, musikalischen Analysen und einer Kurzbeschreibung der von Ayler veröffentlichten LPs.

Der 1936 im schwarzen Clevelander Stadtteil Mount Pleasant geborene Albert Ayler machte eine jazztypische Entwicklung durch. Mit sieben Jahren erhielt er seinen ersten Musikunterricht vom Vater, später in einer örtlichen Musikschule. Mit fünfzehn spielte er in lokalen Bands — eine Musik, die sich eher am Rhythm and Blues als am modernen Jazz der Zeit orientierte. Mit siebzehn wurde Ayler zum Profi-Musiker, ging mit dem Blues-Harmonika-Spieler Little Walter auf Tournee. Doch er spielte nicht nur R&B, sondern auch Bebop — in Cleveland nannte man ihn damals “Little Bird”. Von 1958 bis 1961 ging Ayler durch eine wichtige Schule: die der US-Armeekapellen. Viel der Repertoire-Besonderheiten des späteren Saxophonisten erklären sich aus seinen biographisch-musikalischen Begegnungen: der Rhythm and Blues in Cleveland, die Märsche und Tanzmusik der Armeekapellen. Bald wurde Ayler ins französische Orléans versetzt, machte Konzerttourneen durch ganz Europa. Zurück in Cleveland erfuhr Ayler eine zweite musikalische Initiation: die des Avantgardisten. Man hielt ihn entweder für einen Scharlatan oder für leicht verrückt. 1962 machte sich Ayler nach Schweden auf, wo er ein Interesse an seiner Musik erfahren hatte, das ihm in Cleveland nicht entgegengebracht wurde. Auch in Schweden aber mußte Ayler sich mit Tanzmusik durchschlagen; lernte allerdings auch einige Musiker kennen, die genau wie er dem “New Thing” anhingen: John Tchicai beispielsweise oder die Musiker des Cecil Taylor Trios. 1963 kam es in Schweden zu den ersten dokumentierten Aufnahmen: ein Repertoire üblicher Hardbop-Standards mit freien Improvisationen des Saxophonisten. Zurück in den USA zog es Ayler im Sommer 1963 nach New York, wo er ab und zu mit der Cecil Taylor Unit auftrat. 1964 folgte die erste Studioeinspielung “Spirits”, dann Aufnahmen für das Avantgarde-Label ESP, die ihn endlich zu einem musikalisch wahrgenommenen Phänomen der amerikanischen Jazzszene machten.

Mitte der 60er Jahre lag im schwarzen Amerika die Revolution in der Luft. Bürgerrechtsproteste, die Black-Power-Bewegung, frühe Zusammenschlüsse der Black Panthers und zornige Äußerungen der schwarzen Wortführer bestimmten das Klima. LeRoi Jones sah damals in der Musik des New Thing, und besonders in der Musik Albert Aylers den Aufruf zum Protest, zur Revolte. Ayler selbst allerdings äußerte sich nie dezidiert zu einer etwaigen politischen Funktion seiner Musik. “Musik und Politik — sie können auf gewisse Weise verknüpft sein, aber Musik ist Musik und Politik ist Politik”, zitiert Wilson den Saxophonisten.

Wilson betrachtet sowohl die Musik als auch die Ästhetik Aylers dabei durchaus kritisch. Den spirituellen Äußerungen Aylers, deren Resultate sich durchaus in seiner Musik wiederfinden lassen, stellt er da beispielsweise einen oft zornigen Kleinbürger mit Macho-Attitüden gegenüber, den er in den Äußerungen von Ayler-Freunden wie Michel Samson, Sunny Murray und anderen entdeckt. 1967 lernte Ayler Mary Parks (alias Mary Maria) kennen, die sein privates Leben und seine musikalische Karriere nachhaltend beeinflußte. John Coltrane vermittelte Ayler einen Plattenvertrag mit dem Label Impulse. Dessen Produzent Bob Thiele wollte den Saxophonisten einem weiteren Publikum bekannt machen — heraus kam “New Grass”, eine Platte mit Bläsersätzen und Background-Chören und einer offenen spirituellen Botschaft. Wilson argumentiert gegen etliche Kritiker, daß diese Entwicklung nicht einzig auf Thieles Drängen stattgefunden habe, sondern durch und durch dem musikalischen Willen Aylers und dem Einfluß seiner Lebensgefährtin Mary Parks entsprach. Aylers Tod im November 1970 ließ Spekulationen über Selbstmord aufkeimen, Spekulationen, die ihren Grund auch in depressiven Stimmungen hatten, denen Ayler in den letzten Jahren seines Lebens unterlag.

Dem biographischen Teil des Buchs folgt eine ausführliche analytische (dabei übrigens überaus lesbare) Würdigung der musikalischen Seite Albert Aylers. Wilson untersucht die unterschiedlichen Traditionsstränge, die sich in der Musik des Saxophonisten finden: die Musik der schwarzen Kirche, Rhythm ‘n’ Blues, Jazztradition, Märsche. Er gliedert die Entwicklung Aylers in vier Phasen, die des “Free Bop” (ca. bis 1964), die der “Shapes — From Notes to Sounds” (1964), die der “Universal Music” (1965-1967) und die der “Verbalisierung der Botschaft — From Sounds to Words” (ab 1968).

Peter Niklas Wilsons Buch ist nicht nur deshalb als ein Standardwerk zu Albert Aylers Leben und Schaffen einzustufen, weil es bislang [1997] die einzige Monographie über den Saxophonisten darstellt. Wilson ist es gelungen, ein umfassendes Bild des Menschen Ayler und seiner Musik zu geben, ein Bild, in dem die Biographie, die spirituelle und die musikalische Entwicklung gegenübergestellt und ihre vielfältigen Einflüsse aufeinander sinnvoll dargestellt werden.

Wolfram Knauer (Januar 1997)


“To make a lady out of jazz.” Die Jazzrezeption im Werk Erwin Schulhoffs
von Miriam Weiss

Neumünster 2011 (von Bockel Verlag)
458 Seiten, 48 Euro
ISBN: 978-3-932696-81-7

Der Jazz überrannte Europa in den 1920er Jahren in vielfacher Weise: als Tanz, als Musik, als Mode, als Lebensart. Es müssen also all die nicht-musikalischen Konnotationen immer mitgedacht werden, wenn man über die Jazzrezeption jener Jahre spricht. Jazz faszinierte Künstler aller Bereiche, Literaten, Maler, Bildhauer, Fotografen, Tanzmusiker genauso wie klassische Komponisten. Über die Jazzrezeption in der klassischen Musik Europas ist viel geschrieben worden. Miriam Weiss konzentriert sich auf einen Komponisten, keinen der “ganz Großen”, dafür einen, der weit mehr als andere den Jazz nicht nur für einzelne Werke, sondern über weite Strecken seines Schaffens als Inspiration nutzte.

Weiss ist sich der Konnotationen bewusst, die der Jazz für viele Künstler in der Zeit der Weimarer Republik bot; sie nennt Jazz in einem Kapitel klar als “Projektionsfläche für Klischees”. Sie beschreibt darin etliche der Missverständnisse, die mit dem Jazz verbunden waren und die letztlich zum weithin zitierten Diktion Theodor W. Adornos führte, der Jazz als eigenständige Kunst gar nicht wahrhaben wollte und ihn stattdessen vor allem als Teil der Kulturindustrie betrachtete. Sie beleuchtet Schulhoffs Kontakte zu den Dadaisten, vergleicht sein Verständnis von jazz mit dem etwa des Malers George Grosz und analysiert vor diesem Hintergrund Schulhoffs “Fünf Pittoresken für Klavier” von 1919.mit Sätzen wie “Foxtrott”, “Ragtime”, “One-Step” und “Maxixe”. Auch in der “Suite für Kammerorchester” findet sich ein “Ragtime” betitelter Satz, ein “Valse Boston” und als letzter ein mit “Jazz” überschriebener Satz (“Allegro con fuoco”). Während Schulhoff in Werken wie diesen rhythmische und klangliche Assoziationen an das versuchte, was ihm und etlichen anderen Komponisten als “Jazz” vorschwebte (kaum einer von ihnen hatte zu dieser Zeit selbst realen afro-amerikanischen Jazz gehört), greift er vor allem in seinen Klavierkompositionen der 1920er Jahre auf leichter zugängliches Material zurück, insbesondere die virtuose, stark vom Ragtime beeinflusste Novelty-Tradition, in deren Folge Kompositionen etwa von Zez Confrey auch auf europäischen Bühnen gespielt wurden. Die Genreklarheit ist auch hier nicht überall gegeben, ob Jazz oder Blues, Ragtime oder Tango – wichtig war vor allem die Anbindung an aktuell populäre Musikformen; ein tatsächliches Bewusstsein für Jazz als eine vorrangig mit Improvisation funktionierende afro-amerikanische Musik war bei europäischen Komponisten und auch bei Schulhoff kaum vorhanden. Erst in seiner “Hot-Sonate” für Altsaxophon und Klavier von 1930 nahm er in den Melodielinien scheinbar Bezug auf improvisatorische Vorbilder, aber auch auf die jazzspezifische Klangbildung mit Verschleifungen, dirty tones etc.

Die Jazzrezeption in der klassischen Musik des 20sten Jahrhunderts aber sollte auch nirgends als Übernahme von Jazz in ein anderes Genre missverstanden werden. Interessant sind vor allem die Inspirationen; interessant ist, wie die “andere” Sprache des Jazz Komponisten Möglichkeiten im Klanglichen, Rhythmischen, Harmonischen öffnet, weil sie mit technischen Mitteln neben den üblichen konventionellen Traditionen auf weitere aus der populären Musik verweisen können, Verweise, die letztlich sowohl Struktur bildend wie auch Ästhetik erweiternd wirken. Für Schulhoff wurde die Auseinandersetzung mit den Einflüssen aus dem Jazz jedenfalls stilbildend, nicht nur in den kammermusikalischen Werken seines OEuvres, sondern auch in größeren Gattungen, Ballett, Sinfonie und Oper. Weiss verfolgt die Jazzelemente in all diesen Kompositionen sorgfältig, analysiert rhythmische und melodische Details und erklärt so die spezifische Klangfarbe, die der Jazz seiner Musik beizugeben vermag.

Das Buch entsprang einer musikwissenschaftlichen Dissertation, und etliche der analytischen Details richten sich so vor allem an einen fachinternen Diskurs. Für den musikwissenschaftlichen Laien ist vor allem die genreübergreifende Beschäftigung vieler Künstler der 1920er Jahre mit dem Thema Jazz interessant, die Weiss insbesondere im Kapitel Dada ausführlich erörtert. Wie so oft in Büchern über die Jazzrezeption scheint dem Rezensenten auch hier ein Aspekt nicht deutlich genug erklärt: jener nämlich des produktiven Missverständnisses, dem sich so viele Künstler in jenen Jahren ausgesetzt waren, die mit Jazz ganz verschiedene Dinge konnotierten und zum Teil noch nicht einmal unter sich einig waren, was unter diesem Phänomen wohl zu verstehen sei. Das “Jazz” in diesem Sinne nichts mit dem zu tun hat, was man im Nachhinein als die Ursprünge einer afro-amerikanischen Kunstform definiert, also mit Oliver, Morton, Armstrong, Ellington, wird schnell klar, aber für welche unterschiedliche Konzepte “Jazz” genutzt werden konnte oder, wie Weiss schreibt, für welche Klischees der Jazz (und vor allem: welcher Jazz?) als Projektionsfläche dienen konnte, das ist bisher kaum strukturell überzeugend nachzulesen. Miriam Weiss nähert bei dieser Aufgabe wenigstens einem Teilkapitel: welche Funktion Jazz nämlich für die kompositorische wie ästhetische Arbeit im Schaffen Erwin Schulhoffs hatte. Der, schreibt sie, “erkannte die emotionale Wirkung und das brisante, weil provozierende Potential des Jazz”. Dieser habe sich bei Schulhoff im Verlauf der 1920er Jahre von der “aufmüpfigen Göre” zur “wohlerzogenen Lady” gewandelt, ein Prozess, der in seiner Musik nachvollziehen allemal spannend genug ist, ihm eine eigene Monographie zu widmen.


Flying High. A Jazz Life and Beyond
von Peter King
London 2011 (Northway Publications)
338 Seiten, 20 Englische Pfund
ISBN: 978-0-9550908-9-9

Peter King mag nicht zu den großen Namen der europäischen Jazzgeschichte gehören. Ein Altsaxophonist, der sein Spiel zeitlebens am großen Charlie Parker orientierte, dabei seine eigene Stimme fand, die aber nie zu weit ab war vom amerikanischen Modern Mainstream seiner Tage, ein Musiker, der von amerikanischen Kollegen auf Europatourneen wegen seiner stilistischen Verlässlichkeit gern engagiert wurde, zugleich aber auch wegen seiner persönlichen Probleme – insbesondere mit Drogen– schwierigste Zeiten durchmachte… ein musicians’ musician vor allem unter britischen Kollegen, der nichtsdestotrotz eine spannende Geschichte zu erzählen hat.

Spannend ist sie auch deshalb, weil sein Buch nicht einfach nur Musikerbegegnungen aneinanderreiht, wie man das leider sonst so häufig in Biographien und Autobiographien findet, sondern weil King recht offenherzig versucht, den Entscheidungen seines Lebens auf die Spur zu kommen, ob sie nun zu guten oder zu weniger guten Resultaten führten.

Eigentlich hatte er Aeronautiker werden wollen, schreibt er, doch Willis Conovers legendäre Radiosendung “Jazz Hour” änderte seinen Berufswunsch: Nun wollte er Jazzklarinettist werden. In jugendlichem Enthusiasmus versuchte er selbst eine Klarinette zu bauen, bis seine Eltern Mitleid mit ihm hatten und ihm ein preiswertes Instrument schenkten. Im Gymnasium stolperte er über Charlie Parker und entschied sich zusätzlich Altsaxophon zu lernen. Er tat sich mit anderen Jazzenthusiasten zusammen, die regelmäßig in einer Bäckerei spielten, die sich abendlich in eine Art Jazzclub verwandelte. Musik wurde mehr und mehr zu seiner Hauptbeschäftigung, und nach und nach traf er professionelle Musiker wie Gordon Beck, Kathy Stobart und Ronnie Scott, der ihn bat, im Oktober 1959 bei der Eröffnung seines ersten Clubs zu spielen. Von da ab spielte King (nicht zu verwechseln mit Pete King, dem langjährigen Manager Ronnie Scott’s) regelmäßig im Club, mit eigener Band genauso wie mit durchreisenden amerikanischen Musikern.

In seinem Buch erzählt der Saxophonist Geschichten über Tourneen etwa mit der John Dankworth Bigband, über seine Begegnung mit Bud Powell, über Ben Webster, Sonny Stitt, Tubby Hayes, Dave Holland (der mit ihm spielte, noch bevor Miles Davis ihn engagierte), Annie Ross, Dakota Staton und vielen andere. Europäischer Jazz, schreibt King, habe durch Plattenfirmen wie ECM durchaus einen spezifisch europäischen Sound erhalten, er selbst aber sei halt vor allem von den afro-amerikanischen Wurzeln des Jazz begeistert gewesen.

1962 heiratete King die Sängerin Joy Marshall, eine ungleiche und bald auch unglückliche Ehe, die schließlich in Chaos und Scheidung endete. King erzählt genauso offen wie von anderen persönlichen Entwicklungen seines Lebens von seinem Drogenmissbrauch: Kokain, Heroin, Zeug, für das er den größten Teil seiner Gage ausgab. Er erzählt, wie er mit Hilfe einer bekannten Londoner Ärztin, der auch Stan Getz und Bill Evans wegen ihrer Drogensucht behandelte, versuchte, von dem Stoff wegzukommmen. Später nahm er Methedrin und andere Ersatzdrogen, und in der neu erworbenen Freiheit begann King sich mit klassischer Musik und Literatur auseinanderzusetzen, aber auch die Malerei aufzugreifen. Seine zweite Frau akzeptierte die Tatsache mit einem Süchtigen zusammenzusein und gab ihm in ihrer Akzeptanz Halt.

King berichtet von Auftritten Plattensessions mit Philly Joe Jones, Hal Singer, Jimmy Witherspoon, über Tourneen mit Ray Charles, James Brown, Sacha Distel und Charlie Watts. … Die Geschichten nehmen kein Ende, werden aber auch nie langweilig, weil man eine Ehrlichkeit hinter ihnen spürt, die nicht der Selbstdarstellung geschuldet ist, sondern einer gewissen Selbsterkenntnis. King schreibt mit einer Offenheit, die selten ist in der Jazzwelt, beschreibt die Zwänge seiner Drogensucht, aber auch in welchen Zwängen sich viele der anderen Musiker befanden, mit denen er zusammenarbeitete und die unter ähnlichen Problemen zu leiden hatten. Das alles tut er nicht Mitleid heischend oder voll Vorwürfe, sondern nüchtern, mit einem distanzierten Augenzwinkern und dem Wissen, dass nicht alles okay war, was er oder andere gemacht haben, dass sie alle aber Menschen sind und dass auch eine Biographie aus dem Menschen keinen Heiligen machen sollte.

Zum Schluss erzählt er von seinen kompositorischen Ambitionen, einem Opernprojekt namens “Zyklon” über den Erfinder von Zyklon B, dem Gift, mit dem die Nazis Hunderttausende Menschen ermordeten. Und er gibt einen kurzen Einblick in sein anderes Hobby, das seinem ersten Berufswunsch geschuldet ist: dem Modell-Flugzeugbau, ein Gebiet, in dem er sich ebenfalls einen Namen machte.

Neben all den Einsichten in das tägliche Leben eines Jazzmusikers also ist dies vor allem ein ehrliches, manchmal überraschendes und damit ungemein lesenswertes Buch.

Wolfram Knauer (Juli 2011)


I Feel So Good. The Life and Times of Big Bill Broonzy
von Bob Riesman
Chicago 2011 (University of Chicago Press)
324 Seiten, 27,50 US-Dollar
ISBN: 978-0-226-71745-6

Bei der enormen Flut an Veröffentlichungen im Bereich von Jazz, Blues und Rhythm ‘n’ Blues ist man doch immer wieder erstaunt, wenn es einem Autoren gelingt, so weit unter die Oberfläche zu gelangen, wie dies Bob Riesman mit seiner neuen Biographie des Gitarristen und Sängers Big Bill Broonzy gelungen ist.

Riesman ist ein Kenner der Chicagoer Folk- und Blueszene, und im Vorwort seines Buchs erzählt er vom Verschleierungskünstler Broonzy, der Daten und sonstige Informationen nach Belieben veränderte und den Biographen so des öfteren in die Leere laufen ließ. In Amsterdam traf Riesman eine Frau, die ein Kind von Broonzy hatte und ihm einen Schuhkarton mit Briefen des Gitarristen in die Hand drückte. Er traf Verwandte in Arkansas, wühlte in Archiven und stückelte so die Lebensgeschichte weit über das hinaus zusammen, was Broonzy selbst 1955 in seiner von Yannick Bruynoghe edierten Autobiographie erzählt hat. Vor allem hinterfragt er viele der Geschichte, die Big Bill ähnlich ausschmückte wie er den Blues sang: mit Lyrik und dramatischem Geschick. Riesman geht Broonzys eigener Namensgebung auf den Grund (eigentlich hieß er (wahrscheinlich) Lee Conley Bradley. Er betrachtet das Arkansas im frühen 20sten Jahrhundert und vergleicht immer wieder die verschiedenen Versionen von Geschichten, die Broonzy über wichtige Ereignisse seines Lebens erzählte. Broonzy begann auf der Fiddle, und Riesman betrachtet die unterschiedlichen musikalischen Einflüsse, denen er als Junge augesetzt war. Er verfolgt den Aufstieg des Gitarristen und Sängers, der nach dem I. Weltkrieg nach Chicago ging und dort bald zu einem der führenden Bluesmusiker der Stadt wurde. 1938 sang er in der Carnegie Hall, und nach dem Krieg war sein Einfluss auf das Folk-Revival um Pete Seger und Studs Terkel nicht zu unterschätzen. In den 1950er Jahren bereiste Broonzy Europa und machte dort enormen Eindruck auf junge Rockmusiker, die in den 1960er Jahren aufbauend auf seinem Stil und dem anderer Bluesmusiker seiner Generation eine eigene populäre Musik schaffen sollten. Nebenbei gräbt Riesman viele biographische Details aus, über Broonzy als Ehemann dreier Frauen etwa und Vater eines Kindes auf dem Alten Kontinent. Zum Schluss des Buchs berichtet Riesman davon, wie Broonzy durch den Krebs erst seine Stimme, dann sein Leben verlor, just zu dem Zeitpunkt, als seine internationale Karriere einem neuen Höhepunkt zustrebte.

Bob Riesmans Buch ist vordergründig eine chronologisch erzählte Biographie und greift fast wie nebenbei viele Stränge der Popmusikkultur des 20sten Jahrhunderts auf. Das Buch ist akribisch recherchiert und dennoch flüssig zu lesen. Etliche seltene Fotos runden ein durch und durch gelungenes Werk ab. Die Geschichte des Blues und Broonzys Rolle darin wird durch das Buch nicht neu geschrieben. Viele Zusammenhänge aber werden klarer, weil persönlicher. Lesenswert!

Wolfram Knauer (Juni 2011)


Klaus Doldinger
von Rainer Thieme
Altenburg 2011 (Kamprad)
127 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-930550-81-4

Klaus Doldinger ist einer der namhaftesten deutschen Jazzmusiker, und seine Karriere hat viele Facetten: Begonnen hatte er mit den Feetwarmers, einer Düsseldorfer Dixieland-Band, um sich dann in den frühen 1960er Jahren moderneren Stilarten des Jazz zuzuwenden. Er experimentierte mit Latin Jazz, ging aber nie den Weg zum Free Jazz, hatte stattdessen ein Pseudonym, Paul Nero, unter dem er zwischen 1964 und 1970 elf Langspielplatten mit Tanzmusik einspielte. Seine Band Passport wurde zur führenden deutschen Fusion-Group seit den 1970er Jahren, und mit seiner Titelmelodie zum “Tatort” und der Filmmusik zu “Das Boot” verewigte der Saxophonist sich in der Film- und Fernsehmusikgeschichte.

Rainer Thiemes Buch ist vor allem eine Diskographie mit etwa 100 Seiten Auflistung von Plattensessions, Besetzungen, Reproduktion von LP- und CD-Covers, einer Liste der von Doldinger geschriebenen Filmmusiken und einem Titelindex mit Verweis auf die Platten, auf denen die Titel enthalten sind. Die Biographie des Saxophonisten nimmt dagegen gerade mal jeweils 12 Seiten (deutsch/englisch) ein. Sie ist eher eine nüchterne Zusammenfassung der Karrierestationen. Die Diskographie ist thematisch geordnet: Feetwarmers; Doldinger Quartett; Doldinger’s Motherhood; Doldinger’s Passport; Soloprohekte; Paul Nero; Soundtracks. Alle Platten sind mit Coverabbildungen, Titel- und Besetzungsliste, wo möglich Angaben zum Produzenten und zu Wiederveröffentlichungen dokumentiert. Da die Kapitelüberschriften in der Diskographie etwas zu unauffällig geraten sind, muss man im Buch ein wenig suchen, um die unterschiedlichen Abschnitte voneinander unterscheiden zu können. Davon abgesehen aber ist das Büchlein gewiss ein unverzichtbares Nachschlagewerk für jeden Doldinger-Fan und quasi ein Bestandskatalog für jeden Doldinger-Sammler.

Wolfram Knauer (April 2011)


Die Ernst Höllerhagen Story. Ein Jazzmusiker zwischen Nationalsozialismus und Wirtschaftswunder
von Heiner Bontrup & E. Dieter Fränzel
Wuppertal 2011 (NordPark)
184 Seiten, 15 Euro
ISBN_ 978-3-935421-42-3

Vor fünf Jahren erschien der opulente Band “Sounds like Whoopataal”, eine Lokal- und Regionalgeschichte des Jazz in Wuppertal von den 1920er Jahren über die Free-Jazz-Szene um Brötzmann, Kowald und Co. bis heute. Darin gab es ein ausführliches Kapitel über Ernst Höllerhagen, den Wuppertaler Klarinettisten, der zwischen 1934 und 1955 insgesamt 550 Titel mit verschiedenen Orchestern und unter eigenem Namen eingespielt hatte. Für dieses Kapitel recherchierten E. Dieter Fränzel und Heiner Bontrup in diversen Archiven, sprachen mit Angehörigen, Kollegen und Zeitzeugen und sammelten so viel spannende Information sowohl über seine musikalische Karriere als auch über sein persönliches Schicksal, dass sie sich entschlossen, ihm eine eigene Biographie zu widmen.

“Die Ernst Höllerhagen Story” beginnt dabei tragisch: mit dem Selbstmord des Klarinettisten, der am 11. Juli 1956 nicht zu einer Probe der Band Hazy Osterwalds erschienen war, und den man bald darauf erhängt in der Toilette fand. Freitod aus Einsamkeit, mutmaßen die beiden Autoren und begeben sich auf die Suche nach einem Leben “zwischen Nationalsozialismus und Wirtschaftswunder”. Höllerhagens Schwester Martha Blockhaus erzählt von der Kindheit und Jugend ihres Bruders, von der Familie, von der Zeit in Wuppertal. In den 1920er Jahren, geht die Legende, habe Höllerhagen mit dem amerikanischen Pianisten Sam Wooding gespielt, und Bontrup und Fränzel klopfen sie auf ihre Wahrscheinlichkeit ab, finden aber auch keine definitiven Belege.

1932 jedenfalls begann Höllerhagen seine professionelle Musikerkarriere in der Band von Jack Alban. In den Jahren darauf trifft er holländische genauso wie Schweizer Kollegen und knüpft Netzwerke, die ihm später hilfreich sein sollten. Er spielt in diversen Bands in den Niederlanden, etwa der des Pianisten Mike Weersma, hat danach ein paar Gigs in der Schweiz, dann wieder in Holland und Belgien, um schließlich auf der Berliner Szene Fuß zu fassen. Es ist ein Leben mit vielen Stationen: Bald ist Höllerhagen zurück in der Schweiz, spielt dort mit den “Berries”, die unter anderem den Tenorsaxophonisten Coleman Hawkins bei Plattenaufnahmen begleiten. Er wirkte in Teddy Stauffers Band, parlierte, Stauffers Biographie zufolge, einen “Heil Hitler”-Gruß schon mal mit “Heil Goodman” und blieb 1939 mit Stauffer in der Schweiz. Dort machte er Aufnahmen unter eigenem Namen, spielte mit dem Amerikaner Willie Lewis und freundete sich mit Hazy Osterwald an. Mit dessen Sextett trat Höllerhagen 1949 beim Paris Jazz Festival auf, und auf einem Foto im Buch ist Höllerhagen am Tisch neben Max Roach und Kenny Dorham zu sehen. In den 1950er Jahren wurde Osterwalds Band mit Höllerhagen immer wieder für deutsche Spielfilme verpflichtet, die mit leichter Kost von den Zerstörungen des Krieges ablenken sollten. Die Osterwald-Band spielte Jazz und Tanzmusik, und Höllerhagens Spiel wurde von Kritikern wie Kollegen gern mit dem Benny Goodmans verglichen – der Pianist Joe Turner schrieb auf ein Foto gar die Widmung: “To the biggest threat to Benny Goodman”.

Ein aufregendes Musikerleben also – woher, fragen die Autoren, stammen dann die Depressionen, die Höllerhagen offenbar immer mehr einholten? 1943 heiratete er die Jugendliebe Hazy Osterwalds, bekam noch im selben Jahr ein Kind. 10 Jahre später lässt seine Frau sich von ihm scheiden, zieht mit der Tochter in die USA und lehnt jeden weiteren Kontakt zu ihm ab. Kurze Zeit vor seinem Selbstmord erlitt er eine Nervenentzündung im Lippenbereich, so dass er wochenlang nicht spielen konnte. Auch hatte er eine “Herzattacke”, und sah die Gefahr, irgendwann nicht mehr als Musiker arbeiten zu können. Diese Faktoren mögen Gründe für seinen Freitod gewesen sein.

Das letzte Drittel des Buchs nimmt eine ausführliche Diskographie der Titel ein, die Höllerhagen zwischen 1934 und 1955 mit diversen Bands einspielte. Bontrup und Fränzel haben mit der “Ernst Höllerhagen Story” ein interessantes Kapitel deutscher und europäischer Musikgeschichte dokumentiert. Neben dem Schicksal des Klarinettisten wird dabei vor allem die Beweglichkeit deutlich, die Musiker im Jazz- und Tanzmusikbereich jener Jahre haben mussten, weil die Engagements sie nun mal in unterschiedliche Regionen verschlagen konnten.

Wolfram Knauer (April 2011)

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Neue Bücher 2012New Books 2012

Jazz. Schule. Medien.
edited by Wolfram Knauer
Hofheim 2010 (Wolke Verlag)
256 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-936000-92-4.

2012knauerDas neueste Buch des Jazzinstituts Darmstadt trägt den Titel “Jazz. Schule. Medien.” und befasst sich mit verschiedenen Aspekten von Jazzvermittlung. In einem ersten Block geht es dabei darum, welchen Stellenwert Jazz im schulischen Unterricht besitzt, wie er in Lehrpläne eingebaut werden kann, welche pädagogischen Ansätze sich mit jazz-affinen Themen verbinden lassen, worauf die Musiklehrerausbildung achten muss, um Jazz und Popularmusik an Allgemeinbildenden Schulen gezielt einsetzen zu können. In einem zweiten Block wird aus unterschiedlichen Sichtweisen der Stellenwert diskutiert, den Jazz in den tagesaktuellen Medien besitzt, also in Tageszeitungen, Blogs etc. Schließlich kommen auch Jazzmusiker selbst zu Wort, die über Strategien berichten, ihr Publikum zu erreichen, in einer Zeit der kurzen Aufmerksamkeitsspanne Lust auf die Konzentration machen, die der Jazz verlangt, Neugier zu wecken auf das spontane Experiment der musikalischen Improvisation.

Die in diesem Band enthaltenen Beiträge entstanden aus Anlass des 12. Darmstädter Jazzforums im September 2011, das der theoretischen Diskussion über Jazzvermittlung auch einige praktische Workshops und Konzerte zur Seite stellte. Mit der Publikation wollen wir den Leser mit in den Diskurs darüber einbinden, wie der Jazz auch in Zukunft ein breites Publikum erreichen kann, ohne sich zu verbiegen, ohne seine kreative Freiheit dreinzugeben.

Zu den Autoren zählen namhafte Forscher, Pädagogen, Journalisten und Musiker wie etwa Christian Broecking, Sigi Busch, Ralf Dombrowski, Bernd Hoffmann, Julia Hülsmann, Reinhard Köchl, Hans-Jürgen Linke, Angelika Niescier, Florian Ross, Michael Rüsenberg, Jürgen Terhag, Walter Turkenburg, Joe Viera, Nils Wülker und andere.

Jazz. Schule. Medien.
(Jazz School Media)
edited by Wolfram Knauer
Hofheim 2010 (Wolke Verlag)
256 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-936000-92-4.

The latest book from the Jazzinstitut Darmstadt is titled “Jazz. Schule. Medien.” (Jazz. School. Media.) and deals with different aspects of bringing jazz to both a general and a young audience. The first part of the book looks at educational aspects, asks how to integrate jazz in a school curriculum, which pedagogical approaches can be linked to jazz-related themes, what to watch out for at teacher training in order for teachers to be able to use jazz and popular music effectively in school. A second part of the book discusses how jazz is seen and reported about in (German) daily newspapers, Blogs etc. And finally, musicians themselves have a say and talk about their strategies to reach their audience, how in a time of short attention span they whet their listeners’ appetite for the concentration which jazz often needs, how they raise the curiosity of their audience for the spontaneous experiment of musical improvisation.

The book’s chapters have originally been written as papers for the 12th Darmstadt Jazzforum in September 2011, a conference which also featured workshops and concerts. With the book publication we invite the reader to participate in a discourse about how to reach a broader audience for jazz while staying true to oneself, keeping one’s creative freedom.

Among the authors are established scholars, educators, journalists and musicians such as Christian Broecking, Sigi Busch, Ralf Dombrowski, Bernd Hoffmann, Julia Hülsmann, Reinhard Köchl, Hans-Jürgen Linke, Angelika Niescier, Florian Ross, Michael Rüsenberg, Jürgen Terhag, Walter Turkenburg, Joe Viera, Nils Wülker and others.

“Jazz. Schule. Medien.” is a German language publication throughout!


 

Deutsche Jazzfotografen: Karlheinz Fürst
herausgegeben von Monika Fürst
Neckargemünd 2012 (Männeles Verlag / Jazzinstitut Darmstadt)
216 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-933968-20-3

2012fuerstGeschichtsträchtig, aber dennoch zeitlos modern… So könnte man die Aufnahmen des deutschen Jazzfotografen Karlheinz Fürst charakterisieren. Noch jenseits digitaler Bearbeitung dokumentierte Karlheinz Fürst im Auftrag von Joachim Ernst Berendt in den Jahren 1958 bis 1963 wichtige  Kapitel deutscher Jazzgeschichte mit regionalem Kolorit.

Karlheinz Fürst gehörte von Anfang an zu den fotografischen Pionieren in dem kompromisslosen Verzicht auf Blitzlicht zugunsten des künstlerischen Ausdrucks. Die auf den ersten Blick scheinbare Unschärfe und Grobkörnigkeit etablierte sich unter den künstlerischen Fotografen schnell zu einem ausgesuchten Stilmittel.

Aus Anlass einer Ausstellung im Jazzinstitut Darmstadt erschien nun der zweite Band der Reihe “Deutsche Jazzfotografen” mit Fotos von Karlheinz Fürst. Der von der Tochter des Fotografen Marion Fürst in Zusammenarbeit mit dem Jazzinstitut Darmstadt herausgegebene Band “Deutsche Jazzfotografen: Karlheinz Fürst” ist 216 Seiten stark und enthält neben den ausdrucksstarken Fotos aus den 1950er und frühen 1960er Jahren einen sehr persönlichen Aufsatz der Herausgeberin sowie einen kenntnisreichen Rückblick auf die deutsche Jazzszene jener Zeit von Matthias Spindler.

(Doris Schröder / Wolfram Knauer, Dezember 2012)


Lennie Tristano. C-Minor Complex
von Marco Di Battista
Raleigh/NC 2012 (Lulu Enterprises)
80 Seiten, 10,00 Euro
ISBN: 978-1-291-08480-1
www.marcodibattista.com

2012_dibattistaLennie Tristanos Aufnahme von “C-Minor Complex” vom Herbst 1961 ist eine musikalische tour-de-force, ein hervorragendes Beispiel für Tristanos Fähigkeit in Linien zu denken und zu musizieren. Der italienische Pianist Marco di Battista hat sich Tristanos Aufnahme als Musterbeispiel seiner Annäherung an sein musikalisches Vorbild genommen.

Im ersten Kapitel stellt er den historischen Kontext vor, aus dem heraus Tristanos Kunst zu verstehen ist. Kapitel 2 verweist auf musikalische Einflüsse (und lässt auch die italienische Herkunft der Familie nicht unerwähnt). Im dritten Kapitel verfolgt die Battista die musikalische Karriere des Meisters, um in den Kapiteln 4 bis 6 zur formalen und harmonischen Analyse des “C-Minor Complex” zu kommen. Er hebt den Anschlag hervor und verweist auf die harmonischen Bezüge zu “Pennies from Heaven” bzw. Tristanos eigenem “Lennie’s Pennies”. Die gleichmäßige Rhythmik erinnert ihn an den gleichmäßigen Puls, der beispielsweise englischer Renaissancemusik von William Byrd und anderen zugrundeliegt. Seine harmonische Analyse benennt besondere Alterationen, aber auch Unterschiede etwa zu “Lennie’s Pennies”. Insbesondere interessiert ihn dabei das Ineinandergreifen von Polyrhythmik, harmonischem Verlauf und melodischer Erfindung.

Das Buch schließt mit einer Komplett-Transkription der fünfeinhalbminütigen Aufnahme.

Wolfram Knauer (Dezember 2014)


Doc. The Story of a Birmingham Jazz Man
von Frank ‘Doc’ Adams & Burgin Mathews
Tuscaloosa/AL 2012 (The University of Alabama Press)
267 Seiten, 34,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8173-1780-5

2012adamsFrank Adams gehört zu den Musikern des Jazz, die vielleicht allein deshalb keine große Karriere machten, weil sie sich nie entscheiden konnten, in die großen Jazzstädte zu ziehen. 1928 in Birmingham, Alabama, geboren, spielte der Klarinettist und Saxophonist zwar mit Jazzgrößen wie dem jungen Sun Ra (als dieser noch Sonny Blount hieß) und in den 1940er Jahren sogar eine kurze Weile mit Duke Ellingtons Orchester, blieb, abgesehen von seinen Studienjahren an der Howard University in Washington, ansonsten aber die meiste Zeit in seiner Heimatstadt. Sogar ein Angebot der Count Basie Band lehnte er ab, weil er sich lieber um seine Familie und seine Schüler kümmern wollte. In Birmingham, Alabama, ist Frank Adams seit langem eine Jazzlegende und in der Community so beliebt, dass er allgemein nur mit seinem Spitznamen “Doc” gerufen wird.

Frank Adams Autobiographie erzählt verschiedene Geschichten. Da geht es zum einen um einen Musiker, dem die Einbindung seiner Kunst in die Community immer am Herzen lag. Da geht es zum zweiten um die schwarze Gesellschaft in den tiefen Südstaaten, wo Adams’ Vater seine eigene Zeitung, den Birmingham Reporter herausgegeben hatte und die Familie eine hoch angesehene Stellung besaß. Es geht schließlich um die Erdung, die auch solche Musiker, die ihre Heimat verlassen, letzten Endes aus ihrer Herkunft erfahren, eine Erdung, wie Adams sie bei seinen Kollegen Blount (also Sun Ra) und Erskine Hawkins konstatiert.

Vor allem aber geht es um ihn selbst, um Frank Adams, der sich an seinen ersten Ton auf der Klarinette seines Bruders erinnert, ein G, und an eine eher unbeschwerte Kindheit in einer engen Familie, deren Bande mit seiner Großmutter bis fast an die Zeit der Sklaverei zurückreichten. Diese habe immer, wenn ihm etwas gelungen sei, gesagt, “No ladder child could do better”, und erst viel später sei ihm aufgegangen, dass “ladder” für “Mulatto” stand und sie ihn loben wollte, dass er als schwarzer Junge besser gewesen sei als ein hellerer Mulatte, die allgemein für klüger gehalten wurden. Der Rassismus war eben etwas, was damals wie heute nicht nur das Verhalten der Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft bestimmte, sondern auch ihr eigenes Selbstverständnis.

Zur Musik kam Adams wie so viele andere Musiker seiner Generation durch die Kirche; eines der ersten Jazzkonzerte, an das das er erinnert, war das Duke Ellington Orchester. In der Lincoln Elementary High School erhielt er Unterricht beim Neffen von W.C. Handy und spielte bald darauf in der Band von Fess Whatley, einer lokalen Legende, der Musiker wie Erskine Hawkins und andere hervorgebracht hatte. Wenig später rief Sonny Blount bei seiner Mutter an und fragte um Erlaubnis, dass ihr Sohn in seiner Band spielen könne. Adams berichtet von Sun Ras Wohnung in Birmingham, von seinem musikalischen Ansatz, von der Art und Weise, wie er seine Musiker, von denen die meisten eh keine Noten lesen konnten, improvisieren ließ, wie er von ihnen erwartete, dass sie etwas von sich selbst in ihrer Musik preisgaben. Schon in der High School hatte Adams Gelegenheit, mit verschiedenen Revue-Truppen zu touren. Nach dem Schulabschluss erhielt er dann ein Stipendium an der Howard University in Washington, D.C. Nebenbei spielte er immer wieder Ersatzgigs im Howard Theatre oder in anderen Clubs der Stadt. In dieser Zeit buchte Jimmy Hamilton ihn als Ersatz für Hilton Jefferson, der sich das Bein gebrochen hatte, für das Duke Ellington Orchester.

1950 kehrte Adams nach Birmingham zurück und nahm eine Stelle als Grundschullehrer an, die er in der Folge 27 Jahre bekleidete. Er erzählt, wie er jetzt als Lehrer den jungen Schüler das weitergab, was er einst selbst von seinen Lehrern gelernt hatte. Nebenbei trat er in den Clubs der Stadt auf und berichtet von einigen der Musiker, die in seiner Band spielten, unter ihnen etwa der Bassist Ivory Williams und der Trompeter Joe Guy, der eine Weile Billie Holidays Ehemann war. Er berichtet über sein Privatleben, Frau und Kinder, sowie über die Bürgerrechtsbewegung, die insbesondere in den amerikanischen Südstaaten alles verändern sollte.

Doc Evans’ Autobiographie ist mehr als ein musikalisches Fallbeispiel. In Zusammenarbeit mit Burgin Mathews gelingt es ihm, gelebte Geschichte erfahrbar zu machen. Er erzählt Hintergründe, die in vielen Jazzbüchern ausgeblendet werden, weil Realität Geschichte zu profan scheinen lassen kann. Das alles gelingt ihm in einem lockeren, sehr persönlich gehaltenen Ton, der die Lektüre seines Buchs zu einem Lesevergnügen werden lässt.

Wolfram Knauer (August 2014)


 

Creole Trombone. Kid Ory and the Early Years of Jazz
von John McCusker
Jackson/MS 2012 (University Press of Mississippi)
250 Seiten, 30 US-Dollar
ISBN: 978-1-61703-626-2

2012mccuskerKid Ory, meint John McCusker zu Beginn seiner Biographie, sei     ein von der Jazzgeschichte zu Unrecht vernachlässigtes Brückenglied zwischen Jazzpionieren wie Buddy Bolden und späteren Jazzstars wie Louis Armstrong. Der Autor hat sich vor allem als Journalist und Fotograf für die New Orleans Times-Picayune einen Namen gemacht. Für sein Buch recherchierte er im Hogan Jazz Archive der Tulane University, konnte aber auch auf Manuskripte der Autobiographie Edward Kid Orys zurückgreifen, die ihm dessen Tochter Babette zur Verfügung stellte.

Kspan style=”font-size:10.0pt;font-family:”Arial”,”sans-serif”; mso-ansi-language:DE”>id Ory wurde 1886 auf der Woodland Plantation geboren, etwa 25 Meilen stromaufwärts von New Orleans. McCusker beschreibt die Lebens- und Arbeitsbedingungen auf der Zuckerrohrplantage nach Abschaffung der Sklaverei. Er zeichnet die Herkunft der Vorfahren Orys nach, seines weißen Vaters, Sproß einer ehemaligen Sklavenhalterfamilie, sowie seiner Mutter, einer hellhäutigen Mulattin. Ory hatte sich selbst immer als Kreolen bezeichnet, was neben der Hautfarbe vor allem die Beschreibung kultureller Identität beinhaltete. Als Kind konnte er in den Gemeinden um sein Heimatdorf Kirchen- und Volkslieder hören, die meist auf Französisch gesungen wurden. James Brown Humphrey, der Leiter der Onward Brass Band, kam regelmäßig ins New Orleanser Hinterland, um den Brass Bands in den Dörfern und Plantagen ein ordentliches Repertoire zu vermitteln. All dies trug zur musikalischen Sozialisation Orys bei, der zuallererst Fan war, begeistert von der Musik, die er da hörte, die er mit Freunden nachsang, mit denen er außerdem archaische Zigarrenschachtelgeigen und -gitarren baute, während er sehnsüchtig darauf sparte, sich einmal ein richtiges Instrument leisten zu können.

Edward Orys Mutter starb, als er 14 Jahre alt war, sein Vater ein Jahr später. Der Junge lebte mit seinen Schwestern, arbeitete in einem Sägewerk und spielte in seiner Freizeit Gitarre. In einem Saloon ließ jemand den Hut herumgehen, als er den Blues spielte, und er stellte erstaunt fest, dass das Geld, das da reinkam, mehr war als er in zwei Monaten verdient hatte. 1905 reiste er zum ersten Mal nach New Orleans, wo er sich eine Ventilposaune kaufte. Die Stadt machte großen Eindruck auf ihn, noch mehr aber beeindruckte ihn sein erstes Treffen mit Buddy Bolden. McCusker beschreibt das musikalische Leben im New Orleans jener Jahre, Picknicks und Konzerte im Lincoln Park, Tanzveranstaltungen in der Masonic Hall, intensive Gottesdienste in den “Holly Roller”-Kirchen der Pfingstkirchler. Ory hörte alle möglichen Bands, aber die blues-getränkte Musik Boldens gefiel ihm am besten. 1907 zog er endgültig in die Mississippi-Metropole und schaffte es bald, seiner jungen Band ein Engagement im Lincoln Park zu verschaffen.

McCusker beschreibt die Spielorte für die Band, nennt Bandmitglieder wie Ed Garland und Johnny Dodds sowie Kollegen wie Freddie Keppard. Die Musikszene in New Orleans umfasste Brass Bands und Tanzorchester, Creole Bands, deren Mitglieder Noten lesen konnten, und Gut-Bucket Bands, die das nicht beherrschten. Zeitzeugen erzählen, dass es Ory, der sich 1909 eine Zugposaune gekauft und in der Folge seine Spieltechnik verändert hatte, damals gelungen sei, selbst einen Walzer “hot” klingen zu lassen. Die Stadt war reich Kneipen und Bordellen im Storyville-Viertel der Stadt; McCusker beschreibt die vielen “Charaktere”, und er stellt Orys eigene Aussage in Frage, ein Verhältnis mit Lulu White gehabt zu haben, der bekanntesten Zuhälterin vor Ort.

1913 hörte Ory Louis Armstrong in der Waisenhaus-Band, in der Satchmo damals seine ersten musikalischen Erfahrungen machte, und ließ ihn für ein paar Stücke einspringen. Um 1916 kam Joseph Oliver als Kornettist zu Ory, und gemeinsam entwickelten sie eine neue Art des Zusammenspiels, die sich erheblich von dem unterschied, was noch Buddy Bolden gemacht hatte. 1917 spielte die Original Dixieland Jazz Band ihre ersten Aufnahmen in New York ein, und McCusker erzählt entlang der ihm vorliegenden autobiographischen Notizen, wie das Bandkonzept der ODJB auch Ory beeinflusst habe. Das Rotlichtviertel wurde 1917 geschlossen; Oliver verließ die Stadt 1918, um nach Chicago zu gehen, und Ory ersetzte ihn durch den jungen Armstrong.

Neben der Schließung des Rotlichtviertels, neben dem allgegenwärtigen Rassismus im Süden und neben den besseren Löhnen, die man im Norden erzielen konnte, führt McCusker auch die Prohibition ins Feld, die die Kneipenszene in New Orleans verwandelte und vielen Musikern Auftrittsmöglichkeiten nahm. Ory blieb noch eine Weile, entschloss sich dann aber im August 1919 den Zug nach Los Angeles zu besteigen. Die nächsten sechs Jahre lebten er und seine Frau in Kalifornien, wo sie eine lebendige Musikszene entlang der Central Avenue in Los Angeles, aber auch an der Barbary Coast von San Francisco oder in Oakland vorfanden. Er arbeitete für die Spikes Brothers, Johnny und Reb Spikes, die damals wichtigsten Konzertorganisatoren an der Westküste, und spielte im Mai 1922 seine legendären ersten Plattenaufnahmen ein. 1925 frugen sowohl King Oliver wie auch Louis Armstrong bei Ory an, ob er nicht Lust hätte, ihren jeweiligen Bands beizutreten, die in Chicago spielten. Oliver brauchte Ersatz für seine Dixie Syncopators, und Armstrong einen regelmäßigen Posaunisten für seine Hot Five, die ja nur eine Studioband war. McCusker hört sich etliche der frühen Hot-Five-Aufnahmen an, und findet, dass es vielleicht gerade die archaische Rohheit Orys Posaune war, die diesen Aufnahmen ihren besonderen Charme verliehen. Daneben spielte der Posaunist mit Oliver und diversen anderen Bands und nahm außerdem Unterricht bei einem in Böhmen geborenen Posaunisten. Er ging mit Jelly Roll Morton und Johnny Dodds ins Studio und kehrte gegen Ende des Jahrzehnts zurück nach Kalifornien.

Hier hört McCuskers Geschichte auf, dem es vor allem um die prägende Zeit ging, jene Jahre, in denen Orys eigener Stil geprägt wurde und jene, in denen er dem Jazz seine eigene Prägung aufdrückte. Seltene Fotos ergänzen das Buch, kurze Auszüge aus dem autobiographischen Manuskript (das im Text selbst ebenfalls immer wieder länger zitiert wird) sowie die Lead Sheets für fünf von ihm nie aufgenommenen Kompositionen, unter anderem einem skurrilen Stück von 1942 mit dem Titel “Mussolini Carries the Drum for Hitler”.

“Creole Trombone” ist eine exzellente Studie zum frühen Jazz in New Orleans. John McCusker gelingt es sowohl Kid Orys Biographie in eine lesbare und nachempfindbare Linie zu bringen als auch dem Leser ein Gefühl für das Musikleben in New Orleans zu vermitteln, in dem Ory und andere Musiker seiner Generation ihr Auskommen finden mussten. Seine Mischung aus historischer Recherche, biographischen und autobiographischen Zitate sowie einem nüchternen, vorsichtig sich der Materie annähernden Stil, der jede Art von Heldenverehrung möglichst vermeidet, macht das Buch zu einer klugen Lektüre, die einen auch dort viel über die Musik lernen lässt, wo der Journalist McCusker über diese selbst eigentlich eher wenig schreibt.

Wolfram Knauer (Juni 2014)


Michel Petrucciani. Leben gegen die Zeit
von Benjamin Haley
Hamburg 2012 (edel)
288 Seiten, 29,95 Euro
ISBN: 978-3-8419-0174-3

2012haleyRoberto Saviano, der italienische Journalist und Camorra-Jäger, beginnt das Buch über Michel Petrucciani mit einer kurzen, eindringlichen Biographie des Künstlers, der Schilderung einer Karriere, die es nicht geben dürfte, weil der Künstler mit der Glasknochenkrankheit doch eigentlich nie Klavier hätte spielen können, die aber umso eindringlicher war, weil er eben nicht als behinderter Virtuose, sondern als Vollblutmusiker anerkannt und bewundert wurde, wo immer er auftrat. Michel Petruccianis Sohn Alexandre schreibt im Vorwort über seinen Vater: “Er war lustig, lachte stets und war sehr gelassen. Obwohl ihm das Leben nicht gerade die besten Karten in die Hand gegeben hatte, um trumpfen zu können. (…) Er hat dem Leben diesen Humor und diese mitreißende Freude entrissen, die man in der Mehrzahl seiner Kompositionen erlebt.”

Der Autor und Musikwissenschaftler Benjamin Haley begegnete Michel Petrucciani erstmals 1995, als er in kontaktierte, weil er seine Magisterarbeit über den Pianisten schreiben wollte. Aus dem Kontakt entstand eine Freundschaft und, spätestens nach dem Tod des Pianisten, das Verlangen, dessen Leben zwischen künstlerischem Wollen und den Problemen des Alltags zu schildern. Für die vorliegende Biographie griff Haley auf eigene und bereits publizierte Interviews mit dem Pianisten zurück, führte daneben aber auch viele Gespräche mit Familienmitgliedern, Freunden und Kollegen Petruccianis.

Haley beginnt seine Erzählung mit der Schilderung, wie der vierjährige Michel seine Eltern durch sein außergewöhnliches Gehör davon überzeugte, ihm erst ein Spielzeugklavier, dann ein richtiges Instrument zu besorgen. Sein Vater baute dem wachstumsgestörten Jungen eine Konstruktion, mithilfe derer er die Pedale erreichen konnte und ermunterte ihn darüber hinaus, sein Talent zu pflegen. Der Vater liebte Jazz, und als er eine Musikalienhandlung eröffnete, stellte er sicher, dass es darin auch ein Musikzimmer gab, in dem Michel üben konnte. “Ich bin nicht besonders begabt”, erklärte Michel später, “ich habe meinem Instrument nur unheimlich viel Zeit gewidmet.”

Wie erzählt man die Biographie eines so kurz gelebten Lebens? Benjamin Haley hat sich entschlossen, sie in Episoden zu erzählen. Nach dem Kindheitskapitel folgt eines über Michels Freund Manhu Roche, der ihm ein Schlagzeugset baute und ihn auf etlichen seiner Reisen begleitete. Ein weiteres Kapitel ist den Begegnungen mit großen Musikern gewidmet, Kenny Clarke etwa, Aldo Romano, Barre Phillips, aber auch einigen seiner Agenten und Produzenten. Anfang der 1980er Jahre nahm ein amerikanischer Freund Petrucciani mit nach Kalifornien und führte ihn in die Künstlerszene Big Surs ein. Der Saxophonist Charles Lloyd, der ihn dort kennenlernte, war von Petruccianis Kunst so bewegt, dass er , der sein Instrument fünf Jahre lang kaum mehr berührt hatte, ein Comeback anging. Petrucciani war schnell auch in den USA als Duopartner gefragt, spielte mit Lloyd, mit Lee Konitz, mit Charlie Haden. Er zog nach New York, trat mit seinem eigenem Trio auf, begleitet aber auch beispielsweise die Sängerin Sarah Vaughan oder spielte mit Dizzy Gillespie, David Sanborn, Stan Getz und vielen anderen.

Haley erzählt etliche der Anekdoten, von viele um den Pianisten existieren. Wie dieser die Hells Angels in Kalifornien mit Absicht gereizt habe, um dann auf einem Motorrad vornedrauf eine Runde mitzudrehen. Wie er Whitney Houston im Flieger zur Grammy-Verleihung kennengelernt habe und ihr dann in ihrem Hotelzimmer vorgespielt habe. Wie Oscar Peterson ihn erst habe abblitzen, sich dafür Jahre später aber mit Tränen in den Augen entschuldigt habe. Es sind Geschichten eines Menschen, dessen Schicksal viele betroffen machte, dessen Musik sie aber noch viel mehr berührte. Es sind Geschichten eines rastlosen Lebens zwischen den USA und Europa, eines Künstlers, der sich der Musik geweiht hatte, der daneben aber frech und lebensfroh war, Frauen genauso liebte wie gutes Essen oder Wein, der seine Prominenz genoss, weil sie ihm zeigte, dass er den Erwartungen aller ein Schnippchen geschlagen hatte.

Haleys Buch behält dabei neben allem Biographischen einen zutiefst persönlichen Ansatz, ist einem Freund gewidmet, lässt den Leser hinter die Fassade blicken. Zum Schluss finden sich einige Briefe Petruccianis an seinen Freund Manhu Roche sowie ein Ausblick auf das Nachwirken des Künstlers, der auf dem Père Lachaise in Paris nur wenige Schritte von der letzten Ruhestätte Frédéric Chopins entfernt begraben liegt.

Und als Anhang hat sich der deutsche Verlag entschlossen Petrucciani-Interviews von Ben Sidran sowie von Karl Lippegaus hinzuzufügen, der außerdem eine kommentierte Diskographie beigibt. Lippegaus ist auch der Übersetzer dieses Buchs, das nicht nur Michel-Petrucciani-Fans ans Herz gelegt sei. “Leben gegen die Zeit” erzählt weit mehr erzählt als “nur” eine Musikergeschichte. Es erzählt von der Kraft der Musik, vor allem aber von der Kraft eines mutigen, trotzigen und starken Mannes.

Wolfram Knauer (Juni 2014)


 

Sound Diplomacy. Music & Emotions in Transatlantic Relations 1850-1920
von Jessica C.E. Gienow-Hecht
Chicago 2012 (University of Chicago Press)
333 Seiten, 30 US-Dollar
ISBN: 978-0-226-29216-8

2012gienowKulturdiplomatie scheint ein Thema zu sein, das erst im Kalten Krieg entwickelt wurde, tatsächlich aber spielten kulturelle Beziehungen schon viel länger eine wichtige Rolle im politischen Geschäft, wie Jessica C.E. Gienow-Hecht in ihrem Buch über die kulturellen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland belegt. Während Frankreich auf diesem Gebiet vor allem in den Bildenden Künsten reüssierte und England allein der Sprache wegen eng mit den USA verbunden war, fokussierte sich die deutsch-amerikanische Freundschaft in den von Gienow-Hecht untersuchten Jahren 1850 bis 1920 vor allem auf die klassische Musik, und innerhalb dieser insbesondere auf Sinfonieorchester und ihre Dirigenten. Die Autorin interessieren vor allem die Konnotationen, Emotionen also, die sich mit deutscher Musik verbanden, ein seltsames Konzept von Männlichkeit und Zivilisation, das, ihrer Analyse zufolge, zumindest einen großen Teil der euro-amerikanischen Identität stark prägte.

Gienow-Hecht beginnt ihre Studie in den 1850er Jahren, als die ersten Weltausstellungen nicht nur Warenmessen waren, sondern zugleich zu kulturellen Vergleichen animierten, neugierig machten auf fremde oder aber auf die Verwandtschaft der eigenen mit anderen Kulturen. Sie endet ihr Buch mit der Enttäuschung Amerikas über Deutschland in Folge des I. Weltkriegs und verweist im Epilog auf die Folgen der amerikanisch-deutschen Musikbeziehungen insbesondere nach dem II. Weltkrieg.

Thema ihres Buches ist zugleich die Beschreibung einer nationalen Musikkultur in Deutschland, die gerade im Dialog des kulturellen Transfers, in ihrer Spiegelung durch die amerikanische Rezeption als nationale kulturelle Identität besonders deutlich wird, und die Entwicklung einer anderen kulturellen Identität in den USA, die ihre eigene nationale Farbe im Vergleich entwickelt und am Beispiel misst. Ihr Buch betrachtet allerdings recht einseitig vor allem die Faszination amerikanischer Musiker und Hörer mit den deutschen Traditionen zwischen Beethoven und Wagner und erwähnt einzig in einer Fußnote die Tatsache, dass es bereits in derselben Zeit auch die gegenläufige Faszination europäischer Musiker und Hörer an amerikanischer Musik gab – allerdings nicht an amerikanischer Konzertmusik europäischer Provenienz, sondern an den archaischer wirkenden Spirituals der Fisk Jubilee Singers oder Unterhaltungsmusik reisender Minstrelgruppen.

Für die Jazzforschung lässt sich aus Gienow-Hechts Studie vor allem lernen, wie sie Subtexte der bi-nationalen Musikrezeption herauszuarbeiten versucht, Konnotationen beschreibt, nach ihren Ursachen fragt und ihre Auswirkungen betrachtet. Auch in der einseitigen Ausrichtung auf die amerikanische Rezeption deutscher Musik allerdings lässt sie einige Kapitel aus, die wenigstens am Rande erwähnenswert gewesen wären: die vielen Gesangsvereine etwa, die von Wisconsin bis Louisiana deutsches Musikbrauchtum pflegten zu einer Zeit, als die Unterscheidung zwischen E und U, zwischen hoher und niederer Musik noch nicht so ausgeprägt war wie im Zeitalter der Musikindustrie.

Alles in allem, eine sorgfältige Studie, die den Leser nichtsdestotrotz zu weiteren Fragen animiert, etwa nach genaueren Informationen über das Publikum, nach der Rezeption innerhalb anderer ethnischer Gruppen in den USA (also italienischen, französischen, irischen Einwanderern) und nicht zuletzt nach den Auswirkungen auf die Wahrnehmung indigener (also indianischer) oder anders-fremder (also afrikanischer bzw. afro-amerikanischer) Kulturtraditionen. Wer eine Abhandlung über gezielte politische Entscheidungen erwartet, mit Kultur Politik zu machen, wie der Titel des Buchs, “Sound Diplomacy”, wie aber vor allem unser Verständnis einer Kulturdiplomatie nach dem II. Weltkrieg erwarten lässt, wird enttäuscht. Gienow-Hecht zeigt stattdessen, wie Kultur als Sympathieträger genutzt wird, um bereits bestehende Bindungen zu stärken, und wie außermusikalische Konnotationen erkannt und genutzt werden – von amerikanischen Verteidigern europäischer Kulturtraditionen genauso wie von den europäischen Musikern und Dirigenten, die Amerika als einen großen Markt erkannten.

Wolfram Knauer (Mai 2014)


 

Jazz / Not Jazz. The Music and Its Boundaries
herausgegeben von David Ake & Charles Hiroshi Garrett & Daniel Goldmark
Berkeley 2012 (University of California Press)
301 Seiten, 36,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-520-27104-3

2012akeEine sinnvolle Definition eines Gegenstandes erhält man erst, wenn man seine Ränder beschreiben kann, wenn man also weiß, was er nicht ist. Die Frage, ob ein musikalischer Ausdruck von uns als Jazz oder nicht als Jazz beschrieben wird, sagt dabei zugleich etwas über unsere eigene ästhetische Position aus. “Jazz / Not Jazz” untersucht diese Randbereiche der Jazzdefinition, um sich so dem Gegenstand, dem Jazz selbst also, besser nähern zu können. Die Herausgeber siedeln ihr Buch dabei im Bereich der “new jazz studies” an, die den Gegenstand der Forschung immer im Kontext zu parallelen Entwicklungen, gesellschaftlichen Einflüssen, ästhetischen Zwängen oder den Auswirkungen künstlerischer Entscheidungen sehen.

Eric Porter blickt in seinem ersten Kapitel auf Strategien der Vereinnahmung bzw. der Distinktion in der Jazzgeschichte und der Jazzgeschichtsschreibung. Es geht um Stilvielfalt, um Akzeptanz bestimmter Entwicklungen oder der Abgrenzung anderer, um Inklusion und Exklusion sowohl innerhalb des amerikanischen Jazz als auch im globalen Verständnis von Jazz. Elijah Wood beginnt sein Kapitel mit dem Erstaunen über eine Aussage Louis Armstrongs, der in einem Blindfold Test seine unumschränkte Bewunderung für Guy Lombardo kundtat, der von der Jazzkritik eher als “King of Corn” abgetan wurde. Was, fragt Wald, faszinierte Armstrong so an Lombardos Musik, dass in seinen Aufnahmen aus den späten 1920er, frühen 1930er Jahren etwa der Klang des Saxophonsatzes deutlich an Lombardo orientiert war? Tatsächlich zeigten auch andere schwarze Bandleader Gefallen am Stil des weißen Kollegen, unter ihnen selbst Duke Ellington und Jimme Lunceford. Wald vergleicht den Einfluss Lombardos mit dem klassischer Musik auf viele der frühen Jazzmusiker und betrachtet vor diesem Hintergrund dann auch gleich noch die klassischen Erfahrungen Satchmos etwa mit Erskine Tates Orchestra.

Charles Hiroshi Garrett untersucht die humoristische Seite des Jazz, um anhand dieser Kategorie Veränderungen im Verhältnis der Musiker und ihres Publikums zu analysieren. Ken Prouty betrachtet die neuen, virtuellen Jazz Communities und ihr ästhetisches Verständnis dessen, was Jazz ist und was nicht. Er nimmt sich Plattformen wie Wikipedia oder All About Jazz vor, und analysiert neben den konkreten Inhalten auch die Veränderungen und Kommentare auf solchen Seiten. Christopher Washburn blickt auf das Phänomen das Latin Jazz und die unterschiedlichen Lokalisationen dieser Musik zwischen Afrika, Cuba, der Karibik und Lateinamerika und diskutiert das Selbstverständnis des Lincoln Center Afro-Latin Jazz Orchestra unter Leitung von Arturo O’Farrill sowie des Perkussionisten Ray Barretto.

John Howland vergleicht die unterschiedlichen Ansätze an Streicherarrangements im Jazz, von Adolph Deutschs Arrangement zu “Clap Yo’ Hands” für Paul Whiteman über Sy Olivers Arrangement zu “Blues in the Night” für Artie Shaw und Pete Rugolos “Lonesome Road” für Stan Kenton bis zu Jimmy Carrolls “Just Friends” für Charlie Parker. Daniel Goldmark diskutiert das Marketingproblem “Genre” anhand des Labels Atlantic Records und seiner Aufnahmen des Dudelsackspielers Rufus Harley und der Saxophonisten Yusef Lateef und Rahsaan Roland Kirk. Tamar Barzel     beleuchtet Kompositions- und Improvisationsprozesse der New Yorker Downtown-Szene um John Zorn. Loren Kajikawa geht in seinem Beitrag von der politischen Bedeutung schwarzer Musik für den Black Revolutionary Nationalism aus und fragt nach ähnlichen Bezügen im asiatisch-amerikanischen Jazz.

Jessiva Bissett Perea fragt nach dem Stand der Jazzgesangsausbildung im Nordwesten der USA. David Ake diskutiert die unterschiedlichen Lernmethoden der Schule und der Straße, die Legenden, die sich um beide Wege zum Jazz ranken sowie die Auswirkungen dessen, wie man Musik lernt, auf die eigene Musik, ihre Ästhetik und die Art und Weise, wie sie rezipiert wird. Sherrie Tucker schließlich stellt die übliche Darstellung der Jazzgeschichte in Frage, indem sie den Blick insbesondere auf die Rolle von Frauen im Jazz richtet, und dabei nicht allein die bekannten Musikerinnen betrachtet, sondern auch Beispiele gibt, die in Jazzbüchern kaum genannt werden. Sie nimmt diesen “anderen” Blick auf den Jazz zum Anlass, sich generell mit Fragen des Forschungsinteresses im Jazz zu befassen.

“Jazz / Not Jazz” ist ein überaus anregendes Buch, das sehr unterschiedliche Ansätze versammelt, denen allen gemein ist, dass sie auf die Randbereiche dessen schauen, was wir sonst in Jazzgeschichtsbüchern oder selbst in den meisten wissenschaftlichen Publikationen über den Jazz lesen.

Wolfram Knauer (April 2014)


Oltre il Mito. Scritti sul linguaggio del Jazz
von Maurizio Franco
Lucca 2012 (Libreria Musicale Italiana)
151 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978-88-7096-710-4

2012francoMaurizio Franco ist ein italienischer Musikwissenschaftler, der in dem vorliegenden Buch diverse Aufsätze zu Jazzgeschichte, -ästhetik und -pädagogik zusammenfasst.

Das Eingangskapitel seines Buchs befasst sich mit Sound und der Sprache des Jazz, wobei er die Soundcharakteristiken des Jazz sowohl mit solchen aus klassischer Musik vergleicht als auch mit ähnlichen Phänomenen etwa aus der Bildenden Kunst (Klangfarbe).

Zwei Kapitel widmen sich vorrangig der Improvisation: einmal dem improvisatorischen Zusammenspiel und der musikalischen Kommunikation im Ensemble; zum anderen den kreativen Prozessen, die im Improvisationsprozess stattfinden. Konkrete Beispiele untersucht er etwa anhand von Louis Armstrongs Aufnahme “Potato Head Blues” oder dem Mythos Charlie Parkers und der Realität des Bebop.

Er nähert sich der Personalstilistik Thelonious Monks und fragt nach dem Einfluss afrikanischer wie afro-lateinamerikanischer Musik auf den Jazz. Django Reinhardt erhält ein eigenes Kapitel, in dem Franco die Fusion, die dem Gitarristen zwischen Jazz und seinen eigenen Traditionen gelang, in Verbindung bringt zu späteren Projekten etwa von Anouar Brahem oder Rabih Abou-Khalil.

Die Musik Giorgio Gaslinis untersucht er im Hinblick auf die Verwendung von Dodekaphonie in seinen Kompositionen, die Musik Enrico Intras (und Luciano Berios) im Hinblick auf die Verbindungen zur elektroakustischen Musik ihrer Zeit.

In zwei abschließenden Kapiteln beschäftigt er sich dann noch mit Aspekten aktueller Jazzforschung und neuen Ansätzen für eine zeitgemäße Jazzdidaktik.

Francos Aufsätze bieten einen interessanten Einblick in einen Teil der italienischen Forschungsdiskussion (ja, es gibt nationale Unterschiede in den Ansätzen!). Sie sind Argumente in einem wissenschaftlichen Diskurs, was sich zumindest teilweise auch in der Komplexität der Texte niederschlägt. In der Gesamtheit aber ist es allemal eine bunte Mischung unterschiedlicher Ansätze, die zum weiteren Nachdenken anregt.

Wolfram Knauer (September 2013)


Rebelse Ritmes. Hoe jazz & literatuur elkaar vonden
von Matthijs de Ridder
Antwerpen 2012 (De Bezige Bij Antwerpen)
373 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-90-8542-315-7

2012deridder“Rebellische Rhythmen” nennt Matthijs de Ridder sein Buch, das eine Art kulturgeschichtlichen Abriss des Jazz im 20sten Jahrhundert versucht und im Untertitel das Aufzeigen von Parallelen in Jazz und Literatur verspricht.

De Ridder interessiert sich vor allem für Beispiele aus der Jazzgeschichte, die gesellschaftlichen Wandel reflektieren. Er beginnt mit einem Kapitel über James Reese Europe, der – nomen est omen – den alten Kontinent mit einer neuen Art zu Musizieren konfrontierte. Er nähert sich dem Jazz in verschiedenen europäischen Ländern zwischen den Weltkriegen sowie der Faszination mit dieser Musik in literarischen Zeugnissen nationaler wie internationaler Autoren und betrachtet dabei konkret Belgien, Polen, die Tschechoslowakei, England, Italien, Frankreich, Dänemark und die Niederlande.

Ein Kapitel mit der Überschrift “Black, Brown en Bebop” widmet sich Duke Ellingtons Versuch, schwarze Geschichte in Musik zu fassen, als Einschub aber auch dem dunklen Kapitel der Band Charlie and his Orchestra in Hitler-Deutschland. De Ridder betrachtet Lyrik der 1940er und 1950er Jahre, die den existenzialistischen Geist nach Belgien und in die Niederlande trug. Er schreibt über die 1960er Jahre, als der Jazz auch als ein Symbol für die Bürgerrechtsbewegung gesehen wurde und er gibt Beispiele von Dizzy Gillespie über Charles Mingus, Max Roach bis Archie Shepp (und LeRoi Jones, um wieder zur Literatur zu leiten).

In einem weiteren Kapitel verbindet De Ridder die europäische Free-Jazz-Bewegung und ihre Reflexion in der Literatur der Zeit mit den 68er-Protesten. Er betrachtet die amerikanische Jazzdiplomatie von Louis Armstrong, Dave Brubeck und anderen, die für das amerikanische State Department auf Tournee in Ostblockländer geschickt wurden. Er befasst sich mit dem Protestpotential, das sich in Verbindung von Jazz und Literatur hinter dem Eisernen Vorhang entwickelte, verweist dabei insbesondere auf die Jazzsektion des tschechischen Musikerverbandes in Prag und auf Josef Skvoreckys Roman “Das Basssaxophon”. In den Jahren nach 9/11 ist ihm Gilad Atzmon und seine Vorstellung eines “musikalischen Jihad” ein eigenes Kapitel wert, das ihn bis in die jüngste Gegenwart bringt.

Matthijs de Ridders Buch wirkt im Versuch des Autoren, die gesellschaftliche Relevanz des Jazz nachzuzeichnen und zugleich Verbindungen zur literarischen Reflexion auf Jazz und Gesellschaft aufzuweisen, ein wenig wie “nicht Fisch, nicht Fleisch”. Man vergisst das jeweils andere Thema seitenweise, zumal die Beispiele, die er auswählt, durchaus repräsentativ sind und er sie interessant darstellt, und zwar sowohl die Beispiele aus der Jazzwelt wie auch jene aus der Welt der Literatur, in der neben bekannten Autoren wie Boris Vian, Paul van Ostaijen, Jean Cocteau, Claude McKay auch eine Reihe etwa belgischer oder niederländischer Autoren, die diesem Rezensenten beispielsweise bislang unbekannt waren. Es gibt also durchaus etwas zu entdecken zwischen den rebellischen Rhythmen dieser Buchseiten.

Wolfram Knauer (August 2013)


Mixed Messages. American Jazz Stories
von Peter Vacher
Nottingham 2012 (Five Leaves Publications)
314 Seiten, 14,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-907869-48-8

2012vacherPeter Vacher schreibt seit den 1970er Jahren für britische Jazzmagazine wie Jazz Journal und andere. In “Mixed Messages” hat er einundzwanzig Interviews mit amerikanischen Jazzmusikern zusammengefasst, die teils bekannter, weitgehend aber auch gar nicht so bekannt sind, die meisten von ihnen Musiker der älteren Generation, fast alle tätig im Genre des traditionellen oder des swingenden Mainstream-Jazz.

Der Posaunist Louis Nelson erzählt über das New Orleans der 1930er und 1940er Jahre; der Bassist Norman Keenan über die Bands von Tiny Bradshaw und Lucky Millinder. Der Trompeter Gerald Wilson spricht über Einflüsse, Arrangementkonzepte und die Szene in Los Angeles, der Trompeter Fip Ricard über Territory Bands und Count Basie.

Ruby Braff äußert sich über Boston, den Jazz im Allgemeinen und Wynton Marsalis; Buster Cooper über seine Zeit mit Lionel Hampton und Duke Ellington. Ellington spielt auch im Interview mit dem Trompeter Bill Berry eine große Rolle, Hampton und Basie wiederum in den Erzählungen des Posaunisten Benny Powell.

Der Saxophonist Plas Johnson erzählt über den “Chitlin’ Circuit”, den er mit Johnny Otis und anderen Bands tourte, der Pianist Ace Carter über die Jazzszene in Cleveland, Ohio. Der Saxophonist Herman Riley berichtet über sein Leben und seine Arbeit in New Orleans und Los Angeles, der Saxophonist Lanny Morgan über seine Arbeit mit Maynard Ferguson.

Der Pianist Ellis Marsalis spricht über die moderne Jazzszene in New Orleans; der Saxophonist Houston Person über Orgel-Saxophon-Combos und seine Zusammenarbeit mit Etta Jones. Der Posaunist Tom Artin erzählt von seinen Erfahrungen auf der traditionellen Jazzszene der USA, der Trompeter von der Toshiko Akiyoshi Big Band und einem Engagement mit Bobby Short.

Der Bassist Rufus Reid nennt J.J. Johnson als role model, der Saxophonist John Stubblefield reflektiert über eine Karriere zwischen Don Byas, Charles Mingus und AACM. Judy Carmichael erzählt, wie sie dazu kam, Stride-Pianistin zu werden, Tardo Hammer über den Einfluss Lennie Tristanos. Der Trompeter Byron Stripling schließlich sagt, was er von Clark Terry lernte, wie es war mit Count Basie zu spielen, und warum die Jazzpädagogik ein wichtiges Instrument sei, das Wissen der großen Jazzmusiker weiterzureichen.

“Mixed Messages” ist eine abwechslungsreiche Sammlung von Erinnerungen an jazzmusikalische Aktivitäten, persönliche Erlebnisse und musikalische Erfahrungen. So “mixed”, wie der Buchtitel impliziert, sind die Botschaften der darin portraitierten Musiker allerdings gar nicht, dafür ist das stilistische Spektrum denn doch zu stark auf Musiker des swingenden Jazz beschränkt. Eine erkenntnisreiche Lektüre aber auf jeden Fall.

Wolfram Knauer (August 2013)


 

Vinyl. A History of the Analogue Record
von Richard Osborne
Farnham, Surrey 2012 (Ashgate)
213 Seiten, 55 Britische Pfund
ISBN: 978-1-4094-4027-7

2012osborneErst wurde der Schallplatte mit dem Aufkommen der CD der Tod vorausgesagt, dann die CD durch MP3 und Downloads verdrängt. Seltsamerweise aber besteht jenes alte Musikspeichermedium weiterhin fort, und auch in Zeiten digitaler Archivierung resümieren die Experten: digital, okay, aber wir wissen nicht wie lang es hält; eine Schellackplatte dagegen ist erwiesenermaßen auch nach über 100 Jahren noch abspielbar. Richard Osborne widmet seine Studie der Analogschallplatte in jeder Form, denn auch wenn der Titel auf “Vinyl” verweist, schließt seine Darstellung auch die Vorgänger mit ein.

Osborne beginnt mit dem Patent für die Tonaufzeichnung über das Erstellung von Rillen und erklärt die Unterschiede der Erfindungen von Emile Berliner und Thomas Edison. Schon 1905 wurde in französischen Gerichten über das Urheberrecht bezüglich Schallaufzeichnungen gestritten, wobei das Argument dahin ging, dass, was auf Schallplatten an Texten vorhanden war, mit einer Lupe und entsprechender Übung zu lesen sein müsste, und daher das literarische Urheberrecht auch für Tonträger zu gelten habe. Im Kapitel über die Rille (“the groove”) reflektiert Osborne aber auch über Substantiv und Verb (the groove, to groove), über den rhythmischen Drive, der bei der rotierenden Schallplatte auditiv wie visuell wahrgenommen werden könne, über Experimente mit Schallplatten zwischen musique concrète und HipHop sowie über “Tod und den Groove”, die Tatsache also, dass man die Rillen der schwarzen Scheibe auch zu Tode hören könne.

Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit dem Format des Tonträgers Schallplatte zwischen Zylinder und Schellackplatte unterschiedlicher Größe. Es geht um die Labelgestaltung, wobei beim Label genau das gemeint ist, der Aufkleber in der Mitte der beiden Plattenseiten, die anfangs nur reine Information über das auf der Platte Enthaltene weitergab und später mehr und mehr zur Identifikation des “Labels”, also der Plattenfirma, wurde.

In den 1930er Jahren fand der neue Stoff Polyvinylchlorid Eingang in die Plattenindustrie und wurde zum Beispiel für die Produktion von Rundfunksendungen benutzt. Das Material war härter, erlaubte engere Rillen und konnte daher mehr Musik speichern. Anfang der 1940er Jahre wurde Schellack rationiert und daher presste man die legendären V-Discs der Kriegstage auf Vinyl; im Anschluss experimentierte das Label RCA mit Vinylproduktionen auch für kommerzielle Veröffentlichungen. Osborne erklärt ganz allgemein die Produktion von Platten von der Aufnahme bis zum fertigen Produkt, diskutiert die Auswirkungen der Plattenproduktion auf die Haltung der Künstler unterschiedlicher Genres, aber auch Reaktionen des Publikums und Weiterentwicklungen der Industrie.

Ein eigenes Kapitel widmet er dem Phänomen der Langspielplatte. Osborne beschreibt, wie längere Stücke Musik vor dem Zeitalter der LP präsentiert wurden, nennt Beispiele für Langspielplatten vor dem Zeitalter der Microgroove-LPs, die ersten Vinyl-LPs für Columbia und die britische EMI und diskutiert konkrete Beispiele, etwa die Präsentation klassischer Musik oder der Musik von Frank Sinatra auf LP, sowie die Idee des Konzeptalbums im Jazz oder die Probleme und Chancen der “B-Seite”. Neben dem Langspielformat gab es andere Formate, etwa die 45-RPM-Single, die 12-Inch-Single, die Osborne in eigenen Kapiteln behandelt. Schließlich geht er auf die Bedeutung der Covergestaltung für die Schallplatte ein, die weit mehr war als bloß ein Werbeträger, sondern ein Lebensgefühl vermitteln konnte.

Richard Osbornes Buch geht die Geschichte der Schallplatte pragmatisch an, verweist nur dort auf musikalische Genres, wo diese für das Medium oder das Medium für sie von Bedeutung sind. Sein Buch gibt einen brauchbaren Überblick, wirft genügend Fragen auf, beantwortet aber ganz bewusst nicht alle. Natürlich ließen sich das physikalische Aufnahme- und Wiedergabeverfahren noch exakter untersuchen, der gegenseitige Einfluss von Markt und Platte, unterschiedliche Vertriebsstrukturen, der Umgang mit neuen Aufnahmeverfahren, Live versus Studio und vieles mehr an Themen, die hier nur gestreift werden. Osbornes Verdienst ist vor allem sein breiter Ansatz, der Verbindungslinien zwischen Bessie Smith, Hillbilly-Musik, Motown-Sound und HipHop erlaubt und damit die Faszination richtig wiedergibt, die man bis heute in Schallplattenantiquariaten erfahren kann, in denen jede einzelne Scheibe wie eine kraftvolle Aussage wirkt, die im Diskurs der anderen mithalten will und kann. Ein ausführliches Literaturverzeichnis und ein Sach- und Personenindex runden das Buch ab.

Wolfram Knauer (August 2013)


 

Live at Montreux. Portraits
herausgegeben von Joe Bendinelli Negrone
Hamburg 2012 (Ear Books / Edel)
212 Seiten, 2 DVDs, 29,95 Euro
ISBN: 978-3-943573-00-8

2012negroneClaude Nobs gründete das Montreux Jazz Festival 1967 und machte es schnell zu einem der angesehensten Sommerfestivals der Welt. Das gelang ihm nicht nur, weil er mit vielen der Künstler befreundet war, sondern auch, weil er ein gutes Händchen dabei hatte, Plattenfirmen einzubinden, die die Konzerte dokumentierten und den Namen der Veranstaltung in aller Welt bekannt machten.

Auf 2012 Seiten präsentiert das vorliegende Buch Musikerfotos aus all diesen Jahren, in Schwarzweiß genauso wie in Farbe, mit den Musikern meist auf der Bühne, ab und an aber auch abseits der Bühne, vor dem Bandbus etwa (Muddy Waters) oder beim Tennisspielen (Dizzy Gillespie). Je Musiker zwei Seiten, ein Foto und eine knappe biographische Einordnung durch Alex Kandelhardt, das alles ohne erkennbare Ordnung.

Jazzmusiker und Musiker aus Rock, Pop und Soul durcheinander mit klarem Schwergewicht auf den populäreren Stilrichtungen – nicht ganz zu unrecht, hat sich Montreux doch schon lange vom reinen Jazz- zu einem populären …-und-auch-Jazz-Festival gewandelt.

Ein wenig schade ist es aber doch, dass dem Jazz auf den beiheftenden zwei DVDs kaum Tribut gezollt wird, abgesehen von einem Track der Band Weather Report, und weiteren von Nina Simone, George Benson und Quincy Jones. So ist der schwere Prachtband vor allem eine Erinnerung oder ein Coffee-Table-Geschenk an Montreux-Besucher, denen die Genreübergriffe noch nie etwas ausmachten.

Wolfram Knauer (Juli 2013)


 

Yes to the Mess. Surprising Leadership Lessons from Jazz
von Frank J. Barrett
Boston 2012 (Harvard Business Review Press)
202 Seiten, 27 US-Dollar
ISBN: 978-1-4221-6110-4

2012barrettSchon seit einigen Jahren wird Jazzimprovisation auch außerhalb der Musikschulen untersucht, insbesondere im Feld der Organisationswissenschaft, wo Jazz als Modell für besseres Management gehandelt wird. An den Studien beteiligt sind Wissenschaftler und Musiker aus den USA genauso wie aus Europa. Wissenschaftlich wird das Thema meist in Fachzeitschriften und wissenschaftlichen Aufsatzsammlungen abgehandelt, jetzt aber auch in dem eine breitere Leserschaft ansprechenden Buch des “Professor of Management and Global Public Policy” Frank J. Barrett. Der hat auf der einen Seite eine Dissertation über Organisationsverhalten geschrieben, auf der anderen Seite aber auch als Jazzpianist gearbeitet, und zwar nicht nur im Freundeskreis, sondern durchaus mit namhaften Kollegen, etwa als Pianist des Tommy Dorsey [Ghost] Orchestra.

Barrett beginnt mit einem aktuellen Beispiel. Unternehmen, schreibt er, hätten in der Regel Pläne für alles Mögliche, nur richte sich die Realität nicht nach diesen Plänen. Das Umwelt-Disaster von Deepwater Horizon im Golf von Mexiko im April 2010 sei ein Beispiel dafür, wie alle Pläne bei unerwarteten Ereignissen nicht ausreichten und wie die Erfahrungen des Jazz im Unternehmensmanagement dazu beitragen könne, auf Unvorhergesehenes angemessen und produktiv zu reagieren. Barrett beschreibt das Improvisations-Paradox, dass also Jazzmusiker ihr ganzes Leben lang Phrasen und Patterns lernten, nur um diese nach Möglichkeit vergessen zu können, um auf musikalische Situationen angemessen reagieren zu können. Es sei die erlernte Sicherheit der (musikalischen) Sprache, die ihnen letztlich eine angemessene Reaktion erlaube.

In einem eigenen Kapitel ermutigt Barrett Manager, zum Durcheinander zu stehen, das sich aus der Entwicklung neuer Unternehmenskonzepte zwangsläufig ergebe. Auch hier weisen Jazzmusiker den Weg, erklärt er: Egal wie verworren musikalische Situationen erschienen, gelinge ihnen immer ein positiver Weg hin zu neuen Ufern. Barrett analysiert die verschiedenen Kompetenzen, die Jazzmusiker dazu befähigten, miteinander zu improvisieren und aufeinander zu reagieren und versucht aus seinen Beobachtungen Lehrsätze für die Organisationsforschung abzuleiten.

Ein eigenes Kapitel widmet Barrett der Gleichzeitigkeit von Performance und Experiment, dem Anerkennen von Fehlern als Ursache weiteren Lernens. Zwischenüberschriften wie “Taking Advantage of Errors” oder “Constructive Failure” zeigen dabei beispielhaft, wie er versucht, die Jazzerfahrungen ins Managementverhalten zu übersetzen.

In einem strukturkritischen Kapitel versucht er dem geheimnis auf den grund zu gehen, wie man maximaler Autonomie bei minimalen Strukturen erreichen könne. Er analysiert dabei den Zusammenhang zwischen Autonomie und Gruppendynamik auseinandersetzt und verlangt von Vorgesetzten, ihre Mitarbeiter als Individuen ernst zu nehmen.

“Learning and Hanging Out” heißt ein Kapitel, in dem Barrett Lernmuster analysiert, die er als sozialen Prozess beschreibt und als Investition in die Zukunft von Mitarbeitern genauso wie von Unternehmen. “Solo und Begleitung” überschreibt er ein weiteres Kapitel, in dem es darum geht, dass die Führungsrolle selten einem Einzelnen zustehe, wenn man das meiste aus der versammelten Kompetenz eines Unternehmens herausholen wolle. Zum Schluss des Buchs finden dann noch Merksätze, sozusagen “für die improvisierende Führungskraft”.

Barretts Buch ist auf diejenigen Kollegen im Managementbereich gerichtet, die sich mit Möglichkeiten einer anderen, einer inklusiveren und einer arbeitsteiligeren Unternehmungsführung befassen. Tatsächlich aber kann der Blick von außen, der Blick auf die Kompetenzen des Jazz auch vielen Musikern und Jazzliebhabern die Augen und Ohren öffnen. Barrett verweist auf viele aktuelle Beispielen, aus der Geschichte des Jazz genauso wie aus der Welt der Wirtschaft, und sorgt so für eine sachliche und dabei durchaus auch vergnügliche Lektüre dieses komplexen Themengebiets.

Wolfram Knauer (Juli 2013)


 

Miles Davis. The complete illustrated history
herausgegebene von Michael Dregni
Zürich 2012 (Edition Olms)
224 Seiten, 35 Euro
ISBN: 978-3-283-01211-3

2012dregni“The complete illustrated history” – der Untertitel des Buchs verrät den Ansatz: eine Mischung aus Biographie, musikalischer Würdigung und Fotoband über eine der schillerndsten Gestalten der Jazzgeschichte. Herausgeber Michael Dregni hat nicht nur namhafte Autoren verpflichtet, unter ihnen Ashley Kahn, Robin D.G. Kelley, Francis Davis, Gerald Early, Greg Tate, sondern darüber hinaus auch Stimmen von Musikerkollegen eingesammelt.

So erzählt Clark Terry etwas über die Musikszene in St. Louis in den 1940er Jahren und die Trompeter-Tradition in der Stadt, aber auch über die Tatsache, das Miles ihn, Clark Terry, immer wieder als einen seiner wichtigen Einflüsse bezeichnet habe. Sonny Rollins verrät, dass er zum ersten Mal 1948 mit Davis gespielt habe. Bill Cosby reflektiert über Miles, die Mode-Ikone. Vincent Bessières erzählt, wie Miles Davis 1949 zum ersten Mal nach Frankreich kam und sich in Paris verliebte. George Wein berichtet von Davis’ Auftritt beim Newport Jazz Festival 1955. Ron Carter und Herbie Hancock unterhalten sich über das Quintett der 1960er Jahre. Lenny White nimmt sich die Fusion-Periode und das Album “Bitches Brew” vor, auf dem er selbst mitwirkte. Nalini Jones schreibt über Miles’ teils agressive Beziehungen zu Frauen; Gerald Early betrachtet den Trompeter als Boxer und “black male hero”. Dave Liebman schließlich hat das Schlusswort, erinnert sich an Miles Tod, an die Trauerfeier.

Neben all diesen erhellenden Texten, die durchaus Neues über den Trompeter berichten, enthält das Buch jede Menge an Fotos, neben bekannten Bildern etliche, die zumindest dieser Rezensent noch nie gesehen hat, neben Fotos von Miles und seinen diversen Bands auch Abbildungen von Programmheften, Plattenlabels und -covern, Konzertanzeigen, Clubinterieurs – das alles in exzellenter Druckqualität. Ein schönes Buch zum Blättern, lesen und natürlich zum Vertiefen, während Aufnahmen des Meisters hört.

(Das einzige Manko des Buchs ist ein eher bibliographisches: Der Herausgeber Michael Dregni wird nur im Kleingedurckten am Ende des Bandes genannt, weder auf Umschlag noch sonstwo im Vortext. Aber das muss Dregni wohl mit den Herausgebern der amerikanischen bzw. britischen Originalausgabe klären; der vorliegende Band ist eine beim Schweizer Verlag Edition Olms gedruckte Lizenzausgabe.)

Wolfram Knauer (Juli 2013)


 

You’ll Know When You Get There. Herbie Hancock and the Mwandishi Band
von Bob Gluck
Chicago 2012 (University of Chicago Press)
262 Seiten, 37,50 US-Dollar
ISBN: 978-0-226-30004-7

2012gluckHerbie Hancocks Mwandishi-Band entstand aus seinem Sextett und wurde eine der einflussreichsten Bands, mit der er international von sich Reden machte. Die Bandmitglieder, neben Hancock der Bassist Buster Williams, der Schlagzeuger Billy Hart, der Saxophonist Bennie Maupin, der Posaunist Julian Priester und der Trompeter Eddie Henderson, nahmen alle Swahili-Namen an und formten Hancocks Ästhetik zwischen Bebop, Gospel, Blues, den psychedelischen Klängen zeitgenössischer Pop- und Soulmusik sowie den Klangexplorationen eines Karlheinz Stockhausen und anderer.

Bob Gluck erzählt die Geschichte der Band von den ersten bis zu den letzten Konzerten und widmet sich der Musik, die im Studio oder bei Konzerten aufgenommen wurde. Er setzt all das in den musikalischen wie gesellschaftlichen Kontext der Zeit, also Miles Davis, Black Power-Bewegung, Soul-Musik, Studentenbewegung, afrozentrische Symbolik und so weiter und so fort.

Gluck beginnt im November 1970 mit einem Engagement, das das Hancock Sextett im Chicagoer London House wahrnahm und bei dem sich bei ihm und seinen Mitmusikern eine Art spirituelle Wahlverwandtschaft herauskristallisierte, die Musikalisches, Persönliches und Weltanschauliches mit einander verband und ihnen klar machte, dass diese Band Potential hätte.

Im zweiten Kapitel geht Gluck zurück, erzählt Hancocks Lebensgeschichte bis zu diesem Zeitpunkt, Kindheit, Jugend, erste musikalische Erfahrungen, Einflüsse wie Oscar Peterson, Hardbop oder Gospel, seine ersten Platten unter eigenem Namen, seine Zeit im Miles Davis Quintet, einen ästhetischen Weg zwischen Abstraktion und Emotion. Im nächsten Kapitel schildert er Hancocks Weg in die Selbständigkeit mit seinem ersten Sextett, das sich 1969 gründete, mit dem er bis ins Frühjahr 1970 unterwegs war und in dem er sein Interesse an elektronischen Instrumenten vertiefte. Ein eigenes Kapitel widmet sich genau diesen Soundexperimenten, die Hancock vor allem mit dem E-Piano und später mit Synthesizern vorantrieb. Gluck beschreibt die Verwendung elektrischer Instrumente auf “Bitches Brew”, “Fat Albert Rotunda” und als eine Möglichkeit des Sounddesigns.

Am 31. Juli 1970 wurde Hancocks Band in dem Woolman Rink im New Yorker Central Park gebucht, um als Vorgruppe für die populäre kalifornische Rockband Iron Butterfly zu spielen. Seine Musik erreichte das Publikum, das eigentlich einer ganz anderen Klangästhetik anhing, sicher auch wegen der Elektrifizierung der Instrumente, ihrer ganz anderen Soundästhetik und wegen der Möglichkeit die Lautstärke höher zu drehen. Bald jedenfalls wurde die Band auch auf andere Rockbühnen gebucht, insbesondere San Franciscos Fillmore West. Dann kam das London-House-Engagement, das Gluck bereits im ersten Kapitel seines Buchs beschrieben hatte, und Ende 1970 schließlich die Plattensitzung zum Album “Mwandishi”, dem Gluck ein eigenes Kapitel widmet und dabei nicht nur auf Erinnerungen der beteiligten Musiker zurückgreift, sondern die Musik darüber hinaus kritisch beleuchtet und analysiert. Im Dezember 1971 folgte die LP “Crossing”, für das Gluck den musikalischen Gehalt, aber auch die Technik der Prostproduction analysiert. Hancock brachte hierfür den Elektronikpionier Patrick Gleeson mit ins Boot, der bald ein siebtes Mitglied der Band wurde und Hancock dabei half, Dinge, die zuvor nur als Postproduction möglich waren, auch live umzusetzen, was 1972 schließlich im Album “Sextant” mündete.

Glücks widmet ein eigenes Kapitel der Idee musikalischer Kollektivität und der “open form”. Er stellt dafür die Experimente der Free-Jazz-Pioniere der 1960er Jahre der intuitiven freien Form gegenüber, die Miles Davis in seinen Bands entwickelte und beschreibt, wie Hancock aus beidem sein eigenes Bandkonzept formte. Er beleuchtet konkret die Benutzung von Ostinati, den Zusammenhang zwischen Form und musikalischem Fortschritt, und die Idee von Musik als spiritueller Praxis. Im vorletzten Kapitel geht Gluck auf kritische Stimmen ein, die Hancocks Tourneen der Jahre 1971 bis 1973 begleiteten. Musikalisch ging es weit voran, finanziell aber ließ sich die Band nicht länger halten. 1973 rief sein Management Hancock zu einem dringenden Treffen und erklärte ihm, dass er mit dieser Band nur drauflegte und sein durch Hits wie “Watermelon Man” mühsam Erspartes durchbringe. Eddie Henderson nahm noch zwei LPs unter eigenem Namen auf, bei der die meisten der Mwandishi-Mitglieder mitwirkten. Im Frühjahr 1973 ging die Band ein letztes Mal ins Studio, um den Soundtrack zum Film “The Spook Who Sat by the Door” einzuspielen. Im letzten Kapitel schließlich sammelt Gluck Stimmen von Musikerkollegen wie Bobby McFerrin, Wallace Roney, Billy Childs, Christian McBride, Mitchel Forman, Pat Metheny, Victor Lewis, und Mitgliedern der Band King Crimson , die bezeugen, wie sehr sie ihre Mwandishi-Erfahrungen beeinflusst hätten.

Glucks Buch beleuchtet ein in der Jazzgeschichte wenig behandeltes Kapitel der Fusion aus Jazz und Rock. Ihm gelingen analytische Annäherungen an die Aufnahmen, vor allem aber gelingt ihm ein Blick hinter die Beweggründe einer Band, die ihrer Zeit klanglich weit voraus schien und entsprechenden Einfluss hatte. Er schafft bei seinen Lesern ein Verständnis für die Aufnahmen der Herbie Hancock Mwandishi-Band, die er ins ästhetische und gesellschaftliche Umfeld ihrer Zeit einbettet. Glucks Gespräche mit den Bandmitgliedern vermitteln Insiderwissen, insbesondere in den analytischen Absätzen gerät die Lektüre allerdings stellenweise schon mal recht trocken. Ein ausführlicher und bis ins Detail aufgeschlüsselter Index erlaubt einen schnellen Zugang zu einzelnen Sachverhalten.

Wolfram Knauer (Juni 2013)


 

Dameronia. The Life and Music of Tadd Dameron
von Paul Combs
Ann Arbor 2012 (University of Michigan Press)
264 Seiten, Hardcover, 50 US-Dollar
ISBN: 978-0-472-11413-9

2012combsTadd Dameron ist einer der vielleicht am meisten unterbewerteten Musiker des Bebop, Pianist, vor allem aber Komponist und Arrangeur, der von seinen Kollegen hoch geschätzt wurde und dessen harmonische Weiterungen zum Teil bereits in seiner Arbeit für Jimmie Lunceford in den 1930er Jahren zu hören waren. In den 1950er Jahren verschwand er immer wieder von der Szene und starb 1965 im Alter von gerade mal 48 Jahren an den Folgen eines Hirntumors.

Paul Combs widmet sein jüngst erschienenes Buch der Biographie Damerons genauso wie seiner Musik, und ihm gelingt damit ein gar nicht so leichter Spagat: ein Buch nämlich, das in flüssigem Stil sowohl die Lebensgeschichte Damerons erzählt als auch analytische Annäherungen an Damerons Stil enthält, die der Autor, wo nötig, auch mit Notenbeispielen verdeutlicht.

Combs beginnt in Cleveland, Ohio, wo Dameron 1917 zur Welt kam, und er sammelt, was immer er an biographischen Notizen zur Jugend des Pianisten findet. 1935 machte Tadd seinen Schulabschluss und arbeitete anschließend in der Band seines Saxophon spielenden Bruders Caesar und mit anderen vor allem regional aktiven Orchestern. In Interviews gab er meist 1938 als das Jahr an, an dem seine professionell Karriere begann, als er ein erstes Arrangement an die populäre Jeters-Pillars Band verkaufte. Combs hat hier wie an anderen Stellen seines Buchs Schwierigkeiten Fakten zu verifizieren, auch weil Dameron in Interviews voneinander abweichende Abweichungen über seine Karriere machte. 1940 jedenfalls befand Dameron sich in Kansas City und schrieb für Harlan Leonard. Von dessen Band auch stammen die ersten Tondokumente für Damerons Arrangierkunst, “Rock and Ride” und “400 Swing”, für die Combs nicht nur die Platten zur Analyse dienen, sondern beispielsweise auch der Klavierpart, den er im Nachlass der Pianistin Mary Lou Williams entdeckte.

Nach einem Jahr in Kansas City zog es Dameron nach New York, wo ihn Jimmie Lunceford als Arrangeur in sein Orchester holte. Combs beschreibt diverse der Arrangements aus dieser Zeit, aber auch Damerons “Mary Lou” für seine Kollegin aus Kansas City, das er offenbar für Andy Kirk geschrieben haben muss, das aber zu seinen Lebzeiten nie aufgeführt worden war. Bei Lunceford machte sich Dameron einen Namen als interessanter und verlässlicher Arrangeur, und so schrieb er bald schrieb auch für andere Bands, seit 1943 etwa für Count Basie. After hours gehörte er zu den Stammgästen der Bebop-Kneipen seiner Zeit, Minton’s Playhouse etwa oder Monroe’s Uptown House, wo er sich auch ans Klavier traute und enge Freundschaft mit Dizzy Gillespie und anderen Beboppern schloss. In seiner Kapitelüberschrift geht Combs gar so weit, Dameron als “Architekten des Bebop” zu bezeichnen, verfolgt darin dann seine Arbeit etwa für Modernisten wie Gillespie, Billy Eckstine, Georgie Auld, aber auch weitere Charts für Lunceford oder Buddy Rich. Einen größeren Markt erreichten seine Arrangements für Sarah Vaughans Musicraft-Aufnahmen vom Mai 1946. Gillespie ermutigte Dameron zu kompositorischen Experimenten, der Sänger Babs Gonzalez ermutigte ihn, sich mehr als Pianist einzubringen. 1948 spielte er mit Fats Navarro, Dexter Gordon und mit seiner eigenen Band im neuen Royal Roost in New York. Dort trat zur selben Zeit auch Miles Davis mit seiner Capital Band auf, und etwa zur selben Zeit wie Miles’ “Birth of the Cool” spielte auch Dameron Aufnahmen mit einer größeren Besetzung ein.

Mit Miles reiste Dameron 1949 zum ersten Mal nach Paris, um am dortigen Jazzfestival teilzunehmen, wenig später war er für ein paar Monate in London. Zurück in den USA schrieb er Arrangements für Ted Heath und Artie Shaw, verschwand dann in den frühen 1950er Jahren von der Szene, offensichtlich aus Gründen, die mit seinem Drogenkonsum zu tun hatten. Combs findet ihn in Cleveland und Atlantic City, hört Dameron-Arrangements von Bull Moose Jackson und die LP “A Study in Dameronia”, für die der Pianist den jungen Clifford Brown engagiert hatte. 1956 nahm er “Fontainebleau” auf, schrieb Arrangements für Carmen McRae und wurde im April zum ersten Mal wegen Drogenbesitz verhaftet. Die zweite Verhaftung im Januar 1958 führte zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe, die Dameron in Lexington, Lexington, Kentucky, absitzen musste. Nach seiner Entlassung 1961 versuchte er seine Karriere wiederzubeleben und schrieb unter anderem Titel für Benny Goodmans Russland-Tournee. Im Frühsommer 1964 erhielt Dameron die Krebs-Diagnose; gut ein halbes Jahr später starb er kurz nach seinem 48sten Geburtstag.

Combs Buch gelingt die Verbindung von Biographie und Analyse, die den einen oder anderen Rezensenten bereits zur abfälligen Bemerkung verleitete, sein Buch benutze zu viele Fachausdrücke. Tatsächlich aber gibt Combs damit jedem seiner Leser genau das, was er möchte: Über die analytischen Teile kann man nämlich leicht und ohne Informationsverlust springen, kann auf der anderen Seite aber auch einzelne Titel heraussuchen und Combs analytische Einordnungen studieren. Ein ausführlicher Fußnotenapparat und ein ungemein exakt aufgeschlüsseltes Register ergänzen das Buch, das jedem seiner Leser gewiss ein neues und ziemlich umfassendes Bild dieses zu Unrecht oft vergessenen Komponisten gibt.

Wolfram Knauer (Mai 2013)


 

Wail. The Life of Bud Powell
von Peter Pullman
New York 2012 (Bop Changes)
476 Seiten, 19,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-9851418-1-3

Direktbezug über: www.wailthelifeofbudpowell.com

2012pullmanDie Geschichte des Jazz ist die Geschichte seiner Personen – und dabei oft die Geschichte gebrochener Persönlichkeiten. Dies ist weniger dem Fakt geschuldet, dass alle großen Jazzmusiker gebrochene Persönlichkeiten gewesen seien als vielmehr der Tatsache, dass über solche scheinbar weit leichter zu berichten ist als über Musiker ohne Macken, ohne psychische oder Suchtprobleme. Diese Tatsache führt allerdings auch dazu, dass Musiker recht schnell und ohne weiterreichende Recherche in eine Schublade gesteckt wurden, “Junkie”, “Alkoholiker”, “mentale Probleme”.

Der New Yorker Journalist und Autor Peter Pullman hat sich bereits seit langem mit Bud Powells Leben und Musik befasst, nicht zuletzt im Text des ausführlichen Begleitbüchlein zu einer CD-Ausgabe aller Verve-Einspielungen des Pianisten, das ihm eine Grammy-Nominierung einbrachte. Spätestens dabei biss er sich am Leben und Schaffen des Pianisten fest, ging in Archive, sprach mit Zeitzeugen, durchwühlte die Jazzpresse und veröffentlichte schließlich sein Buch “Wail. The Life of Bud Powell”, das ohne große Umschweife als “definitive” Bud-Powell-Biographie bezeichnet werden muss.

Pullman beginnt mit der Familiengeschichte des Pianisten, mit den Großeltern und Eltern. Er zeichnet deren soziale und Lebenssituation in Petersburg, Virginia, nach, der Region, aus der Powells Eltern kamen, genauso wie jene in Harlem, wo Bud Powell am 27. September 1924 geboren wurde. Buds Vater war selbst Pianist, und Powell bezeichnete ihn des öfteren als den besten Stride-Pianisten in Harlem. Bud nahm Klavierunterricht und trat etwa 1935 erstmals öffentlich auf, wahrscheinlich bei einer jener legendären Rent Parties, und vielleicht mit dem “Carolina Shout” von James P. Johnson, dem ersten Jazzstück, das er eigenen Angaben zufolge gemeistert hatte. Hier und in anderen Harlemer Clubs kam er mit Kollegen wie Willie ‘The Lion’ Smith oder Art Tatum zusammen, hier entwickelte er die Grundlagen eines Stils.

Pullman sieht auf die jungen Musiker, die Ende der 1930er, Anfang der 1940er Jahre bei Jam Sessions in Harlem ihre eigenen musikalischen Ideen entwickelten. Wann immer er konnte, nahm Powell an solchen Sessions Teil, spielte daneben Anfang der 1940er Jahre aber auch Tanzmusik mit weniger bekannten Bandleadern. Pullman beschreibt, wie Kenny Clark, Thelonious Monk und andere sich bei Sessions im Minton’s oder im Monroe’s Uptown House mit harmonischen Weiterungen der Jazzsprache beschäftigten, wie Powell und Elmo Hope gemeinsam Bachs Klaviermusik studierten, oder welchen Einfluss insbesondere Monks Ästhetik auf den jungen Pianisten hatte. 1943 wird sein Spiel erstmals in der Fachpresse hervorgehoben; Powell spielte damals erst mit der Band George Treadwells, dann im Orchester des Trompeters Cootie Williams, mit dem er auch seine ersten Platteneinspielungen machte.

Es waren sicher nicht die Frustrationen, die Musiker in solchen Bigbands hatten und die Pullman beschreibt, die zu Powells mentalen Problemen führten. Diese jedenfalls manifestierten sich erstmals Mitte der 1940er Jahre. Im Januar 1945 wurde er für fast drei Monate in die Psychiatrie eingewiesen, mit der Diagnose “Manisch-depressive Psychose, Manischer Typ”. Nach seiner Entlassung spielte der Pianist erst in Dizzy Gillespies Band, bald mit beiden der Heroen des Bebop, Dizzy und Charlie Parker.

Powells Bebop-Karriere sieht ihn mit Kollegen wie Diz, Bird, Dexter Gordon, J.J. Johnson, aber auch mit ersten eigenen Projekten. Wegen seines Anschlags, erzählt Pullman,  war Powell auf der 52nd Street als “Hammerfinger” bekannt. Seine Gesundheit aber führte zu dauernden Querschlägen: Nach nur einem Drink, erklärt Pullmann, konnte seine Verfassung ganz plötzlich umkippen. Eines Abends geriet er in einen Kampf und wurde verwundet ins Krankenhaus eingeliefert, das ihn wegen seiner Verhaltensauffälligkeit gleich weiter an die Psychiatrie überwies.

In einem eigenen Kapitel widmet sich Pullmann nun der Krankengeschichte Powells, seines Verhältnisses zum Vater, beschreibt den Kontext, in dem psychiatrische Therapien 1947 durchgeführt wurden, aber die Elektroschocktherapie, der der Pianist im Frühjahr 1948 unterzogen wurde. Erst nach fast einem Jahr wurde Powell wieder in die Obhut seiner Mutter entlassen.

Ende 1948 landete Bud einen längeren Gig im Clique Club (dem späteren Birdland), wo er feststellte, dass er selbst mittlerweile zu einem Einfluss auf andere Pianisten geworden war. Er machte erste Aufnahmen für Blue Note, hatte bald ein längeres Engagement im neuen Birdland, spielte Platten für Norman Granz’ Label Mercury ein. Er vertraute sich einem eigenen Manager an, und damit begann für ihn eine Zeit der musikalischen genauso wie der psychischen Stabilität. Mitte der 1950er Jahre aber gab es auch wieder Rückfälle, Engagements, bei denen Powell Schwierigkeiten hatte, einen Set zu Ende zu bringen. Pullman erklärt die Umstände verschiedener Aufnahme-Sessions und in einem eigenen Kapitel Powells ersten Europa-Besuch, den er 1956 im Rahmen der Tournee “Birdland 56” absolvierte und bei dem er erstmals in Paris, den Niederlanden und Deutschland zu hören war.

Diese Europa-Reise hatte ihn offenbar so beflügelt, dass der Pianist sich wenig später entschloss, für länger nach Paris zu gehen. Pullman beschreibt die Pariser Jazzszene der Zeit zwischen Existenzialismus und Exil-Amerikanern, als Powell ein Dauerengagement im Club Saint-Germain erhielt, zwischendurch aber auch durch Europa tourte. Der Pariser Gig brachte Stabilität ins Leben des Pianisten, erzählt Pullman, schildert daneben etwa eine Begegnung Powells mit Duke Ellington, der gerade in der Stadt weilte, um den Film “Paris Blues” zu drehen, oder ein Treffen Powells und Thelonious Monks, die im selben Konzert auftraten, was zu Konkurrenzängsten insbesondere bei Monk führte. 1962 nahm Powell ein längeres Engagement im Kopenhagener Café Montmartre an, wo er den damals noch minderjährigen Niels Henning Ørsted-Pedersen unter seine Fittiche nahm.

Nach seiner Rückkehr nach Paris ging es wieder bergab. Powell, der immer Personen in seinem Leben brauchte, die sich um ihn kümmern, freundete sich nun mit Francis Paudras an, einem Fan, der sich darum bemühte, dass Powell genug zu essen hatte, dass er möglichst nicht zu viel trank, dass sein Tagesablauf konstant blieb. All das findet sich Jahrzehnte später in Bertrand Taverniers Film “Round Midnight” wieder, in dem Dexter Gordon den Saxophonisten Dale Turner verkörpert, eine Art Komposit aus Powells und Lester Youngs Biographien. Paudras also wurde Powells neuer Vertrauter, mit ihm reiste er im August 1964 für ein Engagement im Birdland zurück nach New York. Die amerikanische Presse berichtete breit über die Rückkehr des Pianisten, und als Paudras einen Monat später am Flughafen auf Powell wartete, die beiden Rückflugtickets in der Hand, wartete er vergebens. Ein neuer Manager sicherte sich die Vertretung des Pianisten, aber Powells Magie schien dahin, seine Konzerte, schildert Pullman, waren für alle Beteiligten teilweise nur noch peinlich. Im Juli 1966 wurde Powell erneut ins Krankenhaus eingeliefert, wenig später fiel er in ein Koma, aus dem er nicht mehr erwachte.

In “Wail. The Life of Bud Powell” gelingt Peter Pullman eine Annäherung an den Menschen, den Pianisten, den Komponisten und den Patienten Bud Powell, die dieses Buch zum Standardwerk über sein Leben und seine Kunst machen dürfte. Pullman hat es im Eigenverlag herausgebracht, was die angesichts des schier erschlagenden Informationsreichtums stellenweise schon recht anstrengende Bleiwüste entschuldigen mag. Man wünschte sich inhaltlich Kapitelüberschriften (statt einfach nur “Kapitel eins, zwei, drei”) und strukturierende Zwischenüberschriften auch innerhalb der Kapitel; man wünschte sich den einen oder anderen das Lesen erleichternden Anhang, etwa eine biographische Timeline oder zumindest eine ansatzweise Diskographie. Dass Pullman gänzlich auf Fotos verzichtet, mag eine Kostenentscheidung gewesen sein. Immerhin erschließt ein ausführlicher Index das Buch. Solch kritische Empfehlungen des Rezensenten allerdings ließen sich in einer etwaigen zukünftigen Neuauflage leicht erfüllen und sind nur Marginalien angesichts der “labor of love”, die Peter Pullman in diese wirklich definitive Bud-Powell-Biographie gesteckt hat.

Wolfram Knauer (Mai 2013)


 

Jazz unter Ulbricht und Honecker. Mein musikalisches Leben in der DDR
von Frieder W. Bergner
Ottstedt am Berge 2012 (Selbstverlag)
212 Seiten, 18 Euro (inklusive Versand) + CD: 21 Euro (inklusive Versand)
Bezug über www.friederwbergner.de

2012bergner24 Jahre ist die Wende mittlerweile her, und ein paar Bücher haben die Jazz- und Bluesgeschichte der DDR bereits mit mehr oder weniger Abstand dokumentiert. Geschichte aber ist immer eine Schnittmenge der Erinnerung vieler Einzelner, und eine solche Erinnerung ist die des Posaunisten Frieder Bergner, dessen autobiographische Erzählung aus der Subjektivität des Autors heraus die Liebe zum Jazz und seine Musikerkarriere in den Kontext des gesellschaftlichen Alltags einbettet.

