Archiv der Kategorie: Jazzinstitut

Destination Unknown:
Die Zukunft des Jazz (blog)

Random thoughts / zufällige Gedanken
zum 18. Darmstädter Jazzforum 2023


20. Juni 2023
(10) Diversity…

… war ja das Thema unseres letzten Darmstädter Jazzforums, aber natürlich spielt der Bereich der Diversität auch eine Rolle, wenn wir über die Zukunft dieser Musik reden. Wir stellen fest: Jazzmusiker:innen in Deutschland sind nach wie vor zu einem großen Prozentsatz männlich, überwiegend weiß („caucasian“ sagt man im Amerikanischen), stammen meist aus eher gebildeten Familien und haben in der Regel auch selbst studiert.

Wie, fragten sich beispielsweise die Verantwortlichen des Deutschen Jazzpreises, der in den ersten Jahren für die mangelnde Diversität in Beirat, Jury und bei den Preisträger:innen kritisiert wurde (Musicians For), kann man all das ändern? Konzepte gibt es ja schon lange: affirmative action in den USA, Quotenregelung bei uns.

Und ja, es hat sich einiges geändert in den letzten Jahren: Öffentliche Jurys haben in der Regel Geschlechterparität (wenn nicht, ist der Ärger – berechtigt! – vorprogrammiert). Es gibt namhafte Preise und Förderprogramme, die darauf achten abwechselnd Künstlerinnen und Künstler zu bedenken. Die Awareness gerade für die Präsenz von Musikerinnen im Jazz ist auch bei den Musikern selbst angelangt, die entweder aus strategischen Gründen Bands mit Musikerinnenanteil gründen („macht sich gut auf Anträgen“) oder aber (eigentlich immer öfter, und das ist der Fortschritt, den zumindest ich hier sehe) erkennen, dass Bands mit Musikerinnen und Musikern einen ganz anderen kreativen Weg einschlagen können, neue Räume aufmachen, zu einem anderen Aufeinander-Reagieren, Miteinander-Umgehen führen.

Ich neige, muss ich an dieser Stelle betonen, zum Optimismus. Ich sehe diese letzte Entwicklung bei zahlreichen jungen Ensembles (also Musiker:innen in ihren 20ern, frühen 30ern), für die Geschlechterbalance fast schon eine Selbstverständlichkeit ist, während man noch vor einigen Jahren mit Künstler:innen (und zwar wirklich sowohl Musikern wie auch Musikerinnen) darüber trefflich streiten konnte. Also alles gut? Mitnichten!

Der Jazz, behaupten wir gern – übrigens auch im Teaser für die letzten, also das 16. (Jazz und Politik) und das 17. Darmstädter Jazzforum (Diversität im Jazz), – bildet idealerweise die Diskurse unserer Gesellschaft ab. Wo aber sind dann die Musiker:innen migrantischen Backgrounds? Wo findet sich die „letzte Generation“ auf der Jazzbühne wieder? Wo kämpfen Instrumentalist:innen für die Rechte marginalisierter Gruppen unserer Gesellschaft?

All das sind auf jeden Fall Themen, die uns beschäftigen werden während des 18. Jazzforums, etwa wenn Evi Filippou über ihre Arbeit mit Schüler:innen im Grundschulalter spricht, wenn James Banner sein class-work-Projekt vorstellt, bei dem er vor allem Kolleg:innen eingeladen hat, die eher aus einem Arbeiter- als einem Bildungsbackground kommen, wenn Julia Kadel die Beweggründe schildert, warum 2022 die Initiative Queer Cheer gestartet wurde (die übrigens den Sonderpreis der Jury des Deutschen Jazzpreises erhielt), wenn Christopher Dell Improvisation als Modell des gesellschaftlichen Zusammenlebens begreift, wenn Sabina Akiko Ahrendt über den Zusammenhang von Musik und politischem Aktivismus berichtet, wenn Mariana Bodarenko darüber reflektiert, welche Rolle Musik in Zeiten des Krieges spielt.

Wir können die Zukunft nicht voraussehen. Wir können uns auf sie vorbereiten. Wir können Räume schaffen, Räume sichern, in denen die Zukunft erlebbar sein wird. Wir können darauf hinwirken, dass es beim Sprechen über Diversität irgendwann nicht mehr um Quoten und Schuldzuweisungen geht, sondern um die kreative Kraft der Vielfalt. Auch im Jazz. Aber nicht nur im Jazz. An jeder Stelle, an der wir uns einbringen. Bewusstsein. Bewusstseinswandel. Nicht bei anderen. Bei uns selbst. So geht Zukunft. (finde ich…)

Wolfram Knauer (20. Juni 2023)


1. Juni 2023
(9) Ohne Vergangenheit keine Zukunft

Es ist ja eine Binsenweisheit, dass das „Neue um des Neuen willen“ eigentlich ein alter Hut ist. Spätestens seit den 1970er Jahren geht das nicht mehr, diese Forderung, Jazz, Musik, Kunst ganz allgemein habe sich immer weiter zu entwickeln, immer neue Spielformen, Klänge, Approaches zu erfinden, dürfe sich auf keinen Fall wiederholen.

Tatsächlich hält sich diese Denkweise aber bis heute, zumindest bei uns in Deutschland, und sie ist wahrscheinlich auch dem Kulturdiskurs der Nachkriegszeit geschuldet, der in der Entwicklung ja immer die Hoffnung des Sich-Neu-Erfindens sah … verstehen Sie: sich neu erfinden in einer Gesellschaft, die an die zumindest jüngere Vergangenheit am liebsten gar nicht mehr denken wollte.

Die Amerikaner haben weniger Probleme mit dem Verweis auf Tradition, mit dem Nebeneinander-Stehenlassen von stilistischen Richtungen. Naja, stimmt nicht ganz, Wynton Marsalis führte, zumindest in New York (oder in Europa) durchaus zu Diskussionen, als er in den 1990er Jahren eine swing- und harmonie-bezogene Ästhetik des Jazz verteidigte und Fusion-Sounds oder improvisatorische Experimente aus der freieren Ecke als ganz interessant, „aber warum muss man das auch Jazz nennen“ bezeichnete und deshalb seinerseits von der Avantgardeszene des Big Apple (und darüber hinaus) angefeindet wurde. Von Mickymaus-Bands reden wir also gar nicht, wenn wir Tradition meinen, sondern erst einmal von kreativen Versuchen aus der Jazzgeschichte heraus eine eigene Stimme zu gewinnen. Marsalis ist das ja durchaus gelungen: sowohl als Trompeter wie auch als Komponist.

Wo finden wir das hierzulande? Ach ja, Till Brönner, auf jeden Fall, er hat ähnliche Anwürfe auszuhalten aus einer jungen sich als Experiment verstehenden Jazzszene; er ist ähnlich gesettled in seinem Erfolg. Er setzt sich andererseits seit Jahren für ein House of Jazz Berlin ein, auch wenn das nicht seine eigene Klangfarbe widergeben würde. Tills Musik ist … ich wollte schreiben massenkompatibel, aber stapeln wir mal nicht zu hoch, auf jeden Fall aber kompatibel mit vielen musikalisch offenen Menschen, die auch Jazz gern hören, zumindest wenn er melodisch ist, aber „wenn es zu wild wird, ist das nichts mehr für uns“.