1954 in Zwickau geboren, zog Bergner 1960 nach Saalfeld, wo sein Vater als Ingenieur an der Herstellung des Zeiss Rechenautomaten mitarbeitete. Er berichtet von schweren Schuljahren und von seinen ersten musikalischen Gehversuchen bei den Thüringer Sängerknaben, mit denen er auf Tournee ging und von Zeit zu Zeit auch große Konzerte gab. Er erhielt Klavier- und Posaunenunterricht, würzt seine Berichte darüber mit Details des real existierenden Sozialismus, mit Geschichten über FDJler, die nach Westen gerichtete Fernsehantennen von den Häusern rissen, über den Besuch eines australischen Brieffreunds, dem bei der Einreise beinahe die drei LPs, die er als Geschenke mitgebracht hatte, abgenommen wurden, oder über seine erste Auslandsreise nach Ungarn. 1972 wurde Bergner an der Musikhochschule Dresden akzeptiert, kurz darauf allerdings bereits zum Wehrdienst einberufen, den er größtenteils als Sanitäter ableistete.

Als er das Studium wieder aufnahm, war er vom Unterricht bei Günter Hörig fasziniert; er erzählt von seiner Arbeit mit Studentenbands und von Musik zwischen modernem Jazz, Avantgarde und Rock ‘n’ Roll. Bergner arbeitete im Rundfunkblasorchester Leipzig, im Orchester Walter Eichenberg, später auch in der Leipziger Radio Big Band und schließlich auch in freien Ensembles, insbesondere im Duo mit dem Schlagzeuger Wolfram Dix. Mit der Hannes Zerbe Blechband reiste er in die Sowjetunion; 1984 zog er nach Weimar, wo er an der Musikhochschule unterrichtete, und spielte Mitte der 1980er Jahre erstmals im Westen Deutschlands in der Begleitband Joy Flemmings. Seine Anekdoten beleuchten das Leben im Osten Deutschlands genauso wie die Neugier auf die vermeintliche Freiheit im Westen. Vor allem beleuchten sie ein politisches System, das sich mehr und mehr selbst ad absurdum führt. Als einer seiner Studenten wegen Republikflucht angeklagt wird, muss Bergner aussagen, und seine Schilderung der Verhandlung und der Vorbereitung zu ihr liest sich wie das eine Fabel über einen untergehenden Staat.

Dem Titel entsprechend endet Bergers Rückschau auf sein Leben vor der Wende 1989 mit dem Ende der DDR. Es ist keine Geschichte des Jazz im Osten Deutschlands, sondern eine sehr persönliche autobiographische Erzählung, bei der Jazz eine genauso wichtige Rolle spielt wie persönliche Erlebnisse, politische Haltung, Freunde, Bekannte, Beziehungen, der Kampf mit dem Alkohol. Was Bergner mit diesem Ansatz gelingt, ist eine lesenswerte Atmosphäreschilderung, die vielleicht noch mehr an Information über das Gefühl eines Lebens in der DDR vermittelt als es nüchtern-sachliche Berichte vermögen würden.

Dem Buch liegt (bei Interesse) ein CD-Sampler mit Aufnahmen Bergners aus den Jahren zwischen 1979 und 2008 und in diversen Besertzungen und stilistischen Ausrichtungen bei.

Wolfram Knauer (Mai 2013)


 

James P. Johnson. 17 Selected Solos for Piano
transkribiert von Paul Marcorelles
Toulouse 2009 (Blue Black Jazz)
Enthält: “The Harlem Strut”; “Carolina Shout”; “Riffs”; “Feeling Blue”; “Jingles”; “Crying for the Caroline”; “Modernistic”; “If Dreams Come True”; “Mule Walk Stomp”; “A Flat Dream”; “Daintiness Rag”; “I’m Gonna Sit Right Down”; “Keep Off the Grass”; “I’m Crazy ‘Bout My Baby”; “Twilight Rag”; “Jersey Sweet”; “Liza”

2012marcorelli_johnsonJames P. Johnson. The Piano Roles, 1917-1926. 17 Rags, Blues & Stride Piano Solos from Original Piano Rolls
transkribiert von Paul Marcorelles
Toulouse 2011 (Blue Black Jazz)
Enthält: “Mama’s Blues”; “Caprice Rag”; “Steeplechase Rag”; “Stop It”; “Carolina Shout”; “Eccentricity”; “It Takes Love to Cure the Heart’s Disease”; “Dr. Jazz’s Razz Ma Taz”; “Roumania”; “Arkansas Blues”; “Joe Turner Blues”; “Harlem Strut”; “Railroad Man”; “Black Man”; “Charleston”; “Harlem Choc’late Babies on Parade”; “Sugar”

James P. Johnson, Volume 2. 17 Selected Solos for Piano
transkribiert von Paul Marcorelles
Toulouse 2012 (Blue Black Jazz)
Enthält: “Bleeding-Hearted Blues”; “You Can’t Do What My Last Man Did”; “Toddlin'”; “Scouting Around”; “Snowy Morning Blues”; “What Is This Thing Called Love”; “Fascination”; “Blueberry Rhyme”; “Squeeze Me”; “Honeysuckle Rose”; “Old Fashioned Love”; “Gut Stomp”; “Concerto Jazz-a-Mine”; “Keep Movin'”; “Arkansas Blues”; “Carolina Balmoral”; “Ain’t Cha Got Music”

Willie The Lion Smith. 16 Original Solos for Piano
transkribiert von Paul Marcorelles
Toulouse 2009 (Blue Black Jazz)
Enthält: “Concentratin'”; “Sneakaway”; “Echoes of Spring”; “Morning Air”; “Finger Buster”; “Fading Star”; “Rippling Waters”; “Stormy Weather”; “I’ll Follow You”; “Passionette”; “What Is There to Say?”; “Here Comes the Band”; “Cuttin’ Out”; “Portrait of the Duke”; “Zig Zag”; “Contrary Motion”

2012marcorelli_waller_01Fats Waller, Volume 1. 17 Famous Solos for Piano
transkribiert von Paul Marcorelles
Toulouse 2009 (Blue Black Jazz)
Enthält: “Blue Black Bottom”; “Numb Fumblin'”; “Love Me or Leave Me”; “Valentine Stomp”; “I’ve Got a Feeling I’m Falling”; “Smashing Thirds”; “Turn on the Heat”; “My Fate Is In Your Hands”; “African Ripples”; “Hallelujah”; “California, Here I Come”; “You’re the Top”; “Because Of Once Upon a Time”; “Faust Waltz”; “Intermezzo”; “Carolina Shout”; “Honeysuckle Rose”

Fats Waller, Volume 2. 17 Solos for Piano
transkribiert von Paul Marcorelles
Toulouse 2009 (Blue Black Jazz)
Enthält: “Muscle Shoals Blues”; “Birmingham Blues”; “Handful of Keys”; “Baby Oh, Where Can You Be?”; “Sweet Savannah Sue”; “Viper’s Drag”; “Alligator Crawl”; “Keepin’ Out of Mischief Now”; “Tea for Two”; “The London Suite: Piccadilly / Chelsea / Soho / Bond Street / Limehouse / Whitechapel”; “Rockin’ Chair”; “Rind Dem Bells”

Fats Waller, Volume 3. 18 Piano Greats
transkribiert von Paul Marcorelles
Toulouse 2010 (Blue Black Jazz)
Enthält: “Ain’t Misbehavin'”; “Gladyse”; “Waiting At the End of the Road”; “Goin’ About”; “My Feelings Are Hurt”; “Clothesline Ballet”; “Alligator Crawl”; “‘E’ Flat Blues”; “Zonky”; “Russian Fantasy”; “Basin Street Blues”; “Star Dust”; “I Ain’t Got Nobody”; “Hallelujah”; “St. Louis Blues”; “Then You’ll Remember Me”; “Georgia On My Mind”; “Martinique”

Donald Lambert. 15 Great Solos for Piano
transkribiert von Paul Marcorelles
Toulouse 2009 (Blue Black Jazz)
Enthält: “Anitra’s Dance”; “Pilgrim’s Chorus”; “Sextet”; “Elegie”; “Russian Lullaby”; “People Will Say We Are in Love”; “Hold Your Temper”; “Tea for Two”; “Trolley Song”; “Russian Rag”; “Save Your Sorrow”; “Pork and Beans”; “I’m Just Wild About Harry”; “As Time Goes By”; “Jumps”

Boogie Woogie. 17 Original Boogie-Woogie and Blues Piano Transcriptions
transkribiert von Paul Marcorelles
Toulouse 2011 (Blue Black Jazz)
Enthält: Jimmy Blythe: “Chicago Stomp”; Clarence Pine Top Smith: “Jump Steady Blues”; Jimmy Yancey: “Yancey Stomp”, “The Mellow Blues”, “Yancey Bugle Call”; Albert Ammons: “Boogie Woogie Stomp”, “Suitcase Blues”, “12th Street Rag”, “Mecca Flat Blues”; Meade Lux Lewis: “Yancey Special”, “Honky Tonk Train Blues”; Pete Johnson: “Answer to the Boogie”, “Bottomland Boogie”, “Mr. Freddie Boogie”, “Shuffle Boogie”; Count Basie: “Boogie Woogie”; Mary Lou Williams: “Mary’s Boogie”

Preis je Heft: 44,95 Euro (PDF-Version); 51,95 Euro (gedruckte Version inkl. Versand innerhalb Europas)

Bestellung über: www.blueblackjazz.com

2012marcorelli_smithStride Piano ist vielleicht eine der virtuosesten Spielarten des frühen Klavierjazz. Man spürt die Verankerung des Ragtime genauso wie jenes vorwärtstreibende Moment des Swing, die klaren Bässe und die verzierenden Melodieumspielungen, eine unbändige Lebensfreude, die einen fast unwillkürlich schmunzeln, lächeln, lachen lässt, wenn eine Melodie in seine Bestandteile auseinandergenommen wird, wenn der Pianist plötzlich in jenen typisch-antreibend-swingenden Rhythmus verfällt, wenn Riffs entstehen, linke und rechte Hand miteinander korrespondieren, plötzliche Umkehrungen der Oompah-Figuren der linken Hand einen kurzfristig aus der Bahn werfen, um gleich wieder in die Time zurückzufinden.

Paul Marcorelles hat das Stride-Idiom der großen Meister studiert und nun im Selbstverlag eine Reihe an Transkriptionsbänden herausgebracht, die ambitionierte Pianisten eine ganze Weile am Üben halten werden. Drei Bände mit insgesamt 51 Klaviersoli von James P. Johnson (darunter ein Band mit 17 Soli, die Marcorelles von Klavierwalzenaufnahmen abgehört hat), ebenso drei Bände mit insgesamt 52 Soli Fats Wallers, ein Band mit 16 Soli Willie “The Lion” Smiths, ein Band mit 15 Transkriptionen Donald Lamberts sowie ein Band mit 17 klassischen Boogie-Woogie-Titeln halten den Käufer / Spieler für eine Weile am Instrument. Die Klassiker sind dabei, etwa Johnsons “Carolina Shout” sowohl in der Version des Komponisten als auch in einer Fats Wallers, oder Johnsons legendärer “Charleston”, Wallers “Honeysuckle Rose”, “Ain’t Misbehavin'” oder seine komplette “London Suite” von 1938, Willie Smiths “Echoes of Spring” inder Transkription einer Aufnahme von 1965 oder sein seltenes “Contrary Motion”.

Die drei Bände mit Soli von James P. Johnson sind wahrscheinlich “the real thing”. Johnson gilt zu Recht als Vater des Stride; seine Stücke sind Klassiker, und seine Art der Interpretation ist bei aller Virtuosität am kantigsten. Neben frühen Hits wie “Modernistic” oder “If Dreams Come True” enthalten die drei Hefte auch späte Stride-Beispiele aus den 1940er Jahren, Titel, die den direkten Zusammenhang zwischen ihm und Thelonious Monk deutlich werden lassen (etwa seine Interpretation über Gershwins “Liza”). Mit dem “Concerto Jazz-A-Mine” von 1945 ist außerdem eines seiner Werke vertreten, das auf klassische Ambitionen zumindest verweist.

Die drei Waller-Alben enthalten wohl die meisten schon in anderen Transkriptionen oder transkriptions-ähnlichen Arrangements veröffentlichten Titel. “Numb Fumblin'”, “Valentine Stomp”, “Smashing Thirds” oder “African Ripples” erlauben damit (wem’s gefällt) auch einen interessanten Vergleich der Transkriptionsfassungen. Waller ist der Klassiker der hier vertretenen Pianisten: Seine musikalischen Ideen sind auch dort melodisch-harmonisch begründet, wo er in wildes Stride-Spiel ausbricht.

Willie “The Lion” Smith muss als der Lyriker unter den Stride-Pianisten gelten; zugleich ist er einer der späteren Vertreter des Stils wie die Tatsache belegt, dass die Transkriptionen, die Marcorelles vorlegt, aus den Jahren 1938 bis 1965 stammen. Neben Eigenkompositionen sind in diesem Heft auch Standards enthalten wie “Stormy Weather” oder ein emphatisches “What Is There to Say”, außerdem seine Hommage an Duke Ellington, “Portrait of the Duke”.

2012marcorelli_lambertDas Buch mit Donald Lamberts Soli enthält unter anderem Interpretationen klassischer Kompositionen wie Edvard Griegs “Anitra’s Dance”, Richard Wagners “Pilgrim’s Chorus” aus “Tannhäuser”, Gaetano Donizettis “Sextet” aus “Lucia di Lammermoor” und Jules Massenets “Elegie”; die von Lambert genommenen Tempi (oft Viertel = 240 und mehr, wie überhaupt die häufigste Tempoangaben in allen neun Heften “Presto” lautet) sind wohl erst nach erheblichen Fingerübungen einzuholen. Lamberts Version von Luckey Roberts “Pork and Beans” zeigt deutlich die Verankerung des Stride im klassischen Ragtime;

Der Boogie-Band schließlich enthält Klassiker des Genres, Interpretationen von Jimmy Blythe, Clarence Pine Top Smith, Jimmy Yancey, Albert Ammons, Meade Lux Lewis (“Honky Tonk Train Blues”), Pete Johnson, Count Basie und Mary Lou Williams. Die typischen Boogiebässe bestimmen das Notenbild, rohe und ungeschliffene Klangausbrüche, energiegeladene Improvisationen und ab und an (insbesondere bei Pete Johnson) Anklänge ans Harlem Stride Piano, das auch die Blueser nicht kalt ließ.

Marcorelles notiert klassisch, was letzten Endes auch bedeutet, dass der Spieler den richtigen Swing selbst empfinden muss. Wie immer bei Transkriptionen lohnt der Vergleich mit der originalen Aufnahme (und hier hätte man sich eine exaktere Identifikation der Platte gewünscht, von der die einzelnen Transkriptionen genommen wurden), aber mit einiger Hörerfahrung wird es gelingen, die Stücke selbst dann zum Treiben zu bringen, wenn man sie zur Einstimmung erheblich langsamer nimmt als in den halsbrecherischen Tempi der Meister.

Transkriptionsfehler sind in diesen Heften kaum zu entdecken; ein Bleistift in der Nähe des Klaviers ist dennoch ganz hilfreich, um etwa Vorzeichenänderungen  fortzuschreiben oder einzelne Noten schon mal enharmonisch zur harmonischen Basis passend darzustellen (was dem Rezensenten aber auch nur an ein oder zwei Stellen auffiel). Marcorelles verzichtet auf harmonische Analyse und Harmoniesymbole, also die Motivation zur Weiterimprovisation, aber wer diese Stücke meistert wird wahrscheinlich so in Schwung sein, dass die Hände allein weiterswingen.

Wolfram Knauer (Mai 2013)


 

Jazz en la BNE. El ruido alegre
von Jorge García
Madrid 2012 (Biblioteca Nacional de Espagna)
238 Seiten, 40 Euro
ISBN: 978-84-92462-24-7

2012garciaJorge García hat die Geschichte des Jazz in Spanien an dem Ort erforscht, der alle Dokumente zur spanischen Geschichte sammelt: der Biblioteca Nacional de Espana in Madrid. Die von ihm kuratierte Ausstellung war in der spanischen Nationalbibliothek zu sehen. Wer sie nicht gesehen hat, kann das alles in diesem wunderschön gestalteten Katalog nachvollziehen, der den Leser zweisprachig (spanisch, englisch) in Wort und Bild durch die Rezeption des afro-amerikanischen Jazz in Spanien führt.

García beginnt mit Belegen über Minstrel-Shows, Cakewalk-Künstler, die frühen Modetänze, die noch vor dem I. Weltkrieg in Europa ankamen. Den Begriff “Jazz” selbst weist er zum ersten Mal im Januar 1918 in einer spanischen Zeitung nach, wenn er dort auch – wie anderswo in Europa auch – als Begriff für einen neuen Tanz verwandt wurde. Er findet Dokumente über frühe Musiker wie den Pianisten Billy Arnold, der angeblich Darius Milhauds Faszination am Jazz weckte, und er beleuchtet Musiker wie den Kubaner Ernesto Lecuona, der 1924 in Spanien ankam und großen Erfolg hatte. Als afro-amerikanische Musik eroberte der Jazz mit Tourneen wie denen von Josephine Baker, Louis Douglas oder Harry Fleming das Land. Sam Woodings Besuch im Jahr 1929 und Jack Hyltons Tournee ein Jahr später sind für García die Geburtsstunde eines spanischen Jazz. Nicht nur die Intellektuellen und Künstler des Landes seien damals nämlich von der Musik fasziniert gewesen, sondern auch Musiker, die danach strebten, “hot” zu spielen. Parallel zu ähnlichen Entwicklungen in anderen europäischen Städten gab es in Barcelona seit 1934 einen Hot Club, der unter der Franco-Diktatur aber wieder geschlossen wurde.

García streift die Haltung des faschistischen Regimes zum Jazz, die zu einem Jazzverbot im Rundfunk führte, dass clevere Radiomacher dadurch umgingen, dass sie die Aufnahmen einfach als “moderne Musik” bezeichneten. Er beleuchtet den Nachkriegsjazz mit Zentren insbesondere in Madrid und Barcelona, wo es sowohl eine gute spanische Szene gab als auch regelmäßig amerikanische Musiker zu hören waren. Seit den 1960er Jahren gab es zudem große Festivals wie das in San Sebastián, und Musiker wie Tete Montoliu oder Pedro Iturralde machten sich auch im Ausland einen Namen. Schon damals, mehr aber noch in den 1980er Jahren und später, entdeckten spanische Musiker die Zusammenhänge zwischen Jazz und ihren heimischen Klängen, insbesondere baskischer Volksmusik oder dem Flamenco. García erwähnt noch kurz die neue Generation an Musikern, die ihre Kunst mittlerweile wie anderswo auch an Hochschulen und Universitäten lernen kann.

Diesem knappen Durchgang durch die spanische Jazzgeschichte stehen im Hauptteil des Buchs die Abbildungen von Dokumenten aus der BNE gegenüber, Notenausgaben, Zeitungsausrisse, Programmflyer, Plakate, Cover von Jazzzeitschriften, Platten und CDs, Fotos einheimischer wie zu Besuch befindlicher Musiker, Comicbücher, die sich mit dem Jazz befassen und vieles mehr.

“Jazz en la BNE. El ruido alegre” ist damit ein lesens- genauso wie blätternswertes Buch, ein knapper Abriss spanischer Jazzgeschichte, der Anhaltspunkte gibt, nirgends wirklich die Musik beschreibt, aber durchaus neugierig macht auf das, was da seit 1920 an “fröhlichem Lärm” (so die Übersetzung des Untertitels des Buchs) zu hören war.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

Benny Goodman’s Famous 1938 Carnegie Hall Jazz Concert
von Catherine Tackley
New York 2012 (Oxford University Press)
223 Seiten, 17 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-539831-1

2012tackleyBenny Goodmans Carnegie-Hall-Konzert schrieb Jazzgeschichte, nicht nur, weil Benny Goodman eine der heiligsten Hallen des amerikanischen Musiklebens mit Jazz füllte, nicht nur, weil er bei jenem legendären Konzert am 16. Januar 1938 mit schwarzen wie weißen Musikern auftrat, sondern vor allem, weil die Musik, die an jenem Abend erklang, 1950 auf Langspielplatte herauskam und seither immer wieder veröffentlicht worden ist.

Die britische Musikwissenschaftlerin Catherine Tackley nähert sich der Legende des Carnegie-Konzert-Konzerts von unterschiedlichen Seiten. In einem ersten Abschnitt ihrer Monographie untersucht sie den Kontext, in dem das Konzert stand, die Bedeutung von Konzerten für und die Zusammensetzung des Publikums von Jazz in jenen Jahren, die Idee zum Konzert sowie die Entscheidungen zum Programmablauf.

Ein zweiter Teil des Buchs geht auf die Musik des Abends ein, wobei Tacklei keine Takt-für-Takt-Analyse vorlegen, sondern die Musik in einen Kontext einbetten will. Sie beschreibt die einzelnen Titel, vergleicht sie mit früheren Aufnahmen, verweist auf deutliche Einflüsse oder klar von Goodman verschiedene musikalische Konzepte der Swingära, stellt die Bedeutung des Arrangeurs Fletcher Hendersons für den Bigbandsound Goodmans heraus, fragt nach Konnotationen von Stücken wie “Loch Lomond” oder “Bei mir bist du schoen”. Sie analysiert die “Twenty Years of Jazz”, die der Klarinettist mitten im Konzert Revue passieren lässt, wobei sie besonders die von den Musikern evozierten Klischees von Jazzgeschichte herausstellt. Ähnlich geht sie die Jam Session über “Honeysuckle Rose” an, bei der neben Goodman und einigen seiner Musiker auch Kollegen aus den Bands von Count Basie und Duke Ellington zugegen waren. Schließlich widmet sie sich selbstverständlich noch den Trio- und Quartettteilen des Konzerts. Dieser ganze Abschnitt ihres Buchs arbeitet sowohl mit analytischen Anmerkungen als auch mit Transkriptionen.

Teil 3 ihres Buchs ist überschrieben mit “Representation” und beschäftigt sich mit der Legendenbildung um das Carnegie-Hall-Konzert, mit den diversen Schallplattenveröffentlichungen und ihrer Rezeption sowie mit späteren Versuchen Goodmans (durchaus auch in der Carnegie Hall) an das Konzept und den Erfolg des Konzerts anzuknüpfen

Tackley gelingt es insbesondere im Hauptteil ihres Buchs, ihre Analyse in die Beschreibung des Konzertgeschehens einzupassen. Ihr Text liest sich flüssig und spannend und sei damit nicht nur Goodman- oder Swingfans zur Lektüre empfohlen, sondern darüber hin aus jedem, der sich mit der Jazzgeschichte als einer Geschichte von Legenden befasst.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

Putte Wickman, klarinettist
von Jan Bruér
Göteborg 2012 (Bo Ejeby Förlag)
286 Seiten, beiheftende CD, 250 Schwedische Kronen
ISBN: 978-91-88316-66-0

2012wickmanJan Bruér hat mit diesem Buch die definitive Biographie des schwedischen Klarinettisten Putte Wickman vogelegt. Wickmans Karriere begann Anfang der 1940er Jahre; mit 19 wurde er 1943 zum professionellen Musiker. Wickmann spielte Swingmusik mit einem Hang zum Modernen. Während andere europäische Klarinettisten seines Kalibers bald in die USA auswanderten (Åke Hasselgard, Rolf Kühn), blieb Wickman in Schweden. Er spielte Platten meist in kleinen, durchaus an Benny Goodman orientierten Besetzungen ein, erst unter anderen Bandleadern, dann ab Mitte der 1940er Jahre vor allem mit einem Sextett unter eigenem Namen. 1949 traf er beim Pariser Jazzfestival auf Charlie Parker, der seine Stilistik nachhaltig beeinflusste. In den 1950er Jahren wurde er einer der populärsten Jazzmusiker Schwedens und war regelmäßig auch anderswo in Europa zu hören, 1959 sogar bei einem Gedenkkonzert für Sidney Bechet in der New Yorker Carnegie Hall. Ab den 1970er Jahren gehörte Wickman zu den Veteranen des schwedischen Jazz und trat des öfteren mit seinen Mit-Veteranen Bengt Hallberg oder Arne Domnérus auf. 2006 verstarb er im Alter von 81 Jahren.

Bruér hat sein Buch in zwei Teilen angelegt: einer klassischen Biographie mit Kommentaren von Zeitzeugen und Kollegen, sowie ausgedehnteren Interviews mit Familienmitgliedern wie Puttes Frau oder seinem Sohn, Mitmusikern sowie Kennern des schwedischen Jazz. Eine Chronologie seines Lebens sowie eine ausführliche Diskographie schließen sich an; ein Namensregister fehlt leider. Als Zugabe enthält das Buch allerdings eine CD, auf der sich Aufnahmen Wickmans aus den Jahren 1945 bis 2005 finden. Dabei sind skurrile Einspielungen wie die “Kivikspolka”, in der Wickmann per Overdub gleich drei Klarinettenstimmen gleichzeitig spielt, Aufnahmen mit Streichquartett, ein Radiomärchen mit Wickman und Lill-Babs, eine Quartettaufnahme mit Bobo Stenson und Palle Danielsson, den Ausschnitt einer Telemann-Komposition, die Wickman 1977 zusammen mit Svend Asmussen einspielte, sowie das Allegro aus Mozarts Klarinettenquintett, ein  Duo mit Red Mitchell, der in den 1970er und 1980er Jahren in Schweden lebte, sowie Stücke, in denen Wickman sich freieren Spielweisen oder auch einer gemäßigten Fusion annäherte und anderes mehr.

Diese CD sowie die vielen Abbildungen des Buches mögen auch den des Schwedischen nicht mächtigen Käufer dieses Buchs entschädigen, das Bruér in Zusammenarbeit mit dem Schwedischen Viasarkiv herausgegeben hat und das in überaus ansprechendem Layout gestaltet ist.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

Sugar Free Saxophone. The Life and Music of Jackie McLean
Von Derek Ansell
London 2012 (Northway Publications)
207 Seiten, 18 Britische Pfund
ISBN: 978-9.9557888-6-4

2012ansellJackie McLean gehört zu den großen Hard-Bop-Saxophonisten, und Derek Ansell schickt sich in seinem Buch an, ihm ein Denkmal zu setzen. Ansell beginnt mit jener Anekdote aus dem Jahr 1949, als McLeans Mutter ihrem Sohn sagte, ein gewisser Charlie Parker habe angerufen und ihn gebeten, am Abend in einem blauen Anzug in den Chateau Gardens zu gehen und für ihn einzuspringen. Das Publikum sei ein wenig enttäuscht gewesen, als Art Blakey ansagte, dass Parker leider erst später käme und dieser junge Mann so lange spiele, aber dann habe er alles gegeben in einem Repertoire, das typischer Bird war. Und schließlich sei Parker doch noch gekommen, habe ihn ermutigt, auf der Bühne zu bleiben. Sie hätten ein paar Chorusse zusammen geblasen und nach dem Gig habe Parker ihm 15 Dollar in die Hand gedrückt.

Vom Meister abgesegnet, mit Bird oft genug verglichen und doch ein ganz eigener Stil – Jackie McLean nannte sich selbst gern mit Bezug auf seinen klaren, harten Ansatz den “sugar free saxophonist”. Ansell begleitet ihn in diesem Buch vor allem durch seine Plattenaufnahmen und einige dunkle Kapitel seines Lebens. Seine erste Plattensession hatte McLean mit Miles Davis, und kein geringerer als sein Vorbild Charlie Parker saß im Kontrollraum. Ansell berichtet über die Beziehung zwischen den beiden Saxophonisten, die nicht nur in Musik bestand, sondern auch in der Tatsache, dass Parker sich regelmäßig Geld oder auch das Instrument von seinem jüngeren Kollegen lieh.

Nach Parkers Tod begann McLeans Karriere erst richtig. Er ging mit Miles ins Studio, nahm eigene Platten auf, erst für Prestige, dann für Blue Note. Ansell beschreibt das Leben eines Jazzmusikers in den Mitt1950er Jahren und spart auch McLeans Suchtprobleme nicht aus – seine Heroinsucht hatte dazu geführt, dass er bald keine Cabaret Card mehr besaß, ohne die er in New Yorker Clubs nicht auftreten konnte. Fürs Theater galten solche Regeln allerdings nicht, und so war es ein Glück für ihn, dass er 1959 für Jack Gelbers Theaterstück “The Connection” engagiert wurde, für das eine komplette Band auf der Bühne mitwirkte. In den 1960er Jahren hörte McLean sehr bewusst auch auf einige der Neutöner des Jazz, nahm sogar eine Platte zusammen mit Ornette Coleman (an der Trompete) auf; seine eigene Musik aber blieb bei aller Freiheit doch immer dem Blues verbunden.

In den 1960er Jahren begann er außerdem eine Art zweite Karriere als Lehrer, erst in Community-Kulturprogrammen, später an Universitäten und bei Workshops. 1968 erhielt er einen Lehrauftrag an der University of Hartford und wurde zwei Jahre später reguläres Mitglied des Lehrkörpers. Er tourte in Europa und war insbesondere in Japan ein großer Star, wurde aber auch in den USA geehrt, 20902 etwa als Jazz Master des National Endowment for the Arts.

Ansell verfolgt McLeans Wirken bis zu seinem Tod im März 2006; tatsächlich aber ist sein Buch weniger Biographie als Schaffensgeschichte. Er berichtet über die Umstände der Plattensessions und ordnet sie in den Kontext des Jazzgeschehens der jeweiligen Zeit ein. Für McLean-Fans ist das Buch damit ganz sicher ein Muss; es beleuchtet ein Teilkapitel des Hardbop und insbesondere auch den ästhetischen Wandel zwischen Hard Bop und Free Jazz. Neues erfährt man dabei wenig, aber als Information über einen einflussreichen Saxophonisten ist die Lektüre auf jeden Fall zu empfehlen.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

Tracking Jazz – The Ulster Way
von Brian Dempster
Antrim/Northern Ireland 2012 (Shanway Press)
216 Seiten, 18,50 Britische Pfund
ISBN: 978-0-9571006-1-9

2012dempsterFür den 25. April 1925 dokumentiert Brian Dempster in der Glenarm Orange Hall in Glennarm Village den ersten Jazzevent in der nordirischen Provinz Ulster, eine Veranstaltung, bei der die braven Bürger der Stadt den “Belgium Burl” tanzten, wohl eine Version des American One-Step, begleitet von der jungen Glenarm Jazz Band. Vier Jahre später habe das Noble Sissle Orchestra im Empire Theatre in Belfast gespielt und gleich danach der Jazz in Nordirland zu blühen begonnen, schreibt Dempster.

Die eigentliche Hochphase des Jazz in Irland aber begann seinem großformatigen und reich bebilderten Buch zufolge während des II. Weltkriegs, als die USA wichtige Stützpunkte in Belfast und Londonderry einrichteten. Dempster schildert die Karriere des Trompeters Ken Smiley und den Einfluss britischer New-Orleans- oder Trad-Jazz-Musiker wie Ken Colyer oder Acker Bilk. Die Sängerin Ottilie Patterson erhält ein eigenes Kapitel, genauso wie etliche lokale Bands und Musiker. In den 1950er Jahren gründete sich am Campbell College die Band Belmont Swing College, benannt nach dem Vorbild der Dutch Swing College Band. Dempster zählt die verschiedenen Orte auf, an denen Jazz in Belfast und drum herum zu hören war und geizt nicht mit Anekdoten. Die 1960er Jahren brachten den Aufstieg von Rock & Roll, zugleich aber auch eine Konzertreihe in der Whitla Hall, bei der neben den traditionellen Bands, die im Fokus dieses Buchs stehen, auch amerikanische Künstler aus dem Bereich des Mainstream und des modernen Jazz auf- oder – wie im Fall von Stan Getz, der sich 1966 kurz vor dem Konzert unwohl fühlte – auch schon mal nicht auftraten.

Dempster sammelt die Erinnerungen vieler (Amateur-)Musiker der Szene, des Klarinettisten Trevor Foster etwa oder des Bassisten David Smith; er erzählt die Geschichte der Belfast Jazz Society, und er erwähnt zumindest am Rande auch einige der politischen Probleme, die in jenen Jahren das tägliche Leben in Nordirland bestimmten. Im großen und ganzen bleibt sein Buch dabei ein Erinnerungsalbum mit vielen Fotos der beteiligten Mitspieler, einem durch die Seiten deutlich alternden Personal.

Ein ausführlicher Personenindex schließt das Buch ab, das sicher vor allem für Leser mit regionalen Vorlieben für Interesse ist.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

Lonesome Roads and Streets of Dreams. Place, Mobility, and Race in Jazz of the 1930s and ’40s
von Andrew S. Berish
Chicago 2012 (University of Chicago Press)
313 Seiten, 30 US-Dollar
ISBN: 978-0-226-04495-8

2012berishPhil Woods soll sich einmal folgendes Workshop-Setup gewünscht haben: Setzt die Teilnehmer in einen Bus, lasst sie vier Stunden lang fahren, zwei Stunden spielen, vier Stunden fahren, zwei Stunden spielen usw. Die Reisetätigkeit von Musikern ist heute erheblich leichter als früher, aber immer noch nimmt die Anreise zum Konzert in der Regel ein Vielfaches der Zeit ein, die der Musiker beim Konzert verbringt. Andrew S. Berish befasst sich in seinem Buch mit der Mobilität von Jazzmusikern in den 1930er und 1940er Jahren, als der Jazz eine Popmusik und One-Nighter-Tourneen an der Tagesordnung waren. Die Bands der Zeit waren auf Autos, Busse, in Ausnahmefällen auf Züge angewiesen, um enorme Strecken im Flächenland USA zurückzulegen. Ihre Fortbewegung fand dazu in einem Land statt, dessen soziale Struktur sich mit dem Reisen quasi veränderte, etwa durch die Rassentrennungsgesetze der Südstaaten. Sie durchreisten Landschaftsräume und soziale Räume, schufen in ihrer Musik aber auch ihre ganz eigenen Räume, in denen sie quasi die bessere aller Welten repräsentieren konnten, für sich genauso wie für ihr Publikum. Berish zeigt in vier konkreten Beispielen, wie Jazzmusikern ein solches Schaffen neuer Räume in den 1930er und 1940er Jahren gelang.

Im ersten Kapitel betrachtet der Autor dazu die Band des weißen Sweet-Bandleaders Jan Garber, der damals jeden Sommer im südkalifornischen Casino Ballroom spielte und übers Radio im ganzen Land zu hören war. Er beschreibt Garbers Musik – und hier insbesondere das Stück “Avalon” – als Teil eines Strebens, die Grenzen amerikanischer Raumvorstellungen gegen die Gefahr der Modernisierung mit ihrer Zergliederung und Demokratisierung zu verteidigen.

Im zweiten Kapitel beschäftigt er sich mit der Band Charlie Barnets, dessen musikalische Entwicklung von Sweet- in Hot-Band zugleich eine Entwicklung (oder “soziale Reise”, wie Berish sie nennt) von weißen zu schwarzen ästhetischen Idealen bezeichnete und betrachtet dazu insbesondere seine beiden Aufnahmen “Pompton Turnpike” und “Drop Me Off in Harlem”.

Im dritten Kapitel wendet er sich dem Orchester Duke Ellingtons zu, der wohl am meisten umherreisenden Band jener Zeit, die in ihrem Programm sehr bewusst mit Anspielungen an Orte arbeitete, bekannte Orte (Harlem) genauso wie exotische Orte (jungle style). Ellingtons Konzept von Ort suggeriere seinem Publikum, schlussfolgert Berish, dass andere Orte und Erfahrungen nicht nur möglich seien, sondern dass, mehr noch, alle Orte der Rekonstruktion offen stünden. Das Ellington-Kapitel widmet sich insbesondere Ellingtons “Air-Conditioned Jungle” sowie seiner “Deep South Suite”.

Im vierten Kapitel greift Berish sich den Gitarristen Charlie Christian heraus, der Einflüsse aus konkret zuordenbaren regionalen Jazzstilen aufgriff – Country Blues, Western Swing, Hillbilly, Kansas City –, und diese in Harlem in den modernen Jazz der Zeit, den Bebop überführte. Christians solistischer Ansatz, schreibt Berish, machte aus den fragmentierten geographischen Erfahrungen seines Lebens etwas Neues, einen musikalischen Ort, der integriert war, enorm mobil und in seiner ganzen Ausrichtung national. Seine musikalischen Anhaltspunkte in diesem Kapitel sind Christians Aufnahmen über “Flyin’ Home”, “Stompin’ at the Savoy” und “Solo Flight”.

Das Schlusskapitel greift eine neue Art des Reisens auf, das Fliegen. Hier nimmt Berish sich Jimmie Luncefords Aufnahme “Stratosphere” heraus, um die Faszination mit dem Fliegen als eine Hoffnung zu beschreiben, neue Formen von Beweglichkeit könnten auch die sozialen Barrieren der Zeit durchbrechen.

Berishs Ansatz in diesem Buch erlaubt einen sehr anderen Blick auf die von ihm behandelten Musiker, verbindet vor allem sehr geschickt Jazz- mit Kultur- und Sozialgeschichte und zeigt dabei in einem klugen und zugleich äußerst lesbaren Stil, wie sich anhand der Musik weit größere gesellschaftliche Erfahrungen darstellen lassen, die im Jazz ihren Widerhall gefunden haben.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

Edinburgh Jazz Enlightenment. The Story of Edinburgh Traditional Jazz
von Graham Blamire
Petersborough/England 2012 (Fastprint Publishing)
596 Seiten, 16,99 Britische Pfund
ISBN: 978-178035-290-9

2012blamireLokale Jazzgeschichten lassen sich von vielen Städten schreiben; ein 600-seitiges Buch über den Jazz einer Stadt mit nur mit einer Stilrichtung zu füllen, scheint dagegen schon weitaus schwieriger. Graham Blamire, selbst über lange Jahre Bassist in traditionellen Bands in Edinburgh, hat sich mit seinem Buch daran gemacht, genau dies zu tun, nämlich die Geschichte des traditionellen Jazz in Edinburgh zu erzählen.

Die großen Namen des britischen Trad Jazz tauchen dabei immer wieder auf, wobei Blamire versucht, zu zeigen, dass dieser sich nicht auf London beschränkte, sondern die Faszination mit älteren Stilen auch anderswo in Großbritannien eine lebendige Szene hervorbrachte. In einem seiner Eingangskapitel erklärt Blamire darüber hinaus seine Begrifflichkeit, unterscheidet zwischen “classic jazz” und “purist jazz”, benutzt den Terminus “traditional jazz” for alles bis zur Swingmusik und erklärt sein Unwohlsein beim begriff “contemporary jazz”.

Die dramatis personae seines Buchs sind in der traditionellen Jazzszene teils auch über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Blamire verfolgt ihre Aktivitäten, nennt Bandbesetzungen, Konzert- und Festivaldaten, erzählt Geschichten von Clubs und besonderen Ereignissen. Für den Außenstehenden mag das alles ein wenig schwer verdaulich sein; für diejenigen, die dabei waren, bietet es sicher eine gute Erinnerungsstütze. Auf Kontakte zu den moderneren Musikern geht Blamire fast gar nicht mehr ein in seinem Buch, diskutiert auch nicht weiter das ästhetische Selbstverständnis des von ihm gewählten Stils, und beklagt höchstens zum Schluss, dass es dem traditionellen Jazz (und damit meint er dann doch fast ausschließlich das, was allgemein mit Trad Jazz beschrieben wird) an Nachwuchs mangele.

Als Anhang findet sich eine Diskographie von Aufnahmen der im Buch genannten Musiker und Bands. Ein Index, der gerade für solch eine Regionalgeschichte sehr sinnvoll wäre, ist leider nicht vorhanden (kann aber auf Nachfrage vom Autor per Mail bezogen werden).

Wolfram Knauer (März 2013)


 

Keystone Korner. Portrait of a Jazz Club
herausgegeben von Sascha Feinstein & Kathy Sloane
Bloomington 2012 (Indiana University Press)
224 Seiten, 1 CD, 40 US-Dollar
ISBN: 978-0-253-35691-8

2012feinstein“Keystone Korner” hieß San Franciscos angesagtester Jazzclub der 1970er Jahre. Ale Großen des Jazz spielten dort, von Dexter Gordon bis zum Art Ensemble of Chicago, von Bill Evans über Rahsaan Roland Kirk, Charles Mingus bis zu Anthony Braxton.

Die Fotografin Kathy Sloane war dort und hielt die Abende mit den Künstlern fest. Ihre Fotos zeigen Bühnengeschehen genauso wie Clubatmosphäre, Musiker, Publikum, Backstage-Bereich, Plakate, Handzettel und vieles mehr.

Darum herum hat Sascha Feinstein Aussagen mit dem Club Assoziierten gesammelt, Todd Baran an erster Stelle, dem Gründer und langjährigen Inhaber des Clubs, mit dem Koch, einer Kellnerin, den Tontechniker, mit Musikern wie Carl Burnett, George Cables, Billy Harper, Eddie Henderson, Calvin Keys, David Liebman, Eddie Marshall, Ronnie Matthews, Bob Stewart, Steve Turre und David Williams, sowie mit Künstlern und anderen regelmäßigen Besuchern, für die das Keystone Korner Teil ihres Lebens in der Bay Area war. Sie berichten vom Cluballtag, von zwischenmenschlichen Problemen und künstlerischen Höhepunkten, erzählen jede Menge Anekdoten.

Das Keystone Korner schloss 1983 aus finanziellen Gründen seine Pforten. Todd Barkan zog nach New York und machte bis zum letzten Jahre das Programm im Dizzy’s Club Coca Cola. Heute organisiert er eine “Keystone Korner Night” im New Yorker Iridium Club.

“Keystone Korner. Portrait of a Jazz Club” bebildert liebevoll die Erinnerung an eine Zeit, in der Musiker nicht nur in New York die Möglichkeit hatten, ein- oder mehrwöchige Engagements zu spielen. Die beiheftende CD enthält acht Tracks von Rahsaan Roland Kirk, McCoy Tyner, Woody Shaw, Dexter Gordon, Bill Evans, Stan Getz, Cedar Walton und Art Blakey, alle zwischen 1973 und 1982 live aufgenommen im Keystone Korner. Alle Titel sind bereits veröffentlicht; hier sind also keine Neuentdeckungen zu machen. Einen guten Höreindruck aber geben die Stücke allemal in die Atmosphäre eines legendären Clubs im San Francisco der 1970er Jahre.

Wolfram Knauer (März 2013)


 

Swingtime in Deutschland
von Stephan Wuthe
Berlin 2012 (Transit)
144 Seiten, 16,80 Euro
ISBN: 978-3-88747-271-9

www.swingtime.de

2012wutheDie Jazzrezeption in Europa war nie so eindeutig, wie man es meinen möchte. Jazz wurde immer mit all seinen Konnotationen wahrgenommen: seiner afro-amerikanischen Herkunft, seiner emotionalen Kraft, dem Tanz. Die Musik war oft genug nur Vehikel, um all das andere zu transportieren, das die Menschen am Jazz faszinierte.

Stephan Wuthe hat ein Buch über die Swingbegeisterung in Deutschland geschrieben, und natürlich handelt sein Buch auch von einer Zeit, in der Jazz nicht systemkonform war, ja offiziell sanktioniert wurde. Mehr als die Verfolgung von Jazz und Jazzliebhabern aber interessieren ihn all die Elemente, die Fans in den 1930er Jahren an diese Musik banden. Er beschreibt die Szene in den Großstädten (und hier vor allem in Berlin), den Plattenmarkt, frühe Sammelleidenschaft unter den Fans, die Lokale, in denen die Musik zu hören (und nach ihr zu tanzen) war. Ein eigenes Kapitel widmet sich dem Erfolg amerikanischer Musikfilme nach 1933 und verweist auf das Echo auf die Hits dieser Filme in deutschen Kapellen. Vor allem aber betrachtet Wuthe den Swing als ein Tanzphänomen, beschreibt Modetänze und ihren Erfolg beim Publikum. “Verdunklungsschlager” nennt er Aufnahmen der frühen 1940er Jahre, die auf den Kriegsalltag der Menschen eingingen, nennt auch die Propagandaaufnahmen von Charlie and His Orchestra und ähnliche Aktivitäten, die in die andere Richtung, also auf Deutschland, gerichtet waren. In seinen letzten Kapiteln geht Wuthe dann noch schnell auf Swingtanzaktivitäten nach dem Krieg ein, in den 1940er und 1950er und dann erst wieder seit den 1990er Jahren.

Wuthes Buch ist reich und interessant bebildert und gerade in seinem Ansatz, nämlich das Drumherum zu beschreiben, eine vergnügliche Lektüre. Allzu kritische Distanz, eine musikalische Einordnung des Gehörten oder eine historisch genaue Aufarbeitung der Jahre, die den Hauptteil des Buchs umfassen, also 1933-1945, sollte man nicht erwarten – das ist auch nicht das Ziel des Autors. Liebevoll aufgemacht ist sein Buch eher ein ideales Geschenk für den Swingverrückten und Fan der deutschen Tanzmusik.

Wolfram Knauer (März 2013)


 

The Last Balladeer. The Johnny Hartman Story
von Gregg Akkerman
Lanham/MD 2012 (Scarecrow Press)
367 Seiten, 34,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8281-2

2012akkermanVielen Jazzfreunden ist Johnny Hartman durch ein einziges Album bekannt, seine Zusammenarbeit mit John Coltrane nämlich von 1963. Als Gregg Akkerman vor wenigen Jahren mehr über den Sänger wissen wollte, suchte er nach einer Biographie und stellte fest, dass es eine solche nicht gab. Also sammelte er Dokumente über Hartman und die Welt, in der er lebte und wirkte, sprach mit Zeitzeugen und schrieb das Buch einfach selbst.

Das erste Kapitel seiner Biographie erzählt von Hartmans Jugend in Chicago, seiner Schulzeit in der DuSable High School, in der er Musikunterricht beim legendären “Captain Dyett” erhielt. 1943 wurde der 19jährige zur Armee eingezogen und bald als Sänger der Bigband der Special Services zugeordnet, mit der er bis zu seiner Entlassung im März 1946 aktiv war. Im August desselben Jahres hatte er ein Engagement im Chicagoer El Grotto Nightclub und wurde von der Presse seiner Stimme und seiner Ausstrahlung wegen als “Bronze Sinatra” gefeiert. 1947 engagierte ihn Earl Hines – Hines war auf den sonoren Balladensänger abonniert, seit Billy Eckstine diese Rolle in seiner Bigband populär gemacht hatte. Hines gab sein Orchester auf, als er Teil der Louis Armstrong All Stars wurde; im Juli 1948 sang Hartman dann mit Dizzy Gillespie, den ebenfalls die Stimmähnlichkeit zu Billy Eckstine, Dizzys früheren Chef, beeindruckt haben mag. Akkerman hört sich Studioaufnahmen und Livemitschnitte der Band an und durchforstet die Tagespresse nach Erwähnungen des Sängers.

1949 nahm Hartman ein paar Seiten mit dem Erroll Garner Trio auf und entschloss sich 1950, unter eigenem Namen zu reisen. Er wurde nicht nur in den Jazzgazetten erwähnt, sondern auch in populären Illustrierten. 1955 nahm er seine erste LP für das kurz zuvor gegründete Label Bethlehem auf, und Akkerman beschreibt die Produktionsbedingungen und den Erfolg der ersten beiden Platten, der aber nicht verhinderte, dass der Siegeszug des Rock ‘n’ Roll auch Hartman zu schaffen machte.

Akkerman begleitet Hartman nach in den 1960er Jahren England und Japan, beschreibt gelungene und weniger gelungene Bootleg-Mitschnitte seiner Konzerte und geht dann eingehend auf jenes Album ein, das den Sänger in der Jazzszene wieder bekannt machte, ein Kapitel, das überschrieben ist mit “The Mythology of a Classic”. Insbesondere “My One and Only Love” und “Lush Life” waren überzeugende Interpretationen, und doch konnte Hartman in der Folge nicht von der positiven Reaktion des Publikums und der Kritik profitieren.

Engagements in den USA hätten fürs Leben nicht ausgereicht, glücklicherweise war er overseas, insbesondere in Japan, sehr gefragt. Akkerman begleitet ihn durch die 1970er Jahre, eine Zeit, in der Hartman bei weitem nicht mehr den Erfolg zeitigen konnte wie als junger Mann, die dennoch kreative Jahre für ihn waren. Er blieb daneben auch ein gesellschaftlich gefragter Künstler. Allerdings litt er ein wenig darunter, als “musician’s musician” zu gelten und plante gegen Ende des Jahrzehnts vielleicht aus diesem Grunde Disco-Versionen von Jazzstandards, die allerdings nie realisiert wurden.

1983 dann versagte seine Stimme, und ein Arzt diagnostizierte Lungenkrebs. Im September desselben Jahres verstarb Hartman im Alter von 60 Jahren. Ein letztes Kapitel des Buchs betrachtet Wiederveröffentlichungen und posthume Würdigungen und holt Meinungen von Freunden und Musikerkollegen ein. Eine Diskographie, ein Song-Index, eine biographische Zeittafel und ein ausführliches Literaturverzeichnis beenden schließlich das Buch.

“The Last Balladeer” beschreibt die Lebensgeschichte eines Musikers, der zwischen Jazz und Pop agierte, auf beiden Feldern erfolgreich war, nie aber den Status erreichte, den seine Kollegen besaßen, die – wie etwa Tony Bennett – durchaus auf ihn als ihren Lieblingssänger verwiesen. Gregg Akkerman schreibt flüssig; er konzentriert sich vor allem auf Biographisches und auf den Hintergrund von Aufnahmen, weniger auf musikalische oder ästhetische Besonderheiten jenes Balladen-Belcanto, das Hartman pflegte wie wenige sonst. Sein Buch ist in der akribischen Recherche und seinem einfühlsamen Schreibstil auf jeden Fall eine willkommene Bereicherung der Jazzliteratur.

Wolfram Knauer (März 2013)


 

The Saxophone
von Stephen Cottrell
New Haven 2012 (Yale University Press)
390 Seiten, 40 US-Dollar
ISBN: 978-0-300-10041-9

2012cottrellEines der am meisten beachtetsten Instrumente sei das Saxophon, schreibt Stephen Cottrell im Vorwort zu seinem Buch und verweist auf Musiker wie Charlie Parker und John Coltrane sowie auf Staatsoberhäupter wie Bill Clinton und König Bhumibop Aduyadej; ernsthafte Literatur über das Instrument sei aber doch recht rar. Dem mag so sein (obwohl diesem Rezensenten eine ganze Handvoll Bücher einfallen, die sich mit dem Instrument, seiner spezifischen Bauweise und Klangtechnik sowie seinen Protagonisten auseinandersetzen); nun jedenfalls widmet sich Cottrell in einem umfangreichen Band der Buchreihe “Yale Musical Instrument Series” dem Saxophon in allen Bauvarianten und Spielarten.

Er beginnt mit Generellem: den verschiedenen Instrumentengrößen, Mundstücken, dem Ansatz. Dann erzählt er das Leben von Adolphe Sax und beschreibt, wie dieser auf die Idee seiner Instrumentenerfindung kam. Er nennt Vorfahren, die unterschiedlichen Mitglieder der Saxophonfamilie, sieht sich die Patente an, die Sax für seine Erfindung eingereicht hatte, aber auch Patente anderer Instrumentenbauer bis hin zu mehr oder weniger skurrilen Varianten wie dem Grafton Plastiksaxophon, das sowohl Charlie Parker wie auch Ornette Coleman spielten, oder das Slide-Saxophon, das in den 1920er Jahren ab und an zum Einsatz kam. Er untersucht die industrielle Fertigung des Instruments im 19. Jahrhundert, beschreibt seine Vermarktung und den frühen Einsatz in klassischen und Opernkompositionen. Er verfolgt den Weg des Saxophons in die Vereinigten Staaten sowie seinen Siegeszug in den Militärkapellen auf beiden Seiten des Atlantiks.

Ein eigenes Kapitel widmet Cottrell der Verwendung des Saxophons in Vaudeville, Zirkus, Minstrelsy und Ragtime, erwähnt frühe Saxophonensembles wie die Brown Brothers, stellt eine Art “Saxophon Craze” fest und nennt erste Saxophonvirtuosen wie Rudy Wiedoeft und andere. Die Rolle des Instruments im Tanzorchester untersucht er genauso wie den Klang des Saxophonsatzes, der von Bandleadern und Arrangeuren immer geschickter eingesetzt wurde.

Dem Jazz widmet Cottrell ein eigenes Kapitel, nennt darin Solisten wie Sidney Bechet, Coleman Hawkins, johnny Hodges, Harry Carney, Lester Young, Charlie Parker, John Coltrane und Ornette Coleman. Das klassische Saxophon verfolge eine ganz andere Klangästhetik, die der Autor im Konzertsaal genauso wie auf der Opernbühne verfolgt, auch hier namhafte Virtuosen und Ensembles herausstellend. “Moderne und Postmoderne” lautet die Überschrift zu einem Kapitel, in dem die Genres dann etwas durcheinander purzeln, bevor sich Cottrell abschließend dem Saxophon als “Symbol und Ikone” näher, dabei sowohl auf positive, identitätsstiftende, wie negative, ausgrenzende Ikonographie verweist (für letztere steht das Plakat zur “Entartete Musik”-Ausstellung der Nazis) und schließlich auch die sexuellen Konnotationen der Instrumentenform nicht außer Acht lässt.

Alles in allem gelingt Cottrell dabei ein gut lesbarer Rundumschlag, bei dem kein Aspekt zu kurz kommt: Bauart, Tonbildung, Individualstil, Wirkung. Und gerade für uns Jazzer, die wir dieses Instrument natürlich vor allem mit den bekannten Namen verbinden, mag es recht interessant sein, einmal den Blick über den Tellerrand zu wagen, das zu betrachten, was davor lag und das, was andere draus machten. Im Anhang findet sich ein Faksimile des originalen Patents von Adolphe Sax.

Wolfram Knauer (März 2013)


 

What It Is. The Life of a Jazz Artist
von Dave Liebman & Lewis Porter
Lanham/MD 2012 (Scarecrow Press)
363 Seiten, 37,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8203-4

2012liebmanDave Liebman wurde einem breiten Publikum durch seine Arbeit erst mit Elvin Jones Anfang der 1970er Jahre und dann mit Miles Davis in der Mitte des Jahrzehnts bekannt. Seit Ende der 1970er Jahre war Liebman als Lehrer aktiv, gründete 1989 die International Association of Schools of Jazz und wird auf der ganzen Welt nicht nur als Saxophonist, sondern auch als Jazzpädagoge geschätzt.

Für seine Autobiographie hat Liebman den renommierten Jazzforscher Lewis Porter gebeten ihn zu interviewen. Porter entschied sich, das Ergebnis in Gesprächsform festzuhalten, in der Porter die Erinnerung Liebmans untermauern oder ergänzen kann und Liebmans Erzählfluss quasi durch seine Fragen strukturiert. Das liest sich durchweg flüssig und wirkt vielleicht gerade in dieser Form überaus authentisch.

Liebman nimmt kein Blatt vor den Mund. Er erzählt freimütig über seine Polio-Erkrankung, den Einfluss John Coltranes, Unterricht bei Lennie Tristano, seine Zeit in Charles Lloyds Band, seine Arbeit mit Chick Corea und Elvin Jones, Konzerte und Aufnahmen mit Miles Davis, seine Zusammenarbeit mit Richie Beirach und John Scofield, die Bands Lookout Farm und Quest, die Idee und den Zustand der Jazzpädagogik, seine Aktivitäten in der International Association of Schools of Jazz und vieles mehr.

Das alles schwankt zwischen Anekdoten und Tiefsinnigem. In Porter hat Liebman dabei einen Gesprächspartner, der nachfragt, der aber vor allem auch versteht, wovon Liebman redet und die richtigen Fragen nachschiebt, um sowohl den nicht mit Liebmans Karriere vertrauten Leser mitzunehmen als auch die Fragen zu stellen, die der Experte an den Saxophonisten hätte. Nirgends wird das Buch dabei zu technisch, und Liebmans Erinnerungen bewahren in der Gesprächsform sehr angenehm ihre Subjektivität.

Wolfram Knauer (März 2013)


 

ECM. Eine kulturelle Archäologie
von Okwui Enwezor & Markus Müller
München 2012 (Prestel)
304 Seiten, 49,95 Euro
ISBN: 978-3-7913-5284-8

2012enwezorSeit 1969 prägt das Plattenlabel ECM die Musiklandschaft mit, hat dabei den Jazz, tatsächlich aber weit mehr als den Jazz neu definiert – oder zumindest anders, offenohriger definiert. ECM ist nicht nur eines der erfolgreichsten Plattenlabels auf dem Markt; es ist zugleich wohl das Label, über dessen Produktionen am meisten geschrieben wurde: von Musikwissenschaftlern, Kulturhistorikern, Kunstgeschichtlern und vielen anderen. Aus Anlass einer großen Ausstellung im Münchner Haus der Kunst haben Okwui Enwezor und Markus Müller einen Katalog herausgebracht, der sich zugleich als kulturelle Spurensuche oder, wie der Untertitel es nennt, als “kulturelle Archäologie” zu ECM versteht.

In einem ersten Kapitel erzählt Okwui Enwezor, Kurator des Hauses der Kunst, über die Konzeption der Ausstellung und das grundsätzliche Problem, Musik im Museum zu präsentieren. Markus Müller ordnet ECM im zweiten Kapitel in den “Kontext unabhängiger Schallplattenfirmen und der Selbstbestimmung von Musikern in den 50er, 60er und 70er Jahren” ein und verweist dabei auf Debut Records, die AACM, FMP und andere Projekte jener Jahre.

Ein Gespräch der Herausgeber mit Manfred Eicher, Steve Lake und Karl Lippegaus erlaubt einen spannenden Blick hinter die Kulissen, erzählt, wie das anfangs kleine Labelprojekt größer und professioneller und die Musikwelt neben der Auswahl der Künstler auch auf die klangliche Qualität der ECM-Alben aufmerksam wurde. Eicher betont dabei, wie wichtig ihm immer war, neben dem Verkaufbaren auch Platten zu machen, “die nicht produziert wurden, um verkauft zu werden, sondern damit es sie überhaupt gab”.

Wolfgang Sandner sondiert die Wege, auf denen ECM sowohl Jazz- wie auch Tonträgergeschichte schreiben konnte. Diedrich Diederichsen greift sich Paul Bley und Annette Peacock heraus und beschreibt in einem sehr persönlichen Artikel das, was er die “Beckett-Linie” bei ECM nennt. Kodwo Eshun reflektiert über das ästhetische und dabei zugleich gesellschaftliche Selbstverständnis des Trios Codona. Jürg Stenzl schaut auf den Regisseur Jean-Luc Godard und auf Manfred Eicher als Mehrfachbegabungen. Steve Lake folgt mit einer Label-Chronologie von 1969 bis 2012. Schließlich beendet eine Diskographie aller ECM-Produktionen bis Drucklegung das Buch.

Neben den lesenswerten und aus unterschiedlicher Sicht auf ECM blickenden Essays sind natürlich auch die Fotos zu erwähnen, die dieses Buch, das schließlich als “Ausstellungskatalog” daherkommt, zugleich zu einem spannenden Blättererlebnis machen. Viele seltene Abbildungen der Musiker, des Produzenten, privat, auf Tour, im Studio, streichen dann vor allem noch eins heraus: die zutiefst menschliche Seite hinter dem Erfolg von ECM.

Wolfram Knauer (März 2013)


 

Eurojazzland. Jazz and European Sources, Dynamics, and Contexts
herausgegeben von Luca Cerchiari & Laurent Cugny & Franz Kerschbaumer
Boston 2012 (Northeastern University Press)
484 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-58465-864-1

2012eurojazzlandImmer noch fehlt eine zusammenfassende Geschichte des Jazz in Europa, ein Buch, das nationale Entwicklungen genauso skizziert wie Einflüsse zwischen Regionen, das stilistische Identitäten beschreibt und die Abgrenzungen und Annäherungen an den US-amerikanischen Jazz analysiert. “Eurojazzland”, das sei vorab schon angemerkt, ist nicht dieses lang ersehnte Buch. Stattdessen ist es eine Sammlung mehr oder weniger disparater Essays, die sich auf sehr unterschiedliche Art und Weise mit Beziehungen zwischen einem Kontinent (Europa) und einer Musik (dem Jazz) beschäftigen.

Die Herausgeber haben ihren Band in drei Teile strukturiert: einen ersten, der sich mit “Europa als der Quelle des Jazz” befasst, also jene Wurzelstränge des Jazz sucht, die in Europa liegen; einen zweiten, der “Jazz Meets Europe” überschrieben ist; sowie einen dritten Teil, der den etwas unklaren Titel “The Circulation of Eurojazzland” trägt und theoretischere Ansätze hinterfragt, ob von musikwissenschaftlicher oder musikkritischer Seite.

Im ersten Teil sucht Franz Kerschbaumer nach irischen und schottischen Wurzeln des Jazz und findet Swingrhythmen in europäischem Folk und verschiedenster Popmusik. Bruce Boyd Raeburn, Kurator des Jazzarchivs in New Orleans, ist dem “Spanish Tinge” auf der Spur und findet, dass etliche der Bezüge zwischen New Orleans und Lateinamerika noch der Erforschung harren. Martin Guerpin fragt nach dem Interesse europäischer Komponisten am Jazz und untersucht Claude Debussys “Golliwog’s Cakewalk”, Erik Saties “Ragtime du Paquebot” und Darius Milhauds “La Création du Monde”. Vincent Cotro fragt sich, ob es eine spezifisch französische Tradition des Umgangs mit Streichinstrumenten im Jazz gibt. Luca Cerchiary sucht nach europäischen Wurzeln im Standardrepertoire des Jazz. Arrigo Cappelletti schließlich befasst sich mit pan-europäischen Projekten aktueller Improvisatoren.

Im zweiten Teil beschreibt Rainer E. Lotz interkulturelle Verbindungen in der Vorgeschichte des Jazz in Europa. Catherine Tackley Parsonage nähert sich Benny Carters britischen Jahren 1936-1937 an. John Edward Hasse untersucht die Besuche Duke Ellingtons in Frankreich zwischen 1933 und 1973. Manfred Straka beschreibt die verschiedenen Ausformungen der Cool-Jazz-Rezeption in Europa. Davide Ielmini spricht mit dem Komponisten Giorgio Gaslini über die Unterschiede der Jazzkomposition in den USA und hierzulande. Alyn Shiption versucht eine Annäherung ans New-Orleans-Revival und beschreibt die Unterschiede dieser Bewegung in Großbritannien und Frankreich. Ekkehard Jost fragt, wohin die Emanzipation der europäischen Avantgarde in den 1960er und frühen 1970er Jahren wohl geführt haben mag.

Im dritten Teil fragt Laurent Cugny nach der Rolle Europas in der “Entdeckung” oder wenigstens der Popularisierung des Jazz. Jürgen Arndt fragt nach kulturellen Dialogen und Spannungen zwischen Europa und Amerika im Rahmen der politischen Umwälzungen der 1960er Jahre. Tony Whyton wirft einen Blick auf Themen europäischer Jazzforschung. Mike Heffley entdeckt beim Blick auf Europa-Emigranten Joseph Schillinger, Joe Zawinul, Karl Berger und Marian McPartland seine eigene Geschichte. Gianfranco Salvatore fragt nach elektronischen Instrumentenerfindungen des 20sten Jahrhunderts, die auch im Jazz ihren Niederhall fanden. Herbert Hellhund versucht schließlich eine Übersicht über die Entwicklungen eines zeitgenössischen europäischen Jazz der Postmoderne zu geben.

All das also sind Schlaglichter auf Themen europäischer Jazzgeschichte, und jedes der Kapitel verdient Weiterdenken und Weiterforschen. Einmal mehr macht das Buch dabei bewusst, dass es an einer ordentlichen Vernetzung der europäischen Jazzforschung immer noch mangelt und – noch mehr als alles andere, an einem – englischsprachigen – Buch, das europäische Jazzgeschichte als eigenständiges Narrativ in all ihren Verbindungen und Zwängen erzählt. Es bleibt also noch einiges zu tun an Grundlagenforschung zum europäischen Jazz. Genügend – sehr unterschiedliche – Ansätze gibt es offenbar, wie dieses Buch zeigt.

Wolfram Knauer (März 2013)


 

Sam Morgan’s Jazz Band. Complete Recorded Works in Transcription
(MUSA = Music of the United States, Volume 24)
herausgegeben von John J. Joyce Jr. & Bruce Boyd Raeburn & Anthony M. Cummings
Middleton/WI 2012 (A-R Editions)
260 Seiten, 260 US-Dollar
ISBN: 978-0-89579-724-7

2012morganHerausgeber Anthony Cummings stapelt hoch: Dieses Buch stelle nicht nur eine Gesamtausgabe dar, sondern sogar die erste wissenschaftliche Ausgabe des gesamten aufgenommenen Oeuvres eines Jazzmusikers. Nun hinterließ Sam Morgan nicht allzu viele Aufnahmen, so dass er sich sicher besser für eine solche Aufgabe anbietet als andere. King Oliver oder Jelly Roll Morton – von dem James Dapogney immerhin vor vielen Jahren eine nicht minder exzellente kritische Ausgabe herausbrachte – hätten viel zu viele Platten hinterlassen, als dass eine Gesamtausgabe möglich oder auch sinnvoll wäre. Der geringe Umfang des Repertoires allerdings war sicher nicht ausschlaggebend bei der Wahl Morgans; eher schon die unbestrittene Qualität der Aufnahmen, ihre Beispielhaftigkeit für einen frühen Jazzstil, wie er auch in New Orleans erklang. Anders als Oliver oder Morton nämlich wurden diese Platten in der Stadt am Mississippidelta selbst eingespielt, nicht also in Chicago oder Richmond oder wo immer sonst die meisten Dokumente des frühen Jazz entstanden.

In einem lesenswerten 20-seitigen Aufsatz erklärt Bruce Boyd Raeburn, der Leiter des Jazzarchivs an der Tulane University, was den frühen New-Orleans-Stil auszeichnet und welche Unterschiede es zu Beginn des 20sten Jahrhunderts in den musikalischen Konzepten früher Jazzmusiker gab. Vor allem beschreibt er die beiden konträren Pole von “hot” und “sweet”-Ansätzen, für die er exemplarisch die Bands von Sam Morgan und Armand Piron nennt. Er hinterfragt die Notenfestigkeit früher Jazzmusiker und diskutiert die Rolle von Hautfarbe, ethnischer Herkunft und Alter der Spieler. Schließlich beschreibt er die Arbeitsbedingungen der Band und die Umstände der Aufnahmen, um die es im Rest des Buchs geht.

John J. Joyce Jr. erklärt anschließend die Herangehensweise bei, also die technische Seite der Transkription. Die Ausgabe solle, so schreibt er, sowohl für Forscher als auch für Musiker nutzbar sein, daher habe man sich darauf geeinigt, so konventionell wie möglich zu notieren. Joyce nennt Schwierigkeiten, etwa das Auseinanderhalten der beiden Trompeter in den Aufnahmen. Auch die Notation des Schlagzeugparts sei eine besondere Herausforderung und das Banjo stellenweise kaum heraushörbar gewesen. Er benennt die Hilfsmittel, insbesondere Software, die den Transkribenden erlaubten, Klänge zu analysieren und in einzelne Linien zu strukturieren. Schließlich gibt er eine Legende der Notationsbeizeichen, die vor allem verschiedene Ansätze an einzelne Töne beschreiben.

Jeder einzelne der acht Transkriptionen – es sind dies: “Steppin’ on the Gas”, “Everybody’s Talking About Sammy”, “Mobile Stomp” und “Sing On”, aufgenommen am 14. April 1927, sowie “Short Dress Gal”, “Bogalusa Strut”, “Down By the Riverside” und “Over in the Gloryland”, aufgenommen am 22. Oktober 1927 – steht eine kurze formale Ablaufbeschreibung voran. Die Umschrift selbst dann nimmt je eine volle Seite ein mit Stimmlinien für Klarinette, zwei Saxophone, zwei Trompeten, Posaune, Bass, Banjo, Piano und Schlagzeug. Nach jeder Transkription gibt es einen kritischen Apparat mit Hinweisen auf transkriptorische Annäherungen und sonstige Besonderheiten, die im Notentext nicht näher bezeichnet werden konnten. Zum Schluss des Buchs findet sich dann noch eine Bibliographie über Sam Morgan mit Hinweisen auch auf Oral-History-Material und sonstige Quellen für eine eingehendere Weiter-Forschung an der Musik Sam Morgans.

Die MUSA-Reihe, eine Art Denkmälerausgabe zur amerikanischen Musik ist in ihrem stilübergreifenden Ansatz ein überaus wichtiges Projekt. Der Band zu Sam Morgan ist nach früheren Bänden mit Transkriptionen von Thomas ‘Fats’ Waller und Earl Hines der dritte dem Jazz gewidmete Band der Reihe. Er wird – sicher auch des stolzen Preises – vor allem in musikwissenschaftlichen Bibliotheken zu finden sein. Zugleich ist er beispielhaft dafür, wie eine kritische Ausgabe jazzmusikalischer Transkriptionen aussehen kann und stellt damit eine bedeutsame Ergänzung der Dokumentation der frühen Jazzgeschichte dar.

Wolfram Knauer (Februar 2013)


 

Jazz Puzzles, Volume 1
Von Dan Vernhettes & Bo Lindström
Saint Etienne 2012 (Jazz’edit)
240 Seiten, 40 Euro (+ 10 Euro Versandkosten)
ISBN: 9782953483116
www.jazzedit.org

2012vernhettesMit “Traveling Blues” hatten Dan Vernhettes und Bo Lindström 2009 eine beispielhafte Studie über den Trompeter Tommy Ladnier vorgelegt, der sie jetzt, in der Aufmachung nicht weniger opulent, ein Buch folgen lassen, in dem sie sich vierzehn frühe Musiker der Jazzgeschichte vornehmen, um ihre Biographien teilweise neu aufzurollen, teilweise auf den neuesten Stand zu bringen.

“Jazz Puzzles” heißt das Werk im LP-Format mit vielen sorgfältig reproduzierten Fotos und Dokumenten, für dass die beiden Autoren sich mit anderen Kennern des frühen New Orleans vernetzt und in Archiven insbesondere in und um New Orleans recherchiert haben. Sie beginnen mit der Geschichte des Bandleaders John Robichaux, dessen Biographie sie akribisch nachzeichnen, dabei neben den Lebens- auch die Spielorte und Arbeitsbedingungen erläutern und auf die Konkurrenz zu Buddy Bolden eingehen. Unter anderem beschreiben sie die Notensammlung der Band, die heute im Hogan Jazz Archive in New Orleans bewahrt wird. Wie einige andere der frühen Heroen der Musik in New Orleans nahm Robichaux, der bis in die 1930er Jahre hinein ein Society Orchester leitete, keine Schallplatten auf. Umso wertvoller daher die einfühlsamen Annäherungen aus biographischen Details an seine Musik.

In ihrem Kapitel über Buddy Bolden fassen Vernhettes und Lindström erst einmal die Literaturlage zusammen und gehen auch im Rest des Kapitels immer wieder auf widerstreitende Meinungen vorhergehender Autoren oder aber auf Mutmaßungen und Spekulationen ein, um diese mit Quellen zu verifizieren. Insbesondere fragen sie nach dem von Bolden gespielten Repertoire, nach den Bedürfnissen einer Tanzmusik in jener Zeit, nach dem karibischen Einfluss, nach Ragtime- und religiösen Elementen in seiner Musik sowie nach der Bedeutung des Blues für diese frühe Form des Jazz. Sie hinterfragen die Bedeutung des Wortes “ratty” in Bezug auf Boldens Spiel, befassen sich mit Papa Jack Laines Aussagen über den Jazz in New Orleans und dabei auch mit der kulturellen Durchlässigkeit zwischen Hautfarben und Ethnien. Sie untersuchen, wo Bolden tatsächlich spielte und beschreiben, wie sich seine allbekannten psychischen Probleme äußerten. Sie gehen der Legende eines verschollenen Buddy-Bolden-Zylinders nach und beschreiben die erhaltenen Bandfotografien. Schließlich gehen sie auf einige der direkt sich auf Bolden beziehenden Nachfahren des Kornettisten ein, die Eagle Band, Frankie Duson, Louis Knute, Edward Clem, John E. Pendleton und Albert Tig Chambers.

Ähnlich sorgfältig machen sich die Autoren auch auf die Spur weiterer Musiker, Manuel Perez etwa, der sich, wie sie schreiben, als Kreole nie ganz an das Hot-Jazz-Konzept der neuen Musik gewöhnt habe, oder Ernest Coucault, der in den 1920er Jahren als Trompeter der Sonny Clay Band in Kalifornien aufgenommen wurde und mit dieser Band 1928 auch nach Australien reiste. Sie gehen der Biographie King Olivers auf den Grund, bebildern das alles etwa mit einem Plakat, die einen Auftritt der Magnolia Band 1911 im Lincoln Park ankündigt, mit Einberufungsbefehlen für Honoré Dutrey und Peter Ciaccio, und folgen ihm erst nach Chicago, dann nach Kalifornien und zurück in die Windy City, wo sie sein Kapitel genau zu dem Zeitpunkt beenden, als Louis Armstrong zur Creole Jazz Band stößt. Der Trompeter Chris Kelly erhält ein eigenes Kapitel, dessen Spiel auch Armstrong beeinflusst habe, der aber genau wie andere seiner Zeitgenossen nie den Weg ins Plattenstudio fand. Freddie Keppard hatte zwar die Chance verspielt, die offiziell ersten Jazzaufnahmen zu machen, hinterließ aber immerhin bedeutende Einspielungen.

Andere Meister des frühen Jazz, die ausführlich beleuchtet werden, sind Lorenzo Tio Jr., Arnold Metoyer, Evan Thomas, Punch Miller, Buddy Petit, Sidney Bechet (in seinen ersten Jahren in New Orleans) und Kid Rena. Und nebenbei wird eingehend auch auf viele der Musiker eingehen, die irgendwann den Weg der Kapitelhelden kreuzten.

Dan Vernhettes und Bo Lindströms Buch bietet in jedem seiner Kapitel eine Unmenge an Details und kenntnisreichen Querverbindungen, die helfen, den frühen Jazz in New Orleans besser zu verstehen, die zugleich aber auch bewusst machen, wie komplex eine Beschreibung der Jazzgeschichte sein kann, nein, sein muss, um musikalische Einflüsse, Arbeitsbedingungen und ästhetische Entscheidungen zu erklären.

Die Puzzleteilchen, die Vernhettes und Lindström legen, haben klare Kanten und Konturen und erleichtern es uns andere Puzzlestückchen einzupassen. Die vielen Fotos, Dokumente und Karten lassen die Musikszene in New Orleans zwischen 1900 und 1920 erstaunlich klar auferstehen. Ein großartiges Buch, weiß Gott nicht nur für Freunde des traditionellen Jazz.

Wolfram Knauer (Februar 2013)


 

Brötzmann. Gespräche
Herausgegeben von Christoph J. Bauer
Berlin 2012 (Posth Verlag)
184 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-944298-00-9

2012bauerPeter Brötzmann ist nicht aufs Saxophon gefallen, auf dem er seit vielen Jahren sagt, was er zu sagen hat. Aber er ist auch nicht auf den Mund gefallen und macht auch hier kein Federlesens. Im Gespräch mit dem Philosophen und Publizisten Christoph J. Bauer ist jetzt ein ungemein offenes, lesenswertes und diskussionsmunteres Buch erschienen, das den simplen Titel “Brötzmann. Gespräche” trägt, aber genauso gut als Versuch einer Autobiographie gelten könnte, die von Erinnerungen über Meinungen und Haltungen und zurück zu Erinnerungen führt, von ästhetischer Einordnung über Reflexionen zum Leben und Überleben als Musiker bis hin zu sehr Privatem. Das alles hat Bauer so niedergeschrieben, wie es im Gespräch erklang, als O-Ton Brötzmann, einzig gegliedert durch knappe Zwischenüberschriften, die dem Leser das Blättern erleichtern, ihn zum Querlesen einladen, welches immer wieder im Sich-Festlesen mündet.

Im Vorwort erklärt Bauer sein eigenes Interesse an Brötzmann, seiner Musik und dem Gespräch mit dem Saxophonisten. Die Idee zu dem Buch sei ihm nach der Lektüre eines Artikels in der Süddeutschen Zeitung gekommen, in dem Brötzmann zitiert wurde, er würde sein Tentet “über die musikalischen Belange hinaus auch als ein Beispiel gesellschaftlichen Zusammenlebens” verstehen. Das machte Bauer nun doppelt neugierig, und so näherte er sich in vier in Brötzmanns Wohnung geführten Gesprächen dessen Vorstellung von Musik, Gesellschaft, Ästhetik und vielem anderen.

Im Gespräch mauert Brötzmann nirgends, spricht über den Jazz als ursprünglich schwarze Musik und die Bedeutung von schwarz und weiß im heutigen amerikanischen Jazz. Er äußert sich zum Kommunismus, zum Sozialismus, zu den Zuständen in der DDR, zu politischem Bewusstsein und politischer Verantwortung der Musiker im Tentet, zu kulturellen Unterschiede etwa in Japan, zum Hören ganz allgemein, zu seiner Liebe zu Coleman Hawkins, Sonny Rollins, Don Byas und dem Blues oder zur Idee und der Realität des Free Jazz. Er reflektiert darüber, inwieweit Musik etwas mit Geschichtenerzählen zu tun habe und erinnert sich daran, wie seine Musik durchaus als Provokation aufgefasst wurde. Er erzählt von seinen Tourneen durch die USA und davon, wie schwierig das alles schon rein visa-organisatorisch sei. Er spricht über das Publikum, über Aufnahmetechnik, über Konkurrenz auf der Bühne und über Respekt – anderen Musikern genauso wie anderen Kulturen gegenüber. Fluxus ist ein Thema – Brötzmann hatte einst als Assistent für Nam June Paik gearbeitet –, und von da aus geht das Gespräch schnell zur eigenen Bildenden Kunst Brötzmanns und deren Zusammenhang mit der Musik. Die beiden sprechen über die Unterscheidung zwischen “U” und “E”, übers Globe Unity Orchestra und Krautrock, über Joachim Ernst Berendt, das Berliner Jazzfest und das Total Music Meeting als Gegenveranstaltung. Brötzmann äußert sich auch offen zu Alkohol und Drogen und ihren teilweise fatalen Auswirkungen, zu seiner eigenen Auseinandersetzung mit europäischen Philosophen, zum Thema der Sexualität, das insbesondere in seinen Bildern eine große Rolle spielt.

Das alles fasst Bauer schließlich in einem abschließenden vierzehnseitigen Essay zusammen, der versucht, die “soziale Struktur einer Gemeinschaft von Improvisatoren” zu ergründen. “Brötzmann. Gespräche” ist ungemein lesenswert, abwechslungsreich, informativ und intensiv – ein wenig wie Brötzmann selbst, möchte man meinen und doch wieder weit abgeklärter als seine Musik, deren Intensität ja vor allem in ihrer Direktheit entsteht, die ihrerseits im nachdenklichen Hinterfragen, wie es in diesem Buch deutlich wird, eine fast schon dialektische Untermauerung erfährt.

Wolfram Knauer (Dezember 2012)


 

Jazz Covers
herausgegeben von Joaquim Paulo & Julius Wiedemann
Köln 2012 (Taschen)
2 Bände, Hardcover im Schuber, 600 Seiten, 39,99 Euro
ISBN: 978-3-8365-2406-3

2012pauloAls Musik des 20sten Jahrhunderts haben den Jazz die Entwürfe seiner Plattencover immer mit begleitet. Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe an Büchern über die Kunst der Plattengestaltung, darunter den großartigen Katalog einer Ausstellung in Valencia, die 1999 die Entstehung des Jazz-Plattencovers verfolgte und mit vielen Ausstellungsstücken aus dem Fundus des Jazzinstituts bestückt war.

Nun haben Joaquim Paulo und Julius Wiedemann eine quasi lexikalische Sammlung wichtiger Plattencover herausgegeben, die diesmal nicht nach Künstlern oder Plattenlabels, sondern nach den Künstlern des Jazz sortiert ist. Das schwere, zweibändige, in einem dicken Pappschuber gelieferte Opus ist im LP-Format gehalten. Etliche der Abbildungen nehmen die ganze Seite ein, viele andere sind kleiner gehalten und haben kurze Beschreibungen entweder zu den Musikern der dargestellten Alben oder zu den Grafikern, die das Cover entworfen hatten. Diese Sortierung sorgt vor allem für Vielfalt und Überraschungsmomente, wenn beispielsweise Platten aus den 1950ern solchen aus den 1970ern gegenüberstehen. Das ist in etwa auch die Zeitspanne, die “Jazz Covers” umfasst, vielleicht nicht ganz zu Unrecht, obwohl man sich schon fragen mag, warum nicht zumindest die 1980er Jahre noch mit berücksichtigt wurden, wo doch der große Einschnitt auch in die Gestaltung von Tonträgern erst Ende der 1980er mit dem Aufkommen der CD geschah.

Interviews mit dem Designer Bob Ciano, den Produzenten Michael Cuscuna und Creed Taylor, dem Kritiker und Fotografen Ashley Kahn und dem Plattenladenbesitzer Fred Cohen führen jeweils in die beiden Bände ein, die ansonsten vor allem zum Blättern einladen, zum Entdecken und – sofern die Aufnahmen vorhanden sind – zum Wiederhören.

Wolfram Knauer (Dezember 2012)


 

Pepper Adams’ Joy Road. An Annotated Discography
von Gary Carner
Lanham/MD 2012 (Scarecrow Press)
553 Seiten, 44,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8256-0

2012carnerMusikwissenschaftlern wie Jazzforschern erkläre ich gelegentlich, Diskographien im Jazz würden meist von Privatforschern in ihrer Freizeit erstellt, seien aber tatsächlich in etwa den Werkverzeichnissen der klassischen Musik vergleichbar, mit denen Musikwissenschaftler sich schon mal einen Doktorgrad verdienen.

Ein wenig hinkt dieser Vergleich, denn anders als musikwissenschaftliche Werkverzeichnisse untersuchen Diskographien selten die Musik selbst, beschäftigen sich stattdessen in der Hauptsache mit der Verbreitung musikalischer Produkte, der Schallplatten also, veröffentlichter und nicht veröffentlichter Aufnahmen. Das kann für den “Leser” herkömmlicher Diskographien recht langweilig sein, da vieles an Information hinter den Listen versteckt ist, den Besetzungslisten, den Aufnahmedaten, den Informationen über Studio, Ort, vielleicht sogar Tageszeit, über Originalveröffentlichung, Zahl der Takes, Wiederveröffentlichung auf unterschiedlichsten Medien.

In den letzten Jahren sind einige beispielhafte Diskographien erschienen, in denen die ureigene Aufgabe der Diskographie, also das Auflisten von Aufnahmen, durch zusätzliche Information erweitert wurde, die teils biographischer Natur sind, teils auf Details der Musik eingehen. Gary Carners dickes Opus über den Baritonsaxophonisten Pepper Adams gehört zu dieser neuen Spezies von Diskographien, die weit mehr liefern als nur Daten und Fakten. Garner arbeite in den Mitt-1980er Jahren mit Adams an seiner Autobiographie, interviewte dann nach Adams Tod im Jahr 1986 viele der Kollegen, die mit dem Baritonsaxophonisten gespielt hatten oder im Studio zusammengetroffen waren. Mit Hilfe vieler diskographischer Freunde entdeckte er zudem etliche unveröffentlichte Aufnahmen.

Sein Buch beginnt im September 1947 mit einer unveröffentlichten Demo-Aufnahme aus Detroit, an der neben Pepper Adams auch der Pianist Tommy Flanagan beteiligt war; es endet im Juli 1986, nur drei Monate vor dem Tod des Musikers mit einem Rundfunkmitschnitt vom Montréal Jazz Festival. Dazwischen finden sich Hunderte Aufnahmen, bekannte genauso wie unbekannte, eingespielt im Studio oder mitgeschnitten bei Konzerten oder Festivals. In einem kurzen Anhang nennt Carner gerade mal vier Sessions, von denen er weiß, die er aber nie gehört hat bzw. die offenbar nirgends mehr existieren.

Ansonsten ist das Buch eine reiche Fundstelle für Details. Carner unterhielt sich mit vielen der an den Einspielungen beteiligten Musiker über die Atmosphäre im Studio, über Schwierigkeiten, über gelungene genauso wie misslungene Aufnahmen. Die Texte sind den entsprechenden Einträgen zugeordnet, was eher zum Blättern einlädt als dass es zur Lektüre in einem Stück ermutigt. Carners Einleitungen der O-Töne mögen auf Dauer etwas eintönig daherkommen: “xxx told the author”, “in an interview with the author”, “according to xxx in a letter to the author” etc., ein bis zweimal auf jeder Seite. Hier wären Fußnoten sicher die lesbarere Alternative gewesen.

Doch ist Carners Werk auch kein Lesebuch im üblichen Sinne. Es ist eine annotierte Diskographie und als solche ganz gewiss beispielhaft dafür, was diese Wissenschaft über das bloße Kartieren von Aufnahmedaten hinaus sonst noch vermag. Der nächste Schritt wäre die Verquickung dieses Ansatzes mit zumindest in Teilen analytischen Kommentaren zur Musik. Aber auch so ist Carners “Pepper Adams’ Joy Road” bereits jetzt das Standardwerk zum Baritonsaxophonisten Pepper Adams.

Wolfram Knauer (November 2012)


 

The Jazz Standards. A Guide to the Repertoire
Von Ted Gioia
New York 2012 (Oxford University Press)
5237 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-993739-4

2012gioiaHans-Jürgen Schaal hat Ted Gioias Buch über die Jazz-Standards eigentlich schon geschrieben, aber deutsche Literatur wird in englischsprachigen Ländern leider immer noch kaum berücksichtigt. Titel und Ansatz beider Bücher jedenfalls sind ähnlich, und wo Schaals Buch von 2001 320 Jazz-Standards listet, sind es bei Gioia “nur” etwa 250 Kompositionen.

Dabei überschneiden sich die beiden Autoren keinesfalls; ihre Auswahl ist in Einzelheiten durchaus unterschiedlich. Schauen wir uns nur den Buchstaben “P” in beiden Büchern an: Schaal beginnt mit “Pannonica”, “Paradise Stomp”, “Parker’s Mood”, “Passion Flower”, die alle bei Gioia nicht vorkommen, der stattdessen mit “Peace” und “The Peacocks” beginnt, die wiederum Schaal nicht listet.

Wie Schaal widmet sich auch Gioia in seinen einzelnen Kapiteln jeweils kurz der Kompositions-Genese, um dann einen Blick auf die interessantesten Jazz-Interpretationen zu werfen. Am Schluss eines jeden Eintrags steht eine kurze Auflistung wichtiger Aufnahmen, ohne Hinweise allerdings auf aktuelle Plattenveröffentlichungen – das Buch ist für die Zukunft gedacht, und die Wiederveröffentlichungen insbesondere etlicher der älteren Aufnahmen sind einfach zu unübersichtlich, um eine einzelne herauszugreifen. Man findet die großen Aufnahmen aber auch schon mal solche, die man nicht erwartet, etwa, wenn Gioia unter “Struttin’ With Some Barbecue” eine Einspielung Paul Desmonds listet, der den Armstrong-Klassiker 1968 als “Samba With Some Barbeue” aufgenommen hatte. Neben den üblichen Plattenverweisen findet sich dabei ab und an auch ein Hinweis auf jüngere YouTube-Interpretationen. Gioia begründet seine Auswahl an Aufnahmen, dennoch mag jeder Leser seine eigenen Präferenzen wiederfinden oder auch vermissen, anders geht es nun mal nicht in solchen Nachschlagewerken.

Gioia widmet sich den großen Standards, Stücken von George Gershwin, Cole Porter, Irving Berlin, genauso wie den von Jazzmusikern geschriebenen Favoriten, Titeln von Duke Ellington, Charlie Parker, Thelonious Monk. Europäische Nummern finden sich außer Toots Thielemans “Bluesette” und Django Reinhardts “Nuages” keine, und auch in den Hinweisen auf Platten sind kaum europäische Interpretationen zu finden. Die Erläuterungen zu den Titeln klären schon mal Legenden auf – etwa um die Urheberschaft von “Blue in Green” oder um das tatsächliche Geburtsjahr von Eubie Blake. Ab und an bietet Gioia auch persönliche Anekdoten, etwa, dass er “Stella By Starlight” in seinen 20ern so lange toll fand, bis er herausfand, dass seine Mutter den Text kannte (und er hatte gar nicht gewusst, dass das Stück einen Text besaß), worauf er sich nach einem Stück umsah, dass seine Mutter nicht mögen würde.

Gioias Einleitung zum Buch ist kurz und vergibt die Chance auf eine in solch einem Buch durchaus wünschenswerte Diskussion, was (1.) einen Jazz-Standard überhaupt ausmacht und wie sich die Repertoirewahl in den letzten Jahrzehnten verändert hat (und warum). Er erklärt, dass er Stücke ausgelassen hat, die in älteren Stilen zu den Standards zählen mögen, aber heute kaum mehr zu hören sind, und dass ihm Titel von Radiohead, Björk, Pat Metheny, Maria Schneider und anderen nicht stark genug im Umlauf schienen, um sie aufzunehmen. Und wer entgegnet, mit “Time After Time” fände sich immerhin Cyndi Laupers Stück im Buch, der irrt: Es handelt sich auch hier um ein älteres Stück von Jule Styne, das Sarah Vaughan 1946 zum ersten Mal mit Teddy Wilson eingespielt hat.

Im Vergleich der beiden Bücher – Schaal / Gioia – geben die beiden Autoren sich nichts; ihre Ansätze sind dafür zu ähnlich. Für Hörer, die ein wenig mehr über das Repertoire wissen wollen, das den Jazz beherrscht, sind beide Bücher eine empfehlenswerte Lektüre. Gioias “Jazz Standards” überzeugt insbesondere in der Lockerheit des Stils, der den Leser ermutigt, zu blättern, einzelne Stücke herauszugreifen, weiterzulesen, zu entdecken – und dann vielleicht gespannt an den eigenen Plattenschrank zu gehen, um die Musik zu hören.

Wolfram Knauer (November 2012)


 

Shall We Play That One Together. The Life and Art of Jazz Piano Legend Marian McPartland
Von Paul de Barros
New York 2012 (St. Martin’s Press)
484 Seiten, 35 US-Dollar
ISBN: 978-0-312-55803-1

2012debarrosMarian McPartland hat viele Karrieren: als Pianistin, als Rundfunkmoderatoren, als Beispiel für viele Frauen, die im Jazz nicht nur als Sängerinnen, sondern als Instrumentalistinnen ernst genommen werden wollten. Für ihre erfolgreiche Radioshow “Piano Jazz”, die seit 1978 auf National Public Radio läuft, gelang es ihr, mit dem Charme einer Frau, der Exotik einer amerikanisierten Britin, die ihren Akzent und ihre fast fan-hafte Bewunderung für die Jazzmusiker immer beibehalten hatte, und dem musikalischen Handwerkszeug, das allen Kollegen imponierte, ihren Hörern ein Fenster in die Werkstatt des Jazz zu öffnen, das bis heute beispiellos ist in der Offenheit, mit der die Gäste über stilistische Entscheidungen oder harmonische Progressionen redeten, als sei es eben doch nur ein professioneller Plausch zwischen zwei Kollegen.

Marian McPartland hat selbst über viele Jahre journalistisch gearbeitet, Kollegen interviewt, über Begegnungen und Konzerte berichtet. Nun hat Paul de Barros ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben, von den Kindheitstagen nahe Windsor Castle, ihre früh erkannte Musikalität – sie besitzt das absolute Gehör – und ihre erste Liebe zum Jazz, als sie in der Schule Aufnahmen von Bud Freeman, Muggsy Spanier, Sidney Bechet, dem Benny Goodman Trio und Duke Ellington hörte. Mit 17 bewarb sie sich an der Guildham School of Music and Drama in London und wurde angenommen. Bald nahm sie außerdem Stunden bei Billy Mayerl, der sie einlud, mit ihm auf Tournee zu gehen in einer Show mit vier Klaviervirtuosen. Sie genoss die Bühne und das Reisen und entschied sich, das Konservatorium ohne Abschluss zu verlassen. Sie machte sich einen Namen in England, dann aber kam der Krieg, und 1944 entschied sich Marian, als Musikerin an Tourneen der Truppenbetreuung teilzunehmen.

In den Ardennen traf sie den Kornettisten Jimmy McPartland, der in ähnlicher Mission zur Unterhaltung der amerikanischen Truppen unterwegs war. Die beiden heirateten, ein “odd couple”, wie Roy Eldridge sie später beschrieb, die “gute Tochter” aus England und der dem Alkohol zugeneigte Unterschichten-Trompeter aus Chicago. Sie reisten durch Europa, Garmisch, Paris, ein Nachmittag bei den Nürnberger Prozessen, wo sie Hermann Göring gegenübersaß, dann kehrten die beiden im April 1946 zurück – d.h. Marian zum ersten Mal – in die USA.

Paul de Barros unterbricht seine Biographie der Pianistin an dieser Stelle mit einem Exkurs, in dem er Herkunft und Karriere ihres Mannes erzählt, dessen Ruf ihr erheblich dabei behilflich war in New York musikalisch Fuß zu fassen. Die McPartlands lebten in New York und in Chicago, und de Barros erzählt von all den Schwierigkeiten, die die Ehe aushalten musste, meistens wegen Jimmys Alkoholsucht. Marian spielte in seiner Band, daneben aber ging sie jeden Abend aus, um andere Musiker zu hören. 1950 zogen sie zurück nach New York. 1951 nahm Marian ihre ersten Aufnahmen unter eigenem Namen auf, wenig später erhielt sie einen Gig im Embers Club, zu dem durch seltsamste Zufälle keine Geringeren als Roy Eldridge und Coleman Hawkins als “Sidemen” engagiert wurden. Die Presse wurde auf sie aufmerksam, und Marian McPartland zählte bald zu den wenigen Frauen, die als Instrumentalistinnen im Jazz ernst genommen wurden. Später wechselte sie ins Hickory House, wo die halbe New Yorker Jazzwelt regelmäßig vorbeischaute und sich ihrer bewusst wurde. Die Pianistin weiß viele Anekdoten aus diesem Engagement zu erzählen, und de Barros ergänzt diese um Informationen zum Familienleben der McPartlands, die neben einer Wohnung auf der 79sten Straße in Manhattan bald auch ein Häuschen in Long Island besaßen.

Marian erzählt offen von ihrer Beziehung zu Joe Morello, der sich scheiden ließ und sie aufforderte dasselbe zu tun und ihn zu heiraten. Das Jazzgeschäft ging in den 1960er Jahren zurück, und McPartlands neue Tätigkeit als Journalistin für Down Beat war in vielerlei Hinsicht eine Hilfe. Sie war unglücklich, ging regelmäßig zu einem Psychoanalytiker und ließ sich schließlich Ende 1967 von Jimmy scheiden. 1968 gründete sie das Label Halcyon Records, auf dem vor allem Pianisten dokumentiert werden sollten. Sie freundete sich mit dem Komponisten Alec Wilder an, dessen Stücke zu einem wichtigen Teil ihres Repertoires wurden. 1971 folgte sie Mary Lou Williams ins Cookery in Greenwich Village, spielte außerdem im Café Carlyle und ging seit Mitte der 1970er Jahre auch wieder vermehrt auf Tournee.

1978 produzierte Marian McPartland ihre erste “Piano Jazz”-Show mit der von ihr bewunderten Kollegin Mary Lou Williams. Die Geschichten insbesondere über die etwas schwierigeren der Gäste sind höchst amüsant zu lesen und machen einen neugierig diese Shows noch einmal zu hören. Anfang der 1980er Jahre zog sie wieder mit Jimmy McPartland zusammen, der Anfang 1991 starb. McPartland wurden mit zunehmendem Alter und wachsender Gebrechlichkeit ein wenig schwieriger für ihre Umwelt, beschwerte sich über dies und das, wurde ungeduldig, unfair zu denen, die sie umsorgten. Aber sie machte weiter ihre gefeierte Radio-Show, lud immer mehr junge Gäste ein, Kollegen wie Marilyn Crispell oder Brad Mehldau, selbst Elvis Costello. Am 6. Juni 2010 wurde Marian McPartland zum Officer of the Most Excellent Order of the British Empire (OBE) ernannt.

Paul de Baros’ Buch ist eine “labor of love”, zugleich ein ungemein offenes Buch über eine großartige Musikerin, eine Wanderin zwischen den Welten, die viel vom Jazz erhielt und viel zurückgab über all die Jahre. Ein dickes Buch, eine ungemein vergnügliche Lektüre, absolut empfehlenswert.

Wolfram Knauer (November 2012)


Storia del Jazz. Una prospettiva globale
Von Stefano Zenno
Viterbo 2012 (Stampa Alternativa)
602 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978-88-6222-184-9

2012zenniNoch eine Jazzgeschichte, mag man denken, aber jede Generation sollte ihre eigene Sicht auf die Geschichte dieser Musik werfen, denn sowohl das Geschichtsbewusstsein wie auch das Wissen um Einflüsse und Wirkungsstränge der Historie ändern sich. Stefano Zenni also hat eine neue 600seitige Jazzgeschichte in italienischer Sprache geschrieben, aus Sicht eines Musikwissenschaftlers mehr als eines Historikers, mit Blick auf musikalische Entwicklungen mehr als auf Anekdoten.

Zenni verspricht zudem eine globale Perspektive, und es ist an dieser Stelle, an der sein Buch seinem eigenen Anspruch nicht ganz gerecht wird. Europa wird immer mal wieder erwähnt, aber die Diskussion um die Wertigkeit einer europäische Sichtweise auf den Jazz, die insbesondere in den letzten Jahren wieder zunahm, spiegelt sich in seinem Buch höchstens am Rande. Ansonsten ist die “Storia del Jazz” vor allem eine Fleißarbeit, dekliniert die Jazzgeschichte durch alle erdenklichen Aspekte, erwähnt Höhepunkte und Einflussstränge, wichtige Aufnahmen und ästhetische Bewegungen. Am sinnfälligsten ist Zennis neue Sicht auf die Jazzgeschichte dort, wo er Kapitelpaarungen vornimmt, die anderen so vielleicht nicht gleich in den Sinn gekommen wären: Bunny Berigan und Roy Eldridge etwa, Mildred Bailey und Billie Holiday, Fats Waller und Nat King Cole oder besonders Eric Dolphy und Bill Evans. Hier animiert er den Leser zum Nachdenken um Gemeinsamkeiten oder zumindest gemeinsame Auslöser für stilistische Entscheidungen und Entwicklungen.

Typographisch hätte man dem Buch eine bessere Absatzgliederung gewünscht; mit der Entscheidung alle Absätze ohne Einschub zu drucken wirken die Seiten über lange Strecken wie Bleiwüsten, durch die man sich kämpfen muss. Aber dann ist dies Buch sicher vor allem als Referenz etwa für Studierende gedacht oder als Nachschlagewerk für Fans. Dem entspricht eine sorgfältige Indizierung im Namens und Titelregister, die das Buch schnell erschließbar machen.

Wolfram Knauer (November 2012)


 

Born to Play. The Ruby Braff Discography and Directory of Performances
Von Thomas P. Hustad
Lanham/MD 2012 (Scarecrow Press)
683 Seiten, 59,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8264-5

A cumulative update with additions and corrections can be requested by the author himself: hustad@indiana.edu:

2012hustadRuby Braff zählt zu den bedeutendsten Individualisten des Mainstream-Stils, der in den 1950er Jahren eine Art Amalgam aus swingendem Dixieland und antreibendem Swing präsentierte. Braff war vielleicht der größte Kammermusiker dieses Stilsegments, der in Dixielandensembles genauso mithielt wie in intimen Duobesetzungen etwa mit Ellis Larkins oder Dick Hyman. Thomas R. Hustad hatte noch zu Lebzeiten des 2003 verstorbenen Kornettisten mit der nun vorliegenden Diskographie begonnen und Braff die ersten Kapitel zeigen können. Der sei angetan davon gewesen, dass das Buch sich nicht wie eine Biographie um sein Leben, sondern ausschließlich um seine Musik drehen würde, berichtet Hustad im Vorwort seines fast 700 Seiten starken Werks, das tatsächlich weit mehr ist als eine reine Diskographie, neben den Daten und Titeln des Braffschen Aufnahmeschaffen nämlich auch alle Engagements verzeichnet, die Hustad dokumentieren konnte und zusätzlich aus Artikeln und Kritiken zitiert. So entsteht zwischen den trockenen Besetzungs- und Repertoirelisten das Bild eines umtriebigen, ungemein aktiven Musikers, der mit Swinggrößen genauso zusammenspielte wie er sich mit Musikern anderer Stile maß oder auch mal mit dem klassischen Beaux Arts String Quartet musizierte.

Hustad beschreibt Braffs Bewunderung für Louis Armstrong genauso wie seine lebenslange Freundschaft zu anderen in Boston Geborenen wie dem Pianisten und Festivalmacher George Wein oder dem Kritiker Nat Hentoff. Seine ersten Nachweise für einen Braff-Auftritt stammen aus dem Jahr 1944, als der Kornettist gerade mal 17 Jahre alt war. Nur drei Jahre später immerhin stand er bereits mit Jazzgrößen wie Bud Freeman oder Hot Lips Page auf der Bühne. 1949 spielte er in der Band des Klarinettisten Edmond Hall und trat 1950 erstmals auch als Bandleader in Erscheinung. 1952 hörte ihn der Impresario John Hammond bei einem Festival an der Brandeis University und engagierte ihn für einige von ihm produzierte Mainstream-Aufnahmen für das Label Vanguard, die Braff auch nationale Aufmerksamkeit bescherten. Mitte der 1950er Jahre spielte Braff mit Jack Teagarden und Benny Goodman, nahm außerdem seine Duo-Platte mit dem Pianisten Ellis Larkins auf. Er trat auf großen Jazzfestivals auf und war auch im Fernsehen zu hören. Ab Mitte der 1960er Jahre tourte er regelmäßig durch Europa und baute sich insbesondere in Großbritannien eine große Fangemeinde auf. Er war Kornettist der ersten Wahl für George Weins Newport Jazz Festival All Stars und damit auch bei den vielen Festivals mit dabei, die Wein in den 1960er und 1970er Jahren in den USA und Europa etablierte. Wie Harry Edison der meist-gefeaturete Trompeter in Aufnahmen Frank Sinatras war, so wirkte Braff bei vielen Aufnahmen Tony Bennetts in der ersten Hälfte der 1970er Jahre mit. Er nahm Platten für die Labels Concord und Chiaroscuro auf, arbeitete mehr und mehr in Projekten des Pianisten Dick Hyman und gründete ein kurzlebiges, aber sehr erfolgreiches Quartett zusammen mit dem Gitarristen George Barnes. In den 1970er und frühen 1980er Jahren war Braff regelmäßiger Gast der Grand Parade du Jazz in Nizza, und Hustad listet all die unterschiedlichen Besetzungen, in denen der Kornettist dabei zu hören war. Auch in den 1980er Jahren gehörte Braff zu den aktivsten Musikern bei sogenannten Jazz Parties, also Festivals, die auf dem Prinzip der Jam Session basierten. 1993 nahm er seine erste Platte für das Label Arbors auf, dem er bis zu seinem Tod treu blieb.

Die Anlage des Buchs als Diskographie und chronologische Auftrittslistung macht die durchgehende Lektüre etwas schwierig; dafür aber macht das Blättern in dem Buch umso mehr Spaß, bei dem man viele nebensächliche Details verzeichnet findet, die zum einen den Alltag eines arbeitenden Musikers, zum anderen aber auch die Persönlichkeit Braffs beleuchten, der klare Vorstellungen davon hatte, unter welchen Umständen er auftrat. “Egal wo ich spiele – ich suche die Musiker aus. Ich wähle die Stücke aus. Niemand sonst. Ich begleite niemanden!” – so in einer Absage an das Angebot, für eine recht kleine Gage in einer Fernsehshow zu Ehren des Impresarios John Hammond neben Benny Goodman, George Benson, Benny Carter, Teddy Wilson, Red Norvo, Milt Hinton, Jo Jones und anderen aufzutreten. Diese Erklärung schloss er übrigens mit den Worten: “Ich habe kein Interesse an Eurer gottverdammten Show. Gibt’s sonst noch irgendwelche Fragen?”

Wolfram Knauer (November 2012)


 

Always in Trouble. An Oral History of ESP-Disk, the Most Outrageous Record Label in America
von Jason Weiss
Middletown/CT 2012 (Wesleyan University Press)
291 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8195-7159-5

2012weissZwischen 1964 und 1974 war das von Bernard Stollman gegründete Plattenlabel ESP-Disk’ vielleicht eines der einflussreichsten Labels des Avantgarde-Jazz. Neben Free-Jazz-Heroen wie Albert Ayler, Pharoah Sanders, Sun Ra brachte Stollman dabei auch Platten von Folk-Rock-Bands wie The Fugs oder Pearls Before Swine heraus. In seinem neuen Buch erzählt Jason Weiss die Geschichte des Labels, beispielhaft für die Biographie einer unabhängigen Plattenfirma im Amerika der Bürgerrechtsbewegung.

Stollman war ein aufstrebender Rechtsanwalt, der in den späten 1950er Jahren in der Esperanto-Bewegung aktiv war, die eine universelle Sprache befürwortete. Anfang der 160er Jahre hörte er die Musiker der sogenannten October Revolution in Jazz und nahm bald etliche der Künstler auf, die in dieser künstlerischen Bewegung mitmischten. In den zehn Jahren des Bestehens des Labels brachte er auf ESP-Disk’ 125 Platten heraus, die zwar von der Kritik hoch gelobt wurden, aber kaum Geld einbrachten. Eigentlich war das Label bereits nach vier Jahren pleite, aber Stollman hing an der Idee. Nachdem das Label endgültig abgewickelt war, nahm Stollman einen Rechtsanwalts-Job für die Regierung an. ESP führte ein seltsames Schattenleben, da die legendären Aufnahmen in Europa und Japan als Bootlegs auf dem Markt präsent gehalten wurden. Zehn Jahre nach seiner Pensionierung belebte Stollman das Label 2005 wieder und managt seither sowohl Wiederveröffentlichungen wie auch Neuproduktionen aus seinem Büro in einem ehemaligen Waschsalon im Viertel Bedford Stuyvesant von Brooklyn. Neben der Arbeit mit dem originären ESP-Material widmet sich Stollman dabei auch der Vertretung der musikalischen Nachlässe von Eric Dolphy, Bud Powell, Art Tatum, Sun Ra, Albert Ayler und einigen anderen, betreut dabei auch Wiederveröffentlichungen oft ursprünglich schwarz mitgeschnittener Konzertaufnahmen dieser Künstler.

All dies erfährt man im knappen Vorwort, in dem Weiss die Hintergründe des Labels zusammenfasst. Ansonsten lässt er die Macher reden. Den größten Teil des Buchs nimmt dabei Stollmans Erinnerung ein, der über seine eigene Herkunft aus einem jüdischen Elternhaus berichtet, über Militärdienst, Studium und erste Jazzkontakte. Stollman erzählt über die Idee zum Plattenlabel, den Kontakt zu und die Verträge mit Künstlern, über seine Naivität in geschäftlichen Dingen. In einem anderen Kapitel erklärt Stollman spätere Lizenzausgaben von ESP-Platten und beschreibt die Deals, die er mit den Lizenznehmern gemacht habe. Er erinnert sich an legendäre Sessions etwa mit Albert Ayler, Giuseppi Logan,  Sun Ra, Frank Wright oder Yma Sumac. Er erzählt außerdem davon, wie er einmal Barbra Streisand zum Essen ausführte, die die Einladung nur annahm, weil sie dachte, er sei ihr Freund, der zufällig genau wie er hieß, über Begegnungen mit Jimi Hendrix, Yoko Ono und John Lennon, Janis Joplin sowie Emmylou Harris.

Der zweite Teil des Buchs stellt Stollmans Erinnerungen Interviews mit fast 40 Künstlern gegenüber, die über ihre Zusammenarbeit mit ihm und über ihre ESP-Platten berichten. Gunter Hampel etwa erzählt, dass Stollman ihn nie bezahlt habe, und er sich auch deshalb entschieden habe, sein eigenes Plattenlabel zu gründen. Auch andere Künstler klagten (wie so oft in dieser Industrie) über nicht eingehaltene finanzielle Zusagen, Milford Graves aber erklärt auch: “Wer sonst hätte uns damals aufgenommen?”

Jason Weiss’ Buch klammert also kein Thema aus und lässt die unterschiedlichen Sichtweisen der Partner bei den Plattenprojekten nebeneinander stehen. So ergibt sich in seinem lesenswerten Buch ein überaus stimmungsvolles Bild eines Labels, das eine der interessantesten amerikanischen Szenen der 1960er Jahre dokumentiert.

Wolfram Knauer (Oktober 2012)


 

Freie Hand
Roman, von Rainer Wieczorek
Berlin 2012 (Dittrich Verlag)
ISBN: 978-3-937717-83-8

2012wieczorekRainer Wieczoreks Romane haben immer wieder Subplots aus dem Jazz. Wieczorek ist selbst Posaunist und hat über viele Jahre regelmäßig Jazzkonzerte organisiert. Sein neuester Roman ist von den bisherigen Büchern vielleicht der jazzhaltigste, auch deshalb, weil viele eigene Erinnerungen in das Buch über die Mühen kultureller Arbeit einflossen. Das Buch handelt von zwei ambitionierten Literaturliebhabern, einen Ort aufzubauen, der irgendwo zwischen Literatur- und Jazzclub angesiedelt ist und der Kulturszene ihrer Stadt neue Facetten beimischen soll.

Sie bemühen sich um kommunale wie private Unterstützung, finden einen passenden Ort und sichern ihr Projekt auch finanziell erfolgreich ab. Ihr Club eröffnet und wird schnell zu einem angesagten kulturellen Treffpunkt. Sie etablieren eine Sachbuchreihe, eine weitere, die Hörspiele in den Mittelpunkt stellt, sowie eine mit Klassikern der Nachkriegsmoderne, die sie mit Musik kombinieren. Der Saxophonist Heinz Sauer wird zusammen mit dem Pianisten Bob Degen für einen Billie-Holiday-Abend gewonnen, bei dem eine Schauspielerin aus der Autobiographie der Sängerin liest. Sauer, charakterisiert Wieczorek seine Musik, spielt “Töne am Rande des Noch-Spielbaren, die stets bedroht waren vom Kontaktverlust, um sich dann, an der äußersten Kante stehend auffangen zu lassen vom Klavier oder sich ersatzweise einem leise verebbenden Nachspiel ergaben”. Oft schien “nur Bob Degen sicher zu wissen, an welcher Stelle sich Sauer befindet, von welchem Akkord die Töne, die jetzt erklingen, ihren Ausgang nahmen, bevor sie ihn vollständig verließen.”

Ein andermal ist Heinz Sauer zu einem Gesprächskonzert zu Gast, für das er den jungen Pianisten Michael Wollny mitbringt. Sauer erinnert sich an diesem Abend an seine Kindheit, an die Normalität des Nationalsozialismus, and sein Faible für den Jazz nach dem Krieg. Auch andere (real existierende) Musiker treten in Erscheinung, der Vibraphonist Christopher Dell etwa, der einen Gedichtabend begleitet, oder der Pianist Uli Partheil, der zu einem Gespräch mit dem Schriftdesigner Hermann Zapf spielt.

Die Kulturarbeit normalisiert sich, und neben vollen gibt es auch leere Säle, etwa bei jenem Abend, den die beiden “dem unbekannten Autor” widmen und bei dem ein Cellist und ein Pianist kurze Stücke von Anton Webern spielen, während die üblicherweise der Lesung vorbehaltene Zeit jetzt einfach der Stille dient. “Wir brauchen nicht jedesmal ein Publikum”, sinnieren sie, “stets aber die Möglichkeit eines Publikums, formulieren wir genauer: den Raum für ein Publikum.”

Dann setzen politische Veränderungen ein, die auch die Kultur in der Stadt betreffen. Und schließlich zieht ihr großzügiger Geldgeber sich mehr und mehr von seinen Zusagen zurück. Und so kommt es, “dass unsere Programme nur noch pro forma gedruckt wurden und zumeist nur eine einzige Veranstaltung enthielten, die ernsthaft mit Publikum rechnen konnte”. Der Niedergang ihres Projekts ist abzusehen, lässt sie aber nicht ohne Hoffnung. Es muss doch möglich sein, wieder so einen kunstsinnigen Geldgeber zu finden…

Alle Autoren, von denen Wieczorek in seinem Roman fasziniert ist, existieren genauso wie die Musiker, die er nennt und mit denen er auch in Wirklichkeit gern und oft zusammenarbeitete. Das Gesprächskonzert mit Heinz Sauer hat genauso stattgefunden wie die Gesprächsrunde mit Hermann Zapf. Und Dirk Lorenzen, dessen astrophysikalische Texte als eine Art Zwischenspiel dienen, als Blick von und auf “ganz außen” quasi, ist tatsächlich, wie von Wieczorek beschrieben, für viele der Himmelsgeschichten in der Sendung “Sternzeit” des Deutschlandfunks verantwortlich. Auch viele der anderen Personen der Erzählung haben Vorbilder in der realen Lebenswirklichkeit des Autors. Solche Kenntnis aber braucht es nicht, um den Roman, der gekonnt zwischen den Lieben Wieczoreks wechselt, als ein Buch zu genießen, dessen Thema Kreativität genauso ist wie der Raum, der unbedingt notwendig ist, um sie zu ermöglichen. Das Lesevergnügen ergibt sich aus der Leichtigkeit des sprachlichen Stils, aus der Balance zwischen Dialogen, Beschreibungen, Begeisterungsfähigkeit und der Gabe, auch Misserfolge als das wahrzunehmen, was sie sind: Versuche, die unternommen werden müssen, weil Kunst nun mal nur gedeiht, wenn man vorbehaltlos ihren Raum zugesteht.

Wolfram Knauer (August 2012)


 

Strictly a Musician. Dick Cary. A Biography and Discography
von Derek Coller
Sunland/CA 2012 (Dick Cary Music)
602 Seiten, 59,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-615-53867-9

2012collerDick Cary gehört vielleicht nicht zu den bekanntesten Namen der Jazzgeschichte. Als Pianist, Althorn-Spieler, Trompeter, Komponist und Arrangeur war er allerdings seit den frühen 1940er Jahren auf der traditionellen Jazzszene New Yorks überaus aktiv und spielte mit allen Musikern des Jazzrevivals jener Jahre, mit Eddie Condon, Billy Butterfield, Louis Armstrong, Jimmy Dorsey, Bobby Hackett und vielen anderen. Cary war darüber hinaus ein Musiker mit offenen Ohren, der Interesse auch an dem hatte, was Kollegen anderer Stilrichtungen damals entwickelten. Vor allem aber hinterließ der 1916 geborene und 1994 gestorbene Musiker Tagebücher, die mit wenigen Lücken sein Leben und seine Arbeit zwischen 1931 und 1992 dokumentieren.

Derek Coller konnte auf diese Tagebücher zurückgreifen, um in seiner ungemein detaillierten Biographie die Lebensgeschichte Carys zu erzählen. Coller beschreibt die Jugend des in Connecticut geborenen Cary, erste Banderfahrungen, die nicht die besten waren (“Ich wurde aus der Band geworfen”) sowie erste Engagements, die Geld einbrachten. Die üblichen Einflüsse der Zeit galten auch für Cary, den Pianisten: Fats Waller, Earl Hines, Teddy Wilson, Art Tatum und Bob Zurke; seine ersten Arrangements brachten ihm 1939 fast einen Job mit Glenn Miller ein. Irgendwann Anfang der 1940er Jahre zog Cary mit Frau und Tochter nach New York, wo er einen Großteil seines Einkommens aus Arrangements bezog – allein zwischen 1940 und 1941 schrieb er mehr als 130 Arrangements für etwa 20 verschiedene Bands und Sänger/innen. Im Dezember 1941 trat er zum ersten Mal im legendären Club Nick’s in New Yorks Greenwich Village mit Eddie Condon, Pee Wee Russell und anderen Größen des Stils auf; meist war er dabei Pianist, hin und wieder trat er aber auch als Trompeter in Erscheinung.

Mitte der 1940er Jahre spielte Cary in der Bigband des Trompeters Billy Butterfield, in der er als 5. Trompeter, Althornist und Arrangeur angestellt war. 1947 wirkte er bei einem legendären Konzert der Armstrong All-Stars in der New Yorker Town Hall mit und wurde im Sommer des Jahres für sechs Monate reguläres Mitglied der All-Stars. Er spielte auf der 52nd Street, insbesondere im Club Jimmy Ryan’s, und er nahm Unterricht beim klassischen Komponisten Stefan Wolpe. Jimmy Dorsey engagierte ihn für seine Band, und Cary schrieb außerdem Musiken für Werbefilmchen und fürs Fernsehen. Auch in den 1950er Jahren gehörte er zu den verlässlichen Musikern der traditionellen Szene, trat mit Max Kaminsky auf sowie mit jeder Menge anderer namhafter Musiker, auch solchen der Swingära, die damals in Dixielandschuppen ihr Geld verdienen mussten. Ende der 1950er Jahre war er reguläres Mitglied der Band Bobby Hacketts; machte sich außerdem einen Namen als einer jener Arrangeure, die versuchten, dem traditionellen Jazz einen interessanteren Klang zu verleihen.

Anfang der 1960er Jahre zog Cary nach Kalifornien, trat wieder zunehmend als Althornist in Erscheinung und spielte in regelmäßig in Disneyland. Gegen Ende des Jahrzehnts wurde er außerdem Mitglied der World’s Greatest Jazz Band. In den 1970ern reiste er oft und gern nach Europa und trat hier auch mit vielen europäischen Bands als Gastsolist auf – nicht zuletzt mit der deutschen Barrelhouse Jazzband. Er wurde als Solist zu den populären “Jazz Party”-Festivals eingeladen und wirkte auf etlichen Platten mit. Anfang der 1990er Jahre wurde bei ihm eine Krebserkrankung festgestellt, an der er im April 1994 verstarb.

Derek Collers Buch ist allein schon dank der dem Autor zur Verfügung stehenden Tagebücher ungemein faktenreich. Coller listet Besetzungen und Konzertdaten, zitiert Cary und ordnet dessen Bemerkungen sogleich ins Jazzgeschehen der Zeit ein. Das sorgt nicht unbedingt für eine flüssige Lektüre, und doch gibt gerade diese Genauigkeit, mit der Coller Carys Leben dokumentiert, dem Buch eine besondere Qualität: Wir erfahren über die Jazzszene der Condon-Freunde aus erster Hand, über “die andere Seite” der 52nd Street sozusagen, die ansonsten vor allem für die Ausbildung des Bebop genannt wird. Das Privatleben Carys kommt bei alledem etwas kurz in der Darstellung. Nur ein kurzes zwischengeschobenes Kapitel gibt Aufschluss über Carys lebenslangen Kampf mit dem Alkohol. Und auch über die Musik selbst erfahren wir wenig. Dafür ist Collers Buch eine Fakten-Biographie und damit eine gute Quelle für Forscher, da es qua Tagebücher auf erstklassige Zeitzeugendetails verweist. Die Diskographie, die fast 100 Seiten des Buchs einnimmt, gibt einen Überblick über Carys Aufnahmeschaffen. Und der ausführliche Namensindex erschließt das Buch schnell für Forscher, die nach Fakten und Hinweisen suchen, die anderweitig schwer zu finden wären.

“Strictly a Musician” ist auf jeden Fall eine wichtige Ergänzung der jazzgeschichtlichen Forschung, die Fleißarbeit eines langjährigen Jazzjournalisten und Privatforschers und ein Buch, das sich nicht nur vom Umfang her mit Manfred Selchows wegweisenden Werken über Edmond Hall und Vic Dickenson vergleichen lässt.

Wolfram Knauer (September 2012)


 

Blues 2013. Rare Photographs by Martin Feldmann
Kalender von Martin Feldmann
Attendorn 2012 (Pixelbolide)
Kalender, 12 Monatsblätter, 24,95 Euro
www.blueskalender.de

blueskalender_3.inddMartin Feldmann fotografiert seit den frühen 1980er Jahren Bluesmusiker für deutsche und amerikanische Fachmagazine, arbeitete außerdem lange Zeit für die Frankfurter Rundschau, für die er immer wieder Beiträge über Blues und Jazz verfasste.

Jetzt hat Feldmann einen Blueskalender herausgebracht, für den er einige der aussagekräftigsten Bilder seiner diversen Bluesreisen in die USA aus den 1980er Jahren herausgesucht hat. Wir sehen Junior Wells im Club, Charles W. Thompson alias Jimmy Davis bei einem Straßenkonzert, Lefty Dizz auf einer Harley Davidson,  Beverly Johnson mit schwarzen Netzhandschuhen, Wade Walton im Barbershop in Clarksdale, Mississippi, Little Milton beim Chicago Festival, Eddie Taylor im Golden Slipper, Chicago, Big Walter Horton, Magic Slim,Harry Caesar. Little Pat Rushing und Queen Silvia Embry. Sie alle sind in Schwarzweiß- und einigen Farbaufnahmen auf großformatige Kalenderblätter gedruckt, die kurze Zusatzinformationen bieten und jedem Raum automatisch eine bluesige Note verleihen.

Vielleicht sollte man dazu ein wenig Musik laufen lassen, damit man dem Blues, den man sowieso jeden Tag erfährt, visuell genauso wie tönend genügend positive Noten abgewinnen kann.

Wolfram Knauer (September 2012)


 

Jazz. Body and Soul. Photographs and Recollections
von Bob Willoughby
London 2012 (Evans Mitchell Books)
178 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-901268-58-4

2012willoughbyDer 2009 in Südfrankreich verstorbene Fotograf Bob Willoughby dokumentiert die Jazzgeschichte seit den frühen 1950er Jahren. Jetzt erschien ein von Willoughby noch zu Lebzeiten im Entwurf geplantes Buch seiner besten Aufnahmen, die zwischen 1950 und 1959 sowie zwischen 1992 und 1994 datieren. Die frühen Bilder wurden in Los Angeles aufgenommen, die späten Fotos auf Einladung Ulli Pfaus in der Liederhalle in Stuttgart. Willoughby begleitet seine Rückschau in Bildern dabei mit Erinnerungen an die Konzerte und die Künstler, die er da dokumentierte.

Neben den üblichen Konzertfotos – Musiker auf der Bühne – gibt es lebendige Backstagebilder, neben weithin bekannten Aufnahmen wie Willoughbys legendären Chet-Baker-Portraits auch selten bis nie gesehene Ansichten von Musikern bei der Arbeit. Der Index am Schluss des Buchs listet die Künstler: Billie Holiday, Miles Davis, Dave Brubeck, Lionel Hampton, Dizzy Gillespie, Louis Armstrong, Stan Kenton, Duke Ellington, Big Jay McNeely (der mit einer ganzen Fotoserie im Buch vertreten ist), Cal Tjader, Gerry Mulligan, Peggy Lee, Benny Goodman, Frank Sinatra, Wynton Marsalis und viele, viele mehr. Willoughbys kurze Erinnerungen geben nur kleine Einblicke in seine eigene Jazzsicht, referieren ansonsten eher bekanntes Wissen über die Musiker. Als Fotograf hatte er ein exzellentes Auge für die Musiker, die er ablichtete; und Ulli Pfau hatte nicht Unrecht, als er ihn 1992 als “elder statesman of jazz photography” bezeichnete.

Einige Höhepunkte beim Durchblättern: Bing Crosby und Frank Sinatra  inmitten des Sets für den Film “Can-Can”; Louis Armstrong, Grace Kelly und Bing Crosby im Set für “High Society”; Benny Goodman in einem Duo mit Stan Getz; der überschlanke Gerry Mulligan, dessen Instrument quasi aus seinem Körper herauszuwachsen scheint; Paul Gonsalves vor dem Spiegel seiner Garderobe; Coleman Hawkins auf einen Stuhl gelehnt in die Kamera lächelnd; der blinde George Shearing, der sich für eine Ansage am Mikrophon festzuklammern scheint; Miles Davis, zurückgelehnt und entspannt; Lionel Hampton, der Milt Buckner über die Schulter schaut… Aber jeder Betrachter wird seine eigenen Höhepunkte in diesem Buch finden, das mit einem wunderbaren Backstagebild abschließt, auf dem Wycliffe Gordon backstage in Stuttgart im Fernsehmonitor seinem Chef Wynton Marsalis zusieht.

“Jazz – Body and Soul” präsentiert Willoughbys Aufnahmen in hervorragender Druckqualität in einer Hardcoverausgabe im Schuber und mit einem Vorwort Dave Brubecks, den Willoughby seit 1950 immer wieder ablichtete, in Bildern, die zum Teil auch ihren Weg auf Brubeck-Plattencover fanden. Ein schönes Geschenk für Jazzfans – auch an sich selbst.

Wolfram Knauer (September 2012)


 

Deep South. The Story of the Blues
von Peter Bölke
Hamburg 2012 (Edel ear book)
156 Seiten, 4 CDs, 39,95 Euro
ISBN: 978-3-94000-98-7

2012boelkeWie alle “earbooks” von Edel ist auch “Deep South” ein opulentes, hardcover-gebundenes Buch mit stabil in den Buchdeckel eingepassten Aussparungen für die beiheftenden vier CDs – und das alles zu einem mehr als angemessenen Preis.

Peter Bölkes parallel auf deutsch und englisch verfasste Texte zum Blues und seinen Künstlern ist eingängig und verständlich, nie zu tief greifend, dafür Legenden und Anekdoten weitertragend. Die vier Großkapitel, die dem Inhalt auf den CDs entsprechen, heißen “Rough Sound from the Delta” (Folk/Classic Blues), “Rockin’ the House” (Piano Blues), “Blue Notes from the Cookbook” (Jazz & Blues) sowie “Amplified, Young & White” (Electric Blues). Sie decken die Bluesgeschichte von den Anfängen (Mamie Smiths “Crazy Blues” von 1920) über Country-Blues, Boogie-Woogie, Blues-Interpretationen großer Jazzmusiker  bis zum rockigen Blues der 1960er Jahre ab.

Was fehlt, mag jeder für sich entscheiden – dieser Rezensenten etwa vermisste den größte instrumentalen Blueskünstler des Jazz, nämlich Charlie Parker –, aber das wären genauso subjektive Entscheidungen wie Bölke sie für sich vorgenommen hat.

Das Buch ist reich und bunt bebildert mit bekannten und weniger bekannten Fotos der Künstler und einzelner Alben, gedruckt auf festem Papier, und in guter Tonqualität gepresst. Wie die meisten der ear books ist das alles in seinem Sampler-Ansatz weniger etwas für Sammler als für den beiläufigen Interessenten, aber auch für Bluesfans ganz gewiss ein willkommenes Geschenk.

Wolfram Knauer (August 2012)


 

Modern Piano Method. Klavier spielen – nach Noten und Akkorden
von Georg Boeßner
Frankfurt 2012 (Nordend Music)
144 Seiten, 1 CD, 24.,95 Euro
ISBN: 978-3-9812448-1-6

2012boessnerDer Klavierunterricht, schreibt Georg Boeßner im Vorwort zu seiner Klavierschule, gehe zwar zunehmend auch in Richtung Pop, Rock und Jazz, auf dem Markt der Klavierschulen aber spiegele sich dieses Bedürfnis kaum wider, insbesondere, was die zur klassischen Notation gleichrangige Vermittlung des Spielens nach Akkordsymbolen beträfe.

Boeßners Schule also will beides miteinander verknüpfen. Er beginnt ganz am Anfang, Sitzhaltung, Tastatur, Notensystem, einfache Lieder. Dann kommen erste Akkorde, die Boeßner gleich nicht nur mit Noten, sondern eben auch mit Akkordsymbolen vorstellt.

Ein erster Blues, Einführung komplexerer Rhythmik, das Zusammenspiel rechter und linker Hand, und schließlich andere Tonarten (als das anfängliche C-Dur). Zwischendrin immer wieder Rückgriffe auf Essentials, Erklärungen der Intervalle etwa, der Dur- und Mollakkorde. Und neben Fingerübungen immer wieder kleine Stücke, die den Schüler bei Laune halten und ihn langsam ans Spielen heranführen – und zwar eben nicht nur ans sture Notenablesen, sondern auch ans Begreifen der harmonischen Grundlagen, das für spätere Improvisation so wichtig ist.

Die Selbstverständlichkeit dieses Ansatzes mag hoffentlich bewirken, dass die Nutzer seiner Klavierschule sich später viel leichter vom Notenblatt lösen können als diejenigen, die nach konventionellen Methoden ans Klavier herangeführt wurden.

Wolfram Knauer (August 2012)


 

The Ellington Century
von David Schiff
Berkeley 2012 (University of California Press)
319 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-520-24587-7

2012schiffNoch ein Buch über Ellington, mag der eine oder andere sagen, aber David Schiffs “Ellington Century ist mehr als dies. Schiff versucht Ellington in die Musikgeschichte des 20sten Jahrhunderts einzuordnen und ihn dabei, wie der Duke sagen würde, “beyond categories” zu betrachten, also nicht nur in Bezug auf den Jazz-Background, aus dem er kam.

Schiff geht dafür in seinen Kapiteln zuallererst einmal von der Musik selbst aus. Er beginnt mit dem Kapitel “Such Sweet Thunder”, beschreibt Musik und Entstehungsgeschichte der Suite, erwähnt, dass die Komposition bei ihrer Premiere gleich neben Kurt Weills Violinkonzert gespielt wurde und stellt fest, dass die musikalischen Experimente des 20sten Jahrhunderts eben im Jazz genauso stattfanden wie in der sogenannten klassischen Moderne. Er erlaubt sich schließlich den Seitenblick auf Arnold Schönbergs Fünf Stücke für Orchester op. 16, “Farben”. “Blue Light: Color” heißt das zweite Kapitel, das solchen Farben in Ellingtons Musik auf den Grund zu gehen versucht. Schiff analysiert “Blue Light” im Lichte des Blues, “Ko-Ko” als “schwarze” Erfahrung, schließt dann Ausflüge an zu Schönbergs “Pierrot Lunaire” und zu Debussys Musik, um schließlich zu Ellingtons ganz eigener “Klangfarbenmelodie” zurückzukehren.

Im Kapitel “Cotton Tail” nähert sich Schiff dem Phänomen der Rhythmik in Ellingtons Musik, aber auch weit genereller dem Phänomen des swing. Er arbeitet dabei die Unterschiede zwischen pulsierendem Rhythmus, melodischem Rhythmus, einer vom Grundrhythmus abweichenden “supermelody” sowie dem Shout-Rhythmus heraus. Zugleich geht er auf die Unterschiede zwischen europäischer und afro-amerikanischer musikalischer Auffassung ein und diskutiert verschiedene Aufnahmen des “Tiger Rag” sowie James P. Johnsons “Carolina Shout” mit Hinblick auf ihre rhythmischen Qualitäten. Nach all diesen Argumenten animiert Schiff seine Leser dazu, “Cotton Tail” noch einmal zu hören und wahrzunehmen, mit wie viel verschiedenen Ebenen Ellington hier meisterhaft spielt. Auch dieses Kapitel kommt dabei nicht ohne einen Seitenblick auf die europäische Musiktradition aus und betrachtet dazu Béla Bartóks 5. Streichquartett, Igor Stravinski sowie John Cage, Charlie Parker und Eric Dolphy.

“Prelude to a Kiss” beschäftigt sich mit der Melodik Ellingtons und schaut daneben nicht nur auf klassische Beispiele, sondern auch auf die Tin Pan Alley-Schlager der Zeit. Schiff fragt nach der melodischen Sexualisierung im Jazz (und stützt sich dabei auf fragwürdige Analysen, nach denen in klassischer Musik Chromatik oft für Sexualität stünde). Er interpretiert Billy Strayhorns “Day Dream” als “Bluesisierung” des Songmodells und analysiert “U.M.M.G.” auf seine thematische Melodik hin.

“Satin Doll” ist das Kapitel über Ellingtons Harmonik überschrieben, in dem Schiff Parallelen zu anderen harmonisch besonders aktiven Künstlern von Bill Evans bis Charles Mingus aufzeigt, aber auch auf Ravel Debussy, Schostakowitsch verweist. “The Clothed Woman” analysiert er schließlich im Lichte der atonalen Experimente europäischer Komponisten des frühen 20sten Jahrhunderts.

Klangfarbe, Rhythmik, Melodik und Harmonik, schreibt Schiff, sind allerdings nur Werkzeuge. Für den Komponisten komme es letzten Endes darauf an, eine Geschichte zu erzählen. Der zweite Teil seines Buchs also widmet sich den Geschichten, die hinter Ellingtons Arbeit stecken, Geschichten, die sich mit Liebe, Sexualität, Rassismus, schwarzem Geschichts- und Kulturbewusstsein befassen. Als Beispiele analysiert er ausführlich die Suite “Such Sweet Thunder, Ellingtons vielleicht wichtigste Suite “Black, Brown and Beige” sowie seine “Sacred Concerts”.

David Schiffs “The Ellington Century” ist keine Biographie des Duke. Sie geht von der Musik aus und versucht diese in den Kontext musikalischer Entwicklungen des 20sten Jahrhunderts zu stellen und dadurch die Sonderstellung Ellingtons herauszuarbeiten. Der konstante Seitenblick insbesondere auf die europäische Kompositionstradition wirkt dabei weder herablassend noch anmaßend, sondern wird Ellingtons eigenem Musikverständnis gerecht und erlaubt in der Selbstverständlichkeit der Parallelbetrachtungen durchaus neue Erkenntnisse über Ellingtons Bedeutung.

Wolfram Knauer (Juli 2012)


 

theoral, #4 / Nicola Brooks / Clayton Thomas
herausgegeben von Philipp Schmickl
Nickelsdorf 2012 (www.theoral.org)

2012schmicklPhilipp Schmickl nutzt die Gunst der Stunde, die Gunst des Ortes, nämlich Nickelsdorf, jenes Mekkas für freie Musik, zu Gesprächen mit Musikern anderen interessanten Menschen, und die Buchreihe theoral dokumentiert diese Gespräche so wie sie stattfanden, verbale Exkursionen inklusive.

Mit Nicole Brooks unterhält er sich in Ausgabe 4 von theoral über Interviews, über die Faszination an der Lektüre eigener Tagebücher, über die Idee der Ehe, über Brooks Kindheit in New Mexico, über Reisen nach Brasilien und in die Tschechische Republik, über Männer, die ihr in verschiedenen Ländern auf der Straße folgten, über ihre Motivation zu reisen und über Planlosigkeit und Zufälle in ihren Reiseerfahrungen. Brooks ist einfach nur eine Besucherin des Nickelsdorfer Festivals, eine “freie” Reisende, eine Weltenbummlerin.

Mit Clayton Thomas hat Schmickl dann einen Musiker vor seinem Mikrophon, diesmal nicht in Nickelsdorf, sondern im Hotelzimmer in Sibiu, Rumänien. Thomas erzählt von seiner Kindheit in Tasmanien, von ersten Versuchen den Bass zu spielen, von ersten Reisen nach New York, wo er beim Vision Festival mit jeder Menge neuer Musik konfrontiert wurde, von ersten Gigs als Bassist in Sydney und New York, wo er 2002 schließlich auch selbst beim Vision Festival mitwirkte. Er berichtet vom NOW now Festival in Sydney, von seinem Umzug nach Berlin im Jahr 2007, und er reflektiert über Einflüsse wie William Parker und Barry Guy sowie über aktuelle Bandprojekte, an denen er beteiligt ist: das Splitter Orchestra etwa oder The Ames Room. Die beiden sprechen moch ein wenig übers Reisen, darüber, wie Thomas Musik “denkt”, sowie über Kunst und Revolution.

Schmickls Bücher vermitteln das großartige Gefühl unverfälschter und inspirierter Interviews, und diese Tatsache ist dem Herausgeber wohl bewusst, der sich im Vorwort etwa bei Christof Kurzmann bedankt, mit dem er sich vor dem Interview mit Brooks unterhalten habe und bei Tobias Delius, den er kurz vor demselben Interview habe spielen hören, und die ihn beide als Fragesteller und Gesprächspartner inspiriert hätten. Ein Lesevergnügen also, das gerade in der Gesprächhaftigkeit und in der Offenheit des Herausgebers, die Konversation in alle möglichen Richtungen abdriften zu lassen, eine Menge mehr über die Gesprächspartner vermittelt als es manch ein systematischerer Artikel vermögen würde.

Wolfram Knauer (Juli 2012)


 

Jutta Hipp. Ihr Leben & Wirken. Malerin – Pianistin – Poetin. Eine Dokumentation
von Gerhard Evertz
Hannover 2012 (Eigenverlag)
196 Seiten
siehe auch: www.jazzbuch-hannover.de

2012evertzAls Gerhard Evertz 2004 sein Buch “Hannover – ein Stück Jazzgeschichte” herausbrachte, hatte er bei der Recherche jede Menge Material insbesondere über Jutta Hipp gefunden, die zwar gerade ein Mal in Hannover gespielt hatte, die aber enge verwandtschaftliche Beziehungen in die Stadt an der Leine besaß und behielt, nachdem sie 1955 nach New York ausgewandert war. Evertz sammelte die Dokumente und veröffentlichte sie nun in kleinster Auflage in einem Buch, das insbesondere wegen des umfangreichen Bildteils eine Lücke in der Dokumentation über die Musikerin schließt.

Sein Buch ist dabei weniger eine Biographie als vielmehr eine Sammlung von Materialien und Informationen, die er sortiert und Hipps verschiedenen Aktivitäten zuschreibt. Da gibt es Fotos, etwa in einer Privatwohnung in Leipzig, mit Dietrich Schulz-Köhn, Caterina Valente, Attila Zoller, mit ihrem in Hannover wohnenden Bruder,  von Tourneen und privaten Feiern. Es findet sich das Programmblatt des Studiokonzerts, das sie im Oktober 1955 im Rathaus Hannover gab und das als “erstes Konzert in ihrer Heimatstadt Hannover und ihr letztes in Deutschland” annonciert wurde. Auch finden sich Briefsplitter aus ihrer New Yorker Zeit.

Einer Diskographie ihrer Aufnahmen hängt Evertz Abbildungen diverser Cover bei. Im Kapitel “Gemälde” dokumentiert er 65 Aquarelle, Landschaften, Dorf- und Stadtszenen, Personen – allerdings hat nur eines, betitelt “The Pianist” direkt mit Musik zu tun. Ein weiteres Kapitel dokumentiert Hipps Aktivitäten als Fotografin, erlaubt quasi den privaten Blick mithilfe ihres Auges durch den Sucher ihrer Kamera: Da ist ein Blick aus dem Fenster ihrer Wohnung, da sind Freunde im Restaurant, Musiker bei Freiluftkonzerten, wir sehen Charlie Parkers Wohnhaus, Louis Armstrongs Grab, aber auch Landschaftsaufnahmen, die wie Motive für ihre Aquarelle wirken.

Schließlich finden sich Hipps bekannte Zeichnungen großer Jazzmusiker: Lester Young, Horace Silver, Art Taylor, Barry Harris, Gerry Mulligan, Nica de Koenigswarter, Thelonious Monk, Peck Morrison, Ella Fitzgerald, Dizzy Gillespie, Zoot Sims, Lester Young, Lionel Hampton, Lee Konitz, Attila Zoller, Hans Koller. Aber auch in Gedichten suchte die Pianistin einen kreativen Ausdruck; und Evertz versammelt solche über Lester Young, Horace Silver; Zoot Sims, Sonny Rollins, Billie Holiday, Miles Davis, Art Blakey, Dinah Washington, das Modern Jazz Quartet, Charlie Parker, Charles Mingus, Gerry Mulligan, Thelonious Monk, Erroll Garner, John Coltrane, Albert Mangelsdorff, Caterina Valente, Klaus Doldinger, Gunter Hampel, Connie Jackel, Horst Jankowski und Carlo Bohländer. Zum Schluss finden sich ausgewählte Pressenotizen über Jutta Hipp, die Evertz um eine Bibliographie weiterführender Literatur ergänzt.

“Jutta Hipp. Ihr Leben & Wirken” ist nur in einer Kleinstauflage im Eigenverlag des Autors erschienen und im Handel nicht erhältlich. Das ist insbesondere deshalb schade, weil das Buch einzelne Quellen zugänglich macht – und insbesondere einen Überblick über Hipps malerisches Wirken gibt –, die einen anderen Blick auf den Menschen Jutta Hipp erlauben.

Wolfram Knauer (Juli 2012)


 

Listen, Whitey! The Sights and Sounds of Black Power, 1965-1975
von Pat Thomas
Seattle 2012 (Fantagraphics Books)
193 Seiten, 39,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-60699-507-5

2012thomasIn den 1960er Jahren war die schwarze Kulturszene in den USA genauso politisiert wie der Rest der amerikanischen Gesellschaft. Die Kunst wurde zum Sprachrohr erst der Bürgerrechts-, dann der Black-Power-Bewegung, die immer vehementer und durchaus auch nicht nur friedlich gleiche Rechte für die schwarze Bevölkerung einforderte. Pat Thomas dokumentiert die musikalische Begleitmusik dieser Jahre zwischen 1965 und 1975, als das schwarze Amerika die Geduld verlor und militant wurde, eine Begleitmusik, die nicht immer nur begleitete, sondern sich auch selbst schon mal zum Sprachrohr der Bewegung machte. Ihn interessiert dabei, wie jegliche schwarze Musik in die Zeit passte und von den Black Nationalists oder Black Panthers für ihre Zwecke genutzt wurde bzw. wie zugehörig sich die Musiker zu den diversen Bewegungen fühlten.

Im ersten Kapitel  führt Thomas in die Black-Power-Szene ein, erzählt die Geschichte der zunehmenden Militarisierung des schwarzen Teils der Bürgerrechtsbewegung, die spätestens nach den Morden an Martin Luther King und Malcolm X ein wahrnehmbarer und für viele Teile der amerikanischen Gesellschaft zunehmend furchteinflössender Bestandteil der politischen Wirklichkeit wurde. Im zweiten Kapitel geht er der Widerspiegelung dieser politischen Bewegung in der populären Musik nach, nennt Titel wie Aretha Franklins Version des alten Otis-Redding-Songs “Respect”, Marvin Gaye, James Brown, die Last Poets, Gil Scott-Heron, Jimi Hendrix und andere Musiker aus der Pop-, Soul- und Motownszene. Er diskutiert die acht Alben, die auf Motowns Unterlabel Black Forum erschienen und die vor allem Wortbeiträge präsentierte, politische Rede (King, Stokely Carmichael, Ossie Davis und Bill Cosby), Dichtung (Langston Hughes, Amiri Baraka, Festival of Black Poets in America), eine Dokumentation über die Schrecken des Vietnam-Kriegs, aber auch eine Art politische Gospelmusik (Elaine Brown).

Kapitel 3 widmet sich der Solidarität mit der Black-Power-Bewegung, die in der amerikanischen Linken breit aufgestellt war und weiße Musiker wie Bob Dylan, John Lennon und andere umfasste. Die Black Panthers waren aber auch selbst auf Platten vertreten mit politischen Reden und Aufrufen, etwa von Eldridge Cleaver. Auch das SNCC (Student Nonviolent Coordination Committee) brachte eigene Platten heraus, etwa von Stokely Carmichael oder H. Rap Brown (mit Leon Brown). Thomas erzählt über die Hintergründe für Oliver Nelsons Album “Black, Brown and Beautiful”, über Amiri Bakaras “A Black Mass” mit dem Sun Ra Arkestra, sowie über Musikerinnen, die der Sache genauso solidarisch gegenüberstanden wie ihre “Brothers”. Natürlich sind auch die Prediger mit von der Partie, Rev. Jesse Jackson etwa und andere, die ihre Predigten eben auch politischen Inhalten widmeten.

Für Jazzhörer am spannendsten ist Kapitel 9, “Jazz Artist Collectives and Black Consciousness”, das Aktivitäten und Aufnahmen von Charles Mingus mit Max Roach, Archie Shepp, dem Art Ensemble of Chicago, Clifford Thornton, Sonny Sharrock, Lou Donaldson, Eddie Gale, Horace Silver, Gary Bartz mit Andy Bey, Joe McPhee, Herbie Hancock, Mtume, The Tribe, Rahsaan Roland Kirk, Les McCann mit Eddie Harris, Donny Hathaway, Cannonball Adderley, Miles Davis mit John Coltrane, Pharoah Sanders mit Leon Thomas in den Kontext der politischen Bewegung jener Jahre setzt.

Pat Thomas Buch ist eine überaus wertvolle Ergänzung zur Musikgeschichte der 1960er und 1970er Jahre, gerade weil der Autor versucht, politische Kontexte herzustellen und zu erklären. Das Buch im Coffeetable-Format ist reich bebildert mit Plattenhüllen, seltenen Fotos, Zeitungsausrissen und Anzeigen. Ein ausführlicher Index und eine separat erhältliche CD mit Beispielen für die im Text erwähnte Musik runden das Konzept ab.

Wolfram Knauer (Juli 2012)


 

Affirmation and Resistance. The Politics of the Jazz Life in the Self-Narratives of Louis Armstrong, Art Pepper, and Oscar Peterson
von Alexander J. Beissenhirtz
Kiel 2012 (Verlag Ludwig)
299 Seiten, 49,90 Euro
ISBN: 978-3-86935-146-9

2012beissenhirtzDie Jazz-Autobiographie ist fast schon ein eigenständiges Genre. Musiker, die über ihr Leben schreiben, verorten sich ganz bewusst und sehr persönlich in der Musikgeschichte. Im Idealfall, der auch für die drei hier untersuchten Bücher betrifft, vereinen sie Eigenschaften von Autobiographie, Memoiren, Biographie und Jazzgeschichtsschreibung. Für seine Dissertation wählt Alexander Beissenhirtz drei Autobiographien, die wichtige Themen des Jazz thematisieren, etwa die Spannung zwischen Popularkultur und Kunst, die Beziehungen zwischen der Persönlichkeit eines Musikers und seines Sounds, die Suche nach der eigenen Stimme, das “amerikanische” Element im Jazz, “race relations” sowie Drogen. Seine Fallbeispiele ordnet Beissenhirtz im einleitenden Kapitel ins literarische Genre der Autobiographie ein, aber auch ins fachspezifische Genre der Jazzliteratur. Und er fragt danach, welche Elemente von Affirmation und/oder Widerstand gegenüber den Werten einer amerikanischen Nationalkultur in diesen Büchern zu erkennen sind.

Im zweiten Kapitel setzt sich Beissenhirtz mit dem Problem einer Definition des Jazz auseinander und verweist auf die Dehnbarkeit dieses Begriffs. Er diskutiert den Unterschied zwischen selbst geschriebenen und durch Ghostwriter verfassten Autobiographien und ihren jeweiligen Bezug zum Primat der Authentizität, den jede Autobiographie zu erreichen trachtet. Sein drittes Kapitel ordnet das Genre der Jazz-Autobiographie in den Kontext der Jazzforschung ein, in der man viel zwischen den Zeilen lesen müsse, um Diskurse zu identifizieren, die von den Autoren nicht immer implizit angesprochen werden. Sein viertes Kapitel geht seiner Grundfrage nach, jener also, inwieweit Jazz als Affirmation amerikanischer Kultur oder aber als sozialer und politischer Widerstand gesehen wird, wobei Beissenhirtz als Gewährsleute für die beiden Ansätze auf der einen Seite Ralph Ellison, auf der anderen Amiri Baraka anführt. Die beide Pole verbindende Frage ist dabei auch die: Wie kann man Star sein, herausgehobenes Subjekt und dennoch Teil der Bewegung, Teil der Masse?

Die zweite Hälfte des Buchs geht dann in medias res: Beissenhirtz fragt danach, ob Louis Armstrong in seinen eigenen Schriften eher als Onkel Tom oder als Trickster rüberkommt. Er analysiert Armstrongs Stil sowohl in seinen veröffentlichten Büchern wie auch in Briefen und später veröffentlichten privaten Texten. Er begründet, warum “Satchmo. My Life in New Orleans” von 1954, anders als das bereits 1936 erschienene “Swing That Music” von Armstrong selbst und nicht zusammen mit einem Ghostwriter verfasst worden sein muss, und er vergleicht die Selbstdarstellung Satchmos in beiden Veröffentlichungen.

Art Peppers Autobiographie “Straight Life” von 1979 ist mehr Lebensbeichte als reine Autobiographie. Beissenhirtz vergleicht Peppers Selbstdarstellung im Buch mit anderswo abgedruckten Interviews des Saxophonisten und diskutiert ästhetische, soziale und sehr persönliche Ansichten Peppers vor dem Hintergrund der Fakten und seiner Aufnahmen.

Im dritten Fallbeispiel liest Beissenhirtz Oscar Petersons Autobiographie “A Jazz Odyssey” von 2002 als Affirmation des Jazz als “Amerikas klassische Musik”. Auch hier vergleicht er Petersons Selbstdarstellung mit den Fakten sowie mit der öffentlichen Wahrnehmung des Pianisten durch Kritiker oder Musikerkollegen. Er liest das Buch als den Versuch eines Künstlers, die Stellung des Jazz als ernsthafte Kunst auch in Wort und Schrift zu festigen. Er hinterfragt die Behauptung der Farbenblindheit, die Peterson in seinem Buch aufstellt, wenn es um die Hautfarbe der Mitmusiker geht, und kontrastiert diese mit Petersons durch seine Familie bedingte Unterstützung von Marcus Garveys Idealen.

Beissenhirtzes Buch ist als Dissertation an der FU Berlin angenommen wurden; entsprechend ist das resultierende Buch eine vor allem an einen Fachdiskurs gerichtete Publikation. Beissenhirtz macht auf Besonderheiten der Autobiographie im Jazz aufmerksam und liest die von ihm als Fallbeispiele angeführten Bücher kritisch, um sie für die Untermauerung seiner Thesen zu nutzen, dass nämlich die textliche Rekonstruktion von Musikerleben immer auch eine sehr bewusste Interpretation von Jazzdiskursen, wenn nicht gar einen Eingriff in solche darstellt.

Wolfram Knauer (Juli 2012)


 

Africa Speaks, America Answers. Modern Jazz in Revolutionary Times
von Robin D.G. Kelley
Cambridge/MA 2012 (Harvard University Press)
244 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN 978-0-674-04624-5

2012kelleyAls Robin D.G. Kelley im Frühjahr 2003 eingeladen wurde, Vorträge an der Harvard University zu halten, arbeitete er gerade an seiner Thelonious-Monk-Biographie. Statt einfach auf Kapitel daraus zurückzugreifen, entschied er sich für eine Reflektion über die Einflüsse zwischen Afrika und afro-amerikanischem Jazz, die er an vier konkreten Beispielen zeigen wollte. Aus seinen Vorträgen entwickelte sich ein tieferes Forschungsinteresse zum einen an den vier Protagonisten, die er ausgewählt hatte, zum zweiten am Thema Afrika / Jazz ganz allgemein, die schließlich zum vorliegenden Buch führten.

In den frühen 1960er Jahren, schreibt Kelley in seinem Vorwort, habe es ein verstärktes Interesse afro-amerikanischer Jazzmusiker an afrikanischen “Wurzeln” gegeben. Art Blakey, Randy Weston, Oliver Nelson, Max Roach nahmen Platten auf, die sich unterschiedliche Aspekte dieser Beziehung bezogen. Auch der Schlagzeuger Guy Warren zählte zu jenen Musikern, die eine Verbindung zwischen den beiden Kontinenten eruierten, nur dass er weder zu den Black Nationalists gehörte, bei denen eine Afrika-Schau damals in Mode war, noch überhaupt ein Afro-Amerikaner war – Warren nämlich war in Ghana geboren. Er rühmte sich selbst, afrikanische Elemente in den amerikanischen Jazz eingeführt zu haben, als niemand an so etwas interessiert gewesen sei. Warren ist einer der Musiker, denen ein Kapitel in Kelleys Buch gewidmet ist; die anderen sind Randy Weston, der sich seit den 1950er Jahren mit afrikanischen Rhythmen auseinandersetzte und Ende der 1960er Jahren in Marokko lebte, Ahmed Abdul-Malik, der in seiner Musik versuchte insbesondere nordafrikanische Melodik und Rhythmik mit dem Jazzidiom zu verbinden, sowie die südafrikanische Sängerin Sathima Bea Benjamin, die mit Warren das Schicksal teilte, weder “afrikanisch” noch “westlich” genug zu klingen, um auf dem Markt zu bestehen.

Kelleys Buch lehnt sich in der Konzentration auf vier Musterfälle an A.B. Spellmans epochales “Four Lives in the Bebop Business” von 1966 an. Neben Afrika sieht er als verbindendes Element seiner Protagonisten, dass sie alle aus den unterschiedlichen politischen wie ästhetischen Diskussionen der 1950er Jahre heraus ihre jeweils eigene Fusion angingen. Sie suchten in einer Zeit, in der das Wort “Freedom” wahrscheinlich das wichtigste Wort in der afrikanischen Diaspora war, nach “neuen emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten, neuen Wegen, Solidarität und Verbindungen zu erzeugen”.

Er beginnt mit der Geschichte des Ghanaers Guy Warren, der im Krieg unter die Fittiche eines amerikanischen Offiziers genommen wurde, der ihn zu seinem Assistenten machte und ihm den Weg in die USA ebnete. Warren jammte 1943 mit Miff Mole im New Yorker Nick’s Tavern, ging dann zurück nach Accra. Nach Ausflügen etwa mit einer afro-kubanischen Band kam er 1954 nach Chicago und stellte fest, dass sein Rhythmusgefühl, das nicht so sehr an Chano Pozo orientiert als vielmehr afrikanisch war, nicht ganz so gut ankam. 1956 nahm er eine LP auf, die vielleicht tatsächlich der erste Versuch einer Fusion beider Welten war: “Africa Speaks, America Answers”. 1958 folgte die LP “Themes for African Drums”, 1959 “Voice of Africa”, für die er Mühe hatte ein Label zu finden und die erst 1962 unter dem Titel “African Rhythms” veröffentlicht wurde. Kelley schreibt ausführlich über Warrens Frust gegenüber Kollegen wie Babatunde Olatunji, die in jenen Jahren stärker wahrgenommen wurde als er. Warren spielte 1969 mit britischen Musiker das Album “Afro-Jazz” ein, ging dann zurück nach Ghana, wo er 2008 starb.

Randy Westons afrikanische Reise begann in seiner Kindheit, als sein Vater, ein Anhänger Marcus Garveys, seinem Sohn von der glorreichen Vergangenheit Afrikas erzählte. In den 1950er Jahren war Weston quasi der Hauspianist im Music Inn in Lenox, Massachusetts, wo er unter anderem die Musikbeispiele für Marshall Stearns Vorträge über die Hintergründe der Jazzgeschichte spielte. Hier traf er auch auf den nigerianischen Trommler Babatunde Olatunji, der sein interesse an afrikanischer Kultur noch verstärkte. Als Ende der 1950er Jahre immer mehr afrikanische Staaten ihre Unabhängigkeit erhielten, komponierte Weston verschiedene Stücke, die sich mit afrikanischen Themen befassten und die 1959 in der LP “Uhuru Afrika” mündeten. 1961 besuchte er den fernen Kontinent zum ersten Mal, und Kelley erzählt die problematische Geschichte der American Society for African Culture, die damals ein Büro in Lagos eröffnetet, das zumindest zu Teilen von der CIA finanziert worden war. 1967 spielte Weston bei einem Festival in Rabat, verliebte sich in die Stadt und zog für fünf Jahre nach Marokko.

Ahmed Abdul-Malik hatte sich seit seiner Kindheit für arabische Musik interessiert und wollte seit den späten 1940er Jahren seine Liebe zum Jazz und zu “östlichen” Modi zusammenbringen. Kelley korrigiert die von Abdul-Malik selbst verbreitete Biographie und identifiziert dessen Vater als aus der Karibik (und nicht aus Afrika) eingewandert. Nach dem Tod seines Vaters konvertierte Abdul-Malik zum Islam und sprach schon in der Schulzeit fließend Arabisch. Kelley erzählt nebenbei, wie auch andere Musiker damals zum Islam konvertierten, verfolgt Abdul-Maliks Karriere und verknüpft diese mit seinem spirituellen Lebensweg, 1956 machte Abdul-Malik seine ersten Aufnahmen mit arabischen Musikern und wurde in seinen Plänen von Kollegen wie Thelonious Monk und John Coltrane ermutigt. Bald erschien “Jazz Sahara”, dann “East Meets West” und “The Music of Ahmed Abdul-Malik”. 1961 wurde der Bassist Mitglied der Band von Herbie Mann, der damals selbst großes Interesse an Musik der afrikanischen Diaspora hatte. Bis zu seinem Tod Anfang der 1990er Jahre behielt er sein Interesse an arabischer Musik und nahm in den 1980er Jahren sogar Unterricht bei einem Oud-Virtuosen.

Kelleys letztes Kapitel beschreibt die Lebensgeschichte der Sängerin Sathima Bea Benjamin. In Kapstadt aufgewachsen, interessierte sie, wie viele andere Altersgenossen auch, alles, was amerikanisch war. Sie wurde Lehrerin, sang nebenbei in Clubs. Kelley erzählt über die gemeinsame Liebe von Benjamin und Dollar Brand zur Musik Duke Ellingtons und beschreibt ausführlich vor allem die südafrikanische Jazzszene und die Herausarbeitung einer eigenen Identität bei Benjamin und Brand, irgendwo zwischen südafrikanischer und afro-amerikanischer Ästhetik. Ihre europäische und amerikanische Zeit interessiert ihn für dieses Kapitel weniger.

Robin D.G. Kelley gelingt es, das Thema der Interkulturalität, das seinem Buch zugrunde liegt, in seinen vier Fallbeispielen deutlich zu machen. Jedes Kapitel ist für sich spannend zu lesen; in der Verbindung der vier sehr unterschiedlichen ästhetischen Ansätze, musikalischen Persönlichkeiten und biographischen Lebenswege ergibt sich ein tatsächlicher Einblick in den musikalischen Dialog zwischen Afrika und Amerika in den 1950er und 1960er Jahren.

Wolfram Knauer (Juli 2012)


 

Saxofone. Ein Kompendium
von Uwe Ladwig
Kiel  2012 (buchwerft verlag)
266 Seiten, 69 Euro
ISBN: 978-3-86342-280-6

2012ladwigAlles, aber auch wirklich alles, was man über das Saxophon wissen will, kann man aus Uwe Ladwigs umfangreichen, sehr schön gestalteten und mit über 350 teils farbigen Fotos reich bebilderten Buch erfahren. Anders als in Ralf Dombrowskis “Portrait Saxofon” geht es dem Autor dabei allerdings nicht um die Interpreten, die hier nur eine kleine Nebenrolle spielen, sondern einzig um das Instrument selbst, in allen üblichen und unüblichen Bauarten und Varianten, vom Sopran- bis zum Basssaxophon.

Ladwig beginnt – wie sollte es anders sein – mit Adolphe Sax, der das Instrument 1846 zum Patent einreichte (bereits vier Jahre zuvor hatte Hector Berlioz das Instrument in einem Zeitungsartikel erwähnt). Neben der Skizze zum Patentantrag und einer Diskussion zu Bohrungsvarianten finden sich detaillierte Ansichten eines frühen Instruments und Instrumentenkoffers.

Der Hauptteil des Buchs dekliniert dann die verschiedenen Hersteller durch. Ladwig beginnt in den USA mit Conn, Buescher, Martin etc. und benennt genauso ausführlich Firmen aus Europa, Asien und Südamerika. Neben kurzen Firmengeschichten klassifiziert er dabei die produzierten Instrumente und liefert zugleich einen Seriennummernkatalog, anhand dessen sich Instrumente datieren lassen. Neben den großen Firmen finden sich kleine, neben alteingesessenen neue Hersteller, jeweils mit detaillierten Beschreibungen und, wo immer möglich, Abbildungen.

Ladwig diskutiert Erfindungen und zusätzliche Patente zu Klappen oder Klappenverbindungen, zeigt Fabrikräume etwa der Firma Keilwerth, aber auch viele aussagekräftige Werbeseiten der Hersteller über die Jahrzehnte. In einem Appendix werden Sonderformen des Saxophons besprochen, etwa Kunststoffinstrumente (man denke an Charlie Parkers Massey-Hall-Konzert oder an Ornette Colemans Auftritte – beide spielten übrigens ein Instrument der Firma Grafton) und Saxophone aus Holz. Ladwig listet sogenannte “Stencils” auf, also Produktionen einer eingesessenen Firma für andere, oft kleinere Hersteller, und er beschreibt Werkzeuge und übliche Arbeitsvorgänge in der Saxophonwerkstatt, von der Instrumenten-Instandhaltung bis zur Koffer-Restaurierung. Zum Schluss gibt er noch Tipps zur Mikrophonierung von Saxophonen.

Ein ausführliches Register beschließt das Buch, das ohne Übertreibung als ein Standardbuch für Saxophonsammler und -bauer beschrieben werden kann. Neben all dem Wissen, das Ladwig in die Seiten packt, liest man sich dabei immer wieder an kuriosen Aspekten von Firmen- oder Baugeschichten fest.

Wolfram Knauer (Juli 2012)


 

Visualizing Respect
Von Christian Broecking
Berlin 2012 (Broecking Verlag)
Books on Demand GmbH
54 Seiten, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-938763-33-9

2012broeckingfotoChristian Broecking, der Autor des Interview-Buches “Respekt! Die Geschichte der Fire Music”, komplettiert mit dem neuesten Fotobuch seine Story über die amerikanische Jazzszene der letzten 40 Jahre.

Die Fotos in dem Bildband „Visualizing Respekt“ dokumentieren die Interviewsituationen von 1992 bis 2012, die die Grundlage zu seiner profunden Analyse über Fragen nach schwarzer Geschichte und Identität bilden.

In sehr eindringlichen, nahezu umgebungslosen Musikerporträts scheint die Forderung nach gesellschaftlicher Teilhabe fast körperlich greifbar.

Nat Adderley, Amiri Baraka, Mal Waldron und viele andere geben sich und uns die Ehre.

Christian Broecking nimmt den Betrachter visuell mit in die Interviewsituation und schafft damit eine besondere Nähe zu den Protagonisten. Der direkte Blickkontakt der Musiker auf vielen Aufnahmen verfehlt nicht seinen suggestiven Effekt. Es sind sehr persönliche Off-Stage-Fotos, die den Menschen hinter der Musikerin und dem Musiker zeigen.

Dem Fotografen und Autor Christian Broecking ist damit eine authentische, kurzweilige Fotobroschüre moderner Jazzfotografie gelungen, deren wohltuende puristische Gestaltung und detailgenauen Fotos sich durchaus mit den großen Namen der Jazzfotografie messen können.

Doris Schröder (Juni 2012)


 

Jazz & Beyond, no. 1
von Heike Nierenz (Texte) & Norbert Guthier (Fotos)
Frankfurt 2012 (Norbert Guthier)
180 Seiten, 1 beiheftende CD, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-981485-21-9
www.guthier.com

(Vertrieb über Jazzwerkstatt)

2012nierenzAusgangspunkt des Buchs in CD-Box-Größe sind die Fotos Norbert Guthiers, in denen die sechs ausgewählten Musiker nicht nur in üblichen Konzertposen zu sehen sind, sondern auch privat, beim Unterrichten, im Café, beim Aufbauen, beim Soundcheck etc. Heike Nierenz stellt den Bildern stimmungsvolle Texte gegenüber, in denen die Biographie der Künstler genauso erzählt wird wie ihre musikalische Philosophie. Und da erzählte Musik selbst dann einen merkwürdigen Beigeschmack hat, wenn man genügend Bilder zu sehen bekommt, ist dem Buch eine CD mit Aufnahmen der Vorgestellten beigelegt, bereits veröffentlichte Titel aus den letzten Jahren (leider sagt die enthaltene Diskographie nichts über die Aufnahmedaten aus), die das Lese- und Schauerlebnis vervollständigen.

Eine gelungene Auswahl aktueller Künstler, bebildert mit meist recht dunklen Schwarzweißfotos und einem flüssig zu lesenden Text auf Deutsch und Englisch.

Wolfram Knauer (April 2012)


 

Jazzgeschichten aus Europa
von Ekkehard Jost
Hofheim 2012 (Wolke Verlag)
334 Seiten, 24,80 Euro
ISBN: 978-3-936000-96-2

2012jostDer Buchmarkt zum jazz ist mittlerweile fast unüberschaubar. Und doch fehlt immer noch eine schlüssige europäische Jazzgeschichte, ein Buch, in dem die verschiedenen Entwicklungen zwischen Adaption, Emanzipation und ästhetischer Eigenständigkeit des Jazz in Europa erzählt wird mit allen hellen und dunklen Facetten zwischen Exotik und Verbot, zwischen Nachahmung und freiem Experiment. Mit Ekkehard Jost hat nun Deutschlands wichtigster Jazzforscher sich daran gemacht diese Lücke zu schließen. Jost hatte 1987 mit “Europas Jazz” bereits ein Standardwerk zur Geschichte der Emanzipation des europäischen jazz zwischen 1960 und 1980 herausgebracht; sein neues Buch wirft den Blick jetzt noch weiter, betrachtet die Entwicklung von den frühen Jahren des 20. bis hinein in jüngste Entwicklungen des 21sten Jahrhunderts. Das Buch entstand aus einer erfolgreichen Sendereihe, die Jost für den WDR produziert hatte und in deren einzelnen Folgen er Schlaglichter auf wichtige Entwicklungen im europäischen Jazz warf. Aus diesem Ansatz heraus ist dann wohl auch der Titel des daraus entstandenen Buchs zu verstehen: ausdrücklich nicht eine “Jazzgeschichte Europas”, sondern “Jazzgeschichten aus Europa”.

Schon die Kapitelüberschriften hören sich nach Geschichten an, die man gerne hört. “Wie der Jazz nach Europa kam” erzählt Jost gleich im ersten Kapitel, berichtet dabei von Widerständen der Bürokratie gegen wilde Tänze, von James Reese Europes Hellfighters sowie von Sam Woodings Band. “Le Jazz en France” stellt die Faszination der Franzosen am Jazz in den 1920er Jahren vor und beleuchtet an einzelnen Beispielen beide Seiten der Faszination: die der (insbesondere schwarzen) Amerikaner, die sich zum Teil für länger in Frankreich niederließen, sowie die der französischen Musiker und Intellektuellen jener Jahre. Als typische Beispiele der französischen Seite jener Zeit greift er sich den Geiger Michel Warlop und den Gitarristen Django Reinhardt heraus.

Für die Frühzeit des Jazz in England geht Jost auf den Besuch der Original Dixieland Jazz Band ein und auf das Southern Syncopated Orchestra, erwähnt kurz die Besuche Armstrongs und Ellingtons und die Macht der britischen Musikergewerkschaft, die von den Mitt-1930er bis in die 1960er Jahre hinein erfolgreich verhinderte, dass amerikanische Musiker auf der Insel auftraten. Die Weimarer Republik führt Jost anhand von Eric Borchards Kapelle vor, zitiert Mike Danzi, wirft einen Blick auf die Berliner Unterhaltungsszene und lässt anhand der Reaktionen auf Ernst Kreneks Oper “Jonny spielt auf” den braunen Sumpf erahnen, der sich bald über Deutschland ausbreiten wird.

“Am Mittelmeer” heißt lakonisch das Kapitel, das einen kurzen Blick nach Spanien, vor allem aber nach Italien wirft. Die Sowjetunion verdient und erhält ein längeres Kapitel, in dem Jost Reaktion und Gegenreaktion von Jazzszene und System bis nach dem II. Weltkrieg abhandelt. In “Jazz unterm Hakenkreuz” skizziert er die unterschiedlichen Restriktionen, die in Deutschland Jazzmusik verfemten, ohne dass dafür eigens ein Jazzverbot ausgesprochen werden musste. Er entdeckt genügend interessante Musik und stellt kurz Freddie Brocksieper und Kurt Widmann vor, sowie mit Charlie and his Orchestra die vielleicht skurrilste Jazzformation jener dunklen Jahre.

“Im hohen Norden”, stellt Jost fest, habe der Jazz weit später Einzug gehalten als im südlicheren Europa, was vielleicht an der Abgelegenheit von den unterhaltungsmusikalischen Metropolen des Kontinents lag. “Frankreich in den Zeiten des Zweiten Weltkriegs” bringt uns zugleich in die direkte Nachkriegszeit und zeigt sehr deutlich, wie Jazz für ein anderes Gesellschaftsmodell steht, als Synonym für Freiheit wahrgenommen wird. Das Kapitel “Die Trümmerjahre” zeigt, wie Jazzmusiker und Jazzfans in der Nachkriegszeit aufholen, als sie endlich offen Swing hören können und sich den Bebop erobern müssen. Jost spricht über die Rundfunk-Bigbands, die sich in diesen Jahren gründen, über die US-Clubs, in denen junge deutsche Musiker ihr Handwerk verfeinern, über Johannes Rediske, Michael Naura, Helmut Brandt und Hans Koller, über Jutta Hipp, Wolfgang Sauer, Inge Brandenburg, aber auch über das Deutsche Jazz Festival in Frankfurt und die Resonanz darauf, über Zeitschriften wie das Jazz Podium und die Gondel sowie über den Jazz als einer (wenigstens kurzzeitigen) Jugendmusik.

Wie zwischengeschaltet wirkt das Kapitel “Americans in Europe”, und Jost hat ihm augenzwinkernd den Beisatz “Gäste oder Immigranten” beigegeben und berichtet mithilfe namhafter Zeitzeugen über die Beweggründe amerikanischer Jazzer, sich etwa in Paris oder anderswo in Europa niederzulassen. Die Amerikaner beeinflussten ganz sicher die “Modern Sounds”, denen Jost “quer durch Europa” folgt und dabei Schlaglichter auf Entwicklungen in Skandinavien, Großbritannien, Frankreich, Italien, der Sowjetunion, Polen und der DDR wirft. Kurz konstatiert Jost mit Gewährsmann Albert Mangelsdorff eine Krise des Jazz in den 1960er Jahre, stellt aber zugleich fest, dass Mangelsdorff und Musiker wie etwa Klaus Doldinger, Wolfgang Dauner und andere schnell einen Weg aus dieser Krise heraus fanden. Den Weg zur Eigenständigkeit hatte Jost bereits in seinem Buch von 1987 ausführlich beschrieben. Doch ist dieser Weg so wichtig, dass die “Wege des Free Jazz durch Europa” auch in diesem Buch das längste Kapitel ausmachen, nach “Modern Sounds” ein weiteres Kapitel, in dem Jost sich Land nach Land unter die Lupe nimmt. Den Osten spart er aus, denn der verdient gerade für diese Entwicklungsphase des europäischen Jazz einem eigenen Abschnitt.

Zum Schluss müssen wenige Beispiele aus der Menge der Entwicklungen die Klänge beispielhaft vertreten, die den Jazz nach 1970 und bis ins 21ste Jahrhundert prägen. Jost konstatiert zu Recht das “Ende linearer Vorwärtsbewegungen”, stellt “stilistischen Pluralismus und Regression” fest, sieht aber im Neobop keine europäische Kreation, sondern einen amerikanischen Import. Jost hält seine eigenen Vorbehalten nicht hinterm Berg, etwa wenn er Acid oder Techno Jazz knapp unter der Überschrift “Unheilige Allianzen” abhandelt. Hier ist nun auch Platz, kurz über die ökonomische Seite des Jazz also zu sprechen, also Plattenmarkt, Festivals und Clubs. Lesenswert schließlich noch sein Ausblick, den er mit einer knappen Analyse der unter “Jazz” firmierenden Musikrichtungen verbindet, um zu schlussfolgern, dass die “dynamische Strömung des Jazz schon jetzt und in Zukunft in zunehmendem Maße von Europa ausgehen wird”.

Anders als in “Europas Jazz” gibt es in “Jazzgeschichten aus Europa” kaum analytische Passagen. Jost erzählt Geschichten, und die Vielfalt der Entwicklungen erklärt den Ansatz des manchmal Anekdotischen, manchmal Sprunghaften genauso wie es wohl der Ursprung des Buchs in einem Sendemanuskript tun mag. Die Lektüre ist bei alledem leicht und vergnüglich. Jost wählt die Geschichten sehr bewusst aus, hinter die er seine Leser etwas tiefer führt, und es gelingt ihm dabei fast schon zwischen den Zeilen Gemeinsamkeiten wie Unterschiede deutlich zu machen und Lust zum Hinhören zu wecken. Wenigstens für die ersten Jahre bietet das Buch hierfür 28 Hörbeispiele an, die auf einer CD beiheften und die Jahre zwischen 1919 uns 1948 dokumentieren, zwischen James Reese Europes Hellfighters Band und Kurt Henkels “Rolly’s Bebop”.

Wolfram Knauer (April 2012)


 

Jazz Composition and Arranging in the Digital Age
von Richard Sussman & Michael Abene
New York 2012 (Oxford University Press)
505 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-538100-9

2012sussmanDuke Ellington schrieb seine Musik im Zug, im Hotelzimmer, im Reisebus, in Restaurants. So sehr hat sich das gar nicht geändert, denn die Orte, an denen Jazzmusiker heute ihre Musik komponieren oder arrangieren, mögen immer noch Orte des temporären Lebens oder des Reisens sein. Nur das Medium hat sich geändert: Wo Ellington sein Notenpapier dabei hatte, bei Bedarf aber auch schon mal Notizen auf Servierten machte, da arbeitet der Komponist oder Arrangeur unserer Tage in der Regel mit seinem Laptop. Dieser ist aber natürlich nur ein Arbeitsmittel – die Kreativität und das musikalische Knowhow müssen nach wie vor vom Musiker selbst kommen.

Richard Sussman und Michael Abene legen mit diesem umfangreichen Buch nun Materialien vor, mit denen Musiker, die mit dem Computer als Hilfsmittel groß geworden sind, sich dem Thema Komposition und Arrangement nähern können. Es ist also eine Art zeitgemäßes Arrangierlehrbuch, in dem Grundlagen (etwa die verschiedenen Tonlagen der Instrumente) genauso behandelt werden wie computerspezifische Notationsfragen. Die Autoren haben das Buch in drei Teilen aufgebaut. In den ersten fünf Kapiteln resümieren sie die Basics des Handwerks. Im zweiten Tel widmen sie sich den Besonderheiten des Arrangements für kleine Ensembles. Im dritten Teil dann nehmen sie sich der Komposition für Bigband und große Ensembles an. In allen Kapiteln finden sich neben arrangierspezifischen Tipps Erläuterungen von Notationssoftware und anderen Computerprogrammen, die dem Arrangeur heutzutage das Leben erleichtern. Eine begleitende Website schließlich bietet Musikbeispiele,  weitere Notenbeispiele, Softwarefiles und weiterführende Hinweise.

Bei aller Technik sollte man sich vom digitalen Aspekt des Herangehens der beiden Autoren aber nicht abschrecken lassen: In der Hauptsache geht es bei ihnen eben doch um das Handwerk des Töne-Zusammenfügens, des Klänge-Schmiedens, des Sound-Kreierens. Und so sind die Hinweise auf Software meistens Asides, zusätzliche Tipps zum zeitsparenden Arbeiten.

Das Buch ist ein wichtiges Unterrichtswerk für angehende Arrangeure, eine up-to-date-Fassung dessen, was Don Sebesky 1974 mit seinem Buch “The Contemporary Arranger” vorlegte oder Sammy Nestico 1993 mit “The Complete Arranger”. Und es ermutigt die kreativen Leser hoffentlich, wie Abene in seinem Vorwort auffordert, alle Möglichkeiten des Zusammenklingens zu erkunden.

Wolfram Knauer (April 2012)


 

Taj Mahal Foxtrot. The Storyy of Bombay’s Jazz Age
von Naresh Fernandes
New Delhi 2012 (Roli Books)
192 Seiten, 1.295 Rupien
ISBN: 978-81-7436-759-4

2012fernandesSelbst beim Jazz denken wir oft viel zu eurozentrisch: Wenn wir sagen, der Jazz eroberte kurz nach seiner Geburt die Welt, meinen wir zumeist Europa. Dabei wurde Jazz tatsächlich innerhalb weniger Jahre zu einer Art erster Weltmusik, die modische Tänze selbst an entlegenen Orten begleitete. Das vorliegende Buch dokumentiert ein in Jazzgeschichtsbüchern eher selten gestreiftes Kapitel, die lebendige Jazzszene in Bombay, die in den 1930er Jahren amerikanische Musiker wie Teddy Weatherford und Leon Abbey anzog.

Der Journalist Naresh Fernandes wollte eigentlich nur ein wenig Tratsch über die Welt der goanischen Musiker im Bombay der 1960er Jahre sammeln und interviewte zu diesem Zweck den Vater einer guten Freundin, von dem er wusste, dass er damals in Jazzbands und den Filmstudios gespielt hatte. Der Trompeter Frank Fernand war alt und schwach und kriegte immer nur stoßweise Sätze heraus, Fernandes aber wurde schnell klar, dass er mit einem Zeitzeugen sprach, der seit den Mitt-1930er Jahren auf der Jazzszene unterwegs war. Er machte sich an die Arbeit, Dokumente zu sammeln über die Frühgeschichte des Jazz in Bombay, über afro-amerikanische Musiker, die Bombay zu ihrer zweiten Heimat machten und über die Hindi-Filmstudios, die in den 1950er Jahren auch Jazz als Begleitmusik benutzten.

Fernandes beginnt sein Buch im Taj Mahal Hotel in Downtown-Bombay im Jahr 1935, in dem die Band des amerikanischen Geigers Leon Abbey zum Tanz aufspielt. Swing war die Mode in Paris und London und strahlte von dort in die Kolonien, und Abbeys Band war für die Besucher im Taj Mahal mehr eine Repräsentation europäischen mondänen Lebens als eine bewusste Rezeption amerikanischer Musik. Der Swing dieser Jahre wurde aber bald so populär, dass auf der Rückseite einer Broschüre des Bombay Swing Club aus dem Jahr 1948, also gerade mal ein Jahr nach der Unabhängigkeitserklärung des Landes, nicht weniger als 70 Bands verzeichnet sind, die in Bombay für Unterhaltung sorgten.

Leon Abbey und Weatherford erhalten eigene Kapitel im Buch. Zwischendurch schaut Fernandes noch weiter zurück und entdeckt, dass bereits im 19. Jahrhundert reisende Minstrelgruppen in Indien Station gemacht hatten. Er wirft außerdem einen Blick aufs klassische Musikleben der Stadt in den 1920er und 1930er Jahren. Wie in Europa mussten auch die indischen Musiker die Eigenarten des Jazz erst lernen, die dabei durchaus Parallelen zur heimischen Musiktradition besaß: Nichts war notiert, und um die Musik spielen zu können, musste man sie fühlen.

Fernandes verfolgt den Siegeszug dieser Musik, der 1946 zur Gründung der Jazz Society und 1948 des Bombay Jazz Club führte, die sich beide ernsthaft mit der Musik auseinandersetzten, Plattenabende und Jam Sessions organisierten. Jazz war schon lange im Unterhaltungsmainstream des Landes angekommen, was nur noch von der Tatsache unterstrichen wurde, dass Komponisten und Musiker für Hindi-Filme in den 1950er Jahren ausgiebig Gebrauch von Jazzrhythmen und -sounds Gebrauch machten. 1952 erschien die erste, wenn auch kurzlebige indische Jazzzeitschrift, Blue Rhythm.

Ein eigenes Kapitel ist dem Pianisten Dizzy Sal gewidmet, der 1959 in die USA ging, um am Berklee College zu studieren, ein weiteres Kapitel den Besuchen amerikanischer Stars wie Dave Brubeck, Duke Ellington, Louis Armstrong oder Jack Teagarden, die von den Fans mit Begeisterung aufgenommen wurden, auch wenn sie den kulturpolitischen Agenten der US-Regierung skeptisch gegenüberstanden, die in jenen Jahren als pro-pakistanisch angesehen wurde.

Mit etwas Verspätung löst die Rockmusik in den späten 1960er Jahren den Jazz schließlich als populäre Musik ab. Hier ist denn auch für Fernandes die Geschichte des Jazz Age in Bombay zu Ende.

“Taj Mahal Foxtrot” beleuchtet ein bemerkenswertes Kapitel globaler Jazzgeschichte. Fernandes gelingt es etliche Dokumente ausfindig zu machen, die sowohl die Faszination indischer Musiker mit dem Jazz als auch den Reiz des Exotischen für viele Jazzmusiker greifbar machen. Fernandes erzählt von Spielorten und Musikerbiographien, lässt dabei die Musik selbst allerdings etwas außen vor. Man liest kaum über konkrete Stücke, über den Lernprozess indischer Musiker, über die soziale Rolle, die das Spielen in einer Swingband (und damit zumeist in einem der großen Hotels Bombays) bedeutete. Auch die Einflüsse, die indische Musik im Westen hinterließ, streift Fernandes nur am Rande. Das alles wird wettgemacht durch die einzigartigen Dokumente und Fotos, die er sammelt und abdruckt, durch eine beiheftende CD, auf der sich einzelne Titel finden, und schließlich durch eine Website (www.tajmahalfoxtrot.com), in der den Kapiteln Musik- und Videobeispiele zugeordnet werden.

“Taj Mahal Foxtrot” ist ein empfehlenswertes Buch, die Geschichte einer regionalen Jazzszene, die auch den Leser in den Bann zu ziehen vermag, der noch nie in Bombay (Mumbai) war.

Wolfram Knauer (April 2012)


 

Harlem Jazz Adventures. A European Jazz Baron’s Memoir, 1936-1969
von Timme Rosenkrantz (herausgegeben von Fradley Hamilton Garner)
Lanham/MD 2012 (Scarecrow Press)
297 Seiten, 75,00 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8209-6

2012rosenkrantzIm Februar 1934 landete Baron Timme Rosenkrantz, keine 23 Jahre alt, mit dem Schiff aus seinem Geburtsland Dänemark in New York an. Der Baron, dessen Vorfahre bereits in Shakespears Hamlet erwähnt wurde, zog in ein Hotel auf der 70sten Straße und war voll der Vorfreude auf den Jazz, wegen dessen er in die USA gekommen war. Er ging in den Commodore Music Shop auf der 42sten Straße, um sich vom Besitzer Milt Gabler Tipps geben zu lassen, doch der teilte ihm als erstes mit, dass die meisten der großen Jazzmusiker, von denen Rosenkrantz schwärmte, mittlerweile in den Studios arbeiteten, Wiener Walzer und Schlager spielten. Nur einen Club gäbe es noch, das Onyx auf der 52sten Straße. Rosenkrantz aber ließ sich nicht entmutigen und entdeckte dabei den Jazz, den es natürlich nach wie vor gab in New York. Er hörte Don Redman im Apollo, traf den jungen John Hammond, erlebte Chick Webb im Savoy und war fasziniert vom Sänger Leo Watson.

Timmes Vater Palle Rosenkrantz war Dänemarks erster Krimiautor und hatte ihm einige Referenzschreiben mit auf den Weg gegeben. Die langweiligen Bekannten seines Vaters, zu denen ihm diese Schreiben die Türen öffneten, interessierten ihn aber weit weniger als die Musik Benny Carters oder Teddy Wilsons. Er begleitete Billie Holiday auf eine private Party, berichtet, wie der Saxophonist und Bandleader Charlie Barnet bei Musikern wie Eddie Condon oder Red McKenzie nicht zu beliebt gewesen sei. Um Benny Goodman im Casino de Paree zu hören, verpflichtete er sich sogar als Eintänzer. Er freundete sich mit Willie ‘The Lion’ Smith an, traf Art Tatum, besuchte Fats Waller in seinem Apartment und rauchte seinen ersten Joint, den ihm kein geringerer als Mezz Mezzrow besorgte.

Für eine Weile kehrte er nach Kopenhagen zurück, war aber bereits 1937 wieder zurück in New York. Wir lesen von Slim Gaillard und Slam Steward sowie der Sängerin Inez Cavanaugh (die seine Lebensgefährtin werden sollte), von W.C. Handy, Louis Armstrong und Bill Coleman. 1940 eröffneten Rosenkrantz und Cavanaugh in Harlem einen Plattenladen, den sie vier Jahre später wieder schließen mussten, weil die Geschäfte in Kriegszeiten einfach nicht gut genug gingen.

Rosenkrantz berichtet über das legendäre Nick’s in Greenwich Village und über seine Freundschaft zu Duke Ellington oder Stuff Smith und erhalten einen Einblick in die musikalische Welt, in der auch der Bebop geboren wurde. Rosenkrantz war dabei immer mehr als nur ein beobachtender Begleiter der Musiker; er produzierte Konzerte und teilweise auch Plattensessions, darunter legendäre Aufnahmesitzungen mit Erroll Garner. Eine Liste der von ihm produzierten Sessions ist im Anhang des Buches enthalten. Auch wenn der Untertitel Memoiren bis 1969 verspricht, hören Rosenkrantzs eigene Erinnerungen weitgehend in den Mitt-1940er Jahren auf. Das ursprünglich  auf Dänisch verfasste Buch wird ergänzt um eine Würdigung des Saxophonisten Coleman Hawkins aus Anlass dessen Todes im Jahr 1969 sowie um ein von seine Nichte verfasstes Nachwort, in dem auch sein Club “Timme’s” gewürdigt wird, den er in den 1960er Jahren in Kopenhagen gründete.

Seine Erinnerungen verfasste Rosenkrantz 1964 auf Dänisch, und es ist an der Zeit, dass dieser Zeitzeugenbericht auch einer breiteren Leserschaft zugänglich gemacht wird. Fradley Garner, ein seit 1960 in Kopenhagen lebender Amerikaner, hat sich der verdienstvollen Aufgabe angenommen, eine leicht annotierte und um erklärende Interviewausschnitte mit anderen Zeitzeugen bereicherte englische Übersetzung des Buchs herauszugeben, das einen überaus lebendigen Einblick in die swingende Musik der 1930er bis 1950er Jahre gibt, geschrieben von einem Outsider, der vielleicht gerade deshalb einen objektiveren, einen distanzierteren, einen kritischeren und manchmal verwunderteren Blick auf die Jazzgeschichte besaß als das Einheimischen gelungen wäre.

Timme Rosenkrantzs “Harlem Jazz Adventures” erlauben einen einzigartigen Einblick in die musikalische Welt New Yorks in den 1930er bis 1940er Jahren, jene Zeit des Umbruchs zwischen Swing und Bebop, als die Musiker mit ästhetischem Selbstbewusstsein und Tatendrang den Jazz fortentwickelten. Zwischen den vielen Anekdoten aber, die das Buch so ungemein kurzweilig machen, entdeckt man immer wieder die Ernsthaftigkeit, mit der die Musiker ihre Kunst vorantrieben.

Mehr zum Buch auf der Website: http://www.jazzbaron.com/

Wolfram Knauer (März 2012)


 

Black Box Pop. Analysen populärer Musik
herausgegeben von Dietrich Helms & Thomas Phleps
Bielefeld 2012 (transcript)
282 Seiten, 24,95 Euro
ISBN: 978-3-8376-1878-5

UMS1878.inddBand 38 der ASPM Beiträge zur Popularmusikforschung enthält allgemeine und spezifische Texte zum Thema “Analyse” von Popmusik. Es geht um analytische Methoden (Frank Riedemann, Allan Moore, Simon Zagorski-Thomas), um die Frage, was in diesem Bereich Analyse überhaupt leisten kann (Simon Obert, André Doehring), und es geht um ein paar konkrete Beispiele, etwa die ausführliche historische Genese der Songformen populärer Musik (Ralf von Appen und Markus Frei-Hauenschild), Johnny Cashs “Hurt”, das Steffen just in verschiedenen Versionen vergleicht, oder um das Timing im Spiel von Jazzgitarristen, das Márton Szegedi bei John Scofield, Pat Metheny, Bill frisell, Mike Stern untersucht. Christa Bruckner-Haring fragt danac, was vom Danzón in Gonzalo Rubalcabas Spiel fortlebt, und Helmut Rösing rekapituliert Methoden musikalischer Analyse, um Copyright-Fragen etwa bei Plagiatsvorwürfen zu klären.

Das Buch versammelt einen bunten Fundus interessanter Ansätze und dokumentiert zugleich die 21. Arbeitstagung des Arbeitskreises Studium Populärer Musik (ASPM) im November 2010 in Mannheim.

(Wolfram Knauer, Januar 2012)Jazz. Schule. Medien.
edited by Wolfram Knauer
Hofheim 2010 (Wolke Verlag)
256 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-936000-92-4.

2012knauerDas neueste Buch des Jazzinstituts Darmstadt trägt den Titel “Jazz. Schule. Medien.” und befasst sich mit verschiedenen Aspekten von Jazzvermittlung. In einem ersten Block geht es dabei darum, welchen Stellenwert Jazz im schulischen Unterricht besitzt, wie er in Lehrpläne eingebaut werden kann, welche pädagogischen Ansätze sich mit jazz-affinen Themen verbinden lassen, worauf die Musiklehrerausbildung achten muss, um Jazz und Popularmusik an Allgemeinbildenden Schulen gezielt einsetzen zu können. In einem zweiten Block wird aus unterschiedlichen Sichtweisen der Stellenwert diskutiert, den Jazz in den tagesaktuellen Medien besitzt, also in Tageszeitungen, Blogs etc. Schließlich kommen auch Jazzmusiker selbst zu Wort, die über Strategien berichten, ihr Publikum zu erreichen, in einer Zeit der kurzen Aufmerksamkeitsspanne Lust auf die Konzentration machen, die der Jazz verlangt, Neugier zu wecken auf das spontane Experiment der musikalischen Improvisation.

Die in diesem Band enthaltenen Beiträge entstanden aus Anlass des 12. Darmstädter Jazzforums im September 2011, das der theoretischen Diskussion über Jazzvermittlung auch einige praktische Workshops und Konzerte zur Seite stellte. Mit der Publikation wollen wir den Leser mit in den Diskurs darüber einbinden, wie der Jazz auch in Zukunft ein breites Publikum erreichen kann, ohne sich zu verbiegen, ohne seine kreative Freiheit dreinzugeben.

Zu den Autoren zählen namhafte Forscher, Pädagogen, Journalisten und Musiker wie etwa Christian Broecking, Sigi Busch, Ralf Dombrowski, Bernd Hoffmann, Julia Hülsmann, Reinhard Köchl, Hans-Jürgen Linke, Angelika Niescier, Florian Ross, Michael Rüsenberg, Jürgen Terhag, Walter Turkenburg, Joe Viera, Nils Wülker und andere.

Jazz. Schule. Medien.
(Jazz School Media)
edited by Wolfram Knauer
Hofheim 2010 (Wolke Verlag)
256 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-936000-92-4.

The latest book from the Jazzinstitut Darmstadt is titled “Jazz. Schule. Medien.” (Jazz. School. Media.) and deals with different aspects of bringing jazz to both a general and a young audience. The first part of the book looks at educational aspects, asks how to integrate jazz in a school curriculum, which pedagogical approaches can be linked to jazz-related themes, what to watch out for at teacher training in order for teachers to be able to use jazz and popular music effectively in school. A second part of the book discusses how jazz is seen and reported about in (German) daily newspapers, Blogs etc. And finally, musicians themselves have a say and talk about their strategies to reach their audience, how in a time of short attention span they whet their listeners’ appetite for the concentration which jazz often needs, how they raise the curiosity of their audience for the spontaneous experiment of musical improvisation.

The book’s chapters have originally been written as papers for the 12th Darmstadt Jazzforum in September 2011, a conference which also featured workshops and concerts. With the book publication we invite the reader to participate in a discourse about how to reach a broader audience for jazz while staying true to oneself, keeping one’s creative freedom.

Among the authors are established scholars, educators, journalists and musicians such as Christian Broecking, Sigi Busch, Ralf Dombrowski, Bernd Hoffmann, Julia Hülsmann, Reinhard Köchl, Hans-Jürgen Linke, Angelika Niescier, Florian Ross, Michael Rüsenberg, Jürgen Terhag, Walter Turkenburg, Joe Viera, Nils Wülker and others.

“Jazz. Schule. Medien.” is a German language publication throughout!


 

Deutsche Jazzfotografen: Karlheinz Fürst
herausgegeben von Monika Fürst
Neckargemünd 2012 (Männeles Verlag / Jazzinstitut Darmstadt)
216 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-933968-20-3

2012fuerstGeschichtsträchtig, aber dennoch zeitlos modern… So könnte man die Aufnahmen des deutschen Jazzfotografen Karlheinz Fürst charakterisieren. Noch jenseits digitaler Bearbeitung dokumentierte Karlheinz Fürst im Auftrag von Joachim Ernst Berendt in den Jahren 1958 bis 1963 wichtige Kapitel deutscher Jazzgeschichte mit regionalem Kolorit.

Karlheinz Fürst gehörte von Anfang an zu den fotografischen Pionieren in dem kompromisslosen Verzicht auf Blitzlicht zugunsten des künstlerischen Ausdrucks. Die auf den ersten Blick scheinbare Unschärfe und Grobkörnigkeit etablierte sich unter den künstlerischen Fotografen schnell zu einem ausgesuchten Stilmittel.

Aus Anlass einer Ausstellung im Jazzinstitut Darmstadt erschien nun der zweite Band der Reihe “Deutsche Jazzfotografen” mit Fotos von Karlheinz Fürst. Der von der Tochter des Fotografen Marion Fürst in Zusammenarbeit mit dem Jazzinstitut Darmstadt herausgegebene Band “Deutsche Jazzfotografen: Karlheinz Fürst” ist 216 Seiten stark und enthält neben den ausdrucksstarken Fotos aus den 1950er und frühen 1960er Jahren einen sehr persönlichen Aufsatz der Herausgeberin sowie einen kenntnisreichen Rückblick auf die deutsche Jazzszene jener Zeit von Matthias Spindler.

(Doris Schröder / Wolfram Knauer, Dezember 2012)


Lennie Tristano. C-Minor Complex
von Marco Di Battista
Raleigh/NC 2012 (Lulu Enterprises)
80 Seiten, 10,00 Euro
ISBN: 978-1-291-08480-1
www.marcodibattista.com

2012_dibattistaLennie Tristanos Aufnahme von “C-Minor Complex” vom Herbst 1961 ist eine musikalische tour-de-force, ein hervorragendes Beispiel für Tristanos Fähigkeit in Linien zu denken und zu musizieren. Der italienische Pianist Marco di Battista hat sich Tristanos Aufnahme als Musterbeispiel seiner Annäherung an sein musikalisches Vorbild genommen.

Im ersten Kapitel stellt er den historischen Kontext vor, aus dem heraus Tristanos Kunst zu verstehen ist. Kapitel 2 verweist auf musikalische Einflüsse (und lässt auch die italienische Herkunft der Familie nicht unerwähnt). Im dritten Kapitel verfolgt die Battista die musikalische Karriere des Meisters, um in den Kapiteln 4 bis 6 zur formalen und harmonischen Analyse des “C-Minor Complex” zu kommen. Er hebt den Anschlag hervor und verweist auf die harmonischen Bezüge zu “Pennies from Heaven” bzw. Tristanos eigenem “Lennie’s Pennies”. Die gleichmäßige Rhythmik erinnert ihn an den gleichmäßigen Puls, der beispielsweise englischer Renaissancemusik von William Byrd und anderen zugrundeliegt. Seine harmonische Analyse benennt besondere Alterationen, aber auch Unterschiede etwa zu “Lennie’s Pennies”. Insbesondere interessiert ihn dabei das Ineinandergreifen von Polyrhythmik, harmonischem Verlauf und melodischer Erfindung.

Das Buch schließt mit einer Komplett-Transkription der fünfeinhalbminütigen Aufnahme.

Wolfram Knauer (Dezember 2014)


Doc. The Story of a Birmingham Jazz Man
von Frank ‘Doc’ Adams & Burgin Mathews
Tuscaloosa/AL 2012 (The University of Alabama Press)
267 Seiten, 34,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8173-1780-5

2012adamsFrank Adams gehört zu den Musikern des Jazz, die vielleicht allein deshalb keine große Karriere machten, weil sie sich nie entscheiden konnten, in die großen Jazzstädte zu ziehen. 1928 in Birmingham, Alabama, geboren, spielte der Klarinettist und Saxophonist zwar mit Jazzgrößen wie dem jungen Sun Ra (als dieser noch Sonny Blount hieß) und in den 1940er Jahren sogar eine kurze Weile mit Duke Ellingtons Orchester, blieb, abgesehen von seinen Studienjahren an der Howard University in Washington, ansonsten aber die meiste Zeit in seiner Heimatstadt. Sogar ein Angebot der Count Basie Band lehnte er ab, weil er sich lieber um seine Familie und seine Schüler kümmern wollte. In Birmingham, Alabama, ist Frank Adams seit langem eine Jazzlegende und in der Community so beliebt, dass er allgemein nur mit seinem Spitznamen “Doc” gerufen wird.

Frank Adams Autobiographie erzählt verschiedene Geschichten. Da geht es zum einen um einen Musiker, dem die Einbindung seiner Kunst in die Community immer am Herzen lag. Da geht es zum zweiten um die schwarze Gesellschaft in den tiefen Südstaaten, wo Adams’ Vater seine eigene Zeitung, den Birmingham Reporter herausgegeben hatte und die Familie eine hoch angesehene Stellung besaß. Es geht schließlich um die Erdung, die auch solche Musiker, die ihre Heimat verlassen, letzten Endes aus ihrer Herkunft erfahren, eine Erdung, wie Adams sie bei seinen Kollegen Blount (also Sun Ra) und Erskine Hawkins konstatiert.

Vor allem aber geht es um ihn selbst, um Frank Adams, der sich an seinen ersten Ton auf der Klarinette seines Bruders erinnert, ein G, und an eine eher unbeschwerte Kindheit in einer engen Familie, deren Bande mit seiner Großmutter bis fast an die Zeit der Sklaverei zurückreichten. Diese habe immer, wenn ihm etwas gelungen sei, gesagt, “No ladder child could do better”, und erst viel später sei ihm aufgegangen, dass “ladder” für “Mulatto” stand und sie ihn loben wollte, dass er als schwarzer Junge besser gewesen sei als ein hellerer Mulatte, die allgemein für klüger gehalten wurden. Der Rassismus war eben etwas, was damals wie heute nicht nur das Verhalten der Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft bestimmte, sondern auch ihr eigenes Selbstverständnis.

Zur Musik kam Adams wie so viele andere Musiker seiner Generation durch die Kirche; eines der ersten Jazzkonzerte, an das das er erinnert, war das Duke Ellington Orchester. In der Lincoln Elementary High School erhielt er Unterricht beim Neffen von W.C. Handy und spielte bald darauf in der Band von Fess Whatley, einer lokalen Legende, der Musiker wie Erskine Hawkins und andere hervorgebracht hatte. Wenig später rief Sonny Blount bei seiner Mutter an und fragte um Erlaubnis, dass ihr Sohn in seiner Band spielen könne. Adams berichtet von Sun Ras Wohnung in Birmingham, von seinem musikalischen Ansatz, von der Art und Weise, wie er seine Musiker, von denen die meisten eh keine Noten lesen konnten, improvisieren ließ, wie er von ihnen erwartete, dass sie etwas von sich selbst in ihrer Musik preisgaben. Schon in der High School hatte Adams Gelegenheit, mit verschiedenen Revue-Truppen zu touren. Nach dem Schulabschluss erhielt er dann ein Stipendium an der Howard University in Washington, D.C. Nebenbei spielte er immer wieder Ersatzgigs im Howard Theatre oder in anderen Clubs der Stadt. In dieser Zeit buchte Jimmy Hamilton ihn als Ersatz für Hilton Jefferson, der sich das Bein gebrochen hatte, für das Duke Ellington Orchester.

1950 kehrte Adams nach Birmingham zurück und nahm eine Stelle als Grundschullehrer an, die er in der Folge 27 Jahre bekleidete. Er erzählt, wie er jetzt als Lehrer den jungen Schüler das weitergab, was er einst selbst von seinen Lehrern gelernt hatte. Nebenbei trat er in den Clubs der Stadt auf und berichtet von einigen der Musiker, die in seiner Band spielten, unter ihnen etwa der Bassist Ivory Williams und der Trompeter Joe Guy, der eine Weile Billie Holidays Ehemann war. Er berichtet über sein Privatleben, Frau und Kinder, sowie über die Bürgerrechtsbewegung, die insbesondere in den amerikanischen Südstaaten alles verändern sollte.

Doc Evans’ Autobiographie ist mehr als ein musikalisches Fallbeispiel. In Zusammenarbeit mit Burgin Mathews gelingt es ihm, gelebte Geschichte erfahrbar zu machen. Er erzählt Hintergründe, die in vielen Jazzbüchern ausgeblendet werden, weil Realität Geschichte zu profan scheinen lassen kann. Das alles gelingt ihm in einem lockeren, sehr persönlich gehaltenen Ton, der die Lektüre seines Buchs zu einem Lesevergnügen werden lässt.

Wolfram Knauer (August 2014)


 

Creole Trombone. Kid Ory and the Early Years of Jazz
von John McCusker
Jackson/MS 2012 (University Press of Mississippi)
250 Seiten, 30 US-Dollar
ISBN: 978-1-61703-626-2

2012mccuskerKid Ory, meint John McCusker zu Beginn seiner Biographie, sei ein von der Jazzgeschichte zu Unrecht vernachlässigtes Brückenglied zwischen Jazzpionieren wie Buddy Bolden und späteren Jazzstars wie Louis Armstrong. Der Autor hat sich vor allem als Journalist und Fotograf für die New Orleans Times-Picayune einen Namen gemacht. Für sein Buch recherchierte er im Hogan Jazz Archive der Tulane University, konnte aber auch auf Manuskripte der Autobiographie Edward Kid Orys zurückgreifen, die ihm dessen Tochter Babette zur Verfügung stellte.

Kspan style=”font-size:10.0pt;font-family:”Arial”,”sans-serif”; mso-ansi-language:DE”>id Ory wurde 1886 auf der Woodland Plantation geboren, etwa 25 Meilen stromaufwärts von New Orleans. McCusker beschreibt die Lebens- und Arbeitsbedingungen auf der Zuckerrohrplantage nach Abschaffung der Sklaverei. Er zeichnet die Herkunft der Vorfahren Orys nach, seines weißen Vaters, Sproß einer ehemaligen Sklavenhalterfamilie, sowie seiner Mutter, einer hellhäutigen Mulattin. Ory hatte sich selbst immer als Kreolen bezeichnet, was neben der Hautfarbe vor allem die Beschreibung kultureller Identität beinhaltete. Als Kind konnte er in den Gemeinden um sein Heimatdorf Kirchen- und Volkslieder hören, die meist auf Französisch gesungen wurden. James Brown Humphrey, der Leiter der Onward Brass Band, kam regelmäßig ins New Orleanser Hinterland, um den Brass Bands in den Dörfern und Plantagen ein ordentliches Repertoire zu vermitteln. All dies trug zur musikalischen Sozialisation Orys bei, der zuallererst Fan war, begeistert von der Musik, die er da hörte, die er mit Freunden nachsang, mit denen er außerdem archaische Zigarrenschachtelgeigen und -gitarren baute, während er sehnsüchtig darauf sparte, sich einmal ein richtiges Instrument leisten zu können.

Edward Orys Mutter starb, als er 14 Jahre alt war, sein Vater ein Jahr später. Der Junge lebte mit seinen Schwestern, arbeitete in einem Sägewerk und spielte in seiner Freizeit Gitarre. In einem Saloon ließ jemand den Hut herumgehen, als er den Blues spielte, und er stellte erstaunt fest, dass das Geld, das da reinkam, mehr war als er in zwei Monaten verdient hatte. 1905 reiste er zum ersten Mal nach New Orleans, wo er sich eine Ventilposaune kaufte. Die Stadt machte großen Eindruck auf ihn, noch mehr aber beeindruckte ihn sein erstes Treffen mit Buddy Bolden. McCusker beschreibt das musikalische Leben im New Orleans jener Jahre, Picknicks und Konzerte im Lincoln Park, Tanzveranstaltungen in der Masonic Hall, intensive Gottesdienste in den “Holly Roller”-Kirchen der Pfingstkirchler. Ory hörte alle möglichen Bands, aber die blues-getränkte Musik Boldens gefiel ihm am besten. 1907 zog er endgültig in die Mississippi-Metropole und schaffte es bald, seiner jungen Band ein Engagement im Lincoln Park zu verschaffen.

McCusker beschreibt die Spielorte für die Band, nennt Bandmitglieder wie Ed Garland und Johnny Dodds sowie Kollegen wie Freddie Keppard. Die Musikszene in New Orleans umfasste Brass Bands und Tanzorchester, Creole Bands, deren Mitglieder Noten lesen konnten, und Gut-Bucket Bands, die das nicht beherrschten. Zeitzeugen erzählen, dass es Ory, der sich 1909 eine Zugposaune gekauft und in der Folge seine Spieltechnik verändert hatte, damals gelungen sei, selbst einen Walzer “hot” klingen zu lassen. Die Stadt war reich Kneipen und Bordellen im Storyville-Viertel der Stadt; McCusker beschreibt die vielen “Charaktere”, und er stellt Orys eigene Aussage in Frage, ein Verhältnis mit Lulu White gehabt zu haben, der bekanntesten Zuhälterin vor Ort.

1913 hörte Ory Louis Armstrong in der Waisenhaus-Band, in der Satchmo damals seine ersten musikalischen Erfahrungen machte, und ließ ihn für ein paar Stücke einspringen. Um 1916 kam Joseph Oliver als Kornettist zu Ory, und gemeinsam entwickelten sie eine neue Art des Zusammenspiels, die sich erheblich von dem unterschied, was noch Buddy Bolden gemacht hatte. 1917 spielte die Original Dixieland Jazz Band ihre ersten Aufnahmen in New York ein, und McCusker erzählt entlang der ihm vorliegenden autobiographischen Notizen, wie das Bandkonzept der ODJB auch Ory beeinflusst habe. Das Rotlichtviertel wurde 1917 geschlossen; Oliver verließ die Stadt 1918, um nach Chicago zu gehen, und Ory ersetzte ihn durch den jungen Armstrong.

Neben der Schließung des Rotlichtviertels, neben dem allgegenwärtigen Rassismus im Süden und neben den besseren Löhnen, die man im Norden erzielen konnte, führt McCusker auch die Prohibition ins Feld, die die Kneipenszene in New Orleans verwandelte und vielen Musikern Auftrittsmöglichkeiten nahm. Ory blieb noch eine Weile, entschloss sich dann aber im August 1919 den Zug nach Los Angeles zu besteigen. Die nächsten sechs Jahre lebten er und seine Frau in Kalifornien, wo sie eine lebendige Musikszene entlang der Central Avenue in Los Angeles, aber auch an der Barbary Coast von San Francisco oder in Oakland vorfanden. Er arbeitete für die Spikes Brothers, Johnny und Reb Spikes, die damals wichtigsten Konzertorganisatoren an der Westküste, und spielte im Mai 1922 seine legendären ersten Plattenaufnahmen ein. 1925 frugen sowohl King Oliver wie auch Louis Armstrong bei Ory an, ob er nicht Lust hätte, ihren jeweiligen Bands beizutreten, die in Chicago spielten. Oliver brauchte Ersatz für seine Dixie Syncopators, und Armstrong einen regelmäßigen Posaunisten für seine Hot Five, die ja nur eine Studioband war. McCusker hört sich etliche der frühen Hot-Five-Aufnahmen an, und findet, dass es vielleicht gerade die archaische Rohheit Orys Posaune war, die diesen Aufnahmen ihren besonderen Charme verliehen. Daneben spielte der Posaunist mit Oliver und diversen anderen Bands und nahm außerdem Unterricht bei einem in Böhmen geborenen Posaunisten. Er ging mit Jelly Roll Morton und Johnny Dodds ins Studio und kehrte gegen Ende des Jahrzehnts zurück nach Kalifornien.

Hier hört McCuskers Geschichte auf, dem es vor allem um die prägende Zeit ging, jene Jahre, in denen Orys eigener Stil geprägt wurde und jene, in denen er dem Jazz seine eigene Prägung aufdrückte. Seltene Fotos ergänzen das Buch, kurze Auszüge aus dem autobiographischen Manuskript (das im Text selbst ebenfalls immer wieder länger zitiert wird) sowie die Lead Sheets für fünf von ihm nie aufgenommenen Kompositionen, unter anderem einem skurrilen Stück von 1942 mit dem Titel “Mussolini Carries the Drum for Hitler”.

“Creole Trombone” ist eine exzellente Studie zum frühen Jazz in New Orleans. John McCusker gelingt es sowohl Kid Orys Biographie in eine lesbare und nachempfindbare Linie zu bringen als auch dem Leser ein Gefühl für das Musikleben in New Orleans zu vermitteln, in dem Ory und andere Musiker seiner Generation ihr Auskommen finden mussten. Seine Mischung aus historischer Recherche, biographischen und autobiographischen Zitate sowie einem nüchternen, vorsichtig sich der Materie annähernden Stil, der jede Art von Heldenverehrung möglichst vermeidet, macht das Buch zu einer klugen Lektüre, die einen auch dort viel über die Musik lernen lässt, wo der Journalist McCusker über diese selbst eigentlich eher wenig schreibt.

Wolfram Knauer (Juni 2014)


Michel Petrucciani. Leben gegen die Zeit
von Benjamin Haley
Hamburg 2012 (edel)
288 Seiten, 29,95 Euro
ISBN: 978-3-8419-0174-3

2012haleyRoberto Saviano, der italienische Journalist und Camorra-Jäger, beginnt das Buch über Michel Petrucciani mit einer kurzen, eindringlichen Biographie des Künstlers, der Schilderung einer Karriere, die es nicht geben dürfte, weil der Künstler mit der Glasknochenkrankheit doch eigentlich nie Klavier hätte spielen können, die aber umso eindringlicher war, weil er eben nicht als behinderter Virtuose, sondern als Vollblutmusiker anerkannt und bewundert wurde, wo immer er auftrat. Michel Petruccianis Sohn Alexandre schreibt im Vorwort über seinen Vater: “Er war lustig, lachte stets und war sehr gelassen. Obwohl ihm das Leben nicht gerade die besten Karten in die Hand gegeben hatte, um trumpfen zu können. (…) Er hat dem Leben diesen Humor und diese mitreißende Freude entrissen, die man in der Mehrzahl seiner Kompositionen erlebt.”

Der Autor und Musikwissenschaftler Benjamin Haley begegnete Michel Petrucciani erstmals 1995, als er in kontaktierte, weil er seine Magisterarbeit über den Pianisten schreiben wollte. Aus dem Kontakt entstand eine Freundschaft und, spätestens nach dem Tod des Pianisten, das Verlangen, dessen Leben zwischen künstlerischem Wollen und den Problemen des Alltags zu schildern. Für die vorliegende Biographie griff Haley auf eigene und bereits publizierte Interviews mit dem Pianisten zurück, führte daneben aber auch viele Gespräche mit Familienmitgliedern, Freunden und Kollegen Petruccianis.

Haley beginnt seine Erzählung mit der Schilderung, wie der vierjährige Michel seine Eltern durch sein außergewöhnliches Gehör davon überzeugte, ihm erst ein Spielzeugklavier, dann ein richtiges Instrument zu besorgen. Sein Vater baute dem wachstumsgestörten Jungen eine Konstruktion, mithilfe derer er die Pedale erreichen konnte und ermunterte ihn darüber hinaus, sein Talent zu pflegen. Der Vater liebte Jazz, und als er eine Musikalienhandlung eröffnete, stellte er sicher, dass es darin auch ein Musikzimmer gab, in dem Michel üben konnte. “Ich bin nicht besonders begabt”, erklärte Michel später, “ich habe meinem Instrument nur unheimlich viel Zeit gewidmet.”

Wie erzählt man die Biographie eines so kurz gelebten Lebens? Benjamin Haley hat sich entschlossen, sie in Episoden zu erzählen. Nach dem Kindheitskapitel folgt eines über Michels Freund Manhu Roche, der ihm ein Schlagzeugset baute und ihn auf etlichen seiner Reisen begleitete. Ein weiteres Kapitel ist den Begegnungen mit großen Musikern gewidmet, Kenny Clarke etwa, Aldo Romano, Barre Phillips, aber auch einigen seiner Agenten und Produzenten. Anfang der 1980er Jahre nahm ein amerikanischer Freund Petrucciani mit nach Kalifornien und führte ihn in die Künstlerszene Big Surs ein. Der Saxophonist Charles Lloyd, der ihn dort kennenlernte, war von Petruccianis Kunst so bewegt, dass er , der sein Instrument fünf Jahre lang kaum mehr berührt hatte, ein Comeback anging. Petrucciani war schnell auch in den USA als Duopartner gefragt, spielte mit Lloyd, mit Lee Konitz, mit Charlie Haden. Er zog nach New York, trat mit seinem eigenem Trio auf, begleitet aber auch beispielsweise die Sängerin Sarah Vaughan oder spielte mit Dizzy Gillespie, David Sanborn, Stan Getz und vielen anderen.

Haley erzählt etliche der Anekdoten, von viele um den Pianisten existieren. Wie dieser die Hells Angels in Kalifornien mit Absicht gereizt habe, um dann auf einem Motorrad vornedrauf eine Runde mitzudrehen. Wie er Whitney Houston im Flieger zur Grammy-Verleihung kennengelernt habe und ihr dann in ihrem Hotelzimmer vorgespielt habe. Wie Oscar Peterson ihn erst habe abblitzen, sich dafür Jahre später aber mit Tränen in den Augen entschuldigt habe. Es sind Geschichten eines Menschen, dessen Schicksal viele betroffen machte, dessen Musik sie aber noch viel mehr berührte. Es sind Geschichten eines rastlosen Lebens zwischen den USA und Europa, eines Künstlers, der sich der Musik geweiht hatte, der daneben aber frech und lebensfroh war, Frauen genauso liebte wie gutes Essen oder Wein, der seine Prominenz genoss, weil sie ihm zeigte, dass er den Erwartungen aller ein Schnippchen geschlagen hatte.

Haleys Buch behält dabei neben allem Biographischen einen zutiefst persönlichen Ansatz, ist einem Freund gewidmet, lässt den Leser hinter die Fassade blicken. Zum Schluss finden sich einige Briefe Petruccianis an seinen Freund Manhu Roche sowie ein Ausblick auf das Nachwirken des Künstlers, der auf dem Père Lachaise in Paris nur wenige Schritte von der letzten Ruhestätte Frédéric Chopins entfernt begraben liegt.

Und als Anhang hat sich der deutsche Verlag entschlossen Petrucciani-Interviews von Ben Sidran sowie von Karl Lippegaus hinzuzufügen, der außerdem eine kommentierte Diskographie beigibt. Lippegaus ist auch der Übersetzer dieses Buchs, das nicht nur Michel-Petrucciani-Fans ans Herz gelegt sei. “Leben gegen die Zeit” erzählt weit mehr erzählt als “nur” eine Musikergeschichte. Es erzählt von der Kraft der Musik, vor allem aber von der Kraft eines mutigen, trotzigen und starken Mannes.

Wolfram Knauer (Juni 2014)


 

Sound Diplomacy. Music & Emotions in Transatlantic Relations 1850-1920
von Jessica C.E. Gienow-Hecht
Chicago 2012 (University of Chicago Press)
333 Seiten, 30 US-Dollar
ISBN: 978-0-226-29216-8

2012gienowKulturdiplomatie scheint ein Thema zu sein, das erst im Kalten Krieg entwickelt wurde, tatsächlich aber spielten kulturelle Beziehungen schon viel länger eine wichtige Rolle im politischen Geschäft, wie Jessica C.E. Gienow-Hecht in ihrem Buch über die kulturellen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland belegt. Während Frankreich auf diesem Gebiet vor allem in den Bildenden Künsten reüssierte und England allein der Sprache wegen eng mit den USA verbunden war, fokussierte sich die deutsch-amerikanische Freundschaft in den von Gienow-Hecht untersuchten Jahren 1850 bis 1920 vor allem auf die klassische Musik, und innerhalb dieser insbesondere auf Sinfonieorchester und ihre Dirigenten. Die Autorin interessieren vor allem die Konnotationen, Emotionen also, die sich mit deutscher Musik verbanden, ein seltsames Konzept von Männlichkeit und Zivilisation, das, ihrer Analyse zufolge, zumindest einen großen Teil der euro-amerikanischen Identität stark prägte.

Gienow-Hecht beginnt ihre Studie in den 1850er Jahren, als die ersten Weltausstellungen nicht nur Warenmessen waren, sondern zugleich zu kulturellen Vergleichen animierten, neugierig machten auf fremde oder aber auf die Verwandtschaft der eigenen mit anderen Kulturen. Sie endet ihr Buch mit der Enttäuschung Amerikas über Deutschland in Folge des I. Weltkriegs und verweist im Epilog auf die Folgen der amerikanisch-deutschen Musikbeziehungen insbesondere nach dem II. Weltkrieg.

Thema ihres Buches ist zugleich die Beschreibung einer nationalen Musikkultur in Deutschland, die gerade im Dialog des kulturellen Transfers, in ihrer Spiegelung durch die amerikanische Rezeption als nationale kulturelle Identität besonders deutlich wird, und die Entwicklung einer anderen kulturellen Identität in den USA, die ihre eigene nationale Farbe im Vergleich entwickelt und am Beispiel misst. Ihr Buch betrachtet allerdings recht einseitig vor allem die Faszination amerikanischer Musiker und Hörer mit den deutschen Traditionen zwischen Beethoven und Wagner und erwähnt einzig in einer Fußnote die Tatsache, dass es bereits in derselben Zeit auch die gegenläufige Faszination europäischer Musiker und Hörer an amerikanischer Musik gab – allerdings nicht an amerikanischer Konzertmusik europäischer Provenienz, sondern an den archaischer wirkenden Spirituals der Fisk Jubilee Singers oder Unterhaltungsmusik reisender Minstrelgruppen.

Für die Jazzforschung lässt sich aus Gienow-Hechts Studie vor allem lernen, wie sie Subtexte der bi-nationalen Musikrezeption herauszuarbeiten versucht, Konnotationen beschreibt, nach ihren Ursachen fragt und ihre Auswirkungen betrachtet. Auch in der einseitigen Ausrichtung auf die amerikanische Rezeption deutscher Musik allerdings lässt sie einige Kapitel aus, die wenigstens am Rande erwähnenswert gewesen wären: die vielen Gesangsvereine etwa, die von Wisconsin bis Louisiana deutsches Musikbrauchtum pflegten zu einer Zeit, als die Unterscheidung zwischen E und U, zwischen hoher und niederer Musik noch nicht so ausgeprägt war wie im Zeitalter der Musikindustrie.

Alles in allem, eine sorgfältige Studie, die den Leser nichtsdestotrotz zu weiteren Fragen animiert, etwa nach genaueren Informationen über das Publikum, nach der Rezeption innerhalb anderer ethnischer Gruppen in den USA (also italienischen, französischen, irischen Einwanderern) und nicht zuletzt nach den Auswirkungen auf die Wahrnehmung indigener (also indianischer) oder anders-fremder (also afrikanischer bzw. afro-amerikanischer) Kulturtraditionen. Wer eine Abhandlung über gezielte politische Entscheidungen erwartet, mit Kultur Politik zu machen, wie der Titel des Buchs, “Sound Diplomacy”, wie aber vor allem unser Verständnis einer Kulturdiplomatie nach dem II. Weltkrieg erwarten lässt, wird enttäuscht. Gienow-Hecht zeigt stattdessen, wie Kultur als Sympathieträger genutzt wird, um bereits bestehende Bindungen zu stärken, und wie außermusikalische Konnotationen erkannt und genutzt werden – von amerikanischen Verteidigern europäischer Kulturtraditionen genauso wie von den europäischen Musikern und Dirigenten, die Amerika als einen großen Markt erkannten.

Wolfram Knauer (Mai 2014)


 

Jazz / Not Jazz. The Music and Its Boundaries
herausgegeben von David Ake & Charles Hiroshi Garrett & Daniel Goldmark
Berkeley 2012 (University of California Press)
301 Seiten, 36,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-520-27104-3

2012akeEine sinnvolle Definition eines Gegenstandes erhält man erst, wenn man seine Ränder beschreiben kann, wenn man also weiß, was er nicht ist. Die Frage, ob ein musikalischer Ausdruck von uns als Jazz oder nicht als Jazz beschrieben wird, sagt dabei zugleich etwas über unsere eigene ästhetische Position aus. “Jazz / Not Jazz” untersucht diese Randbereiche der Jazzdefinition, um sich so dem Gegenstand, dem Jazz selbst also, besser nähern zu können. Die Herausgeber siedeln ihr Buch dabei im Bereich der “new jazz studies” an, die den Gegenstand der Forschung immer im Kontext zu parallelen Entwicklungen, gesellschaftlichen Einflüssen, ästhetischen Zwängen oder den Auswirkungen künstlerischer Entscheidungen sehen.

Eric Porter blickt in seinem ersten Kapitel auf Strategien der Vereinnahmung bzw. der Distinktion in der Jazzgeschichte und der Jazzgeschichtsschreibung. Es geht um Stilvielfalt, um Akzeptanz bestimmter Entwicklungen oder der Abgrenzung anderer, um Inklusion und Exklusion sowohl innerhalb des amerikanischen Jazz als auch im globalen Verständnis von Jazz. Elijah Wood beginnt sein Kapitel mit dem Erstaunen über eine Aussage Louis Armstrongs, der in einem Blindfold Test seine unumschränkte Bewunderung für Guy Lombardo kundtat, der von der Jazzkritik eher als “King of Corn” abgetan wurde. Was, fragt Wald, faszinierte Armstrong so an Lombardos Musik, dass in seinen Aufnahmen aus den späten 1920er, frühen 1930er Jahren etwa der Klang des Saxophonsatzes deutlich an Lombardo orientiert war? Tatsächlich zeigten auch andere schwarze Bandleader Gefallen am Stil des weißen Kollegen, unter ihnen selbst Duke Ellington und Jimme Lunceford. Wald vergleicht den Einfluss Lombardos mit dem klassischer Musik auf viele der frühen Jazzmusiker und betrachtet vor diesem Hintergrund dann auch gleich noch die klassischen Erfahrungen Satchmos etwa mit Erskine Tates Orchestra.

Charles Hiroshi Garrett untersucht die humoristische Seite des Jazz, um anhand dieser Kategorie Veränderungen im Verhältnis der Musiker und ihres Publikums zu analysieren. Ken Prouty betrachtet die neuen, virtuellen Jazz Communities und ihr ästhetisches Verständnis dessen, was Jazz ist und was nicht. Er nimmt sich Plattformen wie Wikipedia oder All About Jazz vor, und analysiert neben den konkreten Inhalten auch die Veränderungen und Kommentare auf solchen Seiten. Christopher Washburn blickt auf das Phänomen das Latin Jazz und die unterschiedlichen Lokalisationen dieser Musik zwischen Afrika, Cuba, der Karibik und Lateinamerika und diskutiert das Selbstverständnis des Lincoln Center Afro-Latin Jazz Orchestra unter Leitung von Arturo O’Farrill sowie des Perkussionisten Ray Barretto.

John Howland vergleicht die unterschiedlichen Ansätze an Streicherarrangements im Jazz, von Adolph Deutschs Arrangement zu “Clap Yo’ Hands” für Paul Whiteman über Sy Olivers Arrangement zu “Blues in the Night” für Artie Shaw und Pete Rugolos “Lonesome Road” für Stan Kenton bis zu Jimmy Carrolls “Just Friends” für Charlie Parker. Daniel Goldmark diskutiert das Marketingproblem “Genre” anhand des Labels Atlantic Records und seiner Aufnahmen des Dudelsackspielers Rufus Harley und der Saxophonisten Yusef Lateef und Rahsaan Roland Kirk. Tamar Barzel beleuchtet Kompositions- und Improvisationsprozesse der New Yorker Downtown-Szene um John Zorn. Loren Kajikawa geht in seinem Beitrag von der politischen Bedeutung schwarzer Musik für den Black Revolutionary Nationalism aus und fragt nach ähnlichen Bezügen im asiatisch-amerikanischen Jazz.