Tatsächlich vertritt Brönner genauso den Diskurs um die Zukunft dieser Musik hierzulande wie die in ihrem musikalischen Ansatz sehr unterschiedlichen Künstler:innen, die etwa mit dem diesjährigen Deutschen Jazzpreis ausgezeichnet wurden, genauso wie aber auch die (inzwischen nicht mehr allzu zahlreichen) Trad-Bands, die sich der Musik der 1920er und 1930er Jahre oder Musiker, die sich dem swingenden Mainstream verschrieben haben, sofern sie denn einen eigenen Klang daraus generieren konnten. Letztere Szene ist in diesem Diskurs (also dem um die Zukunft des Jazz) übrigens kaum zu hören, wird, wenn sie erklingt, auch nicht sonderlich wahr- bzw. ernstgenommen, unter anderem, weil ihre Fürsprecher oft gerade nicht die Musiker:innen sind, sondern Fans, die eher ideologisch als musikalisch argumentieren. Wenn man genau hinhört, dann lassen sich durchaus Bands entdecken, denen eine eigene Positionierung auch innerhalb traditioneller Spielarten des Jazz gelungen ist, die Echoes of Swing etwa, sicher Musiker wie Trevor Richards oder Reimer von Essen, Martin Sasse, Thilo Wagner und andere.

Deren Musik macht enorm Spaß. Sie wirkt kein bisschen museal, weil sie im Hier und Jetzt erklingt und eine Energie erzeugt, die sich direkt mitteilt. Und doch wird sie, zumindest in der Jazzszene als rückwärtsgewandt wahrgenommen. Gegenbeispiele sind etwa Uwe Obergs Ellington-Projekt, der Lacy Pool, oder „Transformations and Further Passages“ des Clarinet Trio, ein Projekt, das sich Kompositionen deutscher Jazzmusiker:innen aus den 1950er und 1960er Jahren annimmt.

Was also ist die Zukunft des Jazz? Ganz bestimmt geht es bei ihr nicht nur um das „bislang Un-gehörte“. Es geht um das Bewusstsein, dass Musik Positionen markiert, musikalische, ästhetische, gesellschaftliche, und dass man sich als Musiker:in dieser Positionen klar sein sollte, im Konzert, in der Entscheidung fürs nächste Albumrepertoire, in der Ansprache an sein Publikum. Wenn überhaupt, ist Zukunft nämlich keine Zeit-, sondern eine Ortsbestimmung. Sie bezeichnet ein Ziel, auf das man zusteuert, auf das man aber nur zusteuern kann, wenn man weiß, wo man sich eigentlich befindet. Position beziehen aber lässt sich tatsächlich von jeder stilistischen Warte aus. Es gehört nur der Mut dazu, diese immer wieder neu zu beschreiben und sie in Beziehung zur aktuellen Wirklichkeit zu bringen.

(Wolfram Knauer, 1. Juni 2023)


9. Januar 2023
(8) … links 2 3 4, rechts 2 3 4, oder: Die Künstliche Intelligenz und Jazz

Mark Schieritz hat eine französische Website entdeckt, die rein durch „Künstliche Intelligenz“ alle möglichen Begriffe danach verortet, ob sie politisch „links“ oder „rechts“ stehen (https://linksoderrechts.delemazure.fr/). Das führt zu kuriosen Zuordnungen wie etwa: Rose = links; Tulpe = rechts; Tomate = links; Roggen = rechts; zwei = links; drei = rechts. Schieritz spiegelt probehalber zahlreiche Begriffe seines Alltags durch den KI-Filter und sinniert danach, (1.) wie die Einordnung wohl zustande gekommen sein mag und (2.) wie er selbst über sie denkt. Der französische Informatikstudent Theo Délemazure, der die besagte Website programmiert hat, nutzt dafür die Software GPT3, die den eingegebenen Begriff quasi in einer Art stumpfer Kontextsuche im Internet abarbeitet.

Schieritz’s Artikel ist höchst amüsant zu lesen (Die Zeit, hinter der Bezahlschranke). Er hat Délemazures KI übrigens auch auf musikalische Begriffe befragt: Georg Friedrich Händel = rechts; Johann Sebastian Bach = links; C-Dur = rechts; D-Dur = links. (Schieritz: „D-Dur klingt nach Revolution, C-Dur nach Restauration. Fragen Sie nicht!“) Was mich neugierig machte. Den Jazz verorten wir ja immer schon Links (richtig!). Laut Délemazure hat er das gemeinsam mit Neuer Musik, mit Rock (aber nicht mit Rechtsrock), mit Barock. Klassik ist links, Klassische Musik dagegen rechts. Lydisch ist links, phrygisch rechts. Count Basie: links; Glenn Miller: rechts. Und dann gibt es auch genügend Widersprüche: Charlie Parker: links, aber Bebop: rechts. Selbst im Jazzinstitut Darmstadt stehen wir nicht alle auf derselben Seite, zumindest, wenn es nach der Erkenntnis der Künstlichen Intelligenz geht.

Aber vergnügen Sie sich selbst damit: Es macht großen Spaß, die Website „links oder rechts“ nach allen möglichen Begriffen, Namen, Kontexten zu befragen. Und tatsächlich kann man die Zukunft (sprich: die künftigen Ergebnisse) auch beeinflussen, kann also zurückspiegeln, wenn ein Ergebnis einem nicht richtig erscheint.

Was hat das alles mit der Zukunft des Jazz zu tun? Nun, gar nichts… oder aber ganz viel. Tatsächlich wird allerorten daran geforscht, wie sich Künstliche Intelligenz und Musik zusammenbringen lassen. Schon heute etwa eignen sich Computer zum Analysieren und Auswerten von Musik (Jazzomat). Man könnte „neue Musik“ historischer Jazzgrößen generieren lassen, wie kein Geringerer als Kenny G kürzlich vormachte, als er Künstliche Intelligenz mit Samples von Stan Getz’s Saxophonton fütterte und sie dann eine neue Melodie „erfinden“ ließ (AI and Jazz). Oder aber: George E. Lewis, Posaunist, Komponist und Musikwissenschaftler, arbeitet seit langem an einem Computerprogramm, das es ihm oder anderen ermöglicht, zusammen mit dem Computer zu improvisieren (MIT lecture). Interaktion, Neu-Rekreation, Analyse – die neuen Technologien lassen sich also für alles Mögliche einsetzen.