Jessiva Bissett Perea fragt nach dem Stand der Jazzgesangsausbildung im Nordwesten der USA. David Ake diskutiert die unterschiedlichen Lernmethoden der Schule und der Straße, die Legenden, die sich um beide Wege zum Jazz ranken sowie die Auswirkungen dessen, wie man Musik lernt, auf die eigene Musik, ihre Ästhetik und die Art und Weise, wie sie rezipiert wird. Sherrie Tucker schließlich stellt die übliche Darstellung der Jazzgeschichte in Frage, indem sie den Blick insbesondere auf die Rolle von Frauen im Jazz richtet, und dabei nicht allein die bekannten Musikerinnen betrachtet, sondern auch Beispiele gibt, die in Jazzbüchern kaum genannt werden. Sie nimmt diesen “anderen” Blick auf den Jazz zum Anlass, sich generell mit Fragen des Forschungsinteresses im Jazz zu befassen.

“Jazz / Not Jazz” ist ein überaus anregendes Buch, das sehr unterschiedliche Ansätze versammelt, denen allen gemein ist, dass sie auf die Randbereiche dessen schauen, was wir sonst in Jazzgeschichtsbüchern oder selbst in den meisten wissenschaftlichen Publikationen über den Jazz lesen.

Wolfram Knauer (April 2014)


Oltre il Mito. Scritti sul linguaggio del Jazz
von Maurizio Franco
Lucca 2012 (Libreria Musicale Italiana)
151 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978-88-7096-710-4

2012francoMaurizio Franco ist ein italienischer Musikwissenschaftler, der in dem vorliegenden Buch diverse Aufsätze zu Jazzgeschichte, -ästhetik und -pädagogik zusammenfasst.

Das Eingangskapitel seines Buchs befasst sich mit Sound und der Sprache des Jazz, wobei er die Soundcharakteristiken des Jazz sowohl mit solchen aus klassischer Musik vergleicht als auch mit ähnlichen Phänomenen etwa aus der Bildenden Kunst (Klangfarbe).

Zwei Kapitel widmen sich vorrangig der Improvisation: einmal dem improvisatorischen Zusammenspiel und der musikalischen Kommunikation im Ensemble; zum anderen den kreativen Prozessen, die im Improvisationsprozess stattfinden. Konkrete Beispiele untersucht er etwa anhand von Louis Armstrongs Aufnahme “Potato Head Blues” oder dem Mythos Charlie Parkers und der Realität des Bebop.

Er nähert sich der Personalstilistik Thelonious Monks und fragt nach dem Einfluss afrikanischer wie afro-lateinamerikanischer Musik auf den Jazz. Django Reinhardt erhält ein eigenes Kapitel, in dem Franco die Fusion, die dem Gitarristen zwischen Jazz und seinen eigenen Traditionen gelang, in Verbindung bringt zu späteren Projekten etwa von Anouar Brahem oder Rabih Abou-Khalil.

Die Musik Giorgio Gaslinis untersucht er im Hinblick auf die Verwendung von Dodekaphonie in seinen Kompositionen, die Musik Enrico Intras (und Luciano Berios) im Hinblick auf die Verbindungen zur elektroakustischen Musik ihrer Zeit.

In zwei abschließenden Kapiteln beschäftigt er sich dann noch mit Aspekten aktueller Jazzforschung und neuen Ansätzen für eine zeitgemäße Jazzdidaktik.

Francos Aufsätze bieten einen interessanten Einblick in einen Teil der italienischen Forschungsdiskussion (ja, es gibt nationale Unterschiede in den Ansätzen!). Sie sind Argumente in einem wissenschaftlichen Diskurs, was sich zumindest teilweise auch in der Komplexität der Texte niederschlägt. In der Gesamtheit aber ist es allemal eine bunte Mischung unterschiedlicher Ansätze, die zum weiteren Nachdenken anregt.

Wolfram Knauer (September 2013)


Rebelse Ritmes. Hoe jazz & literatuur elkaar vonden
von Matthijs de Ridder
Antwerpen 2012 (De Bezige Bij Antwerpen)
373 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-90-8542-315-7

2012deridder“Rebellische Rhythmen” nennt Matthijs de Ridder sein Buch, das eine Art kulturgeschichtlichen Abriss des Jazz im 20sten Jahrhundert versucht und im Untertitel das Aufzeigen von Parallelen in Jazz und Literatur verspricht.

De Ridder interessiert sich vor allem für Beispiele aus der Jazzgeschichte, die gesellschaftlichen Wandel reflektieren. Er beginnt mit einem Kapitel über James Reese Europe, der – nomen est omen – den alten Kontinent mit einer neuen Art zu Musizieren konfrontierte. Er nähert sich dem Jazz in verschiedenen europäischen Ländern zwischen den Weltkriegen sowie der Faszination mit dieser Musik in literarischen Zeugnissen nationaler wie internationaler Autoren und betrachtet dabei konkret Belgien, Polen, die Tschechoslowakei, England, Italien, Frankreich, Dänemark und die Niederlande.

Ein Kapitel mit der Überschrift “Black, Brown en Bebop” widmet sich Duke Ellingtons Versuch, schwarze Geschichte in Musik zu fassen, als Einschub aber auch dem dunklen Kapitel der Band Charlie and his Orchestra in Hitler-Deutschland. De Ridder betrachtet Lyrik der 1940er und 1950er Jahre, die den existenzialistischen Geist nach Belgien und in die Niederlande trug. Er schreibt über die 1960er Jahre, als der Jazz auch als ein Symbol für die Bürgerrechtsbewegung gesehen wurde und er gibt Beispiele von Dizzy Gillespie über Charles Mingus, Max Roach bis Archie Shepp (und LeRoi Jones, um wieder zur Literatur zu leiten).

In einem weiteren Kapitel verbindet De Ridder die europäische Free-Jazz-Bewegung und ihre Reflexion in der Literatur der Zeit mit den 68er-Protesten. Er betrachtet die amerikanische Jazzdiplomatie von Louis Armstrong, Dave Brubeck und anderen, die für das amerikanische State Department auf Tournee in Ostblockländer geschickt wurden. Er befasst sich mit dem Protestpotential, das sich in Verbindung von Jazz und Literatur hinter dem Eisernen Vorhang entwickelte, verweist dabei insbesondere auf die Jazzsektion des tschechischen Musikerverbandes in Prag und auf Josef Skvoreckys Roman “Das Basssaxophon”. In den Jahren nach 9/11 ist ihm Gilad Atzmon und seine Vorstellung eines “musikalischen Jihad” ein eigenes Kapitel wert, das ihn bis in die jüngste Gegenwart bringt.

Matthijs de Ridders Buch wirkt im Versuch des Autoren, die gesellschaftliche Relevanz des Jazz nachzuzeichnen und zugleich Verbindungen zur literarischen Reflexion auf Jazz und Gesellschaft aufzuweisen, ein wenig wie “nicht Fisch, nicht Fleisch”. Man vergisst das jeweils andere Thema seitenweise, zumal die Beispiele, die er auswählt, durchaus repräsentativ sind und er sie interessant darstellt, und zwar sowohl die Beispiele aus der Jazzwelt wie auch jene aus der Welt der Literatur, in der neben bekannten Autoren wie Boris Vian, Paul van Ostaijen, Jean Cocteau, Claude McKay auch eine Reihe etwa belgischer oder niederländischer Autoren, die diesem Rezensenten beispielsweise bislang unbekannt waren. Es gibt also durchaus etwas zu entdecken zwischen den rebellischen Rhythmen dieser Buchseiten.

Wolfram Knauer (August 2013)


Mixed Messages. American Jazz Stories
von Peter Vacher
Nottingham 2012 (Five Leaves Publications)
314 Seiten, 14,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-907869-48-8

2012vacherPeter Vacher schreibt seit den 1970er Jahren für britische Jazzmagazine wie Jazz Journal und andere. In “Mixed Messages” hat er einundzwanzig Interviews mit amerikanischen Jazzmusikern zusammengefasst, die teils bekannter, weitgehend aber auch gar nicht so bekannt sind, die meisten von ihnen Musiker der älteren Generation, fast alle tätig im Genre des traditionellen oder des swingenden Mainstream-Jazz.

Der Posaunist Louis Nelson erzählt über das New Orleans der 1930er und 1940er Jahre; der Bassist Norman Keenan über die Bands von Tiny Bradshaw und Lucky Millinder. Der Trompeter Gerald Wilson spricht über Einflüsse, Arrangementkonzepte und die Szene in Los Angeles, der Trompeter Fip Ricard über Territory Bands und Count Basie.

Ruby Braff äußert sich über Boston, den Jazz im Allgemeinen und Wynton Marsalis; Buster Cooper über seine Zeit mit Lionel Hampton und Duke Ellington. Ellington spielt auch im Interview mit dem Trompeter Bill Berry eine große Rolle, Hampton und Basie wiederum in den Erzählungen des Posaunisten Benny Powell.

Der Saxophonist Plas Johnson erzählt über den “Chitlin’ Circuit”, den er mit Johnny Otis und anderen Bands tourte, der Pianist Ace Carter über die Jazzszene in Cleveland, Ohio. Der Saxophonist Herman Riley berichtet über sein Leben und seine Arbeit in New Orleans und Los Angeles, der Saxophonist Lanny Morgan über seine Arbeit mit Maynard Ferguson.

Der Pianist Ellis Marsalis spricht über die moderne Jazzszene in New Orleans; der Saxophonist Houston Person über Orgel-Saxophon-Combos und seine Zusammenarbeit mit Etta Jones. Der Posaunist Tom Artin erzählt von seinen Erfahrungen auf der traditionellen Jazzszene der USA, der Trompeter von der Toshiko Akiyoshi Big Band und einem Engagement mit Bobby Short.

Der Bassist Rufus Reid nennt J.J. Johnson als role model, der Saxophonist John Stubblefield reflektiert über eine Karriere zwischen Don Byas, Charles Mingus und AACM. Judy Carmichael erzählt, wie sie dazu kam, Stride-Pianistin zu werden, Tardo Hammer über den Einfluss Lennie Tristanos. Der Trompeter Byron Stripling schließlich sagt, was er von Clark Terry lernte, wie es war mit Count Basie zu spielen, und warum die Jazzpädagogik ein wichtiges Instrument sei, das Wissen der großen Jazzmusiker weiterzureichen.

“Mixed Messages” ist eine abwechslungsreiche Sammlung von Erinnerungen an jazzmusikalische Aktivitäten, persönliche Erlebnisse und musikalische Erfahrungen. So “mixed”, wie der Buchtitel impliziert, sind die Botschaften der darin portraitierten Musiker allerdings gar nicht, dafür ist das stilistische Spektrum denn doch zu stark auf Musiker des swingenden Jazz beschränkt. Eine erkenntnisreiche Lektüre aber auf jeden Fall.

Wolfram Knauer (August 2013)


 

Vinyl. A History of the Analogue Record
von Richard Osborne
Farnham, Surrey 2012 (Ashgate)
213 Seiten, 55 Britische Pfund
ISBN: 978-1-4094-4027-7

2012osborneErst wurde der Schallplatte mit dem Aufkommen der CD der Tod vorausgesagt, dann die CD durch MP3 und Downloads verdrängt. Seltsamerweise aber besteht jenes alte Musikspeichermedium weiterhin fort, und auch in Zeiten digitaler Archivierung resümieren die Experten: digital, okay, aber wir wissen nicht wie lang es hält; eine Schellackplatte dagegen ist erwiesenermaßen auch nach über 100 Jahren noch abspielbar. Richard Osborne widmet seine Studie der Analogschallplatte in jeder Form, denn auch wenn der Titel auf “Vinyl” verweist, schließt seine Darstellung auch die Vorgänger mit ein.

Osborne beginnt mit dem Patent für die Tonaufzeichnung über das Erstellung von Rillen und erklärt die Unterschiede der Erfindungen von Emile Berliner und Thomas Edison. Schon 1905 wurde in französischen Gerichten über das Urheberrecht bezüglich Schallaufzeichnungen gestritten, wobei das Argument dahin ging, dass, was auf Schallplatten an Texten vorhanden war, mit einer Lupe und entsprechender Übung zu lesen sein müsste, und daher das literarische Urheberrecht auch für Tonträger zu gelten habe. Im Kapitel über die Rille (“the groove”) reflektiert Osborne aber auch über Substantiv und Verb (the groove, to groove), über den rhythmischen Drive, der bei der rotierenden Schallplatte auditiv wie visuell wahrgenommen werden könne, über Experimente mit Schallplatten zwischen musique concrète und HipHop sowie über “Tod und den Groove”, die Tatsache also, dass man die Rillen der schwarzen Scheibe auch zu Tode hören könne.

Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit dem Format des Tonträgers Schallplatte zwischen Zylinder und Schellackplatte unterschiedlicher Größe. Es geht um die Labelgestaltung, wobei beim Label genau das gemeint ist, der Aufkleber in der Mitte der beiden Plattenseiten, die anfangs nur reine Information über das auf der Platte Enthaltene weitergab und später mehr und mehr zur Identifikation des “Labels”, also der Plattenfirma, wurde.

In den 1930er Jahren fand der neue Stoff Polyvinylchlorid Eingang in die Plattenindustrie und wurde zum Beispiel für die Produktion von Rundfunksendungen benutzt. Das Material war härter, erlaubte engere Rillen und konnte daher mehr Musik speichern. Anfang der 1940er Jahre wurde Schellack rationiert und daher presste man die legendären V-Discs der Kriegstage auf Vinyl; im Anschluss experimentierte das Label RCA mit Vinylproduktionen auch für kommerzielle Veröffentlichungen. Osborne erklärt ganz allgemein die Produktion von Platten von der Aufnahme bis zum fertigen Produkt, diskutiert die Auswirkungen der Plattenproduktion auf die Haltung der Künstler unterschiedlicher Genres, aber auch Reaktionen des Publikums und Weiterentwicklungen der Industrie.

Ein eigenes Kapitel widmet er dem Phänomen der Langspielplatte. Osborne beschreibt, wie längere Stücke Musik vor dem Zeitalter der LP präsentiert wurden, nennt Beispiele für Langspielplatten vor dem Zeitalter der Microgroove-LPs, die ersten Vinyl-LPs für Columbia und die britische EMI und diskutiert konkrete Beispiele, etwa die Präsentation klassischer Musik oder der Musik von Frank Sinatra auf LP, sowie die Idee des Konzeptalbums im Jazz oder die Probleme und Chancen der “B-Seite”. Neben dem Langspielformat gab es andere Formate, etwa die 45-RPM-Single, die 12-Inch-Single, die Osborne in eigenen Kapiteln behandelt. Schließlich geht er auf die Bedeutung der Covergestaltung für die Schallplatte ein, die weit mehr war als bloß ein Werbeträger, sondern ein Lebensgefühl vermitteln konnte.

Richard Osbornes Buch geht die Geschichte der Schallplatte pragmatisch an, verweist nur dort auf musikalische Genres, wo diese für das Medium oder das Medium für sie von Bedeutung sind. Sein Buch gibt einen brauchbaren Überblick, wirft genügend Fragen auf, beantwortet aber ganz bewusst nicht alle. Natürlich ließen sich das physikalische Aufnahme- und Wiedergabeverfahren noch exakter untersuchen, der gegenseitige Einfluss von Markt und Platte, unterschiedliche Vertriebsstrukturen, der Umgang mit neuen Aufnahmeverfahren, Live versus Studio und vieles mehr an Themen, die hier nur gestreift werden. Osbornes Verdienst ist vor allem sein breiter Ansatz, der Verbindungslinien zwischen Bessie Smith, Hillbilly-Musik, Motown-Sound und HipHop erlaubt und damit die Faszination richtig wiedergibt, die man bis heute in Schallplattenantiquariaten erfahren kann, in denen jede einzelne Scheibe wie eine kraftvolle Aussage wirkt, die im Diskurs der anderen mithalten will und kann. Ein ausführliches Literaturverzeichnis und ein Sach- und Personenindex runden das Buch ab.

Wolfram Knauer (August 2013)


 

Live at Montreux. Portraits
herausgegeben von Joe Bendinelli Negrone
Hamburg 2012 (Ear Books / Edel)
212 Seiten, 2 DVDs, 29,95 Euro
ISBN: 978-3-943573-00-8

2012negroneClaude Nobs gründete das Montreux Jazz Festival 1967 und machte es schnell zu einem der angesehensten Sommerfestivals der Welt. Das gelang ihm nicht nur, weil er mit vielen der Künstler befreundet war, sondern auch, weil er ein gutes Händchen dabei hatte, Plattenfirmen einzubinden, die die Konzerte dokumentierten und den Namen der Veranstaltung in aller Welt bekannt machten.

Auf 2012 Seiten präsentiert das vorliegende Buch Musikerfotos aus all diesen Jahren, in Schwarzweiß genauso wie in Farbe, mit den Musikern meist auf der Bühne, ab und an aber auch abseits der Bühne, vor dem Bandbus etwa (Muddy Waters) oder beim Tennisspielen (Dizzy Gillespie). Je Musiker zwei Seiten, ein Foto und eine knappe biographische Einordnung durch Alex Kandelhardt, das alles ohne erkennbare Ordnung.

Jazzmusiker und Musiker aus Rock, Pop und Soul durcheinander mit klarem Schwergewicht auf den populäreren Stilrichtungen – nicht ganz zu unrecht, hat sich Montreux doch schon lange vom reinen Jazz- zu einem populären …-und-auch-Jazz-Festival gewandelt.

Ein wenig schade ist es aber doch, dass dem Jazz auf den beiheftenden zwei DVDs kaum Tribut gezollt wird, abgesehen von einem Track der Band Weather Report, und weiteren von Nina Simone, George Benson und Quincy Jones. So ist der schwere Prachtband vor allem eine Erinnerung oder ein Coffee-Table-Geschenk an Montreux-Besucher, denen die Genreübergriffe noch nie etwas ausmachten.

Wolfram Knauer (Juli 2013)


 

Yes to the Mess. Surprising Leadership Lessons from Jazz
von Frank J. Barrett
Boston 2012 (Harvard Business Review Press)
202 Seiten, 27 US-Dollar
ISBN: 978-1-4221-6110-4

2012barrettSchon seit einigen Jahren wird Jazzimprovisation auch außerhalb der Musikschulen untersucht, insbesondere im Feld der Organisationswissenschaft, wo Jazz als Modell für besseres Management gehandelt wird. An den Studien beteiligt sind Wissenschaftler und Musiker aus den USA genauso wie aus Europa. Wissenschaftlich wird das Thema meist in Fachzeitschriften und wissenschaftlichen Aufsatzsammlungen abgehandelt, jetzt aber auch in dem eine breitere Leserschaft ansprechenden Buch des “Professor of Management and Global Public Policy” Frank J. Barrett. Der hat auf der einen Seite eine Dissertation über Organisationsverhalten geschrieben, auf der anderen Seite aber auch als Jazzpianist gearbeitet, und zwar nicht nur im Freundeskreis, sondern durchaus mit namhaften Kollegen, etwa als Pianist des Tommy Dorsey [Ghost] Orchestra.

Barrett beginnt mit einem aktuellen Beispiel. Unternehmen, schreibt er, hätten in der Regel Pläne für alles Mögliche, nur richte sich die Realität nicht nach diesen Plänen. Das Umwelt-Disaster von Deepwater Horizon im Golf von Mexiko im April 2010 sei ein Beispiel dafür, wie alle Pläne bei unerwarteten Ereignissen nicht ausreichten und wie die Erfahrungen des Jazz im Unternehmensmanagement dazu beitragen könne, auf Unvorhergesehenes angemessen und produktiv zu reagieren. Barrett beschreibt das Improvisations-Paradox, dass also Jazzmusiker ihr ganzes Leben lang Phrasen und Patterns lernten, nur um diese nach Möglichkeit vergessen zu können, um auf musikalische Situationen angemessen reagieren zu können. Es sei die erlernte Sicherheit der (musikalischen) Sprache, die ihnen letztlich eine angemessene Reaktion erlaube.

In einem eigenen Kapitel ermutigt Barrett Manager, zum Durcheinander zu stehen, das sich aus der Entwicklung neuer Unternehmenskonzepte zwangsläufig ergebe. Auch hier weisen Jazzmusiker den Weg, erklärt er: Egal wie verworren musikalische Situationen erschienen, gelinge ihnen immer ein positiver Weg hin zu neuen Ufern. Barrett analysiert die verschiedenen Kompetenzen, die Jazzmusiker dazu befähigten, miteinander zu improvisieren und aufeinander zu reagieren und versucht aus seinen Beobachtungen Lehrsätze für die Organisationsforschung abzuleiten.

Ein eigenes Kapitel widmet Barrett der Gleichzeitigkeit von Performance und Experiment, dem Anerkennen von Fehlern als Ursache weiteren Lernens. Zwischenüberschriften wie “Taking Advantage of Errors” oder “Constructive Failure” zeigen dabei beispielhaft, wie er versucht, die Jazzerfahrungen ins Managementverhalten zu übersetzen.

In einem strukturkritischen Kapitel versucht er dem geheimnis auf den grund zu gehen, wie man maximaler Autonomie bei minimalen Strukturen erreichen könne. Er analysiert dabei den Zusammenhang zwischen Autonomie und Gruppendynamik auseinandersetzt und verlangt von Vorgesetzten, ihre Mitarbeiter als Individuen ernst zu nehmen.

“Learning and Hanging Out” heißt ein Kapitel, in dem Barrett Lernmuster analysiert, die er als sozialen Prozess beschreibt und als Investition in die Zukunft von Mitarbeitern genauso wie von Unternehmen. “Solo und Begleitung” überschreibt er ein weiteres Kapitel, in dem es darum geht, dass die Führungsrolle selten einem Einzelnen zustehe, wenn man das meiste aus der versammelten Kompetenz eines Unternehmens herausholen wolle. Zum Schluss des Buchs finden dann noch Merksätze, sozusagen “für die improvisierende Führungskraft”.

Barretts Buch ist auf diejenigen Kollegen im Managementbereich gerichtet, die sich mit Möglichkeiten einer anderen, einer inklusiveren und einer arbeitsteiligeren Unternehmungsführung befassen. Tatsächlich aber kann der Blick von außen, der Blick auf die Kompetenzen des Jazz auch vielen Musikern und Jazzliebhabern die Augen und Ohren öffnen. Barrett verweist auf viele aktuelle Beispielen, aus der Geschichte des Jazz genauso wie aus der Welt der Wirtschaft, und sorgt so für eine sachliche und dabei durchaus auch vergnügliche Lektüre dieses komplexen Themengebiets.

Wolfram Knauer (Juli 2013)


 

Miles Davis. The complete illustrated history
herausgegebene von Michael Dregni
Zürich 2012 (Edition Olms)
224 Seiten, 35 Euro
ISBN: 978-3-283-01211-3

2012dregni“The complete illustrated history” – der Untertitel des Buchs verrät den Ansatz: eine Mischung aus Biographie, musikalischer Würdigung und Fotoband über eine der schillerndsten Gestalten der Jazzgeschichte. Herausgeber Michael Dregni hat nicht nur namhafte Autoren verpflichtet, unter ihnen Ashley Kahn, Robin D.G. Kelley, Francis Davis, Gerald Early, Greg Tate, sondern darüber hinaus auch Stimmen von Musikerkollegen eingesammelt.

So erzählt Clark Terry etwas über die Musikszene in St. Louis in den 1940er Jahren und die Trompeter-Tradition in der Stadt, aber auch über die Tatsache, das Miles ihn, Clark Terry, immer wieder als einen seiner wichtigen Einflüsse bezeichnet habe. Sonny Rollins verrät, dass er zum ersten Mal 1948 mit Davis gespielt habe. Bill Cosby reflektiert über Miles, die Mode-Ikone. Vincent Bessières erzählt, wie Miles Davis 1949 zum ersten Mal nach Frankreich kam und sich in Paris verliebte. George Wein berichtet von Davis’ Auftritt beim Newport Jazz Festival 1955. Ron Carter und Herbie Hancock unterhalten sich über das Quintett der 1960er Jahre. Lenny White nimmt sich die Fusion-Periode und das Album “Bitches Brew” vor, auf dem er selbst mitwirkte. Nalini Jones schreibt über Miles’ teils agressive Beziehungen zu Frauen; Gerald Early betrachtet den Trompeter als Boxer und “black male hero”. Dave Liebman schließlich hat das Schlusswort, erinnert sich an Miles Tod, an die Trauerfeier.

Neben all diesen erhellenden Texten, die durchaus Neues über den Trompeter berichten, enthält das Buch jede Menge an Fotos, neben bekannten Bildern etliche, die zumindest dieser Rezensent noch nie gesehen hat, neben Fotos von Miles und seinen diversen Bands auch Abbildungen von Programmheften, Plattenlabels und -covern, Konzertanzeigen, Clubinterieurs – das alles in exzellenter Druckqualität. Ein schönes Buch zum Blättern, lesen und natürlich zum Vertiefen, während Aufnahmen des Meisters hört.

(Das einzige Manko des Buchs ist ein eher bibliographisches: Der Herausgeber Michael Dregni wird nur im Kleingedurckten am Ende des Bandes genannt, weder auf Umschlag noch sonstwo im Vortext. Aber das muss Dregni wohl mit den Herausgebern der amerikanischen bzw. britischen Originalausgabe klären; der vorliegende Band ist eine beim Schweizer Verlag Edition Olms gedruckte Lizenzausgabe.)

Wolfram Knauer (Juli 2013)


 

You’ll Know When You Get There. Herbie Hancock and the Mwandishi Band
von Bob Gluck
Chicago 2012 (University of Chicago Press)
262 Seiten, 37,50 US-Dollar
ISBN: 978-0-226-30004-7

2012gluckHerbie Hancocks Mwandishi-Band entstand aus seinem Sextett und wurde eine der einflussreichsten Bands, mit der er international von sich Reden machte. Die Bandmitglieder, neben Hancock der Bassist Buster Williams, der Schlagzeuger Billy Hart, der Saxophonist Bennie Maupin, der Posaunist Julian Priester und der Trompeter Eddie Henderson, nahmen alle Swahili-Namen an und formten Hancocks Ästhetik zwischen Bebop, Gospel, Blues, den psychedelischen Klängen zeitgenössischer Pop- und Soulmusik sowie den Klangexplorationen eines Karlheinz Stockhausen und anderer.

Bob Gluck erzählt die Geschichte der Band von den ersten bis zu den letzten Konzerten und widmet sich der Musik, die im Studio oder bei Konzerten aufgenommen wurde. Er setzt all das in den musikalischen wie gesellschaftlichen Kontext der Zeit, also Miles Davis, Black Power-Bewegung, Soul-Musik, Studentenbewegung, afrozentrische Symbolik und so weiter und so fort.

Gluck beginnt im November 1970 mit einem Engagement, das das Hancock Sextett im Chicagoer London House wahrnahm und bei dem sich bei ihm und seinen Mitmusikern eine Art spirituelle Wahlverwandtschaft herauskristallisierte, die Musikalisches, Persönliches und Weltanschauliches mit einander verband und ihnen klar machte, dass diese Band Potential hätte.

Im zweiten Kapitel geht Gluck zurück, erzählt Hancocks Lebensgeschichte bis zu diesem Zeitpunkt, Kindheit, Jugend, erste musikalische Erfahrungen, Einflüsse wie Oscar Peterson, Hardbop oder Gospel, seine ersten Platten unter eigenem Namen, seine Zeit im Miles Davis Quintet, einen ästhetischen Weg zwischen Abstraktion und Emotion. Im nächsten Kapitel schildert er Hancocks Weg in die Selbständigkeit mit seinem ersten Sextett, das sich 1969 gründete, mit dem er bis ins Frühjahr 1970 unterwegs war und in dem er sein Interesse an elektronischen Instrumenten vertiefte. Ein eigenes Kapitel widmet sich genau diesen Soundexperimenten, die Hancock vor allem mit dem E-Piano und später mit Synthesizern vorantrieb. Gluck beschreibt die Verwendung elektrischer Instrumente auf “Bitches Brew”, “Fat Albert Rotunda” und als eine Möglichkeit des Sounddesigns.

Am 31. Juli 1970 wurde Hancocks Band in dem Woolman Rink im New Yorker Central Park gebucht, um als Vorgruppe für die populäre kalifornische Rockband Iron Butterfly zu spielen. Seine Musik erreichte das Publikum, das eigentlich einer ganz anderen Klangästhetik anhing, sicher auch wegen der Elektrifizierung der Instrumente, ihrer ganz anderen Soundästhetik und wegen der Möglichkeit die Lautstärke höher zu drehen. Bald jedenfalls wurde die Band auch auf andere Rockbühnen gebucht, insbesondere San Franciscos Fillmore West. Dann kam das London-House-Engagement, das Gluck bereits im ersten Kapitel seines Buchs beschrieben hatte, und Ende 1970 schließlich die Plattensitzung zum Album “Mwandishi”, dem Gluck ein eigenes Kapitel widmet und dabei nicht nur auf Erinnerungen der beteiligten Musiker zurückgreift, sondern die Musik darüber hinaus kritisch beleuchtet und analysiert. Im Dezember 1971 folgte die LP “Crossing”, für das Gluck den musikalischen Gehalt, aber auch die Technik der Prostproduction analysiert. Hancock brachte hierfür den Elektronikpionier Patrick Gleeson mit ins Boot, der bald ein siebtes Mitglied der Band wurde und Hancock dabei half, Dinge, die zuvor nur als Postproduction möglich waren, auch live umzusetzen, was 1972 schließlich im Album “Sextant” mündete.

Glücks widmet ein eigenes Kapitel der Idee musikalischer Kollektivität und der “open form”. Er stellt dafür die Experimente der Free-Jazz-Pioniere der 1960er Jahre der intuitiven freien Form gegenüber, die Miles Davis in seinen Bands entwickelte und beschreibt, wie Hancock aus beidem sein eigenes Bandkonzept formte. Er beleuchtet konkret die Benutzung von Ostinati, den Zusammenhang zwischen Form und musikalischem Fortschritt, und die Idee von Musik als spiritueller Praxis. Im vorletzten Kapitel geht Gluck auf kritische Stimmen ein, die Hancocks Tourneen der Jahre 1971 bis 1973 begleiteten. Musikalisch ging es weit voran, finanziell aber ließ sich die Band nicht länger halten. 1973 rief sein Management Hancock zu einem dringenden Treffen und erklärte ihm, dass er mit dieser Band nur drauflegte und sein durch Hits wie “Watermelon Man” mühsam Erspartes durchbringe. Eddie Henderson nahm noch zwei LPs unter eigenem Namen auf, bei der die meisten der Mwandishi-Mitglieder mitwirkten. Im Frühjahr 1973 ging die Band ein letztes Mal ins Studio, um den Soundtrack zum Film “The Spook Who Sat by the Door” einzuspielen. Im letzten Kapitel schließlich sammelt Gluck Stimmen von Musikerkollegen wie Bobby McFerrin, Wallace Roney, Billy Childs, Christian McBride, Mitchel Forman, Pat Metheny, Victor Lewis, und Mitgliedern der Band King Crimson , die bezeugen, wie sehr sie ihre Mwandishi-Erfahrungen beeinflusst hätten.

Glucks Buch beleuchtet ein in der Jazzgeschichte wenig behandeltes Kapitel der Fusion aus Jazz und Rock. Ihm gelingen analytische Annäherungen an die Aufnahmen, vor allem aber gelingt ihm ein Blick hinter die Beweggründe einer Band, die ihrer Zeit klanglich weit voraus schien und entsprechenden Einfluss hatte. Er schafft bei seinen Lesern ein Verständnis für die Aufnahmen der Herbie Hancock Mwandishi-Band, die er ins ästhetische und gesellschaftliche Umfeld ihrer Zeit einbettet. Glucks Gespräche mit den Bandmitgliedern vermitteln Insiderwissen, insbesondere in den analytischen Absätzen gerät die Lektüre allerdings stellenweise schon mal recht trocken. Ein ausführlicher und bis ins Detail aufgeschlüsselter Index erlaubt einen schnellen Zugang zu einzelnen Sachverhalten.

Wolfram Knauer (Juni 2013)


 

Dameronia. The Life and Music of Tadd Dameron
von Paul Combs
Ann Arbor 2012 (University of Michigan Press)
264 Seiten, Hardcover, 50 US-Dollar
ISBN: 978-0-472-11413-9

2012combsTadd Dameron ist einer der vielleicht am meisten unterbewerteten Musiker des Bebop, Pianist, vor allem aber Komponist und Arrangeur, der von seinen Kollegen hoch geschätzt wurde und dessen harmonische Weiterungen zum Teil bereits in seiner Arbeit für Jimmie Lunceford in den 1930er Jahren zu hören waren. In den 1950er Jahren verschwand er immer wieder von der Szene und starb 1965 im Alter von gerade mal 48 Jahren an den Folgen eines Hirntumors.

Paul Combs widmet sein jüngst erschienenes Buch der Biographie Damerons genauso wie seiner Musik, und ihm gelingt damit ein gar nicht so leichter Spagat: ein Buch nämlich, das in flüssigem Stil sowohl die Lebensgeschichte Damerons erzählt als auch analytische Annäherungen an Damerons Stil enthält, die der Autor, wo nötig, auch mit Notenbeispielen verdeutlicht.

Combs beginnt in Cleveland, Ohio, wo Dameron 1917 zur Welt kam, und er sammelt, was immer er an biographischen Notizen zur Jugend des Pianisten findet. 1935 machte Tadd seinen Schulabschluss und arbeitete anschließend in der Band seines Saxophon spielenden Bruders Caesar und mit anderen vor allem regional aktiven Orchestern. In Interviews gab er meist 1938 als das Jahr an, an dem seine professionell Karriere begann, als er ein erstes Arrangement an die populäre Jeters-Pillars Band verkaufte. Combs hat hier wie an anderen Stellen seines Buchs Schwierigkeiten Fakten zu verifizieren, auch weil Dameron in Interviews voneinander abweichende Abweichungen über seine Karriere machte. 1940 jedenfalls befand Dameron sich in Kansas City und schrieb für Harlan Leonard. Von dessen Band auch stammen die ersten Tondokumente für Damerons Arrangierkunst, “Rock and Ride” und “400 Swing”, für die Combs nicht nur die Platten zur Analyse dienen, sondern beispielsweise auch der Klavierpart, den er im Nachlass der Pianistin Mary Lou Williams entdeckte.

Nach einem Jahr in Kansas City zog es Dameron nach New York, wo ihn Jimmie Lunceford als Arrangeur in sein Orchester holte. Combs beschreibt diverse der Arrangements aus dieser Zeit, aber auch Damerons “Mary Lou” für seine Kollegin aus Kansas City, das er offenbar für Andy Kirk geschrieben haben muss, das aber zu seinen Lebzeiten nie aufgeführt worden war. Bei Lunceford machte sich Dameron einen Namen als interessanter und verlässlicher Arrangeur, und so schrieb er bald schrieb auch für andere Bands, seit 1943 etwa für Count Basie. After hours gehörte er zu den Stammgästen der Bebop-Kneipen seiner Zeit, Minton’s Playhouse etwa oder Monroe’s Uptown House, wo er sich auch ans Klavier traute und enge Freundschaft mit Dizzy Gillespie und anderen Beboppern schloss. In seiner Kapitelüberschrift geht Combs gar so weit, Dameron als “Architekten des Bebop” zu bezeichnen, verfolgt darin dann seine Arbeit etwa für Modernisten wie Gillespie, Billy Eckstine, Georgie Auld, aber auch weitere Charts für Lunceford oder Buddy Rich. Einen größeren Markt erreichten seine Arrangements für Sarah Vaughans Musicraft-Aufnahmen vom Mai 1946. Gillespie ermutigte Dameron zu kompositorischen Experimenten, der Sänger Babs Gonzalez ermutigte ihn, sich mehr als Pianist einzubringen. 1948 spielte er mit Fats Navarro, Dexter Gordon und mit seiner eigenen Band im neuen Royal Roost in New York. Dort trat zur selben Zeit auch Miles Davis mit seiner Capital Band auf, und etwa zur selben Zeit wie Miles’ “Birth of the Cool” spielte auch Dameron Aufnahmen mit einer größeren Besetzung ein.

Mit Miles reiste Dameron 1949 zum ersten Mal nach Paris, um am dortigen Jazzfestival teilzunehmen, wenig später war er für ein paar Monate in London. Zurück in den USA schrieb er Arrangements für Ted Heath und Artie Shaw, verschwand dann in den frühen 1950er Jahren von der Szene, offensichtlich aus Gründen, die mit seinem Drogenkonsum zu tun hatten. Combs findet ihn in Cleveland und Atlantic City, hört Dameron-Arrangements von Bull Moose Jackson und die LP “A Study in Dameronia”, für die der Pianist den jungen Clifford Brown engagiert hatte. 1956 nahm er “Fontainebleau” auf, schrieb Arrangements für Carmen McRae und wurde im April zum ersten Mal wegen Drogenbesitz verhaftet. Die zweite Verhaftung im Januar 1958 führte zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe, die Dameron in Lexington, Lexington, Kentucky, absitzen musste. Nach seiner Entlassung 1961 versuchte er seine Karriere wiederzubeleben und schrieb unter anderem Titel für Benny Goodmans Russland-Tournee. Im Frühsommer 1964 erhielt Dameron die Krebs-Diagnose; gut ein halbes Jahr später starb er kurz nach seinem 48sten Geburtstag.

Combs Buch gelingt die Verbindung von Biographie und Analyse, die den einen oder anderen Rezensenten bereits zur abfälligen Bemerkung verleitete, sein Buch benutze zu viele Fachausdrücke. Tatsächlich aber gibt Combs damit jedem seiner Leser genau das, was er möchte: Über die analytischen Teile kann man nämlich leicht und ohne Informationsverlust springen, kann auf der anderen Seite aber auch einzelne Titel heraussuchen und Combs analytische Einordnungen studieren. Ein ausführlicher Fußnotenapparat und ein ungemein exakt aufgeschlüsseltes Register ergänzen das Buch, das jedem seiner Leser gewiss ein neues und ziemlich umfassendes Bild dieses zu Unrecht oft vergessenen Komponisten gibt.

Wolfram Knauer (Mai 2013)


 

Wail. The Life of Bud Powell
von Peter Pullman
New York 2012 (Bop Changes)
476 Seiten, 19,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-9851418-1-3

Direktbezug über: www.wailthelifeofbudpowell.com

2012pullmanDie Geschichte des Jazz ist die Geschichte seiner Personen – und dabei oft die Geschichte gebrochener Persönlichkeiten. Dies ist weniger dem Fakt geschuldet, dass alle großen Jazzmusiker gebrochene Persönlichkeiten gewesen seien als vielmehr der Tatsache, dass über solche scheinbar weit leichter zu berichten ist als über Musiker ohne Macken, ohne psychische oder Suchtprobleme. Diese Tatsache führt allerdings auch dazu, dass Musiker recht schnell und ohne weiterreichende Recherche in eine Schublade gesteckt wurden, “Junkie”, “Alkoholiker”, “mentale Probleme”.

Der New Yorker Journalist und Autor Peter Pullman hat sich bereits seit langem mit Bud Powells Leben und Musik befasst, nicht zuletzt im Text des ausführlichen Begleitbüchlein zu einer CD-Ausgabe aller Verve-Einspielungen des Pianisten, das ihm eine Grammy-Nominierung einbrachte. Spätestens dabei biss er sich am Leben und Schaffen des Pianisten fest, ging in Archive, sprach mit Zeitzeugen, durchwühlte die Jazzpresse und veröffentlichte schließlich sein Buch “Wail. The Life of Bud Powell”, das ohne große Umschweife als “definitive” Bud-Powell-Biographie bezeichnet werden muss.

Pullman beginnt mit der Familiengeschichte des Pianisten, mit den Großeltern und Eltern. Er zeichnet deren soziale und Lebenssituation in Petersburg, Virginia, nach, der Region, aus der Powells Eltern kamen, genauso wie jene in Harlem, wo Bud Powell am 27. September 1924 geboren wurde. Buds Vater war selbst Pianist, und Powell bezeichnete ihn des öfteren als den besten Stride-Pianisten in Harlem. Bud nahm Klavierunterricht und trat etwa 1935 erstmals öffentlich auf, wahrscheinlich bei einer jener legendären Rent Parties, und vielleicht mit dem “Carolina Shout” von James P. Johnson, dem ersten Jazzstück, das er eigenen Angaben zufolge gemeistert hatte. Hier und in anderen Harlemer Clubs kam er mit Kollegen wie Willie ‘The Lion’ Smith oder Art Tatum zusammen, hier entwickelte er die Grundlagen eines Stils.

Pullman sieht auf die jungen Musiker, die Ende der 1930er, Anfang der 1940er Jahre bei Jam Sessions in Harlem ihre eigenen musikalischen Ideen entwickelten. Wann immer er konnte, nahm Powell an solchen Sessions Teil, spielte daneben Anfang der 1940er Jahre aber auch Tanzmusik mit weniger bekannten Bandleadern. Pullman beschreibt, wie Kenny Clark, Thelonious Monk und andere sich bei Sessions im Minton’s oder im Monroe’s Uptown House mit harmonischen Weiterungen der Jazzsprache beschäftigten, wie Powell und Elmo Hope gemeinsam Bachs Klaviermusik studierten, oder welchen Einfluss insbesondere Monks Ästhetik auf den jungen Pianisten hatte. 1943 wird sein Spiel erstmals in der Fachpresse hervorgehoben; Powell spielte damals erst mit der Band George Treadwells, dann im Orchester des Trompeters Cootie Williams, mit dem er auch seine ersten Platteneinspielungen machte.

Es waren sicher nicht die Frustrationen, die Musiker in solchen Bigbands hatten und die Pullman beschreibt, die zu Powells mentalen Problemen führten. Diese jedenfalls manifestierten sich erstmals Mitte der 1940er Jahre. Im Januar 1945 wurde er für fast drei Monate in die Psychiatrie eingewiesen, mit der Diagnose “Manisch-depressive Psychose, Manischer Typ”. Nach seiner Entlassung spielte der Pianist erst in Dizzy Gillespies Band, bald mit beiden der Heroen des Bebop, Dizzy und Charlie Parker.

Powells Bebop-Karriere sieht ihn mit Kollegen wie Diz, Bird, Dexter Gordon, J.J. Johnson, aber auch mit ersten eigenen Projekten. Wegen seines Anschlags, erzählt Pullman, war Powell auf der 52nd Street als “Hammerfinger” bekannt. Seine Gesundheit aber führte zu dauernden Querschlägen: Nach nur einem Drink, erklärt Pullmann, konnte seine Verfassung ganz plötzlich umkippen. Eines Abends geriet er in einen Kampf und wurde verwundet ins Krankenhaus eingeliefert, das ihn wegen seiner Verhaltensauffälligkeit gleich weiter an die Psychiatrie überwies.

In einem eigenen Kapitel widmet sich Pullmann nun der Krankengeschichte Powells, seines Verhältnisses zum Vater, beschreibt den Kontext, in dem psychiatrische Therapien 1947 durchgeführt wurden, aber die Elektroschocktherapie, der der Pianist im Frühjahr 1948 unterzogen wurde. Erst nach fast einem Jahr wurde Powell wieder in die Obhut seiner Mutter entlassen.

Ende 1948 landete Bud einen längeren Gig im Clique Club (dem späteren Birdland), wo er feststellte, dass er selbst mittlerweile zu einem Einfluss auf andere Pianisten geworden war. Er machte erste Aufnahmen für Blue Note, hatte bald ein längeres Engagement im neuen Birdland, spielte Platten für Norman Granz’ Label Mercury ein. Er vertraute sich einem eigenen Manager an, und damit begann für ihn eine Zeit der musikalischen genauso wie der psychischen Stabilität. Mitte der 1950er Jahre aber gab es auch wieder Rückfälle, Engagements, bei denen Powell Schwierigkeiten hatte, einen Set zu Ende zu bringen. Pullman erklärt die Umstände verschiedener Aufnahme-Sessions und in einem eigenen Kapitel Powells ersten Europa-Besuch, den er 1956 im Rahmen der Tournee “Birdland 56” absolvierte und bei dem er erstmals in Paris, den Niederlanden und Deutschland zu hören war.

Diese Europa-Reise hatte ihn offenbar so beflügelt, dass der Pianist sich wenig später entschloss, für länger nach Paris zu gehen. Pullman beschreibt die Pariser Jazzszene der Zeit zwischen Existenzialismus und Exil-Amerikanern, als Powell ein Dauerengagement im Club Saint-Germain erhielt, zwischendurch aber auch durch Europa tourte. Der Pariser Gig brachte Stabilität ins Leben des Pianisten, erzählt Pullman, schildert daneben etwa eine Begegnung Powells mit Duke Ellington, der gerade in der Stadt weilte, um den Film “Paris Blues” zu drehen, oder ein Treffen Powells und Thelonious Monks, die im selben Konzert auftraten, was zu Konkurrenzängsten insbesondere bei Monk führte. 1962 nahm Powell ein längeres Engagement im Kopenhagener Café Montmartre an, wo er den damals noch minderjährigen Niels Henning Ørsted-Pedersen unter seine Fittiche nahm.

Nach seiner Rückkehr nach Paris ging es wieder bergab. Powell, der immer Personen in seinem Leben brauchte, die sich um ihn kümmern, freundete sich nun mit Francis Paudras an, einem Fan, der sich darum bemühte, dass Powell genug zu essen hatte, dass er möglichst nicht zu viel trank, dass sein Tagesablauf konstant blieb. All das findet sich Jahrzehnte später in Bertrand Taverniers Film “Round Midnight” wieder, in dem Dexter Gordon den Saxophonisten Dale Turner verkörpert, eine Art Komposit aus Powells und Lester Youngs Biographien. Paudras also wurde Powells neuer Vertrauter, mit ihm reiste er im August 1964 für ein Engagement im Birdland zurück nach New York. Die amerikanische Presse berichtete breit über die Rückkehr des Pianisten, und als Paudras einen Monat später am Flughafen auf Powell wartete, die beiden Rückflugtickets in der Hand, wartete er vergebens. Ein neuer Manager sicherte sich die Vertretung des Pianisten, aber Powells Magie schien dahin, seine Konzerte, schildert Pullman, waren für alle Beteiligten teilweise nur noch peinlich. Im Juli 1966 wurde Powell erneut ins Krankenhaus eingeliefert, wenig später fiel er in ein Koma, aus dem er nicht mehr erwachte.

In “Wail. The Life of Bud Powell” gelingt Peter Pullman eine Annäherung an den Menschen, den Pianisten, den Komponisten und den Patienten Bud Powell, die dieses Buch zum Standardwerk über sein Leben und seine Kunst machen dürfte. Pullman hat es im Eigenverlag herausgebracht, was die angesichts des schier erschlagenden Informationsreichtums stellenweise schon recht anstrengende Bleiwüste entschuldigen mag. Man wünschte sich inhaltlich Kapitelüberschriften (statt einfach nur “Kapitel eins, zwei, drei”) und strukturierende Zwischenüberschriften auch innerhalb der Kapitel; man wünschte sich den einen oder anderen das Lesen erleichternden Anhang, etwa eine biographische Timeline oder zumindest eine ansatzweise Diskographie. Dass Pullman gänzlich auf Fotos verzichtet, mag eine Kostenentscheidung gewesen sein. Immerhin erschließt ein ausführlicher Index das Buch. Solch kritische Empfehlungen des Rezensenten allerdings ließen sich in einer etwaigen zukünftigen Neuauflage leicht erfüllen und sind nur Marginalien angesichts der “labor of love”, die Peter Pullman in diese wirklich definitive Bud-Powell-Biographie gesteckt hat.

Wolfram Knauer (Mai 2013)


 

Jazz unter Ulbricht und Honecker. Mein musikalisches Leben in der DDR
von Frieder W. Bergner
Ottstedt am Berge 2012 (Selbstverlag)
212 Seiten, 18 Euro (inklusive Versand) + CD: 21 Euro (inklusive Versand)
Bezug über www.friederwbergner.de

2012bergner24 Jahre ist die Wende mittlerweile her, und ein paar Bücher haben die Jazz- und Bluesgeschichte der DDR bereits mit mehr oder weniger Abstand dokumentiert. Geschichte aber ist immer eine Schnittmenge der Erinnerung vieler Einzelner, und eine solche Erinnerung ist die des Posaunisten Frieder Bergner, dessen autobiographische Erzählung aus der Subjektivität des Autors heraus die Liebe zum Jazz und seine Musikerkarriere in den Kontext des gesellschaftlichen Alltags einbettet.

1954 in Zwickau geboren, zog Bergner 1960 nach Saalfeld, wo sein Vater als Ingenieur an der Herstellung des Zeiss Rechenautomaten mitarbeitete. Er berichtet von schweren Schuljahren und von seinen ersten musikalischen Gehversuchen bei den Thüringer Sängerknaben, mit denen er auf Tournee ging und von Zeit zu Zeit auch große Konzerte gab. Er erhielt Klavier- und Posaunenunterricht, würzt seine Berichte darüber mit Details des real existierenden Sozialismus, mit Geschichten über FDJler, die nach Westen gerichtete Fernsehantennen von den Häusern rissen, über den Besuch eines australischen Brieffreunds, dem bei der Einreise beinahe die drei LPs, die er als Geschenke mitgebracht hatte, abgenommen wurden, oder über seine erste Auslandsreise nach Ungarn. 1972 wurde Bergner an der Musikhochschule Dresden akzeptiert, kurz darauf allerdings bereits zum Wehrdienst einberufen, den er größtenteils als Sanitäter ableistete.

Als er das Studium wieder aufnahm, war er vom Unterricht bei Günter Hörig fasziniert; er erzählt von seiner Arbeit mit Studentenbands und von Musik zwischen modernem Jazz, Avantgarde und Rock ‘n’ Roll. Bergner arbeitete im Rundfunkblasorchester Leipzig, im Orchester Walter Eichenberg, später auch in der Leipziger Radio Big Band und schließlich auch in freien Ensembles, insbesondere im Duo mit dem Schlagzeuger Wolfram Dix. Mit der Hannes Zerbe Blechband reiste er in die Sowjetunion; 1984 zog er nach Weimar, wo er an der Musikhochschule unterrichtete, und spielte Mitte der 1980er Jahre erstmals im Westen Deutschlands in der Begleitband Joy Flemmings. Seine Anekdoten beleuchten das Leben im Osten Deutschlands genauso wie die Neugier auf die vermeintliche Freiheit im Westen. Vor allem beleuchten sie ein politisches System, das sich mehr und mehr selbst ad absurdum führt. Als einer seiner Studenten wegen Republikflucht angeklagt wird, muss Bergner aussagen, und seine Schilderung der Verhandlung und der Vorbereitung zu ihr liest sich wie das eine Fabel über einen untergehenden Staat.

Dem Titel entsprechend endet Bergers Rückschau auf sein Leben vor der Wende 1989 mit dem Ende der DDR. Es ist keine Geschichte des Jazz im Osten Deutschlands, sondern eine sehr persönliche autobiographische Erzählung, bei der Jazz eine genauso wichtige Rolle spielt wie persönliche Erlebnisse, politische Haltung, Freunde, Bekannte, Beziehungen, der Kampf mit dem Alkohol. Was Bergner mit diesem Ansatz gelingt, ist eine lesenswerte Atmosphäreschilderung, die vielleicht noch mehr an Information über das Gefühl eines Lebens in der DDR vermittelt als es nüchtern-sachliche Berichte vermögen würden.

Dem Buch liegt (bei Interesse) ein CD-Sampler mit Aufnahmen Bergners aus den Jahren zwischen 1979 und 2008 und in diversen Besertzungen und stilistischen Ausrichtungen bei.

Wolfram Knauer (Mai 2013)


 

James P. Johnson. 17 Selected Solos for Piano
transkribiert von Paul Marcorelles
Toulouse 2009 (Blue Black Jazz)
Enthält: “The Harlem Strut”; “Carolina Shout”; “Riffs”; “Feeling Blue”; “Jingles”; “Crying for the Caroline”; “Modernistic”; “If Dreams Come True”; “Mule Walk Stomp”; “A Flat Dream”; “Daintiness Rag”; “I’m Gonna Sit Right Down”; “Keep Off the Grass”; “I’m Crazy ‘Bout My Baby”; “Twilight Rag”; “Jersey Sweet”; “Liza”

2012marcorelli_johnsonJames P. Johnson. The Piano Roles, 1917-1926. 17 Rags, Blues & Stride Piano Solos from Original Piano Rolls
transkribiert von Paul Marcorelles
Toulouse 2011 (Blue Black Jazz)
Enthält: “Mama’s Blues”; “Caprice Rag”; “Steeplechase Rag”; “Stop It”; “Carolina Shout”; “Eccentricity”; “It Takes Love to Cure the Heart’s Disease”; “Dr. Jazz’s Razz Ma Taz”; “Roumania”; “Arkansas Blues”; “Joe Turner Blues”; “Harlem Strut”; “Railroad Man”; “Black Man”; “Charleston”; “Harlem Choc’late Babies on Parade”; “Sugar”

James P. Johnson, Volume 2. 17 Selected Solos for Piano
transkribiert von Paul Marcorelles
Toulouse 2012 (Blue Black Jazz)
Enthält: “Bleeding-Hearted Blues”; “You Can’t Do What My Last Man Did”; “Toddlin'”; “Scouting Around”; “Snowy Morning Blues”; “What Is This Thing Called Love”; “Fascination”; “Blueberry Rhyme”; “Squeeze Me”; “Honeysuckle Rose”; “Old Fashioned Love”; “Gut Stomp”; “Concerto Jazz-a-Mine”; “Keep Movin'”; “Arkansas Blues”; “Carolina Balmoral”; “Ain’t Cha Got Music”

Willie The Lion Smith. 16 Original Solos for Piano
transkribiert von Paul Marcorelles
Toulouse 2009 (Blue Black Jazz)
Enthält: “Concentratin'”; “Sneakaway”; “Echoes of Spring”; “Morning Air”; “Finger Buster”; “Fading Star”; “Rippling Waters”; “Stormy Weather”; “I’ll Follow You”; “Passionette”; “What Is There to Say?”; “Here Comes the Band”; “Cuttin’ Out”; “Portrait of the Duke”; “Zig Zag”; “Contrary Motion”

2012marcorelli_waller_01Fats Waller, Volume 1. 17 Famous Solos for Piano
transkribiert von Paul Marcorelles
Toulouse 2009 (Blue Black Jazz)
Enthält: “Blue Black Bottom”; “Numb Fumblin'”; “Love Me or Leave Me”; “Valentine Stomp”; “I’ve Got a Feeling I’m Falling”; “Smashing Thirds”; “Turn on the Heat”; “My Fate Is In Your Hands”; “African Ripples”; “Hallelujah”; “California, Here I Come”; “You’re the Top”; “Because Of Once Upon a Time”; “Faust Waltz”; “Intermezzo”; “Carolina Shout”; “Honeysuckle Rose”

Fats Waller, Volume 2. 17 Solos for Piano
transkribiert von Paul Marcorelles
Toulouse 2009 (Blue Black Jazz)
Enthält: “Muscle Shoals Blues”; “Birmingham Blues”; “Handful of Keys”; “Baby Oh, Where Can You Be?”; “Sweet Savannah Sue”; “Viper’s Drag”; “Alligator Crawl”; “Keepin’ Out of Mischief Now”; “Tea for Two”; “The London Suite: Piccadilly / Chelsea / Soho / Bond Street / Limehouse / Whitechapel”; “Rockin’ Chair”; “Rind Dem Bells”

Fats Waller, Volume 3. 18 Piano Greats
transkribiert von Paul Marcorelles
Toulouse 2010 (Blue Black Jazz)
Enthält: “Ain’t Misbehavin'”; “Gladyse”; “Waiting At the End of the Road”; “Goin’ About”; “My Feelings Are Hurt”; “Clothesline Ballet”; “Alligator Crawl”; “‘E’ Flat Blues”; “Zonky”; “Russian Fantasy”; “Basin Street Blues”; “Star Dust”; “I Ain’t Got Nobody”; “Hallelujah”; “St. Louis Blues”; “Then You’ll Remember Me”; “Georgia On My Mind”; “Martinique”

Donald Lambert. 15 Great Solos for Piano
transkribiert von Paul Marcorelles
Toulouse 2009 (Blue Black Jazz)
Enthält: “Anitra’s Dance”; “Pilgrim’s Chorus”; “Sextet”; “Elegie”; “Russian Lullaby”; “People Will Say We Are in Love”; “Hold Your Temper”; “Tea for Two”; “Trolley Song”; “Russian Rag”; “Save Your Sorrow”; “Pork and Beans”; “I’m Just Wild About Harry”; “As Time Goes By”; “Jumps”

Boogie Woogie. 17 Original Boogie-Woogie and Blues Piano Transcriptions
transkribiert von Paul Marcorelles
Toulouse 2011 (Blue Black Jazz)
Enthält: Jimmy Blythe: “Chicago Stomp”; Clarence Pine Top Smith: “Jump Steady Blues”; Jimmy Yancey: “Yancey Stomp”, “The Mellow Blues”, “Yancey Bugle Call”; Albert Ammons: “Boogie Woogie Stomp”, “Suitcase Blues”, “12th Street Rag”, “Mecca Flat Blues”; Meade Lux Lewis: “Yancey Special”, “Honky Tonk Train Blues”; Pete Johnson: “Answer to the Boogie”, “Bottomland Boogie”, “Mr. Freddie Boogie”, “Shuffle Boogie”; Count Basie: “Boogie Woogie”; Mary Lou Williams: “Mary’s Boogie”

Preis je Heft: 44,95 Euro (PDF-Version); 51,95 Euro (gedruckte Version inkl. Versand innerhalb Europas)

Bestellung über: www.blueblackjazz.com

2012marcorelli_smithStride Piano ist vielleicht eine der virtuosesten Spielarten des frühen Klavierjazz. Man spürt die Verankerung des Ragtime genauso wie jenes vorwärtstreibende Moment des Swing, die klaren Bässe und die verzierenden Melodieumspielungen, eine unbändige Lebensfreude, die einen fast unwillkürlich schmunzeln, lächeln, lachen lässt, wenn eine Melodie in seine Bestandteile auseinandergenommen wird, wenn der Pianist plötzlich in jenen typisch-antreibend-swingenden Rhythmus verfällt, wenn Riffs entstehen, linke und rechte Hand miteinander korrespondieren, plötzliche Umkehrungen der Oompah-Figuren der linken Hand einen kurzfristig aus der Bahn werfen, um gleich wieder in die Time zurückzufinden.

Paul Marcorelles hat das Stride-Idiom der großen Meister studiert und nun im Selbstverlag eine Reihe an Transkriptionsbänden herausgebracht, die ambitionierte Pianisten eine ganze Weile am Üben halten werden. Drei Bände mit insgesamt 51 Klaviersoli von James P. Johnson (darunter ein Band mit 17 Soli, die Marcorelles von Klavierwalzenaufnahmen abgehört hat), ebenso drei Bände mit insgesamt 52 Soli Fats Wallers, ein Band mit 16 Soli Willie “The Lion” Smiths, ein Band mit 15 Transkriptionen Donald Lamberts sowie ein Band mit 17 klassischen Boogie-Woogie-Titeln halten den Käufer / Spieler für eine Weile am Instrument. Die Klassiker sind dabei, etwa Johnsons “Carolina Shout” sowohl in der Version des Komponisten als auch in einer Fats Wallers, oder Johnsons legendärer “Charleston”, Wallers “Honeysuckle Rose”, “Ain’t Misbehavin'” oder seine komplette “London Suite” von 1938, Willie Smiths “Echoes of Spring” inder Transkription einer Aufnahme von 1965 oder sein seltenes “Contrary Motion”.

Die drei Bände mit Soli von James P. Johnson sind wahrscheinlich “the real thing”. Johnson gilt zu Recht als Vater des Stride; seine Stücke sind Klassiker, und seine Art der Interpretation ist bei aller Virtuosität am kantigsten. Neben frühen Hits wie “Modernistic” oder “If Dreams Come True” enthalten die drei Hefte auch späte Stride-Beispiele aus den 1940er Jahren, Titel, die den direkten Zusammenhang zwischen ihm und Thelonious Monk deutlich werden lassen (etwa seine Interpretation über Gershwins “Liza”). Mit dem “Concerto Jazz-A-Mine” von 1945 ist außerdem eines seiner Werke vertreten, das auf klassische Ambitionen zumindest verweist.

Die drei Waller-Alben enthalten wohl die meisten schon in anderen Transkriptionen oder transkriptions-ähnlichen Arrangements veröffentlichten Titel. “Numb Fumblin'”, “Valentine Stomp”, “Smashing Thirds” oder “African Ripples” erlauben damit (wem’s gefällt) auch einen interessanten Vergleich der Transkriptionsfassungen. Waller ist der Klassiker der hier vertretenen Pianisten: Seine musikalischen Ideen sind auch dort melodisch-harmonisch begründet, wo er in wildes Stride-Spiel ausbricht.

Willie “The Lion” Smith muss als der Lyriker unter den Stride-Pianisten gelten; zugleich ist er einer der späteren Vertreter des Stils wie die Tatsache belegt, dass die Transkriptionen, die Marcorelles vorlegt, aus den Jahren 1938 bis 1965 stammen. Neben Eigenkompositionen sind in diesem Heft auch Standards enthalten wie “Stormy Weather” oder ein emphatisches “What Is There to Say”, außerdem seine Hommage an Duke Ellington, “Portrait of the Duke”.

2012marcorelli_lambertDas Buch mit Donald Lamberts Soli enthält unter anderem Interpretationen klassischer Kompositionen wie Edvard Griegs “Anitra’s Dance”, Richard Wagners “Pilgrim’s Chorus” aus “Tannhäuser”, Gaetano Donizettis “Sextet” aus “Lucia di Lammermoor” und Jules Massenets “Elegie”; die von Lambert genommenen Tempi (oft Viertel = 240 und mehr, wie überhaupt die häufigste Tempoangaben in allen neun Heften “Presto” lautet) sind wohl erst nach erheblichen Fingerübungen einzuholen. Lamberts Version von Luckey Roberts “Pork and Beans” zeigt deutlich die Verankerung des Stride im klassischen Ragtime;

Der Boogie-Band schließlich enthält Klassiker des Genres, Interpretationen von Jimmy Blythe, Clarence Pine Top Smith, Jimmy Yancey, Albert Ammons, Meade Lux Lewis (“Honky Tonk Train Blues”), Pete Johnson, Count Basie und Mary Lou Williams. Die typischen Boogiebässe bestimmen das Notenbild, rohe und ungeschliffene Klangausbrüche, energiegeladene Improvisationen und ab und an (insbesondere bei Pete Johnson) Anklänge ans Harlem Stride Piano, das auch die Blueser nicht kalt ließ.

Marcorelles notiert klassisch, was letzten Endes auch bedeutet, dass der Spieler den richtigen Swing selbst empfinden muss. Wie immer bei Transkriptionen lohnt der Vergleich mit der originalen Aufnahme (und hier hätte man sich eine exaktere Identifikation der Platte gewünscht, von der die einzelnen Transkriptionen genommen wurden), aber mit einiger Hörerfahrung wird es gelingen, die Stücke selbst dann zum Treiben zu bringen, wenn man sie zur Einstimmung erheblich langsamer nimmt als in den halsbrecherischen Tempi der Meister.

Transkriptionsfehler sind in diesen Heften kaum zu entdecken; ein Bleistift in der Nähe des Klaviers ist dennoch ganz hilfreich, um etwa Vorzeichenänderungen fortzuschreiben oder einzelne Noten schon mal enharmonisch zur harmonischen Basis passend darzustellen (was dem Rezensenten aber auch nur an ein oder zwei Stellen auffiel). Marcorelles verzichtet auf harmonische Analyse und Harmoniesymbole, also die Motivation zur Weiterimprovisation, aber wer diese Stücke meistert wird wahrscheinlich so in Schwung sein, dass die Hände allein weiterswingen.

Wolfram Knauer (Mai 2013)


 

Jazz en la BNE. El ruido alegre
von Jorge García
Madrid 2012 (Biblioteca Nacional de Espagna)
238 Seiten, 40 Euro
ISBN: 978-84-92462-24-7

2012garciaJorge García hat die Geschichte des Jazz in Spanien an dem Ort erforscht, der alle Dokumente zur spanischen Geschichte sammelt: der Biblioteca Nacional de Espana in Madrid. Die von ihm kuratierte Ausstellung war in der spanischen Nationalbibliothek zu sehen. Wer sie nicht gesehen hat, kann das alles in diesem wunderschön gestalteten Katalog nachvollziehen, der den Leser zweisprachig (spanisch, englisch) in Wort und Bild durch die Rezeption des afro-amerikanischen Jazz in Spanien führt.

García beginnt mit Belegen über Minstrel-Shows, Cakewalk-Künstler, die frühen Modetänze, die noch vor dem I. Weltkrieg in Europa ankamen. Den Begriff “Jazz” selbst weist er zum ersten Mal im Januar 1918 in einer spanischen Zeitung nach, wenn er dort auch – wie anderswo in Europa auch – als Begriff für einen neuen Tanz verwandt wurde. Er findet Dokumente über frühe Musiker wie den Pianisten Billy Arnold, der angeblich Darius Milhauds Faszination am Jazz weckte, und er beleuchtet Musiker wie den Kubaner Ernesto Lecuona, der 1924 in Spanien ankam und großen Erfolg hatte. Als afro-amerikanische Musik eroberte der Jazz mit Tourneen wie denen von Josephine Baker, Louis Douglas oder Harry Fleming das Land. Sam Woodings Besuch im Jahr 1929 und Jack Hyltons Tournee ein Jahr später sind für García die Geburtsstunde eines spanischen Jazz. Nicht nur die Intellektuellen und Künstler des Landes seien damals nämlich von der Musik fasziniert gewesen, sondern auch Musiker, die danach strebten, “hot” zu spielen. Parallel zu ähnlichen Entwicklungen in anderen europäischen Städten gab es in Barcelona seit 1934 einen Hot Club, der unter der Franco-Diktatur aber wieder geschlossen wurde.

García streift die Haltung des faschistischen Regimes zum Jazz, die zu einem Jazzverbot im Rundfunk führte, dass clevere Radiomacher dadurch umgingen, dass sie die Aufnahmen einfach als “moderne Musik” bezeichneten. Er beleuchtet den Nachkriegsjazz mit Zentren insbesondere in Madrid und Barcelona, wo es sowohl eine gute spanische Szene gab als auch regelmäßig amerikanische Musiker zu hören waren. Seit den 1960er Jahren gab es zudem große Festivals wie das in San Sebastián, und Musiker wie Tete Montoliu oder Pedro Iturralde machten sich auch im Ausland einen Namen. Schon damals, mehr aber noch in den 1980er Jahren und später, entdeckten spanische Musiker die Zusammenhänge zwischen Jazz und ihren heimischen Klängen, insbesondere baskischer Volksmusik oder dem Flamenco. García erwähnt noch kurz die neue Generation an Musikern, die ihre Kunst mittlerweile wie anderswo auch an Hochschulen und Universitäten lernen kann.

Diesem knappen Durchgang durch die spanische Jazzgeschichte stehen im Hauptteil des Buchs die Abbildungen von Dokumenten aus der BNE gegenüber, Notenausgaben, Zeitungsausrisse, Programmflyer, Plakate, Cover von Jazzzeitschriften, Platten und CDs, Fotos einheimischer wie zu Besuch befindlicher Musiker, Comicbücher, die sich mit dem Jazz befassen und vieles mehr.

“Jazz en la BNE. El ruido alegre” ist damit ein lesens- genauso wie blätternswertes Buch, ein knapper Abriss spanischer Jazzgeschichte, der Anhaltspunkte gibt, nirgends wirklich die Musik beschreibt, aber durchaus neugierig macht auf das, was da seit 1920 an “fröhlichem Lärm” (so die Übersetzung des Untertitels des Buchs) zu hören war.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

Benny Goodman’s Famous 1938 Carnegie Hall Jazz Concert
von Catherine Tackley
New York 2012 (Oxford University Press)
223 Seiten, 17 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-539831-1

2012tackleyBenny Goodmans Carnegie-Hall-Konzert schrieb Jazzgeschichte, nicht nur, weil Benny Goodman eine der heiligsten Hallen des amerikanischen Musiklebens mit Jazz füllte, nicht nur, weil er bei jenem legendären Konzert am 16. Januar 1938 mit schwarzen wie weißen Musikern auftrat, sondern vor allem, weil die Musik, die an jenem Abend erklang, 1950 auf Langspielplatte herauskam und seither immer wieder veröffentlicht worden ist.

Die britische Musikwissenschaftlerin Catherine Tackley nähert sich der Legende des Carnegie-Konzert-Konzerts von unterschiedlichen Seiten. In einem ersten Abschnitt ihrer Monographie untersucht sie den Kontext, in dem das Konzert stand, die Bedeutung von Konzerten für und die Zusammensetzung des Publikums von Jazz in jenen Jahren, die Idee zum Konzert sowie die Entscheidungen zum Programmablauf.

Ein zweiter Teil des Buchs geht auf die Musik des Abends ein, wobei Tacklei keine Takt-für-Takt-Analyse vorlegen, sondern die Musik in einen Kontext einbetten will. Sie beschreibt die einzelnen Titel, vergleicht sie mit früheren Aufnahmen, verweist auf deutliche Einflüsse oder klar von Goodman verschiedene musikalische Konzepte der Swingära, stellt die Bedeutung des Arrangeurs Fletcher Hendersons für den Bigbandsound Goodmans heraus, fragt nach Konnotationen von Stücken wie “Loch Lomond” oder “Bei mir bist du schoen”. Sie analysiert die “Twenty Years of Jazz”, die der Klarinettist mitten im Konzert Revue passieren lässt, wobei sie besonders die von den Musikern evozierten Klischees von Jazzgeschichte herausstellt. Ähnlich geht sie die Jam Session über “Honeysuckle Rose” an, bei der neben Goodman und einigen seiner Musiker auch Kollegen aus den Bands von Count Basie und Duke Ellington zugegen waren. Schließlich widmet sie sich selbstverständlich noch den Trio- und Quartettteilen des Konzerts. Dieser ganze Abschnitt ihres Buchs arbeitet sowohl mit analytischen Anmerkungen als auch mit Transkriptionen.

Teil 3 ihres Buchs ist überschrieben mit “Representation” und beschäftigt sich mit der Legendenbildung um das Carnegie-Hall-Konzert, mit den diversen Schallplattenveröffentlichungen und ihrer Rezeption sowie mit späteren Versuchen Goodmans (durchaus auch in der Carnegie Hall) an das Konzept und den Erfolg des Konzerts anzuknüpfen

Tackley gelingt es insbesondere im Hauptteil ihres Buchs, ihre Analyse in die Beschreibung des Konzertgeschehens einzupassen. Ihr Text liest sich flüssig und spannend und sei damit nicht nur Goodman- oder Swingfans zur Lektüre empfohlen, sondern darüber hin aus jedem, der sich mit der Jazzgeschichte als einer Geschichte von Legenden befasst.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

Putte Wickman, klarinettist
von Jan Bruér
Göteborg 2012 (Bo Ejeby Förlag)
286 Seiten, beiheftende CD, 250 Schwedische Kronen
ISBN: 978-91-88316-66-0

2012wickmanJan Bruér hat mit diesem Buch die definitive Biographie des schwedischen Klarinettisten Putte Wickman vogelegt. Wickmans Karriere begann Anfang der 1940er Jahre; mit 19 wurde er 1943 zum professionellen Musiker. Wickmann spielte Swingmusik mit einem Hang zum Modernen. Während andere europäische Klarinettisten seines Kalibers bald in die USA auswanderten (Åke Hasselgard, Rolf Kühn), blieb Wickman in Schweden. Er spielte Platten meist in kleinen, durchaus an Benny Goodman orientierten Besetzungen ein, erst unter anderen Bandleadern, dann ab Mitte der 1940er Jahre vor allem mit einem Sextett unter eigenem Namen. 1949 traf er beim Pariser Jazzfestival auf Charlie Parker, der seine Stilistik nachhaltig beeinflusste. In den 1950er Jahren wurde er einer der populärsten Jazzmusiker Schwedens und war regelmäßig auch anderswo in Europa zu hören, 1959 sogar bei einem Gedenkkonzert für Sidney Bechet in der New Yorker Carnegie Hall. Ab den 1970er Jahren gehörte Wickman zu den Veteranen des schwedischen Jazz und trat des öfteren mit seinen Mit-Veteranen Bengt Hallberg oder Arne Domnérus auf. 2006 verstarb er im Alter von 81 Jahren.

Bruér hat sein Buch in zwei Teilen angelegt: einer klassischen Biographie mit Kommentaren von Zeitzeugen und Kollegen, sowie ausgedehnteren Interviews mit Familienmitgliedern wie Puttes Frau oder seinem Sohn, Mitmusikern sowie Kennern des schwedischen Jazz. Eine Chronologie seines Lebens sowie eine ausführliche Diskographie schließen sich an; ein Namensregister fehlt leider. Als Zugabe enthält das Buch allerdings eine CD, auf der sich Aufnahmen Wickmans aus den Jahren 1945 bis 2005 finden. Dabei sind skurrile Einspielungen wie die “Kivikspolka”, in der Wickmann per Overdub gleich drei Klarinettenstimmen gleichzeitig spielt, Aufnahmen mit Streichquartett, ein Radiomärchen mit Wickman und Lill-Babs, eine Quartettaufnahme mit Bobo Stenson und Palle Danielsson, den Ausschnitt einer Telemann-Komposition, die Wickman 1977 zusammen mit Svend Asmussen einspielte, sowie das Allegro aus Mozarts Klarinettenquintett, ein Duo mit Red Mitchell, der in den 1970er und 1980er Jahren in Schweden lebte, sowie Stücke, in denen Wickman sich freieren Spielweisen oder auch einer gemäßigten Fusion annäherte und anderes mehr.

Diese CD sowie die vielen Abbildungen des Buches mögen auch den des Schwedischen nicht mächtigen Käufer dieses Buchs entschädigen, das Bruér in Zusammenarbeit mit dem Schwedischen Viasarkiv herausgegeben hat und das in überaus ansprechendem Layout gestaltet ist.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

Sugar Free Saxophone. The Life and Music of Jackie McLean
Von Derek Ansell
London 2012 (Northway Publications)
207 Seiten, 18 Britische Pfund
ISBN: 978-9.9557888-6-4

2012ansellJackie McLean gehört zu den großen Hard-Bop-Saxophonisten, und Derek Ansell schickt sich in seinem Buch an, ihm ein Denkmal zu setzen. Ansell beginnt mit jener Anekdote aus dem Jahr 1949, als McLeans Mutter ihrem Sohn sagte, ein gewisser Charlie Parker habe angerufen und ihn gebeten, am Abend in einem blauen Anzug in den Chateau Gardens zu gehen und für ihn einzuspringen. Das Publikum sei ein wenig enttäuscht gewesen, als Art Blakey ansagte, dass Parker leider erst später käme und dieser junge Mann so lange spiele, aber dann habe er alles gegeben in einem Repertoire, das typischer Bird war. Und schließlich sei Parker doch noch gekommen, habe ihn ermutigt, auf der Bühne zu bleiben. Sie hätten ein paar Chorusse zusammen geblasen und nach dem Gig habe Parker ihm 15 Dollar in die Hand gedrückt.

Vom Meister abgesegnet, mit Bird oft genug verglichen und doch ein ganz eigener Stil – Jackie McLean nannte sich selbst gern mit Bezug auf seinen klaren, harten Ansatz den “sugar free saxophonist”. Ansell begleitet ihn in diesem Buch vor allem durch seine Plattenaufnahmen und einige dunkle Kapitel seines Lebens. Seine erste Plattensession hatte McLean mit Miles Davis, und kein geringerer als sein Vorbild Charlie Parker saß im Kontrollraum. Ansell berichtet über die Beziehung zwischen den beiden Saxophonisten, die nicht nur in Musik bestand, sondern auch in der Tatsache, dass Parker sich regelmäßig Geld oder auch das Instrument von seinem jüngeren Kollegen lieh.

Nach Parkers Tod begann McLeans Karriere erst richtig. Er ging mit Miles ins Studio, nahm eigene Platten auf, erst für Prestige, dann für Blue Note. Ansell beschreibt das Leben eines Jazzmusikers in den Mitt1950er Jahren und spart auch McLeans Suchtprobleme nicht aus – seine Heroinsucht hatte dazu geführt, dass er bald keine Cabaret Card mehr besaß, ohne die er in New Yorker Clubs nicht auftreten konnte. Fürs Theater galten solche Regeln allerdings nicht, und so war es ein Glück für ihn, dass er 1959 für Jack Gelbers Theaterstück “The Connection” engagiert wurde, für das eine komplette Band auf der Bühne mitwirkte. In den 1960er Jahren hörte McLean sehr bewusst auch auf einige der Neutöner des Jazz, nahm sogar eine Platte zusammen mit Ornette Coleman (an der Trompete) auf; seine eigene Musik aber blieb bei aller Freiheit doch immer dem Blues verbunden.

In den 1960er Jahren begann er außerdem eine Art zweite Karriere als Lehrer, erst in Community-Kulturprogrammen, später an Universitäten und bei Workshops. 1968 erhielt er einen Lehrauftrag an der University of Hartford und wurde zwei Jahre später reguläres Mitglied des Lehrkörpers. Er tourte in Europa und war insbesondere in Japan ein großer Star, wurde aber auch in den USA geehrt, 20902 etwa als Jazz Master des National Endowment for the Arts.

Ansell verfolgt McLeans Wirken bis zu seinem Tod im März 2006; tatsächlich aber ist sein Buch weniger Biographie als Schaffensgeschichte. Er berichtet über die Umstände der Plattensessions und ordnet sie in den Kontext des Jazzgeschehens der jeweiligen Zeit ein. Für McLean-Fans ist das Buch damit ganz sicher ein Muss; es beleuchtet ein Teilkapitel des Hardbop und insbesondere auch den ästhetischen Wandel zwischen Hard Bop und Free Jazz. Neues erfährt man dabei wenig, aber als Information über einen einflussreichen Saxophonisten ist die Lektüre auf jeden Fall zu empfehlen.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

Tracking Jazz – The Ulster Way
von Brian Dempster
Antrim/Northern Ireland 2012 (Shanway Press)
216 Seiten, 18,50 Britische Pfund
ISBN: 978-0-9571006-1-9

2012dempsterFür den 25. April 1925 dokumentiert Brian Dempster in der Glenarm Orange Hall in Glennarm Village den ersten Jazzevent in der nordirischen Provinz Ulster, eine Veranstaltung, bei der die braven Bürger der Stadt den “Belgium Burl” tanzten, wohl eine Version des American One-Step, begleitet von der jungen Glenarm Jazz Band. Vier Jahre später habe das Noble Sissle Orchestra im Empire Theatre in Belfast gespielt und gleich danach der Jazz in Nordirland zu blühen begonnen, schreibt Dempster.

Die eigentliche Hochphase des Jazz in Irland aber begann seinem großformatigen und reich bebilderten Buch zufolge während des II. Weltkriegs, als die USA wichtige Stützpunkte in Belfast und Londonderry einrichteten. Dempster schildert die Karriere des Trompeters Ken Smiley und den Einfluss britischer New-Orleans- oder Trad-Jazz-Musiker wie Ken Colyer oder Acker Bilk. Die Sängerin Ottilie Patterson erhält ein eigenes Kapitel, genauso wie etliche lokale Bands und Musiker. In den 1950er Jahren gründete sich am Campbell College die Band Belmont Swing College, benannt nach dem Vorbild der Dutch Swing College Band. Dempster zählt die verschiedenen Orte auf, an denen Jazz in Belfast und drum herum zu hören war und geizt nicht mit Anekdoten. Die 1960er Jahren brachten den Aufstieg von Rock & Roll, zugleich aber auch eine Konzertreihe in der Whitla Hall, bei der neben den traditionellen Bands, die im Fokus dieses Buchs stehen, auch amerikanische Künstler aus dem Bereich des Mainstream und des modernen Jazz auf- oder – wie im Fall von Stan Getz, der sich 1966 kurz vor dem Konzert unwohl fühlte – auch schon mal nicht auftraten.

Dempster sammelt die Erinnerungen vieler (Amateur-)Musiker der Szene, des Klarinettisten Trevor Foster etwa oder des Bassisten David Smith; er erzählt die Geschichte der Belfast Jazz Society, und er erwähnt zumindest am Rande auch einige der politischen Probleme, die in jenen Jahren das tägliche Leben in Nordirland bestimmten. Im großen und ganzen bleibt sein Buch dabei ein Erinnerungsalbum mit vielen Fotos der beteiligten Mitspieler, einem durch die Seiten deutlich alternden Personal.

Ein ausführlicher Personenindex schließt das Buch ab, das sicher vor allem für Leser mit regionalen Vorlieben für Interesse ist.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

Lonesome Roads and Streets of Dreams. Place, Mobility, and Race in Jazz of the 1930s and ’40s
von Andrew S. Berish
Chicago 2012 (University of Chicago Press)
313 Seiten, 30 US-Dollar
ISBN: 978-0-226-04495-8

2012berishPhil Woods soll sich einmal folgendes Workshop-Setup gewünscht haben: Setzt die Teilnehmer in einen Bus, lasst sie vier Stunden lang fahren, zwei Stunden spielen, vier Stunden fahren, zwei Stunden spielen usw. Die Reisetätigkeit von Musikern ist heute erheblich leichter als früher, aber immer noch nimmt die Anreise zum Konzert in der Regel ein Vielfaches der Zeit ein, die der Musiker beim Konzert verbringt. Andrew S. Berish befasst sich in seinem Buch mit der Mobilität von Jazzmusikern in den 1930er und 1940er Jahren, als der Jazz eine Popmusik und One-Nighter-Tourneen an der Tagesordnung waren. Die Bands der Zeit waren auf Autos, Busse, in Ausnahmefällen auf Züge angewiesen, um enorme Strecken im Flächenland USA zurückzulegen. Ihre Fortbewegung fand dazu in einem Land statt, dessen soziale Struktur sich mit dem Reisen quasi veränderte, etwa durch die Rassentrennungsgesetze der Südstaaten. Sie durchreisten Landschaftsräume und soziale Räume, schufen in ihrer Musik aber auch ihre ganz eigenen Räume, in denen sie quasi die bessere aller Welten repräsentieren konnten, für sich genauso wie für ihr Publikum. Berish zeigt in vier konkreten Beispielen, wie Jazzmusikern ein solches Schaffen neuer Räume in den 1930er und 1940er Jahren gelang.

Im ersten Kapitel betrachtet der Autor dazu die Band des weißen Sweet-Bandleaders Jan Garber, der damals jeden Sommer im südkalifornischen Casino Ballroom spielte und übers Radio im ganzen Land zu hören war. Er beschreibt Garbers Musik – und hier insbesondere das Stück “Avalon” – als Teil eines Strebens, die Grenzen amerikanischer Raumvorstellungen gegen die Gefahr der Modernisierung mit ihrer Zergliederung und Demokratisierung zu verteidigen.

Im zweiten Kapitel beschäftigt er sich mit der Band Charlie Barnets, dessen musikalische Entwicklung von Sweet- in Hot-Band zugleich eine Entwicklung (oder “soziale Reise”, wie Berish sie nennt) von weißen zu schwarzen ästhetischen Idealen bezeichnete und betrachtet dazu insbesondere seine beiden Aufnahmen “Pompton Turnpike” und “Drop Me Off in Harlem”.

Im dritten Kapitel wendet er sich dem Orchester Duke Ellingtons zu, der wohl am meisten umherreisenden Band jener Zeit, die in ihrem Programm sehr bewusst mit Anspielungen an Orte arbeitete, bekannte Orte (Harlem) genauso wie exotische Orte (jungle style). Ellingtons Konzept von Ort suggeriere seinem Publikum, schlussfolgert Berish, dass andere Orte und Erfahrungen nicht nur möglich seien, sondern dass, mehr noch, alle Orte der Rekonstruktion offen stünden. Das Ellington-Kapitel widmet sich insbesondere Ellingtons “Air-Conditioned Jungle” sowie seiner “Deep South Suite”.

Im vierten Kapitel greift Berish sich den Gitarristen Charlie Christian heraus, der Einflüsse aus konkret zuordenbaren regionalen Jazzstilen aufgriff – Country Blues, Western Swing, Hillbilly, Kansas City –, und diese in Harlem in den modernen Jazz der Zeit, den Bebop überführte. Christians solistischer Ansatz, schreibt Berish, machte aus den fragmentierten geographischen Erfahrungen seines Lebens etwas Neues, einen musikalischen Ort, der integriert war, enorm mobil und in seiner ganzen Ausrichtung national. Seine musikalischen Anhaltspunkte in diesem Kapitel sind Christians Aufnahmen über “Flyin’ Home”, “Stompin’ at the Savoy” und “Solo Flight”.

Das Schlusskapitel greift eine neue Art des Reisens auf, das Fliegen. Hier nimmt Berish sich Jimmie Luncefords Aufnahme “Stratosphere” heraus, um die Faszination mit dem Fliegen als eine Hoffnung zu beschreiben, neue Formen von Beweglichkeit könnten auch die sozialen Barrieren der Zeit durchbrechen.

Berishs Ansatz in diesem Buch erlaubt einen sehr anderen Blick auf die von ihm behandelten Musiker, verbindet vor allem sehr geschickt Jazz- mit Kultur- und Sozialgeschichte und zeigt dabei in einem klugen und zugleich äußerst lesbaren Stil, wie sich anhand der Musik weit größere gesellschaftliche Erfahrungen darstellen lassen, die im Jazz ihren Widerhall gefunden haben.

Wolfram Knauer (April 2013)


 

Edinburgh Jazz Enlightenment. The Story of Edinburgh Traditional Jazz
von Graham Blamire
Petersborough/England 2012 (Fastprint Publishing)
596 Seiten, 16,99 Britische Pfund
ISBN: 978-178035-290-9

2012blamireLokale Jazzgeschichten lassen sich von vielen Städten schreiben; ein 600-seitiges Buch über den Jazz einer Stadt mit nur mit einer Stilrichtung zu füllen, scheint dagegen schon weitaus schwieriger. Graham Blamire, selbst über lange Jahre Bassist in traditionellen Bands in Edinburgh, hat sich mit seinem Buch daran gemacht, genau dies zu tun, nämlich die Geschichte des traditionellen Jazz in Edinburgh zu erzählen.

Die großen Namen des britischen Trad Jazz tauchen dabei immer wieder auf, wobei Blamire versucht, zu zeigen, dass dieser sich nicht auf London beschränkte, sondern die Faszination mit älteren Stilen auch anderswo in Großbritannien eine lebendige Szene hervorbrachte. In einem seiner Eingangskapitel erklärt Blamire darüber hinaus seine Begrifflichkeit, unterscheidet zwischen “classic jazz” und “purist jazz”, benutzt den Terminus “traditional jazz” for alles bis zur Swingmusik und erklärt sein Unwohlsein beim begriff “contemporary jazz”.

Die dramatis personae seines Buchs sind in der traditionellen Jazzszene teils auch über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Blamire verfolgt ihre Aktivitäten, nennt Bandbesetzungen, Konzert- und Festivaldaten, erzählt Geschichten von Clubs und besonderen Ereignissen. Für den Außenstehenden mag das alles ein wenig schwer verdaulich sein; für diejenigen, die dabei waren, bietet es sicher eine gute Erinnerungsstütze. Auf Kontakte zu den moderneren Musikern geht Blamire fast gar nicht mehr ein in seinem Buch, diskutiert auch nicht weiter das ästhetische Selbstverständnis des von ihm gewählten Stils, und beklagt höchstens zum Schluss, dass es dem traditionellen Jazz (und damit meint er dann doch fast ausschließlich das, was allgemein mit Trad Jazz beschrieben wird) an Nachwuchs mangele.

Als Anhang findet sich eine Diskographie von Aufnahmen der im Buch genannten Musiker und Bands. Ein Index, der gerade für solch eine Regionalgeschichte sehr sinnvoll wäre, ist leider nicht vorhanden (kann aber auf Nachfrage vom Autor per Mail bezogen werden).

Wolfram Knauer (März 2013)


 

Keystone Korner. Portrait of a Jazz Club
herausgegeben von Sascha Feinstein & Kathy Sloane
Bloomington 2012 (Indiana University Press)
224 Seiten, 1 CD, 40 US-Dollar
ISBN: 978-0-253-35691-8

2012feinstein“Keystone Korner” hieß San Franciscos angesagtester Jazzclub der 1970er Jahre. Ale Großen des Jazz spielten dort, von Dexter Gordon bis zum Art Ensemble of Chicago, von Bill Evans über Rahsaan Roland Kirk, Charles Mingus bis zu Anthony Braxton.

Die Fotografin Kathy Sloane war dort und hielt die Abende mit den Künstlern fest. Ihre Fotos zeigen Bühnengeschehen genauso wie Clubatmosphäre, Musiker, Publikum, Backstage-Bereich, Plakate, Handzettel und vieles mehr.

Darum herum hat Sascha Feinstein Aussagen mit dem Club Assoziierten gesammelt, Todd Baran an erster Stelle, dem Gründer und langjährigen Inhaber des Clubs, mit dem Koch, einer Kellnerin, den Tontechniker, mit Musikern wie Carl Burnett, George Cables, Billy Harper, Eddie Henderson, Calvin Keys, David Liebman, Eddie Marshall, Ronnie Matthews, Bob Stewart, Steve Turre und David Williams, sowie mit Künstlern und anderen regelmäßigen Besuchern, für die das Keystone Korner Teil ihres Lebens in der Bay Area war. Sie berichten vom Cluballtag, von zwischenmenschlichen Problemen und künstlerischen Höhepunkten, erzählen jede Menge Anekdoten.

Das Keystone Korner schloss 1983 aus finanziellen Gründen seine Pforten. Todd Barkan zog nach New York und machte bis zum letzten Jahre das Programm im Dizzy’s Club Coca Cola. Heute organisiert er eine “Keystone Korner Night” im New Yorker Iridium Club.

“Keystone Korner. Portrait of a Jazz Club” bebildert liebevoll die Erinnerung an eine Zeit, in der Musiker nicht nur in New York die Möglichkeit hatten, ein- oder mehrwöchige Engagements zu spielen. Die beiheftende CD enthält acht Tracks von Rahsaan Roland Kirk, McCoy Tyner, Woody Shaw, Dexter Gordon, Bill Evans, Stan Getz, Cedar Walton und Art Blakey, alle zwischen 1973 und 1982 live aufgenommen im Keystone Korner. Alle Titel sind bereits veröffentlicht; hier sind also keine Neuentdeckungen zu machen. Einen guten Höreindruck aber geben die Stücke allemal in die Atmosphäre eines legendären Clubs im San Francisco der 1970er Jahre.

Wolfram Knauer (März 2013)


 

Swingtime in Deutschland
von Stephan Wuthe
Berlin 2012 (Transit)
144 Seiten, 16,80 Euro
ISBN: 978-3-88747-271-9

www.swingtime.de

2012wutheDie Jazzrezeption in Europa war nie so eindeutig, wie man es meinen möchte. Jazz wurde immer mit all seinen Konnotationen wahrgenommen: seiner afro-amerikanischen Herkunft, seiner emotionalen Kraft, dem Tanz. Die Musik war oft genug nur Vehikel, um all das andere zu transportieren, das die Menschen am Jazz faszinierte.

Stephan Wuthe hat ein Buch über die Swingbegeisterung in Deutschland geschrieben, und natürlich handelt sein Buch auch von einer Zeit, in der Jazz nicht systemkonform war, ja offiziell sanktioniert wurde. Mehr als die Verfolgung von Jazz und Jazzliebhabern aber interessieren ihn all die Elemente, die Fans in den 1930er Jahren an diese Musik banden. Er beschreibt die Szene in den Großstädten (und hier vor allem in Berlin), den Plattenmarkt, frühe Sammelleidenschaft unter den Fans, die Lokale, in denen die Musik zu hören (und nach ihr zu tanzen) war. Ein eigenes Kapitel widmet sich dem Erfolg amerikanischer Musikfilme nach 1933 und verweist auf das Echo auf die Hits dieser Filme in deutschen Kapellen. Vor allem aber betrachtet Wuthe den Swing als ein Tanzphänomen, beschreibt Modetänze und ihren Erfolg beim Publikum. “Verdunklungsschlager” nennt er Aufnahmen der frühen 1940er Jahre, die auf den Kriegsalltag der Menschen eingingen, nennt auch die Propagandaaufnahmen von Charlie and His Orchestra und ähnliche Aktivitäten, die in die andere Richtung, also auf Deutschland, gerichtet waren. In seinen letzten Kapiteln geht Wuthe dann noch schnell auf Swingtanzaktivitäten nach dem Krieg ein, in den 1940er und 1950er und dann erst wieder seit den 1990er Jahren.

Wuthes Buch ist reich und interessant bebildert und gerade in seinem Ansatz, nämlich das Drumherum zu beschreiben, eine vergnügliche Lektüre. Allzu kritische Distanz, eine musikalische Einordnung des Gehörten oder eine historisch genaue Aufarbeitung der Jahre, die den Hauptteil des Buchs umfassen, also 1933-1945, sollte man nicht erwarten – das ist auch nicht das Ziel des Autors. Liebevoll aufgemacht ist sein Buch eher ein ideales Geschenk für den Swingverrückten und Fan der deutschen Tanzmusik.

Wolfram Knauer (März 2013)


 

The Last Balladeer. The Johnny Hartman Story
von Gregg Akkerman
Lanham/MD 2012 (Scarecrow Press)
367 Seiten, 34,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8281-2

2012akkermanVielen Jazzfreunden ist Johnny Hartman durch ein einziges Album bekannt, seine Zusammenarbeit mit John Coltrane nämlich von 1963. Als Gregg Akkerman vor wenigen Jahren mehr über den Sänger wissen wollte, suchte er nach einer Biographie und stellte fest, dass es eine solche nicht gab. Also sammelte er Dokumente über Hartman und die Welt, in der er lebte und wirkte, sprach mit Zeitzeugen und schrieb das Buch einfach selbst.

Das erste Kapitel seiner Biographie erzählt von Hartmans Jugend in Chicago, seiner Schulzeit in der DuSable High School, in der er Musikunterricht beim legendären “Captain Dyett” erhielt. 1943 wurde der 19jährige zur Armee eingezogen und bald als Sänger der Bigband der Special Services zugeordnet, mit der er bis zu seiner Entlassung im März 1946 aktiv war. Im August desselben Jahres hatte er ein Engagement im Chicagoer El Grotto Nightclub und wurde von der Presse seiner Stimme und seiner Ausstrahlung wegen als “Bronze Sinatra” gefeiert. 1947 engagierte ihn Earl Hines – Hines war auf den sonoren Balladensänger abonniert, seit Billy Eckstine diese Rolle in seiner Bigband populär gemacht hatte. Hines gab sein Orchester auf, als er Teil der Louis Armstrong All Stars wurde; im Juli 1948 sang Hartman dann mit Dizzy Gillespie, den ebenfalls die Stimmähnlichkeit zu Billy Eckstine, Dizzys früheren Chef, beeindruckt haben mag. Akkerman hört sich Studioaufnahmen und Livemitschnitte der Band an und durchforstet die Tagespresse nach Erwähnungen des Sängers.

1949 nahm Hartman ein paar Seiten mit dem Erroll Garner Trio auf und entschloss sich 1950, unter eigenem Namen zu reisen. Er wurde nicht nur in den Jazzgazetten erwähnt, sondern auch in populären Illustrierten. 1955 nahm er seine erste LP für das kurz zuvor gegründete Label Bethlehem auf, und Akkerman beschreibt die Produktionsbedingungen und den Erfolg der ersten beiden Platten, der aber nicht verhinderte, dass der Siegeszug des Rock ‘n’ Roll auch Hartman zu schaffen machte.

Akkerman begleitet Hartman nach in den 1960er Jahren England und Japan, beschreibt gelungene und weniger gelungene Bootleg-Mitschnitte seiner Konzerte und geht dann eingehend auf jenes Album ein, das den Sänger in der Jazzszene wieder bekannt machte, ein Kapitel, das überschrieben ist mit “The Mythology of a Classic”. Insbesondere “My One and Only Love” und “Lush Life” waren überzeugende Interpretationen, und doch konnte Hartman in der Folge nicht von der positiven Reaktion des Publikums und der Kritik profitieren.

Engagements in den USA hätten fürs Leben nicht ausgereicht, glücklicherweise war er overseas, insbesondere in Japan, sehr gefragt. Akkerman begleitet ihn durch die 1970er Jahre, eine Zeit, in der Hartman bei weitem nicht mehr den Erfolg zeitigen konnte wie als junger Mann, die dennoch kreative Jahre für ihn waren. Er blieb daneben auch ein gesellschaftlich gefragter Künstler. Allerdings litt er ein wenig darunter, als “musician’s musician” zu gelten und plante gegen Ende des Jahrzehnts vielleicht aus diesem Grunde Disco-Versionen von Jazzstandards, die allerdings nie realisiert wurden.

1983 dann versagte seine Stimme, und ein Arzt diagnostizierte Lungenkrebs. Im September desselben Jahres verstarb Hartman im Alter von 60 Jahren. Ein letztes Kapitel des Buchs betrachtet Wiederveröffentlichungen und posthume Würdigungen und holt Meinungen von Freunden und Musikerkollegen ein. Eine Diskographie, ein Song-Index, eine biographische Zeittafel und ein ausführliches Literaturverzeichnis beenden schließlich das Buch.

“The Last Balladeer” beschreibt die Lebensgeschichte eines Musikers, der zwischen Jazz und Pop agierte, auf beiden Feldern erfolgreich war, nie aber den Status erreichte, den seine Kollegen besaßen, die – wie etwa Tony Bennett – durchaus auf ihn als ihren Lieblingssänger verwiesen. Gregg Akkerman schreibt flüssig; er konzentriert sich vor allem auf Biographisches und auf den Hintergrund von Aufnahmen, weniger auf musikalische oder ästhetische Besonderheiten jenes Balladen-Belcanto, das Hartman pflegte wie wenige sonst. Sein Buch ist in der akribischen Recherche und seinem einfühlsamen Schreibstil auf jeden Fall eine willkommene Bereicherung der Jazzliteratur.

Wolfram Knauer (März 2013)


 

The Saxophone
von Stephen Cottrell
New Haven 2012 (Yale University Press)
390 Seiten, 40 US-Dollar
ISBN: 978-0-300-10041-9

2012cottrellEines der am meisten beachtetsten Instrumente sei das Saxophon, schreibt Stephen Cottrell im Vorwort zu seinem Buch und verweist auf Musiker wie Charlie Parker und John Coltrane sowie auf Staatsoberhäupter wie Bill Clinton und König Bhumibop Aduyadej; ernsthafte Literatur über das Instrument sei aber doch recht rar. Dem mag so sein (obwohl diesem Rezensenten eine ganze Handvoll Bücher einfallen, die sich mit dem Instrument, seiner spezifischen Bauweise und Klangtechnik sowie seinen Protagonisten auseinandersetzen); nun jedenfalls widmet sich Cottrell in einem umfangreichen Band der Buchreihe “Yale Musical Instrument Series” dem Saxophon in allen Bauvarianten und Spielarten.

Er beginnt mit Generellem: den verschiedenen Instrumentengrößen, Mundstücken, dem Ansatz. Dann erzählt er das Leben von Adolphe Sax und beschreibt, wie dieser auf die Idee seiner Instrumentenerfindung kam. Er nennt Vorfahren, die unterschiedlichen Mitglieder der Saxophonfamilie, sieht sich die Patente an, die Sax für seine Erfindung eingereicht hatte, aber auch Patente anderer Instrumentenbauer bis hin zu mehr oder weniger skurrilen Varianten wie dem Grafton Plastiksaxophon, das sowohl Charlie Parker wie auch Ornette Coleman spielten, oder das Slide-Saxophon, das in den 1920er Jahren ab und an zum Einsatz kam. Er untersucht die industrielle Fertigung des Instruments im 19. Jahrhundert, beschreibt seine Vermarktung und den frühen Einsatz in klassischen und Opernkompositionen. Er verfolgt den Weg des Saxophons in die Vereinigten Staaten sowie seinen Siegeszug in den Militärkapellen auf beiden Seiten des Atlantiks.

Ein eigenes Kapitel widmet Cottrell der Verwendung des Saxophons in Vaudeville, Zirkus, Minstrelsy und Ragtime, erwähnt frühe Saxophonensembles wie die Brown Brothers, stellt eine Art “Saxophon Craze” fest und nennt erste Saxophonvirtuosen wie Rudy Wiedoeft und andere. Die Rolle des Instruments im Tanzorchester untersucht er genauso wie den Klang des Saxophonsatzes, der von Bandleadern und Arrangeuren immer geschickter eingesetzt wurde.

Dem Jazz widmet Cottrell ein eigenes Kapitel, nennt darin Solisten wie Sidney Bechet, Coleman Hawkins, johnny Hodges, Harry Carney, Lester Young, Charlie Parker, John Coltrane und Ornette Coleman. Das klassische Saxophon verfolge eine ganz andere Klangästhetik, die der Autor im Konzertsaal genauso wie auf der Opernbühne verfolgt, auch hier namhafte Virtuosen und Ensembles herausstellend. “Moderne und Postmoderne” lautet die Überschrift zu einem Kapitel, in dem die Genres dann etwas durcheinander purzeln, bevor sich Cottrell abschließend dem Saxophon als “Symbol und Ikone” näher, dabei sowohl auf positive, identitätsstiftende, wie negative, ausgrenzende Ikonographie verweist (für letztere steht das Plakat zur “Entartete Musik”-Ausstellung der Nazis) und schließlich auch die sexuellen Konnotationen der Instrumentenform nicht außer Acht lässt.

Alles in allem gelingt Cottrell dabei ein gut lesbarer Rundumschlag, bei dem kein Aspekt zu kurz kommt: Bauart, Tonbildung, Individualstil, Wirkung. Und gerade für uns Jazzer, die wir dieses Instrument natürlich vor allem mit den bekannten Namen verbinden, mag es recht interessant sein, einmal den Blick über den Tellerrand zu wagen, das zu betrachten, was davor lag und das, was andere draus machten. Im Anhang findet sich ein Faksimile des originalen Patents von Adolphe Sax.

Wolfram Knauer (März 2013)


 

What It Is. The Life of a Jazz Artist
von Dave Liebman & Lewis Porter
Lanham/MD 2012 (Scarecrow Press)
363 Seiten, 37,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8203-4

2012liebmanDave Liebman wurde einem breiten Publikum durch seine Arbeit erst mit Elvin Jones Anfang der 1970er Jahre und dann mit Miles Davis in der Mitte des Jahrzehnts bekannt. Seit Ende der 1970er Jahre war Liebman als Lehrer aktiv, gründete 1989 die International Association of Schools of Jazz und wird auf der ganzen Welt nicht nur als Saxophonist, sondern auch als Jazzpädagoge geschätzt.

Für seine Autobiographie hat Liebman den renommierten Jazzforscher Lewis Porter gebeten ihn zu interviewen. Porter entschied sich, das Ergebnis in Gesprächsform festzuhalten, in der Porter die Erinnerung Liebmans untermauern oder ergänzen kann und Liebmans Erzählfluss quasi durch seine Fragen strukturiert. Das liest sich durchweg flüssig und wirkt vielleicht gerade in dieser Form überaus authentisch.

Liebman nimmt kein Blatt vor den Mund. Er erzählt freimütig über seine Polio-Erkrankung, den Einfluss John Coltranes, Unterricht bei Lennie Tristano, seine Zeit in Charles Lloyds Band, seine Arbeit mit Chick Corea und Elvin Jones, Konzerte und Aufnahmen mit Miles Davis, seine Zusammenarbeit mit Richie Beirach und John Scofield, die Bands Lookout Farm und Quest, die Idee und den Zustand der Jazzpädagogik, seine Aktivitäten in der International Association of Schools of Jazz und vieles mehr.

Das alles schwankt zwischen Anekdoten und Tiefsinnigem. In Porter hat Liebman dabei einen Gesprächspartner, der nachfragt, der aber vor allem auch versteht, wovon Liebman redet und die richtigen Fragen nachschiebt, um sowohl den nicht mit Liebmans Karriere vertrauten Leser mitzunehmen als auch die Fragen zu stellen, die der Experte an den Saxophonisten hätte. Nirgends wird das Buch dabei zu technisch, und Liebmans Erinnerungen bewahren in der Gesprächsform sehr angenehm ihre Subjektivität.

Wolfram Knauer (März 2013)


 

ECM. Eine kulturelle Archäologie
von Okwui Enwezor & Markus Müller
München 2012 (Prestel)
304 Seiten, 49,95 Euro
ISBN: 978-3-7913-5284-8

2012enwezorSeit 1969 prägt das Plattenlabel ECM die Musiklandschaft mit, hat dabei den Jazz, tatsächlich aber weit mehr als den Jazz neu definiert – oder zumindest anders, offenohriger definiert. ECM ist nicht nur eines der erfolgreichsten Plattenlabels auf dem Markt; es ist zugleich wohl das Label, über dessen Produktionen am meisten geschrieben wurde: von Musikwissenschaftlern, Kulturhistorikern, Kunstgeschichtlern und vielen anderen. Aus Anlass einer großen Ausstellung im Münchner Haus der Kunst haben Okwui Enwezor und Markus Müller einen Katalog herausgebracht, der sich zugleich als kulturelle Spurensuche oder, wie der Untertitel es nennt, als “kulturelle Archäologie” zu ECM versteht.

In einem ersten Kapitel erzählt Okwui Enwezor, Kurator des Hauses der Kunst, über die Konzeption der Ausstellung und das grundsätzliche Problem, Musik im Museum zu präsentieren. Markus Müller ordnet ECM im zweiten Kapitel in den “Kontext unabhängiger Schallplattenfirmen und der Selbstbestimmung von Musikern in den 50er, 60er und 70er Jahren” ein und verweist dabei auf Debut Records, die AACM, FMP und andere Projekte jener Jahre.

Ein Gespräch der Herausgeber mit Manfred Eicher, Steve Lake und Karl Lippegaus erlaubt einen spannenden Blick hinter die Kulissen, erzählt, wie das anfangs kleine Labelprojekt größer und professioneller und die Musikwelt neben der Auswahl der Künstler auch auf die klangliche Qualität der ECM-Alben aufmerksam wurde. Eicher betont dabei, wie wichtig ihm immer war, neben dem Verkaufbaren auch Platten zu machen, “die nicht produziert wurden, um verkauft zu werden, sondern damit es sie überhaupt gab”.

Wolfgang Sandner sondiert die Wege, auf denen ECM sowohl Jazz- wie auch Tonträgergeschichte schreiben konnte. Diedrich Diederichsen greift sich Paul Bley und Annette Peacock heraus und beschreibt in einem sehr persönlichen Artikel das, was er die “Beckett-Linie” bei ECM nennt. Kodwo Eshun reflektiert über das ästhetische und dabei zugleich gesellschaftliche Selbstverständnis des Trios Codona. Jürg Stenzl schaut auf den Regisseur Jean-Luc Godard und auf Manfred Eicher als Mehrfachbegabungen. Steve Lake folgt mit einer Label-Chronologie von 1969 bis 2012. Schließlich beendet eine Diskographie aller ECM-Produktionen bis Drucklegung das Buch.

Neben den lesenswerten und aus unterschiedlicher Sicht auf ECM blickenden Essays sind natürlich auch die Fotos zu erwähnen, die dieses Buch, das schließlich als “Ausstellungskatalog” daherkommt, zugleich zu einem spannenden Blättererlebnis machen. Viele seltene Abbildungen der Musiker, des Produzenten, privat, auf Tour, im Studio, streichen dann vor allem noch eins heraus: die zutiefst menschliche Seite hinter dem Erfolg von ECM.

Wolfram Knauer (März 2013)


 

Eurojazzland. Jazz and European Sources, Dynamics, and Contexts
herausgegeben von Luca Cerchiari & Laurent Cugny & Franz Kerschbaumer
Boston 2012 (Northeastern University Press)
484 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-58465-864-1

2012eurojazzlandImmer noch fehlt eine zusammenfassende Geschichte des Jazz in Europa, ein Buch, das nationale Entwicklungen genauso skizziert wie Einflüsse zwischen Regionen, das stilistische Identitäten beschreibt und die Abgrenzungen und Annäherungen an den US-amerikanischen Jazz analysiert. “Eurojazzland”, das sei vorab schon angemerkt, ist nicht dieses lang ersehnte Buch. Stattdessen ist es eine Sammlung mehr oder weniger disparater Essays, die sich auf sehr unterschiedliche Art und Weise mit Beziehungen zwischen einem Kontinent (Europa) und einer Musik (dem Jazz) beschäftigen.

Die Herausgeber haben ihren Band in drei Teile strukturiert: einen ersten, der sich mit “Europa als der Quelle des Jazz” befasst, also jene Wurzelstränge des Jazz sucht, die in Europa liegen; einen zweiten, der “Jazz Meets Europe” überschrieben ist; sowie einen dritten Teil, der den etwas unklaren Titel “The Circulation of Eurojazzland” trägt und theoretischere Ansätze hinterfragt, ob von musikwissenschaftlicher oder musikkritischer Seite.

Im ersten Teil sucht Franz Kerschbaumer nach irischen und schottischen Wurzeln des Jazz und findet Swingrhythmen in europäischem Folk und verschiedenster Popmusik. Bruce Boyd Raeburn, Kurator des Jazzarchivs in New Orleans, ist dem “Spanish Tinge” auf der Spur und findet, dass etliche der Bezüge zwischen New Orleans und Lateinamerika noch der Erforschung harren. Martin Guerpin fragt nach dem Interesse europäischer Komponisten am Jazz und untersucht Claude Debussys “Golliwog’s Cakewalk”, Erik Saties “Ragtime du Paquebot” und Darius Milhauds “La Création du Monde”. Vincent Cotro fragt sich, ob es eine spezifisch französische Tradition des Umgangs mit Streichinstrumenten im Jazz gibt. Luca Cerchiary sucht nach europäischen Wurzeln im Standardrepertoire des Jazz. Arrigo Cappelletti schließlich befasst sich mit pan-europäischen Projekten aktueller Improvisatoren.

Im zweiten Teil beschreibt Rainer E. Lotz interkulturelle Verbindungen in der Vorgeschichte des Jazz in Europa. Catherine Tackley Parsonage nähert sich Benny Carters britischen Jahren 1936-1937 an. John Edward Hasse untersucht die Besuche Duke Ellingtons in Frankreich zwischen 1933 und 1973. Manfred Straka beschreibt die verschiedenen Ausformungen der Cool-Jazz-Rezeption in Europa. Davide Ielmini spricht mit dem Komponisten Giorgio Gaslini über die Unterschiede der Jazzkomposition in den USA und hierzulande. Alyn Shiption versucht eine Annäherung ans New-Orleans-Revival und beschreibt die Unterschiede dieser Bewegung in Großbritannien und Frankreich. Ekkehard Jost fragt, wohin die Emanzipation der europäischen Avantgarde in den 1960er und frühen 1970er Jahren wohl geführt haben mag.

Im dritten Teil fragt Laurent Cugny nach der Rolle Europas in der “Entdeckung” oder wenigstens der Popularisierung des Jazz. Jürgen Arndt fragt nach kulturellen Dialogen und Spannungen zwischen Europa und Amerika im Rahmen der politischen Umwälzungen der 1960er Jahre. Tony Whyton wirft einen Blick auf Themen europäischer Jazzforschung. Mike Heffley entdeckt beim Blick auf Europa-Emigranten Joseph Schillinger, Joe Zawinul, Karl Berger und Marian McPartland seine eigene Geschichte. Gianfranco Salvatore fragt nach elektronischen Instrumentenerfindungen des 20sten Jahrhunderts, die auch im Jazz ihren Niederhall fanden. Herbert Hellhund versucht schließlich eine Übersicht über die Entwicklungen eines zeitgenössischen europäischen Jazz der Postmoderne zu geben.

All das also sind Schlaglichter auf Themen europäischer Jazzgeschichte, und jedes der Kapitel verdient Weiterdenken und Weiterforschen. Einmal mehr macht das Buch dabei bewusst, dass es an einer ordentlichen Vernetzung der europäischen Jazzforschung immer noch mangelt und – noch mehr als alles andere, an einem – englischsprachigen – Buch, das europäische Jazzgeschichte als eigenständiges Narrativ in all ihren Verbindungen und Zwängen erzählt. Es bleibt also noch einiges zu tun an Grundlagenforschung zum europäischen Jazz. Genügend – sehr unterschiedliche – Ansätze gibt es offenbar, wie dieses Buch zeigt.

Wolfram Knauer (März 2013)


 

Sam Morgan’s Jazz Band. Complete Recorded Works in Transcription
(MUSA = Music of the United States, Volume 24)
herausgegeben von John J. Joyce Jr. & Bruce Boyd Raeburn & Anthony M. Cummings
Middleton/WI 2012 (A-R Editions)
260 Seiten, 260 US-Dollar
ISBN: 978-0-89579-724-7

2012morganHerausgeber Anthony Cummings stapelt hoch: Dieses Buch stelle nicht nur eine Gesamtausgabe dar, sondern sogar die erste wissenschaftliche Ausgabe des gesamten aufgenommenen Oeuvres eines Jazzmusikers. Nun hinterließ Sam Morgan nicht allzu viele Aufnahmen, so dass er sich sicher besser für eine solche Aufgabe anbietet als andere. King Oliver oder Jelly Roll Morton – von dem James Dapogney immerhin vor vielen Jahren eine nicht minder exzellente kritische Ausgabe herausbrachte – hätten viel zu viele Platten hinterlassen, als dass eine Gesamtausgabe möglich oder auch sinnvoll wäre. Der geringe Umfang des Repertoires allerdings war sicher nicht ausschlaggebend bei der Wahl Morgans; eher schon die unbestrittene Qualität der Aufnahmen, ihre Beispielhaftigkeit für einen frühen Jazzstil, wie er auch in New Orleans erklang. Anders als Oliver oder Morton nämlich wurden diese Platten in der Stadt am Mississippidelta selbst eingespielt, nicht also in Chicago oder Richmond oder wo immer sonst die meisten Dokumente des frühen Jazz entstanden.

In einem lesenswerten 20-seitigen Aufsatz erklärt Bruce Boyd Raeburn, der Leiter des Jazzarchivs an der Tulane University, was den frühen New-Orleans-Stil auszeichnet und welche Unterschiede es zu Beginn des 20sten Jahrhunderts in den musikalischen Konzepten früher Jazzmusiker gab. Vor allem beschreibt er die beiden konträren Pole von “hot” und “sweet”-Ansätzen, für die er exemplarisch die Bands von Sam Morgan und Armand Piron nennt. Er hinterfragt die Notenfestigkeit früher Jazzmusiker und diskutiert die Rolle von Hautfarbe, ethnischer Herkunft und Alter der Spieler. Schließlich beschreibt er die Arbeitsbedingungen der Band und die Umstände der Aufnahmen, um die es im Rest des Buchs geht.

John J. Joyce Jr. erklärt anschließend die Herangehensweise bei, also die technische Seite der Transkription. Die Ausgabe solle, so schreibt er, sowohl für Forscher als auch für Musiker nutzbar sein, daher habe man sich darauf geeinigt, so konventionell wie möglich zu notieren. Joyce nennt Schwierigkeiten, etwa das Auseinanderhalten der beiden Trompeter in den Aufnahmen. Auch die Notation des Schlagzeugparts sei eine besondere Herausforderung und das Banjo stellenweise kaum heraushörbar gewesen. Er benennt die Hilfsmittel, insbesondere Software, die den Transkribenden erlaubten, Klänge zu analysieren und in einzelne Linien zu strukturieren. Schließlich gibt er eine Legende der Notationsbeizeichen, die vor allem verschiedene Ansätze an einzelne Töne beschreiben.

Jeder einzelne der acht Transkriptionen – es sind dies: “Steppin’ on the Gas”, “Everybody’s Talking About Sammy”, “Mobile Stomp” und “Sing On”, aufgenommen am 14. April 1927, sowie “Short Dress Gal”, “Bogalusa Strut”, “Down By the Riverside” und “Over in the Gloryland”, aufgenommen am 22. Oktober 1927 – steht eine kurze formale Ablaufbeschreibung voran. Die Umschrift selbst dann nimmt je eine volle Seite ein mit Stimmlinien für Klarinette, zwei Saxophone, zwei Trompeten, Posaune, Bass, Banjo, Piano und Schlagzeug. Nach jeder Transkription gibt es einen kritischen Apparat mit Hinweisen auf transkriptorische Annäherungen und sonstige Besonderheiten, die im Notentext nicht näher bezeichnet werden konnten. Zum Schluss des Buchs findet sich dann noch eine Bibliographie über Sam Morgan mit Hinweisen auch auf Oral-History-Material und sonstige Quellen für eine eingehendere Weiter-Forschung an der Musik Sam Morgans.

Die MUSA-Reihe, eine Art Denkmälerausgabe zur amerikanischen Musik ist in ihrem stilübergreifenden Ansatz ein überaus wichtiges Projekt. Der Band zu Sam Morgan ist nach früheren Bänden mit Transkriptionen von Thomas ‘Fats’ Waller und Earl Hines der dritte dem Jazz gewidmete Band der Reihe. Er wird – sicher auch des stolzen Preises – vor allem in musikwissenschaftlichen Bibliotheken zu finden sein. Zugleich ist er beispielhaft dafür, wie eine kritische Ausgabe jazzmusikalischer Transkriptionen aussehen kann und stellt damit eine bedeutsame Ergänzung der Dokumentation der frühen Jazzgeschichte dar.

Wolfram Knauer (Februar 2013)


 

Jazz Puzzles, Volume 1
Von Dan Vernhettes & Bo Lindström
Saint Etienne 2012 (Jazz’edit)
240 Seiten, 40 Euro (+ 10 Euro Versandkosten)
ISBN: 9782953483116
www.jazzedit.org

2012vernhettesMit “Traveling Blues” hatten Dan Vernhettes und Bo Lindström 2009 eine beispielhafte Studie über den Trompeter Tommy Ladnier vorgelegt, der sie jetzt, in der Aufmachung nicht weniger opulent, ein Buch folgen lassen, in dem sie sich vierzehn frühe Musiker der Jazzgeschichte vornehmen, um ihre Biographien teilweise neu aufzurollen, teilweise auf den neuesten Stand zu bringen.

“Jazz Puzzles” heißt das Werk im LP-Format mit vielen sorgfältig reproduzierten Fotos und Dokumenten, für dass die beiden Autoren sich mit anderen Kennern des frühen New Orleans vernetzt und in Archiven insbesondere in und um New Orleans recherchiert haben. Sie beginnen mit der Geschichte des Bandleaders John Robichaux, dessen Biographie sie akribisch nachzeichnen, dabei neben den Lebens- auch die Spielorte und Arbeitsbedingungen erläutern und auf die Konkurrenz zu Buddy Bolden eingehen. Unter anderem beschreiben sie die Notensammlung der Band, die heute im Hogan Jazz Archive in New Orleans bewahrt wird. Wie einige andere der frühen Heroen der Musik in New Orleans nahm Robichaux, der bis in die 1930er Jahre hinein ein Society Orchester leitete, keine Schallplatten auf. Umso wertvoller daher die einfühlsamen Annäherungen aus biographischen Details an seine Musik.

In ihrem Kapitel über Buddy Bolden fassen Vernhettes und Lindström erst einmal die Literaturlage zusammen und gehen auch im Rest des Kapitels immer wieder auf widerstreitende Meinungen vorhergehender Autoren oder aber auf Mutmaßungen und Spekulationen ein, um diese mit Quellen zu verifizieren. Insbesondere fragen sie nach dem von Bolden gespielten Repertoire, nach den Bedürfnissen einer Tanzmusik in jener Zeit, nach dem karibischen Einfluss, nach Ragtime- und religiösen Elementen in seiner Musik sowie nach der Bedeutung des Blues für diese frühe Form des Jazz. Sie hinterfragen die Bedeutung des Wortes “ratty” in Bezug auf Boldens Spiel, befassen sich mit Papa Jack Laines Aussagen über den Jazz in New Orleans und dabei auch mit der kulturellen Durchlässigkeit zwischen Hautfarben und Ethnien. Sie untersuchen, wo Bolden tatsächlich spielte und beschreiben, wie sich seine allbekannten psychischen Probleme äußerten. Sie gehen der Legende eines verschollenen Buddy-Bolden-Zylinders nach und beschreiben die erhaltenen Bandfotografien. Schließlich gehen sie auf einige der direkt sich auf Bolden beziehenden Nachfahren des Kornettisten ein, die Eagle Band, Frankie Duson, Louis Knute, Edward Clem, John E. Pendleton und Albert Tig Chambers.

Ähnlich sorgfältig machen sich die Autoren auch auf die Spur weiterer Musiker, Manuel Perez etwa, der sich, wie sie schreiben, als Kreole nie ganz an das Hot-Jazz-Konzept der neuen Musik gewöhnt habe, oder Ernest Coucault, der in den 1920er Jahren als Trompeter der Sonny Clay Band in Kalifornien aufgenommen wurde und mit dieser Band 1928 auch nach Australien reiste. Sie gehen der Biographie King Olivers auf den Grund, bebildern das alles etwa mit einem Plakat, die einen Auftritt der Magnolia Band 1911 im Lincoln Park ankündigt, mit Einberufungsbefehlen für Honoré Dutrey und Peter Ciaccio, und folgen ihm erst nach Chicago, dann nach Kalifornien und zurück in die Windy City, wo sie sein Kapitel genau zu dem Zeitpunkt beenden, als Louis Armstrong zur Creole Jazz Band stößt. Der Trompeter Chris Kelly erhält ein eigenes Kapitel, dessen Spiel auch Armstrong beeinflusst habe, der aber genau wie andere seiner Zeitgenossen nie den Weg ins Plattenstudio fand. Freddie Keppard hatte zwar die Chance verspielt, die offiziell ersten Jazzaufnahmen zu machen, hinterließ aber immerhin bedeutende Einspielungen.

Andere Meister des frühen Jazz, die ausführlich beleuchtet werden, sind Lorenzo Tio Jr., Arnold Metoyer, Evan Thomas, Punch Miller, Buddy Petit, Sidney Bechet (in seinen ersten Jahren in New Orleans) und Kid Rena. Und nebenbei wird eingehend auch auf viele der Musiker eingehen, die irgendwann den Weg der Kapitelhelden kreuzten.

Dan Vernhettes und Bo Lindströms Buch bietet in jedem seiner Kapitel eine Unmenge an Details und kenntnisreichen Querverbindungen, die helfen, den frühen Jazz in New Orleans besser zu verstehen, die zugleich aber auch bewusst machen, wie komplex eine Beschreibung der Jazzgeschichte sein kann, nein, sein muss, um musikalische Einflüsse, Arbeitsbedingungen und ästhetische Entscheidungen zu erklären.

Die Puzzleteilchen, die Vernhettes und Lindström legen, haben klare Kanten und Konturen und erleichtern es uns andere Puzzlestückchen einzupassen. Die vielen Fotos, Dokumente und Karten lassen die Musikszene in New Orleans zwischen 1900 und 1920 erstaunlich klar auferstehen. Ein großartiges Buch, weiß Gott nicht nur für Freunde des traditionellen Jazz.

Wolfram Knauer (Februar 2013)


 

Brötzmann. Gespräche
Herausgegeben von Christoph J. Bauer
Berlin 2012 (Posth Verlag)
184 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-944298-00-9

2012bauerPeter Brötzmann ist nicht aufs Saxophon gefallen, auf dem er seit vielen Jahren sagt, was er zu sagen hat. Aber er ist auch nicht auf den Mund gefallen und macht auch hier kein Federlesens. Im Gespräch mit dem Philosophen und Publizisten Christoph J. Bauer ist jetzt ein ungemein offenes, lesenswertes und diskussionsmunteres Buch erschienen, das den simplen Titel “Brötzmann. Gespräche” trägt, aber genauso gut als Versuch einer Autobiographie gelten könnte, die von Erinnerungen über Meinungen und Haltungen und zurück zu Erinnerungen führt, von ästhetischer Einordnung über Reflexionen zum Leben und Überleben als Musiker bis hin zu sehr Privatem. Das alles hat Bauer so niedergeschrieben, wie es im Gespräch erklang, als O-Ton Brötzmann, einzig gegliedert durch knappe Zwischenüberschriften, die dem Leser das Blättern erleichtern, ihn zum Querlesen einladen, welches immer wieder im Sich-Festlesen mündet.

Im Vorwort erklärt Bauer sein eigenes Interesse an Brötzmann, seiner Musik und dem Gespräch mit dem Saxophonisten. Die Idee zu dem Buch sei ihm nach der Lektüre eines Artikels in der Süddeutschen Zeitung gekommen, in dem Brötzmann zitiert wurde, er würde sein Tentet “über die musikalischen Belange hinaus auch als ein Beispiel gesellschaftlichen Zusammenlebens” verstehen. Das machte Bauer nun doppelt neugierig, und so näherte er sich in vier in Brötzmanns Wohnung geführten Gesprächen dessen Vorstellung von Musik, Gesellschaft, Ästhetik und vielem anderen.

Im Gespräch mauert Brötzmann nirgends, spricht über den Jazz als ursprünglich schwarze Musik und die Bedeutung von schwarz und weiß im heutigen amerikanischen Jazz. Er äußert sich zum Kommunismus, zum Sozialismus, zu den Zuständen in der DDR, zu politischem Bewusstsein und politischer Verantwortung der Musiker im Tentet, zu kulturellen Unterschiede etwa in Japan, zum Hören ganz allgemein, zu seiner Liebe zu Coleman Hawkins, Sonny Rollins, Don Byas und dem Blues oder zur Idee und der Realität des Free Jazz. Er reflektiert darüber, inwieweit Musik etwas mit Geschichtenerzählen zu tun habe und erinnert sich daran, wie seine Musik durchaus als Provokation aufgefasst wurde. Er erzählt von seinen Tourneen durch die USA und davon, wie schwierig das alles schon rein visa-organisatorisch sei. Er spricht über das Publikum, über Aufnahmetechnik, über Konkurrenz auf der Bühne und über Respekt – anderen Musikern genauso wie anderen Kulturen gegenüber. Fluxus ist ein Thema – Brötzmann hatte einst als Assistent für Nam June Paik gearbeitet –, und von da aus geht das Gespräch schnell zur eigenen Bildenden Kunst Brötzmanns und deren Zusammenhang mit der Musik. Die beiden sprechen über die Unterscheidung zwischen “U” und “E”, übers Globe Unity Orchestra und Krautrock, über Joachim Ernst Berendt, das Berliner Jazzfest und das Total Music Meeting als Gegenveranstaltung. Brötzmann äußert sich auch offen zu Alkohol und Drogen und ihren teilweise fatalen Auswirkungen, zu seiner eigenen Auseinandersetzung mit europäischen Philosophen, zum Thema der Sexualität, das insbesondere in seinen Bildern eine große Rolle spielt.

Das alles fasst Bauer schließlich in einem abschließenden vierzehnseitigen Essay zusammen, der versucht, die “soziale Struktur einer Gemeinschaft von Improvisatoren” zu ergründen. “Brötzmann. Gespräche” ist ungemein lesenswert, abwechslungsreich, informativ und intensiv – ein wenig wie Brötzmann selbst, möchte man meinen und doch wieder weit abgeklärter als seine Musik, deren Intensität ja vor allem in ihrer Direktheit entsteht, die ihrerseits im nachdenklichen Hinterfragen, wie es in diesem Buch deutlich wird, eine fast schon dialektische Untermauerung erfährt.

Wolfram Knauer (Dezember 2012)


 

Jazz Covers
herausgegeben von Joaquim Paulo & Julius Wiedemann
Köln 2012 (Taschen)
2 Bände, Hardcover im Schuber, 600 Seiten, 39,99 Euro
ISBN: 978-3-8365-2406-3

2012pauloAls Musik des 20sten Jahrhunderts haben den Jazz die Entwürfe seiner Plattencover immer mit begleitet. Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe an Büchern über die Kunst der Plattengestaltung, darunter den großartigen Katalog einer Ausstellung in Valencia, die 1999 die Entstehung des Jazz-Plattencovers verfolgte und mit vielen Ausstellungsstücken aus dem Fundus des Jazzinstituts bestückt war.

Nun haben Joaquim Paulo und Julius Wiedemann eine quasi lexikalische Sammlung wichtiger Plattencover herausgegeben, die diesmal nicht nach Künstlern oder Plattenlabels, sondern nach den Künstlern des Jazz sortiert ist. Das schwere, zweibändige, in einem dicken Pappschuber gelieferte Opus ist im LP-Format gehalten. Etliche der Abbildungen nehmen die ganze Seite ein, viele andere sind kleiner gehalten und haben kurze Beschreibungen entweder zu den Musikern der dargestellten Alben oder zu den Grafikern, die das Cover entworfen hatten. Diese Sortierung sorgt vor allem für Vielfalt und Überraschungsmomente, wenn beispielsweise Platten aus den 1950ern solchen aus den 1970ern gegenüberstehen. Das ist in etwa auch die Zeitspanne, die “Jazz Covers” umfasst, vielleicht nicht ganz zu Unrecht, obwohl man sich schon fragen mag, warum nicht zumindest die 1980er Jahre noch mit berücksichtigt wurden, wo doch der große Einschnitt auch in die Gestaltung von Tonträgern erst Ende der 1980er mit dem Aufkommen der CD geschah.

Interviews mit dem Designer Bob Ciano, den Produzenten Michael Cuscuna und Creed Taylor, dem Kritiker und Fotografen Ashley Kahn und dem Plattenladenbesitzer Fred Cohen führen jeweils in die beiden Bände ein, die ansonsten vor allem zum Blättern einladen, zum Entdecken und – sofern die Aufnahmen vorhanden sind – zum Wiederhören.

Wolfram Knauer (Dezember 2012)


 

Pepper Adams’ Joy Road. An Annotated Discography
von Gary Carner
Lanham/MD 2012 (Scarecrow Press)
553 Seiten, 44,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8256-0

2012carnerMusikwissenschaftlern wie Jazzforschern erkläre ich gelegentlich, Diskographien im Jazz würden meist von Privatforschern in ihrer Freizeit erstellt, seien aber tatsächlich in etwa den Werkverzeichnissen der klassischen Musik vergleichbar, mit denen Musikwissenschaftler sich schon mal einen Doktorgrad verdienen.

Ein wenig hinkt dieser Vergleich, denn anders als musikwissenschaftliche Werkverzeichnisse untersuchen Diskographien selten die Musik selbst, beschäftigen sich stattdessen in der Hauptsache mit der Verbreitung musikalischer Produkte, der Schallplatten also, veröffentlichter und nicht veröffentlichter Aufnahmen. Das kann für den “Leser” herkömmlicher Diskographien recht langweilig sein, da vieles an Information hinter den Listen versteckt ist, den Besetzungslisten, den Aufnahmedaten, den Informationen über Studio, Ort, vielleicht sogar Tageszeit, über Originalveröffentlichung, Zahl der Takes, Wiederveröffentlichung auf unterschiedlichsten Medien.

In den letzten Jahren sind einige beispielhafte Diskographien erschienen, in denen die ureigene Aufgabe der Diskographie, also das Auflisten von Aufnahmen, durch zusätzliche Information erweitert wurde, die teils biographischer Natur sind, teils auf Details der Musik eingehen. Gary Carners dickes Opus über den Baritonsaxophonisten Pepper Adams gehört zu dieser neuen Spezies von Diskographien, die weit mehr liefern als nur Daten und Fakten. Garner arbeite in den Mitt-1980er Jahren mit Adams an seiner Autobiographie, interviewte dann nach Adams Tod im Jahr 1986 viele der Kollegen, die mit dem Baritonsaxophonisten gespielt hatten oder im Studio zusammengetroffen waren. Mit Hilfe vieler diskographischer Freunde entdeckte er zudem etliche unveröffentlichte Aufnahmen.

Sein Buch beginnt im September 1947 mit einer unveröffentlichten Demo-Aufnahme aus Detroit, an der neben Pepper Adams auch der Pianist Tommy Flanagan beteiligt war; es endet im Juli 1986, nur drei Monate vor dem Tod des Musikers mit einem Rundfunkmitschnitt vom Montréal Jazz Festival. Dazwischen finden sich Hunderte Aufnahmen, bekannte genauso wie unbekannte, eingespielt im Studio oder mitgeschnitten bei Konzerten oder Festivals. In einem kurzen Anhang nennt Carner gerade mal vier Sessions, von denen er weiß, die er aber nie gehört hat bzw. die offenbar nirgends mehr existieren.

Ansonsten ist das Buch eine reiche Fundstelle für Details. Carner unterhielt sich mit vielen der an den Einspielungen beteiligten Musiker über die Atmosphäre im Studio, über Schwierigkeiten, über gelungene genauso wie misslungene Aufnahmen. Die Texte sind den entsprechenden Einträgen zugeordnet, was eher zum Blättern einlädt als dass es zur Lektüre in einem Stück ermutigt. Carners Einleitungen der O-Töne mögen auf Dauer etwas eintönig daherkommen: “xxx told the author”, “in an interview with the author”, “according to xxx in a letter to the author” etc., ein bis zweimal auf jeder Seite. Hier wären Fußnoten sicher die lesbarere Alternative gewesen.

Doch ist Carners Werk auch kein Lesebuch im üblichen Sinne. Es ist eine annotierte Diskographie und als solche ganz gewiss beispielhaft dafür, was diese Wissenschaft über das bloße Kartieren von Aufnahmedaten hinaus sonst noch vermag. Der nächste Schritt wäre die Verquickung dieses Ansatzes mit zumindest in Teilen analytischen Kommentaren zur Musik. Aber auch so ist Carners “Pepper Adams’ Joy Road” bereits jetzt das Standardwerk zum Baritonsaxophonisten Pepper Adams.

Wolfram Knauer (November 2012)


 

The Jazz Standards. A Guide to the Repertoire
Von Ted Gioia
New York 2012 (Oxford University Press)
5237 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-993739-4

2012gioiaHans-Jürgen Schaal hat Ted Gioias Buch über die Jazz-Standards eigentlich schon geschrieben, aber deutsche Literatur wird in englischsprachigen Ländern leider immer noch kaum berücksichtigt. Titel und Ansatz beider Bücher jedenfalls sind ähnlich, und wo Schaals Buch von 2001 320 Jazz-Standards listet, sind es bei Gioia “nur” etwa 250 Kompositionen.

Dabei überschneiden sich die beiden Autoren keinesfalls; ihre Auswahl ist in Einzelheiten durchaus unterschiedlich. Schauen wir uns nur den Buchstaben “P” in beiden Büchern an: Schaal beginnt mit “Pannonica”, “Paradise Stomp”, “Parker’s Mood”, “Passion Flower”, die alle bei Gioia nicht vorkommen, der stattdessen mit “Peace” und “The Peacocks” beginnt, die wiederum Schaal nicht listet.

Wie Schaal widmet sich auch Gioia in seinen einzelnen Kapiteln jeweils kurz der Kompositions-Genese, um dann einen Blick auf die interessantesten Jazz-Interpretationen zu werfen. Am Schluss eines jeden Eintrags steht eine kurze Auflistung wichtiger Aufnahmen, ohne Hinweise allerdings auf aktuelle Plattenveröffentlichungen – das Buch ist für die Zukunft gedacht, und die Wiederveröffentlichungen insbesondere etlicher der älteren Aufnahmen sind einfach zu unübersichtlich, um eine einzelne herauszugreifen. Man findet die großen Aufnahmen aber auch schon mal solche, die man nicht erwartet, etwa, wenn Gioia unter “Struttin’ With Some Barbecue” eine Einspielung Paul Desmonds listet, der den Armstrong-Klassiker 1968 als “Samba With Some Barbeue” aufgenommen hatte. Neben den üblichen Plattenverweisen findet sich dabei ab und an auch ein Hinweis auf jüngere YouTube-Interpretationen. Gioia begründet seine Auswahl an Aufnahmen, dennoch mag jeder Leser seine eigenen Präferenzen wiederfinden oder auch vermissen, anders geht es nun mal nicht in solchen Nachschlagewerken.

Gioia widmet sich den großen Standards, Stücken von George Gershwin, Cole Porter, Irving Berlin, genauso wie den von Jazzmusikern geschriebenen Favoriten, Titeln von Duke Ellington, Charlie Parker, Thelonious Monk. Europäische Nummern finden sich außer Toots Thielemans “Bluesette” und Django Reinhardts “Nuages” keine, und auch in den Hinweisen auf Platten sind kaum europäische Interpretationen zu finden. Die Erläuterungen zu den Titeln klären schon mal Legenden auf – etwa um die Urheberschaft von “Blue in Green” oder um das tatsächliche Geburtsjahr von Eubie Blake. Ab und an bietet Gioia auch persönliche Anekdoten, etwa, dass er “Stella By Starlight” in seinen 20ern so lange toll fand, bis er herausfand, dass seine Mutter den Text kannte (und er hatte gar nicht gewusst, dass das Stück einen Text besaß), worauf er sich nach einem Stück umsah, dass seine Mutter nicht mögen würde.

Gioias Einleitung zum Buch ist kurz und vergibt die Chance auf eine in solch einem Buch durchaus wünschenswerte Diskussion, was (1.) einen Jazz-Standard überhaupt ausmacht und wie sich die Repertoirewahl in den letzten Jahrzehnten verändert hat (und warum). Er erklärt, dass er Stücke ausgelassen hat, die in älteren Stilen zu den Standards zählen mögen, aber heute kaum mehr zu hören sind, und dass ihm Titel von Radiohead, Björk, Pat Metheny, Maria Schneider und anderen nicht stark genug im Umlauf schienen, um sie aufzunehmen. Und wer entgegnet, mit “Time After Time” fände sich immerhin Cyndi Laupers Stück im Buch, der irrt: Es handelt sich auch hier um ein älteres Stück von Jule Styne, das Sarah Vaughan 1946 zum ersten Mal mit Teddy Wilson eingespielt hat.

Im Vergleich der beiden Bücher – Schaal / Gioia – geben die beiden Autoren sich nichts; ihre Ansätze sind dafür zu ähnlich. Für Hörer, die ein wenig mehr über das Repertoire wissen wollen, das den Jazz beherrscht, sind beide Bücher eine empfehlenswerte Lektüre. Gioias “Jazz Standards” überzeugt insbesondere in der Lockerheit des Stils, der den Leser ermutigt, zu blättern, einzelne Stücke herauszugreifen, weiterzulesen, zu entdecken – und dann vielleicht gespannt an den eigenen Plattenschrank zu gehen, um die Musik zu hören.

Wolfram Knauer (November 2012)


 

Shall We Play That One Together. The Life and Art of Jazz Piano Legend Marian McPartland
Von Paul de Barros
New York 2012 (St. Martin’s Press)
484 Seiten, 35 US-Dollar
ISBN: 978-0-312-55803-1

2012debarrosMarian McPartland hat viele Karrieren: als Pianistin, als Rundfunkmoderatoren, als Beispiel für viele Frauen, die im Jazz nicht nur als Sängerinnen, sondern als Instrumentalistinnen ernst genommen werden wollten. Für ihre erfolgreiche Radioshow “Piano Jazz”, die seit 1978 auf National Public Radio läuft, gelang es ihr, mit dem Charme einer Frau, der Exotik einer amerikanisierten Britin, die ihren Akzent und ihre fast fan-hafte Bewunderung für die Jazzmusiker immer beibehalten hatte, und dem musikalischen Handwerkszeug, das allen Kollegen imponierte, ihren Hörern ein Fenster in die Werkstatt des Jazz zu öffnen, das bis heute beispiellos ist in der Offenheit, mit der die Gäste über stilistische Entscheidungen oder harmonische Progressionen redeten, als sei es eben doch nur ein professioneller Plausch zwischen zwei Kollegen.

Marian McPartland hat selbst über viele Jahre journalistisch gearbeitet, Kollegen interviewt, über Begegnungen und Konzerte berichtet. Nun hat Paul de Barros ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben, von den Kindheitstagen nahe Windsor Castle, ihre früh erkannte Musikalität – sie besitzt das absolute Gehör – und ihre erste Liebe zum Jazz, als sie in der Schule Aufnahmen von Bud Freeman, Muggsy Spanier, Sidney Bechet, dem Benny Goodman Trio und Duke Ellington hörte. Mit 17 bewarb sie sich an der Guildham School of Music and Drama in London und wurde angenommen. Bald nahm sie außerdem Stunden bei Billy Mayerl, der sie einlud, mit ihm auf Tournee zu gehen in einer Show mit vier Klaviervirtuosen. Sie genoss die Bühne und das Reisen und entschied sich, das Konservatorium ohne Abschluss zu verlassen. Sie machte sich einen Namen in England, dann aber kam der Krieg, und 1944 entschied sich Marian, als Musikerin an Tourneen der Truppenbetreuung teilzunehmen.

In den Ardennen traf sie den Kornettisten Jimmy McPartland, der in ähnlicher Mission zur Unterhaltung der amerikanischen Truppen unterwegs war. Die beiden heirateten, ein “odd couple”, wie Roy Eldridge sie später beschrieb, die “gute Tochter” aus England und der dem Alkohol zugeneigte Unterschichten-Trompeter aus Chicago. Sie reisten durch Europa, Garmisch, Paris, ein Nachmittag bei den Nürnberger Prozessen, wo sie Hermann Göring gegenübersaß, dann kehrten die beiden im April 1946 zurück – d.h. Marian zum ersten Mal – in die USA.

Paul de Barros unterbricht seine Biographie der Pianistin an dieser Stelle mit einem Exkurs, in dem er Herkunft und Karriere ihres Mannes erzählt, dessen Ruf ihr erheblich dabei behilflich war in New York musikalisch Fuß zu fassen. Die McPartlands lebten in New York und in Chicago, und de Barros erzählt von all den Schwierigkeiten, die die Ehe aushalten musste, meistens wegen Jimmys Alkoholsucht. Marian spielte in seiner Band, daneben aber ging sie jeden Abend aus, um andere Musiker zu hören. 1950 zogen sie zurück nach New York. 1951 nahm Marian ihre ersten Aufnahmen unter eigenem Namen auf, wenig später erhielt sie einen Gig im Embers Club, zu dem durch seltsamste Zufälle keine Geringeren als Roy Eldridge und Coleman Hawkins als “Sidemen” engagiert wurden. Die Presse wurde auf sie aufmerksam, und Marian McPartland zählte bald zu den wenigen Frauen, die als Instrumentalistinnen im Jazz ernst genommen wurden. Später wechselte sie ins Hickory House, wo die halbe New Yorker Jazzwelt regelmäßig vorbeischaute und sich ihrer bewusst wurde. Die Pianistin weiß viele Anekdoten aus diesem Engagement zu erzählen, und de Barros ergänzt diese um Informationen zum Familienleben der McPartlands, die neben einer Wohnung auf der 79sten Straße in Manhattan bald auch ein Häuschen in Long Island besaßen.

Marian erzählt offen von ihrer Beziehung zu Joe Morello, der sich scheiden ließ und sie aufforderte dasselbe zu tun und ihn zu heiraten. Das Jazzgeschäft ging in den 1960er Jahren zurück, und McPartlands neue Tätigkeit als Journalistin für Down Beat war in vielerlei Hinsicht eine Hilfe. Sie war unglücklich, ging regelmäßig zu einem Psychoanalytiker und ließ sich schließlich Ende 1967 von Jimmy scheiden. 1968 gründete sie das Label Halcyon Records, auf dem vor allem Pianisten dokumentiert werden sollten. Sie freundete sich mit dem Komponisten Alec Wilder an, dessen Stücke zu einem wichtigen Teil ihres Repertoires wurden. 1971 folgte sie Mary Lou Williams ins Cookery in Greenwich Village, spielte außerdem im Café Carlyle und ging seit Mitte der 1970er Jahre auch wieder vermehrt auf Tournee.

1978 produzierte Marian McPartland ihre erste “Piano Jazz”-Show mit der von ihr bewunderten Kollegin Mary Lou Williams. Die Geschichten insbesondere über die etwas schwierigeren der Gäste sind höchst amüsant zu lesen und machen einen neugierig diese Shows noch einmal zu hören. Anfang der 1980er Jahre zog sie wieder mit Jimmy McPartland zusammen, der Anfang 1991 starb. McPartland wurden mit zunehmendem Alter und wachsender Gebrechlichkeit ein wenig schwieriger für ihre Umwelt, beschwerte sich über dies und das, wurde ungeduldig, unfair zu denen, die sie umsorgten. Aber sie machte weiter ihre gefeierte Radio-Show, lud immer mehr junge Gäste ein, Kollegen wie Marilyn Crispell oder Brad Mehldau, selbst Elvis Costello. Am 6. Juni 2010 wurde Marian McPartland zum Officer of the Most Excellent Order of the British Empire (OBE) ernannt.

Paul de Baros’ Buch ist eine “labor of love”, zugleich ein ungemein offenes Buch über eine großartige Musikerin, eine Wanderin zwischen den Welten, die viel vom Jazz erhielt und viel zurückgab über all die Jahre. Ein dickes Buch, eine ungemein vergnügliche Lektüre, absolut empfehlenswert.

Wolfram Knauer (November 2012)


Storia del Jazz. Una prospettiva globale
Von Stefano Zenno
Viterbo 2012 (Stampa Alternativa)
602 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978-88-6222-184-9

2012zenniNoch eine Jazzgeschichte, mag man denken, aber jede Generation sollte ihre eigene Sicht auf die Geschichte dieser Musik werfen, denn sowohl das Geschichtsbewusstsein wie auch das Wissen um Einflüsse und Wirkungsstränge der Historie ändern sich. Stefano Zenni also hat eine neue 600seitige Jazzgeschichte in italienischer Sprache geschrieben, aus Sicht eines Musikwissenschaftlers mehr als eines Historikers, mit Blick auf musikalische Entwicklungen mehr als auf Anekdoten.

Zenni verspricht zudem eine globale Perspektive, und es ist an dieser Stelle, an der sein Buch seinem eigenen Anspruch nicht ganz gerecht wird. Europa wird immer mal wieder erwähnt, aber die Diskussion um die Wertigkeit einer europäische Sichtweise auf den Jazz, die insbesondere in den letzten Jahren wieder zunahm, spiegelt sich in seinem Buch höchstens am Rande. Ansonsten ist die “Storia del Jazz” vor allem eine Fleißarbeit, dekliniert die Jazzgeschichte durch alle erdenklichen Aspekte, erwähnt Höhepunkte und Einflussstränge, wichtige Aufnahmen und ästhetische Bewegungen. Am sinnfälligsten ist Zennis neue Sicht auf die Jazzgeschichte dort, wo er Kapitelpaarungen vornimmt, die anderen so vielleicht nicht gleich in den Sinn gekommen wären: Bunny Berigan und Roy Eldridge etwa, Mildred Bailey und Billie Holiday, Fats Waller und Nat King Cole oder besonders Eric Dolphy und Bill Evans. Hier animiert er den Leser zum Nachdenken um Gemeinsamkeiten oder zumindest gemeinsame Auslöser für stilistische Entscheidungen und Entwicklungen.

Typographisch hätte man dem Buch eine bessere Absatzgliederung gewünscht; mit der Entscheidung alle Absätze ohne Einschub zu drucken wirken die Seiten über lange Strecken wie Bleiwüsten, durch die man sich kämpfen muss. Aber dann ist dies Buch sicher vor allem als Referenz etwa für Studierende gedacht oder als Nachschlagewerk für Fans. Dem entspricht eine sorgfältige Indizierung im Namens und Titelregister, die das Buch schnell erschließbar machen.

Wolfram Knauer (November 2012)


 

Born to Play. The Ruby Braff Discography and Directory of Performances
Von Thomas P. Hustad
Lanham/MD 2012 (Scarecrow Press)
683 Seiten, 59,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8264-5

A cumulative update with additions and corrections can be requested by the author himself: hustad@indiana.edu:

2012hustadRuby Braff zählt zu den bedeutendsten Individualisten des Mainstream-Stils, der in den 1950er Jahren eine Art Amalgam aus swingendem Dixieland und antreibendem Swing präsentierte. Braff war vielleicht der größte Kammermusiker dieses Stilsegments, der in Dixielandensembles genauso mithielt wie in intimen Duobesetzungen etwa mit Ellis Larkins oder Dick Hyman. Thomas R. Hustad hatte noch zu Lebzeiten des 2003 verstorbenen Kornettisten mit der nun vorliegenden Diskographie begonnen und Braff die ersten Kapitel zeigen können. Der sei angetan davon gewesen, dass das Buch sich nicht wie eine Biographie um sein Leben, sondern ausschließlich um seine Musik drehen würde, berichtet Hustad im Vorwort seines fast 700 Seiten starken Werks, das tatsächlich weit mehr ist als eine reine Diskographie, neben den Daten und Titeln des Braffschen Aufnahmeschaffen nämlich auch alle Engagements verzeichnet, die Hustad dokumentieren konnte und zusätzlich aus Artikeln und Kritiken zitiert. So entsteht zwischen den trockenen Besetzungs- und Repertoirelisten das Bild eines umtriebigen, ungemein aktiven Musikers, der mit Swinggrößen genauso zusammenspielte wie er sich mit Musikern anderer Stile maß oder auch mal mit dem klassischen Beaux Arts String Quartet musizierte.

Hustad beschreibt Braffs Bewunderung für Louis Armstrong genauso wie seine lebenslange Freundschaft zu anderen in Boston Geborenen wie dem Pianisten und Festivalmacher George Wein oder dem Kritiker Nat Hentoff. Seine ersten Nachweise für einen Braff-Auftritt stammen aus dem Jahr 1944, als der Kornettist gerade mal 17 Jahre alt war. Nur drei Jahre später immerhin stand er bereits mit Jazzgrößen wie Bud Freeman oder Hot Lips Page auf der Bühne. 1949 spielte er in der Band des Klarinettisten Edmond Hall und trat 1950 erstmals auch als Bandleader in Erscheinung. 1952 hörte ihn der Impresario John Hammond bei einem Festival an der Brandeis University und engagierte ihn für einige von ihm produzierte Mainstream-Aufnahmen für das Label Vanguard, die Braff auch nationale Aufmerksamkeit bescherten. Mitte der 1950er Jahre spielte Braff mit Jack Teagarden und Benny Goodman, nahm außerdem seine Duo-Platte mit dem Pianisten Ellis Larkins auf. Er trat auf großen Jazzfestivals auf und war auch im Fernsehen zu hören. Ab Mitte der 1960er Jahre tourte er regelmäßig durch Europa und baute sich insbesondere in Großbritannien eine große Fangemeinde auf. Er war Kornettist der ersten Wahl für George Weins Newport Jazz Festival All Stars und damit auch bei den vielen Festivals mit dabei, die Wein in den 1960er und 1970er Jahren in den USA und Europa etablierte. Wie Harry Edison der meist-gefeaturete Trompeter in Aufnahmen Frank Sinatras war, so wirkte Braff bei vielen Aufnahmen Tony Bennetts in der ersten Hälfte der 1970er Jahre mit. Er nahm Platten für die Labels Concord und Chiaroscuro auf, arbeitete mehr und mehr in Projekten des Pianisten Dick Hyman und gründete ein kurzlebiges, aber sehr erfolgreiches Quartett zusammen mit dem Gitarristen George Barnes. In den 1970er und frühen 1980er Jahren war Braff regelmäßiger Gast der Grand Parade du Jazz in Nizza, und Hustad listet all die unterschiedlichen Besetzungen, in denen der Kornettist dabei zu hören war. Auch in den 1980er Jahren gehörte Braff zu den aktivsten Musikern bei sogenannten Jazz Parties, also Festivals, die auf dem Prinzip der Jam Session basierten. 1993 nahm er seine erste Platte für das Label Arbors auf, dem er bis zu seinem Tod treu blieb.

Die Anlage des Buchs als Diskographie und chronologische Auftrittslistung macht die durchgehende Lektüre etwas schwierig; dafür aber macht das Blättern in dem Buch umso mehr Spaß, bei dem man viele nebensächliche Details verzeichnet findet, die zum einen den Alltag eines arbeitenden Musikers, zum anderen aber auch die Persönlichkeit Braffs beleuchten, der klare Vorstellungen davon hatte, unter welchen Umständen er auftrat. “Egal wo ich spiele – ich suche die Musiker aus. Ich wähle die Stücke aus. Niemand sonst. Ich begleite niemanden!” – so in einer Absage an das Angebot, für eine recht kleine Gage in einer Fernsehshow zu Ehren des Impresarios John Hammond neben Benny Goodman, George Benson, Benny Carter, Teddy Wilson, Red Norvo, Milt Hinton, Jo Jones und anderen aufzutreten. Diese Erklärung schloss er übrigens mit den Worten: “Ich habe kein Interesse an Eurer gottverdammten Show. Gibt’s sonst noch irgendwelche Fragen?”

Wolfram Knauer (November 2012)


 

Always in Trouble. An Oral History of ESP-Disk, the Most Outrageous Record Label in America
von Jason Weiss
Middletown/CT 2012 (Wesleyan University Press)
291 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8195-7159-5

2012weissZwischen 1964 und 1974 war das von Bernard Stollman gegründete Plattenlabel ESP-Disk’ vielleicht eines der einflussreichsten Labels des Avantgarde-Jazz. Neben Free-Jazz-Heroen wie Albert Ayler, Pharoah Sanders, Sun Ra brachte Stollman dabei auch Platten von Folk-Rock-Bands wie The Fugs oder Pearls Before Swine heraus. In seinem neuen Buch erzählt Jason Weiss die Geschichte des Labels, beispielhaft für die Biographie einer unabhängigen Plattenfirma im Amerika der Bürgerrechtsbewegung.

Stollman war ein aufstrebender Rechtsanwalt, der in den späten 1950er Jahren in der Esperanto-Bewegung aktiv war, die eine universelle Sprache befürwortete. Anfang der 160er Jahre hörte er die Musiker der sogenannten October Revolution in Jazz und nahm bald etliche der Künstler auf, die in dieser künstlerischen Bewegung mitmischten. In den zehn Jahren des Bestehens des Labels brachte er auf ESP-Disk’ 125 Platten heraus, die zwar von der Kritik hoch gelobt wurden, aber kaum Geld einbrachten. Eigentlich war das Label bereits nach vier Jahren pleite, aber Stollman hing an der Idee. Nachdem das Label endgültig abgewickelt war, nahm Stollman einen Rechtsanwalts-Job für die Regierung an. ESP führte ein seltsames Schattenleben, da die legendären Aufnahmen in Europa und Japan als Bootlegs auf dem Markt präsent gehalten wurden. Zehn Jahre nach seiner Pensionierung belebte Stollman das Label 2005 wieder und managt seither sowohl Wiederveröffentlichungen wie auch Neuproduktionen aus seinem Büro in einem ehemaligen Waschsalon im Viertel Bedford Stuyvesant von Brooklyn. Neben der Arbeit mit dem originären ESP-Material widmet sich Stollman dabei auch der Vertretung der musikalischen Nachlässe von Eric Dolphy, Bud Powell, Art Tatum, Sun Ra, Albert Ayler und einigen anderen, betreut dabei auch Wiederveröffentlichungen oft ursprünglich schwarz mitgeschnittener Konzertaufnahmen dieser Künstler.

All dies erfährt man im knappen Vorwort, in dem Weiss die Hintergründe des Labels zusammenfasst. Ansonsten lässt er die Macher reden. Den größten Teil des Buchs nimmt dabei Stollmans Erinnerung ein, der über seine eigene Herkunft aus einem jüdischen Elternhaus berichtet, über Militärdienst, Studium und erste Jazzkontakte. Stollman erzählt über die Idee zum Plattenlabel, den Kontakt zu und die Verträge mit Künstlern, über seine Naivität in geschäftlichen Dingen. In einem anderen Kapitel erklärt Stollman spätere Lizenzausgaben von ESP-Platten und beschreibt die Deals, die er mit den Lizenznehmern gemacht habe. Er erinnert sich an legendäre Sessions etwa mit Albert Ayler, Giuseppi Logan, Sun Ra, Frank Wright oder Yma Sumac. Er erzählt außerdem davon, wie er einmal Barbra Streisand zum Essen ausführte, die die Einladung nur annahm, weil sie dachte, er sei ihr Freund, der zufällig genau wie er hieß, über Begegnungen mit Jimi Hendrix, Yoko Ono und John Lennon, Janis Joplin sowie Emmylou Harris.

Der zweite Teil des Buchs stellt Stollmans Erinnerungen Interviews mit fast 40 Künstlern gegenüber, die über ihre Zusammenarbeit mit ihm und über ihre ESP-Platten berichten. Gunter Hampel etwa erzählt, dass Stollman ihn nie bezahlt habe, und er sich auch deshalb entschieden habe, sein eigenes Plattenlabel zu gründen. Auch andere Künstler klagten (wie so oft in dieser Industrie) über nicht eingehaltene finanzielle Zusagen, Milford Graves aber erklärt auch: “Wer sonst hätte uns damals aufgenommen?”

Jason Weiss’ Buch klammert also kein Thema aus und lässt die unterschiedlichen Sichtweisen der Partner bei den Plattenprojekten nebeneinander stehen. So ergibt sich in seinem lesenswerten Buch ein überaus stimmungsvolles Bild eines Labels, das eine der interessantesten amerikanischen Szenen der 1960er Jahre dokumentiert.

Wolfram Knauer (Oktober 2012)


 

Freie Hand
Roman, von Rainer Wieczorek
Berlin 2012 (Dittrich Verlag)
ISBN: 978-3-937717-83-8

2012wieczorekRainer Wieczoreks Romane haben immer wieder Subplots aus dem Jazz. Wieczorek ist selbst Posaunist und hat über viele Jahre regelmäßig Jazzkonzerte organisiert. Sein neuester Roman ist von den bisherigen Büchern vielleicht der jazzhaltigste, auch deshalb, weil viele eigene Erinnerungen in das Buch über die Mühen kultureller Arbeit einflossen. Das Buch handelt von zwei ambitionierten Literaturliebhabern, einen Ort aufzubauen, der irgendwo zwischen Literatur- und Jazzclub angesiedelt ist und der Kulturszene ihrer Stadt neue Facetten beimischen soll.

Sie bemühen sich um kommunale wie private Unterstützung, finden einen passenden Ort und sichern ihr Projekt auch finanziell erfolgreich ab. Ihr Club eröffnet und wird schnell zu einem angesagten kulturellen Treffpunkt. Sie etablieren eine Sachbuchreihe, eine weitere, die Hörspiele in den Mittelpunkt stellt, sowie eine mit Klassikern der Nachkriegsmoderne, die sie mit Musik kombinieren. Der Saxophonist Heinz Sauer wird zusammen mit dem Pianisten Bob Degen für einen Billie-Holiday-Abend gewonnen, bei dem eine Schauspielerin aus der Autobiographie der Sängerin liest. Sauer, charakterisiert Wieczorek seine Musik, spielt “Töne am Rande des Noch-Spielbaren, die stets bedroht waren vom Kontaktverlust, um sich dann, an der äußersten Kante stehend auffangen zu lassen vom Klavier oder sich ersatzweise einem leise verebbenden Nachspiel ergaben”. Oft schien “nur Bob Degen sicher zu wissen, an welcher Stelle sich Sauer befindet, von welchem Akkord die Töne, die jetzt erklingen, ihren Ausgang nahmen, bevor sie ihn vollständig verließen.”

Ein andermal ist Heinz Sauer zu einem Gesprächskonzert zu Gast, für das er den jungen Pianisten Michael Wollny mitbringt. Sauer erinnert sich an diesem Abend an seine Kindheit, an die Normalität des Nationalsozialismus, and sein Faible für den Jazz nach dem Krieg. Auch andere (real existierende) Musiker treten in Erscheinung, der Vibraphonist Christopher Dell etwa, der einen Gedichtabend begleitet, oder der Pianist Uli Partheil, der zu einem Gespräch mit dem Schriftdesigner Hermann Zapf spielt.

Die Kulturarbeit normalisiert sich, und neben vollen gibt es auch leere Säle, etwa bei jenem Abend, den die beiden “dem unbekannten Autor” widmen und bei dem ein Cellist und ein Pianist kurze Stücke von Anton Webern spielen, während die üblicherweise der Lesung vorbehaltene Zeit jetzt einfach der Stille dient. “Wir brauchen nicht jedesmal ein Publikum”, sinnieren sie, “stets aber die Möglichkeit eines Publikums, formulieren wir genauer: den Raum für ein Publikum.”

Dann setzen politische Veränderungen ein, die auch die Kultur in der Stadt betreffen. Und schließlich zieht ihr großzügiger Geldgeber sich mehr und mehr von seinen Zusagen zurück. Und so kommt es, “dass unsere Programme nur noch pro forma gedruckt wurden und zumeist nur eine einzige Veranstaltung enthielten, die ernsthaft mit Publikum rechnen konnte”. Der Niedergang ihres Projekts ist abzusehen, lässt sie aber nicht ohne Hoffnung. Es muss doch möglich sein, wieder so einen kunstsinnigen Geldgeber zu finden…

Alle Autoren, von denen Wieczorek in seinem Roman fasziniert ist, existieren genauso wie die Musiker, die er nennt und mit denen er auch in Wirklichkeit gern und oft zusammenarbeitete. Das Gesprächskonzert mit Heinz Sauer hat genauso stattgefunden wie die Gesprächsrunde mit Hermann Zapf. Und Dirk Lorenzen, dessen astrophysikalische Texte als eine Art Zwischenspiel dienen, als Blick von und auf “ganz außen” quasi, ist tatsächlich, wie von Wieczorek beschrieben, für viele der Himmelsgeschichten in der Sendung “Sternzeit” des Deutschlandfunks verantwortlich. Auch viele der anderen Personen der Erzählung haben Vorbilder in der realen Lebenswirklichkeit des Autors. Solche Kenntnis aber braucht es nicht, um den Roman, der gekonnt zwischen den Lieben Wieczoreks wechselt, als ein Buch zu genießen, dessen Thema Kreativität genauso ist wie der Raum, der unbedingt notwendig ist, um sie zu ermöglichen. Das Lesevergnügen ergibt sich aus der Leichtigkeit des sprachlichen Stils, aus der Balance zwischen Dialogen, Beschreibungen, Begeisterungsfähigkeit und der Gabe, auch Misserfolge als das wahrzunehmen, was sie sind: Versuche, die unternommen werden müssen, weil Kunst nun mal nur gedeiht, wenn man vorbehaltlos ihren Raum zugesteht.

Wolfram Knauer (August 2012)


 

Strictly a Musician. Dick Cary. A Biography and Discography
von Derek Coller
Sunland/CA 2012 (Dick Cary Music)
602 Seiten, 59,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-615-53867-9

2012collerDick Cary gehört vielleicht nicht zu den bekanntesten Namen der Jazzgeschichte. Als Pianist, Althorn-Spieler, Trompeter, Komponist und Arrangeur war er allerdings seit den frühen 1940er Jahren auf der traditionellen Jazzszene New Yorks überaus aktiv und spielte mit allen Musikern des Jazzrevivals jener Jahre, mit Eddie Condon, Billy Butterfield, Louis Armstrong, Jimmy Dorsey, Bobby Hackett und vielen anderen. Cary war darüber hinaus ein Musiker mit offenen Ohren, der Interesse auch an dem hatte, was Kollegen anderer Stilrichtungen damals entwickelten. Vor allem aber hinterließ der 1916 geborene und 1994 gestorbene Musiker Tagebücher, die mit wenigen Lücken sein Leben und seine Arbeit zwischen 1931 und 1992 dokumentieren.

Derek Coller konnte auf diese Tagebücher zurückgreifen, um in seiner ungemein detaillierten Biographie die Lebensgeschichte Carys zu erzählen. Coller beschreibt die Jugend des in Connecticut geborenen Cary, erste Banderfahrungen, die nicht die besten waren (“Ich wurde aus der Band geworfen”) sowie erste Engagements, die Geld einbrachten. Die üblichen Einflüsse der Zeit galten auch für Cary, den Pianisten: Fats Waller, Earl Hines, Teddy Wilson, Art Tatum und Bob Zurke; seine ersten Arrangements brachten ihm 1939 fast einen Job mit Glenn Miller ein. Irgendwann Anfang der 1940er Jahre zog Cary mit Frau und Tochter nach New York, wo er einen Großteil seines Einkommens aus Arrangements bezog – allein zwischen 1940 und 1941 schrieb er mehr als 130 Arrangements für etwa 20 verschiedene Bands und Sänger/innen. Im Dezember 1941 trat er zum ersten Mal im legendären Club Nick’s in New Yorks Greenwich Village mit Eddie Condon, Pee Wee Russell und anderen Größen des Stils auf; meist war er dabei Pianist, hin und wieder trat er aber auch als Trompeter in Erscheinung.

Mitte der 1940er Jahre spielte Cary in der Bigband des Trompeters Billy Butterfield, in der er als 5. Trompeter, Althornist und Arrangeur angestellt war. 1947 wirkte er bei einem legendären Konzert der Armstrong All-Stars in der New Yorker Town Hall mit und wurde im Sommer des Jahres für sechs Monate reguläres Mitglied der All-Stars. Er spielte auf der 52nd Street, insbesondere im Club Jimmy Ryan’s, und er nahm Unterricht beim klassischen Komponisten Stefan Wolpe. Jimmy Dorsey engagierte ihn für seine Band, und Cary schrieb außerdem Musiken für Werbefilmchen und fürs Fernsehen. Auch in den 1950er Jahren gehörte er zu den verlässlichen Musikern der traditionellen Szene, trat mit Max Kaminsky auf sowie mit jeder Menge anderer namhafter Musiker, auch solchen der Swingära, die damals in Dixielandschuppen ihr Geld verdienen mussten. Ende der 1950er Jahre war er reguläres Mitglied der Band Bobby Hacketts; machte sich außerdem einen Namen als einer jener Arrangeure, die versuchten, dem traditionellen Jazz einen interessanteren Klang zu verleihen.

Anfang der 1960er Jahre zog Cary nach Kalifornien, trat wieder zunehmend als Althornist in Erscheinung und spielte in regelmäßig in Disneyland. Gegen Ende des Jahrzehnts wurde er außerdem Mitglied der World’s Greatest Jazz Band. In den 1970ern reiste er oft und gern nach Europa und trat hier auch mit vielen europäischen Bands als Gastsolist auf – nicht zuletzt mit der deutschen Barrelhouse Jazzband. Er wurde als Solist zu den populären “Jazz Party”-Festivals eingeladen und wirkte auf etlichen Platten mit. Anfang der 1990er Jahre wurde bei ihm eine Krebserkrankung festgestellt, an der er im April 1994 verstarb.

Derek Collers Buch ist allein schon dank der dem Autor zur Verfügung stehenden Tagebücher ungemein faktenreich. Coller listet Besetzungen und Konzertdaten, zitiert Cary und ordnet dessen Bemerkungen sogleich ins Jazzgeschehen der Zeit ein. Das sorgt nicht unbedingt für eine flüssige Lektüre, und doch gibt gerade diese Genauigkeit, mit der Coller Carys Leben dokumentiert, dem Buch eine besondere Qualität: Wir erfahren über die Jazzszene der Condon-Freunde aus erster Hand, über “die andere Seite” der 52nd Street sozusagen, die ansonsten vor allem für die Ausbildung des Bebop genannt wird. Das Privatleben Carys kommt bei alledem etwas kurz in der Darstellung. Nur ein kurzes zwischengeschobenes Kapitel gibt Aufschluss über Carys lebenslangen Kampf mit dem Alkohol. Und auch über die Musik selbst erfahren wir wenig. Dafür ist Collers Buch eine Fakten-Biographie und damit eine gute Quelle für Forscher, da es qua Tagebücher auf erstklassige Zeitzeugendetails verweist. Die Diskographie, die fast 100 Seiten des Buchs einnimmt, gibt einen Überblick über Carys Aufnahmeschaffen. Und der ausführliche Namensindex erschließt das Buch schnell für Forscher, die nach Fakten und Hinweisen suchen, die anderweitig schwer zu finden wären.

“Strictly a Musician” ist auf jeden Fall eine wichtige Ergänzung der jazzgeschichtlichen Forschung, die Fleißarbeit eines langjährigen Jazzjournalisten und Privatforschers und ein Buch, das sich nicht nur vom Umfang her mit Manfred Selchows wegweisenden Werken über Edmond Hall und Vic Dickenson vergleichen lässt.

Wolfram Knauer (September 2012)


 

Blues 2013. Rare Photographs by Martin Feldmann
Kalender von Martin Feldmann
Attendorn 2012 (Pixelbolide)
Kalender, 12 Monatsblätter, 24,95 Euro
www.blueskalender.de

blueskalender_3.inddMartin Feldmann fotografiert seit den frühen 1980er Jahren Bluesmusiker für deutsche und amerikanische Fachmagazine, arbeitete außerdem lange Zeit für die Frankfurter Rundschau, für die er immer wieder Beiträge über Blues und Jazz verfasste.

Jetzt hat Feldmann einen Blueskalender herausgebracht, für den er einige der aussagekräftigsten Bilder seiner diversen Bluesreisen in die USA aus den 1980er Jahren herausgesucht hat. Wir sehen Junior Wells im Club, Charles W. Thompson alias Jimmy Davis bei einem Straßenkonzert, Lefty Dizz auf einer Harley Davidson, Beverly Johnson mit schwarzen Netzhandschuhen, Wade Walton im Barbershop in Clarksdale, Mississippi, Little Milton beim Chicago Festival, Eddie Taylor im Golden Slipper, Chicago, Big Walter Horton, Magic Slim,Harry Caesar. Little Pat Rushing und Queen Silvia Embry. Sie alle sind in Schwarzweiß- und einigen Farbaufnahmen auf großformatige Kalenderblätter gedruckt, die kurze Zusatzinformationen bieten und jedem Raum automatisch eine bluesige Note verleihen.

Vielleicht sollte man dazu ein wenig Musik laufen lassen, damit man dem Blues, den man sowieso jeden Tag erfährt, visuell genauso wie tönend genügend positive Noten abgewinnen kann.

Wolfram Knauer (September 2012)


 

Jazz. Body and Soul. Photographs and Recollections
von Bob Willoughby
London 2012 (Evans Mitchell Books)
178 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-901268-58-4

2012willoughbyDer 2009 in Südfrankreich verstorbene Fotograf Bob Willoughby dokumentiert die Jazzgeschichte seit den frühen 1950er Jahren. Jetzt erschien ein von Willoughby noch zu Lebzeiten im Entwurf geplantes Buch seiner besten Aufnahmen, die zwischen 1950 und 1959 sowie zwischen 1992 und 1994 datieren. Die frühen Bilder wurden in Los Angeles aufgenommen, die späten Fotos auf Einladung Ulli Pfaus in der Liederhalle in Stuttgart. Willoughby begleitet seine Rückschau in Bildern dabei mit Erinnerungen an die Konzerte und die Künstler, die er da dokumentierte.

Neben den üblichen Konzertfotos – Musiker auf der Bühne – gibt es lebendige Backstagebilder, neben weithin bekannten Aufnahmen wie Willoughbys legendären Chet-Baker-Portraits auch selten bis nie gesehene Ansichten von Musikern bei der Arbeit. Der Index am Schluss des Buchs listet die Künstler: Billie Holiday, Miles Davis, Dave Brubeck, Lionel Hampton, Dizzy Gillespie, Louis Armstrong, Stan Kenton, Duke Ellington, Big Jay McNeely (der mit einer ganzen Fotoserie im Buch vertreten ist), Cal Tjader, Gerry Mulligan, Peggy Lee, Benny Goodman, Frank Sinatra, Wynton Marsalis und viele, viele mehr. Willoughbys kurze Erinnerungen geben nur kleine Einblicke in seine eigene Jazzsicht, referieren ansonsten eher bekanntes Wissen über die Musiker. Als Fotograf hatte er ein exzellentes Auge für die Musiker, die er ablichtete; und Ulli Pfau hatte nicht Unrecht, als er ihn 1992 als “elder statesman of jazz photography” bezeichnete.

Einige Höhepunkte beim Durchblättern: Bing Crosby und Frank Sinatra inmitten des Sets für den Film “Can-Can”; Louis Armstrong, Grace Kelly und Bing Crosby im Set für “High Society”; Benny Goodman in einem Duo mit Stan Getz; der überschlanke Gerry Mulligan, dessen Instrument quasi aus seinem Körper herauszuwachsen scheint; Paul Gonsalves vor dem Spiegel seiner Garderobe; Coleman Hawkins auf einen Stuhl gelehnt in die Kamera lächelnd; der blinde George Shearing, der sich für eine Ansage am Mikrophon festzuklammern scheint; Miles Davis, zurückgelehnt und entspannt; Lionel Hampton, der Milt Buckner über die Schulter schaut… Aber jeder Betrachter wird seine eigenen Höhepunkte in diesem Buch finden, das mit einem wunderbaren Backstagebild abschließt, auf dem Wycliffe Gordon backstage in Stuttgart im Fernsehmonitor seinem Chef Wynton Marsalis zusieht.

“Jazz – Body and Soul” präsentiert Willoughbys Aufnahmen in hervorragender Druckqualität in einer Hardcoverausgabe im Schuber und mit einem Vorwort Dave Brubecks, den Willoughby seit 1950 immer wieder ablichtete, in Bildern, die zum Teil auch ihren Weg auf Brubeck-Plattencover fanden. Ein schönes Geschenk für Jazzfans – auch an sich selbst.

Wolfram Knauer (September 2012)


 

Deep South. The Story of the Blues
von Peter Bölke
Hamburg 2012 (Edel ear book)
156 Seiten, 4 CDs, 39,95 Euro
ISBN: 978-3-94000-98-7

2012boelkeWie alle “earbooks” von Edel ist auch “Deep South” ein opulentes, hardcover-gebundenes Buch mit stabil in den Buchdeckel eingepassten Aussparungen für die beiheftenden vier CDs – und das alles zu einem mehr als angemessenen Preis.

Peter Bölkes parallel auf deutsch und englisch verfasste Texte zum Blues und seinen Künstlern ist eingängig und verständlich, nie zu tief greifend, dafür Legenden und Anekdoten weitertragend. Die vier Großkapitel, die dem Inhalt auf den CDs entsprechen, heißen “Rough Sound from the Delta” (Folk/Classic Blues), “Rockin’ the House” (Piano Blues), “Blue Notes from the Cookbook” (Jazz & Blues) sowie “Amplified, Young & White” (Electric Blues). Sie decken die Bluesgeschichte von den Anfängen (Mamie Smiths “Crazy Blues” von 1920) über Country-Blues, Boogie-Woogie, Blues-Interpretationen großer Jazzmusiker bis zum rockigen Blues der 1960er Jahre ab.

Was fehlt, mag jeder für sich entscheiden – dieser Rezensenten etwa vermisste den größte instrumentalen Blueskünstler des Jazz, nämlich Charlie Parker –, aber das wären genauso subjektive Entscheidungen wie Bölke sie für sich vorgenommen hat.

Das Buch ist reich und bunt bebildert mit bekannten und weniger bekannten Fotos der Künstler und einzelner Alben, gedruckt auf festem Papier, und in guter Tonqualität gepresst. Wie die meisten der ear books ist das alles in seinem Sampler-Ansatz weniger etwas für Sammler als für den beiläufigen Interessenten, aber auch für Bluesfans ganz gewiss ein willkommenes Geschenk.

Wolfram Knauer (August 2012)


 

Modern Piano Method. Klavier spielen – nach Noten und Akkorden
von Georg Boeßner
Frankfurt 2012 (Nordend Music)
144 Seiten, 1 CD, 24.,95 Euro
ISBN: 978-3-9812448-1-6

2012boessnerDer Klavierunterricht, schreibt Georg Boeßner im Vorwort zu seiner Klavierschule, gehe zwar zunehmend auch in Richtung Pop, Rock und Jazz, auf dem Markt der Klavierschulen aber spiegele sich dieses Bedürfnis kaum wider, insbesondere, was die zur klassischen Notation gleichrangige Vermittlung des Spielens nach Akkordsymbolen beträfe.

Boeßners Schule also will beides miteinander verknüpfen. Er beginnt ganz am Anfang, Sitzhaltung, Tastatur, Notensystem, einfache Lieder. Dann kommen erste Akkorde, die Boeßner gleich nicht nur mit Noten, sondern eben auch mit Akkordsymbolen vorstellt.

Ein erster Blues, Einführung komplexerer Rhythmik, das Zusammenspiel rechter und linker Hand, und schließlich andere Tonarten (als das anfängliche C-Dur). Zwischendrin immer wieder Rückgriffe auf Essentials, Erklärungen der Intervalle etwa, der Dur- und Mollakkorde. Und neben Fingerübungen immer wieder kleine Stücke, die den Schüler bei Laune halten und ihn langsam ans Spielen heranführen – und zwar eben nicht nur ans sture Notenablesen, sondern auch ans Begreifen der harmonischen Grundlagen, das für spätere Improvisation so wichtig ist.

Die Selbstverständlichkeit dieses Ansatzes mag hoffentlich bewirken, dass die Nutzer seiner Klavierschule sich später viel leichter vom Notenblatt lösen können als diejenigen, die nach konventionellen Methoden ans Klavier herangeführt wurden.

Wolfram Knauer (August 2012)


 

The Ellington Century
von David Schiff
Berkeley 2012 (University of California Press)
319 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-520-24587-7

2012schiffNoch ein Buch über Ellington, mag der eine oder andere sagen, aber David Schiffs “Ellington Century ist mehr als dies. Schiff versucht Ellington in die Musikgeschichte des 20sten Jahrhunderts einzuordnen und ihn dabei, wie der Duke sagen würde, “beyond categories” zu betrachten, also nicht nur in Bezug auf den Jazz-Background, aus dem er kam.

Schiff geht dafür in seinen Kapiteln zuallererst einmal von der Musik selbst aus. Er beginnt mit dem Kapitel “Such Sweet Thunder”, beschreibt Musik und Entstehungsgeschichte der Suite, erwähnt, dass die Komposition bei ihrer Premiere gleich neben Kurt Weills Violinkonzert gespielt wurde und stellt fest, dass die musikalischen Experimente des 20sten Jahrhunderts eben im Jazz genauso stattfanden wie in der sogenannten klassischen Moderne. Er erlaubt sich schließlich den Seitenblick auf Arnold Schönbergs Fünf Stücke für Orchester op. 16, “Farben”. “Blue Light: Color” heißt das zweite Kapitel, das solchen Farben in Ellingtons Musik auf den Grund zu gehen versucht. Schiff analysiert “Blue Light” im Lichte des Blues, “Ko-Ko” als “schwarze” Erfahrung, schließt dann Ausflüge an zu Schönbergs “Pierrot Lunaire” und zu Debussys Musik, um schließlich zu Ellingtons ganz eigener “Klangfarbenmelodie” zurückzukehren.

Im Kapitel “Cotton Tail” nähert sich Schiff dem Phänomen der Rhythmik in Ellingtons Musik, aber auch weit genereller dem Phänomen des swing. Er arbeitet dabei die Unterschiede zwischen pulsierendem Rhythmus, melodischem Rhythmus, einer vom Grundrhythmus abweichenden “supermelody” sowie dem Shout-Rhythmus heraus. Zugleich geht er auf die Unterschiede zwischen europäischer und afro-amerikanischer musikalischer Auffassung ein und diskutiert verschiedene Aufnahmen des “Tiger Rag” sowie James P. Johnsons “Carolina Shout” mit Hinblick auf ihre rhythmischen Qualitäten. Nach all diesen Argumenten animiert Schiff seine Leser dazu, “Cotton Tail” noch einmal zu hören und wahrzunehmen, mit wie viel verschiedenen Ebenen Ellington hier meisterhaft spielt. Auch dieses Kapitel kommt dabei nicht ohne einen Seitenblick auf die europäische Musiktradition aus und betrachtet dazu Béla Bartóks 5. Streichquartett, Igor Stravinski sowie John Cage, Charlie Parker und Eric Dolphy.

“Prelude to a Kiss” beschäftigt sich mit der Melodik Ellingtons und schaut daneben nicht nur auf klassische Beispiele, sondern auch auf die Tin Pan Alley-Schlager der Zeit. Schiff fragt nach der melodischen Sexualisierung im Jazz (und stützt sich dabei auf fragwürdige Analysen, nach denen in klassischer Musik Chromatik oft für Sexualität stünde). Er interpretiert Billy Strayhorns “Day Dream” als “Bluesisierung” des Songmodells und analysiert “U.M.M.G.” auf seine thematische Melodik hin.

“Satin Doll” ist das Kapitel über Ellingtons Harmonik überschrieben, in dem Schiff Parallelen zu anderen harmonisch besonders aktiven Künstlern von Bill Evans bis Charles Mingus aufzeigt, aber auch auf Ravel Debussy, Schostakowitsch verweist. “The Clothed Woman” analysiert er schließlich im Lichte der atonalen Experimente europäischer Komponisten des frühen 20sten Jahrhunderts.

Klangfarbe, Rhythmik, Melodik und Harmonik, schreibt Schiff, sind allerdings nur Werkzeuge. Für den Komponisten komme es letzten Endes darauf an, eine Geschichte zu erzählen. Der zweite Teil seines Buchs also widmet sich den Geschichten, die hinter Ellingtons Arbeit stecken, Geschichten, die sich mit Liebe, Sexualität, Rassismus, schwarzem Geschichts- und Kulturbewusstsein befassen. Als Beispiele analysiert er ausführlich die Suite “Such Sweet Thunder, Ellingtons vielleicht wichtigste Suite “Black, Brown and Beige” sowie seine “Sacred Concerts”.

David Schiffs “The Ellington Century” ist keine Biographie des Duke. Sie geht von der Musik aus und versucht diese in den Kontext musikalischer Entwicklungen des 20sten Jahrhunderts zu stellen und dadurch die Sonderstellung Ellingtons herauszuarbeiten. Der konstante Seitenblick insbesondere auf die europäische Kompositionstradition wirkt dabei weder herablassend noch anmaßend, sondern wird Ellingtons eigenem Musikverständnis gerecht und erlaubt in der Selbstverständlichkeit der Parallelbetrachtungen durchaus neue Erkenntnisse über Ellingtons Bedeutung.

Wolfram Knauer (Juli 2012)


 

theoral, #4 / Nicola Brooks / Clayton Thomas
herausgegeben von Philipp Schmickl
Nickelsdorf 2012 (www.theoral.org)

2012schmicklPhilipp Schmickl nutzt die Gunst der Stunde, die Gunst des Ortes, nämlich Nickelsdorf, jenes Mekkas für freie Musik, zu Gesprächen mit Musikern anderen interessanten Menschen, und die Buchreihe theoral dokumentiert diese Gespräche so wie sie stattfanden, verbale Exkursionen inklusive.

Mit Nicole Brooks unterhält er sich in Ausgabe 4 von theoral über Interviews, über die Faszination an der Lektüre eigener Tagebücher, über die Idee der Ehe, über Brooks Kindheit in New Mexico, über Reisen nach Brasilien und in die Tschechische Republik, über Männer, die ihr in verschiedenen Ländern auf der Straße folgten, über ihre Motivation zu reisen und über Planlosigkeit und Zufälle in ihren Reiseerfahrungen. Brooks ist einfach nur eine Besucherin des Nickelsdorfer Festivals, eine “freie” Reisende, eine Weltenbummlerin.

Mit Clayton Thomas hat Schmickl dann einen Musiker vor seinem Mikrophon, diesmal nicht in Nickelsdorf, sondern im Hotelzimmer in Sibiu, Rumänien. Thomas erzählt von seiner Kindheit in Tasmanien, von ersten Versuchen den Bass zu spielen, von ersten Reisen nach New York, wo er beim Vision Festival mit jeder Menge neuer Musik konfrontiert wurde, von ersten Gigs als Bassist in Sydney und New York, wo er 2002 schließlich auch selbst beim Vision Festival mitwirkte. Er berichtet vom NOW now Festival in Sydney, von seinem Umzug nach Berlin im Jahr 2007, und er reflektiert über Einflüsse wie William Parker und Barry Guy sowie über aktuelle Bandprojekte, an denen er beteiligt ist: das Splitter Orchestra etwa oder The Ames Room. Die beiden sprechen moch ein wenig übers Reisen, darüber, wie Thomas Musik “denkt”, sowie über Kunst und Revolution.

Schmickls Bücher vermitteln das großartige Gefühl unverfälschter und inspirierter Interviews, und diese Tatsache ist dem Herausgeber wohl bewusst, der sich im Vorwort etwa bei Christof Kurzmann bedankt, mit dem er sich vor dem Interview mit Brooks unterhalten habe und bei Tobias Delius, den er kurz vor demselben Interview habe spielen hören, und die ihn beide als Fragesteller und Gesprächspartner inspiriert hätten. Ein Lesevergnügen also, das gerade in der Gesprächhaftigkeit und in der Offenheit des Herausgebers, die Konversation in alle möglichen Richtungen abdriften zu lassen, eine Menge mehr über die Gesprächspartner vermittelt als es manch ein systematischerer Artikel vermögen würde.

Wolfram Knauer (Juli 2012)


 

Jutta Hipp. Ihr Leben & Wirken. Malerin – Pianistin – Poetin. Eine Dokumentation
von Gerhard Evertz
Hannover 2012 (Eigenverlag)
196 Seiten
siehe auch: www.jazzbuch-hannover.de

2012evertzAls Gerhard Evertz 2004 sein Buch “Hannover – ein Stück Jazzgeschichte” herausbrachte, hatte er bei der Recherche jede Menge Material insbesondere über Jutta Hipp gefunden, die zwar gerade ein Mal in Hannover gespielt hatte, die aber enge verwandtschaftliche Beziehungen in die Stadt an der Leine besaß und behielt, nachdem sie 1955 nach New York ausgewandert war. Evertz sammelte die Dokumente und veröffentlichte sie nun in kleinster Auflage in einem Buch, das insbesondere wegen des umfangreichen Bildteils eine Lücke in der Dokumentation über die Musikerin schließt.

Sein Buch ist dabei weniger eine Biographie als vielmehr eine Sammlung von Materialien und Informationen, die er sortiert und Hipps verschiedenen Aktivitäten zuschreibt. Da gibt es Fotos, etwa in einer Privatwohnung in Leipzig, mit Dietrich Schulz-Köhn, Caterina Valente, Attila Zoller, mit ihrem in Hannover wohnenden Bruder, von Tourneen und privaten Feiern. Es findet sich das Programmblatt des Studiokonzerts, das sie im Oktober 1955 im Rathaus Hannover gab und das als “erstes Konzert in ihrer Heimatstadt Hannover und ihr letztes in Deutschland” annonciert wurde. Auch finden sich Briefsplitter aus ihrer New Yorker Zeit.

Einer Diskographie ihrer Aufnahmen hängt Evertz Abbildungen diverser Cover bei. Im Kapitel “Gemälde” dokumentiert er 65 Aquarelle, Landschaften, Dorf- und Stadtszenen, Personen – allerdings hat nur eines, betitelt “The Pianist” direkt mit Musik zu tun. Ein weiteres Kapitel dokumentiert Hipps Aktivitäten als Fotografin, erlaubt quasi den privaten Blick mithilfe ihres Auges durch den Sucher ihrer Kamera: Da ist ein Blick aus dem Fenster ihrer Wohnung, da sind Freunde im Restaurant, Musiker bei Freiluftkonzerten, wir sehen Charlie Parkers Wohnhaus, Louis Armstrongs Grab, aber auch Landschaftsaufnahmen, die wie Motive für ihre Aquarelle wirken.

Schließlich finden sich Hipps bekannte Zeichnungen großer Jazzmusiker: Lester Young, Horace Silver, Art Taylor, Barry Harris, Gerry Mulligan, Nica de Koenigswarter, Thelonious Monk, Peck Morrison, Ella Fitzgerald, Dizzy Gillespie, Zoot Sims, Lester Young, Lionel Hampton, Lee Konitz, Attila Zoller, Hans Koller. Aber auch in Gedichten suchte die Pianistin einen kreativen Ausdruck; und Evertz versammelt solche über Lester Young, Horace Silver; Zoot Sims, Sonny Rollins, Billie Holiday, Miles Davis, Art Blakey, Dinah Washington, das Modern Jazz Quartet, Charlie Parker, Charles Mingus, Gerry Mulligan, Thelonious Monk, Erroll Garner, John Coltrane, Albert Mangelsdorff, Caterina Valente, Klaus Doldinger, Gunter Hampel, Connie Jackel, Horst Jankowski und Carlo Bohländer. Zum Schluss finden sich ausgewählte Pressenotizen über Jutta Hipp, die Evertz um eine Bibliographie weiterführender Literatur ergänzt.

“Jutta Hipp. Ihr Leben & Wirken” ist nur in einer Kleinstauflage im Eigenverlag des Autors erschienen und im Handel nicht erhältlich. Das ist insbesondere deshalb schade, weil das Buch einzelne Quellen zugänglich macht – und insbesondere einen Überblick über Hipps malerisches Wirken gibt –, die einen anderen Blick auf den Menschen Jutta Hipp erlauben.

Wolfram Knauer (Juli 2012)


 

Listen, Whitey! The Sights and Sounds of Black Power, 1965-1975
von Pat Thomas
Seattle 2012 (Fantagraphics Books)
193 Seiten, 39,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-60699-507-5

2012thomasIn den 1960er Jahren war die schwarze Kulturszene in den USA genauso politisiert wie der Rest der amerikanischen Gesellschaft. Die Kunst wurde zum Sprachrohr erst der Bürgerrechts-, dann der Black-Power-Bewegung, die immer vehementer und durchaus auch nicht nur friedlich gleiche Rechte für die schwarze Bevölkerung einforderte. Pat Thomas dokumentiert die musikalische Begleitmusik dieser Jahre zwischen 1965 und 1975, als das schwarze Amerika die Geduld verlor und militant wurde, eine Begleitmusik, die nicht immer nur begleitete, sondern sich auch selbst schon mal zum Sprachrohr der Bewegung machte. Ihn interessiert dabei, wie jegliche schwarze Musik in die Zeit passte und von den Black Nationalists oder Black Panthers für ihre Zwecke genutzt wurde bzw. wie zugehörig sich die Musiker zu den diversen Bewegungen fühlten.

Im ersten Kapitel führt Thomas in die Black-Power-Szene ein, erzählt die Geschichte der zunehmenden Militarisierung des schwarzen Teils der Bürgerrechtsbewegung, die spätestens nach den Morden an Martin Luther King und Malcolm X ein wahrnehmbarer und für viele Teile der amerikanischen Gesellschaft zunehmend furchteinflössender Bestandteil der politischen Wirklichkeit wurde. Im zweiten Kapitel geht er der Widerspiegelung dieser politischen Bewegung in der populären Musik nach, nennt Titel wie Aretha Franklins Version des alten Otis-Redding-Songs “Respect”, Marvin Gaye, James Brown, die Last Poets, Gil Scott-Heron, Jimi Hendrix und andere Musiker aus der Pop-, Soul- und Motownszene. Er diskutiert die acht Alben, die auf Motowns Unterlabel Black Forum erschienen und die vor allem Wortbeiträge präsentierte, politische Rede (King, Stokely Carmichael, Ossie Davis und Bill Cosby), Dichtung (Langston Hughes, Amiri Baraka, Festival of Black Poets in America), eine Dokumentation über die Schrecken des Vietnam-Kriegs, aber auch eine Art politische Gospelmusik (Elaine Brown).

Kapitel 3 widmet sich der Solidarität mit der Black-Power-Bewegung, die in der amerikanischen Linken breit aufgestellt war und weiße Musiker wie Bob Dylan, John Lennon und andere umfasste. Die Black Panthers waren aber auch selbst auf Platten vertreten mit politischen Reden und Aufrufen, etwa von Eldridge Cleaver. Auch das SNCC (Student Nonviolent Coordination Committee) brachte eigene Platten heraus, etwa von Stokely Carmichael oder H. Rap Brown (mit Leon Brown). Thomas erzählt über die Hintergründe für Oliver Nelsons Album “Black, Brown and Beautiful”, über Amiri Bakaras “A Black Mass” mit dem Sun Ra Arkestra, sowie über Musikerinnen, die der Sache genauso solidarisch gegenüberstanden wie ihre “Brothers”. Natürlich sind auch die Prediger mit von der Partie, Rev. Jesse Jackson etwa und andere, die ihre Predigten eben auch politischen Inhalten widmeten.

Für Jazzhörer am spannendsten ist Kapitel 9, “Jazz Artist Collectives and Black Consciousness”, das Aktivitäten und Aufnahmen von Charles Mingus mit Max Roach, Archie Shepp, dem Art Ensemble of Chicago, Clifford Thornton, Sonny Sharrock, Lou Donaldson, Eddie Gale, Horace Silver, Gary Bartz mit Andy Bey, Joe McPhee, Herbie Hancock, Mtume, The Tribe, Rahsaan Roland Kirk, Les McCann mit Eddie Harris, Donny Hathaway, Cannonball Adderley, Miles Davis mit John Coltrane, Pharoah Sanders mit Leon Thomas in den Kontext der politischen Bewegung jener Jahre setzt.

Pat Thomas Buch ist eine überaus wertvolle Ergänzung zur Musikgeschichte der 1960er und 1970er Jahre, gerade weil der Autor versucht, politische Kontexte herzustellen und zu erklären. Das Buch im Coffeetable-Format ist reich bebildert mit Plattenhüllen, seltenen Fotos, Zeitungsausrissen und Anzeigen. Ein ausführlicher Index und eine separat erhältliche CD mit Beispielen für die im Text erwähnte Musik runden das Konzept ab.

Wolfram Knauer (Juli 2012)


 

Affirmation and Resistance. The Politics of the Jazz Life in the Self-Narratives of Louis Armstrong, Art Pepper, and Oscar Peterson
von Alexander J. Beissenhirtz
Kiel 2012 (Verlag Ludwig)
299 Seiten, 49,90 Euro
ISBN: 978-3-86935-146-9

2012beissenhirtzDie Jazz-Autobiographie ist fast schon ein eigenständiges Genre. Musiker, die über ihr Leben schreiben, verorten sich ganz bewusst und sehr persönlich in der Musikgeschichte. Im Idealfall, der auch für die drei hier untersuchten Bücher betrifft, vereinen sie Eigenschaften von Autobiographie, Memoiren, Biographie und Jazzgeschichtsschreibung. Für seine Dissertation wählt Alexander Beissenhirtz drei Autobiographien, die wichtige Themen des Jazz thematisieren, etwa die Spannung zwischen Popularkultur und Kunst, die Beziehungen zwischen der Persönlichkeit eines Musikers und seines Sounds, die Suche nach der eigenen Stimme, das “amerikanische” Element im Jazz, “race relations” sowie Drogen. Seine Fallbeispiele ordnet Beissenhirtz im einleitenden Kapitel ins literarische Genre der Autobiographie ein, aber auch ins fachspezifische Genre der Jazzliteratur. Und er fragt danach, welche Elemente von Affirmation und/oder Widerstand gegenüber den Werten einer amerikanischen Nationalkultur in diesen Büchern zu erkennen sind.

Im zweiten Kapitel setzt sich Beissenhirtz mit dem Problem einer Definition des Jazz auseinander und verweist auf die Dehnbarkeit dieses Begriffs. Er diskutiert den Unterschied zwischen selbst geschriebenen und durch Ghostwriter verfassten Autobiographien und ihren jeweiligen Bezug zum Primat der Authentizität, den jede Autobiographie zu erreichen trachtet. Sein drittes Kapitel ordnet das Genre der Jazz-Autobiographie in den Kontext der Jazzforschung ein, in der man viel zwischen den Zeilen lesen müsse, um Diskurse zu identifizieren, die von den Autoren nicht immer implizit angesprochen werden. Sein viertes Kapitel geht seiner Grundfrage nach, jener also, inwieweit Jazz als Affirmation amerikanischer Kultur oder aber als sozialer und politischer Widerstand gesehen wird, wobei Beissenhirtz als Gewährsleute für die beiden Ansätze auf der einen Seite Ralph Ellison, auf der anderen Amiri Baraka anführt. Die beide Pole verbindende Frage ist dabei auch die: Wie kann man Star sein, herausgehobenes Subjekt und dennoch Teil der Bewegung, Teil der Masse?

Die zweite Hälfte des Buchs geht dann in medias res: Beissenhirtz fragt danach, ob Louis Armstrong in seinen eigenen Schriften eher als Onkel Tom oder als Trickster rüberkommt. Er analysiert Armstrongs Stil sowohl in seinen veröffentlichten Büchern wie auch in Briefen und später veröffentlichten privaten Texten. Er begründet, warum “Satchmo. My Life in New Orleans” von 1954, anders als das bereits 1936 erschienene “Swing That Music” von Armstrong selbst und nicht zusammen mit einem Ghostwriter verfasst worden sein muss, und er vergleicht die Selbstdarstellung Satchmos in beiden Veröffentlichungen.

Art Peppers Autobiographie “Straight Life” von 1979 ist mehr Lebensbeichte als reine Autobiographie. Beissenhirtz vergleicht Peppers Selbstdarstellung im Buch mit anderswo abgedruckten Interviews des Saxophonisten und diskutiert ästhetische, soziale und sehr persönliche Ansichten Peppers vor dem Hintergrund der Fakten und seiner Aufnahmen.

Im dritten Fallbeispiel liest Beissenhirtz Oscar Petersons Autobiographie “A Jazz Odyssey” von 2002 als Affirmation des Jazz als “Amerikas klassische Musik”. Auch hier vergleicht er Petersons Selbstdarstellung mit den Fakten sowie mit der öffentlichen Wahrnehmung des Pianisten durch Kritiker oder Musikerkollegen. Er liest das Buch als den Versuch eines Künstlers, die Stellung des Jazz als ernsthafte Kunst auch in Wort und Schrift zu festigen. Er hinterfragt die Behauptung der Farbenblindheit, die Peterson in seinem Buch aufstellt, wenn es um die Hautfarbe der Mitmusiker geht, und kontrastiert diese mit Petersons durch seine Familie bedingte Unterstützung von Marcus Garveys Idealen.

Beissenhirtzes Buch ist als Dissertation an der FU Berlin angenommen wurden; entsprechend ist das resultierende Buch eine vor allem an einen Fachdiskurs gerichtete Publikation. Beissenhirtz macht auf Besonderheiten der Autobiographie im Jazz aufmerksam und liest die von ihm als Fallbeispiele angeführten Bücher kritisch, um sie für die Untermauerung seiner Thesen zu nutzen, dass nämlich die textliche Rekonstruktion von Musikerleben immer auch eine sehr bewusste Interpretation von Jazzdiskursen, wenn nicht gar einen Eingriff in solche darstellt.

Wolfram Knauer (Juli 2012)


 

Africa Speaks, America Answers. Modern Jazz in Revolutionary Times
von Robin D.G. Kelley
Cambridge/MA 2012 (Harvard University Press)
244 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN 978-0-674-04624-5

2012kelleyAls Robin D.G. Kelley im Frühjahr 2003 eingeladen wurde, Vorträge an der Harvard University zu halten, arbeitete er gerade an seiner Thelonious-Monk-Biographie. Statt einfach auf Kapitel daraus zurückzugreifen, entschied er sich für eine Reflektion über die Einflüsse zwischen Afrika und afro-amerikanischem Jazz, die er an vier konkreten Beispielen zeigen wollte. Aus seinen Vorträgen entwickelte sich ein tieferes Forschungsinteresse zum einen an den vier Protagonisten, die er ausgewählt hatte, zum zweiten am Thema Afrika / Jazz ganz allgemein, die schließlich zum vorliegenden Buch führten.

In den frühen 1960er Jahren, schreibt Kelley in seinem Vorwort, habe es ein verstärktes Interesse afro-amerikanischer Jazzmusiker an afrikanischen “Wurzeln” gegeben. Art Blakey, Randy Weston, Oliver Nelson, Max Roach nahmen Platten auf, die sich unterschiedliche Aspekte dieser Beziehung bezogen. Auch der Schlagzeuger Guy Warren zählte zu jenen Musikern, die eine Verbindung zwischen den beiden Kontinenten eruierten, nur dass er weder zu den Black Nationalists gehörte, bei denen eine Afrika-Schau damals in Mode war, noch überhaupt ein Afro-Amerikaner war – Warren nämlich war in Ghana geboren. Er rühmte sich selbst, afrikanische Elemente in den amerikanischen Jazz eingeführt zu haben, als niemand an so etwas interessiert gewesen sei. Warren ist einer der Musiker, denen ein Kapitel in Kelleys Buch gewidmet ist; die anderen sind Randy Weston, der sich seit den 1950er Jahren mit afrikanischen Rhythmen auseinandersetzte und Ende der 1960er Jahren in Marokko lebte, Ahmed Abdul-Malik, der in seiner Musik versuchte insbesondere nordafrikanische Melodik und Rhythmik mit dem Jazzidiom zu verbinden, sowie die südafrikanische Sängerin Sathima Bea Benjamin, die mit Warren das Schicksal teilte, weder “afrikanisch” noch “westlich” genug zu klingen, um auf dem Markt zu bestehen.

Kelleys Buch lehnt sich in der Konzentration auf vier Musterfälle an A.B. Spellmans epochales “Four Lives in the Bebop Business” von 1966 an. Neben Afrika sieht er als verbindendes Element seiner Protagonisten, dass sie alle aus den unterschiedlichen politischen wie ästhetischen Diskussionen der 1950er Jahre heraus ihre jeweils eigene Fusion angingen. Sie suchten in einer Zeit, in der das Wort “Freedom” wahrscheinlich das wichtigste Wort in der afrikanischen Diaspora war, nach “neuen emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten, neuen Wegen, Solidarität und Verbindungen zu erzeugen”.

Er beginnt mit der Geschichte des Ghanaers Guy Warren, der im Krieg unter die Fittiche eines amerikanischen Offiziers genommen wurde, der ihn zu seinem Assistenten machte und ihm den Weg in die USA ebnete. Warren jammte 1943 mit Miff Mole im New Yorker Nick’s Tavern, ging dann zurück nach Accra. Nach Ausflügen etwa mit einer afro-kubanischen Band kam er 1954 nach Chicago und stellte fest, dass sein Rhythmusgefühl, das nicht so sehr an Chano Pozo orientiert als vielmehr afrikanisch war, nicht ganz so gut ankam. 1956 nahm er eine LP auf, die vielleicht tatsächlich der erste Versuch einer Fusion beider Welten war: “Africa Speaks, America Answers”. 1958 folgte die LP “Themes for African Drums”, 1959 “Voice of Africa”, für die er Mühe hatte ein Label zu finden und die erst 1962 unter dem Titel “African Rhythms” veröffentlicht wurde. Kelley schreibt ausführlich über Warrens Frust gegenüber Kollegen wie Babatunde Olatunji, die in jenen Jahren stärker wahrgenommen wurde als er. Warren spielte 1969 mit britischen Musiker das Album “Afro-Jazz” ein, ging dann zurück nach Ghana, wo er 2008 starb.

Randy Westons afrikanische Reise begann in seiner Kindheit, als sein Vater, ein Anhänger Marcus Garveys, seinem Sohn von der glorreichen Vergangenheit Afrikas erzählte. In den 1950er Jahren war Weston quasi der Hauspianist im Music Inn in Lenox, Massachusetts, wo er unter anderem die Musikbeispiele für Marshall Stearns Vorträge über die Hintergründe der Jazzgeschichte spielte. Hier traf er auch auf den nigerianischen Trommler Babatunde Olatunji, der sein interesse an afrikanischer Kultur noch verstärkte. Als Ende der 1950er Jahre immer mehr afrikanische Staaten ihre Unabhängigkeit erhielten, komponierte Weston verschiedene Stücke, die sich mit afrikanischen Themen befassten und die 1959 in der LP “Uhuru Afrika” mündeten. 1961 besuchte er den fernen Kontinent zum ersten Mal, und Kelley erzählt die problematische Geschichte der American Society for African Culture, die damals ein Büro in Lagos eröffnetet, das zumindest zu Teilen von der CIA finanziert worden war. 1967 spielte Weston bei einem Festival in Rabat, verliebte sich in die Stadt und zog für fünf Jahre nach Marokko.

Ahmed Abdul-Malik hatte sich seit seiner Kindheit für arabische Musik interessiert und wollte seit den späten 1940er Jahren seine Liebe zum Jazz und zu “östlichen” Modi zusammenbringen. Kelley korrigiert die von Abdul-Malik selbst verbreitete Biographie und identifiziert dessen Vater als aus der Karibik (und nicht aus Afrika) eingewandert. Nach dem Tod seines Vaters konvertierte Abdul-Malik zum Islam und sprach schon in der Schulzeit fließend Arabisch. Kelley erzählt nebenbei, wie auch andere Musiker damals zum Islam konvertierten, verfolgt Abdul-Maliks Karriere und verknüpft diese mit seinem spirituellen Lebensweg, 1956 machte Abdul-Malik seine ersten Aufnahmen mit arabischen Musikern und wurde in seinen Plänen von Kollegen wie Thelonious Monk und John Coltrane ermutigt. Bald erschien “Jazz Sahara”, dann “East Meets West” und “The Music of Ahmed Abdul-Malik”. 1961 wurde der Bassist Mitglied der Band von Herbie Mann, der damals selbst großes Interesse an Musik der afrikanischen Diaspora hatte. Bis zu seinem Tod Anfang der 1990er Jahre behielt er sein Interesse an arabischer Musik und nahm in den 1980er Jahren sogar Unterricht bei einem Oud-Virtuosen.

Kelleys letztes Kapitel beschreibt die Lebensgeschichte der Sängerin Sathima Bea Benjamin. In Kapstadt aufgewachsen, interessierte sie, wie viele andere Altersgenossen auch, alles, was amerikanisch war. Sie wurde Lehrerin, sang nebenbei in Clubs. Kelley erzählt über die gemeinsame Liebe von Benjamin und Dollar Brand zur Musik Duke Ellingtons und beschreibt ausführlich vor allem die südafrikanische Jazzszene und die Herausarbeitung einer eigenen Identität bei Benjamin und Brand, irgendwo zwischen südafrikanischer und afro-amerikanischer Ästhetik. Ihre europäische und amerikanische Zeit interessiert ihn für dieses Kapitel weniger.

Robin D.G. Kelley gelingt es, das Thema der Interkulturalität, das seinem Buch zugrunde liegt, in seinen vier Fallbeispielen deutlich zu machen. Jedes Kapitel ist für sich spannend zu lesen; in der Verbindung der vier sehr unterschiedlichen ästhetischen Ansätze, musikalischen Persönlichkeiten und biographischen Lebenswege ergibt sich ein tatsächlicher Einblick in den musikalischen Dialog zwischen Afrika und Amerika in den 1950er und 1960er Jahren.

Wolfram Knauer (Juli 2012)


 

Saxofone. Ein Kompendium
von Uwe Ladwig
Kiel 2012 (buchwerft verlag)
266 Seiten, 69 Euro
ISBN: 978-3-86342-280-6

2012ladwigAlles, aber auch wirklich alles, was man über das Saxophon wissen will, kann man aus Uwe Ladwigs umfangreichen, sehr schön gestalteten und mit über 350 teils farbigen Fotos reich bebilderten Buch erfahren. Anders als in Ralf Dombrowskis “Portrait Saxofon” geht es dem Autor dabei allerdings nicht um die Interpreten, die hier nur eine kleine Nebenrolle spielen, sondern einzig um das Instrument selbst, in allen üblichen und unüblichen Bauarten und Varianten, vom Sopran- bis zum Basssaxophon.

Ladwig beginnt – wie sollte es anders sein – mit Adolphe Sax, der das Instrument 1846 zum Patent einreichte (bereits vier Jahre zuvor hatte Hector Berlioz das Instrument in einem Zeitungsartikel erwähnt). Neben der Skizze zum Patentantrag und einer Diskussion zu Bohrungsvarianten finden sich detaillierte Ansichten eines frühen Instruments und Instrumentenkoffers.

Der Hauptteil des Buchs dekliniert dann die verschiedenen Hersteller durch. Ladwig beginnt in den USA mit Conn, Buescher, Martin etc. und benennt genauso ausführlich Firmen aus Europa, Asien und Südamerika. Neben kurzen Firmengeschichten klassifiziert er dabei die produzierten Instrumente und liefert zugleich einen Seriennummernkatalog, anhand dessen sich Instrumente datieren lassen. Neben den großen Firmen finden sich kleine, neben alteingesessenen neue Hersteller, jeweils mit detaillierten Beschreibungen und, wo immer möglich, Abbildungen.

Ladwig diskutiert Erfindungen und zusätzliche Patente zu Klappen oder Klappenverbindungen, zeigt Fabrikräume etwa der Firma Keilwerth, aber auch viele aussagekräftige Werbeseiten der Hersteller über die Jahrzehnte. In einem Appendix werden Sonderformen des Saxophons besprochen, etwa Kunststoffinstrumente (man denke an Charlie Parkers Massey-Hall-Konzert oder an Ornette Colemans Auftritte – beide spielten übrigens ein Instrument der Firma Grafton) und Saxophone aus Holz. Ladwig listet sogenannte “Stencils” auf, also Produktionen einer eingesessenen Firma für andere, oft kleinere Hersteller, und er beschreibt Werkzeuge und übliche Arbeitsvorgänge in der Saxophonwerkstatt, von der Instrumenten-Instandhaltung bis zur Koffer-Restaurierung. Zum Schluss gibt er noch Tipps zur Mikrophonierung von Saxophonen.

Ein ausführliches Register beschließt das Buch, das ohne Übertreibung als ein Standardbuch für Saxophonsammler und -bauer beschrieben werden kann. Neben all dem Wissen, das Ladwig in die Seiten packt, liest man sich dabei immer wieder an kuriosen Aspekten von Firmen- oder Baugeschichten fest.

Wolfram Knauer (Juli 2012)


 

Visualizing Respect
Von Christian Broecking
Berlin 2012 (Broecking Verlag)
Books on Demand GmbH
54 Seiten, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-938763-33-9

2012broeckingfotoChristian Broecking, der Autor des Interview-Buches “Respekt! Die Geschichte der Fire Music”, komplettiert mit dem neuesten Fotobuch seine Story über die amerikanische Jazzszene der letzten 40 Jahre.

Die Fotos in dem Bildband „Visualizing Respekt“ dokumentieren die Interviewsituationen von 1992 bis 2012, die die Grundlage zu seiner profunden Analyse über Fragen nach schwarzer Geschichte und Identität bilden.

In sehr eindringlichen, nahezu umgebungslosen Musikerporträts scheint die Forderung nach gesellschaftlicher Teilhabe fast körperlich greifbar.

Nat Adderley, Amiri Baraka, Mal Waldron und viele andere geben sich und uns die Ehre.

Christian Broecking nimmt den Betrachter visuell mit in die Interviewsituation und schafft damit eine besondere Nähe zu den Protagonisten. Der direkte Blickkontakt der Musiker auf vielen Aufnahmen verfehlt nicht seinen suggestiven Effekt. Es sind sehr persönliche Off-Stage-Fotos, die den Menschen hinter der Musikerin und dem Musiker zeigen.

Dem Fotografen und Autor Christian Broecking ist damit eine authentische, kurzweilige Fotobroschüre moderner Jazzfotografie gelungen, deren wohltuende puristische Gestaltung und detailgenauen Fotos sich durchaus mit den großen Namen der Jazzfotografie messen können.

Doris Schröder (Juni 2012)


 

Jazz & Beyond, no. 1
von Heike Nierenz (Texte) & Norbert Guthier (Fotos)
Frankfurt 2012 (Norbert Guthier)
180 Seiten, 1 beiheftende CD, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-981485-21-9
www.guthier.com

(Vertrieb über Jazzwerkstatt)

2012nierenzAusgangspunkt des Buchs in CD-Box-Größe sind die Fotos Norbert Guthiers, in denen die sechs ausgewählten Musiker nicht nur in üblichen Konzertposen zu sehen sind, sondern auch privat, beim Unterrichten, im Café, beim Aufbauen, beim Soundcheck etc. Heike Nierenz stellt den Bildern stimmungsvolle Texte gegenüber, in denen die Biographie der Künstler genauso erzählt wird wie ihre musikalische Philosophie. Und da erzählte Musik selbst dann einen merkwürdigen Beigeschmack hat, wenn man genügend Bilder zu sehen bekommt, ist dem Buch eine CD mit Aufnahmen der Vorgestellten beigelegt, bereits veröffentlichte Titel aus den letzten Jahren (leider sagt die enthaltene Diskographie nichts über die Aufnahmedaten aus), die das Lese- und Schauerlebnis vervollständigen.

Eine gelungene Auswahl aktueller Künstler, bebildert mit meist recht dunklen Schwarzweißfotos und einem flüssig zu lesenden Text auf Deutsch und Englisch.

Wolfram Knauer (April 2012)


 

Jazzgeschichten aus Europa
von Ekkehard Jost
Hofheim 2012 (Wolke Verlag)
334 Seiten, 24,80 Euro
ISBN: 978-3-936000-96-2

2012jostDer Buchmarkt zum jazz ist mittlerweile fast unüberschaubar. Und doch fehlt immer noch eine schlüssige europäische Jazzgeschichte, ein Buch, in dem die verschiedenen Entwicklungen zwischen Adaption, Emanzipation und ästhetischer Eigenständigkeit des Jazz in Europa erzählt wird mit allen hellen und dunklen Facetten zwischen Exotik und Verbot, zwischen Nachahmung und freiem Experiment. Mit Ekkehard Jost hat nun Deutschlands wichtigster Jazzforscher sich daran gemacht diese Lücke zu schließen. Jost hatte 1987 mit “Europas Jazz” bereits ein Standardwerk zur Geschichte der Emanzipation des europäischen jazz zwischen 1960 und 1980 herausgebracht; sein neues Buch wirft den Blick jetzt noch weiter, betrachtet die Entwicklung von den frühen Jahren des 20. bis hinein in jüngste Entwicklungen des 21sten Jahrhunderts. Das Buch entstand aus einer erfolgreichen Sendereihe, die Jost für den WDR produziert hatte und in deren einzelnen Folgen er Schlaglichter auf wichtige Entwicklungen im europäischen Jazz warf. Aus diesem Ansatz heraus ist dann wohl auch der Titel des daraus entstandenen Buchs zu verstehen: ausdrücklich nicht eine “Jazzgeschichte Europas”, sondern “Jazzgeschichten aus Europa”.

Schon die Kapitelüberschriften hören sich nach Geschichten an, die man gerne hört. “Wie der Jazz nach Europa kam” erzählt Jost gleich im ersten Kapitel, berichtet dabei von Widerständen der Bürokratie gegen wilde Tänze, von James Reese Europes Hellfighters sowie von Sam Woodings Band. “Le Jazz en France” stellt die Faszination der Franzosen am Jazz in den 1920er Jahren vor und beleuchtet an einzelnen Beispielen beide Seiten der Faszination: die der (insbesondere schwarzen) Amerikaner, die sich zum Teil für länger in Frankreich niederließen, sowie die der französischen Musiker und Intellektuellen jener Jahre. Als typische Beispiele der französischen Seite jener Zeit greift er sich den Geiger Michel Warlop und den Gitarristen Django Reinhardt heraus.

Für die Frühzeit des Jazz in England geht Jost auf den Besuch der Original Dixieland Jazz Band ein und auf das Southern Syncopated Orchestra, erwähnt kurz die Besuche Armstrongs und Ellingtons und die Macht der britischen Musikergewerkschaft, die von den Mitt-1930er bis in die 1960er Jahre hinein erfolgreich verhinderte, dass amerikanische Musiker auf der Insel auftraten. Die Weimarer Republik führt Jost anhand von Eric Borchards Kapelle vor, zitiert Mike Danzi, wirft einen Blick auf die Berliner Unterhaltungsszene und lässt anhand der Reaktionen auf Ernst Kreneks Oper “Jonny spielt auf” den braunen Sumpf erahnen, der sich bald über Deutschland ausbreiten wird.

“Am Mittelmeer” heißt lakonisch das Kapitel, das einen kurzen Blick nach Spanien, vor allem aber nach Italien wirft. Die Sowjetunion verdient und erhält ein längeres Kapitel, in dem Jost Reaktion und Gegenreaktion von Jazzszene und System bis nach dem II. Weltkrieg abhandelt. In “Jazz unterm Hakenkreuz” skizziert er die unterschiedlichen Restriktionen, die in Deutschland Jazzmusik verfemten, ohne dass dafür eigens ein Jazzverbot ausgesprochen werden musste. Er entdeckt genügend interessante Musik und stellt kurz Freddie Brocksieper und Kurt Widmann vor, sowie mit Charlie and his Orchestra die vielleicht skurrilste Jazzformation jener dunklen Jahre.

“Im hohen Norden”, stellt Jost fest, habe der Jazz weit später Einzug gehalten als im südlicheren Europa, was vielleicht an der Abgelegenheit von den unterhaltungsmusikalischen Metropolen des Kontinents lag. “Frankreich in den Zeiten des Zweiten Weltkriegs” bringt uns zugleich in die direkte Nachkriegszeit und zeigt sehr deutlich, wie Jazz für ein anderes Gesellschaftsmodell steht, als Synonym für Freiheit wahrgenommen wird. Das Kapitel “Die Trümmerjahre” zeigt, wie Jazzmusiker und Jazzfans in der Nachkriegszeit aufholen, als sie endlich offen Swing hören können und sich den Bebop erobern müssen. Jost spricht über die Rundfunk-Bigbands, die sich in diesen Jahren gründen, über die US-Clubs, in denen junge deutsche Musiker ihr Handwerk verfeinern, über Johannes Rediske, Michael Naura, Helmut Brandt und Hans Koller, über Jutta Hipp, Wolfgang Sauer, Inge Brandenburg, aber auch über das Deutsche Jazz Festival in Frankfurt und die Resonanz darauf, über Zeitschriften wie das Jazz Podium und die Gondel sowie über den Jazz als einer (wenigstens kurzzeitigen) Jugendmusik.

Wie zwischengeschaltet wirkt das Kapitel “Americans in Europe”, und Jost hat ihm augenzwinkernd den Beisatz “Gäste oder Immigranten” beigegeben und berichtet mithilfe namhafter Zeitzeugen über die Beweggründe amerikanischer Jazzer, sich etwa in Paris oder anderswo in Europa niederzulassen. Die Amerikaner beeinflussten ganz sicher die “Modern Sounds”, denen Jost “quer durch Europa” folgt und dabei Schlaglichter auf Entwicklungen in Skandinavien, Großbritannien, Frankreich, Italien, der Sowjetunion, Polen und der DDR wirft. Kurz konstatiert Jost mit Gewährsmann Albert Mangelsdorff eine Krise des Jazz in den 1960er Jahre, stellt aber zugleich fest, dass Mangelsdorff und Musiker wie etwa Klaus Doldinger, Wolfgang Dauner und andere schnell einen Weg aus dieser Krise heraus fanden. Den Weg zur Eigenständigkeit hatte Jost bereits in seinem Buch von 1987 ausführlich beschrieben. Doch ist dieser Weg so wichtig, dass die “Wege des Free Jazz durch Europa” auch in diesem Buch das längste Kapitel ausmachen, nach “Modern Sounds” ein weiteres Kapitel, in dem Jost sich Land nach Land unter die Lupe nimmt. Den Osten spart er aus, denn der verdient gerade für diese Entwicklungsphase des europäischen Jazz einem eigenen Abschnitt.

Zum Schluss müssen wenige Beispiele aus der Menge der Entwicklungen die Klänge beispielhaft vertreten, die den Jazz nach 1970 und bis ins 21ste Jahrhundert prägen. Jost konstatiert zu Recht das “Ende linearer Vorwärtsbewegungen”, stellt “stilistischen Pluralismus und Regression” fest, sieht aber im Neobop keine europäische Kreation, sondern einen amerikanischen Import. Jost hält seine eigenen Vorbehalten nicht hinterm Berg, etwa wenn er Acid oder Techno Jazz knapp unter der Überschrift “Unheilige Allianzen” abhandelt. Hier ist nun auch Platz, kurz über die ökonomische Seite des Jazz also zu sprechen, also Plattenmarkt, Festivals und Clubs. Lesenswert schließlich noch sein Ausblick, den er mit einer knappen Analyse der unter “Jazz” firmierenden Musikrichtungen verbindet, um zu schlussfolgern, dass die “dynamische Strömung des Jazz schon jetzt und in Zukunft in zunehmendem Maße von Europa ausgehen wird”.

Anders als in “Europas Jazz” gibt es in “Jazzgeschichten aus Europa” kaum analytische Passagen. Jost erzählt Geschichten, und die Vielfalt der Entwicklungen erklärt den Ansatz des manchmal Anekdotischen, manchmal Sprunghaften genauso wie es wohl der Ursprung des Buchs in einem Sendemanuskript tun mag. Die Lektüre ist bei alledem leicht und vergnüglich. Jost wählt die Geschichten sehr bewusst aus, hinter die er seine Leser etwas tiefer führt, und es gelingt ihm dabei fast schon zwischen den Zeilen Gemeinsamkeiten wie Unterschiede deutlich zu machen und Lust zum Hinhören zu wecken. Wenigstens für die ersten Jahre bietet das Buch hierfür 28 Hörbeispiele an, die auf einer CD beiheften und die Jahre zwischen 1919 uns 1948 dokumentieren, zwischen James Reese Europes Hellfighters Band und Kurt Henkels “Rolly’s Bebop”.

Wolfram Knauer (April 2012)


 

Jazz Composition and Arranging in the Digital Age
von Richard Sussman & Michael Abene
New York 2012 (Oxford University Press)
505 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-538100-9

2012sussmanDuke Ellington schrieb seine Musik im Zug, im Hotelzimmer, im Reisebus, in Restaurants. So sehr hat sich das gar nicht geändert, denn die Orte, an denen Jazzmusiker heute ihre Musik komponieren oder arrangieren, mögen immer noch Orte des temporären Lebens oder des Reisens sein. Nur das Medium hat sich geändert: Wo Ellington sein Notenpapier dabei hatte, bei Bedarf aber auch schon mal Notizen auf Servierten machte, da arbeitet der Komponist oder Arrangeur unserer Tage in der Regel mit seinem Laptop. Dieser ist aber natürlich nur ein Arbeitsmittel – die Kreativität und das musikalische Knowhow müssen nach wie vor vom Musiker selbst kommen.

Richard Sussman und Michael Abene legen mit diesem umfangreichen Buch nun Materialien vor, mit denen Musiker, die mit dem Computer als Hilfsmittel groß geworden sind, sich dem Thema Komposition und Arrangement nähern können. Es ist also eine Art zeitgemäßes Arrangierlehrbuch, in dem Grundlagen (etwa die verschiedenen Tonlagen der Instrumente) genauso behandelt werden wie computerspezifische Notationsfragen. Die Autoren haben das Buch in drei Teilen aufgebaut. In den ersten fünf Kapiteln resümieren sie die Basics des Handwerks. Im zweiten Tel widmen sie sich den Besonderheiten des Arrangements für kleine Ensembles. Im dritten Teil dann nehmen sie sich der Komposition für Bigband und große Ensembles an. In allen Kapiteln finden sich neben arrangierspezifischen Tipps Erläuterungen von Notationssoftware und anderen Computerprogrammen, die dem Arrangeur heutzutage das Leben erleichtern. Eine begleitende Website schließlich bietet Musikbeispiele, weitere Notenbeispiele, Softwarefiles und weiterführende Hinweise.

Bei aller Technik sollte man sich vom digitalen Aspekt des Herangehens der beiden Autoren aber nicht abschrecken lassen: In der Hauptsache geht es bei ihnen eben doch um das Handwerk des Töne-Zusammenfügens, des Klänge-Schmiedens, des Sound-Kreierens. Und so sind die Hinweise auf Software meistens Asides, zusätzliche Tipps zum zeitsparenden Arbeiten.

Das Buch ist ein wichtiges Unterrichtswerk für angehende Arrangeure, eine up-to-date-Fassung dessen, was Don Sebesky 1974 mit seinem Buch “The Contemporary Arranger” vorlegte oder Sammy Nestico 1993 mit “The Complete Arranger”. Und es ermutigt die kreativen Leser hoffentlich, wie Abene in seinem Vorwort auffordert, alle Möglichkeiten des Zusammenklingens zu erkunden.