Wie aber lassen sie sich in einer Musikpraxis einsetzen, die so stark von Individualität, Authentizität, Einmaligkeit geprägt ist wie der Jazz? Oder anders gefragt: Ist diese Art der Individualitätsästhetik, die den Jazzdiskurs bis in die Gegenwart prägt, eigentlich für alle Zukunft festgelegt? Könnte man nicht vielleicht mal drüber sprechen? Die Diskussion, die es allerorten über die Hegemonie einer europäischen Werteästhetik gibt, betrifft ja durchaus auch die Vorstellungen davon, was denn eigentlich gut ist in einer Musik, was als fortschrittlich erachtet wird, wie wichtig Progressivität für die Entwicklung einer Kunstform ist. Oder ob nicht das Alternativmodell zu Individualität die Community sein könnte, ob Fortschritt nicht auch das Neuentdecken vermeintlich alter Praktiken mit einschließt. Zur Zukunft einer jeden Kunstform gehört nun mal, dass wir laufend neu aushandeln, welchen Raum wir ihr geben, wie sie am gesellschaftlichen und kulturellen Diskurs teilhat, wie sie damit sich selbst immer wieder neu definiert, ihre unterschiedlichen Kontexte auslotet, ihren Stellenwert im Verband der aktuellen Künste festigt, ihr politisches Gewicht einbringt, ihre kreative Kraft weiterentwickelt. In allen Kunstformen, und damit auch im Jazz!

Julia Hülsmann = links; Christopher Dell = rechts; Till Brönner = links; Angelika Niescier = rechts????

Ach, Künstliche Intelligenz, Du hast noch einiges zu lernen!

Wolfram Knauer (9. Januar 2023)


3. Januar 2023
(7) Jazz ist die Mutter des HipHop

Unlängst stolperte ich über ein Video des Pianisten Robert Glasper, der 2019 in einem „Jazz-Night in America“-Video erklärte „why Jazz is the mother of HipHop“.  Robert Glasper über Jazz und HipHop

Wenn es nach mir geht, brauche ich diese Erklärung gar nicht. Hört man sich die Samples von DJs wie Africa Bambaataa der frühen HipHop-Ära an, ist für mich evident: Dem HipHop fließt Jazz-DNA in den Adern. Und es ist kein Blick über den Großen Teich oder in die Vergangenheit nötig, um die Verbindung zwischen HipHop und Jazz zu finden. Man braucht sich bloß junge Jazz-Schlagzeuger wie Silvan Strauss anzuhören.  Album „Facing“ von Silvan Strauss

Längst tue ich mich schwer damit, Jazz oder irgendeine andere Musikform als ein abgeschlossenes Genre anzusehen. Die Zuschreibung von unterschiedlicher Musik zu festgelegten Genre ist ein künstliches (kein künstlerisches) Konstrukt.

Die Eingrenzung und Legitimationsversuche des Jazz in Abgrenzung zur populären Musik machen mich regelmäßig stutzig und das Naserümpfen, wenn es um HipHop-Musik geht, wirft für mich einige Fragen auf. Ist es nicht leichter, Jazz und HipHop, sei es historisch oder musikalisch betrachtet, in den Zusammenhang zu stellen, als sie zu unterscheiden? Und wäre es nicht klüger, in der ständigen Debatte um den hohen Altersdurchschnitt bei Jazzfans von einer reaktionären Denke abzusehen?

Denn wirft man einen realistischen und gegenwartsbezogenen Blick auf das Ganze, stellt man fest, dass die jungen Leute Jazzstandards wegen der HipHop-Samples im Ohr haben und sich dessen gar nicht bewusst sind. Worüber sie sich aber bewusst sind, ist, dass MCs und DJs Zukunftsmusik spielen, sich immer wieder selbst überhöhen und gegenseitig steigern und damit das Innovative in der Szene befeuern, den jungen Leuten eine Zugewandtheit zur Zukunft vermitteln. Virtuos batteln sich Rapper:innen während der Cypher; Freestyle bedeutet Improvisation, bedeutet Innovation. Und das kennen wir doch irgendwoher.

Das alles kann man anerkennen, kann den Geist, der durch diese Musik weht, bündeln und das Potenzial, das in der Innovationsfähigkeit von Jazz und HipHop liegt, nutzen, um für das Große und Ganze eine vorteilhafte Zukunft zu gestalten.

Marie Härtling (3. Januar 2023)


20. Dezember 2022
(6) Jazz: die politischste aller Künste… wirklich?

Wir machen’s ja auch, zählen auf, wofür der Jazz alles steht: Individualität, Freiheit, Offenheit, Toleranz, Diversität, Experiment, Fortschritt, Zukunft… Aber tun wir der Musik mit diesen Aufladungen wirklich etwas Gutes? Oder entstammen sie nicht tatsächlich unseren politischen Strategien, dem Jazz, also „unserer“ Musik, zu mehr Ansehen und Respekt zu verhelfen, zu mehr Spielräumen, zu mehr Förderung?

Tatsächlich ist Jazz für jede:n von uns ja ganz unterschiedlichste Dinge. Für mich ist Whitney Ballietts Definition des „sound of surprise“ immer noch eine der stimmigsten. Ja, im besten Fall überrascht mich Jazz – mehr als ich das von beinahe jeder anderen Kunstform erwarte… aber Stop! Da geht schon wieder der Jazzer in mir durch, der dem Jazz gleich noch ein „mehr“ an Fähigkeiten zuspricht als der zeitgenössischen Neuen Musik, als avancierten Formen populärer Musik, als der Avantgarde in Bildender Kunst, Tanz, Theater oder Literatur…

Und ähnlich ist es ja mit dem „Repertoire“, also mit den Rückbesinnungen auf die großen Aufnahmen der Jazzgeschichte. Tatsächlich fallen diese oft genug aus unserem Diskurs einer fortschritts-gerichteten Kunstform. Der „Mainstream“ – also der Jazz-Mainstream, was ein anderer Begriff ist als der „Mainstream“ an sich… wieder so ein Thema, wie nämlich Begriffe so oft etwas anderes meinen, wenn man sie in unterschiedlichen Kontexten nutzt… der Mainstream also taucht in der Förderung unserer Musik nicht auf. Er „forscht“ offenbar nicht genug, er verlässt sich aufs „Gefällige“: der Blick in den Rückspiegel kann doch nicht die Zukunft sein! Vom traditionellen Jazz mal ganz abgesehen. Schauen Sie nur auf die Gewinner des Deutschen Jazzpreises.

Ich will das gar nicht kritisieren. Ich glaube, dass es Musik gibt, die der Förderung eher bedarf als andere, und ich glaube, dass wir hierzulande durchaus ein ganz gutes System gefunden haben, „Räume“ für kreative Musik zu schaffen und zu sichern. ABER: Sollten wir uns nicht ehrlich machen, den Jazz als nur eine von zahlreichen Avantgarden identifizieren und vielleicht das wirklich Herausragende in den Vordergrund stellen: dass er nämlich eigentlich gar nicht so in unser europäisch geprägtes Avantgarde-Konzept passt, dass in ihm als einer afro-diasporischen Tradition andere Wertmaßstäbe möglich sind und gelebt werden, dass er uns im Idealfall immer auch mit unseren eigenen Missverständnissen gegenüber dieser Musik konfrontiert?

Zugegeben: Es fällt mir schwer, auf die Superlative zu verzichten. Sie funktionieren übrigens auch ganz gut im Gespräch mit Jazzfreunden genauso wie mit Jazzfernen. Und für mich ganz persönlich handelt Jazz ja von genau all dem: von Individualität, Freiheit, Offenheit, Toleranz, Diversität, Experiment, Fortschritt, Zukunft, und zwar mehr als jede andere Form von Musik. Das allerdings hat mehr mit meinem eigenen Fokus zu tun als mit der Musik selbst.

Das sollten wir uns halt ab und zu bewusst machen, wie zahlreiche Argumente für den Jazz mehr unserer Liebe zu der Musik geschuldet sind als dem objektiven Blick auf sie. Und wie sie dabei durchaus auch unseren Blick darauf verschließen, was eine unbefangenere Auffassung von Jazz denn zum allgemeinen Kulturdiskurs beitragen könnte.

Wolfram Knauer (20. Dezember 2022)


31. Oktober 2022
(5) es geht voran… (women in jazz)

Zukunft ist ja immer auch Gegenwart und Vergangenheit, weil wir sie aus unserer Erfahrung des Erlebten heraus gestalten und weil wir jetzt anfangen müssen, Dinge zu verändern, die wir anders haben wollen. Das geht mir dieser Tage durch den Kopf, wo ich in deutschen und amerikanischen Zeitungen von Terri Lyne Carringtons Veröffentlichung „New Standards. 101 Lead Sheets by Women Composers“ lese (z.B. die tageszeitung). Das Thema „Women in Jazz“ ist ja kein Neues. Zugleich ist es eins, an dem sich die Veränderungen in unserer Szene fast schon beispielhaft nachverfolgen lässt. Bis mindestens in die 1970er Jahre hinein waren Jazzmusikerinnen / Instrumentalistinnen rar – zumindest schien dies so, weil die Presse vor allem über ihre männlichen Kollegen berichtete.

Immer mal wieder gab es Vorstöße in der Jazzpresse, dann in den 1980er Jahren erste Veröffentlichungen, die dokumentieren sollten, dass es da eine eklatante Lücke der Jazzgeschichte gab. Rosetta Reitz’s Plattenreihe „Women in Jazz“ (1980-1981), Sally Placksins Buch „Women in Jazz“ (1982), Linda Dahls „Stormy Weather. The Music and Lives of a Century of Jazzwomen“ (1984) veränderten das Narrativ. Sie dokumentierten, dass es über die gesamte Jazzgeschichte hinweg immer Musikerinnen gegeben hatte, Vokalistinnen genau wie Instrumentalistinnen. Sie veränderten also die Wahrnehmung von Geschichte, nicht so sehr aber die Gegenwart, die nach wie vor geprägt war von einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Musikerinnen in einer männlich geprägten Szene.

Es waren erst singuläre, dann immer mehr Veranstaltungen, Workshops, Konzerte, Festivals, die die Präsenz von Frauen im Jazz in den Fokus nahmen. Und es gab immer öfter Forderungen nach einer geschlechterausgewogenen Besetzung von Gremien, nach Programmen, bei denen die Quote an Musikerinnen (oder zumindest Bandleaderinnen) zumindest genauso hoch wie die der Männer ist. Es gab ein Bewusstsein dafür, dass sich eine wünschenswerte Zukunft nur dann erreichen lässt, wenn man in der Gegenwart für Veränderungen sorgt. Paritätisch besetzte Jurys sind mittlerweile eher die Norm als die Ausnahme; Festivals oder Workshops, die nicht auf eine zumindest angemessene Repräsentanz von Künstlerinnen achten, müssen mit einem wohl-verdienten Shitstorm rechnen. Bei den Hochschulprofessuren und in den Rundfunk-Bigbands bleibt noch einiges zu tun, aber grundsätzlich ist das Thema überall angekommen. Es ist ja ein Thema nicht nur im Jazz, sondern eigentlich in der ganzen Gesellschaft, also lässt es sich so einfach nicht mehr beiseite drängen. Auch beim Darmstädter Jazzforum haben wir einen Fokus auf die Thematik gelegt (z.B. 2015: Gender and Identity in Jazz; 2021: Roots | Heimat: Diversität im Jazz), und doch müssen auch wir uns vorwerfen lassen, unser Programm nicht immer vorbildlich gestaltet zu haben: Die mangelnde Geschlechterausgeglichenheit herrscht ja nicht nur im Jazz, sondern genauso in der Jazzforschung oder Jazzpublizistik.

Jetzt also Terri Lyne Carringtons „New Standards“: ein mindestens doppeldeutiger Titel ihres Buchs, das einerseits nach einem anderen Repertoire sucht, das Musikerinnen sichtbarer (hörbarer) macht, das aber andererseits auch neue Standards im Jazzalltag verlangt – und zwar nicht nur verlangt, sondern dafür gleich das nötige Material zur Verfügung stellt. Damit aber verändert Carrington eben nicht nur die Gegenwart, ihr Buch – genauso wie ihre Arbeit am von ihr 2018 gegründeten Berklee Institute of Jazz and Gender Justice – ist auf die Zukunft des Jazz gerichtet.

Zukunft – so viel sei hier also zusammenfassend bemerkt, besteht niemals nur aus Hoffnung; sie braucht Aktivist:innen in der Gegenwart. Das ist uns allerdings auch nicht gerade neu; gesellschaftlich erleben wir das ja zurzeit überall. Wenn wir über Zukunft sprechen, müssen wir also immer auch einen Blick auf die Diskurse der Gegenwart richten, nicht so sehr kritisch hinterfragend als vielmehr ermutigend. Je mehr Meinungen da zu Worte kommen, je mehr Menschen sich mit dem Thema identifizieren, desto besser lässt sich eine Zukunft aushandeln, in der sich alle mitgenommen fühlen.

(Wolfram Knauer, 31. Oktober 2022)


6. Oktober 2022
(4) … unendliche Weiten…

Theo Croker hat vor kurzem ein Original aufgenommen mit dem Titel „Jazz Is Dead“. Pirmin Bossart überschreibt seinen Artikel im Herbstheft des Schweizer Magazins Jazz ’n‘ More „Jazz ist tot – aber die kreative Musik lebt“ und zitiert Croker, der Genres für veraltet hält und findet, dass das, was einige HipHopper heute machen „mehr Jazz ist als das, was Jazzmusiker machen“.

Da sind wir dann also bei der Frage, die den Jazz schon seit Jahrzehnten begleitet und die in den letzten Jahren – unter veränderten Vorzeichen – wieder laut geworden ist: Behindert das Label „Jazz“ nicht eher die Wahrnehmung  der Musik als eine kreative, die Gegenwart widerspiegelnde Kunst? Trägt das Label nicht viel zu viel Ballast mit sich herum und wäre uns nicht allen geholfen, wenn wir endlich darauf verzichten würden, Musik in Genres einzuteilen?