Wolfram Knauer (April 2012)


 

Taj Mahal Foxtrot. The Storyy of Bombay’s Jazz Age
von Naresh Fernandes
New Delhi 2012 (Roli Books)
192 Seiten, 1.295 Rupien
ISBN: 978-81-7436-759-4

2012fernandesSelbst beim Jazz denken wir oft viel zu eurozentrisch: Wenn wir sagen, der Jazz eroberte kurz nach seiner Geburt die Welt, meinen wir zumeist Europa. Dabei wurde Jazz tatsächlich innerhalb weniger Jahre zu einer Art erster Weltmusik, die modische Tänze selbst an entlegenen Orten begleitete. Das vorliegende Buch dokumentiert ein in Jazzgeschichtsbüchern eher selten gestreiftes Kapitel, die lebendige Jazzszene in Bombay, die in den 1930er Jahren amerikanische Musiker wie Teddy Weatherford und Leon Abbey anzog.

Der Journalist Naresh Fernandes wollte eigentlich nur ein wenig Tratsch über die Welt der goanischen Musiker im Bombay der 1960er Jahre sammeln und interviewte zu diesem Zweck den Vater einer guten Freundin, von dem er wusste, dass er damals in Jazzbands und den Filmstudios gespielt hatte. Der Trompeter Frank Fernand war alt und schwach und kriegte immer nur stoßweise Sätze heraus, Fernandes aber wurde schnell klar, dass er mit einem Zeitzeugen sprach, der seit den Mitt-1930er Jahren auf der Jazzszene unterwegs war. Er machte sich an die Arbeit, Dokumente zu sammeln über die Frühgeschichte des Jazz in Bombay, über afro-amerikanische Musiker, die Bombay zu ihrer zweiten Heimat machten und über die Hindi-Filmstudios, die in den 1950er Jahren auch Jazz als Begleitmusik benutzten.

Fernandes beginnt sein Buch im Taj Mahal Hotel in Downtown-Bombay im Jahr 1935, in dem die Band des amerikanischen Geigers Leon Abbey zum Tanz aufspielt. Swing war die Mode in Paris und London und strahlte von dort in die Kolonien, und Abbeys Band war für die Besucher im Taj Mahal mehr eine Repräsentation europäischen mondänen Lebens als eine bewusste Rezeption amerikanischer Musik. Der Swing dieser Jahre wurde aber bald so populär, dass auf der Rückseite einer Broschüre des Bombay Swing Club aus dem Jahr 1948, also gerade mal ein Jahr nach der Unabhängigkeitserklärung des Landes, nicht weniger als 70 Bands verzeichnet sind, die in Bombay für Unterhaltung sorgten.

Leon Abbey und Weatherford erhalten eigene Kapitel im Buch. Zwischendurch schaut Fernandes noch weiter zurück und entdeckt, dass bereits im 19. Jahrhundert reisende Minstrelgruppen in Indien Station gemacht hatten. Er wirft außerdem einen Blick aufs klassische Musikleben der Stadt in den 1920er und 1930er Jahren. Wie in Europa mussten auch die indischen Musiker die Eigenarten des Jazz erst lernen, die dabei durchaus Parallelen zur heimischen Musiktradition besaß: Nichts war notiert, und um die Musik spielen zu können, musste man sie fühlen.

Fernandes verfolgt den Siegeszug dieser Musik, der 1946 zur Gründung der Jazz Society und 1948 des Bombay Jazz Club führte, die sich beide ernsthaft mit der Musik auseinandersetzten, Plattenabende und Jam Sessions organisierten. Jazz war schon lange im Unterhaltungsmainstream des Landes angekommen, was nur noch von der Tatsache unterstrichen wurde, dass Komponisten und Musiker für Hindi-Filme in den 1950er Jahren ausgiebig Gebrauch von Jazzrhythmen und -sounds Gebrauch machten. 1952 erschien die erste, wenn auch kurzlebige indische Jazzzeitschrift, Blue Rhythm.

Ein eigenes Kapitel ist dem Pianisten Dizzy Sal gewidmet, der 1959 in die USA ging, um am Berklee College zu studieren, ein weiteres Kapitel den Besuchen amerikanischer Stars wie Dave Brubeck, Duke Ellington, Louis Armstrong oder Jack Teagarden, die von den Fans mit Begeisterung aufgenommen wurden, auch wenn sie den kulturpolitischen Agenten der US-Regierung skeptisch gegenüberstanden, die in jenen Jahren als pro-pakistanisch angesehen wurde.

Mit etwas Verspätung löst die Rockmusik in den späten 1960er Jahren den Jazz schließlich als populäre Musik ab. Hier ist denn auch für Fernandes die Geschichte des Jazz Age in Bombay zu Ende.

“Taj Mahal Foxtrot” beleuchtet ein bemerkenswertes Kapitel globaler Jazzgeschichte. Fernandes gelingt es etliche Dokumente ausfindig zu machen, die sowohl die Faszination indischer Musiker mit dem Jazz als auch den Reiz des Exotischen für viele Jazzmusiker greifbar machen. Fernandes erzählt von Spielorten und Musikerbiographien, lässt dabei die Musik selbst allerdings etwas außen vor. Man liest kaum über konkrete Stücke, über den Lernprozess indischer Musiker, über die soziale Rolle, die das Spielen in einer Swingband (und damit zumeist in einem der großen Hotels Bombays) bedeutete. Auch die Einflüsse, die indische Musik im Westen hinterließ, streift Fernandes nur am Rande. Das alles wird wettgemacht durch die einzigartigen Dokumente und Fotos, die er sammelt und abdruckt, durch eine beiheftende CD, auf der sich einzelne Titel finden, und schließlich durch eine Website (www.tajmahalfoxtrot.com), in der den Kapiteln Musik- und Videobeispiele zugeordnet werden.

“Taj Mahal Foxtrot” ist ein empfehlenswertes Buch, die Geschichte einer regionalen Jazzszene, die auch den Leser in den Bann zu ziehen vermag, der noch nie in Bombay (Mumbai) war.

Wolfram Knauer (April 2012)


 

Harlem Jazz Adventures. A European Jazz Baron’s Memoir, 1936-1969
von Timme Rosenkrantz (herausgegeben von Fradley Hamilton Garner)
Lanham/MD 2012 (Scarecrow Press)
297 Seiten, 75,00 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8209-6

2012rosenkrantzIm Februar 1934 landete Baron Timme Rosenkrantz, keine 23 Jahre alt, mit dem Schiff aus seinem Geburtsland Dänemark in New York an. Der Baron, dessen Vorfahre bereits in Shakespears Hamlet erwähnt wurde, zog in ein Hotel auf der 70sten Straße und war voll der Vorfreude auf den Jazz, wegen dessen er in die USA gekommen war. Er ging in den Commodore Music Shop auf der 42sten Straße, um sich vom Besitzer Milt Gabler Tipps geben zu lassen, doch der teilte ihm als erstes mit, dass die meisten der großen Jazzmusiker, von denen Rosenkrantz schwärmte, mittlerweile in den Studios arbeiteten, Wiener Walzer und Schlager spielten. Nur einen Club gäbe es noch, das Onyx auf der 52sten Straße. Rosenkrantz aber ließ sich nicht entmutigen und entdeckte dabei den Jazz, den es natürlich nach wie vor gab in New York. Er hörte Don Redman im Apollo, traf den jungen John Hammond, erlebte Chick Webb im Savoy und war fasziniert vom Sänger Leo Watson.

Timmes Vater Palle Rosenkrantz war Dänemarks erster Krimiautor und hatte ihm einige Referenzschreiben mit auf den Weg gegeben. Die langweiligen Bekannten seines Vaters, zu denen ihm diese Schreiben die Türen öffneten, interessierten ihn aber weit weniger als die Musik Benny Carters oder Teddy Wilsons. Er begleitete Billie Holiday auf eine private Party, berichtet, wie der Saxophonist und Bandleader Charlie Barnet bei Musikern wie Eddie Condon oder Red McKenzie nicht zu beliebt gewesen sei. Um Benny Goodman im Casino de Paree zu hören, verpflichtete er sich sogar als Eintänzer. Er freundete sich mit Willie ‘The Lion’ Smith an, traf Art Tatum, besuchte Fats Waller in seinem Apartment und rauchte seinen ersten Joint, den ihm kein geringerer als Mezz Mezzrow besorgte.

Für eine Weile kehrte er nach Kopenhagen zurück, war aber bereits 1937 wieder zurück in New York. Wir lesen von Slim Gaillard und Slam Steward sowie der Sängerin Inez Cavanaugh (die seine Lebensgefährtin werden sollte), von W.C. Handy, Louis Armstrong und Bill Coleman. 1940 eröffneten Rosenkrantz und Cavanaugh in Harlem einen Plattenladen, den sie vier Jahre später wieder schließen mussten, weil die Geschäfte in Kriegszeiten einfach nicht gut genug gingen.

Rosenkrantz berichtet über das legendäre Nick’s in Greenwich Village und über seine Freundschaft zu Duke Ellington oder Stuff Smith und erhalten einen Einblick in die musikalische Welt, in der auch der Bebop geboren wurde. Rosenkrantz war dabei immer mehr als nur ein beobachtender Begleiter der Musiker; er produzierte Konzerte und teilweise auch Plattensessions, darunter legendäre Aufnahmesitzungen mit Erroll Garner. Eine Liste der von ihm produzierten Sessions ist im Anhang des Buches enthalten. Auch wenn der Untertitel Memoiren bis 1969 verspricht, hören Rosenkrantzs eigene Erinnerungen weitgehend in den Mitt-1940er Jahren auf. Das ursprünglich auf Dänisch verfasste Buch wird ergänzt um eine Würdigung des Saxophonisten Coleman Hawkins aus Anlass dessen Todes im Jahr 1969 sowie um ein von seine Nichte verfasstes Nachwort, in dem auch sein Club “Timme’s” gewürdigt wird, den er in den 1960er Jahren in Kopenhagen gründete.

Seine Erinnerungen verfasste Rosenkrantz 1964 auf Dänisch, und es ist an der Zeit, dass dieser Zeitzeugenbericht auch einer breiteren Leserschaft zugänglich gemacht wird. Fradley Garner, ein seit 1960 in Kopenhagen lebender Amerikaner, hat sich der verdienstvollen Aufgabe angenommen, eine leicht annotierte und um erklärende Interviewausschnitte mit anderen Zeitzeugen bereicherte englische Übersetzung des Buchs herauszugeben, das einen überaus lebendigen Einblick in die swingende Musik der 1930er bis 1950er Jahre gibt, geschrieben von einem Outsider, der vielleicht gerade deshalb einen objektiveren, einen distanzierteren, einen kritischeren und manchmal verwunderteren Blick auf die Jazzgeschichte besaß als das Einheimischen gelungen wäre.

Timme Rosenkrantzs “Harlem Jazz Adventures” erlauben einen einzigartigen Einblick in die musikalische Welt New Yorks in den 1930er bis 1940er Jahren, jene Zeit des Umbruchs zwischen Swing und Bebop, als die Musiker mit ästhetischem Selbstbewusstsein und Tatendrang den Jazz fortentwickelten. Zwischen den vielen Anekdoten aber, die das Buch so ungemein kurzweilig machen, entdeckt man immer wieder die Ernsthaftigkeit, mit der die Musiker ihre Kunst vorantrieben.

Mehr zum Buch auf der Website: http://www.jazzbaron.com/

Wolfram Knauer (März 2012)


 

Black Box Pop. Analysen populärer Musik
herausgegeben von Dietrich Helms & Thomas Phleps
Bielefeld 2012 (transcript)
282 Seiten, 24,95 Euro
ISBN: 978-3-8376-1878-5

UMS1878.inddBand 38 der ASPM Beiträge zur Popularmusikforschung enthält allgemeine und spezifische Texte zum Thema “Analyse” von Popmusik. Es geht um analytische Methoden (Frank Riedemann, Allan Moore, Simon Zagorski-Thomas), um die Frage, was in diesem Bereich Analyse überhaupt leisten kann (Simon Obert, André Doehring), und es geht um ein paar konkrete Beispiele, etwa die ausführliche historische Genese der Songformen populärer Musik (Ralf von Appen und Markus Frei-Hauenschild), Johnny Cashs “Hurt”, das Steffen just in verschiedenen Versionen vergleicht, oder um das Timing im Spiel von Jazzgitarristen, das Márton Szegedi bei John Scofield, Pat Metheny, Bill frisell, Mike Stern untersucht. Christa Bruckner-Haring fragt danac, was vom Danzón in Gonzalo Rubalcabas Spiel fortlebt, und Helmut Rösing rekapituliert Methoden musikalischer Analyse, um Copyright-Fragen etwa bei Plagiatsvorwürfen zu klären.

Das Buch versammelt einen bunten Fundus interessanter Ansätze und dokumentiert zugleich die 21. Arbeitstagung des Arbeitskreises Studium Populärer Musik (ASPM) im November 2010 in Mannheim.

(Wolfram Knauer, Januar 2012)

[:de]Neue Bücher 2013[:en]New Books 2013[:]

[:de]Music Is Forever. Dizzy Gillespie, the Jazz Legend, and Me
von Dave Usher (with Berl Falbaum)
Detroit 2013 (Red Anchor Productions)
178 Seiten, 17,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-692-21110-6

2013usherDave Usher? Nie gehört? Mir ging es ähnlich. Sein Ko-Autor Merl Falbaum beschreibt Usher im Vorwort als einen erfolgreichen Geschäftsmann, der in Detroit in den 1950er Jahren eine Firma zur Beseitigung umweltgefährdender Schadstoffe gegründet hatte. Auf dem Buchtitel von “Music is Forever” sind Usher und Gillespie in kurzen Hosen zu sehen, wie sie in kurzen Hosen und Sandalen durch eine südfranzösische Stadt schlappen. In Gillespies Autobiographie kommt man der Beziehung zwischen beiden auf die Spur: Hier wird Usher auf vier Seiten als Geschäftspartner erwähnt, der Anfang der 1950er Jahre das Plattenlabel Dee Gee mit ungeschickten Entscheidungen, insbesondere säumigen Steuerzahlungen, in den Bankrott getrieben habe. Und nun erzählt Usher selbst seine Geschichte, die von Freundschaft genauso handelt wie vom Business hinter den Kulissen der Jazzszene.

Usher lernte Gillespie 1944 bei einem Konzert in Detroit kennen – im Interview für Gillespies Autobiographie nennt er das Jahr 1945, das tatsächlich wahrscheinlicher ist -, als er gerade mal 14 oder 15 Jahre alt war. Wenige Jahre später gründete er eine eigene Plattenfirma, Emanon, die den Recording Ban der amerikanischen Musikergewerkschaft umgehen sollte, indem sie Aufnahmen, unter der künstlerischen Leitung von Kenny Clarke in Frankreich anfertigen ließ, mit der Vereinbarung, dass Charles Delaunay diese Platten in Europa, Usher in den USA vermarkten könne. 1951 schlug Gillespie, der mit seiner Plattenfirma Capitol nicht zufrieden war, Usher vor, ein gemeinsames Label, Dee Gee, zu gründen. Usher erzählt, dass die Produktionen der Firma, als deren Adresse sein Elternhaus angegeben war, nie Geld abgeworfen hätten. Sie benutzten ein kleines Studio in Detroit, und Usher schlug Gillespie vor, dort auch andere Künstler aufzunehmen, unter anderem das Milt Jackson Quartet, das damals noch nicht Modern Jazz Quartet hieß, aber bereits die erste Besetzung des MJQ hatte.

Nach der Pleite von Dee Gee begann Usher sich stärker in der Firma seines Vaters einzubringen, anfangs im Öl-Recylcing, dann mehr und mehr in der Beseitigung von Umweltgiften. Nebenbei hielt er Kontakt zu Gillespie, dessen Konzerte er besuchte, wann immer er konnte. 1956 nahm Gillespie ihn mit auf eine Südamerikatournee seiner Bigband fürs State Department. Usher berichtet von den Strapazen der Reise, vom Rassismus in Argentinien, vom ersten Treffen Dizzys mit Lalo Schifrin und davon, wie er 2001 drei CDs herausbrachte, die diese Tournee dokumentieren.

Nach seiner Rückkehr aus Südamerika wurde Usher A&R Manager für Argo Records, wo er unter anderem Aufnahmen mit Ahmad Jamal, James Moody, Barry Harris und Sonny Stitt zu verantworten hatte. Er berichtet von Dizzy Gillespies Präsidentschaftskandidatur von 1964, vom Bahá’i-Glauben, zu dem der Trompeter sich seit 1968 bekannte, vom Konzert im Weißen Haus im Juni 1978, bei dem Jimmy Carter als “Gesangssolist” in “Salt Peanuts” einstieg, und von späteren Ehrungen am selben Ort, von Gillespies Kuba-Reise im Jahr 1985, bei der er einerseits Fidel Castro und andererseits Arturo Sandoval traf, sowie von einer Reise nach Nigeria im Jahr 1989.

1985 hatte Gillespie Diabetes entwickelt, 1992 wurde Leberkrebs festgestellt, im Januar 1993 starb der Trompeter im Alter von 75 Jahren. Usher hielt bis zu seinem Tod engen Kontakt zu seinem Freund und zeitweisen Geschäftspartner.

Sein Buch handelt nur ganz am Anfang von der Musik Dizzy Gillespies, als Usher erzählt, wie er zum ersten Mal ein Solo des Trompeters gehört habe und danach gefangen gewesen sei. Man erfährt wenig über den Bebop, dafür viel über Gillespie als Menschen und jede Menge über Entscheidungen hinter den Kulissen der Jazzszene. Es sind sehr persönliche und damit ganz gewiss nicht objektive Erinnerungen, die dem Leser dennoch etliche wenig bekannte Facetten der Jazzgeschichte beleuchten.

 

Wolfram Knauer (März 2016)


 

American Composers. Alec Wilder
von Philip Lambert
Urbana/IL 2013 (University of Illinois Press)
176 Seiten, 22 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-07913-9

2013lambertAlec Wilder gehörte sein Leben lang zu den “musicians’ musician”, besser vielleicht zu den “musicians’ composers”, den Lieblingskomponisten vor allem anderer Musiker, die ins Schwärmen gerieten, wenn sie über ihn sprachen, obwohl sein Name kaum über diesen Kreis der Eingeweihten hinaus bekannt wurde. Wilders Kompositionen saßen zwischen den Stühlen, waren Kunstlieder mit Anleihen aus dem American Popular Song, Blues- oder Standardkompositionen mit weit gefasstem harmonischen Anspruch, Instrumentalkompositionen für ungewöhnlich besetzte Ensembles, die sich aus Jazz- und Klassikidiomen gleichermaßen bedienten und neben Melodik, Rhythmik und Harmonik immer auch auf die besondere Wirkung des Sound eingingen. Die legendären Oktett-Aufnahmen aus den späten 1930er Jahren nehmen Bezug auf Benny Goodmans quirlige Aufnahmen derselben Zeit und klingen im ersten Eindruck wie Jazz, sind aber durchkomponiert und für so kuriose Instrumente wie Cembalo, Oboe und Fagott gesetzt. Einige seiner Stücke wurden tatsächlich zu Standards, “Who Can I Turn To” beispielsweise, “While We’re Young”, vor allem aber “I’ll Be Around”. Jazzmusiker liebten seine Stücke, weil sie auf der einen Seite harmonische Überraschungen enthielten, auf der anderen Seite aber doch genügend Freiheit ließen, sie auch in andere Richtungen weiterzuentwickeln.

Philip Lamberts Buch über Alec Wilder ist keine Biographie, sondern eine Annäherung an seine Musik. Lambert nimmt sich in seinem analytischen Ansatz ein Beispiel an den Veröffentlichungen seines Untersuchungsgegenstandes selbst, insbesondere an dem großartigen “American Popular Song”, in dem Wilder 1972 dem Repertoire des amerikanischen Standards liebevoll analysierend und einordnend auf die Pelle rückte. Sein erstes Kapitel befasst sich mit Wilders frühesten musikalischen Entwicklung. Wilder wurde 1907 in Rochester, New York, geboren und sich Mitte der 1920er Jahre nach Erfahrungen als Banjo-Spieler in lokalen Bands entschieden Musiker zu werden. Er sammelte Noten populärer Hits, studierte aber auch die europäische Klassik, spielte Klavierauszüge von Wagneropern. Er hing in der Musikhochschule in Rochester herum, obwohl er sich nie formell eingeschrieben hatte. Anfangs schrieb er vor allem Kunstlieder, oft nach Gedichten von Emily Dickinson, John Keats und anderen. Nach und nach schrieb er auch eigene Texte, arbeitete in beiden Tätigkeiten mit seinen Erfahrungen mit amerikanischer Popmusik, spielte mit den Konventionen der 32taktigen AABA-Form oder mit den Reimen und Binnenreimen. Er schrieb für Revuen, und einige seiner Stücke schafften es ins Repertoire bekannter Sängerinnen (Helen Forrest sang “Soft as Spring”, und “Trouble Is a Man” wurde u.a. von Sarah Vaughan und Ella Fitzgerald aufgenommen).

In Rochester hatte er sich mit dem Oboisten Mitch Miller angefreundet, der Mitte der 1930er Jahre im Duo mit einer Cembalistin auftrat, mit der er neben Barockmusik auch Swing-Klassiker spielte. Miller ermutigte Wilder, 1938 seine ersten Kompositionen für Bläser zuschreiben, konkret für Oboe, Flöte, Fagott, Klarinette, Bassklarinette, dazu Cembalo, Bass und Schlagzeug. Die Stücke hießen etwa “Neurotic Goldfish” oder “The House Detective Registers” und erinnerten in der Namensgebung an Aufnahmen von Red Norvo oder Reginald Forsythe, in Machart und Klang aber auch an die etwa zeitgleich eingespielten Stücke des John Kirby Sextet. Die Platten fielen zwischen alle Ritzen: Den Jazzern waren die klassischen Einflüsse zu stark, den Klassikern stieß der Jazzgeschmack sauer auf.

Philip Lambert untersucht in seinem Buch Wilders Textstrukturen, Korrelationen dazu in der musikalischen Faktur, die Formgestalt der kleineren Songs genauso wie der größeren Konzertwerke, seine Kompositionen für Horn genauso wie Bühnenwerke oder sinfonische Versuche, schließlich Wilders Kunst der Orchestration, bei der die Soundfaktur seiner Stücke sich nahtlos in die Harmonik fügte. Wilders Lebensgeschichte zwischen dem Schreibtisch und den kleineren und größeren Bühnen New Yorks gerät dabei oft in der Hintergrund, obwohl sein Interesse an dem, was in den Clubs der 52nd Street, am Broadway oder an anderen Bühnen der Stadt gespielt wurde, seine Musik maßgeblich mit prägte. Jazzmusiker nahmen sich seiner Stücke immer häufiger an – eine seiner treuesten Anhängerinnen war die Pianistin Marian McPartland –, und so sehr er auch deren Interpretationen genoss, achtete er doch auch eifersüchtig auf die Veränderungen die sie seinen kompositorischen Grundgestalten angedeihen ließen.

Am Ende des vor allem musikwissenschaftlich empfehlenswerten Buchs, das in der Reihe “American Composers” erschienen ist, finden sich eine ausgewählte Werkliste, weitere Lesetipps sowie ein ausführliches Register. Philip Lamberts “Alec Wilder” liest sich ein wenig, als wäre es eine wichtige Ergänzung zu Wilders eigenem “American Popular Song”, eine Nähe in Stil und Ansatz, die durchaus als ausdrückliches Lob verstanden werden sollte.

Wolfram Knauer (Juni 2015)


 

Experiencing Jazz. A Listener’s Companion
von Michael Stephans
Lanham/MD 2013 (Scarecrow Press)
488 Seiten, 27,95 US-Dollar
ISBN_978-0-8108-8289-8

2013stephansAls Schlagzeuger hat Michael Stephans mit Bennie Maupin, Bob Brookmeyer, Dave Liebman und anderen zusammengespielt. Jetzt hat er ein Buch vorgelegt, eine Art Jazzgeschichte aus der Sicht des Hörers. Jazz erfahren, meint Stephans, sei eine höchst persönliche Angelegenheit, für die Musiker genauso wie fürs Publikum, und die Ansätze für diese Erfahrung seien daher notwendigerweise grundverschieden. Sein Buch nennt sich im Untertitel “A Listener’s Companion”. Anders, als man erwarten könnte, geht es ihm dabei aber nicht um bedeutende Aufnahmen der Jazzgeschichte, die er dem Leser anempfiehlt, um gleich eine Hörhilfe oder gar Interpretation mitzuliefern. Stephans will seine Leser vielmehr selbst die Ohren spitzen lassen und weist deshalb vor allem darauf hin, worauf man alles hören könnte.

Sein Buch ist strukturiert wie Jazzbücher es allgemein sind: eine allgemeine Geschichte des Jazz von den Anfängen bis zum Bebop, vom Bebop bis heute; Besetzungsunterschiede (Small Band, Bigband), zwölf Kapitel über verschiedene Instrumente, ein Kapitel zur Ästhetik (Kunst oder Unterhaltung?) sowie ein abschließendes Kapitel mit einem Ausblick auf die mögliche Zukunft dieser Musik. Innerhalb dieser Kapitel behält sich Stephans dann die Freiheit vor, nicht chronologisch und erschöpfend zu erzählen, sondern mal anekdotisch, mal musikalisch entdeckend. Er holt sich Tipps und persönliche Ansichten von Kollegen ein, etwa Dave Douglas, Roswell Rudd, Joe Lovano, Rudresh Mahanthappa, Bennie Maupin, John Scofield und anderen, sucht sich immer wieder auch Aufnahmen aus der Jazzgeschichte heraus, die er in kurzen, analytisch nicht zu tief gehenden Hörvignetten beschreibt. Seine Grundfrage lautet durchwegs: Wie kann ich den uneingeweihten Hörer neugierig auf diese Musik machen, egal, ob es sich um eine Aufnahme von Armstrong oder Ellington handelt oder abstraktere Konzepte etwa von Cecil Taylor oder Anthony Braxton.

Stephans lässt sich treiben in seinen Einblicken in die Musik, und so sehr einen die verschiedenen Abzweigungen seiner Geschichte ablenken könnten, so sind doch gerade sie es, die das Buch interessant machen. Da beschreibt er das Hörempfinden zu Eric Dolphy mit dem einen Wort, “Joy”, beklagt dann im nächsten Einschub, dass kaum jemand aus der Jazzgemeinde anwesend war, als ein neues Gemeindezentrum in Los Angeles offiziell nach Dolphy benannt wurde. Er nennt die Einflüsse auf Tim Berne, die uns als Leser nachvollziehen lassen sollen, warum der Saxophonist, der mit Rhythm & Blues groß wurde, sich später an der avantgardistischen Musiksprache Julius Hemphills orientierte. In der Musik Bill Frisells, Niels Clines und Marc Ribots sieht er eine bewusste Vermeidung stilistischer Kategorien; und er erinnert sich an die erste Begegnung mit Joe Lovano, bei der die beiden im Birdland in New York nicht etwa über Musik, sondern über Rasenmähermodelle gesprochen hätten.

Das alles bringt Stephans in einem erzählerischen Tonfall rüber, der das Buch leicht lesbar macht. Das angepeilte Publikum sind zukünftige Jazzfans, denen der Autor die Schwellenängste nehmen möchte, daneben aber auch bereits überzeugte Jazzliebhaber, die in seinen Kapiteln viel Neues und Nachdenkenswertes finden können. “Experiencing Jazz” ist sicher kein Textbook oder Nachschlagewerk zur Jazzgeschichte. Aber ein “Begleiter” fürs neugierige Hören ist es allemal.

Wolfram Knauer (Mai 2015)


Willisau und All That Jazz. Eine visuelle Chronik / A Visual History, 1966-2013
von Niklaus Troxler & Olivier Senn
Luzern 2013 (Hochschule Luzern / Till Schaap Edition)
702 Seiten, 78 Schweizer Franken
ISBN: 978-3-03828-000-2

2013troxlerVor 1966 war Willisau höchstens als historisches Städtchen im Luzerner Hinterland bekannt, seither aber verbindet sich mit dem Ortsnamen der Mut des aktuellen Jazz und der improvisierten Musik. Damals hatte Niklaus Troxler begonnen Konzerte zu planen und zugleich die Werbemedien für die Konzerte zu gestalten, die inzwischen zu Plakatikonen geworden sind. Er lud Musiker ein, auf die er neugierig war, und er ermutigte sie dazu das zu spielen, was ihnen wichtig war. John Zorn fasst zusammen: “Die Musiker sind sich einig: Es ist jedes Mal ein besonderes Vergnügen, am Jazz Festival Willisau zu spielen. Der wichtigste Grund dafür ist, dass Niklaus Troxler selber bei ihren Auftritten immer am Bühnenrand ist. Er hört sich jede einzelne Note von jedem einzelnen Musiker während jedes einzelnen Sets an.”

Auf über 700 Seiten geben Troxler und Olivier Senn, der Troxlers Privatarchiv für die Hochschule Luzern übernahm, also rund 720 Stunden Mitschnitte der Konzerte, über 180 Plakate, dazu sämtliche Festival-Programmhefte und jede Menge Presseberichte über das Festival, einen Einblick in Geschichte und Bedeutung Willisaus. 1966 geht es los mit zwei eher traditionellen Konzerten, ab 1968 kamen mit dem Pierre Favre Trio die ersten freien Veranstaltungen dazu. Aus der Konzertreihe, die sich quasi übers ganze Jahr hinzog und immer größere Namen ins Luzerner Hinterland brachte, wurde 1975 das 1. Jazz Festival Willisau.

Das Buch präsentiert alle Plakate der Veranstaltungen, viele Fotos der Konzerte, Ausschnitte aus Rezensionen lokaler und nationaler Zeitungen, die Abfolge der Bands, vor allem aber Troxlers Erinnerungen an die Geschehnisse auf und abseits der Bühne. Troxler berichtet über Entscheidungen für (oder gegen) Bands, über die Unterstützung von offizieller Seite, vom Kanton, von Firmen vor Ort und von Privatpersonen. Neben den üblichen Onstage-Fotos finden sich Bilder, die die Musiker hinter der Bühne zeigen oder beim Soundcheck oder das Publikum oder den Campingplatz, der von vielen Besuchern benutzt wurde. Troxler berichtet von viel Zustimmung, aber auch von Kritik des Publikums an seinen Programmentscheidungen oder der Preisgestaltung des Festivals. Neben dem Alltagsgeschäft eines Festivalorganisators gehörte zu seinen Aufgaben etwa auch, einem amerikanischen Musiker, der seinen Pass vergessen hatte, Ersatzpapiere zu besorgen, damit dieser in die Schweiz einreisen konnte.

Troxlers Buch ist Dokumentation einer Musik im Wandel, aber auch die Dokumentation eines ästhetischen Diskurses, der vor allem in seinen Kommentaren durchscheint. Troxler blieb seiner Maxime treu, Musiker einzuladen, die er selbst gern hören wollte, und so sind die Konzerte in Willisau eine Art Abbild seines eigenen Geschmacks, so wie wir “Normalsterblichen” vielleicht unsere Plattensammlung als Abbild unseres musikalischen Geschmacks empfinden würden.

“Willisau and All That Jazz” ist ein spannendes Buch – selbst für diejenigen, die keine eigenen Erinnerungen an den Ort und sein Festival haben. Die sorgsam ausgewählten Fotos, die von Anfang an einzigartige Plakatgestaltung und die erhellenden Texte Troxlers – auf deutsch wie auf englisch – sorgen für eine ungemein kurzweilige Lektüre. Eine ausführliche Liste aller Konzerte und Plakate beschließt zusammen mit einer Diskographie der in Willisau entstandenen Tonträger und einem Register aller im Text erwähnten Namen dieses dicke, dabei aber äußerst empfehlenswerte Buch.

Wolfram Knauer (April 2015)


Bruce Lundvall. Playing By Ear
von Dan Ouellette
New York 2013 (ArtistShare)
404 Seiten, 19,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-615-92266-9

2013lundvallWie das meiste im Jazzgeschäft ist Jazzproduzent kein Ausbildungsberuf. Die meisten der im Business tätigen Produzenten blieben hängen, nachdem sie sich in ihrer Jugend vom Jazz begeistern ließen. So war es auch bei Bruce Lundvall, der Mitte der 1950er Jahre regelmäßig von New Jersey, wo er wohnte und studierte, nach Manhattan fuhr, um im Birdland, im Café Bohemia, im Open Door die Helden seiner Jugend zu hören, Sonny Rollins, Art Blakey, Jackie McLean, selbst Charlie Parker, der an einem Abend im Open Door mit Lundvalls modischem Hut aus dem Club marschierte und ihn noch einen Monat später trug.

Bruce Lundvall, der in den 1980er Jahren Chef des renommierten Blue Note-Labels werden sollte, begann seine Karriere damit, dass er als junger Mann bei keinem geringeren als Alfred Lion, dem Blue Note-Gründer, vorsprach und um einen Job nachfragte, gern auch als Lehrling. Lion lehnte dankend ab, die Karriere Lundvalls nahm dennoch ihren Lauf.

Bruce Lundvall wurde 1935 in New Jersey geboren. Mit elf Jahren fand er im Jazz aus dem Radio seine erste wirkliche musikalische Liebe. Er sammelte Pfandflaschen, um Geld für Schellackplatten zu haben, erst von Swinggrößen wie Lionel Hampton, Benny Goodman, von populärem Jazzstars wie Louis Armstrong und Billie Holiday, bald aber auch von moderneren Musikern, die im Radio direkt aus dem Royal Roost übertragen wurden. Nach seinem Studio bekam er einen Job bei einer Werbeagentur in Manhattan, wurde dann eingezogen und in Stuttgart stationiert, wo er im Atlanta Club Horace Silver und Chet Baker sowie jede Menge deutscher und Schweizer Musiker erlebte und auch immer wieder nach Paris fuhr, um Bud Powell zu hören.

Zurück in New York erhielt er im Juli 1960 seinen ersten Job in der Plattenindustrie, als Lehrling bei Columbia Records. Er durchlief die verschiedenen Abteilungen der Firma, wurde aber insbesondere im Marketing Department eingesetzt, wo er Jazzalben genauso zu betreuen hatte wie Broadway-Musical-Mitschnitte und Pophits. Er arbeitete mit der Produzentenlegende John Hammond zusammen, und er erzählt von den Kämpfen, die man sowohl innerhalb der Firma wie auch außerhalb austragen musste, um Projekte, von denen man überzeugt war, durchzubringen.

Er berichtet auch von kriminellen Aktivitäten im Musikmilieu, die bald Ermittlungen nach sich zogen, das Label durchrüttelten, Lundvalls Stellung an der Spitze der Marketingabteilung aber eher festigten. In den 1970er Jahren nahm Columbia immer mehr Country- und Rockstars unter Vertrag, Lundvall gelang es daneben auch einige Spitzen-Jazzer im Katalog zu halten, unter ihnen Stan Getz und Miles Davis. Ein ausführliches Kapitel beschreibt das amerikanische Comeback von Dexter Gordon in den 1970er Jahren, das von Columbia und ganz persönlich von Bruce Lundvall begleitet wurde. Trotz des amerikanischen Embargos von Kuba gelang es ihm die Band Irakere unter Vertrag zu nehmen und im März 1979 eine “Havana Jam” im Karl Marx Theater von Havanna aufzunehmen, bei der kubanische und US-amerikanische Stars miteinander spielten.

Bruce Lundvall war mittlerweile zum Präsidenten von CBS aufgestiegen, doch die Zeiten fürs Plattengeschäft wurden nicht leichter. 1982 entschied er sich, auszusteigen und mit Elektra Musician ein neues Jazzlabel zu gründen. Die erste Veröffentlichung war “One Night in Washington”, eine historische Liveaufnahme mit Charlie Parker, dann folgten Platten mit Eric Gale, Lee Ritenour, Chick Corea und Lenny White. Er entdeckte Bobby McFerrin, arbeitete mit Linda Ronstadt, Carly Simon und Queen und ärgert sich eigentlich nur, dass Whitney Houston, die er gern unter Vertrag genommen hätte, mit der Konkurrenz ging. Seine Karriere gelangte schließlich bei seinen Anfängen an, als er 1984 Blue Note Records übernahm, das Alfred Lion längst verkauft hatte und das kaum mehr als aktuelles Plattenlabel wahrgenommen wurde. Es war Lundvalls Verdienst, den Drahtseilakt zu meistern, das Label erfolgreich und populär zu halten und zugleich die Glaubwürdigkeit der langen Labelgeschichte nicht zu verspielen. Er verpflichtete populäre Acts, hatte Hits etwa mit Cassandra Wilson, Kurt Elling und Norah Jones, hielt daneben aber die Blue-Note-Tradition am Leben, und ermutigte junge Musiker wie Robert Glasper, ihren eigenen Weg zu gehen.

Mittlerweile hat Bruce Lundvall die Geschäfte bei Blue Note an Don Was weitergereicht, der sich durchaus bewusst ist, in was für große Fußstapfen er da tritt. Lundvall selbst hat über die Jahrzehnte die Karriere von etlichen Musikern mit beeinflusst, und viele von ihnen zollen ihm in Exkursen des Buchs Respekt, so beispielsweise Herbie Hancock, Willie Nelson, Paquito D’Rivera, Bobby McFerrin, Rubén Blades, Greg Osby, Joe Lovano, Cassandra Wilson, Kurt Elling, Norah Jones, Wynton Marsalis, Amos Lee und Terence Blanchard.

Dan Ouellette hat Lundvalls Karriere mit viel Sympathie und dem Bewusstsein dafür geschrieben, dass sein Buch (genauso wie die Arbeit seines Sujets) die Musik genauso streift wie das Musikbusiness. Er erlaubt Einblicke in ein Geschäft, das den Spagat schaffen will, große Kunst öffentlich zu machen, junge Musiker zu entdecken und zu fördern, den Jazz voranzubringen und dabei doch auch für alle Beteiligten Geld zu verdienen. Lundvall begann seine Karriere, als die Plattenindustrie von Schellackplatten zum LP-Format überging. Er begleitete die Musik von der LP zur CD. Und er stieg aus dem Business aus, als die Musik immer mehr von den physischen Tonträgern in die Cloud abwanderte. Seine geschäftlichen wie künstlerischen Entscheidungen haben Musikgeschichte geschrieben, und Ouellettes Biographie zeigt recht deutlich, welche Qualitäten man in diesem Geschäft besitzen muss, um die Künstler genauso zufriedenzustellen wie die Musikkritik und die Finanzmanager der Labels. Dass es bei all dem nicht nur um Jazz geht, ist klar: Lundvall war ein Tausendsassa des Business und hatte Popalben genauso zu verantworten wie den Jazz. Dass der Jazz ihm aber immer wichtigster Antrieb war, wird auch klar und erlaubt so einen weiteren Blick hinter die Kulissen dieser Musik.

Wolfram Knauer (Februar 2015)


New Orleans. Creolization and all that Jazz
von Berndt Ostendorf
Innsbruck 2013 (StudienVerlag)
203 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-7065-5209-7

2013ostendorfIm zehnten Kapitel seines Buchs erzählt Berndt Ostendorf, wie er den Jazz für sich entdeckt hatte, nachdem sein Bruder 1951 zwei Schellackplatten mit nach Hause brachte, Earl Bostics “Flamingo” und Oscar Petersons “Jumping With Symphony Sid”. Bald hörte Ostendorf die legendäre “Voice of America Jazz Hour” mit Willis Conovers sonorer Stimme “in special English” auf dem Kurzwellenradio seines Bruders, und durchlebte daneben wie wohl jeder Deutsche jener Zeit den Generationskonflikt zwischen Vergangenheitsbewältigung und Rebellion. Mit 17 nahm er an einem Schüleraustausch teil, der ihn nach Dubuque, Iowa, brachte, in die amerikanische Provinz also, die so ganz anders war als seine Faszination mit der Neuen Welt ihn hatte träumen lassen. Immerhin stoppten etliche der großen Bands in der Stadt, Goodman, Basie, Ellington, Kenton. Später verbrachte er etliche Jahre in den USA, lebte in Washington, D.C., wo er jede Menge Jazz hörte und sich “vor Ort” mit der Realität der amerikanischen Gesellschaft und ihrer Probleme auseinandersetzen konnte. Zurück in Deutschland unterrichtete er am Englisch- und am Geschichtsseminar der Universität Freiburg und gab insbesondere immer wieder Kurse über Minderheiten. Das Münchner Amerika Institut, dem er seit 1981 vorstand, war 1949 als Teil des Reeducation-Programms der Amerikaner gegründet worden, war aber bereits unter Ostendorfs Vorgänger mehr und mehr zu einem der ersten Seminare geworden, die “cultural studies” anboten. Was der Unterschied zwischen American Studies in den USA und in Europa sei, fragt Ostendorf zum Schluss dieses biographischen Kapitels, und antwortet aus seiner eigenen Erfahrung heraus: Die meisten Europäer seien auf das Feld der American Studies durch ihre Faszination mit amerikanischer Musik gestoßen.

Jazz also spielt eine wichtige Rolle in Ostendorfs Verständnis seines Forschungsbereichs, und Jazz spielt auch in den meisten Kapiteln dieses Buchs eine wichtige Rolle, das in elf Kapiteln (von denen die meisten bereits in anderen Sammelbänden veröffentlicht wurden) zu erklären versucht, wie amerikanische Kultur, um mit Ralph Ellison zu sprechen, die Form des Jazz besäße.

Da geht es um Jazzbegräbnisse in New Orleans und das Phänomen der Second Line, die kulturelle Kommunikation im Wortsinn auf die Straße bringt. Es geht um die kreolische Küche der Crescent City, in der sich jener kulturelle Schmelztiegel widerspiegelt, der der Stadt seit jeher nachgesagt wird. Es geht in einem zentralen Kapitel seines Buchs um das generelle Thema kreolischer Kulturen und des Prozesses der Kreolisierung. Es geht um die Welt der Cajuns in Louisiana nach 1968. Es geht um die Musik der 1960er Jahre zwischen politischer Paranoia und kulturellem Fundamentalismus. Es geht um den großen Beitrag der afro-amerikanischen Kultur, nämlich die Stärke des Ausdrucks, und ihre Rezeption in den diversen wissenschaftlichen Disziplinen.

Ostendorf ist Amerikanist und damit auch Literaturwissenschaftler. Seine Auseinandersetzung mit E.L. Doctorows Roman “Ragtime” von 1975 blickt allerdings vor allem auf die Musik, die im Buch erwähnt wird und die Relation zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Er schaut auf die europäische Jazzrezeption und die Änderungen in dieser seit den 1920er Jahren. Und er fragt in seinem abschließenden Kapitel, was dran sei an Ralph Ellisons Aussage, dass die Seele, “the swing and soul”, der amerikanischen Gesellschaft in der afro-amerikanischen Kultur begründet läge.

All diese Kapitel verbinden sich zu einem angenehm persönlich geformten kaleidoskopischen Blick auf das Thema Amerika aus der Sicht eines Amerikanisten, der weiß, dass “It don’t mean a thing if it ain’t got that swing”.

Wolfram Knauer (Januar 2015)


Concert-Life in Nineteenth-Century New Orleans. A Comprehensive Reference
von John H. Baron
Baton Rouge 2013 (Louisiana State University Press)
697 Seiten, 99 US-Dollar
ISBN: 978-0-8071-5082-5

2013baron1966 erschien mit Henry A. Kmens Buch “Music in New Orleans, 1791-1841” eine umfassende Studie über das Musikleben in der Stadt am Mississippi-Delta zwischen Sklavengesängen und Oper, lange vor der Geburt des Jazz. Kmen plante eine Fortsetzung seines Buch, zu der er aber nie kam. Sein opus magnum ist nach wie vor eine wichtige Quelle zur Einordnung der unterschiedlichen musikalischen Aktivitäten in New Orleans. Nun hat John Baron, Musikwissenschaftler an der Tulane University, ein umfangreiches Buch vorgelegt, das sich demselben Musikleben ganz praktisch nähert.

Baron beschreibt Spielorte wie Theater, Kirchen oder Parks, das sinfonische Musikleben der Stadt, Konzertgesellschaften und Chorvereine, die Unterrichtssituation vor und nach dem Bürgerkrieg, die Stellung von Schwarzen, aber auch die Beteiligung von Frauen am Musikleben der Stadt. Er gibt biographische Abrisse von vierzehn wichtigen (weißen) Musikern, Lehrern, Komponisten, Dirigenten, und beschießt sein Buch mit einer Chronologie der musikalischen Ereignisse von 1805 bis 1897.

Mit Ellis Marsalis und Bruce Boyd Raeburn, ersterer der Vater des Marsalis-Clan, letzterer der Chef des größten Jazzarchivs der Region, loben zwei Jazzer das Buch auf dem Umschlag, und das, obwohl das Wort “Jazz” darin keine Rolle spielt und Musiker, die für den Jazz von Belang waren, sich auch nur am Rande finden. Und doch ist Barons Opus unverzichtbar zum Verständnis der Vorgeschichte des Jazz, da er auflistet, was an offizieller Musik in der Stadt zu hören war. Die inoffizielle Musik, die etwa von den Schwarzen gemacht wurde, aber auch Volksmusik unterschiedlicher Provenienz, karibische Einflüsse und anderes mehr, findet bereits in den Quellen, die Baron auswertet, keine bis kaum Beachtung. Hier hätte man sich dann vielleicht doch noch ein angeschlossenes Kapitel gewünscht, dass genau diese inoffizielle Musikszene in die Chronologie seines etablierten New Orleans eingeordnet hätte, die zeitgenössischen Berichte also, die es ja durchaus auch gab, und die Baron in seinem Kapitel “Music and Race” etwas kurz abtut. Auch über die kulturelle Vermischung hätte man sich etwas mehr als kurze Exkurse gewünscht, ein Herausarbeiten der Voraussetzungen, warum ausgerechnet hier, wo Oper, Chorvereine, sinfonische Gesellschaften und andere genre-feste Organisationen das Musikleben scheinbar im Griff hatten, eine so ungemein kreative Vermengung der Traditionen geschehen konnte, die letzten Endes zur Ausbildung des Jazz führte.

Davon abgesehen aber ergänzt Baron Henry Kmens Buch um Fakten, die das Bild von New Orleans als einer international vernetzten musikalischen Metropole untermauern. Baron präsentiert dabei so viel an Information, dass “Concert Life in Nineteenth-Century New Orleans” kaum zum konsequenten Durchlesen einlädt, dafür als hilfreiches narratives Nachschlagewerk taugt, gerade auch deshalb, weil der Autor die gesammelte Information kontextualisiert und seinen Lesern damit ein Bild vermittelt, wie man es sich seinerzeit wohl auch aus der zeitgenössischen Presse zusammengeklaubt hätte. Ein großer Anmerkungsapparat, eine Bibliographie und ein ausführlicher Index beschließen diese Fleißarbeit, die für eine musikalische Stadterforschung der Crescent City viel neuen Stoff bietet.

Wolfram Knauer (Dezember 2014)


Black Europe
herausgegeben von Jeffrey Green & Rainer E. Lotz & Howard Rye
Holste 2013 (Bear Family Records BCD 16095)
2 Bücher (296 Seiten, 356 Seiten)
44 CDs
http://www.black-europe.com/
750 Euro inklusive Versand

2013greenlotzryeEin Lebenswerk, anders ist diese Edition nicht zu beschreiben. Ein Lebenswerk dreier Experten, die sich seit langem um die Dokumentation der frühen Jazzgeschichte in Europa verdient gemacht haben. Ein Lebenswerk dreier Forscher, die für diese editorische Arbeit in anderen Disziplinen mindestens einen zusätzlichen akademischen Grad verdienen würden. Über viele Jahre also sammelten die beiden Briten Jeffrey Green und Howard Rye sowie der Deutsche Rainer E. Lotz Aufnahmen sämtlicher von schwarzen Musikern und Sängern eingespielten Tondokumente in Europa vor 1927, schalteten Anzeigen, um bei anderen Sammlern dafür zu werben, ihnen für diese Box seltene Walzen oder Schellackplatten zur Verfügung zu stellen, und füllten damit schließlich 44 CDs mit insgesamt 1.244 Tracks oder umgerechnet einer Spielzeit von 56 Stunden. Als wäre das nicht genug, teilen die drei zusammen mit anderen Fachleuten ihr Wissen um die Frühzeit schwarzer Musiker in zwei LP-formatigen ausführlichen und reich bebilderten Büchern in ungemein lesenswerten Essays, in denen sie die Umstände der Aufnahme sowie das Leben und die Karriere der Künstler genauso beschreiben wie das Zustandekommen von seltenen Feldaufnahmen um die Jahrhundertwende oder die aus den CDs und den mehr als 2.000 Fotodokumenten ablesbare Rezeption schwarzer Menschen in Europa.

Wo also fängt man an… Vielleicht am besten bei der Musik. Aufnahmen früher Minstrel-Bands, Revuekünstler, Varieté-Acts; die kompletten Aufnahmen des Duos Pete Hampton und Laura Bowman von 1902 bis 1910 (zweieinhalb CDs); sämtliche Aufnahmen des Savoy Quartet zwischen 1916 und 1920 (dreieinhalb CDs); knapp zwei CDs mit Aufnahmen von Edmund Jenkins von 1921 und 1922; volle zwei CDs mit Einspielungen, die der Schlagzeuger Louis Mitchell zwischen 1921 und 1923 einspielte; die europäischen Aufnahmen von Sam Wooding, Layton & Johnstone, Sissle & Blake, Josephine Baker oder Arthur Briggs; Spiritualaufnahmen von John Payne oder Roland Hayes und so vieles, vieles mehr. Wenn man in Geschichtsbüchern von der Rezeption des authentischen Jazz im Europa des frühen 20sten Jahrhunderts liest, dann finden sich hier die Beispiele dessen, was wirklich zu hören war. Nicht alles entspricht dem, was wir heute auch historisch als Jazz bezeichnen würden; selbst einige der Hot-Bands der Zeit waren nun mal in erster Linie Showorchester. Doch genau diese Mischung afro-amerikanischer Präsenz aus der Nicht-Selbstverständlichkeit des ja noch so jungen Jazz heraus macht das Hören so spannend.

Allein die Versammlung dieser Quellen, die für die europäische Jazzrezeption der Frühzeit unverzichtbar sind, wäre eine Meisterleistung, doch entschieden die Herausgeber völlig zu Recht, dass man die Rezeption schwarzer Kultur nicht auf Afro-Amerika beschränken könne, da ihre Wahrnehmung in Europa sich auch nicht darauf beschränkte, sondern vor allem auf Hautfarbe. Die Rezeption schwarzer Kultur schwebte immer ein wenig zwischen den beiden Extremen: dem kolonialistischen Blick auf das fremde, wilde, als rückständig empfundene Afrika auf der einen und dem hoffnungsfrohen Blick auf die mitreißend neue, die Gegenwart widerzuspiegeln scheinende Mode Afro-Amerikas auf der anderen Seite. Also gehört zu den Aufnahmen früher Jazzmusiker und afro-amerikanischer Entertainer eben auch die Dokumentation eines europäischen Interesses an schwarzer afrikanischer Kultur – aus welchen Gründen auch immer. Und so finden sich auf “Black Europe” auch Aufnahmen, die nicht als kommerzielle Produkte für einen Markt gemacht wurden, sondern als Dokumente einer damals auf dem aktuellsten Stand der Forschung agierenden Musikethnologie. Diese hatte erkannt, dass die oral überlieferten Musiktraditionen anderer Kulturen sich durch reine Transkription nur schwer dokumentieren ließen, die Tonaufzeichnung jedoch völlig neue Möglichkeiten bot. Das Resultat sind etwa Aufnahmen anlässlich der Pariser Weltausstellung von 1900, Aufnahmen aus dem Lautarchiv der Humboldt-Universität, Aufnahmen der Phonographischen Kommission oder Archivaufnahmen, die afrikanische Musik und Sprache aus von Tunesien bis Südafrika dokumentieren.

“Black Europe” enthält damit 44 CDs, die eben nicht zwischen den Genres unterscheiden, sondern die auf ihnen enthaltenen Musikbeispiele als das nehmen, was sie sind: Dokumente eines breiten Interesses an fremder Kultur; Dokumente zugleich einer Ahnung, dass die enger werdende Kommunikation zwischen den Völkern ein Verstehen genauso erforderlich machte wie ein Erforschen; Dokumente einer breiten, damals vor allem unbedarften, aus heutiger Sicht klar rassistischen Neugier; Dokumente von Modetrends, die letztendlich den Beginn einer Umformung der ästhetischen Wertesysteme ausmachen sollten. Und damit sind wir dann bei dem, was neben der Musik in dieser Box zu finden ist, bei den vielen Fotos von Künstlern, Noten, Plakaten, Handzetteln sowie den ausführlichen Erläuterungen, die “Black Europe” auf mehr als 600 Seiten bietet.

Die Einleitung zu den beiden Textbänden beginnt mit der Vorgeschichte, der Wahrnehmung Afrikas in der europäischen Kulturgeschichte vom Mittelalter bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert und steckt somit den Rahmen ab. Die Faszination Europas an afrikanischer Kultur zeichnen die Autoren am Beispiel der Dahomeys nach, die im ausgehenden 19. Jahrhundert das europäische Bild der “wilden Afrikaner” prägten. Sie erkennen in der europäischen Rezeption Harriet Beecher Stowes “Onkel Toms Hütte” ein romantisierendes Bild der Sklaverei in Amerika. Sie berichten über die Fisk Jubilee Singers, die in den 1870er Jahren in großen Theatern und sogar bei Hofe auftraten, und über die Minstrel-Mode aus den USA, die zumindest auch in England Station machte. Sie dokumentieren die in Frankreich und Deutschland gegen Ende des Jahrhunderts populären Völkerschauen, die oft genug in zoologische Gärten verlegt wurden und die “Fremden” im eigenen Habitat zeigen sollten. Sie beschreiben die neuen Tänze, die die alte Welt eroberten und sich auf Musikformen wie Cakewalk oder Ragtime bezogen, aber auch Revuen, deren Acts zwischen Minstrelshow, zirzensischen Aufführungen, Tanz und Musik sich immer mehr europäischen Aufführungsformen wie der leichten Operette annäherten. Und sie stellen fest, dass, während Europa quasi durch die Mode der Musik und des Theaters ein langsames Interesse an fremden Kulturen entwickelte, die Forscher mit ihren transportablen Aufnahmegeräten selbst hinausgingen, um zu lauschen und zu dokumentieren, wie diese “Fremden” nicht nur anders aussahen, sondern auch anders klangen. “Black Europe” erzählt die Geschichte der transportablen Aufnahmetechnik in Ton wie frühem Film, ja listet in einem Unterkapitel sogar sämtliche bekannten Filmaufnahmen mit schwarzer Beteiligung zwischen 1895 und 1931 auf.

Ein wichtiger Bruch in der Wahrnehmung nicht nur des schwarzen Kontinents, sondern der ganzen Welt war der erste Weltkrieg, der erstmals zeigte, dass die Zeit der sich nur gegen ihre Nachbarn zu wehrenden Nationalstaaten wohl langsam vorbei war. “Black Europe” betrachtet verschiedene Aspekte schwarzer Präsenz im Krieg, von den französischen Besatzungstruppen im Rheinland bis zu James Reese Europes Harlem Hellfighters. Am Beispiel George Bohees wird die Faszination des Banjos dargestellt, am Beispiel des Komikers Chocolat die Auseinandersetzung französischer Maler mit schwarzer Kultur. Ein eigenes Kapitel beschäftigt sich mit dem Berliner Phonogramm-Archiv, gefolgt von Darstellungen der musikethnologischen Arbeit etwa in Südafrika, Kongo, Sudan, Kamerun, Senegambia, Somalia oder Ostafrika. Den Hauptteil aber nehmen von nun an personenspezifische Essays ein, die den europäischen Teil der Karrieren der in der Box enthaltenen Künstler darstellen, einschließlich unzähliger seltener Fotos und genauer diskographischer Angaben. Neben Lebensdaten und akribisch recherchierten Erkenntnissen über die europäischen Erlebnisse der Künstler bieten die Autoren dabei vor allem eine Kontextualisierung der Aufnahmen, erklären Texte und Besetzungsspezifika, zitieren aus Interviews mit den Künstlern oder aus zeitgenössischen Kritiken.

Diese Kapitel in einer Rezension erschöpfend zu würdigen ist kaum möglich. Greifen wir uns ein, zwei Kapitel heraus. Louis Mitchell begann seine Karriere als Sänger mit verschiedenen Varietéensembles. 1915 reiste er zusammen mit dem Pianisten Joe Jordan nach England. Er trat immer mehr als Schlagzeuger in Erscheinung, arbeitete mit einem französischen Orchester und wurde 1919 nach New York geschickt, um für den Manager des Casino de Paris ein 50-köpfiges Orchester mit afro-amerikanischen Musikern zusammenzustellen. Von den 45 Kollegen, die er nach einiger Zeit für das Projekt gewinnen konnte, nahm er am Ende nur fünf mit, die seine künftige Band bildeten und die als Mitchell’s Jazz Kings Furore machten. Die Autoren benennen die ersten Aufnahmen dieser Band vom Dezember 1921, wobei sie sich in ihrer Wertung zurückhalten, vor allem Ablaufbeschreibungen geben sowie eventuell zusätzliche Informationen über Komponisten, Textdichter, Rezeption einzelner Titel oder den möglichen Einsatz im abendlichen Revue- oder Tanzmusikgeschäft. Sie verfolgen die Entwicklung der Band, einzelner Solisten, erwähnen das Feuer, bei dem das Casino de Paris im Mai 1922 zerstört wurde, währenddessen die Jazz Kings wahrscheinlich ein Ausweichengagement in Aix en Provence wahrnahmen, und sie erklären, dass einige Aufnahmen, die der belgische Jazzhistoriker Robert Goffin auflistete, von Sammlern nie entdeckt wurden. Im November 1923 eröffnete Mitchell den ersten mehrerer eigener Nightclubs in Paris, die nach langsamen Anfängen recht erfolgreich waren. Mit dem Börsenkrach von 1929 endete allerdings die Hoch-Zeit der glitzernd-feiernden Seine-Metropole. Mitchell kehrte in die Vereinigten Staaten zurück, führte ein französisches Restaurant in New York und arbeitete in der Anzeigenabteilung zweier Tageszeitungen. Einige der früheren Jazz-King-Musiker gingen 1929 für zwei Tracks ins Studio, auf denen der Dichter Jean Cocteau als Rezitator zu hören ist (und die den einzigen zeitlichen Ausrutscher der Box nach-1927 darstellen).

Ein ganz anderes Kapitel ist jenes über J.J. Ransome-Kuti, eines nigerianischen Pastors, der 1903 zum Leiter seines regionalen Missionsdistrikts ernannt wurde und dort unter anderem durchsetzte, dass Christen Schirme benutzen durften, was zuvor nur dem Monarchen zugestanden war. Die Egba-Region, in der er lebte, kam 1914 unter britische Kolonialgewalt und erfuhr 1918 Aufstände, die sich sowohl gegen die Kolonialherren wie auch gegen literate Afrikaner und Christen richteten und bei denen Ransome-Kuti eine Vermittlerrolle zukam. In London nahm Ransome-Kuti 1922 im Alter von 67 Jahren 43 Hymnen auf, bei denen er von verschiedenen Pianist/inn/en begleitet wurde. Die Stücke singt er in der Yoruba-Sprache. Viele dieser Lieder, lernen wir, werden nach wie vor in nigerianischen Kirchen gesungen. Sie sind ein Beispiel für den Einfluss europäischer Hymnen in Afrika und ihre Veränderung durch Sprache, Stimmgebung und Interpretationstraditionen. Und, ja, Ransome-Kuti ist der Großvater von Olufela ‘Fela’ Ransome-Kuti, dem Saxophonisten und Begründer der Afrobeat-Bewegung.

Solche und andere Geschichten finden sich in den beiden Büchern und auf den 44 CDs, Geschichten von bekannten genauso wie von unbekanntem schwarzen Künstlerinnen und Künstlern, die Europa durch ihre Musik beeinflussten oder in Europa Dokumente aufnahmen, die die Wechselwirkung zwischen den Musiktraditionen auch in ihrem Land zeigten. Die Geschichten lassen die Fremdheit schwarzer Kultur für das europäische Publikum erahnen, handeln von jener Faszination an afrikanischer und afro-amerikanischer Musik, die von Agenten, Veranstaltern, aber auch von vielen Künstler als Marktchance begriffen wurde. Sie zeigen Stereotype auf, positive wie negative, und lassen einen nüchternen Blicke auf den Rassismus der Zeit werfen, der noch eng mit kolonialen Denkweisen verbunden war. Wie immer, wenn man sich mit Geschichte auseinandersetzt, kann man sich dabei trefflich darüber Gedanken machen, wie viel sich seither in der Weltsicht verändert hat, welche Klischees über schwarze Kultur und schwarzes Leben fortbestehen, und welche eigene Verantwortung wir als Europäer daran haben, wie es in unserer Welt zugeht. Neben dem kulturhistorischen Wert dieser Edition gibt es also zumindest zwischen den Zeilen auch einen hoch politischen.

In der Verzahnung afrikanischer, europäischer und afro-amerikanischer Dokumente ist “Black Europe” eine beispielhafte Dokumentation europäischer genauso wie globaler Musikgeschichte. Die Box erklärt in Wort und Ton, was an dieser Musik so viele Menschen zu Beginn des 20sten Jahrhunderts faszinierte und wie der wohl wichtigste Wandel globaler Musikgeschichte seinen Anfang nahm: in der Begeisterung einer alten Musikkultur mit sowohl alten wie auch ganz jungen Traditionen anderer Kulturen. “Black Europe” wurde jüngst für einen Grammy in der Kategorie “Best Historical Album” nominiert. Sehr zu Recht! Gratulation!

Wolfram Knauer (Dezember 2014)


Traditional Music in Coastal Louisiana. The 1934 Lomax Recordings
von Joshua Clegg Caffery
Baton Rouge 2013 (Louisiana State University Press)
346 Seiten, 49,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8071-5201-0

2013cafferyAlan Lomax war einer der bedeutendsten Musikethnologen der USA. Seine Feldaufnahmen von Bluesmusikern, Gospel- und Spiritualchören, Feld- und Gefangenengesängen und allen möglichen Volksmusikanten bieten einen tiefen Einblick in die nicht-kommerzielle Musikszene der Vereinigten Staaten in der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts. In den letzten Jahren sind etliche dieser Aufnahmen auf CD wiederveröffentlicht worden. Jetzt hat Joshua Clegg Jaffery ein Buch vorgelegt, das die Reise dokumentiert, die Alan Lomax 1934 mit seinem Vater, der damals als Kurator des American Folk Music Archive der Library of Congress tätig war, und mit einem tragbaren Aufnahmegerät durch den Süden Louisianas machte. Erst 1999 wurden 44 der Songs auf Platte veröffentlicht, einige der englischsprachigen Lieder fünf Jahre später. Cafferys Interesse gilt der Texterforschung dieser Lieder. Ihn interessiert dabei insbesondere der Prozess der “creolization”, der in den Songs, die teilweise in Englisch, teilweise in Französisch gehalten sind, ablesbar sei.

Caffery beginnt seine Studie mit einem Überblick über die Sammlung, die traditionelle französische Lieder enthält, afro-amerikanische, englische und amerikanische Volkslieder, Cajun und Zydeco-Musik (wobei der Begriff Zydeco erst später aufkam) sowie instrumentale Stücke. Dann geht es sofort ans Eingemachte: Geografisch sortiert von A wie Acadia Parish bis W wie West Feliciana Parish (Angola State Penitentiary) kontextualisiert er die Songs, deren Texte jeweils im Original wie in englischer Übersetzung abgedruckt sind, ordnet sie in Volksliedtraditionen ein oder stellt ihre Besonderheiten heraus. Er betrachtet die oft genug eindeutig zweideutigen Texte aus der Sicht der Zeit und vergleicht sie schon mal mit Erscheinungen populärer (Rap-)Musik heute.

Caffery listet alles auf, was über die Interpreten und die Genese der von ihnen gesungenen Stücke bekannt ist. Da findet sich etwa “Frankie and Albert”, das unter dem Titel “Frankie and Johnny” besser bekannt wurde. Der Autor diskutiert anhand dieses Stücks, ob es wohl auf die Ermordung der Cakewalk-Tänzerin Frankie Baker durch ihren Pianisten und Liebhaber Allen (Albert) Brit zurückgeht oder auf die Ermordnung von Frances ‘Frankie’ Silver durch ihren Ehemann in Morganton, North Carolina. Caffery geht auf Redeweisungen und ihre Verankerung im regionalen Sprachschatz ein , identifiziert historische Gegebenheiten oder regionale Legenden, findet Traditionen aus den unterschiedlichsten Regionen, beispielsweise jene deutscher Fensterlieder oder französischer Jagdlieder, entdeckt Ähnlichkeiten etwa eines französischsprachigen Song zu einem anglo-amerikanischen Volkslied und stellt Mutmaßungen über Umformungen, Tradierungen, Neugestaltungen an. Interessant sind auch seine Anmerkungen über afro-amerikanische Hymnen oder über improvisierte Liedtexte. Zu den Kuriositäten der Sammlung zählt die Beschreibung einer Aufnahme von Alan Lomaxs Schwester Bess und sowie von zwei Aufnahmen, auf denen Alan Lomax selbst zu hören ist.

Ein Quellenverzeichnis der Regierungsunterlagen, die dem Autor bei der Identifizierung der Musikerinnen und Musiker halfen, sowie eine Diskographie, die insbesondere auch die bereits veröffentlichten Lieder identifiziert, runden das Buch ab, das einen faszinierenden Einblick in eine Volksmusiktradition gibt, die so lange noch gar nicht her ist.

Wolfram Knauer (Dezember 2014)


The Creolization of American Culture. William Sidney Mount and the Roots of Blackface Minstrelsy
von Christopher J. Smith
Urbana, Illinois 2013 (University of Illinois Press)
352 Seiten, 45,00 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-03776-4

2013mountDie Geschichte afro-amerikanischer Kultur des 19. Jahrhunderts wird zumeist entlang literarischer Zeugnisse sowie der Nachklänge in der Musik erzählt, wie sie in Berichten und Erzählungen zu finden sind. Christopher J. Smith, seines Zeichens Musikethnologe aus Texas, nimmt ein anderes Oeuvre als Ausgangspunkt seiner Untersuchung über afro-amerikanische Musik des 19. Jahrhunderts: die Gemälde, Zeichnungen, Aufzeichnungen und Briefe des (weißen) Malers William Sidney Mount, der vor allem für seine Genremalerei bekannt wurde. In vielen seiner Bilder spielen musikalische Themen eine Rolle, Musiker, die vor einer Scheune oder im Haus für schwarze oder für weiße Tänzer zum Tanz aufspielen. Mounts Gemälde erinnern ein wenig an Solomon Northups Erinnerungen “Twelve Years a Slave”, die zum gleichnamigen, Oscar-prämierten Film führten und die Geschichte eines New Yorker schwarzen Bürgers erzählen, der in den 1840er Jahren sein Geld vor allem mit dem Aufspielen für Tanzveranstaltungen verdiente, bevor er in die Südstaaten verschleppt und als Sklave verkauft wurde.

Smith interessiert insbesondere jenes Phänomen, das er als “Creolization” bezeichnet, also die gegenseitige Beeinflussung der im Amerika der Sklaverei scheinbar so klar getrennten kulturellen Welten von schwarz und weiß. Seit den 1840er Jahren gab es mit der Minstrelsy ein eigenes Genre, das sich quasi der – wenn auch ironisierten – Vermischung der Kulturen verschrieben hatte und äußerst populär wurde. Die Blackface Minstrelsy, schreibt Smith, sei zumeist anhand literarischer Beschreibungen oder später veröffentlichter Sheet Music untersucht worden; Genremalerei, die auch schwarzes Leben abbildete, dagegen zumeist einzig aus kunsthistorischer Sicht. In seinem Buch wolle er die unterschiedlichen Quellen zum Thema miteinander in Beziehung setzen, Notenveröffentlichungen, Erzählungen, Bildzeugnisse, Kunstgewerbeprodukte sowie demografische Daten und andere Primärquellen.

Im ersten Kapitel stellt Smith die Wurzeln der Blackface Minstrelsy dar, die sowohl in Beziehung zu europäischen wie zu karibischen Karvevalstraditionen stünden. Neben Kostümen und schauspielerischer Aktion habe in diesem Genre vor allem Tanz und Musik eine Rolle gespielt. Smith beschreibt die üblichen Quellen, anhand derer man sich im Nachhinein ein Bild über das Erklingende machen kann, um dann in medias res zu gehen und insbesondere diejenigen Instrumente zu nennen, die im Rahmen von Minstrelshows zu hören waren, also Fiddle, verschiedene Arten von Perkussionsinstrumenten, das Banjo, Flöten und Gesang. Er beschreibt die Orte vor allem im Norden der Vereinigten Staaten, an denen Minstrel-Vorführungen zu erleben waren, und das typische Publikum. Im zweiten Kapitel geht Smith noch näher auf die Einflüsse ein, die zur Blackface Minstrelsy führten, insbesondere auf Vorformen in der Karibik und in New Orleans und betont daneben die Bedeutung von Hafenstädten für die Vermischung von Kulturen. Schließlich benennt er einige der bedeutenden Minstrels jener Zeit, George Washington Dixon, Joel Walker Sweeney, Dan Emmett und Thomas Dartmouth Rice und beschreibt, was ihre jeweiligen Acts ausmachte.

In Kapitel 3 nähert sich Smith seinem eigentlichem Thema, beschreibt das Umfeld des Malers William Sidney Mount, seine Jugendjahre, die “flash press”, eine Art halbseidene journalistische Führer durch die Halbwelt jener Zeit, in denen in Skizzen und Berichten ausgiebig über die unterschiedlichsten Vergnügungsformen berichtet wurde, und das African Grove Theater in New York, in dem seit 1820 schwarze Schauspieler mit einer improvisatorischen Mischung aus Musik, Song, Tanz und ernsten wie komischen Sketchen experimentierten. Schließlich nennt er einige konkrete Beispiele von typischen Szenen aus Minstrelshows.

Im vierten Kapitel konzentriert sich Smith insbesondere die Beschreibung und Kontextualisierung von vier Gemälden Mounts, “Just in tune” von 1849, “Right and Left” von 1850″ sowie “The Banjo Player” und “The Bone Player” von 1856. In Kapitel 5 untersucht er Musikmanuskripte und Sheet Music aus der Sammlung Mounts, beschreibt die melodischen und rhythmischen Aspekte der Musik, die bei solchen Minstrel-Events zu hören war, und diskutiert die Quellenlage, auf die wir im Nachhinein unsere Hörvorstellung bauen können. Minstrelsy bestand aber eben nicht nur aus Musik, sondern war zugleich eine sehr körperbewusste Performance, und so schließt in Kapitel 6 eine Diskussion von Tanz und Körperlichkeit an. Smith verfolgt Traditionslinien der Tänze nach Afrika bzw. in die Karibik, untersucht außerdem die ikonographischen Belege von Tanz etwa in Mounts Bildern.

Christopher J. Smiths Buch erlaubt einen Blick auf Vorformen des Jazz, die selten in den Fokus der Jazzforschung geraten. Ob der bereits im Buchtitel benutzte, im folgenden aber kaum kritisch diskutierte Begriff der “creolization” hier wirklich fasst, wäre (durchaus kontrovers) zu diskutieren. Das Besondere an Smiths Ansatz ist, dass er die Quellenlage um die visuelle Komponente der Gemälde und Skizzen William Sidney Mounts erweitert und es ihm dabei gelingt, die Musik noch stärker in den gesellschaftlichen Kontext der Zeit einzubauen.

Wolfram Knauer (Dezember 2014)


Learning to Listen. The Jazz Journey of Gary Burton. An Autobiography
von Gary Burton
Boston 2013 (Berklee Press)
384 Seiten, 27,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-87639-140-2

2013burton“Lass es gleich hinter uns bringen…”, scheint Gary Burton sein Buch beginnen zu lassen, wenn er beschreibt, wie ihn die NPR-Journalistin Terry Gross ganz direkt fragte, “Ich habe gehört, das Sie erst vor kurzem Ihr Coming Out hatten. Wie hat das Ihr Spiel beeinflusst?” Burton erzählt, dass er damals, als er sich sehr bewusst damit auseinandergesetzt hatte, sein Schwulsein öffentlich zu machen, fest überzeugt war, dass er sich selbst zuallererst als Jazzmusiker sah, der halt zufällig schwul sei, während er es heute andersherum sehe: Er könne schließlich Stunden, sogar schon mal Tage damit zubringen, nicht an Musik zu denken, aber jede Minute eines jeden Tages sei er schwul.

Burtons Autobiographie ist die Lebenserinnerung eines schwulen Jazzmusikers oder eines Jazz spielenden schwulen Mannes – wie auch immer man das sehen möchte, und die Tatsache, dass seine sexuelle Orientierung in ihr eine Rolle spielt, ist einfach der Tatsache zu verdanken, dass man in jeder künstlerischen Äußerung man selbst sein muss, und im Jazz vielleicht noch mehr als anderswo, dass daher die Geschichte Burtons eben genau die ist, die nämlich – wie er sich in der Einleitung selbst beschreibt – eines schwulen weißen Landeis, das seinen Weg in die kosmopolitische Machowelt des Jazz gefunden hatte.

Burtons Lebensgeschichte beginnt in Indiana, wo er im Alter von sechs Jahren die Marimba erlernte und bald zu einer Art Kinderstar auf diesem Instrument wurde, ob solistisch oder mit der Familienband, die der Vater mehr aus Spaß an der Freude als aus künstlerischem Drang zusammenstellte. Irgendwann hörte der Junge eine Platte von Lionel Hampton und wechselte daraufhin zum Vibraphon. Er besuchte einen Workshop, spielte auf der lokalen Szene und nahm 1959 seine erste Platte auf in einer Band, mit der der Countrystar Hank Garland in die Jazzwelt vordringen wollte.

Burton schrieb sich am Berklee College in Boston ein, das 1960 eine eher kleine Schule war und noch lange nicht der weltweit bekannte Ausbildungsbetrieb von heute. Das Plattenlabel RCA hatte ihm einen Vertrag angeboten, der die Kosten für seine Ausbildung garantierte und ihm die Möglichkeit regelmäßiger Alben bot. 1962 zog Burton nach New York und wurde Anfang 1963 für gut ein Jahr Mitglied im George Shearing Quintet. 1964 wechselte er ins Stan Getz Quartet, mit dem er kurz nach Getz’ ersten großen Bossa-Nova-Erfolgen tourte und in dem er fast zwei Jahre lang blieb. Nach seinem Ausscheiden entschied Burton sich dann, ein eigenes Quartett zu gründen, tat sich mit Steve Swallow zusammen, der ebenfalls bei Getz gespielt hatte, mit Larry Coryell und Bob Moses und feierte große Erfolge in den USA genauso wie bei ersten europäischen Tourneen. Mit dieser Band probierte er neue Klangwelten aus, eine Mischung aus Jazz und Rock, und das zwei Jahre, bevor Miles Davis diese Idee mit “Bitches of Brew” ganz groß herausbrachte.

Burton erzählt von Engagements in Clubs wie dem Village Vanguard, von Tourneen, von den Alltagsproblemen eines Musikers, aber auch von seinen zwei Ehen, von denen die zweite zwei Kinder hervorbrachte. Er wechselte erst zu Atlantic Records, dann zu ECM, nahm Platten mit Keith Jarrett und mit Chick Corea auf, entdeckte, dass neben der Quartettbesetzung auch das unbegleitete Vibraphon beim Publikum ankam, beschreibt Höhe- genauso wie Tiefpunkte seiner Karriere, wobei letztere beruflich eher selten waren. Er entdeckte junge Talente, Pat Metheny etwa oder später Julian Lage, die in seiner Band dieselben Erfahrungen durchmachten wie er selbst einst bei Shearing und Getz, die sich anfangs ins Bandkonzept einbrachten, bald aber eigene Wege gehen wollten.

In den 1980er Jahren nahm Burton einen Lehrauftrag am Berklee College an, wurde bald darauf Dekan der Schule und war maßgeblich an ihrer stilistischen Öffnung zur Popularmusik beteiligt. Nach dem Ende seiner zweiten Ehe gelang es ihm mit über 40, sich selbst seine Homosexualität einzugestehen. Er beschreibt die emotionalen Wege dahin und sieht es im Rückblick als Glück an, beide Welten sehr bewusst durchlebt zu haben, die der heterosexuellen genauso wie die der schwulen Beziehung. Er war erleichtert, als er feststellte, dass weder seine Kollegen noch sein Arbeitgeber sich nach seinem Outing von ihm abwandten, dass er im Gegenteil viel Unterstützung erfuhr, so dass er zum Schluss seine Selbstcharakterisierung doch noch ein wenig abändert: Vielleicht sei er tatsächlich einfach nur ein Mann, der zufällig schwul und genauso zufällig ein Jazzmusiker sei.

Gary Burtons Autobiographie ist eine angenehm flüssig zu lesende ehrliche Lebenserzählung, in der der Vibraphonist kein Blatt vor den Mund nimmt und seine persönliche Betroffenheit auch in der Beziehung zu Kollegen offen ausspricht. Neben musikalischen Details erfahren wir so etliches über die Persönlichkeit etwa von George Shearing, Stan Getz, Larry Coryell, Pat Metheny. Auch seine eigenen Stärken und Schwächen aber reflektiert Burton auf eine sympathische, sehr persönliche Art und Weise. Tatsächlich wird selbst der Burton-affine Leser über die lange und sehr abwechslungsreiche Karriere staunen, von der man in der Regel nur Ausschnitte kennt. Am Ende ist man auf jeden Fall klüger – weiß nicht nur mehr über den Vibraphonisten, sondern auch über den Alltag des Jazzmusikers, über das Business, über Kollegen und über stilistische Entscheidungen der 1960er und 1970er Jahre.

Sehr empfehlenswert!

Wolfram Knauer (September 2014)


Die Chronik des Jazz
von Mervyn Cooke
Hamburg 2013 (Edel Books)
272 Seiten, 36 Euro
ISBN: 978-3-8419-0231-3

2013cookeMervyn Cooke ist ein britischer Musikwissenschaftler, der mit seiner “Chronik des Jazz” ein garantiert nicht-musikwissenschaftliches Buch schrieb, eine Art Jahr-zu-Jahr-Berichterstattung über die Entwicklung dieser Musik, ihre wichtigsten Ereignisse und Aufnahmen, unterbrochen von kurzen Streiflichtern auf spezielle Themen, Personen, Stile, Instrumente, und begleitet von einer kontextualisierenden Zeitleiste, die Ereignisse der Weltgeschichte listet. Die Kapitel sind kurz, die Überschriften plakativ, die Auflistung von Ereignissen stichwortartig. Die Weltgeschichte der Kontextleiste findet sich leider nicht in der Darstellung der Musikgeschichte wieder, in der Entwicklungen außerhalb der USA nur am Rande vorkommen und, wenn doch, sich mindestens am amerikanischen Standard messen lassen müssen.

Das aufwändig gestaltete, reich bebilderte und übersichtlich gegliederte Buch lädt zum Blättern ein. Problematisch allerdings wird es, wenn man sich auf die Texte selbst einlässt. Blättern wir mehr zufällig als gezielt eine typische Doppelseite auf. Links oben steht “1920”, darunter eine Überschrift: “Dixie breitet sich aus”, ein Foto von Mamie Smith und ihren Jazz Hounds, sowie verschiedene Daten dessen, was in diesem Jahr in der Jazzgeschichte so geschah (ODJB nimmt in London auf; Strawinskys “Ragtime für elf Instrumente” wird uraufgeführt, James P. Johnson trifft George Gershwin). Auf der gegenüberliegenden Seite findet sich die Zeitleiste “Weltgeschichte” (Prohibition, russischer Bürgerkrieg, Frauenwahlrecht in den USA, Uraufführung “Die Planeten” von Gustav Holst) sowie ein Foto und ein schriftliches Portrait von Jelly Roll Morton unter der Überschrift “Mister Jelly Roll. Dieser, heißt es darin, habe Kompositionen geschrieben, die überwiegend auf der Struktur des Ragtime basierten und ein “angenehmes Gleichgewicht zwischen Passagen” aufwiesen, “in denen die gesamte Band im New-Orleans-typischen Kontrapunkt spielte sowie Solo-Chorussen und Breaks”. Morton, schreibt Cooke weiter, sei “nicht nur ein ausgezeichneter Stride-Pianist” gewesen, “sondern tat sich auch als Sänger hervor”. “Aus heutiger Sicht”, urteilt der Autor schließlich, fehle Morton “die Spontaneität und Improvisation des späteren Jazz”. Tscha… Hier zeigt sich das Problem des Buchs gleich zu Beginn des Textes: Cooke sieht sich zu Vereinfachungen gezwungen, die der Musik nicht gerecht werden, vor allem aber weiß er selbst einen Musiker wie Morton nicht richtig einzuordnen. Mit der Stride-Technik der Ostküstenpianisten jener Jahre hatte Mortons Spiel herzlich wenig zu tun; seine Einflüsse wären eher in verschiedenen in New Orleans gepflegten Musikgattungen zu suchen, nicht zuletzt auch in lateinamerikanischen Traditionen. Ihm dazu noch Spontaneität und Improvisation abzusprechen zeugt entweder von fehlender Hörkenntnis oder mangelndem Einfühlungsvermögen des Autors.

Blättern wir genauso zufällig weiter. Auf Seite 61 behauptet Cooke im Streiflicht auf die Posaune, diese sei in den Bandbesetzungen von “zunächst nur einer in den 1920er-Jahren auf nicht weniger als vier um 1940” angestiegen; selbst der Kenner aber wird einigermaßen suchen müssen, um viele vier- oder gar fünfköpfige Posaunensätze zu finden, wie es Cooke hier impliziert.

Auf Seite 73 befindet Cooke im Kapitelchen “Bix und die Tanzbands” mit eurozentrischer Selbstzufriedenheit, der “zunehmende Rückgriff auf Techniken der klassischen Musik durch Goldkette und Whiteman trug zweifelsohne viel dazu bei, Jazzkompositionen auf ein höheres Niveau zu heben”. Auf Seite 87 lobt er Count Basie, dessen Band zeige, “wie viel jazziger eine gute schwarze Band im Vergleich zu den geschliffenen, aber oft langweiligen Darbietungen von Goodman und anderen klingen konnte”, eine Aussage, deren wertender Unterton ausgerechnet von einem Musikwissenschaftler seltsam anmutet, dessen ureigenes Handwerkszeug es doch eigentlich ist, unterschiedliche Konzepte beschreiben zukönnen und an ihrem jeweiligen ästhetischen Ziel zu messen, nicht also am jeweils anderen. Ähnliches misslingt Cooke auch im Kurztext zum “Cool Jazz” (S. 121), in dem er zwar auf unterschiedliche Konzepte hinweist, die unter diesem Stilbegriff subsumiert werden (Miles Davis, Gerry Mulligan, Lee Konitz, Modern Jazz Quartet, Dave Brubeck und George Sharing [sic!]), den Unterschied dieser verschiedenen Ausprägungen (Sound- und Instrumentationsbetontheit, die Improvisation in melodischen Linien, kontrapunktisches Spiel, Third Stream-Orientierung) aber nicht einmal stichwortartig andeutet. In einem eigenen Kapitelchen zum “Third Stream” dann weist Cooke zwar korrekterweise auf die breitere Begriffsausdeutung durch Musiker wie Ran Blake hin, vereinnahmt daneben aber auch gleich Anthony Braxton in den Stil.

Cookes wichtigste Erkenntnis zum Thema “Der elektrische Bass” ist, dass “viele herausragende Meister des E-Basses 1951 geboren wurden” (S. 126). Albert Ayler, lernen wir andernorts, schien “manchmal nicht zu wissen, wann er zu spielen aufhören sollte”, daher strapazierten viele seiner Improvisationen “die Geduld des Publikums über Gebühr”. Zur Kultfigur wurde er daher wohl nur, mutmaßt Cooke, wegen der unklaren Umstände seines Todes. Die Stadt New York, erfahren wir (S. 243, Kapitel “Moderne Big Bands”), sei auch berühmt “für ihr breites Spektrum an avantgardistischen Bands, Latin- und Frauengruppen”.

Weather Reports “Black Market” erhält eine eingehendere “Analyse”, die zeigen soll, warum das Stück “ein perfektes Beispiel für die Mischung aus Kommerzialität und Kunstfertigkeit” sei. Die folgende Beschreibung des musikalischen Verlaufs bleibt dann an der Oberfläche, hantiert mit klugen Vokabeln, die tatsächlich das, was passiert, kaum zu fassen vermögen. Das Wort, das für diese Musik beispielsweise unbedingt fallen müsste, wird nicht einmal erwähnt: Groove. Rhythmische Verschiebungen dagegen einfach als “die genretypischen unberechenbaren, mitreißenden Synkopen” zu beschreiben, schmerzt einfach nur.

Das großformatige, reich bebilderte Buch kommt gewinnend daher und scheint auf den ersten Blick eine Vielzahl wichtiger Informationen über die Entwicklung des Jazz zu enthalten. Beim genaueren Nachlesen wird man dann leider von vielen Klischees, schlimmer noch, von Halbwissen und oberflächlichen Urteilen enttäuscht, die dem selbstgesteckten Ziel, “eine umfassende Darstellung aller Strömungen, Entwicklungen und Höhepunkte des Genres” nicht gerecht werden.

Wolfram Knauer (Mai 2014)


Jazz, Frauen und wieder Jazz
von Hans Salomon & Horst Hausleitner
Wien 2013 (Seifert Verlag)
198 Seiten, 23,60 Euro
ISBN: 978-3-902924-04-9

2013salomonTeddy Stauffer widmete seine 1968 erschienene Autobiographie “Es war und ist ein herrliches Leben” 103 Frauen, deren Vornamen er in der Widmung alphabetisch auflistet. Der österreichische Saxophonist Hans Salomon bringt es auf fünf Ehen und widmet seine Lebensgeschichte ihnen, also den Frauen – und dem Jazz.

Er beginnt seine Lebensgeschichte, die er zusammen mit dem, Musikern und Autoren Horst Hausleitner verfasste, 1933 in Wien, mit seiner Geburt. Die ersten 35 Seiten widmet er seinen Jugenderlebnissen und der Familie, dann erzählt er, wie er sich noch während des Kriegs für den Jazz begeisterte und wie sein Berufswunsch, Jazzmusiker zu werden, nach Ende des Kriegs noch bestärkt wurde. Noch in der Schule lernte er Klarinette und mischte bald im amerikanischen Club bei Jam Sessions mit, auch wenn er mit den dort ebenfalls auftretenden Profis, Fatty George etwa oder Willi Meerwald, noch lange nicht mithalten konnte. Fatty George gab ihm Unterricht, vermittelte ihn aber bald weiter an Hans Koller, der ihn Paganini-Geigenetüden blasen ließ. Schließlich wechselte er zum Saxophon und spielte mit anderen jungen Österreichern, Carl Drewo etwa und Joe Zawinul in den Austrian All Stars.

1958 kam George Wein nach Wien, um Musiker für die International Youth Band zu suchen, die beim Newport Jazz Festival auftreten sollte. Aus Österreich wählten er und Bandleader Marshall Brown den Posaunisten Erich Kleinschuster sowie Salomon aus. Dessen erster New-York-Besuch mit diesem Orchester führte ihn sofort ins Birdland, wo er von Johnny Griffin begeistert war und für sich erkannte, dass er selbst und seine Mitstreiter dagegen nur blutige Amateure waren. Salomon erzählt anschaulich von den Proben, der Band, vom immer gereizten Bandleader Marshall Brown und dem begeisterungsfähigen Gerry Mulligan, der einige Stücke beigetragen hatte und diese selbst dirigierte, und er ist sichtlich bis heute stolz darauf, dass Miles Davis nach dem Newport-Konzert der Band Dusko Goykovic und ihn als deren herausragenden Solisten bezeichnet hatte.

Zurück in Europa trat die International Youth Band bei der Weltausstellung in Brüssel auf und Salomon verliebte sich in keine Geringere als Sarah Vaughan. Er wurde Mitglied der Johannes Fehring Band, die bald einen aufstrebenden jungen Sänger begleitete, Udo Jürgen Bockelmann alias Udo Jürgens. Mit Fehring spielte er Tanzmusik, begleitete Schlagersänger wie Rex Gildo oder Freddy Quinn, aber auch Shirley Bassey, Ray Charles oder Lionel Hampton. Salomon berichtet von der Jazzbegeisterung Peter Alexanders und Friedrich Guldas, und davon, wie es dazu kam, dass er für Marianne Mendt das Lied “Wia a Glock’n” komponierte, das sie 1971 beim Song Contest in Dublin sang und das ein großer Hit wurde. Er gehörte zur Stammbesetzung des Theaters an der Wien, in dem internationale Musicals gegeben wurden. In den 1970er Jahren gehörte er außerdem der ORF Big Band an, die damals Erich Kleinschuster leitete. Als er in Wien zusammen mit der Sängerin Marlena Shaw auftrat, nahm er deren Einladung an, sie in Las Vegas zu besuchen, konnte es sich aber letzten Endes nicht vorstellen, dort auch zu leben.

Salomons Buch erzählt gleichermaßen von seiner Liebe zur Musik und seiner Liebe zu den Frauen. Seine Autobiographie ist eine unterhaltsame Lebensgeschichte, in der die Leidenschaft (jeglicher Art) immer wieder im Vordergrund steht. Vielleicht will man gar nicht so viel über seine Affären mit zwei Größen des amerikanischen Jazz wissen, die in dieser Rezension nur angedeutet sind, aber vielleicht ist diese etwas naive Faszination, die aus seinen Erinnerungen spricht, ganz vielsagend über die Begeisterung seiner Generation für die afro-amerikanische Musik.

Eine Übersicht über seine Plattenaufnahmen sowie ein Fototeil beschließen das Buch, das kein Register enthält.

Wolfram Knauer (April 2014)


Jazz Instruments
von Peter Bölke
Hamburg 2013 (Edel ear Books)
228 Seiten, 8 CDs, 49,95 Euro
ISBN: 978-3-943573-06-0

2013boelkeDie ear Books-Reihe des Hamburger Verlags / Labels Edel garantiert hochwertige Publikationen in ansprechender Aufmachung. Die neueste Veröffentlichung widmet sich in acht Kapiteln und begleitenden, in die dicken Buchdeckel eingelassenen CDs den Instrumenten des Jazz. Trompete, Tenor- und Altsaxophon, Bariton- und Sopransaxophon, Klarinette und Flöte, Posaune, Piano, Bass und Gitarre sowie Schlagzeug sind die Kapitelüberschriften. Bölke beschreibt die Entwicklung der Instrumente und erwähnt die wichtigsten Namen, sucht vor allem aber aussagekräftige Fotos aus, die den Band bebildern. Die Geschichte allerdings hört den CDs zufolge scheinbar im Jahr 1960 auf, geschuldet wohl der urheberrechtlichen Situation, die diese Aufnahmen 50 Jahre nach ihrer Entstehung frei zugänglich macht. Bölkes Jazzgeschichte umfasst Stilrichtungen von New Orleans und Stride bis Cool Jazz und Hardbop, wobei John Coltranes “My Favorite Things” von 1960 und Ornette Colemans “Invisible” von 1958 wenigstens noch einen Ausblick “things to come” wagen. Die einzigen Europäer in diesem Zusammenhang sind – erwartungsgemäß – Django Reinhardt (“You’re Driving Me Crazy” von 1937) und Martial Solal (mit Kenny Clarke, “Cinerama” von 1956).

Neues erfährt man dabei kaum; das aber ist auch nicht Sinn der ear Books, bei denen man nie genau weiß, ob es sich um eine durch CDs veredelte Coffeetable-Buchreihe oder um eine CD-Box mit besonders aufwändig gestalteten Albumtexten handelt. Die Protagonisten des Jazz sehen sich in den kleinen Portraits, die Bölke ihnen textlich widmet, schon mal auf immer wiedergekaute Klischees reduziert, Chet Baker als Drogenabhängiger, Miles Davis als Kämpfer gegen den Jazz als reines Entertainment, Ben Webster als Säufer, Sidney Bechet als leidenschaftlicher Musiker und Raufbold. Auch hier aber will das Buch nicht weiter in die Tiefe gehen und vielleicht sollte man über solche Oberflächlichkeiten hinwegsehen; die Bildauswahl schließlich ist auf jeden Fall sehenswert. Eine Trackliste der nach Instrumenten sortierten CDs findet sich am Ende des Buchs, die Bilder im Buch stammen laut kumulativem Fotonachweis alle von Getty Images. o:p>

“Jazz Instruments” ist sicher ein schönes Geschenk für Jazzliebhaber; für den Sammler wird sich hier kaum etwas finden, was er nicht eh kennt. Die Kombination aus Bildband und CD-Edition aber macht das alles zu einem runden Produkt. Die Texte sind auf Englisch und deutsch enthalten.

Wolfram Knauer (April 2014)


Inside the Music. The Life of Idris Muhammad
von Idris Muhammad & Britt Alexander
Thorofare/NJ 2013 (Xlibris)
235 Seiten, 27,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-4691-9216-1

2013muhammad“Ich bin ein Funk-Spieler. Ich bin kein Jazzmusiker. Ich kann mit diesen Jazztypen nicht viel anfangen, weil ich in einer anderen Welt lebe. Ich lebe in der Funk-Drumming-Welt. Ich bin in der Welt, in der man Geld macht. Ich mache Geld. Ich mache Geld. Ich mache Geld.” Tatsächlich spielte Idris Muhammad auch den Jazz, den er in seiner Karriere machte, immer aus der Sicht eines Funk-Drummers. Ob man das mit dem Geld-Machen als oberstes Gebot so ernst nehmen muss, ist eine andere Frage.

In diesem Buch, das aus einem Interview mit dem Journalisten Britt Alexander entstand, erzählt Muhammad seine Geschichte, von der Jugend in New Orleans bis in die Gegenwart, schildert Gigs mit Sam Cooke, Curtis Mayfield oder Roberta Flack, mit Lou Donaldson, Bob James oder Pharoah Sanders. Seine musikalische Laufbahn, erst als Leo Morris, dann unter seinem islamischen Namen Idris Muhammad, umfasste Rock ‘n’ Roll, Rhythm ‘n’ Blues sowie blues- und groove-orientierten Jazz, aber auch das Musical “Hair”. o:p>

Kinderstreiche in New Orleans, Mardi-Gras-Paraden, ein Einbruch, bei dem er zusammen mit Freunden einige Waffen erbeutete, dann die Musik. Eine Basstrommel für die Marschkapelle, ein erstes Schlagzeugset, Gigs mit Arthur Neville und Larry Williams. Der junge Schlagzeuger nahm eine einzige formale Unterrichtsstunde bei Paul Barbarin, trat mit Sam Cooke auf, mit Maxine Brown und Curtis Mayfield, hörte Elvin Jones im John Coltrane Quartet und ahnte, dass er von diesen Jazzkollegen einiges lernen könne.

Er heiratete die Sängerin LaLa Brooks, ging mit Lou Donaldson für Blue Note ins Studio Rudy Van Gelders. Mit Donaldson habe er danach einige Konzerte gespielt, aber die Gagen im Jazz seien ihm einfach zu niedrig gewesen. Er habe gelernt, dass es finanziell keinen Sinn mache, mit den Kollegen, mit denen er eine Platte einspielte, auch noch auf Tour zu gehen…

An anderer Stelle erzählt er über seine Konversion zum Islam, die ihm half von den Drogen loszukommen, über Reisen nach Mekka und Nordafrika, über Geschäftsverhandlungen mit Creed Taylor, über seine Instrumente und über jüngste Zusammenarbeiten etwa mit Joe Lovano.

Britt Alexander hat die auf Tonband aufgezeichneten Erinnerungen Muhammads in kurze Kapitelchen gefasst, die oft anekdotischen Charakter besitzen. Stellenweise wünschte man sich ein paar klare zeitliche Handreichungen, um die Erlebnisse einordnen zu können. Ein Personenindex würde ein Übriges tun, sich im Buch zurechtzufinden. Davon abgesehen aber bietet “Inside the Music” sehr persönliche Einsichten in ein langes musikalisches Leben und ein bisschen auch in die Industrie, die hinter einer solchen Karriere steckt.

Wolfram Knauer (April 2014)


Artist Transcriptions. Sonny Rollins, Art Blakey, Kenny Drew / With the Modern Jazz Quartet
herausgegeben / transkribiert von Masaya Yamaguchi
Milwaukee/WI 2013 (Hal Leonard)
45 Seiten, 17,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-4768-1456-8

Masaya Yamaguchi hat sich das Album “Sonny Rollijns with the Modern Jazz Quartet” vorgenommen, auf dem tatsächlich nur vier Titel wirklich mit dem MJQ enthalten sind, “In a Sentimental Mood”, “The Stopper”, “Almost Like Being in love” und “No Moe”. Die restlichen Titel (“Scoops”; “With a Song In My Heart”; “Newk’s Fadeaway”; “Time On My Hands (You In My Arms)”; “This Love of Mine”; “Shadrach”; “On a Slow Boat to China”; “Mambo Bounce”) spielte Rollins in Quartettbesetzung ein (immerhin mit Percy Heath am Bass) sowie einen Titel erweitert durch Miles Davis zum Quintett, “You Know”, ein Kontrafakt über “Confirmation”. Yamaguchi hat einzig Rollins’ Stimme transkribiert in einem Beispiel aus seiner frühen Phase, in der er noch deutlicher auf den Einfluss durch Charlie Parker Bezug nimmt als später, daneben aber auch bereits sein ausgeprägtes motivisches Bewusstsein zur Schau stellt. Das Heft ist vor allem für Saxophonisten gedacht, die sich in die Personalstilistik Newks einfühlen wollen.

Wolfram Knauer (April 2014)


Miles Davis. Tutu
von Vincent Cotro
Paris 2013 (Centre national de documentation pédagogique)
62 Seiten, 12,90 Euro
ISBN: 978-2-240-03426-7

2014cotroSeit den 1950er Jahren hat der Jazz es auch in die Lehrpläne der Allgemeinbildenden Schulen geschafft. Mit seiner Publikation über Miles Davis’ “Tutu” von 1986 legt der französische Musikwissenschaftler Vincent Cotro zum ersten Mal eine musikpädagogische Monographie über einen einzelnen Jazzkünstler vor.

Cotro beginnt in seiner Einleitung mit einer Positionsbestimmung Miles Davis’ innerhalb der Jazzgeschichte. Es folgt ein Kapitel, das seinen musikalischen Werdegang beschreibt, von Bebop über Cool Jazz, Hard Bop, modalen Jazz bis hin zu seinen elektrischen Experimenten der späten 1960er, frühen 1970er Jahre. Den modalen Ansatz erklärt er anhand von “Milestones”, “So What” und “Flamenco Sketches”; Laurent Cugny gibt eine Übersicht über die “elektrische Periode” des Trompeters. Franck Bergerot betrachtet Miles Davis’ Stellung in der Musik der 1970er und 1980er Jahre und konstatiert dessen Interesse an stil-übergreifenden Experimenten. Schließlich mündet das Buch in eine ausführliche Analyse des Albums, bei der jeder der darauf enthaltenen Titel nach Kontext, Sound, Form, Rhythmik, Melodik und Harmonik abgeklopft wird. Einschübe befassen sich etwa mit der Dämpfertechnik des Trompeters sowie mit der Rezeption des Albums. Ein Platten- und Literaturverzeichnis sowie ein Glossar schließen das Buch ab, das letzten Endes nicht nur Oberstufenschülern die Kunst Miles Davis näherbringen kann, sondern genauso des Französischen mächtigen Miles-Fans.

Wolfram Knauer (April 2014)


Jazz Keller Bamberg
von Oliver van Essenberg
Bamberg 2013 (Select Verlag)
128 Seiten, 1 Audio-CD, 19,95 Euro
ISBN: 978-3981379945

2013essenbergWährend im Rest Westdeutschlands der Jazz Einzug in die Clubs und Spielorte hielt, war in der fränkischen Domstadt Bamberg von swingender Musik nicht viel zu hören, konstatiert Oliver van Essenburg in seinem Buch, das das 40-jährige Jubiläum des über die Stadt hinaus bekannten Jazz Kellers Bamberg feiert. Es habe da ein paar Örtlichkeiten gegeben, in denen ab und an Livemusik zu hören gewesen sei, das Café Stadelmann etwa, das Café Jäger, das Elefantenhaus. Die wenigen Jazzer der Stadt aber hätten immerhin die Möglichkeit gehabt, in den Clubs der Bamberger US-Kaserne das Improvisieren zu lernen. Im Frühjahr 1960 gründete sich schließlich der erste Bamberger Jazzclub, der seine Konzerte im La Paloma-Keller in der Oberen Königstraße. 1961 kam mit Albert Mangelsdorff einerseits einer der wichtigsten Vertreter des aktuellen deutschen Jazz nach Bamberg, andererseits richtete der Jazzclub das 7. Deutsche Amateur-Jazz-Festival aus. Nur ein Jahr darauf, allerdings löste sich der Club schon wieder auf, nachdem er seines Spielorts verlustig gegangen war.

Es sollte weit über ein Jahrzehnt dauern, bis sich 1974 ein neuer Bamberger Jazzclub gründete. Der hielt seine ersten Konzerte an verschiedenen Spielorten ab, bis er 1977 sein eigenes Kellerlokal in der Oberen Sandstraße eröffnen konnte, in dem noch heute ein- bis zweimal pro Woche Livemusik zu hören ist. Van Essenberg erzählt die Geschichte der Club-Neugründung und betont, dass es im Programm des Kellers von Anfang an keine Schubladen wie “progressiv” oder “konservativ” gegeben habe: “Das Geld, das der Club mit Dixie und Blues eingespielt habe, konnte er demnach für Free Jazz wieder ausgeben.” Er erzählt vom vielfältigen Programm der 1980er Jahre und vom “Dauerbrenner”-Thema des Rauchens, das erst 2008 aus dem Kellergewölbe verbannt wurde.

In den 1990er Jahren gab es Schwierigkeiten: einmal machte sich der Schatzmeister mit 22.000 Mark aus dem Staub; dann wollte ein neuer Vorstand eine Kleiderordnung für den Club einführen; schließlich gab es Streit um Jubiläumsreden, Clubverweise, die in einer Anzeige bei der Finanzverwaltung mündeten, die den Club wiederum 20.000 Euro an Nachzahlung kosteten.

Im letzten Teil seines Buchs lässt van Essenberg dann Musiker zu Worte kommen, die über die Jahre immer wieder im Club spielten: den Bamberger Pianisten Tex Döring, den Geiger Max Kienastl, den Prager Trompeter Laco Deczi, der beim ersten Konzert des Clubs 1974 mit von der Partie war, den Pianisten Alexander von Schlippenbach, der wenig zu Bamberg, dafür viel über sein musikalisches Selbstverständnis zu sagen hat, den Schlagzeuger Jose J. Cortijo, der über Latin Jazz und die World Percussion Academy erzählt, sowie die Sängerin Cécile Verny, die sich wünscht, dass die Menschen Musik mitsingen könnten. Wenn die letzten drei Interviews nicht wirklich mit Bamberg zu tun haben und die ausführliche Darstellung der Streitereien im Club sich sehr wie Provinzzank liest, so gehört aber all das wahrscheinlich mit zur Darstellung der Jazzarbeit einer Mittelstadt wie Bamberg: Man ist unter sich, muss gerade im ehrenamtlichen Engagement Kompromisse finden, die von allen, die sich einbringen, mitgetragen werden, und weiß doch darum, dass man eigentlich die große Welt des Jazz in all seinen Facetten präsentieren möchte, einer Musik, die globale Bedeutung hat und doch überall auf Spielstätten wie den Jazz Keller Bamberg angewiesen ist, den van Essenbergs Buch würdig feiert.

“Jazz Keller Bamberg” ist reich bebildert, grafisch ansprechend gestaltet und enthält zudem eine CD, auf der 17 Tracks von Künstlern zu hören sind, die immer mal wieder in Bamberg auftraten, bis auf einen Titel sämtlich von bereits veröffentlichten CDs der Künstler.

Wolfram Knauer (März 2014)


50 Jahre Jazzkeller Sauschdall in Ulm
herausgegeben von Eberhard Lorenz und anderen
Ulm 2013 (Sauschdall Ulm)
144 Seiten
Erhältlich beim UstA e.V., Postfach 1149, 89001 Ulm

2013lorenzZum 50-jährigen Jubiläum des Jazzkellers Sauschdall hat sich der Verein eine Rückschau in Buchform geleistet, von der Gründung des Vereins im Jahr 1963 bis in die Gegenwart. Erinnerungen der über die Jahre Aktiven finden sich genauso wie Interviews mit einzelnen Musikern, Portraits verschiedener Bands, Fotos, Zeitungsausschnitte und Dokumente im Faksimile.

Es ist die Geschichte eines bürgerschaftlich organisierten Clubs wie anderswo auch, im Ulm unter dem Dach erst des AstA, dann der UstA, der Unabhängigen Studentischen Alternative, eine Organisation, die dem Club immerhin das Glück beschert hat, regelmäßig jungen Nachwuchs zu haben.

Das Buch erzählt von der Gründung, von behördlichen Problemen und ihren Lösungen, von der Einbindung der Clubaktivitäten ins Ulmer Kulturleben, vor allem aber von den sehr persönlichen Beweggründen der Macher über die Jahre, sich im Sauschdall und damit für das Jazzleben ihrer Stadt zu engagieren.

Das hat viel Lokalkolorit und mag damit vor allem für diejenigen interessant sein, die es selbst miterlebt haben, als Macher, Musiker oder Publikum. Darüber hinaus aber dokumentiert das Büchlein ein weiteres Kapitel des deutschen Jazzlebens.

Wolfram Knauer (März 2014)


Red Groove. Jazz Writing from the Morning Star
von Chris Searle
Nottingham 2013 (Five Leaves Publications)
284 Seiten, 12,99 Britische Pfund
ISBN 978-1-90789-49-5

2013searleChris Searle machte vor Jahren Schlagzeilen, als er von seiner Position als Lehrer gefeuert wurde, weil er Gedichte seiner Schüler veröffentlicht hatte, später dann von Margaret Thatcher, die damals als Bildungsministerin fungierte, wieder eingestellt wurde. Searle schreibt eine regelmäßige Jazzkolumne für die linke britische Tageszeitung The Morning Star, die zumeist in kurzen Plattenrezensionen und Konzertbesprechungen besteht.

130 dieser Kolumnen hat er jetzt in einem Buch zusammengefasst, kurze Vignetten seiner aktuellen Hörerlebnisse zwischen Mainstream und Avantgarde, Humphrey Lyttelton und Joe McPhee, Teddy Wilson und Alexander von Schlippenbach. Es ist ein gegenwärtiger Blick auf die aktuellen Entwicklungen des Jazz und einige Dokumente aus der Vergangenheit dieser Musik — alle Kolumnen stammen aus den Jahren zwischen 2000 und 2012.

Das Buch besitzt keine verbindenden Kapitel; die Geschichte, die es erzählt, muss man sich aus der Gruppierung der kurzen Kapitel selbst zusammenreimen. So mag das Buch vor allem für Searles regelmäßige Lesergemeinde interessant sein oder für zukünftige Forscher, die den journalistischen Blick zu Beginn des 20sten Jahrhunderts behandeln. Die kurzen Piècen jedenfalls sind informativ, geben ein wenig Background, vergleichen oft mehrere Aufnahmen derselben Künstler, bleiben aber durchwegs journalistisch-deskriptiv und dringen damit kaum in die Musik selbst ein.

Alle Artikel sind datiert, ein alphabetischer Namensindex allerdings fehlt.

Wolfram Knauer (Dezember 2013)


Beyond A Love Supreme. John Coltrane and the Legacy of an Album
von Tony Whyton
New York 2013 (Oxford University Press)
160 Seiten, 11,99 Britische Pfund
ISBN: 978-0-19-973324-8

Acknowledgement. A John Coltrane Legacy
von De Sayles Grey
West Conshohocken/PA 2013 (Infinity Publishing)
165 Seiten, 19,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-7414-8201-3

2013whytonDer britische Musik- und Kulturwissenschaftler Tony Whyton und der US-amerikanische Musikethnologe nähern sich in ihren jüngst erschienen Büchern der Musik John Coltranes. Whytons Thema ist das 1964 erschienene Album “A Love Supreme”; sein Ansatz der, das Album sowohl auf seinen musikalischen Gehalt wie auch auf seine jazzhistorischen Auswirkungen bis in die jüngste Vergangenheit hin zu untersuchen. Grey analysiert Coltranes Musik mit dem Ziel, wie ihm scheint ideologisch motivierte frühere Einordnungen zu entlarven und zu korrigieren.

Whyton beginnt mit einer Analyse der formalen Anlage von “A Love Supreme”, betrachtet das Verhältnis von Komposition und Improvisation und weist auf Coltranes LSD-Erfahrungen hin, die eine Suche nach außerphysikalischen, “disembodied” Erfahrungen und Klängen unterstützt haben mögen. Er vergleicht die Studioaufnahme des Werks mit einem Videomitschnitt vom Antibes-Festival 1965 und schlussfolgert, dass die üblichen Gegensatzpaare, aus denen heraus sich “Jazzmeinung” bilde, bei einer genaueren Betrachtung der Objekte (in diesem Fall von “A Love Supreme”) in Frage gestellt werden müssten, weil sie sich nicht in herkömmliche Vorurteile und Stereotypen einpassen ließen.

Sein zweites Kapitel liest “A Love Supreme” als Teil des Jazzkanons und fragt, wie das Album diesen Status erlangt habe. Ja, das Werk besitze eine inhaltliche Geschlossenheit, die sich auch in der Musik selbst wahrnehmen lasse, darüber hinaus aber erfülle es auch das romantische Ideal eines magnus opus. Das Album sei zwar nicht das letzte in Coltranes Diskographie gewesen, und doch wirke es wie ein Endpunkt im Schaffen des Saxophonisten, was sicher auch seinem spirituellen Programms zuzuschreiben sei. Mehr als alles andere in Coltranes Repertoire sei “A Love Supreme” quasi als Einzelwerk wahrgenommen worden, als nicht wiederholbares Ereignis. Dieser künstlerischen Idee stellt Whyton den Musikvermarkter Coltrane gegenüber, der selbst Liner Notes und Plattentext ausgesucht habe, und dabei – ob gewollt oder nicht – durchaus auch Marktstrategien gehorchte.

Nach seinem Tod sei Coltrane geradezu vergöttert worden, schreibt Whyton und führt Beispiele aus Büchern, Aufsätzen und Interviews mit seinen ehemaligen Bandkollegen an. Vor allem sei dabei Coltranes Suche nach Erleuchtung in den Vordergrund gestellt worden bis zu einem Grad, dass seine Musik selbst quasi als der Weg dahin beschrieben worden sei.

Ein eigenes Kapitel widmet Whyton den Coltrane-Platten, die nach “A Love Supreme” erschienen und die er als eine Art Fortführung eines transzendentalen Weges beschreibt. Von der Kritik und der späteren Jazzgeschichtsschreibung, die Whyton ausführlich zitiert, seien sie zwar gewürdigt, ihnen dabei aber nicht der Einfluss und die Bedeutung seiner früheren Werke zugestanden worden. Konkret untersucht Whyton “Ascension” unter dem Blickwinkel der Infragestellung musikalischer Konventionen und etablierter Hierarchien, stellt das Album in Beziehung zum spirituellen, gesellschaftlichen und politischen Kontext seiner Zeit. Er schaut auf “Interstellar Space” und fragt nach dem Vorrang des künstlerischen Prozesses vor dem Produkt, aber auch nach der Bedeutung von Kosmologie und Transzendenz in Coltranes Musik. Er hört “The Olatunji Concert” mit dem Bewusstsein, dass es sich um die letzte Aufnahme Coltranes handelte, und fragt, inwieweit Afrozentrismus und populäre politische Ideen der Zeit sich in der Musik wiederfinden lassen. Whyton argumentiert, man müsse Coltranes späte Musik aus dem Bewusstsein um die komplexen Brüche heraus hören, die in Gesellschaft und Politik in jenen Jahren stattfanden. Das Wissen um Kollektivität, die ideologische Funktion von Musik, Mythologisierung und Entmythologisierung gäben der Musik zusätzliche Facetten. Musikhören sei immer ein diskursiver Akt, der auf verschiedenen Ebenen stattfinde und bei dem sich Standpunkte daher unweigerlich änderten.