Meine eigene Meinung: Ich finde „Jazz“ einen Klasse-Begriff, aber auch, weil ich ihn so lange kenne und weil er nun mal für die Musik steht, der ich mich emotional so stark verbunden fühle. Ich finde, dass es Labels braucht, um über etwas zu sprechen – hätte ich keine Genrelabels, müsste ich jedes Mal neu definieren, von was ich gerade rede (natürlich, das kann auch schön sein, ist aber ziemlich mühselig…). Das Problem sind – meiner Meinung nach – nicht die Labels, sondern die Tendenz vieler Rezipientinnen und Rezipienten, diese Labels absolut zu setzen, die Schubladenbeschriftung also mit der Sache selbst zu verwechseln. Das Problem ist immer noch, dass „Jazz“ als ein klar umschreibbares Genre verstanden wird statt als eine musikalische Praxis. Das Problem wurde durch die Tonträgerindustrie noch befördert, die sehr bewusst labelte – „file under jazz / rock / country“ etc. –, um ihre Produkte gezielt an potentielle Käufer:innen vermarkten zu können.

Eigentlich aber ist es egal, wie man es benennt, solange man sich der Offenheit dieser Musik bewusst bleibt. Persönlich habe ich nie ganz verstanden, dass ausgerechnet in der – meiner Meinung nach – offensten Musik, dem Jazz, so starre ästhetische Diskussionen über die Zulässigkeit von stilistischen Entwicklungen möglich waren, wo doch diese Musik – nochmals: meiner Auffassung nach – gerade von In- statt Exklusivität lebt. So verstehe ich dann auch den Satz von Theo Croker. Wenn man „Jazz“ als eine musikalische Praxis erkennt, lässt er sich in allen möglichen musikalischen Projekten ausmachen. Kritiker warnen, das führe zur Beliebigkeit, tatsächlich aber fordert ein solches Verständnis halt einfach zum offeneren und zugleich genaueren Zuhören auf. Und warum sollte man sich nicht ab und zu darüber streiten, ob eine Aufnahme, ob ein Konzert, ob eine musikalische Haltung für einen persönlich noch die Kriterien dessen erfüllt, was „Jazz“ ist?

Sofern Kunst kreativ ist, verändert sie sich fortlaufend, und mit ihr die ästhetischen Kriterien. Wir alle, die wir irgendwie mit dieser Musik zu tun haben, ob professionell oder nicht, müssen uns halt zu dieser Veränderung verhalten. Ob wir sie akzeptieren oder nicht, geschenkt! Kreativität fordert eben nicht nur die Kreativen selbst, sondern auch ihre Rezipienten. Darum, genau darum ist Kunst, insbesondere auch Musik, ja ein Spiegel der Gesellschaft. Gerade in der Kunst fordern Experimente oft zum Widerspruch heraus, weil sie Denkstrukturen in Frage stellen, in denen wir es uns eigentlich ganz bequem eingerichtet haben.

Also, zurück zum Darmstädter Jazzforum. Das haben wir mit einem Sun Ra-Zitat überschrieben:  Destination unknown: Die Zukunft des Jazz. Die Ungewissheit des Ziels, sie ist uns ja allen irgendwie bekannt: Wir wissen in der Regel, woher wir kommen, wir wissen, in welchen Strukturen wir leben. Aber wie wir die Zukunft gestalten, wie diese Zukunft unser eigenes Leben und Denken beeinflussen wird, das wissen wir eben nicht. Das Unbekannte, das Unbestimmte ist allerdings nicht nur furchteinflößend, es beschreibt zugleich die Hoffnung auf eine „bessere“, „gerechtere“ Welt.

Entwicklung jedenfalls ist eigentlich immer ein Schritt … nach vorne.

(Wolfram Knauer, 6. Oktober 2022)


4. Oktober 2022
(3) Wer Visionen hat…

Ich hab’s ja schon zweimal angekündigt. Heute also „Visionen“. Und, nein, man muss nicht zum Arzt gehen, wenn man Visionen hat, wie Helmut Schmidt das einst so schön geraten hat. Es reicht, die Visionen regelmäßig mit der Wirklichkeit abzugleichen, sich also bewusst zu bleiben, dass die Vision eventuell ein Fernziel ist, auf das man hinarbeiten kann, das sich dabei allerdings einerseits selbst immer wieder verändert, das andererseits aber schon allein im Denken die eigene Wirklichkeitswahrnehmung und in der Arbeit am Weg oder im Sprechen über ihn auch tatsächlich die Realität beeinflusst.

Konkret also: Was sind denn Visionen? Es ließe sich in unserem Zusammenhang über die musikalische Vision spekulieren, die Vorstellung beispielsweise, eine zumindest für einen selbst bislang unerhörte Zusammenklangskonstellation zu bewerkstelligen, oder die Vorstellung einer interkulturellen Improvisation, bei der alle beteiligten Künstler:innen den Konventionen folgen, denen Improvisation in ihren jeweiligen Kulturen unterliegen. Eine Vision könnte sich einzig aufs Instrument beschränken, auf technische  Details, auf die Beherrschung desselben oder auf mechanische Veränderungen, die angestrebte musikalische Prozesse vereinfacht. Wäre es nicht gut, könnte eine weitere Vision sein, auf die man hinarbeiten kann, wenn sich unsere Gesellschaft komplett im Bereich von Jazz und improvisierter Musik abbilde,  in ihrer ganzen Diversität?

Visionen sind tatsächlich erst einmal nur das, die Vorstellung eines ideellen Ziels. Sie haben allerdings meist ganz praktische Auswirkungen, oft bereits auf das ganz aktuelle eigene Tun. In dem Augenblick, in dem ich etwas vor Augen habe, das mir als wünschenswert erscheint, werde ich bereits mein aktuelles Handeln daraufhin überprüfen, ob es dem Weg dorthin hilft oder eher hinderlich ist. Jede Vision also beeinflusst mein Handeln. Zugleich beeinflusst mein Handeln die Vision. Die Vision hat ja den Vorteil, die Realität auszublenden. Im konkreten Tun erkennt man dann, was möglich ist, besser vielleicht: was einem selbst möglich scheint, und automatisch gleicht man die Vision an. Mit jedem Schritt wird die Vision mehr zu einem Ziel, mehr zum Kompromiss zwischen Vision und Realität. Das also ist der dritte Begriff hier: Vision – Realität – Kompromiss. Der Kompromiss aber ist keine abgespeckte Vision, er ist das in der Realität (für einen selbst) Machbare.

Jazz, Jazz Jazz…. Für mich war der Jazz immer eine visionäre Musik. Über die einzelnen Visionen der Musiker kann ich nur spekulieren; selbst wenn sie drüber gesprochen haben, sind „ausgeprochene“ Visionen ja etwas anderes als die Idee an sich. Für mich hatte Duke Ellington die Vision, dass Musik die Realität der afro-amerikanischen Erfahrung fassen und damit das Verständnis für die Missstände in der US-amerikanischen Gesellschaft verstärken könne. Für mich hatte Charlie Parker die Vision einer musikalischen Sprache, bei der das Zusammenkommen melodischer, harmonischer, rhythmischer Aspekte mit dem Moment der Komplexität, das insbesondere durch die technische Beherrschung seines Instruments mit hineinkam, neue klangliche Welten hervorbringen konnte. Miles Davis und seine Vision des Klangs – seiner Trompete genauso wie seiner Band und seiner Produktionen. Peter Brötzmann und die / eine Vision des freien Zusammenspiels. Die Vision national oder regional verbundener Klänge (Garbarek, Stanko). Die Vision einer nicht zuordbaren Folklore (Louis Sclavis, Erika Stucky, ARFI). Die Vision des Jazz als eines Beispiels für Demokratie (Willis Conover oder das US-amerikanische State Department der 1950er und 1960er Jahre) oder als Beispiel für eine gerechte Gesellschaft (John Lewis, Billy Taylor, Gunter Hampel). Die Vision von Geschlechtergerechtigkeit – auch im Jazz (Terri Lyne Carrington). Die Vision des Jazz als politische und gesellschaftliche Positionierung (Abbey Lincoln, Charles Mingus, Archie Shepp, Sebastian Gramss). Man muss die Visionen nicht kennen, die den Musikern vorschwebten, um ihre Musik genießen zu können, aber wenn man um sie weiß, gibt das den Aufnahmen und Konzerten noch zusätzliche Informationen.

Die Beispiele zeigen: Mal handelt es sich tatsächlich um Visionen, mal haben sich die – wirklich nur beispielhaft genannten – Musiker:innen bereits auf den Weg gemacht, mal kann man den Abgleich von Vision mit Wirklichkeit quasi parallel mitverfolgen. Was alle eint und worum es uns auch beim 18. Darmstädter Jazzforum gehen wird ist: Der Jazz ist eine in die Zukunft gerichtete Musik. Musikerinnen und Musiker wollen mit anderen zusammen Neues kreieren. Sie wollen neue Klänge, neue Sounds, neue Konstellationen, neue Erfahrungen generieren, und zwar solche, die ihre jeweilige Gegenwart abbilden, die  – wie vielleicht jede Art von Avantgarde – etwas zum aktuellen kulturellen Diskurs beitragen. Um aber überhaupt die Freiheit zu haben künstlerische Visionen zu entwickeln braucht es Strukturen, die dies zumindest befördern. Solche Strukturen können Künstler:innenkollektive genauso sein wie Ausbildungsstätten, Förderprogramme genauso wie staatliche Institutionen. Visionen nämlich ohne die Möglichkeit sie umzusetzen bleiben – meistens – Visionen.

Was also ist nötig, um Musikerinnen und Musiker, Veranstalterinnen und Veranstalter,  Journalistinnen und Journalisten, Musikkuratorinnen und Musikkuratoren zu ermutigen ihre Visionen anzugehen? Wir hoffen insbesondere in den Panels des Darmstädter Jazzforums auch über konkrete Vorschläge diskutieren zu können, nicht darüber also, was uns nicht so passt in der Gegenwart, sondern darüber, wie wir uns eine bessere Zukunft ausmalen.

(Wolfram Knauer, 4. Oktober 2022)


28. September 2022
(2) Spökenkiekerei

Ted Gioia hat sich unsere 18. Darmstädter Jazzforum heute zum Thema seines Blogeintrags gemacht – naja, nicht wirklich, aber sein Beitrag über „20 Predictions for the Music Business in 10 Years“ (The Honest Broker) lässt einen zumindest darüber nachdenken, was sich überhaupt über die Zukunft aussagen lässt. Gioia sagt augenzwinkernd voraus, dass die Musik der Zukunft wieder stärker auf das Musikalische fokussiert sein wird, zumindest will uns das Marketing so etwas weismachen wollen. Physische Tonträger werden keine Rolle mehr für die Karriere von Künstler:innen spielen. Diese entwickeln Strategien, beim Vermarkten ihrer Musik im Internet immerhin 80-90 Prozent der Einnahmen für sich behalten zu können. Der größte Hit auf den Billboard-Charts wird von Künstlicher Intelligenz erzeugt worden sein. Die einzelnen Tracks eines neuen Albums (von großen Stars) werden vor Veröffentlichung als NFTs versteigert. Gestreamte Musik wird mehr Umsatz bringen als Livekonzerte (ist das nicht schon heute so?). Es wird weiterhin Plattenfirmen geben, die allerdings vor allem ihren Backkatalog vermarkten und sich um das Auslaufen des Urheberrechtsschutzes für ihre Produkte sorgen. Die neuen Hubs der Musikindustrie werden in Seoul, Kinshasa und Jakarta liegen.  Gioia sagt außerdem noch voraus, dass in zehn Jahren Posaunen zum großen neuen Ding werden, weil es einen groß gehypten Celebrity-Skandal gab, bei dem das Instrument eine zentrale Rolle spielte.

Hmmm, wir werden’s hoffentlich alle sehen. Für unser Thema immerhin zeichnet sich ein wichtiger Aspekt ab: Musik scheint schon seit den 1920er Jahren unausweichlich mit der Entwicklung der Tonträgerindustrie verbunden – so sehr, dass technologische Entwicklungen automatisch Auswirkungen auf das Leben, das Einkommen und die Kunst von Musikerinnen und Musikern haben. Das gilt für die gesamte Musikbranche, für den Jazz aber vielleicht noch ein Stückchen mehr, weil er als improvisierte Musik ja quasi immer schon NFTs verkaufte, non-fungible tokens. Jede Aufnahme, jeder Auftritt von Jazzmusiker:innen ist ein Unikat. Es gab und gibt Künstler:innen, die tatsächlich so viel wie möglich mitschneiden, teils zur eigenen Kontrolle (z.B. Duke Ellington in den 1960ern), teils, um sie zu pressen und einem Publikum zugänglich zu machen, dass um die Singularität eines jeden Auftritts weiß (z.B. Gunter Hampel).

Die Dystopie einer zukünftigen Musik wäre vielleicht tatsächlich die Vorstellung, dass durch Artificial Intelligence erzeugte Kunst ähnliche emotionale Wirkung haben könnte wie von Menschen gemachte. Ich bin da relativ relaxt: Klar wird es möglich sein, Musik zu generieren, die klingt „wie“ etwas anderes, Musik also, die auf Klangklischees der Vergangenheit Bezug nimmt, Parker, Coltrane, Miles, diese aber neu mischt. Bestimmt kann AI irgendwann auch Musik erzeugen, die klingt „wie ein Experiment“, wie das also, was wir an aktueller improvisierter Musik spannend finden. Kann aber eine Maschine Risiken eingehen? Improvisatorische Risiken, wenn Musiker:innen sich auf die Reaktion anderer Kolleg:innen einlassen, auf die sie wiederum selbst reagieren; ästhetische Risiken des Gelingens eines vorher vorgestellten Konzepts, bei dessen Ausarbeitung man in improvisierter Musik allerdings eben nie bis zum Ende plant, sondern ganz bewusst aufs Risiko setzt? Es gibt diesbezüglich ja durchaus schon Versuchsanordnungen (George Lewis‘ Voyager; Dan Tepfers „Natural Machines“-Projekt).