Whytons letztes Kapitel befasst sich mit der Rezeption Coltranes und seines magnus opus nach seinem Tod sowie mit den Diskussionen, die sich aus dieser Rezeption heraus ergaben, jenen etwa über Authentizität oder über Universalität. Er betrachtet die sich durch Coltranes Musik veränderte Wahrnehmung auch älterer Musikgeschichte, hört sich kritisch die 2002 erschienenen alternativen Takes von “A Love Supreme” an und nimmt abschließend Stellung zu Bezugnahmen auf das Werk in Beispielen von Musikerkollegen einerseits, Schriftstellern andererseits.

Tony Whytons Buch ist dabei kein “Making Of”, wie Ashley Kahn es ja bereits geschrieben hat. Whyton nimmt das Album “A Love Supreme” zum Anlass, sich über die Musik, die Zeit, in der sie entstand, vor allem aber über die Position all jener, die durch die Musik in ihrem ästhetischen und gesellschaftlichen Denken beeinflusst wurden, Gedanken zu machen. Solche Selbstreflexion, wie sie in seinem Buch im Mittelpunkt steht, ist eine Facette jener “new jazz studies”, aus deren Geiste heraus Whyton schreibt: Position kann man nur dann beziehen, wenn man weiß, wo man (zur Zeit) steht. “Beyond A Love Supreme” ist keine leichte Kost, eine intellektuelle Annäherung sowohl an die Musik als auch an die komplexe Rezeption, die unser Bild des Albums unweigerlich mit prägt.

2013greyDe Sayles Greys Ansatz ist in vielerlei Hinsicht ein ganz anderer. Grey stellt fest, dass Coltranes Arbeit in Büchern, die seit seinem Tod geschrieben wurden, hoch gelobt worden sei, dass die meisten seiner Biographen aber wenig von seiner Musik verstanden hätten. Es seien zudem meist weiße Autoren gewesen, deren europäisch geprägte Normen ihr Urteil stark beeinflusst hätten. Seine Arbeit wolle Mängel insbesondere in den drei Büchern von J.C. Thomas C.O. Simpkins und Bill Cole aufzeigen, um anhand konkreter Analysen einen angemesseneren Umgang mit Coltranes Musik zu propagieren.

Weiße Kritiker wie Thomas, Simkins oder Cole hätten oft aus ideologischen Gründen entweder nicht das Interesse oder aber nicht die Fähigkeit besessen, schwarze amerikanische Musik angemessen zu beurteilen. Ihre Veröffentlichungen zeigten, dass sich der Alltagsrassismus in den USA letztlich auch im Musikgeschäft wiedergefunden habe. Die Kritiker hätten afro-amerikanische Musik darüber hinaus oft nach Standards beurteilt, die aus der europäischen Tradition abgeleitet gewesen seien, hätten außerdem häufig nicht einmal die grundlegenden Techniken des Jazz verstanden oder aber sie bewusst ignoriert. Zeitgenössische Journalisten hätten Coltrane und seine Weg abgelehnt und in ihren Veröffentlichungen versucht, ihre Meinung auch einem breiteren Publikum vermitteln. Sie hätten damit zu verschleiern versucht, dass, wie Grey anhand diverser konkreter Beispiele analytisch argumentiert, Coltranes Arbeit weder ohne Disziplin noch ohne Richtung oder gar disharmonisch gewesen sei, sondern tatsächlich von all dem genau das Gegenteil.

Die Einordnung seiner Musik unter das Label “Avantgarde” habe die Rezeption Coltranes nur noch weiter verwirrt. Sie habe den Blick auf sein spirituelles Konzepts verstellt, auf die Bedeutung des “Quarten-Umkehrungs-Prinzips” (“inverted fourth principle”), aus dem heraus Coltrane seine modale Spielweise entwickelt habe, oder auf sein starkes Verlangen nach gesellschaftsbewusstem Handeln durch Musik, das also, was Grey als “ethical imperative” bezeichnet.

Neben den zeitgenössischen Kritikern, die Coltranes Weg zum Teil einfach nicht verstanden hätten oder aber nicht verstehen wollten, habe es zu jeder Zeit die Aussagen von Musikerkollegen gegeben, die seine Kunst als wichtig und einflussreich erachteten. Diese aber sei im Vergleich zur veröffentlichten Meinung viel zu leise gewesen, um ein starkes Gegengewicht zu den falschen Interpretationen zu bilden. Grey zitiert einzelne der von ihm geführten Interviews, etwa mit Odean Pope, Roy Haynes, Howard McGhee, Curtis Fuller, Reggie Workman, Slide Hampton und anderen. In einem Anhang listet er einige der Fragen auf, die er seinen Interviewpartnern gestellt hatte, verzichtet aber leider auf den Abdruck der gesamten Gespräche.

Greys Buch ist in seiner Argumentation für europäische Leser teilweise immens schwer verständlich. Die strikte Unterscheidung in schwarz und weiß, die im Afro-Amerika der 1960er und 1970er Jahren noch ein wichtiger Schritt zur Selbstbewusstwerdung gewesen sein mag, hat in den letzten Jahrzehnten einem entspannteren Blick auf die Spannungen Platz gemacht, die nach wie vor den Alltag und das politische Leben in den USA bestimmen und am gesellschaftlichen Wandel mitwirken, der vielleicht viel zu langsam geschieht dafür aber unumkehrbar ist. Es gibt Exkurse in seinem Buch, die europäische (und insbesondere deutsche) Leser eher irritieren mögen, etwa, wenn Grey mit Vehemenz den afrikanischen Ursprung der christlichen und der islamischen Religionen betont (“Jesus Christus war ein schwarzer Mann”) oder darauf besteht, der “moderne Jude” habe mit jenem im “alten Ägypten” nichts, aber auch gar nichts zu tun.

Wenn man sich dann noch in Argumentationsketten gefangen sieht, die man vor mindestens einer, wenn nicht gar zwei Generationen erwartet hätte, erklärt sich das alles weder im Vorwort oder im Backcover des frisch erschienenen Buchs, sondern höchstens in Deduktion aus dem Studium der Quellen, die Grey im Anhang auflistet und die größtenteils vor 1980 aufhören und insbesondere die jüngeren (jüngeren???) wissenschaftlichen Diskurse zu Coltrane oder anderen von ihm angeschnittenen Themen einfach ignoriert. Am ehesten sollte man das Buch damit als eine Art historischen Text verstehen, der selbst Teil eines Diskurses ist, welcher sich seither … nun, wenn nicht überlebt, so doch erheblich verändert hat (siehe Tony Whyton).

Wolfram Knauer (November 2013)


Blues Guitar Legends. Calendar 2014
Rare vintage photographs by Martin Feldmann
Attendorn 2013 (pixelbolide)
15,90 Euro plus Versand
Zu beziehen über www.blueskalender.de

2013feldmannMan meint im heruntergekommenen Detroit der Jetztzeit zu sein: Eine ehemals offenbar mondäne, mittlerweile abblätternde Hausfassade, Türen und Fenster verrammelt, doch an der Seite das Club-Schild: “Poor Ike’s Blue Room”. Tatsächlich steht das Gebäude in Chicago, war einst als New Michigan Hotel bekannt und in den 1990er Jahren abgerissen.

Die Erinnerung an ein Stück Bluesgeschichte hielt Martin Feldmann fest, als er in den 1980er Jahren durch die Vereinigten Staaten reiste, um die Stätten des Blues zu besuchen. Im seinem Blueskalender 2014 finden sich viele nostalgisch anmutende Szenen von den Größen des Blues, auf der Konzertbühne oder im kleinen Club aufgenommen, konzentriert oder ausgelassen.

Albert Collins, Fenton Robinson, Johnny Fuller, Otis Rush, Buddy Guy, Jo-Ann Kelly, Tabby Thomas, Lowell Fulson, Pee Wee Crayton, Silas Hogan, Albert King und Cardell Boyette füllen die zwölf Monate in intimen und atmosphärereichen Bildern. Feldmann kurze Anekdoten begleiten die Bilder, die einem jeden Monat einen anderen Blues erleben lassen.

Wolfram Knauer (November 2013)


Momentaufnahmen. Jazz in der DDR / 1973 bis 1989
von Frank Rüdiger
Rudolstadt 2013 (Der neue Morgen)
120 Seiten, 24,99 Euro
ISBN: 978-3-95480-068-1

2013ruedigerDas Spezifische des DDR-Jazz war seine durchaus auch ironische Brechung der Wirklichkeit ät im Land des real existierenden Sozialismus. Wenn Ulrich Gumperts Workshop Band an Eissler und andere erinnert, wenn das Zentralquartett sich uralten deutschen Liedguts annimmt oder wenn Joe Sachse den Lärmpegel der aktuellen Rockmusik mit der Feinziseliertheit des Jazz zusammenbringt, dann zeigen diese und andere Künstler ihr ganz besonderes Gespür für Freiheiten in einem Land, das individueller Kreativität zumindest immer skeptisch gegenüberstand.

Frank Rüdiger begann Anfang der 1970er Jahre die DDR-Jazzszene mit seinem Fotoapparat (einer Pentacon Six) zu begleiten. Das vorliegende Buch enthält 111 seiner Bilder, Aufnahmen der großen DDR-Star genauso wie ost- und westeuropäischer Besucher (and beyond). Die beiden Bilder von Baby Sommer zeigen die oben beschriebene Brechung vielleicht am deutlichsten: das eine zeigt ihn feixend vor dem Schaufenster eines Friseursalons, in dem langes Haar gut geheißen wird (“aber gepflegt muß es sein”), das andere bei der Arbeit am Instrument vor einem Wappen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.

Die meisten der Aufnahmen im Buch sind Konzertfotos, und neben DDR-Kollegen wie Gumpert, Sachse, Ernst Ludwig Petrowski, Johannes und Conny Bauer finden sich Aufnahmen von osteuropäischen Musikern, etwa Tomasz Stanko, Michal Urbaniak, Jiri Stivin, von Westeuropäern wie Andrea Centazzo,Philip Catherine, Michel Pilz, George Gruntz, von Westdeutschen wie Albert Mangelsdorff, Klaus Doldinger, Heinz Sauer sowie von US-Amerikanern wie Art Blakey, Betty Carter, Anthony Braxton, James Blood Ulmer und vielen anderen. Die Aufnahmen decken die Jahre 1973 bis 1989 ab, wurden in (Ost-)Berlin, Leipzig, Peitz und anderswo gemacht und zeigen eine lebendige und scheinbar internationale Szene. Dabei schwingen in den oft grobkörnigen dadurch aber nicht minder direkten und eindrucksvollen Bildern auch immer jene Konnotationen mit, die der Jazz und die improvisierte Musik in der DDR eben auch besaß: Individualität und Vielfalt.

Wolfram Knauer (November 2013)


Der Jazz in Marburg
von Heinz H. Teitge
Marburg 2013 (Sir Henrys Jazz)
182 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-3-00-041899-0

2013teitgeMarburg ist sicher nicht das Zentrum des deutschen Jazz und doch gingen von hier Impulse aus. 1973 gründete sich hier die Union Deutscher Jazzmusiker, die Sängerin Rose Nabinger lebt hier und der Gitarrist Michael Sagmeister nicht weit entfernt. Heinz Teitge ist seit langem als Trompeter auf der traditionellen Szene der Stadt aktiv und hat jetzt ein Buch mit Erinnerungen an die Marburger Jazzgeschichte vorgelegt.

Die ersten Jazzmusiker der Stadt datiert er auf Mitte der 1930er Jahre und benennt konkret den Trompeter Heinz Dittmann, den Trompeter Karl und seinen Bruder, den Pianisten Heinrich Pauli sowie den Trompeter und Geiger Konrad Stumpf. Erst nach dem Krieg aber sei in Marburg wie in anderen Regionen Deutschlands auch aktiver Jazz gemacht worden. Tietge erinnert an Musiker wie den Trompeter Pete Schmidt und den Schlagzeuger Adolf Klapproth sowie an Spielorte innerhalb und außerhalb der US-Kasernen, in denen auch Marburger Musiker engagiert wurden. Ein eigenes Kapitel widmet sich den diversen Bands. Teitge listet die Besetzungen auf und druckt alte Fotos der Kapellen ab, würzt das alles mit Anekdoten über Konzerte, Reisen und Begegnungen. Am ausführlichsten finden sich Informationen über die Kreisjazzwerkerschaft, der Teitge selbst seit 1972 angehörte. Eine Auflistung lokaler Musiker schließt sich an, außerdem eine Beschreibung der verschiedenen Spielorte über die Jahre. Hier finden sich seltene Fotos etwa von Olaf Kübler oder Busch Niebergall; der “moderne Jazz”, wie Teitge alles nach dem Bebop zusammenfasst (“weil man letztlich sonst jedem kreativen Jazzmusiker einen eigenen Stil zuordnen müsste”), findet ansonsten wenig Erwähnung. Dessen Szene, Bands, Spielorte und auch die eingangs erwähnte Gründung der Union Deutscher Jazzmusiker werden höchstens am Rande genannt.

Teitges an Horst H. Lange angelehntes Kapitel zur Entstehung des Jazz, zum “umgekehrten Rassismus” sowie seine Polemik gegen Joachim Ernst Berendt muss man nicht lesen, man muss sie auch nicht weiter kommentieren. Und die 55 Seiten an “Anekdoten” (etwa über die brezelförmige Ausscheidung eines Giessener Jazzers und andere Sonderbarkeiten) trafen zumindest den Humor dieses Rezensenten so überhaupt nicht.

Ursprung seines Buchs sei ein Internet-Blog gewesen, erklärt Teitge in der Einleitung, und diesen Ursprung merkt man auch den Kapiteln an, die vor allem Informationen sammeln und dabei keinerlei Erzählfäden ziehen. Am Interessantesten dürften für Nicht-Marburger vielleicht die Fotos sein, die auch schon mal aus Mittelhessen hinausreichen, etwa in den beiden Bildern der Ankunft Duke Ellingtons auf dem Frankfurter Bahnhof 1950.

Wolfram Knauer (November 2013)


Arrivals / Departures. New Horizons in Jazz
von Stuart Broomer & Brian Morton & Bill Shoemaker
Lissabon 2013 (Calouste Gulbenkian Foundation)
240 Seiten, 12,50 Euro
ISBN: 978-972-31-1493-5

2013nevesDas Festival “Jazz em Agosto” in Lissabon widmet sich seit 30 Jahren den aktuellsten Ausprägungen des Jazz, oder wie der Programmdirektor Rui Neves es gerne nennt, “the other side of jazz”. Die Avantgarde vergangener Tage ist dabei genauso vertreten wie die jüngsten Entwicklungen der improvisierten Musik aus den USA genauso wie aus Europa. Die Open-Air-Bühne im Garten der Gulbenkian Foundation lädt dabei zu Konzerten, die eine Konzentration auf die Musik erlauben, nie überladen, sondern zugespitzt, so dass die Musik nachwirkt beim Publikum.

Zur Feier des 30sten Ausgabe von Jazz em Agosto hat sich die Gulbenkian Foundation eine Buchdokumentation gegönnt, in der die wichtigsten Protagonisten der vergangenen Jahre vorgestellt werden. Vom Muhal Richard Abrams und dem Art Ensemble of Chicago geht das alphabetisch bis zu Carlos Zíngaro und John Zorn, von Jimmy Giuffre, Max Roach und George Russell stilistisch bis zu Anthony Braxton, Peter Brötzmann und Mary Halvorson. Stuart Broomer, Brian Morton und Bill Shoemaker  sind die Autoren der kenntnisreichen Artikel, die sowohl auf die Biographie der jeweiligen Künstler eingehen als auch auf ihre musikalische Haltung und auf vergangene Auftritte bei Jazz em Agosto.

Insgesamt 50 Musiker und Ensembles finden sich so in diesem Buch, ein exemplarischer Überblick über eine Avantgarde improvisierter Musik, eine exzellente Einführung in eine Musik, die sich immer wieder neu erfindet.

Wolfram Knauer (September 2013)


Jazz. New York in the Roaring Twenties
von Robert Nippoldt & Hans-Jürgen Schaal
Köln 2007 (Taschen)
144 Seiten + 1 Audio-CD, 39,99 Euro
ISBN: 978-3-8365-4501-3

2013nippoldtDie Zeichnungen von Robert Nippoldt und die Texte von Hans-Jürgen Schaal, die die Geschichte des frühen Jazz in New York erzählen, erschienen 2007 in deutscher Sprache. Die englischsprachige Übersetzung wurde jetzt vom Taschen-Verlag vorgelegt, der die Gestaltung des ursprünglich im Gerstenberg-Verlag erschienenen und damals von der Kritik hoch gelobten Buchs beibehielt.

Es ist eine Jazzgeschichte in Wort und Bildern, die die New Yorker Szene der 1920er Jahre Revue passieren lässt, in biographischen Abrissen und vor allem kongenialen Darstellungen. Nippoldt hat sich für seine Zeichnungen an zeitgenössischen Fotos orientiert, und so gibt es genügend Seiten, die man zu kennen meint, aber aus leicht anderer Sicht, mit leicht anderer, nämlich fotografischer Optik. Dass dabei Klischees besonders deutlich werden, liegt in der Natur der Sache – mit ebendiesen Klischees wurde seinerzeit ja nachgerade geworben. Die Texte Schaals wissen den bildnerischen Schönzeichnungen dabei durchaus das notwendige Gegengewicht zu geben, dass diese in die Realität einer Zeit zurückbringt, in der Jazz Teil der aufstrebenden Kulturindustrie wurde.

Eine CD mit Aufnahmen vieler der in Einzeldarstellungen portraitierten Künstler hängt dem Buch bei und macht die darin erzählte und bebilderte Jazzgeschichte so schließlich auch noch hörbar.

Wolfram Knauer (Juli 2013)


Volker Kriegel. Zeichner und Cartoonist
herausgegeben von Susanne Kiessling & Isolde Schmidt
Wiesbaden 2013 (Kulturamt Wiesbaden)
44 Seiten
(www.kunsthauswiesbaden.org)

2013kriegelDas KunstHaus Wiesbaden zeigt noch bis zum 18. August 2013 eine Ausstellungen mit Zeichnungen und Cartoons des vor zehn Jahren verstorbenen aber lange nicht vergessenen Jazzgitarristen, Schriftstellers und Zeichners Volker Kriegel.

Aus Anlass der Ausstellung ist nun ein kleiner, aber feiner Katalog erschienen, der Kriegels Arbeit als Zeichner würdigt, seine Multibegabung, seinen Humor, der deutliche Verbindung zur “Neuen Frankfurter Schule der Satire” besitzt.

Neben den Abbildungen, die zugleich einen lebendigen Einblick in die Ausstellung im Kunsthaus geben, finden sich kurze Würdigungen Kriegels durch Kollegen seiner unterschiedlichen Schaffensbereiche, den Karikaturisten F.W. Bernstein etwa, den englischen Schriftsteller Julian Barnes, den Pianisten Wolfgang Dauner, den Koch Vincent Klink, den Publizisten Roger Willemsen, den Journalisten Manfred Eichel und den Illustrator Nikolaus Heidelbach.

Die Werkschau, in kleiner Auflage erschienen, ist ein erhellendes und sehr schönes Dokument der grafischen Kunst Kriegels.

Wolfram Knauer (Juli 2013)


American Jazz Heroes. Besuche bei 50 Jazz-Legenden
Von Arne Reimer
Köln 2013 (Jazz Thing Verlag Axel Stinshoff)
228 Seiten, 49 Euro
ISBN: 978-3-9815858-0-3

www.americanjazzheroes.de

2013reimerSeit einigen Jahren bringt das Magazin Jazz Thing eine Reihe an Portraits und Interviews, die der deutsche Fotograf und Journalist Arne Reimer mit amerikanischen Jazzmusikern führte, bekannten genauso wie weniger bekannten, oft geradezu vergessenen Heroen der Jazzgeschichte, die meisten betagt bis hochbetagt. Das Besondere an der Serie war, dass Reimer sie in der Regel nicht bei offiziellen Presseterminen, Plattenvorstellungen oder im Tourneehotel aufsuchte, sondern zu ihnen nach Hause reiste, in ihre Apartments in Manhattan, ihre kleinen Häuschen auf dem Lande, in luxuriösere und eher bescheidene Verhältnisse, die den pekuniären Erfolg ihrer musikalischen Karriere widerspiegeln.

Nun ist die Reihe als Buch herausgekommen, und so versammelt ist es ein fast noch größerer Spaß durch die Interviews zu blättern, sich festzulesen, die zum Teil durchaus privaten Bilder zu betrachten, die Reimer schießen konnte. Ihm gelingt bei seinen Hausbesuchen, was wenigen Journalisten glückt: Die Musiker sprechen nicht nur über ihre Musik, über Einflüsse und ihre eigenen Erfahrungen, sie erklären ihm auch ihren Alltag, erlauben einen Einblick in ihr Privatleben.

Da erzählt Buddy DeFranco von seiner legendären Aufnahme mit Art Tatum; man erfährt, dass Paul Bley gern auf der Veranda sitzt und dem Regen lauscht. James Spaulding berichtet von seinem ersten bezahlten Gig in einem Striptease-Lokal; Clark Terry gibt den Tipp, wie Humor einem im Leben wie in der Musik weiterhelfen kann.

Jim Hall bedauert, dass er nie mit Miles Davis ins Studio gegangen sei; Cecil Taylor hält den Fotografen bis in die frühen Morgenstunden zurück, bis dieser endlich ein paar Fotos machen darf. Bob Cranshaw erklärt, warum er Basssoli meidet; Roswell Rudd erzählt von seinen weltmusikalischen Projekten.

Louis Hayes lässt sich mit seiner Enkelin fotografieren; Gary Bartz bekundet seine Bewunderung für Stevie Wonder und erklärt, warum er das Wort Jazz nicht mag. George Cables hat etwas gegen die Institutionalisierung des Jazz in den letzten Jahren; Jimmy Heath sieht für die Musik eine Zukunft, weil genügend junge Menschen sich für sie interessieren.

Frank Wess hört seine Musik lieber leise, um die Nachbarn nicht zu stören; Cedar Walton schwärmt von deutscher Bratwurst und Bier. Milford Graves ist stolz auf eine selbst gebastelte Vogelstimmenuhr; Sheila Jordan berichtet von ihrer Dankbarkeit für die Hilfe George Russells.

Ted Curson ließ sich einen Fu-Mancho-Bart wachsen, weil er ständig mit Freddie Hubbard und McCoy Tyner verwechselt wurde; Dave Pike macht keine Musik mehr, stattdessen kleine Skulpturen. Yusef Lateef liest Noam Chomsky, um neue Ideen für seine Musik zu bekommen; Clare Fischer schrieb Arrangements für Prince und Michael Jackson.

Lou Donaldson spielt morgens eher Golf als Saxophon; Julian Priester muss dreimal die Woche an die Dialyse. Nathan Davis denkt immer noch gern an seine Zeit in Deutschland; Andrew Cyrilles erste Platte war eine LP von Shorty Rogers.

Stanley Cowell trampte eigens von Salzburg nach Stuttgart, um Hans Koller zu hören – verpasste ihn aber; Marian McPartland bedauert, dass sie es nicht geschafft hatte, Miles Davis in ihre Radioshow zu kriegen. Cecil McBee musste die Band von Charles Lloyd verlassen, weil der ihm vorwarf, nicht zu swingen; Bernard Purdie erklärt den Purdie-Shuffle.

Charles Tolliver erzählt von der Gründung des Plattenlabels Strata-East; Henry Grimes ist fasziniert von den technischen Veränderungen während seiner 35-jährigen Musikpause. Chico Hamilton betont, wie wichtig es sei, dass man zur Musik tanzen könne; Helen Merrill erzählt, wie es 1954 zur Zusammenarbeit mit Clifford Brown gekommen sei.

Jimmy Cobb erlebte eine neunjährige Gänsehaut, wann immer er Sarah Vaughan singen hörte; Garchan Moncur III fühlt sich von der Jazzwelt vergessen. Phil Woods will mit Arne Reimer ein Eis essen gehen, aber die Eisdiele ist leider schon geschlossen; Slide Hampton schwärmt von den deutschen Rundfunk-Bigbands.

Gary Peacock erinnert sich an seine Zeit in einem verlassenen Haus in Duisburg; Pete LaRoca Sims bedauert, dass er ein Jurastudium absolviert und nicht mehr gespielt habe. Reggie Workman hebt die Bedeutung der Initiative Collective Black Artists hervor; Harold Mabern bewundert Phineas Newborn Jr.

Sonny Fortune verkauft seine Musik übers Internet; Gerald Wilson denkt mit 94 Jahren daran, eventuell in den Ruhestand zu gehen. Idris Muhammad war schon fünf Mal in Mekka; Houston Person fühlt sich als ewiger Bluesmusiker.

Albert Heath schaut sich nach einem neuen Haus um; Buster Williams ist seinem strengen Vater dankbar, der nicht zuließ, dass er das Bassspielen aufhörte; und Benny Golsons zweites Zuhause schließlich ist Friedrichshafen am Bodensee.

Das also im Schnelldurchlauf sind einige der Informationen, die sich aus dem Buch ziehen lassen, das aber weit reicher an Atmosphäre ist und einem das unbedingte Gefühl gibt, dass Arne Reimer da stellvertretend für uns zu den Heroen des amerikanischen Jazz gereist sei, mit öffentlichen Verkehrsmitteln, offenen Augen und Ohren und einer überaus sensiblen Übersetzung seiner Beobachtungen und Gespräche. Mehrere der Interviewpartner sind mittlerweile verstorben, und so ist Reimers Buch bereits ein Dokument der Jazzgeschichte. Seine Farbfotos der Musiker in ihrer privaten oder selbstgewählten Umgebung beeindrucken den Leser genauso wie sie Roger Willemsen beeindrucken, der ein einfühlsames Vorwort zum Buch verfasste.

“American Jazz Heroes” wird von der Presse gelobt wie lange kein deutsches Jazzbuch mehr, und das völlig zu Recht. Ein Buch, dass man erst dann gern verschenkt, wenn man es selbst besitzt.

Wolfram Knauer (Juli 2013)


Albert Ayler. Lo spirito e la rivolta
by Peter Niklas Wilson
Firenze 2013 (Edizioni ETS)
264 Seiten, 26 Euro
ISBN: 978-884673572-0

2013wilsonAm 25. November 1970 wurde Albert Ayler aus dem East River gezogen. Die Umstände seines Todes wurden nie voll­ständig aufgeklärt. Dies versucht auch Peter Niklas Wilson nicht in der ersten Monographie, die überhaupt über diesen Saxophonisten erschien. Doch Wilsons Buch ist ein Beleg dafür, daß Recherchen noch mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Tod eines Musikers neue Erkenntnisse hervorbringen können. Wilson ist dafür sozu­sagen in die Vergangenheit gereist, hat Zeitzeugen ausfindig gemacht, die bislang von niemandem zum Leben Albert Aylers befragt worden waren, hat das Bild, das er so von der Person Aylers gewann, anhand der existierenden Interviews und Zeitschriftenberichte überprüft und all dies mit den Tondokumenten des Aylerschen Musikschaffens verbunden. Herausgekommen ist ein überaus lesenswertes Sachbuch mit Daten, Fakten, Anekdoten, musikalischen Analysen und einer Kurzbeschreibung der von Ayler veröffentlichten LPs.

Der 1936 im schwarzen Clevelander Stadtteil Mount Pleasant geborene Albert Ayler machte eine jazz-typische Entwicklung durch. Mit sieben Jahren erhielt er seinen ersten Musikunterricht vom Vater, später in einer ört­lichen Musikschule. Mit fünfzehn spielte er in lokalen Bands — eine Musik, die sich eher am Rhythm and Blues als am modernen Jazz der Zeit orientierte. Mit siebzehn wurde Ayler zum Profi-Musiker, ging mit dem Blues-Harmonika-Spieler Little Walter auf Tournee. Doch er spielte nicht nur R&B, sondern auch Bebop — in Cleveland nannte man ihn damals “Little Bird”. Von 1958 bis 1961 ging Ayler durch eine wichtige Schule: die der US-Armee­kapellen. Viel der Repertoire-Besonderheiten des späteren Saxophonisten erklären sich aus seinen biographisch-musi­kalischen Begegnungen: der Rhythm and Blues in Cleveland, die Märsche und Tanzmusik der Armeekapellen. Bald wurde Ayler ins französische Orléans versetzt, machte Konzert­tourneen durch ganz Europa. Zurück in Cleveland erfuhr Ayler eine zweite musikalische Initiation: die des Avant­gardisten. Man hielt ihn entweder für einen Scharlatan oder für leicht verrückt. 1962 machte sich Ayler nach Schweden auf, wo er ein Interesse an seiner Musik erfahren hatte, das ihm in Cleveland nicht entgegenge­bracht wurde. Auch in Schweden aber mußte Ayler sich mit Tanzmusik durchschlagen; lernte allerdings auch einige Musiker kennen, die genau wie er dem “New Thing” anhingen: John Tchicai beispielsweise oder die Musiker des Cecil Taylor Trios. 1963 kam es in Schweden zu den ersten dokumentierten Aufnahmen: ein Repertoire üblicher Hardbop-Standards mit freien Improvisationen des Saxopho­nisten. Zurück in den USA zog es Ayler im Sommer 1963 nach New York, wo er ab und zu mit der Cecil Taylor Unit auftrat. 1964 folgte die erste Studioeinspielung “Spirits”, dann Aufnahmen für das Avantgarde-Label ESP, die ihn endlich zu einem musikalisch wahrgenommenen Phänomen der amerikanischen Jazzszene machten.

Mitte der 60er Jahre lag im schwarzen Amerika die Revolu­tion in der Luft. Bürgerrechtsproteste, die Black-Power-Bewegung, frühe Zusammenschlüsse der Black Panthers und zornige Äußerungen der schwarzen Wortführer bestimmten das Klima. LeRoi Jones sah damals in der Musik des New Thing, und besonders in der Musik Albert Aylers den Auf­ruf zum Protest, zur Revolte. Ayler selbst allerdings äußerte sich nie dezidiert zu einer etwaigen politischen Funktion seiner Musik. “Musik und Politik — sie können auf gewisse Weise verknüpft sein, aber Musik ist Musik und Politik ist Politik”, zitiert Wilson den Saxophonisten.

Wilson betrachtet sowohl die Musik als auch die Ästhetik Aylers dabei durchaus kritisch. Den spirituellen Äußerungen Aylers, deren Resultate sich durchaus in seiner Musik wiederfinden lassen, stellt er da beispiels­weise einen oft zornigen Kleinbürger mit Macho-Attitüden gegenüber, den er in den Äußerungen von Ayler-Freunden wie Michel Samson, Sunny Murray und anderen entdeckt. 1967 lernte Ayler Mary Parks (alias Mary Maria) kennen, die sein privates Leben und seine musikalische Karriere nachhaltend beeinflußte. John Coltrane vermittelte Ayler einen Plattenvertrag mit dem Label Impulse. Dessen Produ­zent Bob Thiele wollte den Saxophonisten einem weiteren Publikum bekannt machen — heraus kam “New Grass”, eine Platte mit Bläsersätzen und Background-Chören und einer offenen spirituellen Botschaft. Wilson argumentiert gegen etliche Kritiker, daß diese Entwicklung nicht einzig auf Thieles Drängen stattgefunden habe, sondern durch und durch dem musikalischen Willen Aylers und dem Einfluß seiner Lebensgefährtin Mary Parks entsprach. Aylers Tod im November 1970 ließ Spekulationen über Selbstmord auf­keimen, Spekulationen, die ihren Grund auch in depres­siven Stimmungen hatten, denen Ayler in den letzten Jahren seines Lebens unterlag.

Dem biographischen Teil des Buchs folgt eine ausführliche analytische (dabei übrigens überaus lesbare) Würdigung der musikalischen Seite Albert Aylers. Wilson untersucht die unterschiedlichen Traditionsstränge, die sich in der Musik des Saxophonisten finden: die Musik der schwarzen Kirche, Rhythm ‘n’ Blues, Jazztradition, Märsche. Er gliedert die Entwicklung Aylers in vier Phasen, die des “Free Bop” (ca. bis 1964), die der “Shapes — From Notes to Sounds” (1964), die der “Universal Music” (1965-1967) und die der “Verbalisierung der Botschaft — From Sounds to Words” (ab 1968).

Peter Niklas Wilsons Buch ist nicht nur deshalb als ein Standardwerk zu Albert Aylers Leben und Schaffen einzu­stufen, weil es bislang die einzige Monographie über den Saxophonisten darstellt. Wilson ist es gelungen, ein umfassendes Bild des Menschen Ayler und seiner Musik zu geben, ein Bild, in dem die Biographie, die spirituelle und die musikalische Entwicklung gegenübergestellt und ihre vielfältigen Einflüsse aufeinander sinnvoll dargestellt werden.

Die vorliegende italienische Ausgabe wurde von Francesco Martinelli übersetzt. Die deutsche Originalausgabe erschien 1996 beim Wolke-Verlag in Hofheim.

Wolfram Knauer (Juli 2013)


Ellington at the White House 1969
von Edward Allen Faine
Takoma Park/MD 2013 (IM Press)
300 Seiten, 15 US-Dollar
ISBN 978-0-9857952-0-7

2013faineIn den meisten Büchern über Duke Ellington ist ein Foto zu sehen, auf dem der Maestro, seine Schwester Ruth neben President Richard Nixon und seiner Frau Pat stehen. Es wurde am 29. April 1969 aufgenommen, am 70sten Geburtstag Ellingtons, an dem dieser aus der Hand des Präsidenten die Medal of Honor, also die höchste zivile Auszeichnung der Vereinigten Staaten verliehen bekam.

Jazz war bereits früher bei Staatsempfängen im Weißen Haus zu hören gewesen, und Jazz spielte auch in der politischen Arbeit eine Rolle, etwa beim Jazz-Ambassador-Programm des US-Außenministeriums. Der Empfang Ellingtons im Weißen Haus aber, der in einer ausgelassenen Jam Session der geladenen Musiker mündete, war Teil einer Anerkennung von Jazz als eines wichtigen nationalen Erbes der Vereinigten Staaten, der Einfluss haben sollte, etwa auf die Etablierung eines Jazzprogramms des National Endowment for the Arts, auf das Jazzprogramm der Smithsonian Institution und auf späteren Aktivitäten, in denen Amerika den Jazz als nationales Erbe anerkannte.

Edward Allan Faine hat nun ein ganzes Buch über jenen Abend am 29. April 1969 geschrieben. Er hat Dokumente gesichtet, anhand derer er die Vorbereitungen genauso beschreiben kann wie die politischen Überlegungen, die solche Veranstaltungen begleiteten.

Ellington hatte bereits in den 1930er Jahren angeregt, seine Band im Weißen Haus spielen zu lassen. 1950 hatte Harry Truman ihn eingeladen, und die beiden hatten miteinander gefachsimpelt – Truman was ein Amateurpianist, residierte aber im Blair House gegenüber des Weißen Hauses, das gerade renoviert wurde. So war John F. Kennedy der erste Präsident, der mit dem Paul Winter Sextet dem Jazz den Weg in die First Mansion ebnete. Und erst Lyndon B. Johnson lud Ellingtons Orchester am 14. Juni 1965 zum White House Festival in den Garten des Palastes. 1967 war Ellington zu einem State Dinner mit dem König von Thailand zugegen, bei dem er und Stan Getz bei der North Texas State University Lab Band einstiegen. Im März 1968 spielte er mit einem Oktett für den Präsidenten von Liberia und im November war er als Mitglied des neu gegründeten National Council of the Arts wieder im Weißen Haus, wo er unter anderem eine Soloversion von “Satin Doll” spielte.

Als Richard Nixon Präsident wurde, erwartete niemand, dass er Johnsons Jazz-Aktivitäten fortsetzen würde. Faine zitiert aus internen Papieren, die das Procedere von White-House-Veranstaltungen und die Verquickung zwischen Engagement und politischer Unterstützung dokumentieren. So ließ Nixon etwa eine Liste genehmer Künstler anlegen, auf die vor allem solche Musiker kamen, die ihn bei der Wahl unterstützt hatten.

Die Idee zur Geburtstagsparty für den Duke kam offenbar von Ellingtons PR-Agenten Joe Morgen. Ellington hatte Nixon nicht wirklich unterstützt, aber seine Fürsprecher legten das dem Präsidenten gegenüber anders aus. Der sah wohl auch den Werbenutzen, den er aus solch einer Veranstaltung ziehen konnte. Faine beschreibt die Vorbereitungen: Gästelisten, die Zusammenstellung einer All-Star-Besetzung für den musikalischen Teil der Veranstaltung, eine Besetzung, die mit Dave Brubeck, Earl Hines und Billy Taylor auch drei namhafte Pianisten umfasste. Er beschreibt das Bankett, die Sitzordnung, das Menü, die Zeremonie der Ordensvergabe, das Konzert. Der Präsident und seine Gattin waren von 20:05 Uhr bis 0:15 Uhr anwesend, danach ging es mit einer legendären Jam Session weiter, die bis nach 2 Uhr morgens dauerte.

Bis ans Ende seines Lebens war Ellington stolz auf den Empfang, und auch Nixon erinnerte sich noch weit später an den Abend als eine der erfolgreichsten Veranstaltungen seiner Amtszeit.

“Ellington at the White House 1969” ist ein ganz spezielles Buch. Es dokumentiert, wie Musik von der Politik instrumentalisiert wird, aber durchaus ihre Eigenständigkeit bewahren kann. Es verdeutlicht zugleich die Bedeutung, die solche offiziellen Akte für die Anerkennung einer Musiksparte besitzen. Faines Recherchen haben dabei überaus interessante Dokumente aufgetan. Im Anhang dokumentiert er über das eigentliche Thema hinaus gehende Dakten: Jazzkonzerte im Weißen Haus vor 1969 und ihre Anlässe, die Liste der von der Nixon-Regierung sanktionierten Entertainer für potentielle Veranstaltungen  des Präsidenten, Ellingtons Gästeliste (sowohl seine Wunschgäste als auch die tatsächlich eingeladenen). Er transkribiert ein neunminütiges Interview des Duke für die Voice of America, nennt sämtliche über den Abend berichtenden Quellen, listet die Jazz-Botschafter-Programme zwischen 1956 und 1987 auf. Zwischendrin finden sich außerdem viele Fotos, die die Gäste und die Stimmung des abends dokumentieren.

Dass Duke Ellington, der in Washington geborene Musiker, dessen Vater im Weißen Haus als Butler diente, in eben diesem Gebäude als einer der bedeutendsten Musiker und Komponisten der USA geehrt wurde, hatte auf jeden Fall weit mehr als nur symbolischen Charakter. Das White-House-Konzert wurde vor wenigen Jahren als CD veröffentlicht, vom Auftaktthema “Take the A Train” bis hin zu Ellingtons Tribut an die First Lady, “Pat”. Edward Allan Faine beschreibt, wie es zu all dem kam. Sein Buch ist dabei eine überaus spannende und gut lesbare Lektüre, die nicht nur Ellington-Fans ans Herz gelegt sei.

Wolfram Knauer (Juni 2013)


Der Klang der Revolte. Die magischen Jahre des westdeutschen Musik-Underground
von Christoph Wagner
Mainz 2013 (Schott)
387 Seiten, 24,95 Euro
ISBN: 978-3-7957-0842-9

Layout 11968 wurde alles politisch in Westdeutschland. Entweder waren die Dinge ganz direkt politisch oder sie wurden für politisch erklärt. Jugendkultur war auf jeden Fall hochpolitisch, und so verhielt es such auch mit der Musik, die die politischen Zweifel, Diskussionen, Aktionen, Reaktionen jener Jahre begleitete, egal aus welcher Ecke sie kam, ob Pop, Rock, Folk und Liedermacher, Blues oder Jazz.

Christoph Wagner, 1956 geboren, berichtet in seinem Buch über die, wie er sie nennt, “magischen Jahre des westdeutschen Musik-Underground”, nämlich die Jahre zwischen 1967 und 1973, und man spürt schon bei seinem Buchtitel die Faszination, die sich allein daraus ergibt, dass dies auch die Jahre waren, in denen er selbst zur Musik kam. Wagners Positionsvorteil ist, dass er seit 1992 in England lebt und damit auf Deutschland sowohl mit dem Insider- wie auch mit einem Outsiderblick schauen kann.

“Deutsch Rock” wunderte sich der Melody Maker 1972 über selbstbewusste Rockmusik vom Kontinent, und Wagner schildert die enorme Popularität von Bands wie Amon Düül und anderen. “Vor Udo” überschreibt er ein Kapitel über die Notwendigkeit, sich nach dem Nationalsozialismus die deutsche Sprache wieder zurückzuerobern. Er beschreibt die Wirkung von Tourneen der Bands The Who oder von Jimi Hendrix, den er als “Anti-Spießer” beschreibt und damit durchaus die Erwartungshaltung der damaligen Jugend gegenüber der Musik zum Ausdruck bringt. Er geht auf die elektronische Musik in Berlin ein und die Hits der Elektronik-Szene in den 1970er Jahren (Stichwort: Eberhard Schoener). Viele der experimentellen Rockbands waren neben ihrem instrumentellen Können auf die Möglichkeiten der Studiotechnik angewiesen, die sich parallel mit der Rock- und Popmusik jener Jahre rasant entwickelte und auf die kreativen Notwendigkeiten der Szene reagierte.

Das große Jazz-Kapitel des Buchs umfasst immerhin 34 Seiten, ist überschrieben mit “Grenzen durchbrechen! Die Jazz-Revolution in Westdeutschland” und handelt zum einen vom Free Jazz der 1960er Jahre und zum anderen von der Fusion der 1970er – mit Schwerpunkten wie Hampel, Brötzmann, Schlippenbach, Dauner und Kriegel, Doldinger, Liebezeit.

Wagner schaut auf die Weltmusikszene, auf Einflüsse durch Ravi Shankar, auf das Einfühlen in außereuropäische Klangwelten und auf die Band Embryo, aber auch auf die Liedermacher auf Burg Waldeck, die mal politischer, mal folkiger waren. Er beleuchtet die Festivalkultur zwischen Folk, Rock, Blues und Free, verfasst ein Lob auf die “Provinz”, die in Kulturdingen Events möglich machte, die in den großen Städten nicht gelaufen wären – oder zumindest nicht so gelaufen wären. Er schaut sich Musikkollektive und Bandkommunen an (“Irrenhaus in Selbstverwaltung”) und beleuchtet die Bedeutung der Drogen in jenen Jahren der Selbstfindung auf vielfältigste Art und Weise.

Die Verbindungslinien, die der Leser zwischen den verschiedenen Kapiteln ziehen kann, sind vielfältig. Sie belegen einmal mehr, was man eigentlich ja weiß, was das Verstehen von Geschichte aber manchmal etwas kompliziert macht: dass nämlich die Menschen sich auch in ihrem musikalischen Geschmack nicht in Schubladen pressen lassen und aktuelle gesellschaftliche Diskussionen auf unterschiedliche Weise in die verschiedensten Musikszenen eindringen. Wagner lädt dabei mit seinem Blick auf die ganze bunte Szene zwischen Jazz, Rock Pop und Folk zum Weiterdenken ein, zum Vergleich und Verbinden unterschiedlichster Eckpunkte (Waldeck, Total Music Meeting, Fehmarn, Moers) und zur Erkenntnis, dass der “Klang der Revolte” ziemlich vieltönig gewesen sein mag, aber durchaus aus ähnlichen gesellschaftlichen wie ästhetischen Beweggründen entstand.

Absolut lesenswert!

Wolfram Knauer (Juni 2013)


Mary Lou Williams. Selected Works for Big Band
(MUSA = Music of the United States, Volume 25)
herausgegeben von Theodore E. Buehrer
Middleton/WI 2013 (MUSA / A-R Editions)
290 Seiten, 200 US-Dollar
ISBN: 978-0-89579-762-9

2013buehrerIn der Denkmäler-Edition “Music of the United States of America” ist nach Bänden zur Musik Fats Wallers, Earl Hines’ und Sam Morgans jetzt ein Band mit Transkriptionen von Bigbandarrangements der Pianistin Mary Lou Williams erschienen. Die Kompositionen stammen aus den Jahren 1929 bis 1968 und wurden von Williams fürs Andy Kirk Orchestra, für Duke Ellington, für Dizzy Gillespie und für eigene Projekte geschrieben.

Theodore E. Buehrer stellt dem umfangreichen Transkriptionsteil des Bandes eine 50-seitige Würdigung der Pianistin, Komponistin und Arrangeurin Mary Lou Williams voran. Er beschreibt ihre Rolle als Musikerin in einer Zeit, als die meisten Jazzinstrumentalisten Männer waren, verfolgt ihre Karriere von Atlanta über Pittsburgh nach Kansas City und geht dann auf ihre ersten Arrangements für das Orchester Andy Kirks ein, von denen er mit “Mess-a-Stomp” (1929) und “Mary’s Idea” (1930) zwei in Transkription vorlegt. Er beschreibt ihren Umgang mit Form, Harmonik und Rhythmik sowie spezielle Instrumentierungen und Texturen, die schon hier ihren Stil charakterisieren. Ihre bekanntesten Arrangement schrieb Williams für Kirks Orchester der Jahre 1931 bis 1942, von denen Buehrer die Titel “Walkin’ and Swingin'” (1936), “A Mellow Bit of Rhythm” (1937), “Messa Stomp” (1938) und “Mary’s Idea” (1938) transkribiert. Er verweist auf Einflüsse anderer Arrangeure, vor allem aber auf die Entwicklung eines klar erkennbaren eigenen Arrangierstils Williams’. Dieser spiele weit mehr als zuvor auch mit der Form, wie Buehrer insbesondere anhand des Vergleichs der beiden Titel “Messa Stomp” und “Mary’s Idea” zeigt, die in ihren Versionen von 1938 völlig anders klingen als 1929 bzw. 1930.

Zwischen 1942 und 1952 arbeitete Williams meist mit kleinen Besetzungen in New York, schrieb zwischendurch aber auch Arrangements für Kollegen wie Benny Goodman, Duke Ellington oder Dizzy Gillespie. Der Band enthält “Lonely Moments” (1947), das Ellington genauso wie Goodman im repertoire hatten, sowie Williams’ “In the Land of Oo-Bla-Dee” fürs Gillespie Orchestra (1949), aber auch ihr “Scorpio” von 1946, geschrieben für Ellington, zu ihren Lebzeiten allerdings nie auf Platte dokumentiert. Ab den 1950er Jahren bis zum Ende ihres Lebens war Williams musikalisch zumeist mit eigenen, kleiner besetzten Projekten aktiv, schrieb daneben geistliche Werke, die in der Regel ebenfalls nicht für eine übliche Bigbandbesetzung gesetzt waren. Aus diesen Jahren greift Buehrer “Gravel (Truth)” (1967) und “Aries Mood” (1968) heraus, zwei Kompositionen, die die Pianistin 1968 mit der Danish Radio Big Band aufführte und einspielte.

Mary Lou Williams’ Nachlass befindet sich heute am Institute of Jazz Studies an der Rutgers University in Newark, New Jersey. Über die Jahre ihrer Karriere schrieb sie mehr als 200 Bigband-Arrangements, von denen Buehrer für seine MUSA-Ausgabe elf Titel aussuchte. Seine Wahl beschränkte sich dabei auf solche Stücke, für die Williams als alleinige Komponistin verzeichnet ist, sowie auf solche, für die ihm möglichst umfangreiche Autographe vorlagen.

Die Transkriptionen selbst sind Studienpartituren mit Notationen, die sich an den autographen Quellen orientieren, enthalten daneben die notwendigen Anpassungen durch die Höranalyse der Aufnahmen. Jedem Stück ist eine Kompositionsbeschreibung vorangestellt, an die Transkription schließt sich ein kritischer Kommentar an, der vor allem auf Unklarheiten der Notierung, Abweichungen zwischen Notation und Höreindruck und ähnliches verweisen. Ensemblebegleitung von Banjo, Gitarre oder Klavier notiert Buehrer in der Regel mit Harmoniesymbolen, wird dort genauer, wo diese Instrumente etwa in einem Break oder in deutlichem Bezug zum Arrangement hervortreten und notiert sie ausführlich, wann immer sie als Soloinstrument verwendet werden.

Buehrers Band über Mary Lou Williams ist eine wichtige Ergänzung zum Studienmaterial über den Jazz des 20sten Jahrhunderts. An diesem Band genauso wie an den anderen jazz-bezogenen Bänden der MUSA-Reihe werden sich noch etliche Musikwissenschaftler abarbeiten können, auch wenn man bei aller Begeisterung über die Transkriptionen nie vergessen darf, dass die Musik nie auf dem Papier steht, sondern nur im Klangerlebnis erfahrbar wird. Der Preis der Reihe mag die MUSA-Ausgaben vor allem für Archive und Bibliotheken erschwinglich machen; vom Inhalt her sei sie jedem empfohlen, der sich analytisch mit der Entwicklung des Jazz befasst.

Wolfram Knauer (Juni 2013)


Keith Jarrett’s The Köln Concert
von Peter Elsdon
New York 2013 (Oxford University Press)
171 Seiten, 17 US-Dollar
ISBN_ 978-0-19-977926-0

2013elsdonPeter Elsdons Buch untersucht Keith Jarretts “The Köln Concert” nicht nur als musikalisches Event, sondern als ein kulturelles Phänomen, das das Leben vieler Hörer aus ganz unterschiedlichen Gründen berührt hat. Sein Buch ist die erste Monographie über das erfolgreiche Album, und der Autor stellt viele spannende Fragen, die sich aus der Musik, aus den Umständen des Konzerts, aus der Lage des Jazz in den Mitt-1970er Jahren und aus dem außerordentlichen Erfolg des Albums ergeben.

Elsdon fragt nach unterschiedlichen Lesarten des Albumserfolgs beschreibt die Schwierigkeiten des konkreten Konzerts, erklärt aber auch, dass er weder eine Art “Making of” noch ein Buch schreiben wollte, das die technischen Details der Aufnahme erklärt. Sein Ansatz sei stattdessen, auf Jarrett, den Solo-Improvisator, zu schauen und zu fragen, wie es dazu kam, dass das “Köln Concert” in der Folge “eine Idee nicht nur über Musik oder Kunst, sondern über das Individuum und seinen Platz in der Kultur” repräsentierte.

Im ersten Kapitel schaut Elsdon aufs “Köln Concert” nicht so sehr als Live-Aufnahme denn als einen Prozess, in dem “die Rezeption und das nachträgliche Verständnis der Aufnahme sie erst mit Werten wie Lebendigkeit verbunden” hätten. Er reflektiert über die Beziehung des amerikanischen Künstlers mit seinem europäischen Publikum, beschreibt, was deutsche Jazzfans während der Mitt-1970er Jahre so hören konnten und versucht ein Gefühl für das neue Selbstbewusstsein der europäischen und insbesondere der deutschen Jazzszene zu entwickeln. Er verfolgt Jarretts Karriere als Solopianist und stellt insbesondere ein Konzert in Heidelberg heraus, von dem Jarrett selbst sagt, dort habe er zum ersten Mal gemerkt, dass er Songs nicht länger als einzelne Stücke spielen, sondern sie mit verbindenden Passagen zusammenbringen wollte.

Sein zweites Kapitel widmet sich der kritischen Reaktion sowie dem kommerziellen Erfolg des Albums in den Jahren nach seiner Veröffentlichung. Irgendwie sei es Jarrett gelungen, die Genregrenzen zu sprengen; seine Musik jedenfalls habe Anhängern von Bob Dylan, den Beatles und den Rolling Stones gefallen. Er schaut auf Jarretts Karriere bis in die 1970er Jahre, liest Urteile aus jazz-relevanten wie jazz-fernen Zeitschriften der Zeit, die sich über die stilistische Reinheit seiner Musik, über seine Wurzeln oder seine Stellung in der Jazzgeschichte Gedanken machten. Er beschreibt das “typische” Jazzpublikum jener Jahre und das wahrscheinliche Publikum in Jarretts Konzerten. Offenbar gab es bei etlichen Kritikern die Hoffnung, Jarrett könne ein neues junges Publikum an den (akustischen) Jazz heranbringen, egal, inwieweit diese Autoren seine Aufnahmen mochten oder nicht. Schließlich geht Elsdon in diesem Kapitel noch auf Jarretts physische Bühnenpräsenz ein, seine Körperhaltung beim Spielen, die nicht nur im Konzert erlebbar war, sondern auch in Bildern transportiert wurde und definitiv einen Einfluss auf die Rezeption seiner Musik hatte.

Kapitel drei beschäftigt sich mit Jarretts Solo-Klavierspiel und stilistischen Änderungen seit seiner ersten ECM-Veröffentlichung. Er ordnet Jarrett in die Geschichte des Solo-Jazzspiels ein und bezieht sich insbesondere auf drei Alben, die Jarrett, Chick Corea und Paul Bley in den 1970er Jahren für ECM aufgenommen hatten. Konkret analysiert er Chick Coreas “Noon Song” in Bezug auf seine formale, harmonische und metrische Struktur, um diese Aufnahme mit Jarretts “Lalene” zu vergleichen. Dann analysiert er Jarretts “In Front” als Beispiel dafür, “wie Jarrett in seinem Solo-Klavierspiel mit Form umging”. Dabei identifiziert er kompositorische Elemente und komplexe improvisatorische Ausflüge, bezeichnet Form als seine Art Road Map, die von Fall zu Fall unterschiedlich ausfallen könne.

Kapitel vier untersucht Jarretts musikalische Sprache, stilistische Referenzen, Groove-Passagen, die die am besten erkennbaren Elemente in Jarretts Solostil seien. Er benennt unterschiedliche Arten von Groovepassagen und vergleicht das “Köln Concert” mit anderen Aufnahmen des Pianisten aus dem Jahr 1975. Schließlich beleuchtet er noch “Balladenpassagen” und reflektiert über das Risiko der Improvisation. Kapitel fünf und sechs enthalten spezifische analytische Anmerkungen zur Kölner Performance. Elsdon beschreibt harmonische Bewegung, motivische Entwicklung, Kadenzen, die anderswo hinführen als erwartet. Er identifiziert harmonische Progressionen, melodische Ideen, pianistische Ansätze, vokale Begleitmuster, Soundaspekte, rhythmische Besonderheiten, Wiederholungen, dramatische Entwicklungen und harmonische Stasis, strukturelle Elemente, Expressivität. Er beschreibt Groove-Elemente, polyphone Resultate pianistischer Techniken, Vamps und Ostinatofiguren der linken Hand, Variationsprozesse, melodische Bewegung, die von der harmonischen Entwicklung unterstützt wird. Und er identifiziert die Zugabe Jarretts (Part IIc) als eine Komposition, die der Pianist bereits früher gespielt hatte und die auf irgendeine Weise ihren Weg ins “Real Book” gefunden habe, wo sie als “Memories of Tomorrow” auftauche. Schließlich fragt er, wie man Abend für Abend neues Material er-improvisieren, wie man als Musiker frisch bleiben könne, um sich nicht zu wiederholen. Zum Schluss des Kapitels identifiziert Elsdon Passagen in Jarretts Spiel, die sich auch in anderen Auftritten wiederfinden und damit eine Art kompositorischer Formung implizieren.

Kapitel sieben betrachtet “The Köln Concert” im Zusammenhang mit der zeitgleich populären New-Age-Musik. Elsdon argumentiert, Jarretts Publikum sei divers gewesen und das Album habe unterschiedliche kulturelle Zwecke erfüllt. Er reflektiert über die Idee von “New Age”-Musik und was diese in den 1970er und 1980er Jahren bedeutet habe, und er vergleicht George Winstons “Autumn” aus dem Jahr 1980 mit Jarretts Stil des “Köln Concert”, Ähnlichkeiten und mögliche Einflüsse sowohl im musikalischen Gehalt wie auch in der kommerziellen Wirkung identifizierend.

Elsdons Buch ist eine gut zu lesende, hochinteressante, herausfordernde und zugleich nachdenkenswerte Lektüre. Es lässt einen die eigenen Für und Wider zum “Köln Concert” hinterfragen, auch, indem der Autor die verschiedenen Aspekte der Albumrezeption betont: seine musikalische Rezeption, seine ästhetische Rezeption und seine konnotative Rezeption. Die Tatsache, dass “The Köln Concert” Kultstatus errungen hatte, macht es für eine solche Analyse besonders geeignet. Elson balanciert seine unterschiedlichen Ansätze ans Thema auf eine Art und Weise, dass der Leser selbst dann Gewinn aus der Lektüre zieht, wenn er die analytischeren Passagen überspringt.

Alles in allem: eine hoch empfohlene, Ohren öffnende Lektüre!

Wolfram Knauer (April 2013)


Die Geschichte des Jazz in Lübbecke
herausgegeben vom Jazz Club Lübbecke
Lübbecke 2013 (Jazz Club Lübbecke)
96 Seiten, 14,95 Euro
ISBN: 978-3-928959-57-5

2013luebbeckeIm Juli 1957 gründete sich in Lübbecke ein Jazz-Club, der – inklusive einer längeren Aktivitätspause und Wiedergründung bis heute besteht. Ohne wirklich runde Jubiläumszeit legt der Club jetzt ein Büchlein vor, das seine Aktivitäten in den vergangenen 55 Jahren dokumentiert.

Das Buch enthält Dokumente wie Eintrittskarten, die Anwesenheitsliste zur Gründung des Jazzclubs, Faksimiles von Programmzetteln, Plakaten und Zeitungsartikeln, und vor allem auch zahlreiche Fotos der Clubgeschichte. Der Text verzeichnet minutiös die Engagements fremder Band und die Aktivitäten der Musiker aus den eigenen Reihen, listet, offenbar entlang der Clubnotizen, Vorstandswechsel, Besucherzahlen, Auseinandersetzungen mit der Politik, Programm-Höhepunkte und die Schwierigkeiten, die die ehrenamtliche Arbeit in einem solchen Club so mit sich bringt.

Einige der Clubmitglieder machten sich später einen Namen, Klaus Stratemann etwa, dessen Buch “Duke Ellington. Day by Day and Film by Film” weltweit als Referenzwerk der Ellingtonforschung gilt, oder August-Wilhelm Scheer, der als Hauptgesellschaft der der IDS Scheer internationalen geschäftlichen Erfolg hatte und über diverse Stiftungen (und als Baritonsaxophonist) seine Liebe zum Jazz auch weiter pflegte.

“Die Geschichte des Jazz in Lübbecke” ist ein sorgfältig zusammengestelltes Büchlein, das wohl vor allem für all jene interessant ist, die dabei und vom Clubleben irgendwann selbst betroffen waren. Der Text ist nüchtern und trocken; die Aufzählungen der vielfältigen Aktivitäten machen das Lesen für Nicht-Eingeweihte eher mühsam. Ein Lesebuch also ist dies weniger, als Chronik aber hält es die ehrenamtliche Arbeit eines Jazzclubs von den 1950er Jahren bis heute fest, wie er ähnlich sicher auch anderswo nachzeichenbar wäre.

Wolfram Knauer (März 2013)


Why Jazz Happened
von Marc Myers
Berkeley 2013 (University of California Press)
267 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-0.520.26878-4

2013myersMarc Myers nimmt sich die Jazzgeschichte in seinem neuen Buch mit der großen Frage “Warum?” an. Er fragt also nach den Gründen für Entwicklungen im Jazz, verknüpft stilistische Wendungen in der Musik mit dem politischen, geschäftlichen, gesellschaftlichen, auf jeden Fall aber außermusikalischen Geschehen und öffnet dem Leser damit ein Fenster in die Beziehungsgeflechte, in denen Musik sich abspielt. Er beginnt nicht am Anfang des Jazz, und er hört nicht im Hier und jetzt auf, sondern nimmt sich Kapitel heraus, die ihm symptomatisch erscheinen für ein Zusammenspiel zwischen Musik und den Bedingungen, in denen sie passiert.

In seinem ersten Kapitel nimmt Myers sich den Aufnahmebann vor, den die amerikanische Musikergewerkschaft Anfang der 1940er Jahre ausrief, um damit die Plattenfirmen zu neuen Verträge mit ihren Gewerkschaftsmitgliedern, also den Musikern, zu zwingen, in denen eine angemessene Vergütung ihrer Platten auch beim Spielen im Radio garantiert werden sollte. Der Aufnahmebann fiel genau in jene Jahre, in der junge Bebop aufkam, dessen Entwicklung deswegen kaum in Schallplattendokumenten festgehalten ist.

In seinem zweiten Kapitel wendet sich Myers dem Einfluss des Rundfunks auf die Ausbreitung des Bebops zu, untersucht in Kapitel 3 dann, welche Auswirkungen die G.I. Bill, die aus der Armee entlassenen Kriegsveteranen eine Ausbildung garantierte, auf den musikalischen Standard der Nachkriegsmusiker und ganz konkret auf die Ausbildung des Cool Jazz hatte.

In Kapitel 4 untersucht er die Konkurrenz unterschiedlicher Schallplattenstandards, also Schellack, EP, 10-Inch- oder 12-Inch-LP. Er fragt, inwieweit der Trend zu suburbanen Lebensformen in den 1950er Jahren den West Coast Jazz begünstigt habe (Kapitel 5), beschreibt die Bildung einer neuen Urheberrechtsorganisation, BMI, die der altbewehrten ASCAP Konkurrenz machte und beschäftigt sich mit den Bezügen zwischen R&B und Hardbop (Kapitel 6).

Die Bürgerrechtsbewegung jener Jahre setzt Myers in Beziehung zur Faszination vieler Musiker mit Afrika und mit spirituellen Themen (Kapitel 7). Er beschäftigt sich mit dem Erfolg der Popmusik und speziell der Beatles und den unterschiedlichen Reaktionen des Jazz auf diese Entwicklung (Kapitel 8). Er fragt nach der Entfremdung der Avantgarde vom breiten Publikum (Kapitel 9) und den Zusammenhängen zwischen den Zwängen von Festival- und Stadienkonzerten nach Beleuchtung und Lautstärke und der Fusion-Musik der 1970er Jahre.

Marc Myers, der regelmäßig fürs Wall Street Journal schreibt und einen in der Jazzwelt sehr beliebten Blog verfasst, ist ein lesenswerter Autor; sein Ansatz, die Jazzgeschichte einmal mit Fragen zu konfrontieren, die einem vielleicht nicht sofort in den Sinn kommen, macht das Buch “Why Jazz Happened” zu einer angenehm lesbaren und selbst Jazzexperten neue Facetten aufzeigenden Lektüre.

Wolfram Knauer (März 2013)[:en]Music Is Forever. Dizzy Gillespie, the Jazz Legend, and Me
von Dave Usher (with Berl Falbaum)
Detroit 2013 (Red Anchor Productions)
178 Seiten, 17,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-692-21110-6

2013usherDave Usher? Nie gehört? Mir ging es ähnlich. Sein Ko-Autor Merl Falbaum beschreibt Usher im Vorwort als einen erfolgreichen Geschäftsmann, der in Detroit in den 1950er Jahren eine Firma zur Beseitigung umweltgefährdender Schadstoffe gegründet hatte. Auf dem Buchtitel von “Music is Forever” sind Usher und Gillespie in kurzen Hosen zu sehen, wie sie in kurzen Hosen und Sandalen durch eine südfranzösische Stadt schlappen. In Gillespies Autobiographie kommt man der Beziehung zwischen beiden auf die Spur: Hier wird Usher auf vier Seiten als Geschäftspartner erwähnt, der Anfang der 1950er Jahre das Plattenlabel Dee Gee mit ungeschickten Entscheidungen, insbesondere säumigen Steuerzahlungen, in den Bankrott getrieben habe. Und nun erzählt Usher selbst seine Geschichte, die von Freundschaft genauso handelt wie vom Business hinter den Kulissen der Jazzszene.

Usher lernte Gillespie 1944 bei einem Konzert in Detroit kennen – im Interview für Gillespies Autobiographie nennt er das Jahr 1945, das tatsächlich wahrscheinlicher ist -, als er gerade mal 14 oder 15 Jahre alt war. Wenige Jahre später gründete er eine eigene Plattenfirma, Emanon, die den Recording Ban der amerikanischen Musikergewerkschaft umgehen sollte, indem sie Aufnahmen, unter der künstlerischen Leitung von Kenny Clarke in Frankreich anfertigen ließ, mit der Vereinbarung, dass Charles Delaunay diese Platten in Europa, Usher in den USA vermarkten könne. 1951 schlug Gillespie, der mit seiner Plattenfirma Capitol nicht zufrieden war, Usher vor, ein gemeinsames Label, Dee Gee, zu gründen. Usher erzählt, dass die Produktionen der Firma, als deren Adresse sein Elternhaus angegeben war, nie Geld abgeworfen hätten. Sie benutzten ein kleines Studio in Detroit, und Usher schlug Gillespie vor, dort auch andere Künstler aufzunehmen, unter anderem das Milt Jackson Quartet, das damals noch nicht Modern Jazz Quartet hieß, aber bereits die erste Besetzung des MJQ hatte.

Nach der Pleite von Dee Gee begann Usher sich stärker in der Firma seines Vaters einzubringen, anfangs im Öl-Recylcing, dann mehr und mehr in der Beseitigung von Umweltgiften. Nebenbei hielt er Kontakt zu Gillespie, dessen Konzerte er besuchte, wann immer er konnte. 1956 nahm Gillespie ihn mit auf eine Südamerikatournee seiner Bigband fürs State Department. Usher berichtet von den Strapazen der Reise, vom Rassismus in Argentinien, vom ersten Treffen Dizzys mit Lalo Schifrin und davon, wie er 2001 drei CDs herausbrachte, die diese Tournee dokumentieren.

Nach seiner Rückkehr aus Südamerika wurde Usher A&R Manager für Argo Records, wo er unter anderem Aufnahmen mit Ahmad Jamal, James Moody, Barry Harris und Sonny Stitt zu verantworten hatte. Er berichtet von Dizzy Gillespies Präsidentschaftskandidatur von 1964, vom Bahá’i-Glauben, zu dem der Trompeter sich seit 1968 bekannte, vom Konzert im Weißen Haus im Juni 1978, bei dem Jimmy Carter als “Gesangssolist” in “Salt Peanuts” einstieg, und von späteren Ehrungen am selben Ort, von Gillespies Kuba-Reise im Jahr 1985, bei der er einerseits Fidel Castro und andererseits Arturo Sandoval traf, sowie von einer Reise nach Nigeria im Jahr 1989.

1985 hatte Gillespie Diabetes entwickelt, 1992 wurde Leberkrebs festgestellt, im Januar 1993 starb der Trompeter im Alter von 75 Jahren. Usher hielt bis zu seinem Tod engen Kontakt zu seinem Freund und zeitweisen Geschäftspartner.

Sein Buch handelt nur ganz am Anfang von der Musik Dizzy Gillespies, als Usher erzählt, wie er zum ersten Mal ein Solo des Trompeters gehört habe und danach gefangen gewesen sei. Man erfährt wenig über den Bebop, dafür viel über Gillespie als Menschen und jede Menge über Entscheidungen hinter den Kulissen der Jazzszene. Es sind sehr persönliche und damit ganz gewiss nicht objektive Erinnerungen, die dem Leser dennoch etliche wenig bekannte Facetten der Jazzgeschichte beleuchten.

 

Wolfram Knauer (März 2016)


 

American Composers. Alec Wilder
von Philip Lambert
Urbana/IL 2013 (University of Illinois Press)
176 Seiten, 22 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-07913-9

2013lambertAlec Wilder gehörte sein Leben lang zu den “musicians’ musician”, besser vielleicht zu den “musicians’ composers”, den Lieblingskomponisten vor allem anderer Musiker, die ins Schwärmen gerieten, wenn sie über ihn sprachen, obwohl sein Name kaum über diesen Kreis der Eingeweihten hinaus bekannt wurde. Wilders Kompositionen saßen zwischen den Stühlen, waren Kunstlieder mit Anleihen aus dem American Popular Song, Blues- oder Standardkompositionen mit weit gefasstem harmonischen Anspruch, Instrumentalkompositionen für ungewöhnlich besetzte Ensembles, die sich aus Jazz- und Klassikidiomen gleichermaßen bedienten und neben Melodik, Rhythmik und Harmonik immer auch auf die besondere Wirkung des Sound eingingen. Die legendären Oktett-Aufnahmen aus den späten 1930er Jahren nehmen Bezug auf Benny Goodmans quirlige Aufnahmen derselben Zeit und klingen im ersten Eindruck wie Jazz, sind aber durchkomponiert und für so kuriose Instrumente wie Cembalo, Oboe und Fagott gesetzt. Einige seiner Stücke wurden tatsächlich zu Standards, “Who Can I Turn To” beispielsweise, “While We’re Young”, vor allem aber “I’ll Be Around”. Jazzmusiker liebten seine Stücke, weil sie auf der einen Seite harmonische Überraschungen enthielten, auf der anderen Seite aber doch genügend Freiheit ließen, sie auch in andere Richtungen weiterzuentwickeln.

Philip Lamberts Buch über Alec Wilder ist keine Biographie, sondern eine Annäherung an seine Musik. Lambert nimmt sich in seinem analytischen Ansatz ein Beispiel an den Veröffentlichungen seines Untersuchungsgegenstandes selbst, insbesondere an dem großartigen “American Popular Song”, in dem Wilder 1972 dem Repertoire des amerikanischen Standards liebevoll analysierend und einordnend auf die Pelle rückte. Sein erstes Kapitel befasst sich mit Wilders frühesten musikalischen Entwicklung. Wilder wurde 1907 in Rochester, New York, geboren und sich Mitte der 1920er Jahre nach Erfahrungen als Banjo-Spieler in lokalen Bands entschieden Musiker zu werden. Er sammelte Noten populärer Hits, studierte aber auch die europäische Klassik, spielte Klavierauszüge von Wagneropern. Er hing in der Musikhochschule in Rochester herum, obwohl er sich nie formell eingeschrieben hatte. Anfangs schrieb er vor allem Kunstlieder, oft nach Gedichten von Emily Dickinson, John Keats und anderen. Nach und nach schrieb er auch eigene Texte, arbeitete in beiden Tätigkeiten mit seinen Erfahrungen mit amerikanischer Popmusik, spielte mit den Konventionen der 32taktigen AABA-Form oder mit den Reimen und Binnenreimen. Er schrieb für Revuen, und einige seiner Stücke schafften es ins Repertoire bekannter Sängerinnen (Helen Forrest sang “Soft as Spring”, und “Trouble Is a Man” wurde u.a. von Sarah Vaughan und Ella Fitzgerald aufgenommen).

In Rochester hatte er sich mit dem Oboisten Mitch Miller angefreundet, der Mitte der 1930er Jahre im Duo mit einer Cembalistin auftrat, mit der er neben Barockmusik auch Swing-Klassiker spielte. Miller ermutigte Wilder, 1938 seine ersten Kompositionen für Bläser zuschreiben, konkret für Oboe, Flöte, Fagott, Klarinette, Bassklarinette, dazu Cembalo, Bass und Schlagzeug. Die Stücke hießen etwa “Neurotic Goldfish” oder “The House Detective Registers” und erinnerten in der Namensgebung an Aufnahmen von Red Norvo oder Reginald Forsythe, in Machart und Klang aber auch an die etwa zeitgleich eingespielten Stücke des John Kirby Sextet. Die Platten fielen zwischen alle Ritzen: Den Jazzern waren die klassischen Einflüsse zu stark, den Klassikern stieß der Jazzgeschmack sauer auf.

Philip Lambert untersucht in seinem Buch Wilders Textstrukturen, Korrelationen dazu in der musikalischen Faktur, die Formgestalt der kleineren Songs genauso wie der größeren Konzertwerke, seine Kompositionen für Horn genauso wie Bühnenwerke oder sinfonische Versuche, schließlich Wilders Kunst der Orchestration, bei der die Soundfaktur seiner Stücke sich nahtlos in die Harmonik fügte. Wilders Lebensgeschichte zwischen dem Schreibtisch und den kleineren und größeren Bühnen New Yorks gerät dabei oft in der Hintergrund, obwohl sein Interesse an dem, was in den Clubs der 52nd Street, am Broadway oder an anderen Bühnen der Stadt gespielt wurde, seine Musik maßgeblich mit prägte. Jazzmusiker nahmen sich seiner Stücke immer häufiger an – eine seiner treuesten Anhängerinnen war die Pianistin Marian McPartland –, und so sehr er auch deren Interpretationen genoss, achtete er doch auch eifersüchtig auf die Veränderungen die sie seinen kompositorischen Grundgestalten angedeihen ließen.

Am Ende des vor allem musikwissenschaftlich empfehlenswerten Buchs, das in der Reihe “American Composers” erschienen ist, finden sich eine ausgewählte Werkliste, weitere Lesetipps sowie ein ausführliches Register. Philip Lamberts “Alec Wilder” liest sich ein wenig, als wäre es eine wichtige Ergänzung zu Wilders eigenem “American Popular Song”, eine Nähe in Stil und Ansatz, die durchaus als ausdrückliches Lob verstanden werden sollte.

Wolfram Knauer (Juni 2015)


 

Experiencing Jazz. A Listener’s Companion
von Michael Stephans
Lanham/MD 2013 (Scarecrow Press)
488 Seiten, 27,95 US-Dollar
ISBN_978-0-8108-8289-8

2013stephansAls Schlagzeuger hat Michael Stephans mit Bennie Maupin, Bob Brookmeyer, Dave Liebman und anderen zusammengespielt. Jetzt hat er ein Buch vorgelegt, eine Art Jazzgeschichte aus der Sicht des Hörers. Jazz erfahren, meint Stephans, sei eine höchst persönliche Angelegenheit, für die Musiker genauso wie fürs Publikum, und die Ansätze für diese Erfahrung seien daher notwendigerweise grundverschieden. Sein Buch nennt sich im Untertitel “A Listener’s Companion”. Anders, als man erwarten könnte, geht es ihm dabei aber nicht um bedeutende Aufnahmen der Jazzgeschichte, die er dem Leser anempfiehlt, um gleich eine Hörhilfe oder gar Interpretation mitzuliefern. Stephans will seine Leser vielmehr selbst die Ohren spitzen lassen und weist deshalb vor allem darauf hin, worauf man alles hören könnte.

Sein Buch ist strukturiert wie Jazzbücher es allgemein sind: eine allgemeine Geschichte des Jazz von den Anfängen bis zum Bebop, vom Bebop bis heute; Besetzungsunterschiede (Small Band, Bigband), zwölf Kapitel über verschiedene Instrumente, ein Kapitel zur Ästhetik (Kunst oder Unterhaltung?) sowie ein abschließendes Kapitel mit einem Ausblick auf die mögliche Zukunft dieser Musik. Innerhalb dieser Kapitel behält sich Stephans dann die Freiheit vor, nicht chronologisch und erschöpfend zu erzählen, sondern mal anekdotisch, mal musikalisch entdeckend. Er holt sich Tipps und persönliche Ansichten von Kollegen ein, etwa Dave Douglas, Roswell Rudd, Joe Lovano, Rudresh Mahanthappa, Bennie Maupin, John Scofield und anderen, sucht sich immer wieder auch Aufnahmen aus der Jazzgeschichte heraus, die er in kurzen, analytisch nicht zu tief gehenden Hörvignetten beschreibt. Seine Grundfrage lautet durchwegs: Wie kann ich den uneingeweihten Hörer neugierig auf diese Musik machen, egal, ob es sich um eine Aufnahme von Armstrong oder Ellington handelt oder abstraktere Konzepte etwa von Cecil Taylor oder Anthony Braxton.

Stephans lässt sich treiben in seinen Einblicken in die Musik, und so sehr einen die verschiedenen Abzweigungen seiner Geschichte ablenken könnten, so sind doch gerade sie es, die das Buch interessant machen. Da beschreibt er das Hörempfinden zu Eric Dolphy mit dem einen Wort, “Joy”, beklagt dann im nächsten Einschub, dass kaum jemand aus der Jazzgemeinde anwesend war, als ein neues Gemeindezentrum in Los Angeles offiziell nach Dolphy benannt wurde. Er nennt die Einflüsse auf Tim Berne, die uns als Leser nachvollziehen lassen sollen, warum der Saxophonist, der mit Rhythm & Blues groß wurde, sich später an der avantgardistischen Musiksprache Julius Hemphills orientierte. In der Musik Bill Frisells, Niels Clines und Marc Ribots sieht er eine bewusste Vermeidung stilistischer Kategorien; und er erinnert sich an die erste Begegnung mit Joe Lovano, bei der die beiden im Birdland in New York nicht etwa über Musik, sondern über Rasenmähermodelle gesprochen hätten.

Das alles bringt Stephans in einem erzählerischen Tonfall rüber, der das Buch leicht lesbar macht. Das angepeilte Publikum sind zukünftige Jazzfans, denen der Autor die Schwellenängste nehmen möchte, daneben aber auch bereits überzeugte Jazzliebhaber, die in seinen Kapiteln viel Neues und Nachdenkenswertes finden können. “Experiencing Jazz” ist sicher kein Textbook oder Nachschlagewerk zur Jazzgeschichte. Aber ein “Begleiter” fürs neugierige Hören ist es allemal.

Wolfram Knauer (Mai 2015)


Willisau und All That Jazz. Eine visuelle Chronik / A Visual History, 1966-2013
von Niklaus Troxler & Olivier Senn
Luzern 2013 (Hochschule Luzern / Till Schaap Edition)
702 Seiten, 78 Schweizer Franken
ISBN: 978-3-03828-000-2

2013troxlerVor 1966 war Willisau höchstens als historisches Städtchen im Luzerner Hinterland bekannt, seither aber verbindet sich mit dem Ortsnamen der Mut des aktuellen Jazz und der improvisierten Musik. Damals hatte Niklaus Troxler begonnen Konzerte zu planen und zugleich die Werbemedien für die Konzerte zu gestalten, die inzwischen zu Plakatikonen geworden sind. Er lud Musiker ein, auf die er neugierig war, und er ermutigte sie dazu das zu spielen, was ihnen wichtig war. John Zorn fasst zusammen: “Die Musiker sind sich einig: Es ist jedes Mal ein besonderes Vergnügen, am Jazz Festival Willisau zu spielen. Der wichtigste Grund dafür ist, dass Niklaus Troxler selber bei ihren Auftritten immer am Bühnenrand ist. Er hört sich jede einzelne Note von jedem einzelnen Musiker während jedes einzelnen Sets an.”

Auf über 700 Seiten geben Troxler und Olivier Senn, der Troxlers Privatarchiv für die Hochschule Luzern übernahm, also rund 720 Stunden Mitschnitte der Konzerte, über 180 Plakate, dazu sämtliche Festival-Programmhefte und jede Menge Presseberichte über das Festival, einen Einblick in Geschichte und Bedeutung Willisaus. 1966 geht es los mit zwei eher traditionellen Konzerten, ab 1968 kamen mit dem Pierre Favre Trio die ersten freien Veranstaltungen dazu. Aus der Konzertreihe, die sich quasi übers ganze Jahr hinzog und immer größere Namen ins Luzerner Hinterland brachte, wurde 1975 das 1. Jazz Festival Willisau.

Das Buch präsentiert alle Plakate der Veranstaltungen, viele Fotos der Konzerte, Ausschnitte aus Rezensionen lokaler und nationaler Zeitungen, die Abfolge der Bands, vor allem aber Troxlers Erinnerungen an die Geschehnisse auf und abseits der Bühne. Troxler berichtet über Entscheidungen für (oder gegen) Bands, über die Unterstützung von offizieller Seite, vom Kanton, von Firmen vor Ort und von Privatpersonen. Neben den üblichen Onstage-Fotos finden sich Bilder, die die Musiker hinter der Bühne zeigen oder beim Soundcheck oder das Publikum oder den Campingplatz, der von vielen Besuchern benutzt wurde. Troxler berichtet von viel Zustimmung, aber auch von Kritik des Publikums an seinen Programmentscheidungen oder der Preisgestaltung des Festivals. Neben dem Alltagsgeschäft eines Festivalorganisators gehörte zu seinen Aufgaben etwa auch, einem amerikanischen Musiker, der seinen Pass vergessen hatte, Ersatzpapiere zu besorgen, damit dieser in die Schweiz einreisen konnte.

Troxlers Buch ist Dokumentation einer Musik im Wandel, aber auch die Dokumentation eines ästhetischen Diskurses, der vor allem in seinen Kommentaren durchscheint. Troxler blieb seiner Maxime treu, Musiker einzuladen, die er selbst gern hören wollte, und so sind die Konzerte in Willisau eine Art Abbild seines eigenen Geschmacks, so wie wir “Normalsterblichen” vielleicht unsere Plattensammlung als Abbild unseres musikalischen Geschmacks empfinden würden.

“Willisau and All That Jazz” ist ein spannendes Buch – selbst für diejenigen, die keine eigenen Erinnerungen an den Ort und sein Festival haben. Die sorgsam ausgewählten Fotos, die von Anfang an einzigartige Plakatgestaltung und die erhellenden Texte Troxlers – auf deutsch wie auf englisch – sorgen für eine ungemein kurzweilige Lektüre. Eine ausführliche Liste aller Konzerte und Plakate beschließt zusammen mit einer Diskographie der in Willisau entstandenen Tonträger und einem Register aller im Text erwähnten Namen dieses dicke, dabei aber äußerst empfehlenswerte Buch.

Wolfram Knauer (April 2015)


Bruce Lundvall. Playing By Ear
von Dan Ouellette
New York 2013 (ArtistShare)
404 Seiten, 19,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-615-92266-9

2013lundvallWie das meiste im Jazzgeschäft ist Jazzproduzent kein Ausbildungsberuf. Die meisten der im Business tätigen Produzenten blieben hängen, nachdem sie sich in ihrer Jugend vom Jazz begeistern ließen. So war es auch bei Bruce Lundvall, der Mitte der 1950er Jahre regelmäßig von New Jersey, wo er wohnte und studierte, nach Manhattan fuhr, um im Birdland, im Café Bohemia, im Open Door die Helden seiner Jugend zu hören, Sonny Rollins, Art Blakey, Jackie McLean, selbst Charlie Parker, der an einem Abend im Open Door mit Lundvalls modischem Hut aus dem Club marschierte und ihn noch einen Monat später trug.

Bruce Lundvall, der in den 1980er Jahren Chef des renommierten Blue Note-Labels werden sollte, begann seine Karriere damit, dass er als junger Mann bei keinem geringeren als Alfred Lion, dem Blue Note-Gründer, vorsprach und um einen Job nachfragte, gern auch als Lehrling. Lion lehnte dankend ab, die Karriere Lundvalls nahm dennoch ihren Lauf.

Bruce Lundvall wurde 1935 in New Jersey geboren. Mit elf Jahren fand er im Jazz aus dem Radio seine erste wirkliche musikalische Liebe. Er sammelte Pfandflaschen, um Geld für Schellackplatten zu haben, erst von Swinggrößen wie Lionel Hampton, Benny Goodman, von populärem Jazzstars wie Louis Armstrong und Billie Holiday, bald aber auch von moderneren Musikern, die im Radio direkt aus dem Royal Roost übertragen wurden. Nach seinem Studio bekam er einen Job bei einer Werbeagentur in Manhattan, wurde dann eingezogen und in Stuttgart stationiert, wo er im Atlanta Club Horace Silver und Chet Baker sowie jede Menge deutscher und Schweizer Musiker erlebte und auch immer wieder nach Paris fuhr, um Bud Powell zu hören.

Zurück in New York erhielt er im Juli 1960 seinen ersten Job in der Plattenindustrie, als Lehrling bei Columbia Records. Er durchlief die verschiedenen Abteilungen der Firma, wurde aber insbesondere im Marketing Department eingesetzt, wo er Jazzalben genauso zu betreuen hatte wie Broadway-Musical-Mitschnitte und Pophits. Er arbeitete mit der Produzentenlegende John Hammond zusammen, und er erzählt von den Kämpfen, die man sowohl innerhalb der Firma wie auch außerhalb austragen musste, um Projekte, von denen man überzeugt war, durchzubringen.

Er berichtet auch von kriminellen Aktivitäten im Musikmilieu, die bald Ermittlungen nach sich zogen, das Label durchrüttelten, Lundvalls Stellung an der Spitze der Marketingabteilung aber eher festigten. In den 1970er Jahren nahm Columbia immer mehr Country- und Rockstars unter Vertrag, Lundvall gelang es daneben auch einige Spitzen-Jazzer im Katalog zu halten, unter ihnen Stan Getz und Miles Davis. Ein ausführliches Kapitel beschreibt das amerikanische Comeback von Dexter Gordon in den 1970er Jahren, das von Columbia und ganz persönlich von Bruce Lundvall begleitet wurde. Trotz des amerikanischen Embargos von Kuba gelang es ihm die Band Irakere unter Vertrag zu nehmen und im März 1979 eine “Havana Jam” im Karl Marx Theater von Havanna aufzunehmen, bei der kubanische und US-amerikanische Stars miteinander spielten.

Bruce Lundvall war mittlerweile zum Präsidenten von CBS aufgestiegen, doch die Zeiten fürs Plattengeschäft wurden nicht leichter. 1982 entschied er sich, auszusteigen und mit Elektra Musician ein neues Jazzlabel zu gründen. Die erste Veröffentlichung war “One Night in Washington”, eine historische Liveaufnahme mit Charlie Parker, dann folgten Platten mit Eric Gale, Lee Ritenour, Chick Corea und Lenny White. Er entdeckte Bobby McFerrin, arbeitete mit Linda Ronstadt, Carly Simon und Queen und ärgert sich eigentlich nur, dass Whitney Houston, die er gern unter Vertrag genommen hätte, mit der Konkurrenz ging. Seine Karriere gelangte schließlich bei seinen Anfängen an, als er 1984 Blue Note Records übernahm, das Alfred Lion längst verkauft hatte und das kaum mehr als aktuelles Plattenlabel wahrgenommen wurde. Es war Lundvalls Verdienst, den Drahtseilakt zu meistern, das Label erfolgreich und populär zu halten und zugleich die Glaubwürdigkeit der langen Labelgeschichte nicht zu verspielen. Er verpflichtete populäre Acts, hatte Hits etwa mit Cassandra Wilson, Kurt Elling und Norah Jones, hielt daneben aber die Blue-Note-Tradition am Leben, und ermutigte junge Musiker wie Robert Glasper, ihren eigenen Weg zu gehen.

Mittlerweile hat Bruce Lundvall die Geschäfte bei Blue Note an Don Was weitergereicht, der sich durchaus bewusst ist, in was für große Fußstapfen er da tritt. Lundvall selbst hat über die Jahrzehnte die Karriere von etlichen Musikern mit beeinflusst, und viele von ihnen zollen ihm in Exkursen des Buchs Respekt, so beispielsweise Herbie Hancock, Willie Nelson, Paquito D’Rivera, Bobby McFerrin, Rubén Blades, Greg Osby, Joe Lovano, Cassandra Wilson, Kurt Elling, Norah Jones, Wynton Marsalis, Amos Lee und Terence Blanchard.

Dan Ouellette hat Lundvalls Karriere mit viel Sympathie und dem Bewusstsein dafür geschrieben, dass sein Buch (genauso wie die Arbeit seines Sujets) die Musik genauso streift wie das Musikbusiness. Er erlaubt Einblicke in ein Geschäft, das den Spagat schaffen will, große Kunst öffentlich zu machen, junge Musiker zu entdecken und zu fördern, den Jazz voranzubringen und dabei doch auch für alle Beteiligten Geld zu verdienen. Lundvall begann seine Karriere, als die Plattenindustrie von Schellackplatten zum LP-Format überging. Er begleitete die Musik von der LP zur CD. Und er stieg aus dem Business aus, als die Musik immer mehr von den physischen Tonträgern in die Cloud abwanderte. Seine geschäftlichen wie künstlerischen Entscheidungen haben Musikgeschichte geschrieben, und Ouellettes Biographie zeigt recht deutlich, welche Qualitäten man in diesem Geschäft besitzen muss, um die Künstler genauso zufriedenzustellen wie die Musikkritik und die Finanzmanager der Labels. Dass es bei all dem nicht nur um Jazz geht, ist klar: Lundvall war ein Tausendsassa des Business und hatte Popalben genauso zu verantworten wie den Jazz. Dass der Jazz ihm aber immer wichtigster Antrieb war, wird auch klar und erlaubt so einen weiteren Blick hinter die Kulissen dieser Musik.

Wolfram Knauer (Februar 2015)


New Orleans. Creolization and all that Jazz
von Berndt Ostendorf
Innsbruck 2013 (StudienVerlag)
203 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-7065-5209-7

2013ostendorfIm zehnten Kapitel seines Buchs erzählt Berndt Ostendorf, wie er den Jazz für sich entdeckt hatte, nachdem sein Bruder 1951 zwei Schellackplatten mit nach Hause brachte, Earl Bostics “Flamingo” und Oscar Petersons “Jumping With Symphony Sid”. Bald hörte Ostendorf die legendäre “Voice of America Jazz Hour” mit Willis Conovers sonorer Stimme “in special English” auf dem Kurzwellenradio seines Bruders, und durchlebte daneben wie wohl jeder Deutsche jener Zeit den Generationskonflikt zwischen Vergangenheitsbewältigung und Rebellion. Mit 17 nahm er an einem Schüleraustausch teil, der ihn nach Dubuque, Iowa, brachte, in die amerikanische Provinz also, die so ganz anders war als seine Faszination mit der Neuen Welt ihn hatte träumen lassen. Immerhin stoppten etliche der großen Bands in der Stadt, Goodman, Basie, Ellington, Kenton. Später verbrachte er etliche Jahre in den USA, lebte in Washington, D.C., wo er jede Menge Jazz hörte und sich “vor Ort” mit der Realität der amerikanischen Gesellschaft und ihrer Probleme auseinandersetzen konnte. Zurück in Deutschland unterrichtete er am Englisch- und am Geschichtsseminar der Universität Freiburg und gab insbesondere immer wieder Kurse über Minderheiten. Das Münchner Amerika Institut, dem er seit 1981 vorstand, war 1949 als Teil des Reeducation-Programms der Amerikaner gegründet worden, war aber bereits unter Ostendorfs Vorgänger mehr und mehr zu einem der ersten Seminare geworden, die “cultural studies” anboten. Was der Unterschied zwischen American Studies in den USA und in Europa sei, fragt Ostendorf zum Schluss dieses biographischen Kapitels, und antwortet aus seiner eigenen Erfahrung heraus: Die meisten Europäer seien auf das Feld der American Studies durch ihre Faszination mit amerikanischer Musik gestoßen.

Jazz also spielt eine wichtige Rolle in Ostendorfs Verständnis seines Forschungsbereichs, und Jazz spielt auch in den meisten Kapiteln dieses Buchs eine wichtige Rolle, das in elf Kapiteln (von denen die meisten bereits in anderen Sammelbänden veröffentlicht wurden) zu erklären versucht, wie amerikanische Kultur, um mit Ralph Ellison zu sprechen, die Form des Jazz besäße.

Da geht es um Jazzbegräbnisse in New Orleans und das Phänomen der Second Line, die kulturelle Kommunikation im Wortsinn auf die Straße bringt. Es geht um die kreolische Küche der Crescent City, in der sich jener kulturelle Schmelztiegel widerspiegelt, der der Stadt seit jeher nachgesagt wird. Es geht in einem zentralen Kapitel seines Buchs um das generelle Thema kreolischer Kulturen und des Prozesses der Kreolisierung. Es geht um die Welt der Cajuns in Louisiana nach 1968. Es geht um die Musik der 1960er Jahre zwischen politischer Paranoia und kulturellem Fundamentalismus. Es geht um den großen Beitrag der afro-amerikanischen Kultur, nämlich die Stärke des Ausdrucks, und ihre Rezeption in den diversen wissenschaftlichen Disziplinen.

Ostendorf ist Amerikanist und damit auch Literaturwissenschaftler. Seine Auseinandersetzung mit E.L. Doctorows Roman “Ragtime” von 1975 blickt allerdings vor allem auf die Musik, die im Buch erwähnt wird und die Relation zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Er schaut auf die europäische Jazzrezeption und die Änderungen in dieser seit den 1920er Jahren. Und er fragt in seinem abschließenden Kapitel, was dran sei an Ralph Ellisons Aussage, dass die Seele, “the swing and soul”, der amerikanischen Gesellschaft in der afro-amerikanischen Kultur begründet läge.

All diese Kapitel verbinden sich zu einem angenehm persönlich geformten kaleidoskopischen Blick auf das Thema Amerika aus der Sicht eines Amerikanisten, der weiß, dass “It don’t mean a thing if it ain’t got that swing”.

Wolfram Knauer (Januar 2015)


Concert-Life in Nineteenth-Century New Orleans. A Comprehensive Reference
von John H. Baron
Baton Rouge 2013 (Louisiana State University Press)
697 Seiten, 99 US-Dollar
ISBN: 978-0-8071-5082-5

2013baron1966 erschien mit Henry A. Kmens Buch “Music in New Orleans, 1791-1841” eine umfassende Studie über das Musikleben in der Stadt am Mississippi-Delta zwischen Sklavengesängen und Oper, lange vor der Geburt des Jazz. Kmen plante eine Fortsetzung seines Buch, zu der er aber nie kam. Sein opus magnum ist nach wie vor eine wichtige Quelle zur Einordnung der unterschiedlichen musikalischen Aktivitäten in New Orleans. Nun hat John Baron, Musikwissenschaftler an der Tulane University, ein umfangreiches Buch vorgelegt, das sich demselben Musikleben ganz praktisch nähert.

Baron beschreibt Spielorte wie Theater, Kirchen oder Parks, das sinfonische Musikleben der Stadt, Konzertgesellschaften und Chorvereine, die Unterrichtssituation vor und nach dem Bürgerkrieg, die Stellung von Schwarzen, aber auch die Beteiligung von Frauen am Musikleben der Stadt. Er gibt biographische Abrisse von vierzehn wichtigen (weißen) Musikern, Lehrern, Komponisten, Dirigenten, und beschießt sein Buch mit einer Chronologie der musikalischen Ereignisse von 1805 bis 1897.

Mit Ellis Marsalis und Bruce Boyd Raeburn, ersterer der Vater des Marsalis-Clan, letzterer der Chef des größten Jazzarchivs der Region, loben zwei Jazzer das Buch auf dem Umschlag, und das, obwohl das Wort “Jazz” darin keine Rolle spielt und Musiker, die für den Jazz von Belang waren, sich auch nur am Rande finden. Und doch ist Barons Opus unverzichtbar zum Verständnis der Vorgeschichte des Jazz, da er auflistet, was an offizieller Musik in der Stadt zu hören war. Die inoffizielle Musik, die etwa von den Schwarzen gemacht wurde, aber auch Volksmusik unterschiedlicher Provenienz, karibische Einflüsse und anderes mehr, findet bereits in den Quellen, die Baron auswertet, keine bis kaum Beachtung. Hier hätte man sich dann vielleicht doch noch ein angeschlossenes Kapitel gewünscht, dass genau diese inoffizielle Musikszene in die Chronologie seines etablierten New Orleans eingeordnet hätte, die zeitgenössischen Berichte also, die es ja durchaus auch gab, und die Baron in seinem Kapitel “Music and Race” etwas kurz abtut. Auch über die kulturelle Vermischung hätte man sich etwas mehr als kurze Exkurse gewünscht, ein Herausarbeiten der Voraussetzungen, warum ausgerechnet hier, wo Oper, Chorvereine, sinfonische Gesellschaften und andere genre-feste Organisationen das Musikleben scheinbar im Griff hatten, eine so ungemein kreative Vermengung der Traditionen geschehen konnte, die letzten Endes zur Ausbildung des Jazz führte.

Davon abgesehen aber ergänzt Baron Henry Kmens Buch um Fakten, die das Bild von New Orleans als einer international vernetzten musikalischen Metropole untermauern. Baron präsentiert dabei so viel an Information, dass “Concert Life in Nineteenth-Century New Orleans” kaum zum konsequenten Durchlesen einlädt, dafür als hilfreiches narratives Nachschlagewerk taugt, gerade auch deshalb, weil der Autor die gesammelte Information kontextualisiert und seinen Lesern damit ein Bild vermittelt, wie man es sich seinerzeit wohl auch aus der zeitgenössischen Presse zusammengeklaubt hätte. Ein großer Anmerkungsapparat, eine Bibliographie und ein ausführlicher Index beschließen diese Fleißarbeit, die für eine musikalische Stadterforschung der Crescent City viel neuen Stoff bietet.

Wolfram Knauer (Dezember 2014)


Black Europe
herausgegeben von Jeffrey Green & Rainer E. Lotz & Howard Rye
Holste 2013 (Bear Family Records BCD 16095)
2 Bücher (296 Seiten, 356 Seiten)
44 CDs
http://www.black-europe.com/
750 Euro inklusive Versand

2013greenlotzryeEin Lebenswerk, anders ist diese Edition nicht zu beschreiben. Ein Lebenswerk dreier Experten, die sich seit langem um die Dokumentation der frühen Jazzgeschichte in Europa verdient gemacht haben. Ein Lebenswerk dreier Forscher, die für diese editorische Arbeit in anderen Disziplinen mindestens einen zusätzlichen akademischen Grad verdienen würden. Über viele Jahre also sammelten die beiden Briten Jeffrey Green und Howard Rye sowie der Deutsche Rainer E. Lotz Aufnahmen sämtlicher von schwarzen Musikern und Sängern eingespielten Tondokumente in Europa vor 1927, schalteten Anzeigen, um bei anderen Sammlern dafür zu werben, ihnen für diese Box seltene Walzen oder Schellackplatten zur Verfügung zu stellen, und füllten damit schließlich 44 CDs mit insgesamt 1.244 Tracks oder umgerechnet einer Spielzeit von 56 Stunden. Als wäre das nicht genug, teilen die drei zusammen mit anderen Fachleuten ihr Wissen um die Frühzeit schwarzer Musiker in zwei LP-formatigen ausführlichen und reich bebilderten Büchern in ungemein lesenswerten Essays, in denen sie die Umstände der Aufnahme sowie das Leben und die Karriere der Künstler genauso beschreiben wie das Zustandekommen von seltenen Feldaufnahmen um die Jahrhundertwende oder die aus den CDs und den mehr als 2.000 Fotodokumenten ablesbare Rezeption schwarzer Menschen in Europa.

Wo also fängt man an… Vielleicht am besten bei der Musik. Aufnahmen früher Minstrel-Bands, Revuekünstler, Varieté-Acts; die kompletten Aufnahmen des Duos Pete Hampton und Laura Bowman von 1902 bis 1910 (zweieinhalb CDs); sämtliche Aufnahmen des Savoy Quartet zwischen 1916 und 1920 (dreieinhalb CDs); knapp zwei CDs mit Aufnahmen von Edmund Jenkins von 1921 und 1922; volle zwei CDs mit Einspielungen, die der Schlagzeuger Louis Mitchell zwischen 1921 und 1923 einspielte; die europäischen Aufnahmen von Sam Wooding, Layton & Johnstone, Sissle & Blake, Josephine Baker oder Arthur Briggs; Spiritualaufnahmen von John Payne oder Roland Hayes und so vieles, vieles mehr. Wenn man in Geschichtsbüchern von der Rezeption des authentischen Jazz im Europa des frühen 20sten Jahrhunderts liest, dann finden sich hier die Beispiele dessen, was wirklich zu hören war. Nicht alles entspricht dem, was wir heute auch historisch als Jazz bezeichnen würden; selbst einige der Hot-Bands der Zeit waren nun mal in erster Linie Showorchester. Doch genau diese Mischung afro-amerikanischer Präsenz aus der Nicht-Selbstverständlichkeit des ja noch so jungen Jazz heraus macht das Hören so spannend.

Allein die Versammlung dieser Quellen, die für die europäische Jazzrezeption der Frühzeit unverzichtbar sind, wäre eine Meisterleistung, doch entschieden die Herausgeber völlig zu Recht, dass man die Rezeption schwarzer Kultur nicht auf Afro-Amerika beschränken könne, da ihre Wahrnehmung in Europa sich auch nicht darauf beschränkte, sondern vor allem auf Hautfarbe. Die Rezeption schwarzer Kultur schwebte immer ein wenig zwischen den beiden Extremen: dem kolonialistischen Blick auf das fremde, wilde, als rückständig empfundene Afrika auf der einen und dem hoffnungsfrohen Blick auf die mitreißend neue, die Gegenwart widerzuspiegeln scheinende Mode Afro-Amerikas auf der anderen Seite. Also gehört zu den Aufnahmen früher Jazzmusiker und afro-amerikanischer Entertainer eben auch die Dokumentation eines europäischen Interesses an schwarzer afrikanischer Kultur – aus welchen Gründen auch immer. Und so finden sich auf “Black Europe” auch Aufnahmen, die nicht als kommerzielle Produkte für einen Markt gemacht wurden, sondern als Dokumente einer damals auf dem aktuellsten Stand der Forschung agierenden Musikethnologie. Diese hatte erkannt, dass die oral überlieferten Musiktraditionen anderer Kulturen sich durch reine Transkription nur schwer dokumentieren ließen, die Tonaufzeichnung jedoch völlig neue Möglichkeiten bot. Das Resultat sind etwa Aufnahmen anlässlich der Pariser Weltausstellung von 1900, Aufnahmen aus dem Lautarchiv der Humboldt-Universität, Aufnahmen der Phonographischen Kommission oder Archivaufnahmen, die afrikanische Musik und Sprache aus von Tunesien bis Südafrika dokumentieren.

“Black Europe” enthält damit 44 CDs, die eben nicht zwischen den Genres unterscheiden, sondern die auf ihnen enthaltenen Musikbeispiele als das nehmen, was sie sind: Dokumente eines breiten Interesses an fremder Kultur; Dokumente zugleich einer Ahnung, dass die enger werdende Kommunikation zwischen den Völkern ein Verstehen genauso erforderlich machte wie ein Erforschen; Dokumente einer breiten, damals vor allem unbedarften, aus heutiger Sicht klar rassistischen Neugier; Dokumente von Modetrends, die letztendlich den Beginn einer Umformung der ästhetischen Wertesysteme ausmachen sollten. Und damit sind wir dann bei dem, was neben der Musik in dieser Box zu finden ist, bei den vielen Fotos von Künstlern, Noten, Plakaten, Handzetteln sowie den ausführlichen Erläuterungen, die “Black Europe” auf mehr als 600 Seiten bietet.

Die Einleitung zu den beiden Textbänden beginnt mit der Vorgeschichte, der Wahrnehmung Afrikas in der europäischen Kulturgeschichte vom Mittelalter bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert und steckt somit den Rahmen ab. Die Faszination Europas an afrikanischer Kultur zeichnen die Autoren am Beispiel der Dahomeys nach, die im ausgehenden 19. Jahrhundert das europäische Bild der “wilden Afrikaner” prägten. Sie erkennen in der europäischen Rezeption Harriet Beecher Stowes “Onkel Toms Hütte” ein romantisierendes Bild der Sklaverei in Amerika. Sie berichten über die Fisk Jubilee Singers, die in den 1870er Jahren in großen Theatern und sogar bei Hofe auftraten, und über die Minstrel-Mode aus den USA, die zumindest auch in England Station machte. Sie dokumentieren die in Frankreich und Deutschland gegen Ende des Jahrhunderts populären Völkerschauen, die oft genug in zoologische Gärten verlegt wurden und die “Fremden” im eigenen Habitat zeigen sollten. Sie beschreiben die neuen Tänze, die die alte Welt eroberten und sich auf Musikformen wie Cakewalk oder Ragtime bezogen, aber auch Revuen, deren Acts zwischen Minstrelshow, zirzensischen Aufführungen, Tanz und Musik sich immer mehr europäischen Aufführungsformen wie der leichten Operette annäherten. Und sie stellen fest, dass, während Europa quasi durch die Mode der Musik und des Theaters ein langsames Interesse an fremden Kulturen entwickelte, die Forscher mit ihren transportablen Aufnahmegeräten selbst hinausgingen, um zu lauschen und zu dokumentieren, wie diese “Fremden” nicht nur anders aussahen, sondern auch anders klangen. “Black Europe” erzählt die Geschichte der transportablen Aufnahmetechnik in Ton wie frühem Film, ja listet in einem Unterkapitel sogar sämtliche bekannten Filmaufnahmen mit schwarzer Beteiligung zwischen 1895 und 1931 auf.

Ein wichtiger Bruch in der Wahrnehmung nicht nur des schwarzen Kontinents, sondern der ganzen Welt war der erste Weltkrieg, der erstmals zeigte, dass die Zeit der sich nur gegen ihre Nachbarn zu wehrenden Nationalstaaten wohl langsam vorbei war. “Black Europe” betrachtet verschiedene Aspekte schwarzer Präsenz im Krieg, von den französischen Besatzungstruppen im Rheinland bis zu James Reese Europes Harlem Hellfighters. Am Beispiel George Bohees wird die Faszination des Banjos dargestellt, am Beispiel des Komikers Chocolat die Auseinandersetzung französischer Maler mit schwarzer Kultur. Ein eigenes Kapitel beschäftigt sich mit dem Berliner Phonogramm-Archiv, gefolgt von Darstellungen der musikethnologischen Arbeit etwa in Südafrika, Kongo, Sudan, Kamerun, Senegambia, Somalia oder Ostafrika. Den Hauptteil aber nehmen von nun an personenspezifische Essays ein, die den europäischen Teil der Karrieren der in der Box enthaltenen Künstler darstellen, einschließlich unzähliger seltener Fotos und genauer diskographischer Angaben. Neben Lebensdaten und akribisch recherchierten Erkenntnissen über die europäischen Erlebnisse der Künstler bieten die Autoren dabei vor allem eine Kontextualisierung der Aufnahmen, erklären Texte und Besetzungsspezifika, zitieren aus Interviews mit den Künstlern oder aus zeitgenössischen Kritiken.

Diese Kapitel in einer Rezension erschöpfend zu würdigen ist kaum möglich. Greifen wir uns ein, zwei Kapitel heraus. Louis Mitchell begann seine Karriere als Sänger mit verschiedenen Varietéensembles. 1915 reiste er zusammen mit dem Pianisten Joe Jordan nach England. Er trat immer mehr als Schlagzeuger in Erscheinung, arbeitete mit einem französischen Orchester und wurde 1919 nach New York geschickt, um für den Manager des Casino de Paris ein 50-köpfiges Orchester mit afro-amerikanischen Musikern zusammenzustellen. Von den 45 Kollegen, die er nach einiger Zeit für das Projekt gewinnen konnte, nahm er am Ende nur fünf mit, die seine künftige Band bildeten und die als Mitchell’s Jazz Kings Furore machten. Die Autoren benennen die ersten Aufnahmen dieser Band vom Dezember 1921, wobei sie sich in ihrer Wertung zurückhalten, vor allem Ablaufbeschreibungen geben sowie eventuell zusätzliche Informationen über Komponisten, Textdichter, Rezeption einzelner Titel oder den möglichen Einsatz im abendlichen Revue- oder Tanzmusikgeschäft. Sie verfolgen die Entwicklung der Band, einzelner Solisten, erwähnen das Feuer, bei dem das Casino de Paris im Mai 1922 zerstört wurde, währenddessen die Jazz Kings wahrscheinlich ein Ausweichengagement in Aix en Provence wahrnahmen, und sie erklären, dass einige Aufnahmen, die der belgische Jazzhistoriker Robert Goffin auflistete, von Sammlern nie entdeckt wurden. Im November 1923 eröffnete Mitchell den ersten mehrerer eigener Nightclubs in Paris, die nach langsamen Anfängen recht erfolgreich waren. Mit dem Börsenkrach von 1929 endete allerdings die Hoch-Zeit der glitzernd-feiernden Seine-Metropole. Mitchell kehrte in die Vereinigten Staaten zurück, führte ein französisches Restaurant in New York und arbeitete in der Anzeigenabteilung zweier Tageszeitungen. Einige der früheren Jazz-King-Musiker gingen 1929 für zwei Tracks ins Studio, auf denen der Dichter Jean Cocteau als Rezitator zu hören ist (und die den einzigen zeitlichen Ausrutscher der Box nach-1927 darstellen).

Ein ganz anderes Kapitel ist jenes über J.J. Ransome-Kuti, eines nigerianischen Pastors, der 1903 zum Leiter seines regionalen Missionsdistrikts ernannt wurde und dort unter anderem durchsetzte, dass Christen Schirme benutzen durften, was zuvor nur dem Monarchen zugestanden war. Die Egba-Region, in der er lebte, kam 1914 unter britische Kolonialgewalt und erfuhr 1918 Aufstände, die sich sowohl gegen die Kolonialherren wie auch gegen literate Afrikaner und Christen richteten und bei denen Ransome-Kuti eine Vermittlerrolle zukam. In London nahm Ransome-Kuti 1922 im Alter von 67 Jahren 43 Hymnen auf, bei denen er von verschiedenen Pianist/inn/en begleitet wurde. Die Stücke singt er in der Yoruba-Sprache. Viele dieser Lieder, lernen wir, werden nach wie vor in nigerianischen Kirchen gesungen. Sie sind ein Beispiel für den Einfluss europäischer Hymnen in Afrika und ihre Veränderung durch Sprache, Stimmgebung und Interpretationstraditionen. Und, ja, Ransome-Kuti ist der Großvater von Olufela ‘Fela’ Ransome-Kuti, dem Saxophonisten und Begründer der Afrobeat-Bewegung.

Solche und andere Geschichten finden sich in den beiden Büchern und auf den 44 CDs, Geschichten von bekannten genauso wie von unbekanntem schwarzen Künstlerinnen und Künstlern, die Europa durch ihre Musik beeinflussten oder in Europa Dokumente aufnahmen, die die Wechselwirkung zwischen den Musiktraditionen auch in ihrem Land zeigten. Die Geschichten lassen die Fremdheit schwarzer Kultur für das europäische Publikum erahnen, handeln von jener Faszination an afrikanischer und afro-amerikanischer Musik, die von Agenten, Veranstaltern, aber auch von vielen Künstler als Marktchance begriffen wurde. Sie zeigen Stereotype auf, positive wie negative, und lassen einen nüchternen Blicke auf den Rassismus der Zeit werfen, der noch eng mit kolonialen Denkweisen verbunden war. Wie immer, wenn man sich mit Geschichte auseinandersetzt, kann man sich dabei trefflich darüber Gedanken machen, wie viel sich seither in der Weltsicht verändert hat, welche Klischees über schwarze Kultur und schwarzes Leben fortbestehen, und welche eigene Verantwortung wir als Europäer daran haben, wie es in unserer Welt zugeht. Neben dem kulturhistorischen Wert dieser Edition gibt es also zumindest zwischen den Zeilen auch einen hoch politischen.

In der Verzahnung afrikanischer, europäischer und afro-amerikanischer Dokumente ist “Black Europe” eine beispielhafte Dokumentation europäischer genauso wie globaler Musikgeschichte. Die Box erklärt in Wort und Ton, was an dieser Musik so viele Menschen zu Beginn des 20sten Jahrhunderts faszinierte und wie der wohl wichtigste Wandel globaler Musikgeschichte seinen Anfang nahm: in der Begeisterung einer alten Musikkultur mit sowohl alten wie auch ganz jungen Traditionen anderer Kulturen. “Black Europe” wurde jüngst für einen Grammy in der Kategorie “Best Historical Album” nominiert. Sehr zu Recht! Gratulation!

Wolfram Knauer (Dezember 2014)


Traditional Music in Coastal Louisiana. The 1934 Lomax Recordings
von Joshua Clegg Caffery
Baton Rouge 2013 (Louisiana State University Press)
346 Seiten, 49,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8071-5201-0

2013cafferyAlan Lomax war einer der bedeutendsten Musikethnologen der USA. Seine Feldaufnahmen von Bluesmusikern, Gospel- und Spiritualchören, Feld- und Gefangenengesängen und allen möglichen Volksmusikanten bieten einen tiefen Einblick in die nicht-kommerzielle Musikszene der Vereinigten Staaten in der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts. In den letzten Jahren sind etliche dieser Aufnahmen auf CD wiederveröffentlicht worden. Jetzt hat Joshua Clegg Jaffery ein Buch vorgelegt, das die Reise dokumentiert, die Alan Lomax 1934 mit seinem Vater, der damals als Kurator des American Folk Music Archive der Library of Congress tätig war, und mit einem tragbaren Aufnahmegerät durch den Süden Louisianas machte. Erst 1999 wurden 44 der Songs auf Platte veröffentlicht, einige der englischsprachigen Lieder fünf Jahre später. Cafferys Interesse gilt der Texterforschung dieser Lieder. Ihn interessiert dabei insbesondere der Prozess der “creolization”, der in den Songs, die teilweise in Englisch, teilweise in Französisch gehalten sind, ablesbar sei.