Ich mag die Vergleiche zwischen Musik und Sport nicht, aber doch: Klar kann eine Maschine schneller laufen als ein Mensch. Aber wird sie schwitzen? Wird man die Aufregung riechen? Wird man die emotionale Verausgabung spüren und die Freude oder Enttäuschung über das Ergebnis? Musik kann man auch „riechen“. Sie entsteht im gemeinsamen Agieren von Musiker:innen, die zu immer neuen musikalischen Aggregatzuständen führen, zu neuen klanglichen Verbindungen, zu unerwarteten oder aber auch erwartbaren Reaktionen, zu Freude, einsetzender Langeweile, Nervenkitzel oder diesem unbeschreibbaren Selbst-Teil-des-kreativen-Prozesses-Werden.

Die Zukunft der Musikindustrie also, und die Einbindung der Musiker:innen in sie: sicher ein wichtiges Thema auch fürs Jazzforum. Eigentlich schon lange ein wichtiges Thema im Jazz, spätestens seit Charles Mingus und Max Roach mit Debut auch die Vermarktung ihrer Aufnahmen in eigene Hände nehmen wollten.  Was ist möglich, was wünschenswert, was unausweichlich, was unbedingt zu verhindern? Oder sollten wir uns nicht auf die Kreativität gerade unseres Metiers verlassen, die aus jeder Gemengelage etwas Spannendes generieren kann, weil sie nämlich idealerweise auf Gegenwart reagiert und Zukunft ausprobiert statt Vergangenheit nachzukauen?

Ah, eigentlich hatte ich über „Vision und Wirklichkeit“ schreiben wollen, jetzt hat mich Ted Gioia aber erst mal auf ein anderes Pferd gehoben. Next time also…

(Wolfram Knauer, 28. September 2022)


26. September 2022
(1) The devil You (don’t) know…

Das Vorhersehen kultureller Entwicklungen hat eigentlich noch nie richtig geklappt. Wir stecken dafür ja viel zu sehr in den Gedankenstrukturen, die unsere kulturelle Gegenwart prägen, müssten aber nicht nur die künstlerischen Diskurse voraussehen, sondern genauso alternative Räume, in denen Diskurse geführt werden können, Themen, die wir zurzeit für vielleicht gar nicht so wichtig erachten, eine veränderte (Selbst-)Auffassung von Kunst. Wir müssten Institutionen mitdenken und ihre Veränderungen (vgl. z.B. die Forderungen, die beim Darmstädter Jazzforum 17 in Bezug auf Diversität in den Institutionen gestellt wurden), politische Befindlichkeiten (vgl. z.B. die Diskussionen um die Documenta 15 und die Kontrollpflichten von Kurator:innen genauso wie von Politik), Veränderungen in der Wahrnehmung und Anerkennung von Künstler:innen und ihrer kreativen Arbeit in der Gesellschaft. Und natürlich müssten wir die künstlerische Aussage selbst mitdenken, den kreativen Prozess und sein Ergebnis, im Falle der Musik das Konzert, die Studioproduktion, den Konnex mit dem Publikum.

Wie sähe das alles im Jazz aus? Wir haben uns da ja auf – wenn auch unterschiedlich bewertete – Identifikatoren „unserer“ Musik geeinigt. Zum Beispiel: improvisatorisch, forschend, die Intensität neu ausdeutend, die bislang entweder durch „swing“ oder „energy play“ oder andere Arten der Verzahnung rhythmischer, melodischer und harmonischer Impulse gekennzeichnet war. Ein Bezug auf die afro-amerikanische Herkunft der Musik und all die damit verbundenen Konnotationen, insbesondere jene der Community: dass also Jazz eine Musik ist, die Gemeinschaft braucht, die Reaktion des Publikums. Ein solcher Bezug kann ganz direkt passieren (melodisches, harmonisches oder Sound-Zitat), aber genauso auch indirekt („mit dem Bewusstsein von…“). Zurzeit wird dieser Respekt vor der afro-amerikanischen Herkunft und Erfahrung des Jazz auch hierzulande vermehrt eingefordert, zum Beispiel in Bezug auf ethnische Diversität bei Konzert- und Festivalprogrammen.

Wird das aber in zehn Jahren auch noch der Fall sein oder werden wird die aktuelle Tendenz zum aktiven Ausgleich sozialer und kultureller Ungerechtigkeiten bis dahin nicht mehr als so wichtig erachtet werden und stattdessen vielleicht stärker darauf geachtet, was improvisierte Musik uns „heute“, also 2032, sagen kann? Wird das House of Jazz in Berlin realisiert sein und werden ähnliche  Konzerträume auch anderswo in der Republik zur Verfügung stehen, entweder hochsubventioniert durch die öffentliche Hand oder aber privat finanziert durch kommerzielle Geldgeber, die erkannt haben, das künstlerische Forschung auch für ihr Gebiet nicht weniger wichtig ist als jene im analogen oder virtuellen Labor? Werden wir nach wie vor Clubkonzerte vor Livepublikum haben, oder ermöglichen die Entwicklungen der virtuellen Realität uns entsprechende gemeinsame Erlebnisse auf andere Weise? Wird das Musiker:innenleben nach wie vor vor allem aus Reisen, Forschen und Unterrichten bestehen oder werden sie ihrer kreativen Arbeit co2-neutral mehr und mehr von Zuhause aus nachgehen können?

Arrghhh… Ich bin nicht gut in Science Fiction. Vielleicht bin ich zu sehr Realist, vielleicht zu furchtsam, vielleicht einfach zu wenig Künstler… Jedenfalls folgen jedem „Warum nicht!“ in meinem Kopf jede Menge an Fragezeichen. Man neigt ja leicht dazu, die Sicherheit der aktuellen Realität der Unsicherheit des Experiments vorzuziehen: „the devil you know is better than the devil you don’t know…“ Ich belasse es mal dabei und ahne: genauso wenig, wie ich die Zukunft des Jazz ausmalen kann, kann ich mir wirklich die Diskussionen ausmalen, die wir im September 2023 beim Darmstädter Jazzforum über sie haben könnten. Was mich dabei versöhnlich stimmt: dass ich weiß, es mit kreativen Künstler:innen zu tun zu haben, die sich nicht scheuen, einen Gedanken zu nehmen und ihn einfach mal weiterzuspinnen, egal wieviel Anpassungen des Kontextes dabei nötig sind. Das ist schließlich eine der Stärken des Jazz (wie auch anderer künstlerischer Avantgarden): dass er dazu in der Lage ist, sich auf einzelne Motive zu fokussieren, auf rhythmische Strukturen, auf emotionale Ahnungen, diese jeweils zu sezieren und dabei quasi nebenbei Neues zu erschaffen.

Was mich allerdings gleich wieder darüber sinnieren lässt, ob Zukunft immer, nun, zumindest „auch“ Zufall ist? Aber das wäre das Thema eines weiteren Blogeintrags – übrigens genauso wie das Thema „Vision meets Wirklichkeit“, über das ich mir beim nächsten Mal Gedanken machen möchte…

(Wolfram Knauer, 26. September 2022)


Alle Fotos in diesem Blog stammen aus dem Sun Ra Archive der Hartmut Geerken-Sammlung im Jazzinstitut Darmstadt.