Caffery beginnt seine Studie mit einem Überblick über die Sammlung, die traditionelle französische Lieder enthält, afro-amerikanische, englische und amerikanische Volkslieder, Cajun und Zydeco-Musik (wobei der Begriff Zydeco erst später aufkam) sowie instrumentale Stücke. Dann geht es sofort ans Eingemachte: Geografisch sortiert von A wie Acadia Parish bis W wie West Feliciana Parish (Angola State Penitentiary) kontextualisiert er die Songs, deren Texte jeweils im Original wie in englischer Übersetzung abgedruckt sind, ordnet sie in Volksliedtraditionen ein oder stellt ihre Besonderheiten heraus. Er betrachtet die oft genug eindeutig zweideutigen Texte aus der Sicht der Zeit und vergleicht sie schon mal mit Erscheinungen populärer (Rap-)Musik heute.

Caffery listet alles auf, was über die Interpreten und die Genese der von ihnen gesungenen Stücke bekannt ist. Da findet sich etwa “Frankie and Albert”, das unter dem Titel “Frankie and Johnny” besser bekannt wurde. Der Autor diskutiert anhand dieses Stücks, ob es wohl auf die Ermordung der Cakewalk-Tänzerin Frankie Baker durch ihren Pianisten und Liebhaber Allen (Albert) Brit zurückgeht oder auf die Ermordnung von Frances ‘Frankie’ Silver durch ihren Ehemann in Morganton, North Carolina. Caffery geht auf Redeweisungen und ihre Verankerung im regionalen Sprachschatz ein , identifiziert historische Gegebenheiten oder regionale Legenden, findet Traditionen aus den unterschiedlichsten Regionen, beispielsweise jene deutscher Fensterlieder oder französischer Jagdlieder, entdeckt Ähnlichkeiten etwa eines französischsprachigen Song zu einem anglo-amerikanischen Volkslied und stellt Mutmaßungen über Umformungen, Tradierungen, Neugestaltungen an. Interessant sind auch seine Anmerkungen über afro-amerikanische Hymnen oder über improvisierte Liedtexte. Zu den Kuriositäten der Sammlung zählt die Beschreibung einer Aufnahme von Alan Lomaxs Schwester Bess und sowie von zwei Aufnahmen, auf denen Alan Lomax selbst zu hören ist.

Ein Quellenverzeichnis der Regierungsunterlagen, die dem Autor bei der Identifizierung der Musikerinnen und Musiker halfen, sowie eine Diskographie, die insbesondere auch die bereits veröffentlichten Lieder identifiziert, runden das Buch ab, das einen faszinierenden Einblick in eine Volksmusiktradition gibt, die so lange noch gar nicht her ist.

Wolfram Knauer (Dezember 2014)


The Creolization of American Culture. William Sidney Mount and the Roots of Blackface Minstrelsy
von Christopher J. Smith
Urbana, Illinois 2013 (University of Illinois Press)
352 Seiten, 45,00 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-03776-4

2013mountDie Geschichte afro-amerikanischer Kultur des 19. Jahrhunderts wird zumeist entlang literarischer Zeugnisse sowie der Nachklänge in der Musik erzählt, wie sie in Berichten und Erzählungen zu finden sind. Christopher J. Smith, seines Zeichens Musikethnologe aus Texas, nimmt ein anderes Oeuvre als Ausgangspunkt seiner Untersuchung über afro-amerikanische Musik des 19. Jahrhunderts: die Gemälde, Zeichnungen, Aufzeichnungen und Briefe des (weißen) Malers William Sidney Mount, der vor allem für seine Genremalerei bekannt wurde. In vielen seiner Bilder spielen musikalische Themen eine Rolle, Musiker, die vor einer Scheune oder im Haus für schwarze oder für weiße Tänzer zum Tanz aufspielen. Mounts Gemälde erinnern ein wenig an Solomon Northups Erinnerungen “Twelve Years a Slave”, die zum gleichnamigen, Oscar-prämierten Film führten und die Geschichte eines New Yorker schwarzen Bürgers erzählen, der in den 1840er Jahren sein Geld vor allem mit dem Aufspielen für Tanzveranstaltungen verdiente, bevor er in die Südstaaten verschleppt und als Sklave verkauft wurde.

Smith interessiert insbesondere jenes Phänomen, das er als “Creolization” bezeichnet, also die gegenseitige Beeinflussung der im Amerika der Sklaverei scheinbar so klar getrennten kulturellen Welten von schwarz und weiß. Seit den 1840er Jahren gab es mit der Minstrelsy ein eigenes Genre, das sich quasi der – wenn auch ironisierten – Vermischung der Kulturen verschrieben hatte und äußerst populär wurde. Die Blackface Minstrelsy, schreibt Smith, sei zumeist anhand literarischer Beschreibungen oder später veröffentlichter Sheet Music untersucht worden; Genremalerei, die auch schwarzes Leben abbildete, dagegen zumeist einzig aus kunsthistorischer Sicht. In seinem Buch wolle er die unterschiedlichen Quellen zum Thema miteinander in Beziehung setzen, Notenveröffentlichungen, Erzählungen, Bildzeugnisse, Kunstgewerbeprodukte sowie demografische Daten und andere Primärquellen.

Im ersten Kapitel stellt Smith die Wurzeln der Blackface Minstrelsy dar, die sowohl in Beziehung zu europäischen wie zu karibischen Karvevalstraditionen stünden. Neben Kostümen und schauspielerischer Aktion habe in diesem Genre vor allem Tanz und Musik eine Rolle gespielt. Smith beschreibt die üblichen Quellen, anhand derer man sich im Nachhinein ein Bild über das Erklingende machen kann, um dann in medias res zu gehen und insbesondere diejenigen Instrumente zu nennen, die im Rahmen von Minstrelshows zu hören waren, also Fiddle, verschiedene Arten von Perkussionsinstrumenten, das Banjo, Flöten und Gesang. Er beschreibt die Orte vor allem im Norden der Vereinigten Staaten, an denen Minstrel-Vorführungen zu erleben waren, und das typische Publikum. Im zweiten Kapitel geht Smith noch näher auf die Einflüsse ein, die zur Blackface Minstrelsy führten, insbesondere auf Vorformen in der Karibik und in New Orleans und betont daneben die Bedeutung von Hafenstädten für die Vermischung von Kulturen. Schließlich benennt er einige der bedeutenden Minstrels jener Zeit, George Washington Dixon, Joel Walker Sweeney, Dan Emmett und Thomas Dartmouth Rice und beschreibt, was ihre jeweiligen Acts ausmachte.

In Kapitel 3 nähert sich Smith seinem eigentlichem Thema, beschreibt das Umfeld des Malers William Sidney Mount, seine Jugendjahre, die “flash press”, eine Art halbseidene journalistische Führer durch die Halbwelt jener Zeit, in denen in Skizzen und Berichten ausgiebig über die unterschiedlichsten Vergnügungsformen berichtet wurde, und das African Grove Theater in New York, in dem seit 1820 schwarze Schauspieler mit einer improvisatorischen Mischung aus Musik, Song, Tanz und ernsten wie komischen Sketchen experimentierten. Schließlich nennt er einige konkrete Beispiele von typischen Szenen aus Minstrelshows.

Im vierten Kapitel konzentriert sich Smith insbesondere die Beschreibung und Kontextualisierung von vier Gemälden Mounts, “Just in tune” von 1849, “Right and Left” von 1850″ sowie “The Banjo Player” und “The Bone Player” von 1856. In Kapitel 5 untersucht er Musikmanuskripte und Sheet Music aus der Sammlung Mounts, beschreibt die melodischen und rhythmischen Aspekte der Musik, die bei solchen Minstrel-Events zu hören war, und diskutiert die Quellenlage, auf die wir im Nachhinein unsere Hörvorstellung bauen können. Minstrelsy bestand aber eben nicht nur aus Musik, sondern war zugleich eine sehr körperbewusste Performance, und so schließt in Kapitel 6 eine Diskussion von Tanz und Körperlichkeit an. Smith verfolgt Traditionslinien der Tänze nach Afrika bzw. in die Karibik, untersucht außerdem die ikonographischen Belege von Tanz etwa in Mounts Bildern.

Christopher J. Smiths Buch erlaubt einen Blick auf Vorformen des Jazz, die selten in den Fokus der Jazzforschung geraten. Ob der bereits im Buchtitel benutzte, im folgenden aber kaum kritisch diskutierte Begriff der “creolization” hier wirklich fasst, wäre (durchaus kontrovers) zu diskutieren. Das Besondere an Smiths Ansatz ist, dass er die Quellenlage um die visuelle Komponente der Gemälde und Skizzen William Sidney Mounts erweitert und es ihm dabei gelingt, die Musik noch stärker in den gesellschaftlichen Kontext der Zeit einzubauen.

Wolfram Knauer (Dezember 2014)


Learning to Listen. The Jazz Journey of Gary Burton. An Autobiography
von Gary Burton
Boston 2013 (Berklee Press)
384 Seiten, 27,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-87639-140-2

2013burton“Lass es gleich hinter uns bringen…”, scheint Gary Burton sein Buch beginnen zu lassen, wenn er beschreibt, wie ihn die NPR-Journalistin Terry Gross ganz direkt fragte, “Ich habe gehört, das Sie erst vor kurzem Ihr Coming Out hatten. Wie hat das Ihr Spiel beeinflusst?” Burton erzählt, dass er damals, als er sich sehr bewusst damit auseinandergesetzt hatte, sein Schwulsein öffentlich zu machen, fest überzeugt war, dass er sich selbst zuallererst als Jazzmusiker sah, der halt zufällig schwul sei, während er es heute andersherum sehe: Er könne schließlich Stunden, sogar schon mal Tage damit zubringen, nicht an Musik zu denken, aber jede Minute eines jeden Tages sei er schwul.

Burtons Autobiographie ist die Lebenserinnerung eines schwulen Jazzmusikers oder eines Jazz spielenden schwulen Mannes – wie auch immer man das sehen möchte, und die Tatsache, dass seine sexuelle Orientierung in ihr eine Rolle spielt, ist einfach der Tatsache zu verdanken, dass man in jeder künstlerischen Äußerung man selbst sein muss, und im Jazz vielleicht noch mehr als anderswo, dass daher die Geschichte Burtons eben genau die ist, die nämlich – wie er sich in der Einleitung selbst beschreibt – eines schwulen weißen Landeis, das seinen Weg in die kosmopolitische Machowelt des Jazz gefunden hatte.

Burtons Lebensgeschichte beginnt in Indiana, wo er im Alter von sechs Jahren die Marimba erlernte und bald zu einer Art Kinderstar auf diesem Instrument wurde, ob solistisch oder mit der Familienband, die der Vater mehr aus Spaß an der Freude als aus künstlerischem Drang zusammenstellte. Irgendwann hörte der Junge eine Platte von Lionel Hampton und wechselte daraufhin zum Vibraphon. Er besuchte einen Workshop, spielte auf der lokalen Szene und nahm 1959 seine erste Platte auf in einer Band, mit der der Countrystar Hank Garland in die Jazzwelt vordringen wollte.

Burton schrieb sich am Berklee College in Boston ein, das 1960 eine eher kleine Schule war und noch lange nicht der weltweit bekannte Ausbildungsbetrieb von heute. Das Plattenlabel RCA hatte ihm einen Vertrag angeboten, der die Kosten für seine Ausbildung garantierte und ihm die Möglichkeit regelmäßiger Alben bot. 1962 zog Burton nach New York und wurde Anfang 1963 für gut ein Jahr Mitglied im George Shearing Quintet. 1964 wechselte er ins Stan Getz Quartet, mit dem er kurz nach Getz’ ersten großen Bossa-Nova-Erfolgen tourte und in dem er fast zwei Jahre lang blieb. Nach seinem Ausscheiden entschied Burton sich dann, ein eigenes Quartett zu gründen, tat sich mit Steve Swallow zusammen, der ebenfalls bei Getz gespielt hatte, mit Larry Coryell und Bob Moses und feierte große Erfolge in den USA genauso wie bei ersten europäischen Tourneen. Mit dieser Band probierte er neue Klangwelten aus, eine Mischung aus Jazz und Rock, und das zwei Jahre, bevor Miles Davis diese Idee mit “Bitches of Brew” ganz groß herausbrachte.

Burton erzählt von Engagements in Clubs wie dem Village Vanguard, von Tourneen, von den Alltagsproblemen eines Musikers, aber auch von seinen zwei Ehen, von denen die zweite zwei Kinder hervorbrachte. Er wechselte erst zu Atlantic Records, dann zu ECM, nahm Platten mit Keith Jarrett und mit Chick Corea auf, entdeckte, dass neben der Quartettbesetzung auch das unbegleitete Vibraphon beim Publikum ankam, beschreibt Höhe- genauso wie Tiefpunkte seiner Karriere, wobei letztere beruflich eher selten waren. Er entdeckte junge Talente, Pat Metheny etwa oder später Julian Lage, die in seiner Band dieselben Erfahrungen durchmachten wie er selbst einst bei Shearing und Getz, die sich anfangs ins Bandkonzept einbrachten, bald aber eigene Wege gehen wollten.

In den 1980er Jahren nahm Burton einen Lehrauftrag am Berklee College an, wurde bald darauf Dekan der Schule und war maßgeblich an ihrer stilistischen Öffnung zur Popularmusik beteiligt. Nach dem Ende seiner zweiten Ehe gelang es ihm mit über 40, sich selbst seine Homosexualität einzugestehen. Er beschreibt die emotionalen Wege dahin und sieht es im Rückblick als Glück an, beide Welten sehr bewusst durchlebt zu haben, die der heterosexuellen genauso wie die der schwulen Beziehung. Er war erleichtert, als er feststellte, dass weder seine Kollegen noch sein Arbeitgeber sich nach seinem Outing von ihm abwandten, dass er im Gegenteil viel Unterstützung erfuhr, so dass er zum Schluss seine Selbstcharakterisierung doch noch ein wenig abändert: Vielleicht sei er tatsächlich einfach nur ein Mann, der zufällig schwul und genauso zufällig ein Jazzmusiker sei.

Gary Burtons Autobiographie ist eine angenehm flüssig zu lesende ehrliche Lebenserzählung, in der der Vibraphonist kein Blatt vor den Mund nimmt und seine persönliche Betroffenheit auch in der Beziehung zu Kollegen offen ausspricht. Neben musikalischen Details erfahren wir so etliches über die Persönlichkeit etwa von George Shearing, Stan Getz, Larry Coryell, Pat Metheny. Auch seine eigenen Stärken und Schwächen aber reflektiert Burton auf eine sympathische, sehr persönliche Art und Weise. Tatsächlich wird selbst der Burton-affine Leser über die lange und sehr abwechslungsreiche Karriere staunen, von der man in der Regel nur Ausschnitte kennt. Am Ende ist man auf jeden Fall klüger – weiß nicht nur mehr über den Vibraphonisten, sondern auch über den Alltag des Jazzmusikers, über das Business, über Kollegen und über stilistische Entscheidungen der 1960er und 1970er Jahre.

Sehr empfehlenswert!

Wolfram Knauer (September 2014)


Die Chronik des Jazz
von Mervyn Cooke
Hamburg 2013 (Edel Books)
272 Seiten, 36 Euro
ISBN: 978-3-8419-0231-3

2013cookeMervyn Cooke ist ein britischer Musikwissenschaftler, der mit seiner “Chronik des Jazz” ein garantiert nicht-musikwissenschaftliches Buch schrieb, eine Art Jahr-zu-Jahr-Berichterstattung über die Entwicklung dieser Musik, ihre wichtigsten Ereignisse und Aufnahmen, unterbrochen von kurzen Streiflichtern auf spezielle Themen, Personen, Stile, Instrumente, und begleitet von einer kontextualisierenden Zeitleiste, die Ereignisse der Weltgeschichte listet. Die Kapitel sind kurz, die Überschriften plakativ, die Auflistung von Ereignissen stichwortartig. Die Weltgeschichte der Kontextleiste findet sich leider nicht in der Darstellung der Musikgeschichte wieder, in der Entwicklungen außerhalb der USA nur am Rande vorkommen und, wenn doch, sich mindestens am amerikanischen Standard messen lassen müssen.

Das aufwändig gestaltete, reich bebilderte und übersichtlich gegliederte Buch lädt zum Blättern ein. Problematisch allerdings wird es, wenn man sich auf die Texte selbst einlässt. Blättern wir mehr zufällig als gezielt eine typische Doppelseite auf. Links oben steht “1920”, darunter eine Überschrift: “Dixie breitet sich aus”, ein Foto von Mamie Smith und ihren Jazz Hounds, sowie verschiedene Daten dessen, was in diesem Jahr in der Jazzgeschichte so geschah (ODJB nimmt in London auf; Strawinskys “Ragtime für elf Instrumente” wird uraufgeführt, James P. Johnson trifft George Gershwin). Auf der gegenüberliegenden Seite findet sich die Zeitleiste “Weltgeschichte” (Prohibition, russischer Bürgerkrieg, Frauenwahlrecht in den USA, Uraufführung “Die Planeten” von Gustav Holst) sowie ein Foto und ein schriftliches Portrait von Jelly Roll Morton unter der Überschrift “Mister Jelly Roll. Dieser, heißt es darin, habe Kompositionen geschrieben, die überwiegend auf der Struktur des Ragtime basierten und ein “angenehmes Gleichgewicht zwischen Passagen” aufwiesen, “in denen die gesamte Band im New-Orleans-typischen Kontrapunkt spielte sowie Solo-Chorussen und Breaks”. Morton, schreibt Cooke weiter, sei “nicht nur ein ausgezeichneter Stride-Pianist” gewesen, “sondern tat sich auch als Sänger hervor”. “Aus heutiger Sicht”, urteilt der Autor schließlich, fehle Morton “die Spontaneität und Improvisation des späteren Jazz”. Tscha… Hier zeigt sich das Problem des Buchs gleich zu Beginn des Textes: Cooke sieht sich zu Vereinfachungen gezwungen, die der Musik nicht gerecht werden, vor allem aber weiß er selbst einen Musiker wie Morton nicht richtig einzuordnen. Mit der Stride-Technik der Ostküstenpianisten jener Jahre hatte Mortons Spiel herzlich wenig zu tun; seine Einflüsse wären eher in verschiedenen in New Orleans gepflegten Musikgattungen zu suchen, nicht zuletzt auch in lateinamerikanischen Traditionen. Ihm dazu noch Spontaneität und Improvisation abzusprechen zeugt entweder von fehlender Hörkenntnis oder mangelndem Einfühlungsvermögen des Autors.

Blättern wir genauso zufällig weiter. Auf Seite 61 behauptet Cooke im Streiflicht auf die Posaune, diese sei in den Bandbesetzungen von “zunächst nur einer in den 1920er-Jahren auf nicht weniger als vier um 1940” angestiegen; selbst der Kenner aber wird einigermaßen suchen müssen, um viele vier- oder gar fünfköpfige Posaunensätze zu finden, wie es Cooke hier impliziert.

Auf Seite 73 befindet Cooke im Kapitelchen “Bix und die Tanzbands” mit eurozentrischer Selbstzufriedenheit, der “zunehmende Rückgriff auf Techniken der klassischen Musik durch Goldkette und Whiteman trug zweifelsohne viel dazu bei, Jazzkompositionen auf ein höheres Niveau zu heben”. Auf Seite 87 lobt er Count Basie, dessen Band zeige, “wie viel jazziger eine gute schwarze Band im Vergleich zu den geschliffenen, aber oft langweiligen Darbietungen von Goodman und anderen klingen konnte”, eine Aussage, deren wertender Unterton ausgerechnet von einem Musikwissenschaftler seltsam anmutet, dessen ureigenes Handwerkszeug es doch eigentlich ist, unterschiedliche Konzepte beschreiben zukönnen und an ihrem jeweiligen ästhetischen Ziel zu messen, nicht also am jeweils anderen. Ähnliches misslingt Cooke auch im Kurztext zum “Cool Jazz” (S. 121), in dem er zwar auf unterschiedliche Konzepte hinweist, die unter diesem Stilbegriff subsumiert werden (Miles Davis, Gerry Mulligan, Lee Konitz, Modern Jazz Quartet, Dave Brubeck und George Sharing [sic!]), den Unterschied dieser verschiedenen Ausprägungen (Sound- und Instrumentationsbetontheit, die Improvisation in melodischen Linien, kontrapunktisches Spiel, Third Stream-Orientierung) aber nicht einmal stichwortartig andeutet. In einem eigenen Kapitelchen zum “Third Stream” dann weist Cooke zwar korrekterweise auf die breitere Begriffsausdeutung durch Musiker wie Ran Blake hin, vereinnahmt daneben aber auch gleich Anthony Braxton in den Stil.

Cookes wichtigste Erkenntnis zum Thema “Der elektrische Bass” ist, dass “viele herausragende Meister des E-Basses 1951 geboren wurden” (S. 126). Albert Ayler, lernen wir andernorts, schien “manchmal nicht zu wissen, wann er zu spielen aufhören sollte”, daher strapazierten viele seiner Improvisationen “die Geduld des Publikums über Gebühr”. Zur Kultfigur wurde er daher wohl nur, mutmaßt Cooke, wegen der unklaren Umstände seines Todes. Die Stadt New York, erfahren wir (S. 243, Kapitel “Moderne Big Bands”), sei auch berühmt “für ihr breites Spektrum an avantgardistischen Bands, Latin- und Frauengruppen”.

Weather Reports “Black Market” erhält eine eingehendere “Analyse”, die zeigen soll, warum das Stück “ein perfektes Beispiel für die Mischung aus Kommerzialität und Kunstfertigkeit” sei. Die folgende Beschreibung des musikalischen Verlaufs bleibt dann an der Oberfläche, hantiert mit klugen Vokabeln, die tatsächlich das, was passiert, kaum zu fassen vermögen. Das Wort, das für diese Musik beispielsweise unbedingt fallen müsste, wird nicht einmal erwähnt: Groove. Rhythmische Verschiebungen dagegen einfach als “die genretypischen unberechenbaren, mitreißenden Synkopen” zu beschreiben, schmerzt einfach nur.

Das großformatige, reich bebilderte Buch kommt gewinnend daher und scheint auf den ersten Blick eine Vielzahl wichtiger Informationen über die Entwicklung des Jazz zu enthalten. Beim genaueren Nachlesen wird man dann leider von vielen Klischees, schlimmer noch, von Halbwissen und oberflächlichen Urteilen enttäuscht, die dem selbstgesteckten Ziel, “eine umfassende Darstellung aller Strömungen, Entwicklungen und Höhepunkte des Genres” nicht gerecht werden.

Wolfram Knauer (Mai 2014)


Jazz, Frauen und wieder Jazz
von Hans Salomon & Horst Hausleitner
Wien 2013 (Seifert Verlag)
198 Seiten, 23,60 Euro
ISBN: 978-3-902924-04-9

2013salomonTeddy Stauffer widmete seine 1968 erschienene Autobiographie “Es war und ist ein herrliches Leben” 103 Frauen, deren Vornamen er in der Widmung alphabetisch auflistet. Der österreichische Saxophonist Hans Salomon bringt es auf fünf Ehen und widmet seine Lebensgeschichte ihnen, also den Frauen – und dem Jazz.

Er beginnt seine Lebensgeschichte, die er zusammen mit dem, Musikern und Autoren Horst Hausleitner verfasste, 1933 in Wien, mit seiner Geburt. Die ersten 35 Seiten widmet er seinen Jugenderlebnissen und der Familie, dann erzählt er, wie er sich noch während des Kriegs für den Jazz begeisterte und wie sein Berufswunsch, Jazzmusiker zu werden, nach Ende des Kriegs noch bestärkt wurde. Noch in der Schule lernte er Klarinette und mischte bald im amerikanischen Club bei Jam Sessions mit, auch wenn er mit den dort ebenfalls auftretenden Profis, Fatty George etwa oder Willi Meerwald, noch lange nicht mithalten konnte. Fatty George gab ihm Unterricht, vermittelte ihn aber bald weiter an Hans Koller, der ihn Paganini-Geigenetüden blasen ließ. Schließlich wechselte er zum Saxophon und spielte mit anderen jungen Österreichern, Carl Drewo etwa und Joe Zawinul in den Austrian All Stars.

1958 kam George Wein nach Wien, um Musiker für die International Youth Band zu suchen, die beim Newport Jazz Festival auftreten sollte. Aus Österreich wählten er und Bandleader Marshall Brown den Posaunisten Erich Kleinschuster sowie Salomon aus. Dessen erster New-York-Besuch mit diesem Orchester führte ihn sofort ins Birdland, wo er von Johnny Griffin begeistert war und für sich erkannte, dass er selbst und seine Mitstreiter dagegen nur blutige Amateure waren. Salomon erzählt anschaulich von den Proben, der Band, vom immer gereizten Bandleader Marshall Brown und dem begeisterungsfähigen Gerry Mulligan, der einige Stücke beigetragen hatte und diese selbst dirigierte, und er ist sichtlich bis heute stolz darauf, dass Miles Davis nach dem Newport-Konzert der Band Dusko Goykovic und ihn als deren herausragenden Solisten bezeichnet hatte.

Zurück in Europa trat die International Youth Band bei der Weltausstellung in Brüssel auf und Salomon verliebte sich in keine Geringere als Sarah Vaughan. Er wurde Mitglied der Johannes Fehring Band, die bald einen aufstrebenden jungen Sänger begleitete, Udo Jürgen Bockelmann alias Udo Jürgens. Mit Fehring spielte er Tanzmusik, begleitete Schlagersänger wie Rex Gildo oder Freddy Quinn, aber auch Shirley Bassey, Ray Charles oder Lionel Hampton. Salomon berichtet von der Jazzbegeisterung Peter Alexanders und Friedrich Guldas, und davon, wie es dazu kam, dass er für Marianne Mendt das Lied “Wia a Glock’n” komponierte, das sie 1971 beim Song Contest in Dublin sang und das ein großer Hit wurde. Er gehörte zur Stammbesetzung des Theaters an der Wien, in dem internationale Musicals gegeben wurden. In den 1970er Jahren gehörte er außerdem der ORF Big Band an, die damals Erich Kleinschuster leitete. Als er in Wien zusammen mit der Sängerin Marlena Shaw auftrat, nahm er deren Einladung an, sie in Las Vegas zu besuchen, konnte es sich aber letzten Endes nicht vorstellen, dort auch zu leben.

Salomons Buch erzählt gleichermaßen von seiner Liebe zur Musik und seiner Liebe zu den Frauen. Seine Autobiographie ist eine unterhaltsame Lebensgeschichte, in der die Leidenschaft (jeglicher Art) immer wieder im Vordergrund steht. Vielleicht will man gar nicht so viel über seine Affären mit zwei Größen des amerikanischen Jazz wissen, die in dieser Rezension nur angedeutet sind, aber vielleicht ist diese etwas naive Faszination, die aus seinen Erinnerungen spricht, ganz vielsagend über die Begeisterung seiner Generation für die afro-amerikanische Musik.

Eine Übersicht über seine Plattenaufnahmen sowie ein Fototeil beschließen das Buch, das kein Register enthält.

Wolfram Knauer (April 2014)


Jazz Instruments
von Peter Bölke
Hamburg 2013 (Edel ear Books)
228 Seiten, 8 CDs, 49,95 Euro
ISBN: 978-3-943573-06-0

2013boelkeDie ear Books-Reihe des Hamburger Verlags / Labels Edel garantiert hochwertige Publikationen in ansprechender Aufmachung. Die neueste Veröffentlichung widmet sich in acht Kapiteln und begleitenden, in die dicken Buchdeckel eingelassenen CDs den Instrumenten des Jazz. Trompete, Tenor- und Altsaxophon, Bariton- und Sopransaxophon, Klarinette und Flöte, Posaune, Piano, Bass und Gitarre sowie Schlagzeug sind die Kapitelüberschriften. Bölke beschreibt die Entwicklung der Instrumente und erwähnt die wichtigsten Namen, sucht vor allem aber aussagekräftige Fotos aus, die den Band bebildern. Die Geschichte allerdings hört den CDs zufolge scheinbar im Jahr 1960 auf, geschuldet wohl der urheberrechtlichen Situation, die diese Aufnahmen 50 Jahre nach ihrer Entstehung frei zugänglich macht. Bölkes Jazzgeschichte umfasst Stilrichtungen von New Orleans und Stride bis Cool Jazz und Hardbop, wobei John Coltranes “My Favorite Things” von 1960 und Ornette Colemans “Invisible” von 1958 wenigstens noch einen Ausblick “things to come” wagen. Die einzigen Europäer in diesem Zusammenhang sind – erwartungsgemäß – Django Reinhardt (“You’re Driving Me Crazy” von 1937) und Martial Solal (mit Kenny Clarke, “Cinerama” von 1956).

Neues erfährt man dabei kaum; das aber ist auch nicht Sinn der ear Books, bei denen man nie genau weiß, ob es sich um eine durch CDs veredelte Coffeetable-Buchreihe oder um eine CD-Box mit besonders aufwändig gestalteten Albumtexten handelt. Die Protagonisten des Jazz sehen sich in den kleinen Portraits, die Bölke ihnen textlich widmet, schon mal auf immer wiedergekaute Klischees reduziert, Chet Baker als Drogenabhängiger, Miles Davis als Kämpfer gegen den Jazz als reines Entertainment, Ben Webster als Säufer, Sidney Bechet als leidenschaftlicher Musiker und Raufbold. Auch hier aber will das Buch nicht weiter in die Tiefe gehen und vielleicht sollte man über solche Oberflächlichkeiten hinwegsehen; die Bildauswahl schließlich ist auf jeden Fall sehenswert. Eine Trackliste der nach Instrumenten sortierten CDs findet sich am Ende des Buchs, die Bilder im Buch stammen laut kumulativem Fotonachweis alle von Getty Images. o:p>

“Jazz Instruments” ist sicher ein schönes Geschenk für Jazzliebhaber; für den Sammler wird sich hier kaum etwas finden, was er nicht eh kennt. Die Kombination aus Bildband und CD-Edition aber macht das alles zu einem runden Produkt. Die Texte sind auf Englisch und deutsch enthalten.

Wolfram Knauer (April 2014)


Inside the Music. The Life of Idris Muhammad
von Idris Muhammad & Britt Alexander
Thorofare/NJ 2013 (Xlibris)
235 Seiten, 27,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-4691-9216-1

2013muhammad“Ich bin ein Funk-Spieler. Ich bin kein Jazzmusiker. Ich kann mit diesen Jazztypen nicht viel anfangen, weil ich in einer anderen Welt lebe. Ich lebe in der Funk-Drumming-Welt. Ich bin in der Welt, in der man Geld macht. Ich mache Geld. Ich mache Geld. Ich mache Geld.” Tatsächlich spielte Idris Muhammad auch den Jazz, den er in seiner Karriere machte, immer aus der Sicht eines Funk-Drummers. Ob man das mit dem Geld-Machen als oberstes Gebot so ernst nehmen muss, ist eine andere Frage.

In diesem Buch, das aus einem Interview mit dem Journalisten Britt Alexander entstand, erzählt Muhammad seine Geschichte, von der Jugend in New Orleans bis in die Gegenwart, schildert Gigs mit Sam Cooke, Curtis Mayfield oder Roberta Flack, mit Lou Donaldson, Bob James oder Pharoah Sanders. Seine musikalische Laufbahn, erst als Leo Morris, dann unter seinem islamischen Namen Idris Muhammad, umfasste Rock ‘n’ Roll, Rhythm ‘n’ Blues sowie blues- und groove-orientierten Jazz, aber auch das Musical “Hair”. o:p>

Kinderstreiche in New Orleans, Mardi-Gras-Paraden, ein Einbruch, bei dem er zusammen mit Freunden einige Waffen erbeutete, dann die Musik. Eine Basstrommel für die Marschkapelle, ein erstes Schlagzeugset, Gigs mit Arthur Neville und Larry Williams. Der junge Schlagzeuger nahm eine einzige formale Unterrichtsstunde bei Paul Barbarin, trat mit Sam Cooke auf, mit Maxine Brown und Curtis Mayfield, hörte Elvin Jones im John Coltrane Quartet und ahnte, dass er von diesen Jazzkollegen einiges lernen könne.

Er heiratete die Sängerin LaLa Brooks, ging mit Lou Donaldson für Blue Note ins Studio Rudy Van Gelders. Mit Donaldson habe er danach einige Konzerte gespielt, aber die Gagen im Jazz seien ihm einfach zu niedrig gewesen. Er habe gelernt, dass es finanziell keinen Sinn mache, mit den Kollegen, mit denen er eine Platte einspielte, auch noch auf Tour zu gehen…

An anderer Stelle erzählt er über seine Konversion zum Islam, die ihm half von den Drogen loszukommen, über Reisen nach Mekka und Nordafrika, über Geschäftsverhandlungen mit Creed Taylor, über seine Instrumente und über jüngste Zusammenarbeiten etwa mit Joe Lovano.

Britt Alexander hat die auf Tonband aufgezeichneten Erinnerungen Muhammads in kurze Kapitelchen gefasst, die oft anekdotischen Charakter besitzen. Stellenweise wünschte man sich ein paar klare zeitliche Handreichungen, um die Erlebnisse einordnen zu können. Ein Personenindex würde ein Übriges tun, sich im Buch zurechtzufinden. Davon abgesehen aber bietet “Inside the Music” sehr persönliche Einsichten in ein langes musikalisches Leben und ein bisschen auch in die Industrie, die hinter einer solchen Karriere steckt.

Wolfram Knauer (April 2014)


Artist Transcriptions. Sonny Rollins, Art Blakey, Kenny Drew / With the Modern Jazz Quartet
herausgegeben / transkribiert von Masaya Yamaguchi
Milwaukee/WI 2013 (Hal Leonard)
45 Seiten, 17,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-4768-1456-8

Masaya Yamaguchi hat sich das Album “Sonny Rollijns with the Modern Jazz Quartet” vorgenommen, auf dem tatsächlich nur vier Titel wirklich mit dem MJQ enthalten sind, “In a Sentimental Mood”, “The Stopper”, “Almost Like Being in love” und “No Moe”. Die restlichen Titel (“Scoops”; “With a Song In My Heart”; “Newk’s Fadeaway”; “Time On My Hands (You In My Arms)”; “This Love of Mine”; “Shadrach”; “On a Slow Boat to China”; “Mambo Bounce”) spielte Rollins in Quartettbesetzung ein (immerhin mit Percy Heath am Bass) sowie einen Titel erweitert durch Miles Davis zum Quintett, “You Know”, ein Kontrafakt über “Confirmation”. Yamaguchi hat einzig Rollins’ Stimme transkribiert in einem Beispiel aus seiner frühen Phase, in der er noch deutlicher auf den Einfluss durch Charlie Parker Bezug nimmt als später, daneben aber auch bereits sein ausgeprägtes motivisches Bewusstsein zur Schau stellt. Das Heft ist vor allem für Saxophonisten gedacht, die sich in die Personalstilistik Newks einfühlen wollen.

Wolfram Knauer (April 2014)


Miles Davis. Tutu
von Vincent Cotro
Paris 2013 (Centre national de documentation pédagogique)
62 Seiten, 12,90 Euro
ISBN: 978-2-240-03426-7

2014cotroSeit den 1950er Jahren hat der Jazz es auch in die Lehrpläne der Allgemeinbildenden Schulen geschafft. Mit seiner Publikation über Miles Davis’ “Tutu” von 1986 legt der französische Musikwissenschaftler Vincent Cotro zum ersten Mal eine musikpädagogische Monographie über einen einzelnen Jazzkünstler vor.

Cotro beginnt in seiner Einleitung mit einer Positionsbestimmung Miles Davis’ innerhalb der Jazzgeschichte. Es folgt ein Kapitel, das seinen musikalischen Werdegang beschreibt, von Bebop über Cool Jazz, Hard Bop, modalen Jazz bis hin zu seinen elektrischen Experimenten der späten 1960er, frühen 1970er Jahre. Den modalen Ansatz erklärt er anhand von “Milestones”, “So What” und “Flamenco Sketches”; Laurent Cugny gibt eine Übersicht über die “elektrische Periode” des Trompeters. Franck Bergerot betrachtet Miles Davis’ Stellung in der Musik der 1970er und 1980er Jahre und konstatiert dessen Interesse an stil-übergreifenden Experimenten. Schließlich mündet das Buch in eine ausführliche Analyse des Albums, bei der jeder der darauf enthaltenen Titel nach Kontext, Sound, Form, Rhythmik, Melodik und Harmonik abgeklopft wird. Einschübe befassen sich etwa mit der Dämpfertechnik des Trompeters sowie mit der Rezeption des Albums. Ein Platten- und Literaturverzeichnis sowie ein Glossar schließen das Buch ab, das letzten Endes nicht nur Oberstufenschülern die Kunst Miles Davis näherbringen kann, sondern genauso des Französischen mächtigen Miles-Fans.

Wolfram Knauer (April 2014)


Jazz Keller Bamberg
von Oliver van Essenberg
Bamberg 2013 (Select Verlag)
128 Seiten, 1 Audio-CD, 19,95 Euro
ISBN: 978-3981379945

2013essenbergWährend im Rest Westdeutschlands der Jazz Einzug in die Clubs und Spielorte hielt, war in der fränkischen Domstadt Bamberg von swingender Musik nicht viel zu hören, konstatiert Oliver van Essenburg in seinem Buch, das das 40-jährige Jubiläum des über die Stadt hinaus bekannten Jazz Kellers Bamberg feiert. Es habe da ein paar Örtlichkeiten gegeben, in denen ab und an Livemusik zu hören gewesen sei, das Café Stadelmann etwa, das Café Jäger, das Elefantenhaus. Die wenigen Jazzer der Stadt aber hätten immerhin die Möglichkeit gehabt, in den Clubs der Bamberger US-Kaserne das Improvisieren zu lernen. Im Frühjahr 1960 gründete sich schließlich der erste Bamberger Jazzclub, der seine Konzerte im La Paloma-Keller in der Oberen Königstraße. 1961 kam mit Albert Mangelsdorff einerseits einer der wichtigsten Vertreter des aktuellen deutschen Jazz nach Bamberg, andererseits richtete der Jazzclub das 7. Deutsche Amateur-Jazz-Festival aus. Nur ein Jahr darauf, allerdings löste sich der Club schon wieder auf, nachdem er seines Spielorts verlustig gegangen war.

Es sollte weit über ein Jahrzehnt dauern, bis sich 1974 ein neuer Bamberger Jazzclub gründete. Der hielt seine ersten Konzerte an verschiedenen Spielorten ab, bis er 1977 sein eigenes Kellerlokal in der Oberen Sandstraße eröffnen konnte, in dem noch heute ein- bis zweimal pro Woche Livemusik zu hören ist. Van Essenberg erzählt die Geschichte der Club-Neugründung und betont, dass es im Programm des Kellers von Anfang an keine Schubladen wie “progressiv” oder “konservativ” gegeben habe: “Das Geld, das der Club mit Dixie und Blues eingespielt habe, konnte er demnach für Free Jazz wieder ausgeben.” Er erzählt vom vielfältigen Programm der 1980er Jahre und vom “Dauerbrenner”-Thema des Rauchens, das erst 2008 aus dem Kellergewölbe verbannt wurde.

In den 1990er Jahren gab es Schwierigkeiten: einmal machte sich der Schatzmeister mit 22.000 Mark aus dem Staub; dann wollte ein neuer Vorstand eine Kleiderordnung für den Club einführen; schließlich gab es Streit um Jubiläumsreden, Clubverweise, die in einer Anzeige bei der Finanzverwaltung mündeten, die den Club wiederum 20.000 Euro an Nachzahlung kosteten.

Im letzten Teil seines Buchs lässt van Essenberg dann Musiker zu Worte kommen, die über die Jahre immer wieder im Club spielten: den Bamberger Pianisten Tex Döring, den Geiger Max Kienastl, den Prager Trompeter Laco Deczi, der beim ersten Konzert des Clubs 1974 mit von der Partie war, den Pianisten Alexander von Schlippenbach, der wenig zu Bamberg, dafür viel über sein musikalisches Selbstverständnis zu sagen hat, den Schlagzeuger Jose J. Cortijo, der über Latin Jazz und die World Percussion Academy erzählt, sowie die Sängerin Cécile Verny, die sich wünscht, dass die Menschen Musik mitsingen könnten. Wenn die letzten drei Interviews nicht wirklich mit Bamberg zu tun haben und die ausführliche Darstellung der Streitereien im Club sich sehr wie Provinzzank liest, so gehört aber all das wahrscheinlich mit zur Darstellung der Jazzarbeit einer Mittelstadt wie Bamberg: Man ist unter sich, muss gerade im ehrenamtlichen Engagement Kompromisse finden, die von allen, die sich einbringen, mitgetragen werden, und weiß doch darum, dass man eigentlich die große Welt des Jazz in all seinen Facetten präsentieren möchte, einer Musik, die globale Bedeutung hat und doch überall auf Spielstätten wie den Jazz Keller Bamberg angewiesen ist, den van Essenbergs Buch würdig feiert.

“Jazz Keller Bamberg” ist reich bebildert, grafisch ansprechend gestaltet und enthält zudem eine CD, auf der 17 Tracks von Künstlern zu hören sind, die immer mal wieder in Bamberg auftraten, bis auf einen Titel sämtlich von bereits veröffentlichten CDs der Künstler.

Wolfram Knauer (März 2014)


50 Jahre Jazzkeller Sauschdall in Ulm
herausgegeben von Eberhard Lorenz und anderen
Ulm 2013 (Sauschdall Ulm)
144 Seiten
Erhältlich beim UstA e.V., Postfach 1149, 89001 Ulm

2013lorenzZum 50-jährigen Jubiläum des Jazzkellers Sauschdall hat sich der Verein eine Rückschau in Buchform geleistet, von der Gründung des Vereins im Jahr 1963 bis in die Gegenwart. Erinnerungen der über die Jahre Aktiven finden sich genauso wie Interviews mit einzelnen Musikern, Portraits verschiedener Bands, Fotos, Zeitungsausschnitte und Dokumente im Faksimile.

Es ist die Geschichte eines bürgerschaftlich organisierten Clubs wie anderswo auch, im Ulm unter dem Dach erst des AstA, dann der UstA, der Unabhängigen Studentischen Alternative, eine Organisation, die dem Club immerhin das Glück beschert hat, regelmäßig jungen Nachwuchs zu haben.

Das Buch erzählt von der Gründung, von behördlichen Problemen und ihren Lösungen, von der Einbindung der Clubaktivitäten ins Ulmer Kulturleben, vor allem aber von den sehr persönlichen Beweggründen der Macher über die Jahre, sich im Sauschdall und damit für das Jazzleben ihrer Stadt zu engagieren.

Das hat viel Lokalkolorit und mag damit vor allem für diejenigen interessant sein, die es selbst miterlebt haben, als Macher, Musiker oder Publikum. Darüber hinaus aber dokumentiert das Büchlein ein weiteres Kapitel des deutschen Jazzlebens.

Wolfram Knauer (März 2014)


Red Groove. Jazz Writing from the Morning Star
von Chris Searle
Nottingham 2013 (Five Leaves Publications)
284 Seiten, 12,99 Britische Pfund
ISBN 978-1-90789-49-5

2013searleChris Searle machte vor Jahren Schlagzeilen, als er von seiner Position als Lehrer gefeuert wurde, weil er Gedichte seiner Schüler veröffentlicht hatte, später dann von Margaret Thatcher, die damals als Bildungsministerin fungierte, wieder eingestellt wurde. Searle schreibt eine regelmäßige Jazzkolumne für die linke britische Tageszeitung The Morning Star, die zumeist in kurzen Plattenrezensionen und Konzertbesprechungen besteht.

130 dieser Kolumnen hat er jetzt in einem Buch zusammengefasst, kurze Vignetten seiner aktuellen Hörerlebnisse zwischen Mainstream und Avantgarde, Humphrey Lyttelton und Joe McPhee, Teddy Wilson und Alexander von Schlippenbach. Es ist ein gegenwärtiger Blick auf die aktuellen Entwicklungen des Jazz und einige Dokumente aus der Vergangenheit dieser Musik — alle Kolumnen stammen aus den Jahren zwischen 2000 und 2012.

Das Buch besitzt keine verbindenden Kapitel; die Geschichte, die es erzählt, muss man sich aus der Gruppierung der kurzen Kapitel selbst zusammenreimen. So mag das Buch vor allem für Searles regelmäßige Lesergemeinde interessant sein oder für zukünftige Forscher, die den journalistischen Blick zu Beginn des 20sten Jahrhunderts behandeln. Die kurzen Piècen jedenfalls sind informativ, geben ein wenig Background, vergleichen oft mehrere Aufnahmen derselben Künstler, bleiben aber durchwegs journalistisch-deskriptiv und dringen damit kaum in die Musik selbst ein.

Alle Artikel sind datiert, ein alphabetischer Namensindex allerdings fehlt.

Wolfram Knauer (Dezember 2013)


Beyond A Love Supreme. John Coltrane and the Legacy of an Album
von Tony Whyton
New York 2013 (Oxford University Press)
160 Seiten, 11,99 Britische Pfund
ISBN: 978-0-19-973324-8

Acknowledgement. A John Coltrane Legacy
von De Sayles Grey
West Conshohocken/PA 2013 (Infinity Publishing)
165 Seiten, 19,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-7414-8201-3

2013whytonDer britische Musik- und Kulturwissenschaftler Tony Whyton und der US-amerikanische Musikethnologe nähern sich in ihren jüngst erschienen Büchern der Musik John Coltranes. Whytons Thema ist das 1964 erschienene Album “A Love Supreme”; sein Ansatz der, das Album sowohl auf seinen musikalischen Gehalt wie auch auf seine jazzhistorischen Auswirkungen bis in die jüngste Vergangenheit hin zu untersuchen. Grey analysiert Coltranes Musik mit dem Ziel, wie ihm scheint ideologisch motivierte frühere Einordnungen zu entlarven und zu korrigieren.

Whyton beginnt mit einer Analyse der formalen Anlage von “A Love Supreme”, betrachtet das Verhältnis von Komposition und Improvisation und weist auf Coltranes LSD-Erfahrungen hin, die eine Suche nach außerphysikalischen, “disembodied” Erfahrungen und Klängen unterstützt haben mögen. Er vergleicht die Studioaufnahme des Werks mit einem Videomitschnitt vom Antibes-Festival 1965 und schlussfolgert, dass die üblichen Gegensatzpaare, aus denen heraus sich “Jazzmeinung” bilde, bei einer genaueren Betrachtung der Objekte (in diesem Fall von “A Love Supreme”) in Frage gestellt werden müssten, weil sie sich nicht in herkömmliche Vorurteile und Stereotypen einpassen ließen.

Sein zweites Kapitel liest “A Love Supreme” als Teil des Jazzkanons und fragt, wie das Album diesen Status erlangt habe. Ja, das Werk besitze eine inhaltliche Geschlossenheit, die sich auch in der Musik selbst wahrnehmen lasse, darüber hinaus aber erfülle es auch das romantische Ideal eines magnus opus. Das Album sei zwar nicht das letzte in Coltranes Diskographie gewesen, und doch wirke es wie ein Endpunkt im Schaffen des Saxophonisten, was sicher auch seinem spirituellen Programms zuzuschreiben sei. Mehr als alles andere in Coltranes Repertoire sei “A Love Supreme” quasi als Einzelwerk wahrgenommen worden, als nicht wiederholbares Ereignis. Dieser künstlerischen Idee stellt Whyton den Musikvermarkter Coltrane gegenüber, der selbst Liner Notes und Plattentext ausgesucht habe, und dabei – ob gewollt oder nicht – durchaus auch Marktstrategien gehorchte.

Nach seinem Tod sei Coltrane geradezu vergöttert worden, schreibt Whyton und führt Beispiele aus Büchern, Aufsätzen und Interviews mit seinen ehemaligen Bandkollegen an. Vor allem sei dabei Coltranes Suche nach Erleuchtung in den Vordergrund gestellt worden bis zu einem Grad, dass seine Musik selbst quasi als der Weg dahin beschrieben worden sei.

Ein eigenes Kapitel widmet Whyton den Coltrane-Platten, die nach “A Love Supreme” erschienen und die er als eine Art Fortführung eines transzendentalen Weges beschreibt. Von der Kritik und der späteren Jazzgeschichtsschreibung, die Whyton ausführlich zitiert, seien sie zwar gewürdigt, ihnen dabei aber nicht der Einfluss und die Bedeutung seiner früheren Werke zugestanden worden. Konkret untersucht Whyton “Ascension” unter dem Blickwinkel der Infragestellung musikalischer Konventionen und etablierter Hierarchien, stellt das Album in Beziehung zum spirituellen, gesellschaftlichen und politischen Kontext seiner Zeit. Er schaut auf “Interstellar Space” und fragt nach dem Vorrang des künstlerischen Prozesses vor dem Produkt, aber auch nach der Bedeutung von Kosmologie und Transzendenz in Coltranes Musik. Er hört “The Olatunji Concert” mit dem Bewusstsein, dass es sich um die letzte Aufnahme Coltranes handelte, und fragt, inwieweit Afrozentrismus und populäre politische Ideen der Zeit sich in der Musik wiederfinden lassen. Whyton argumentiert, man müsse Coltranes späte Musik aus dem Bewusstsein um die komplexen Brüche heraus hören, die in Gesellschaft und Politik in jenen Jahren stattfanden. Das Wissen um Kollektivität, die ideologische Funktion von Musik, Mythologisierung und Entmythologisierung gäben der Musik zusätzliche Facetten. Musikhören sei immer ein diskursiver Akt, der auf verschiedenen Ebenen stattfinde und bei dem sich Standpunkte daher unweigerlich änderten.

Whytons letztes Kapitel befasst sich mit der Rezeption Coltranes und seines magnus opus nach seinem Tod sowie mit den Diskussionen, die sich aus dieser Rezeption heraus ergaben, jenen etwa über Authentizität oder über Universalität. Er betrachtet die sich durch Coltranes Musik veränderte Wahrnehmung auch älterer Musikgeschichte, hört sich kritisch die 2002 erschienenen alternativen Takes von “A Love Supreme” an und nimmt abschließend Stellung zu Bezugnahmen auf das Werk in Beispielen von Musikerkollegen einerseits, Schriftstellern andererseits.

Tony Whytons Buch ist dabei kein “Making Of”, wie Ashley Kahn es ja bereits geschrieben hat. Whyton nimmt das Album “A Love Supreme” zum Anlass, sich über die Musik, die Zeit, in der sie entstand, vor allem aber über die Position all jener, die durch die Musik in ihrem ästhetischen und gesellschaftlichen Denken beeinflusst wurden, Gedanken zu machen. Solche Selbstreflexion, wie sie in seinem Buch im Mittelpunkt steht, ist eine Facette jener “new jazz studies”, aus deren Geiste heraus Whyton schreibt: Position kann man nur dann beziehen, wenn man weiß, wo man (zur Zeit) steht. “Beyond A Love Supreme” ist keine leichte Kost, eine intellektuelle Annäherung sowohl an die Musik als auch an die komplexe Rezeption, die unser Bild des Albums unweigerlich mit prägt.

2013greyDe Sayles Greys Ansatz ist in vielerlei Hinsicht ein ganz anderer. Grey stellt fest, dass Coltranes Arbeit in Büchern, die seit seinem Tod geschrieben wurden, hoch gelobt worden sei, dass die meisten seiner Biographen aber wenig von seiner Musik verstanden hätten. Es seien zudem meist weiße Autoren gewesen, deren europäisch geprägte Normen ihr Urteil stark beeinflusst hätten. Seine Arbeit wolle Mängel insbesondere in den drei Büchern von J.C. Thomas C.O. Simpkins und Bill Cole aufzeigen, um anhand konkreter Analysen einen angemesseneren Umgang mit Coltranes Musik zu propagieren.

Weiße Kritiker wie Thomas, Simkins oder Cole hätten oft aus ideologischen Gründen entweder nicht das Interesse oder aber nicht die Fähigkeit besessen, schwarze amerikanische Musik angemessen zu beurteilen. Ihre Veröffentlichungen zeigten, dass sich der Alltagsrassismus in den USA letztlich auch im Musikgeschäft wiedergefunden habe. Die Kritiker hätten afro-amerikanische Musik darüber hinaus oft nach Standards beurteilt, die aus der europäischen Tradition abgeleitet gewesen seien, hätten außerdem häufig nicht einmal die grundlegenden Techniken des Jazz verstanden oder aber sie bewusst ignoriert. Zeitgenössische Journalisten hätten Coltrane und seine Weg abgelehnt und in ihren Veröffentlichungen versucht, ihre Meinung auch einem breiteren Publikum vermitteln. Sie hätten damit zu verschleiern versucht, dass, wie Grey anhand diverser konkreter Beispiele analytisch argumentiert, Coltranes Arbeit weder ohne Disziplin noch ohne Richtung oder gar disharmonisch gewesen sei, sondern tatsächlich von all dem genau das Gegenteil.

Die Einordnung seiner Musik unter das Label “Avantgarde” habe die Rezeption Coltranes nur noch weiter verwirrt. Sie habe den Blick auf sein spirituelles Konzepts verstellt, auf die Bedeutung des “Quarten-Umkehrungs-Prinzips” (“inverted fourth principle”), aus dem heraus Coltrane seine modale Spielweise entwickelt habe, oder auf sein starkes Verlangen nach gesellschaftsbewusstem Handeln durch Musik, das also, was Grey als “ethical imperative” bezeichnet.

Neben den zeitgenössischen Kritikern, die Coltranes Weg zum Teil einfach nicht verstanden hätten oder aber nicht verstehen wollten, habe es zu jeder Zeit die Aussagen von Musikerkollegen gegeben, die seine Kunst als wichtig und einflussreich erachteten. Diese aber sei im Vergleich zur veröffentlichten Meinung viel zu leise gewesen, um ein starkes Gegengewicht zu den falschen Interpretationen zu bilden. Grey zitiert einzelne der von ihm geführten Interviews, etwa mit Odean Pope, Roy Haynes, Howard McGhee, Curtis Fuller, Reggie Workman, Slide Hampton und anderen. In einem Anhang listet er einige der Fragen auf, die er seinen Interviewpartnern gestellt hatte, verzichtet aber leider auf den Abdruck der gesamten Gespräche.

Greys Buch ist in seiner Argumentation für europäische Leser teilweise immens schwer verständlich. Die strikte Unterscheidung in schwarz und weiß, die im Afro-Amerika der 1960er und 1970er Jahren noch ein wichtiger Schritt zur Selbstbewusstwerdung gewesen sein mag, hat in den letzten Jahrzehnten einem entspannteren Blick auf die Spannungen Platz gemacht, die nach wie vor den Alltag und das politische Leben in den USA bestimmen und am gesellschaftlichen Wandel mitwirken, der vielleicht viel zu langsam geschieht dafür aber unumkehrbar ist. Es gibt Exkurse in seinem Buch, die europäische (und insbesondere deutsche) Leser eher irritieren mögen, etwa, wenn Grey mit Vehemenz den afrikanischen Ursprung der christlichen und der islamischen Religionen betont (“Jesus Christus war ein schwarzer Mann”) oder darauf besteht, der “moderne Jude” habe mit jenem im “alten Ägypten” nichts, aber auch gar nichts zu tun.

Wenn man sich dann noch in Argumentationsketten gefangen sieht, die man vor mindestens einer, wenn nicht gar zwei Generationen erwartet hätte, erklärt sich das alles weder im Vorwort oder im Backcover des frisch erschienenen Buchs, sondern höchstens in Deduktion aus dem Studium der Quellen, die Grey im Anhang auflistet und die größtenteils vor 1980 aufhören und insbesondere die jüngeren (jüngeren???) wissenschaftlichen Diskurse zu Coltrane oder anderen von ihm angeschnittenen Themen einfach ignoriert. Am ehesten sollte man das Buch damit als eine Art historischen Text verstehen, der selbst Teil eines Diskurses ist, welcher sich seither … nun, wenn nicht überlebt, so doch erheblich verändert hat (siehe Tony Whyton).

Wolfram Knauer (November 2013)


Blues Guitar Legends. Calendar 2014
Rare vintage photographs by Martin Feldmann
Attendorn 2013 (pixelbolide)
15,90 Euro plus Versand
Zu beziehen über www.blueskalender.de

2013feldmannMan meint im heruntergekommenen Detroit der Jetztzeit zu sein: Eine ehemals offenbar mondäne, mittlerweile abblätternde Hausfassade, Türen und Fenster verrammelt, doch an der Seite das Club-Schild: “Poor Ike’s Blue Room”. Tatsächlich steht das Gebäude in Chicago, war einst als New Michigan Hotel bekannt und in den 1990er Jahren abgerissen.

Die Erinnerung an ein Stück Bluesgeschichte hielt Martin Feldmann fest, als er in den 1980er Jahren durch die Vereinigten Staaten reiste, um die Stätten des Blues zu besuchen. Im seinem Blueskalender 2014 finden sich viele nostalgisch anmutende Szenen von den Größen des Blues, auf der Konzertbühne oder im kleinen Club aufgenommen, konzentriert oder ausgelassen.

Albert Collins, Fenton Robinson, Johnny Fuller, Otis Rush, Buddy Guy, Jo-Ann Kelly, Tabby Thomas, Lowell Fulson, Pee Wee Crayton, Silas Hogan, Albert King und Cardell Boyette füllen die zwölf Monate in intimen und atmosphärereichen Bildern. Feldmann kurze Anekdoten begleiten die Bilder, die einem jeden Monat einen anderen Blues erleben lassen.

Wolfram Knauer (November 2013)


Momentaufnahmen. Jazz in der DDR / 1973 bis 1989
von Frank Rüdiger
Rudolstadt 2013 (Der neue Morgen)
120 Seiten, 24,99 Euro
ISBN: 978-3-95480-068-1

2013ruedigerDas Spezifische des DDR-Jazz war seine durchaus auch ironische Brechung der Wirklichkeit ät im Land des real existierenden Sozialismus. Wenn Ulrich Gumperts Workshop Band an Eissler und andere erinnert, wenn das Zentralquartett sich uralten deutschen Liedguts annimmt oder wenn Joe Sachse den Lärmpegel der aktuellen Rockmusik mit der Feinziseliertheit des Jazz zusammenbringt, dann zeigen diese und andere Künstler ihr ganz besonderes Gespür für Freiheiten in einem Land, das individueller Kreativität zumindest immer skeptisch gegenüberstand.

Frank Rüdiger begann Anfang der 1970er Jahre die DDR-Jazzszene mit seinem Fotoapparat (einer Pentacon Six) zu begleiten. Das vorliegende Buch enthält 111 seiner Bilder, Aufnahmen der großen DDR-Star genauso wie ost- und westeuropäischer Besucher (and beyond). Die beiden Bilder von Baby Sommer zeigen die oben beschriebene Brechung vielleicht am deutlichsten: das eine zeigt ihn feixend vor dem Schaufenster eines Friseursalons, in dem langes Haar gut geheißen wird (“aber gepflegt muß es sein”), das andere bei der Arbeit am Instrument vor einem Wappen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.

Die meisten der Aufnahmen im Buch sind Konzertfotos, und neben DDR-Kollegen wie Gumpert, Sachse, Ernst Ludwig Petrowski, Johannes und Conny Bauer finden sich Aufnahmen von osteuropäischen Musikern, etwa Tomasz Stanko, Michal Urbaniak, Jiri Stivin, von Westeuropäern wie Andrea Centazzo,Philip Catherine, Michel Pilz, George Gruntz, von Westdeutschen wie Albert Mangelsdorff, Klaus Doldinger, Heinz Sauer sowie von US-Amerikanern wie Art Blakey, Betty Carter, Anthony Braxton, James Blood Ulmer und vielen anderen. Die Aufnahmen decken die Jahre 1973 bis 1989 ab, wurden in (Ost-)Berlin, Leipzig, Peitz und anderswo gemacht und zeigen eine lebendige und scheinbar internationale Szene. Dabei schwingen in den oft grobkörnigen dadurch aber nicht minder direkten und eindrucksvollen Bildern auch immer jene Konnotationen mit, die der Jazz und die improvisierte Musik in der DDR eben auch besaß: Individualität und Vielfalt.

Wolfram Knauer (November 2013)


Der Jazz in Marburg
von Heinz H. Teitge
Marburg 2013 (Sir Henrys Jazz)
182 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-3-00-041899-0

2013teitgeMarburg ist sicher nicht das Zentrum des deutschen Jazz und doch gingen von hier Impulse aus. 1973 gründete sich hier die Union Deutscher Jazzmusiker, die Sängerin Rose Nabinger lebt hier und der Gitarrist Michael Sagmeister nicht weit entfernt. Heinz Teitge ist seit langem als Trompeter auf der traditionellen Szene der Stadt aktiv und hat jetzt ein Buch mit Erinnerungen an die Marburger Jazzgeschichte vorgelegt.

Die ersten Jazzmusiker der Stadt datiert er auf Mitte der 1930er Jahre und benennt konkret den Trompeter Heinz Dittmann, den Trompeter Karl und seinen Bruder, den Pianisten Heinrich Pauli sowie den Trompeter und Geiger Konrad Stumpf. Erst nach dem Krieg aber sei in Marburg wie in anderen Regionen Deutschlands auch aktiver Jazz gemacht worden. Tietge erinnert an Musiker wie den Trompeter Pete Schmidt und den Schlagzeuger Adolf Klapproth sowie an Spielorte innerhalb und außerhalb der US-Kasernen, in denen auch Marburger Musiker engagiert wurden. Ein eigenes Kapitel widmet sich den diversen Bands. Teitge listet die Besetzungen auf und druckt alte Fotos der Kapellen ab, würzt das alles mit Anekdoten über Konzerte, Reisen und Begegnungen. Am ausführlichsten finden sich Informationen über die Kreisjazzwerkerschaft, der Teitge selbst seit 1972 angehörte. Eine Auflistung lokaler Musiker schließt sich an, außerdem eine Beschreibung der verschiedenen Spielorte über die Jahre. Hier finden sich seltene Fotos etwa von Olaf Kübler oder Busch Niebergall; der “moderne Jazz”, wie Teitge alles nach dem Bebop zusammenfasst (“weil man letztlich sonst jedem kreativen Jazzmusiker einen eigenen Stil zuordnen müsste”), findet ansonsten wenig Erwähnung. Dessen Szene, Bands, Spielorte und auch die eingangs erwähnte Gründung der Union Deutscher Jazzmusiker werden höchstens am Rande genannt.

Teitges an Horst H. Lange angelehntes Kapitel zur Entstehung des Jazz, zum “umgekehrten Rassismus” sowie seine Polemik gegen Joachim Ernst Berendt muss man nicht lesen, man muss sie auch nicht weiter kommentieren. Und die 55 Seiten an “Anekdoten” (etwa über die brezelförmige Ausscheidung eines Giessener Jazzers und andere Sonderbarkeiten) trafen zumindest den Humor dieses Rezensenten so überhaupt nicht.

Ursprung seines Buchs sei ein Internet-Blog gewesen, erklärt Teitge in der Einleitung, und diesen Ursprung merkt man auch den Kapiteln an, die vor allem Informationen sammeln und dabei keinerlei Erzählfäden ziehen. Am Interessantesten dürften für Nicht-Marburger vielleicht die Fotos sein, die auch schon mal aus Mittelhessen hinausreichen, etwa in den beiden Bildern der Ankunft Duke Ellingtons auf dem Frankfurter Bahnhof 1950.

Wolfram Knauer (November 2013)


Arrivals / Departures. New Horizons in Jazz
von Stuart Broomer & Brian Morton & Bill Shoemaker
Lissabon 2013 (Calouste Gulbenkian Foundation)
240 Seiten, 12,50 Euro
ISBN: 978-972-31-1493-5

2013nevesDas Festival “Jazz em Agosto” in Lissabon widmet sich seit 30 Jahren den aktuellsten Ausprägungen des Jazz, oder wie der Programmdirektor Rui Neves es gerne nennt, “the other side of jazz”. Die Avantgarde vergangener Tage ist dabei genauso vertreten wie die jüngsten Entwicklungen der improvisierten Musik aus den USA genauso wie aus Europa. Die Open-Air-Bühne im Garten der Gulbenkian Foundation lädt dabei zu Konzerten, die eine Konzentration auf die Musik erlauben, nie überladen, sondern zugespitzt, so dass die Musik nachwirkt beim Publikum.

Zur Feier des 30sten Ausgabe von Jazz em Agosto hat sich die Gulbenkian Foundation eine Buchdokumentation gegönnt, in der die wichtigsten Protagonisten der vergangenen Jahre vorgestellt werden. Vom Muhal Richard Abrams und dem Art Ensemble of Chicago geht das alphabetisch bis zu Carlos Zíngaro und John Zorn, von Jimmy Giuffre, Max Roach und George Russell stilistisch bis zu Anthony Braxton, Peter Brötzmann und Mary Halvorson. Stuart Broomer, Brian Morton und Bill Shoemaker sind die Autoren der kenntnisreichen Artikel, die sowohl auf die Biographie der jeweiligen Künstler eingehen als auch auf ihre musikalische Haltung und auf vergangene Auftritte bei Jazz em Agosto.

Insgesamt 50 Musiker und Ensembles finden sich so in diesem Buch, ein exemplarischer Überblick über eine Avantgarde improvisierter Musik, eine exzellente Einführung in eine Musik, die sich immer wieder neu erfindet.

Wolfram Knauer (September 2013)


Jazz. New York in the Roaring Twenties
von Robert Nippoldt & Hans-Jürgen Schaal
Köln 2007 (Taschen)
144 Seiten + 1 Audio-CD, 39,99 Euro
ISBN: 978-3-8365-4501-3

2013nippoldtDie Zeichnungen von Robert Nippoldt und die Texte von Hans-Jürgen Schaal, die die Geschichte des frühen Jazz in New York erzählen, erschienen 2007 in deutscher Sprache. Die englischsprachige Übersetzung wurde jetzt vom Taschen-Verlag vorgelegt, der die Gestaltung des ursprünglich im Gerstenberg-Verlag erschienenen und damals von der Kritik hoch gelobten Buchs beibehielt.

Es ist eine Jazzgeschichte in Wort und Bildern, die die New Yorker Szene der 1920er Jahre Revue passieren lässt, in biographischen Abrissen und vor allem kongenialen Darstellungen. Nippoldt hat sich für seine Zeichnungen an zeitgenössischen Fotos orientiert, und so gibt es genügend Seiten, die man zu kennen meint, aber aus leicht anderer Sicht, mit leicht anderer, nämlich fotografischer Optik. Dass dabei Klischees besonders deutlich werden, liegt in der Natur der Sache – mit ebendiesen Klischees wurde seinerzeit ja nachgerade geworben. Die Texte Schaals wissen den bildnerischen Schönzeichnungen dabei durchaus das notwendige Gegengewicht zu geben, dass diese in die Realität einer Zeit zurückbringt, in der Jazz Teil der aufstrebenden Kulturindustrie wurde.

Eine CD mit Aufnahmen vieler der in Einzeldarstellungen portraitierten Künstler hängt dem Buch bei und macht die darin erzählte und bebilderte Jazzgeschichte so schließlich auch noch hörbar.

Wolfram Knauer (Juli 2013)


Volker Kriegel. Zeichner und Cartoonist
herausgegeben von Susanne Kiessling & Isolde Schmidt
Wiesbaden 2013 (Kulturamt Wiesbaden)
44 Seiten
(www.kunsthauswiesbaden.org)

2013kriegelDas KunstHaus Wiesbaden zeigt noch bis zum 18. August 2013 eine Ausstellungen mit Zeichnungen und Cartoons des vor zehn Jahren verstorbenen aber lange nicht vergessenen Jazzgitarristen, Schriftstellers und Zeichners Volker Kriegel.

Aus Anlass der Ausstellung ist nun ein kleiner, aber feiner Katalog erschienen, der Kriegels Arbeit als Zeichner würdigt, seine Multibegabung, seinen Humor, der deutliche Verbindung zur “Neuen Frankfurter Schule der Satire” besitzt.

Neben den Abbildungen, die zugleich einen lebendigen Einblick in die Ausstellung im Kunsthaus geben, finden sich kurze Würdigungen Kriegels durch Kollegen seiner unterschiedlichen Schaffensbereiche, den Karikaturisten F.W. Bernstein etwa, den englischen Schriftsteller Julian Barnes, den Pianisten Wolfgang Dauner, den Koch Vincent Klink, den Publizisten Roger Willemsen, den Journalisten Manfred Eichel und den Illustrator Nikolaus Heidelbach.

Die Werkschau, in kleiner Auflage erschienen, ist ein erhellendes und sehr schönes Dokument der grafischen Kunst Kriegels.

Wolfram Knauer (Juli 2013)


American Jazz Heroes. Besuche bei 50 Jazz-Legenden
Von Arne Reimer
Köln 2013 (Jazz Thing Verlag Axel Stinshoff)
228 Seiten, 49 Euro
ISBN: 978-3-9815858-0-3

www.americanjazzheroes.de

2013reimerSeit einigen Jahren bringt das Magazin Jazz Thing eine Reihe an Portraits und Interviews, die der deutsche Fotograf und Journalist Arne Reimer mit amerikanischen Jazzmusikern führte, bekannten genauso wie weniger bekannten, oft geradezu vergessenen Heroen der Jazzgeschichte, die meisten betagt bis hochbetagt. Das Besondere an der Serie war, dass Reimer sie in der Regel nicht bei offiziellen Presseterminen, Plattenvorstellungen oder im Tourneehotel aufsuchte, sondern zu ihnen nach Hause reiste, in ihre Apartments in Manhattan, ihre kleinen Häuschen auf dem Lande, in luxuriösere und eher bescheidene Verhältnisse, die den pekuniären Erfolg ihrer musikalischen Karriere widerspiegeln.

Nun ist die Reihe als Buch herausgekommen, und so versammelt ist es ein fast noch größerer Spaß durch die Interviews zu blättern, sich festzulesen, die zum Teil durchaus privaten Bilder zu betrachten, die Reimer schießen konnte. Ihm gelingt bei seinen Hausbesuchen, was wenigen Journalisten glückt: Die Musiker sprechen nicht nur über ihre Musik, über Einflüsse und ihre eigenen Erfahrungen, sie erklären ihm auch ihren Alltag, erlauben einen Einblick in ihr Privatleben.

Da erzählt Buddy DeFranco von seiner legendären Aufnahme mit Art Tatum; man erfährt, dass Paul Bley gern auf der Veranda sitzt und dem Regen lauscht. James Spaulding berichtet von seinem ersten bezahlten Gig in einem Striptease-Lokal; Clark Terry gibt den Tipp, wie Humor einem im Leben wie in der Musik weiterhelfen kann.

Jim Hall bedauert, dass er nie mit Miles Davis ins Studio gegangen sei; Cecil Taylor hält den Fotografen bis in die frühen Morgenstunden zurück, bis dieser endlich ein paar Fotos machen darf. Bob Cranshaw erklärt, warum er Basssoli meidet; Roswell Rudd erzählt von seinen weltmusikalischen Projekten.

Louis Hayes lässt sich mit seiner Enkelin fotografieren; Gary Bartz bekundet seine Bewunderung für Stevie Wonder und erklärt, warum er das Wort Jazz nicht mag. George Cables hat etwas gegen die Institutionalisierung des Jazz in den letzten Jahren; Jimmy Heath sieht für die Musik eine Zukunft, weil genügend junge Menschen sich für sie interessieren.

Frank Wess hört seine Musik lieber leise, um die Nachbarn nicht zu stören; Cedar Walton schwärmt von deutscher Bratwurst und Bier. Milford Graves ist stolz auf eine selbst gebastelte Vogelstimmenuhr; Sheila Jordan berichtet von ihrer Dankbarkeit für die Hilfe George Russells.

Ted Curson ließ sich einen Fu-Mancho-Bart wachsen, weil er ständig mit Freddie Hubbard und McCoy Tyner verwechselt wurde; Dave Pike macht keine Musik mehr, stattdessen kleine Skulpturen. Yusef Lateef liest Noam Chomsky, um neue Ideen für seine Musik zu bekommen; Clare Fischer schrieb Arrangements für Prince und Michael Jackson.

Lou Donaldson spielt morgens eher Golf als Saxophon; Julian Priester muss dreimal die Woche an die Dialyse. Nathan Davis denkt immer noch gern an seine Zeit in Deutschland; Andrew Cyrilles erste Platte war eine LP von Shorty Rogers.

Stanley Cowell trampte eigens von Salzburg nach Stuttgart, um Hans Koller zu hören – verpasste ihn aber; Marian McPartland bedauert, dass sie es nicht geschafft hatte, Miles Davis in ihre Radioshow zu kriegen. Cecil McBee musste die Band von Charles Lloyd verlassen, weil der ihm vorwarf, nicht zu swingen; Bernard Purdie erklärt den Purdie-Shuffle.

Charles Tolliver erzählt von der Gründung des Plattenlabels Strata-East; Henry Grimes ist fasziniert von den technischen Veränderungen während seiner 35-jährigen Musikpause. Chico Hamilton betont, wie wichtig es sei, dass man zur Musik tanzen könne; Helen Merrill erzählt, wie es 1954 zur Zusammenarbeit mit Clifford Brown gekommen sei.

Jimmy Cobb erlebte eine neunjährige Gänsehaut, wann immer er Sarah Vaughan singen hörte; Garchan Moncur III fühlt sich von der Jazzwelt vergessen. Phil Woods will mit Arne Reimer ein Eis essen gehen, aber die Eisdiele ist leider schon geschlossen; Slide Hampton schwärmt von den deutschen Rundfunk-Bigbands.

Gary Peacock erinnert sich an seine Zeit in einem verlassenen Haus in Duisburg; Pete LaRoca Sims bedauert, dass er ein Jurastudium absolviert und nicht mehr gespielt habe. Reggie Workman hebt die Bedeutung der Initiative Collective Black Artists hervor; Harold Mabern bewundert Phineas Newborn Jr.

Sonny Fortune verkauft seine Musik übers Internet; Gerald Wilson denkt mit 94 Jahren daran, eventuell in den Ruhestand zu gehen. Idris Muhammad war schon fünf Mal in Mekka; Houston Person fühlt sich als ewiger Bluesmusiker.

Albert Heath schaut sich nach einem neuen Haus um; Buster Williams ist seinem strengen Vater dankbar, der nicht zuließ, dass er das Bassspielen aufhörte; und Benny Golsons zweites Zuhause schließlich ist Friedrichshafen am Bodensee.

Das also im Schnelldurchlauf sind einige der Informationen, die sich aus dem Buch ziehen lassen, das aber weit reicher an Atmosphäre ist und einem das unbedingte Gefühl gibt, dass Arne Reimer da stellvertretend für uns zu den Heroen des amerikanischen Jazz gereist sei, mit öffentlichen Verkehrsmitteln, offenen Augen und Ohren und einer überaus sensiblen Übersetzung seiner Beobachtungen und Gespräche. Mehrere der Interviewpartner sind mittlerweile verstorben, und so ist Reimers Buch bereits ein Dokument der Jazzgeschichte. Seine Farbfotos der Musiker in ihrer privaten oder selbstgewählten Umgebung beeindrucken den Leser genauso wie sie Roger Willemsen beeindrucken, der ein einfühlsames Vorwort zum Buch verfasste.

“American Jazz Heroes” wird von der Presse gelobt wie lange kein deutsches Jazzbuch mehr, und das völlig zu Recht. Ein Buch, dass man erst dann gern verschenkt, wenn man es selbst besitzt.

Wolfram Knauer (Juli 2013)


Albert Ayler. Lo spirito e la rivolta
by Peter Niklas Wilson
Firenze 2013 (Edizioni ETS)
264 Seiten, 26 Euro
ISBN: 978-884673572-0

2013wilsonAm 25. November 1970 wurde Albert Ayler aus dem East River gezogen. Die Umstände seines Todes wurden nie voll­ständig aufgeklärt. Dies versucht auch Peter Niklas Wilson nicht in der ersten Monographie, die überhaupt über diesen Saxophonisten erschien. Doch Wilsons Buch ist ein Beleg dafür, daß Recherchen noch mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Tod eines Musikers neue Erkenntnisse hervorbringen können. Wilson ist dafür sozu­sagen in die Vergangenheit gereist, hat Zeitzeugen ausfindig gemacht, die bislang von niemandem zum Leben Albert Aylers befragt worden waren, hat das Bild, das er so von der Person Aylers gewann, anhand der existierenden Interviews und Zeitschriftenberichte überprüft und all dies mit den Tondokumenten des Aylerschen Musikschaffens verbunden. Herausgekommen ist ein überaus lesenswertes Sachbuch mit Daten, Fakten, Anekdoten, musikalischen Analysen und einer Kurzbeschreibung der von Ayler veröffentlichten LPs.

Der 1936 im schwarzen Clevelander Stadtteil Mount Pleasant geborene Albert Ayler machte eine jazz-typische Entwicklung durch. Mit sieben Jahren erhielt er seinen ersten Musikunterricht vom Vater, später in einer ört­lichen Musikschule. Mit fünfzehn spielte er in lokalen Bands — eine Musik, die sich eher am Rhythm and Blues als am modernen Jazz der Zeit orientierte. Mit siebzehn wurde Ayler zum Profi-Musiker, ging mit dem Blues-Harmonika-Spieler Little Walter auf Tournee. Doch er spielte nicht nur R&B, sondern auch Bebop — in Cleveland nannte man ihn damals “Little Bird”. Von 1958 bis 1961 ging Ayler durch eine wichtige Schule: die der US-Armee­kapellen. Viel der Repertoire-Besonderheiten des späteren Saxophonisten erklären sich aus seinen biographisch-musi­kalischen Begegnungen: der Rhythm and Blues in Cleveland, die Märsche und Tanzmusik der Armeekapellen. Bald wurde Ayler ins französische Orléans versetzt, machte Konzert­tourneen durch ganz Europa. Zurück in Cleveland erfuhr Ayler eine zweite musikalische Initiation: die des Avant­gardisten. Man hielt ihn entweder für einen Scharlatan oder für leicht verrückt. 1962 machte sich Ayler nach Schweden auf, wo er ein Interesse an seiner Musik erfahren hatte, das ihm in Cleveland nicht entgegenge­bracht wurde. Auch in Schweden aber mußte Ayler sich mit Tanzmusik durchschlagen; lernte allerdings auch einige Musiker kennen, die genau wie er dem “New Thing” anhingen: John Tchicai beispielsweise oder die Musiker des Cecil Taylor Trios. 1963 kam es in Schweden zu den ersten dokumentierten Aufnahmen: ein Repertoire üblicher Hardbop-Standards mit freien Improvisationen des Saxopho­nisten. Zurück in den USA zog es Ayler im Sommer 1963 nach New York, wo er ab und zu mit der Cecil Taylor Unit auftrat. 1964 folgte die erste Studioeinspielung “Spirits”, dann Aufnahmen für das Avantgarde-Label ESP, die ihn endlich zu einem musikalisch wahrgenommenen Phänomen der amerikanischen Jazzszene machten.

Mitte der 60er Jahre lag im schwarzen Amerika die Revolu­tion in der Luft. Bürgerrechtsproteste, die Black-Power-Bewegung, frühe Zusammenschlüsse der Black Panthers und zornige Äußerungen der schwarzen Wortführer bestimmten das Klima. LeRoi Jones sah damals in der Musik des New Thing, und besonders in der Musik Albert Aylers den Auf­ruf zum Protest, zur Revolte. Ayler selbst allerdings äußerte sich nie dezidiert zu einer etwaigen politischen Funktion seiner Musik. “Musik und Politik — sie können auf gewisse Weise verknüpft sein, aber Musik ist Musik und Politik ist Politik”, zitiert Wilson den Saxophonisten.

Wilson betrachtet sowohl die Musik als auch die Ästhetik Aylers dabei durchaus kritisch. Den spirituellen Äußerungen Aylers, deren Resultate sich durchaus in seiner Musik wiederfinden lassen, stellt er da beispiels­weise einen oft zornigen Kleinbürger mit Macho-Attitüden gegenüber, den er in den Äußerungen von Ayler-Freunden wie Michel Samson, Sunny Murray und anderen entdeckt. 1967 lernte Ayler Mary Parks (alias Mary Maria) kennen, die sein privates Leben und seine musikalische Karriere nachhaltend beeinflußte. John Coltrane vermittelte Ayler einen Plattenvertrag mit dem Label Impulse. Dessen Produ­zent Bob Thiele wollte den Saxophonisten einem weiteren Publikum bekannt machen — heraus kam “New Grass”, eine Platte mit Bläsersätzen und Background-Chören und einer offenen spirituellen Botschaft. Wilson argumentiert gegen etliche Kritiker, daß diese Entwicklung nicht einzig auf Thieles Drängen stattgefunden habe, sondern durch und durch dem musikalischen Willen Aylers und dem Einfluß seiner Lebensgefährtin Mary Parks entsprach. Aylers Tod im November 1970 ließ Spekulationen über Selbstmord auf­keimen, Spekulationen, die ihren Grund auch in depres­siven Stimmungen hatten, denen Ayler in den letzten Jahren seines Lebens unterlag.

Dem biographischen Teil des Buchs folgt eine ausführliche analytische (dabei übrigens überaus lesbare) Würdigung der musikalischen Seite Albert Aylers. Wilson untersucht die unterschiedlichen Traditionsstränge, die sich in der Musik des Saxophonisten finden: die Musik der schwarzen Kirche, Rhythm ‘n’ Blues, Jazztradition, Märsche. Er gliedert die Entwicklung Aylers in vier Phasen, die des “Free Bop” (ca. bis 1964), die der “Shapes — From Notes to Sounds” (1964), die der “Universal Music” (1965-1967) und die der “Verbalisierung der Botschaft — From Sounds to Words” (ab 1968).

Peter Niklas Wilsons Buch ist nicht nur deshalb als ein Standardwerk zu Albert Aylers Leben und Schaffen einzu­stufen, weil es bislang die einzige Monographie über den Saxophonisten darstellt. Wilson ist es gelungen, ein umfassendes Bild des Menschen Ayler und seiner Musik zu geben, ein Bild, in dem die Biographie, die spirituelle und die musikalische Entwicklung gegenübergestellt und ihre vielfältigen Einflüsse aufeinander sinnvoll dargestellt werden.

Die vorliegende italienische Ausgabe wurde von Francesco Martinelli übersetzt. Die deutsche Originalausgabe erschien 1996 beim Wolke-Verlag in Hofheim.

Wolfram Knauer (Juli 2013)


Ellington at the White House 1969
von Edward Allen Faine
Takoma Park/MD 2013 (IM Press)
300 Seiten, 15 US-Dollar
ISBN 978-0-9857952-0-7

2013faineIn den meisten Büchern über Duke Ellington ist ein Foto zu sehen, auf dem der Maestro, seine Schwester Ruth neben President Richard Nixon und seiner Frau Pat stehen. Es wurde am 29. April 1969 aufgenommen, am 70sten Geburtstag Ellingtons, an dem dieser aus der Hand des Präsidenten die Medal of Honor, also die höchste zivile Auszeichnung der Vereinigten Staaten verliehen bekam.

Jazz war bereits früher bei Staatsempfängen im Weißen Haus zu hören gewesen, und Jazz spielte auch in der politischen Arbeit eine Rolle, etwa beim Jazz-Ambassador-Programm des US-Außenministeriums. Der Empfang Ellingtons im Weißen Haus aber, der in einer ausgelassenen Jam Session der geladenen Musiker mündete, war Teil einer Anerkennung von Jazz als eines wichtigen nationalen Erbes der Vereinigten Staaten, der Einfluss haben sollte, etwa auf die Etablierung eines Jazzprogramms des National Endowment for the Arts, auf das Jazzprogramm der Smithsonian Institution und auf späteren Aktivitäten, in denen Amerika den Jazz als nationales Erbe anerkannte.

Edward Allan Faine hat nun ein ganzes Buch über jenen Abend am 29. April 1969 geschrieben. Er hat Dokumente gesichtet, anhand derer er die Vorbereitungen genauso beschreiben kann wie die politischen Überlegungen, die solche Veranstaltungen begleiteten.

Ellington hatte bereits in den 1930er Jahren angeregt, seine Band im Weißen Haus spielen zu lassen. 1950 hatte Harry Truman ihn eingeladen, und die beiden hatten miteinander gefachsimpelt – Truman was ein Amateurpianist, residierte aber im Blair House gegenüber des Weißen Hauses, das gerade renoviert wurde. So war John F. Kennedy der erste Präsident, der mit dem Paul Winter Sextet dem Jazz den Weg in die First Mansion ebnete. Und erst Lyndon B. Johnson lud Ellingtons Orchester am 14. Juni 1965 zum White House Festival in den Garten des Palastes. 1967 war Ellington zu einem State Dinner mit dem König von Thailand zugegen, bei dem er und Stan Getz bei der North Texas State University Lab Band einstiegen. Im März 1968 spielte er mit einem Oktett für den Präsidenten von Liberia und im November war er als Mitglied des neu gegründeten National Council of the Arts wieder im Weißen Haus, wo er unter anderem eine Soloversion von “Satin Doll” spielte.

Als Richard Nixon Präsident wurde, erwartete niemand, dass er Johnsons Jazz-Aktivitäten fortsetzen würde. Faine zitiert aus internen Papieren, die das Procedere von White-House-Veranstaltungen und die Verquickung zwischen Engagement und politischer Unterstützung dokumentieren. So ließ Nixon etwa eine Liste genehmer Künstler anlegen, auf die vor allem solche Musiker kamen, die ihn bei der Wahl unterstützt hatten.

Die Idee zur Geburtstagsparty für den Duke kam offenbar von Ellingtons PR-Agenten Joe Morgen. Ellington hatte Nixon nicht wirklich unterstützt, aber seine Fürsprecher legten das dem Präsidenten gegenüber anders aus. Der sah wohl auch den Werbenutzen, den er aus solch einer Veranstaltung ziehen konnte. Faine beschreibt die Vorbereitungen: Gästelisten, die Zusammenstellung einer All-Star-Besetzung für den musikalischen Teil der Veranstaltung, eine Besetzung, die mit Dave Brubeck, Earl Hines und Billy Taylor auch drei namhafte Pianisten umfasste. Er beschreibt das Bankett, die Sitzordnung, das Menü, die Zeremonie der Ordensvergabe, das Konzert. Der Präsident und seine Gattin waren von 20:05 Uhr bis 0:15 Uhr anwesend, danach ging es mit einer legendären Jam Session weiter, die bis nach 2 Uhr morgens dauerte.

Bis ans Ende seines Lebens war Ellington stolz auf den Empfang, und auch Nixon erinnerte sich noch weit später an den Abend als eine der erfolgreichsten Veranstaltungen seiner Amtszeit.

“Ellington at the White House 1969” ist ein ganz spezielles Buch. Es dokumentiert, wie Musik von der Politik instrumentalisiert wird, aber durchaus ihre Eigenständigkeit bewahren kann. Es verdeutlicht zugleich die Bedeutung, die solche offiziellen Akte für die Anerkennung einer Musiksparte besitzen. Faines Recherchen haben dabei überaus interessante Dokumente aufgetan. Im Anhang dokumentiert er über das eigentliche Thema hinaus gehende Dakten: Jazzkonzerte im Weißen Haus vor 1969 und ihre Anlässe, die Liste der von der Nixon-Regierung sanktionierten Entertainer für potentielle Veranstaltungen des Präsidenten, Ellingtons Gästeliste (sowohl seine Wunschgäste als auch die tatsächlich eingeladenen). Er transkribiert ein neunminütiges Interview des Duke für die Voice of America, nennt sämtliche über den Abend berichtenden Quellen, listet die Jazz-Botschafter-Programme zwischen 1956 und 1987 auf. Zwischendrin finden sich außerdem viele Fotos, die die Gäste und die Stimmung des abends dokumentieren.

Dass Duke Ellington, der in Washington geborene Musiker, dessen Vater im Weißen Haus als Butler diente, in eben diesem Gebäude als einer der bedeutendsten Musiker und Komponisten der USA geehrt wurde, hatte auf jeden Fall weit mehr als nur symbolischen Charakter. Das White-House-Konzert wurde vor wenigen Jahren als CD veröffentlicht, vom Auftaktthema “Take the A Train” bis hin zu Ellingtons Tribut an die First Lady, “Pat”. Edward Allan Faine beschreibt, wie es zu all dem kam. Sein Buch ist dabei eine überaus spannende und gut lesbare Lektüre, die nicht nur Ellington-Fans ans Herz gelegt sei.

Wolfram Knauer (Juni 2013)


Der Klang der Revolte. Die magischen Jahre des westdeutschen Musik-Underground
von Christoph Wagner
Mainz 2013 (Schott)
387 Seiten, 24,95 Euro
ISBN: 978-3-7957-0842-9

Layout 11968 wurde alles politisch in Westdeutschland. Entweder waren die Dinge ganz direkt politisch oder sie wurden für politisch erklärt. Jugendkultur war auf jeden Fall hochpolitisch, und so verhielt es such auch mit der Musik, die die politischen Zweifel, Diskussionen, Aktionen, Reaktionen jener Jahre begleitete, egal aus welcher Ecke sie kam, ob Pop, Rock, Folk und Liedermacher, Blues oder Jazz.

Christoph Wagner, 1956 geboren, berichtet in seinem Buch über die, wie er sie nennt, “magischen Jahre des westdeutschen Musik-Underground”, nämlich die Jahre zwischen 1967 und 1973, und man spürt schon bei seinem Buchtitel die Faszination, die sich allein daraus ergibt, dass dies auch die Jahre waren, in denen er selbst zur Musik kam. Wagners Positionsvorteil ist, dass er seit 1992 in England lebt und damit auf Deutschland sowohl mit dem Insider- wie auch mit einem Outsiderblick schauen kann.

“Deutsch Rock” wunderte sich der Melody Maker 1972 über selbstbewusste Rockmusik vom Kontinent, und Wagner schildert die enorme Popularität von Bands wie Amon Düül und anderen. “Vor Udo” überschreibt er ein Kapitel über die Notwendigkeit, sich nach dem Nationalsozialismus die deutsche Sprache wieder zurückzuerobern. Er beschreibt die Wirkung von Tourneen der Bands The Who oder von Jimi Hendrix, den er als “Anti-Spießer” beschreibt und damit durchaus die Erwartungshaltung der damaligen Jugend gegenüber der Musik zum Ausdruck bringt. Er geht auf die elektronische Musik in Berlin ein und die Hits der Elektronik-Szene in den 1970er Jahren (Stichwort: Eberhard Schoener). Viele der experimentellen Rockbands waren neben ihrem instrumentellen Können auf die Möglichkeiten der Studiotechnik angewiesen, die sich parallel mit der Rock- und Popmusik jener Jahre rasant entwickelte und auf die kreativen Notwendigkeiten der Szene reagierte.

Das große Jazz-Kapitel des Buchs umfasst immerhin 34 Seiten, ist überschrieben mit “Grenzen durchbrechen! Die Jazz-Revolution in Westdeutschland” und handelt zum einen vom Free Jazz der 1960er Jahre und zum anderen von der Fusion der 1970er – mit Schwerpunkten wie Hampel, Brötzmann, Schlippenbach, Dauner und Kriegel, Doldinger, Liebezeit.

Wagner schaut auf die Weltmusikszene, auf Einflüsse durch Ravi Shankar, auf das Einfühlen in außereuropäische Klangwelten und auf die Band Embryo, aber auch auf die Liedermacher auf Burg Waldeck, die mal politischer, mal folkiger waren. Er beleuchtet die Festivalkultur zwischen Folk, Rock, Blues und Free, verfasst ein Lob auf die “Provinz”, die in Kulturdingen Events möglich machte, die in den großen Städten nicht gelaufen wären – oder zumindest nicht so gelaufen wären. Er schaut sich Musikkollektive und Bandkommunen an (“Irrenhaus in Selbstverwaltung”) und beleuchtet die Bedeutung der Drogen in jenen Jahren der Selbstfindung auf vielfältigste Art und Weise.

Die Verbindungslinien, die der Leser zwischen den verschiedenen Kapiteln ziehen kann, sind vielfältig. Sie belegen einmal mehr, was man eigentlich ja weiß, was das Verstehen von Geschichte aber manchmal etwas kompliziert macht: dass nämlich die Menschen sich auch in ihrem musikalischen Geschmack nicht in Schubladen pressen lassen und aktuelle gesellschaftliche Diskussionen auf unterschiedliche Weise in die verschiedensten Musikszenen eindringen. Wagner lädt dabei mit seinem Blick auf die ganze bunte Szene zwischen Jazz, Rock Pop und Folk zum Weiterdenken ein, zum Vergleich und Verbinden unterschiedlichster Eckpunkte (Waldeck, Total Music Meeting, Fehmarn, Moers) und zur Erkenntnis, dass der “Klang der Revolte” ziemlich vieltönig gewesen sein mag, aber durchaus aus ähnlichen gesellschaftlichen wie ästhetischen Beweggründen entstand.

Absolut lesenswert!

Wolfram Knauer (Juni 2013)


Mary Lou Williams. Selected Works for Big Band
(MUSA = Music of the United States, Volume 25)
herausgegeben von Theodore E. Buehrer
Middleton/WI 2013 (MUSA / A-R Editions)
290 Seiten, 200 US-Dollar
ISBN: 978-0-89579-762-9

2013buehrerIn der Denkmäler-Edition “Music of the United States of America” ist nach Bänden zur Musik Fats Wallers, Earl Hines’ und Sam Morgans jetzt ein Band mit Transkriptionen von Bigbandarrangements der Pianistin Mary Lou Williams erschienen. Die Kompositionen stammen aus den Jahren 1929 bis 1968 und wurden von Williams fürs Andy Kirk Orchestra, für Duke Ellington, für Dizzy Gillespie und für eigene Projekte geschrieben.

Theodore E. Buehrer stellt dem umfangreichen Transkriptionsteil des Bandes eine 50-seitige Würdigung der Pianistin, Komponistin und Arrangeurin Mary Lou Williams voran. Er beschreibt ihre Rolle als Musikerin in einer Zeit, als die meisten Jazzinstrumentalisten Männer waren, verfolgt ihre Karriere von Atlanta über Pittsburgh nach Kansas City und geht dann auf ihre ersten Arrangements für das Orchester Andy Kirks ein, von denen er mit “Mess-a-Stomp” (1929) und “Mary’s Idea” (1930) zwei in Transkription vorlegt. Er beschreibt ihren Umgang mit Form, Harmonik und Rhythmik sowie spezielle Instrumentierungen und Texturen, die schon hier ihren Stil charakterisieren. Ihre bekanntesten Arrangement schrieb Williams für Kirks Orchester der Jahre 1931 bis 1942, von denen Buehrer die Titel “Walkin’ and Swingin'” (1936), “A Mellow Bit of Rhythm” (1937), “Messa Stomp” (1938) und “Mary’s Idea” (1938) transkribiert. Er verweist auf Einflüsse anderer Arrangeure, vor allem aber auf die Entwicklung eines klar erkennbaren eigenen Arrangierstils Williams’. Dieser spiele weit mehr als zuvor auch mit der Form, wie Buehrer insbesondere anhand des Vergleichs der beiden Titel “Messa Stomp” und “Mary’s Idea” zeigt, die in ihren Versionen von 1938 völlig anders klingen als 1929 bzw. 1930.

Zwischen 1942 und 1952 arbeitete Williams meist mit kleinen Besetzungen in New York, schrieb zwischendurch aber auch Arrangements für Kollegen wie Benny Goodman, Duke Ellington oder Dizzy Gillespie. Der Band enthält “Lonely Moments” (1947), das Ellington genauso wie Goodman im repertoire hatten, sowie Williams’ “In the Land of Oo-Bla-Dee” fürs Gillespie Orchestra (1949), aber auch ihr “Scorpio” von 1946, geschrieben für Ellington, zu ihren Lebzeiten allerdings nie auf Platte dokumentiert. Ab den 1950er Jahren bis zum Ende ihres Lebens war Williams musikalisch zumeist mit eigenen, kleiner besetzten Projekten aktiv, schrieb daneben geistliche Werke, die in der Regel ebenfalls nicht für eine übliche Bigbandbesetzung gesetzt waren. Aus diesen Jahren greift Buehrer “Gravel (Truth)” (1967) und “Aries Mood” (1968) heraus, zwei Kompositionen, die die Pianistin 1968 mit der Danish Radio Big Band aufführte und einspielte.

Mary Lou Williams’ Nachlass befindet sich heute am Institute of Jazz Studies an der Rutgers University in Newark, New Jersey. Über die Jahre ihrer Karriere schrieb sie mehr als 200 Bigband-Arrangements, von denen Buehrer für seine MUSA-Ausgabe elf Titel aussuchte. Seine Wahl beschränkte sich dabei auf solche Stücke, für die Williams als alleinige Komponistin verzeichnet ist, sowie auf solche, für die ihm möglichst umfangreiche Autographe vorlagen.

Die Transkriptionen selbst sind Studienpartituren mit Notationen, die sich an den autographen Quellen orientieren, enthalten daneben die notwendigen Anpassungen durch die Höranalyse der Aufnahmen. Jedem Stück ist eine Kompositionsbeschreibung vorangestellt, an die Transkription schließt sich ein kritischer Kommentar an, der vor allem auf Unklarheiten der Notierung, Abweichungen zwischen Notation und Höreindruck und ähnliches verweisen. Ensemblebegleitung von Banjo, Gitarre oder Klavier notiert Buehrer in der Regel mit Harmoniesymbolen, wird dort genauer, wo diese Instrumente etwa in einem Break oder in deutlichem Bezug zum Arrangement hervortreten und notiert sie ausführlich, wann immer sie als Soloinstrument verwendet werden.

Buehrers Band über Mary Lou Williams ist eine wichtige Ergänzung zum Studienmaterial über den Jazz des 20sten Jahrhunderts. An diesem Band genauso wie an den anderen jazz-bezogenen Bänden der MUSA-Reihe werden sich noch etliche Musikwissenschaftler abarbeiten können, auch wenn man bei aller Begeisterung über die Transkriptionen nie vergessen darf, dass die Musik nie auf dem Papier steht, sondern nur im Klangerlebnis erfahrbar wird. Der Preis der Reihe mag die MUSA-Ausgaben vor allem für Archive und Bibliotheken erschwinglich machen; vom Inhalt her sei sie jedem empfohlen, der sich analytisch mit der Entwicklung des Jazz befasst.

Wolfram Knauer (Juni 2013)


Keith Jarrett’s The Köln Concert
von Peter Elsdon
New York 2013 (Oxford University Press)
171 Seiten, 17 US-Dollar
ISBN_ 978-0-19-977926-0

2013elsdonPeter Elsdons Buch untersucht Keith Jarretts “The Köln Concert” nicht nur als musikalisches Event, sondern als ein kulturelles Phänomen, das das Leben vieler Hörer aus ganz unterschiedlichen Gründen berührt hat. Sein Buch ist die erste Monographie über das erfolgreiche Album, und der Autor stellt viele spannende Fragen, die sich aus der Musik, aus den Umständen des Konzerts, aus der Lage des Jazz in den Mitt-1970er Jahren und aus dem außerordentlichen Erfolg des Albums ergeben.

Elsdon fragt nach unterschiedlichen Lesarten des Albumserfolgs beschreibt die Schwierigkeiten des konkreten Konzerts, erklärt aber auch, dass er weder eine Art “Making of” noch ein Buch schreiben wollte, das die technischen Details der Aufnahme erklärt. Sein Ansatz sei stattdessen, auf Jarrett, den Solo-Improvisator, zu schauen und zu fragen, wie es dazu kam, dass das “Köln Concert” in der Folge “eine Idee nicht nur über Musik oder Kunst, sondern über das Individuum und seinen Platz in der Kultur” repräsentierte.

Im ersten Kapitel schaut Elsdon aufs “Köln Concert” nicht so sehr als Live-Aufnahme denn als einen Prozess, in dem “die Rezeption und das nachträgliche Verständnis der Aufnahme sie erst mit Werten wie Lebendigkeit verbunden” hätten. Er reflektiert über die Beziehung des amerikanischen Künstlers mit seinem europäischen Publikum, beschreibt, was deutsche Jazzfans während der Mitt-1970er Jahre so hören konnten und versucht ein Gefühl für das neue Selbstbewusstsein der europäischen und insbesondere der deutschen Jazzszene zu entwickeln. Er verfolgt Jarretts Karriere als Solopianist und stellt insbesondere ein Konzert in Heidelberg heraus, von dem Jarrett selbst sagt, dort habe er zum ersten Mal gemerkt, dass er Songs nicht länger als einzelne Stücke spielen, sondern sie mit verbindenden Passagen zusammenbringen wollte.

Sein zweites Kapitel widmet sich der kritischen Reaktion sowie dem kommerziellen Erfolg des Albums in den Jahren nach seiner Veröffentlichung. Irgendwie sei es Jarrett gelungen, die Genregrenzen zu sprengen; seine Musik jedenfalls habe Anhängern von Bob Dylan, den Beatles und den Rolling Stones gefallen. Er schaut auf Jarretts Karriere bis in die 1970er Jahre, liest Urteile aus jazz-relevanten wie jazz-fernen Zeitschriften der Zeit, die sich über die stilistische Reinheit seiner Musik, über seine Wurzeln oder seine Stellung in der Jazzgeschichte Gedanken machten. Er beschreibt das “typische” Jazzpublikum jener Jahre und das wahrscheinliche Publikum in Jarretts Konzerten. Offenbar gab es bei etlichen Kritikern die Hoffnung, Jarrett könne ein neues junges Publikum an den (akustischen) Jazz heranbringen, egal, inwieweit diese Autoren seine Aufnahmen mochten oder nicht. Schließlich geht Elsdon in diesem Kapitel noch auf Jarretts physische Bühnenpräsenz ein, seine Körperhaltung beim Spielen, die nicht nur im Konzert erlebbar war, sondern auch in Bildern transportiert wurde und definitiv einen Einfluss auf die Rezeption seiner Musik hatte.

Kapitel drei beschäftigt sich mit Jarretts Solo-Klavierspiel und stilistischen Änderungen seit seiner ersten ECM-Veröffentlichung. Er ordnet Jarrett in die Geschichte des Solo-Jazzspiels ein und bezieht sich insbesondere auf drei Alben, die Jarrett, Chick Corea und Paul Bley in den 1970er Jahren für ECM aufgenommen hatten. Konkret analysiert er Chick Coreas “Noon Song” in Bezug auf seine formale, harmonische und metrische Struktur, um diese Aufnahme mit Jarretts “Lalene” zu vergleichen. Dann analysiert er Jarretts “In Front” als Beispiel dafür, “wie Jarrett in seinem Solo-Klavierspiel mit Form umging”. Dabei identifiziert er kompositorische Elemente und komplexe improvisatorische Ausflüge, bezeichnet Form als seine Art Road Map, die von Fall zu Fall unterschiedlich ausfallen könne.

Kapitel vier untersucht Jarretts musikalische Sprache, stilistische Referenzen, Groove-Passagen, die die am besten erkennbaren Elemente in Jarretts Solostil seien. Er benennt unterschiedliche Arten von Groovepassagen und vergleicht das “Köln Concert” mit anderen Aufnahmen des Pianisten aus dem Jahr 1975. Schließlich beleuchtet er noch “Balladenpassagen” und reflektiert über das Risiko der Improvisation. Kapitel fünf und sechs enthalten spezifische analytische Anmerkungen zur Kölner Performance. Elsdon beschreibt harmonische Bewegung, motivische Entwicklung, Kadenzen, die anderswo hinführen als erwartet. Er identifiziert harmonische Progressionen, melodische Ideen, pianistische Ansätze, vokale Begleitmuster, Soundaspekte, rhythmische Besonderheiten, Wiederholungen, dramatische Entwicklungen und harmonische Stasis, strukturelle Elemente, Expressivität. Er beschreibt Groove-Elemente, polyphone Resultate pianistischer Techniken, Vamps und Ostinatofiguren der linken Hand, Variationsprozesse, melodische Bewegung, die von der harmonischen Entwicklung unterstützt wird. Und er identifiziert die Zugabe Jarretts (Part IIc) als eine Komposition, die der Pianist bereits früher gespielt hatte und die auf irgendeine Weise ihren Weg ins “Real Book” gefunden habe, wo sie als “Memories of Tomorrow” auftauche. Schließlich fragt er, wie man Abend für Abend neues Material er-improvisieren, wie man als Musiker frisch bleiben könne, um sich nicht zu wiederholen. Zum Schluss des Kapitels identifiziert Elsdon Passagen in Jarretts Spiel, die sich auch in anderen Auftritten wiederfinden und damit eine Art kompositorischer Formung implizieren.

Kapitel sieben betrachtet “The Köln Concert” im Zusammenhang mit der zeitgleich populären New-Age-Musik. Elsdon argumentiert, Jarretts Publikum sei divers gewesen und das Album habe unterschiedliche kulturelle Zwecke erfüllt. Er reflektiert über die Idee von “New Age”-Musik und was diese in den 1970er und 1980er Jahren bedeutet habe, und er vergleicht George Winstons “Autumn” aus dem Jahr 1980 mit Jarretts Stil des “Köln Concert”, Ähnlichkeiten und mögliche Einflüsse sowohl im musikalischen Gehalt wie auch in der kommerziellen Wirkung identifizierend.

Elsdons Buch ist eine gut zu lesende, hochinteressante, herausfordernde und zugleich nachdenkenswerte Lektüre. Es lässt einen die eigenen Für und Wider zum “Köln Concert” hinterfragen, auch, indem der Autor die verschiedenen Aspekte der Albumrezeption betont: seine musikalische Rezeption, seine ästhetische Rezeption und seine konnotative Rezeption. Die Tatsache, dass “The Köln Concert” Kultstatus errungen hatte, macht es für eine solche Analyse besonders geeignet. Elson balanciert seine unterschiedlichen Ansätze ans Thema auf eine Art und Weise, dass der Leser selbst dann Gewinn aus der Lektüre zieht, wenn er die analytischeren Passagen überspringt.

Alles in allem: eine hoch empfohlene, Ohren öffnende Lektüre!

Wolfram Knauer (April 2013)


Die Geschichte des Jazz in Lübbecke
herausgegeben vom Jazz Club Lübbecke
Lübbecke 2013 (Jazz Club Lübbecke)
96 Seiten, 14,95 Euro
ISBN: 978-3-928959-57-5

2013luebbeckeIm Juli 1957 gründete sich in Lübbecke ein Jazz-Club, der – inklusive einer längeren Aktivitätspause und Wiedergründung bis heute besteht. Ohne wirklich runde Jubiläumszeit legt der Club jetzt ein Büchlein vor, das seine Aktivitäten in den vergangenen 55 Jahren dokumentiert.

Das Buch enthält Dokumente wie Eintrittskarten, die Anwesenheitsliste zur Gründung des Jazzclubs, Faksimiles von Programmzetteln, Plakaten und Zeitungsartikeln, und vor allem auch zahlreiche Fotos der Clubgeschichte. Der Text verzeichnet minutiös die Engagements fremder Band und die Aktivitäten der Musiker aus den eigenen Reihen, listet, offenbar entlang der Clubnotizen, Vorstandswechsel, Besucherzahlen, Auseinandersetzungen mit der Politik, Programm-Höhepunkte und die Schwierigkeiten, die die ehrenamtliche Arbeit in einem solchen Club so mit sich bringt.

Einige der Clubmitglieder machten sich später einen Namen, Klaus Stratemann etwa, dessen Buch “Duke Ellington. Day by Day and Film by Film” weltweit als Referenzwerk der Ellingtonforschung gilt, oder August-Wilhelm Scheer, der als Hauptgesellschaft der der IDS Scheer internationalen geschäftlichen Erfolg hatte und über diverse Stiftungen (und als Baritonsaxophonist) seine Liebe zum Jazz auch weiter pflegte.

“Die Geschichte des Jazz in Lübbecke” ist ein sorgfältig zusammengestelltes Büchlein, das wohl vor allem für all jene interessant ist, die dabei und vom Clubleben irgendwann selbst betroffen waren. Der Text ist nüchtern und trocken; die Aufzählungen der vielfältigen Aktivitäten machen das Lesen für Nicht-Eingeweihte eher mühsam. Ein Lesebuch also ist dies weniger, als Chronik aber hält es die ehrenamtliche Arbeit eines Jazzclubs von den 1950er Jahren bis heute fest, wie er ähnlich sicher auch anderswo nachzeichenbar wäre.

Wolfram Knauer (März 2013)


Why Jazz Happened
von Marc Myers
Berkeley 2013 (University of California Press)
267 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-0.520.26878-4

2013myersMarc Myers nimmt sich die Jazzgeschichte in seinem neuen Buch mit der großen Frage “Warum?” an. Er fragt also nach den Gründen für Entwicklungen im Jazz, verknüpft stilistische Wendungen in der Musik mit dem politischen, geschäftlichen, gesellschaftlichen, auf jeden Fall aber außermusikalischen Geschehen und öffnet dem Leser damit ein Fenster in die Beziehungsgeflechte, in denen Musik sich abspielt. Er beginnt nicht am Anfang des Jazz, und er hört nicht im Hier und jetzt auf, sondern nimmt sich Kapitel heraus, die ihm symptomatisch erscheinen für ein Zusammenspiel zwischen Musik und den Bedingungen, in denen sie passiert.

In seinem ersten Kapitel nimmt Myers sich den Aufnahmebann vor, den die amerikanische Musikergewerkschaft Anfang der 1940er Jahre ausrief, um damit die Plattenfirmen zu neuen Verträge mit ihren Gewerkschaftsmitgliedern, also den Musikern, zu zwingen, in denen eine angemessene Vergütung ihrer Platten auch beim Spielen im Radio garantiert werden sollte. Der Aufnahmebann fiel genau in jene Jahre, in der junge Bebop aufkam, dessen Entwicklung deswegen kaum in Schallplattendokumenten festgehalten ist.

In seinem zweiten Kapitel wendet sich Myers dem Einfluss des Rundfunks auf die Ausbreitung des Bebops zu, untersucht in Kapitel 3 dann, welche Auswirkungen die G.I. Bill, die aus der Armee entlassenen Kriegsveteranen eine Ausbildung garantierte, auf den musikalischen Standard der Nachkriegsmusiker und ganz konkret auf die Ausbildung des Cool Jazz hatte.

In Kapitel 4 untersucht er die Konkurrenz unterschiedlicher Schallplattenstandards, also Schellack, EP, 10-Inch- oder 12-Inch-LP. Er fragt, inwieweit der Trend zu suburbanen Lebensformen in den 1950er Jahren den West Coast Jazz begünstigt habe (Kapitel 5), beschreibt die Bildung einer neuen Urheberrechtsorganisation, BMI, die der altbewehrten ASCAP Konkurrenz machte und beschäftigt sich mit den Bezügen zwischen R&B und Hardbop (Kapitel 6).

Die Bürgerrechtsbewegung jener Jahre setzt Myers in Beziehung zur Faszination vieler Musiker mit Afrika und mit spirituellen Themen (Kapitel 7). Er beschäftigt sich mit dem Erfolg der Popmusik und speziell der Beatles und den unterschiedlichen Reaktionen des Jazz auf diese Entwicklung (Kapitel 8). Er fragt nach der Entfremdung der Avantgarde vom breiten Publikum (Kapitel 9) und den Zusammenhängen zwischen den Zwängen von Festival- und Stadienkonzerten nach Beleuchtung und Lautstärke und der Fusion-Musik der 1970er Jahre.

Marc Myers, der regelmäßig fürs Wall Street Journal schreibt und einen in der Jazzwelt sehr beliebten Blog verfasst, ist ein lesenswerter Autor; sein Ansatz, die Jazzgeschichte einmal mit Fragen zu konfrontieren, die einem vielleicht nicht sofort in den Sinn kommen, macht das Buch “Why Jazz Happened” zu einer angenehm lesbaren und selbst Jazzexperten neue Facetten aufzeigenden Lektüre.

Wolfram Knauer (März 2013)[:]