Destination Unknown: Die Zukunft des Jazz

Mittwoch, 27. bis Samstag, 30. September 2023

Der Jazz blickt auf eine über hundertjährige Geschichte zurück, in der er immer wieder totgesagt wurde, um gleich darauf mit neuen Sounds wiederzuerstehen. Er hat das Bild US-Amerikas im 20. Jahrhundert geprägt, er hat die populäre Musik beeinflusst, er hat Musiker:innen überall auf der Welt inspiriert eigene Wege zu gehen. Damit wurde der westlich geprägten Kunstmusik ein alternatives Konzept gegenübergestellt, das individuelle Kreativität nicht nur bei einzelnen Komponist:innen, sondern bei allen Musiker:innen des Ensembles verortet. Ein Grund dafür, warum der Jazz so produktiv und lebendig blieb, ist die Tatsache, dass diese Musik weniger ein Genre als vielmehr eine musikalische Praxis ist, die von jeder Generation, von Künstler:innen unterschiedlichster Herkunft und kultureller Traditionen jeweils neu interpretiert werden kann.

Programmheft fürs 18. Darmstädter Jazzforum (PDF)

Wie also ist es um die Zukunft des Jazz bestellt?

Das 18. Darmstädter Jazzforum wagt den Blick nach vorn, fragt danach, was diese musikalische Praxis alles möglich macht und wo ihre Grenzen sind.

Wir diskutieren über die Balance zwischen Respekt vor den Ursprüngen des Jazz als einer afro-amerikanischen Kunstform und den Aufgaben einer aktuellen Avantgarde sowie über die Rolle, die Jazz innerhalb der Diskurse der Zeit und der Region spielt, in der er rezipiert wird.

Wir fragen nach der Zukunft der Tonträger- und Streamingindustrie, nach der Aufgabe von Radio, Internet und Podcasts, nach einer Ausbildung, die nicht nur künftige Jazzmusiker:innen im Blick hat, sondern kreative Musik als Ganzes. Wir sprechen über Nachhaltigkeit in allen diese Musik betreffenden Bereichen.

Wir fragen nach dem Bewusstsein der Jazzszene für Themen wie etwa Klimaneutralität, Geschlechtergerechtigkeit, Diversität. Und wir diskutieren, welche Aufgaben dem „Jazz“ als einer Idee und musikalischen Praxis in einer Welt zukommen, in der sich Genregrenzen zusehends verwischen.

Wir haben das 18. Darmstädter Jazzforum mit einem Titel Sun Ras überschrieben, „Destination Unknown“. Sun Ras Musik ist ein Paradebeispiel dafür, wie Musik Zukunft  (Stichwort „Afrofuturism“) denken kann, ohne die Tradition zu vergessen. Wie es weitergeht mit dem Jazz wissen wir nicht. Darüber sprechen, was wir uns wünschen würden, wollen und werden wir bei diesem Jazzforum mit Beteiligten, mit professionellen Beobachter:innen und mit Interessierten.

Das Darmstädter Jazzforum versteht sich als aktiver Mittler zwischen musikalischer Praxis und Diskursen. Wir laden Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen ein, Journalist:innen, Veranstalter:innen, Pädagog:innen, vor allem aber auch Musiker:innen aus der aktiven Szene.

Das Jazzforum will sowohl Denkanstöße geben als auch musikalische Räume öffnen und damit zu einem Austausch anregen, bei dem die Beiträge von Jazz und improvisierter Musik für den kulturellen Diskurs der Gegenwart im Vordergrund stehen.

— siehe auch: Abstracts und Bios der Referent:innen und Panelist:innen —
— siehe auch: Zufällige Gedanken (Blog zum 18. Darmstädter Jazzforum) —

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MITTWOCH, 27.9.2023, 18 Uhr

AUSSTELLUNG
Vernissage: The all of everything@Jazzinstitut
mit Yaeko Asano und NEDE, Paulina Stulin und Johanna Krimmel, Fabian Rücker und MOLUSK, Bianca Dührssen und Jan Niklas Diwisch, Kerstin (Kiki) Rau und dink
Eintritt frei

MITTWOCH, 27.9.2023, 20 Uhr

KONZERT
Pre-Opening: young experimental music@Jazzinstitut

Karja /Renard/Wandinger Trio mit Kirke Karja, Etienne Renard, Ludwig Wandinger
Eintritt: 18 € / erm. 12 €
Kartenreservierungen an jazz@jazzinstitut.de. Tickets werden an der AK hinterlegt.

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DONNERSTAG, 28.9.2023, 14-18 Uhr

KONFERENZ
Destination Unknown@HoffART-Theater
Eintritt frei, Registrierung über QR-Code (oder anklicken)

PAST AND FUTURE
Am ersten Tag lassen wir das Pendel unseres Zukunftsmessgeräts gleich am weitesten ausschlagen. André Doehring überlegt, ob der Jazz nicht immer schon die Frage nach der Zukunft in sich getragen hat. Harald Kisiedu nimmt Theo Crokers Aussage „JAZZ IS DEAD“ zum Anlass zu fragen, wie oft der Jazz schon totgesagt wurde und wie sich dieser Diskurs in einem größeren historischen Kontext lesen lässt. In unserem ersten Roundtable diskutieren wir unter der Überschrift „Jazz – aber für wen eigentlich?“ ob der Jazz tatsächlich unsere gegenwärtige Gesellschaft abbildet bzw. was zu tun ist, um ihn noch stärker als eine Musik der Offenheit und des Aufeinanderhörens zu positionieren. Wir haben dafür den Bassisten James Banner eingeladen, über seine Auseinandersetzung mit Klassismus in seinem Class-Work-Projekt zu berichten; die Vibraphonistin Evi Filippou, die ihre Erfahrungen mit Schüler:innen thematisiert; sowie die Pianistin Julia Kadel, die sich im Projekt QueerCheer für sie Sichtbarkeit queerer Menschen auch in Jazz und improvisierter Musik einsetzt (Moderation: Sophie Emilie Beha).

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FREITAG, 29.9.2023, 9:30-12:30 Uhr

KONFERENZ
Destination Unknown@HoffART-Theater
Eintritt frei, Registrierung über QR-Code (oder anklicken)

ANCIENT TO THE FUTURE
Der zweite Tag beginnt zwei Vorträgen, die sich dem Futurismus Afro-Amerikas widmen. Richard Herzog erklärt, wie wichtig die Idee der Traditionsverbundenheit in der Musik junger afro-amerikanischer Musiker:innen wie Matana Roberts und Moor Mother ist. Magdalena Fürnkranz wirft einen Blick auf den Afrofuturismus als historisches Konstrukt und Antriebsfeder für aktuelle Musik und stellt dabei eine Verbindung zwischen Sun Ra und Janelle Monáe her. Bettina Bohle wird genereller und fragt, inwieweit sich „Jazz“ nicht oft selbst im Wege steht. Sie holt die Diskussion damit auch von Afro-Amerika nach Deutschland und diskutiert, was mit diesem Begriff hierzulande in ganz unterschiedlichen Kontexten eigentlich gemeint ist.

FREITAG, 29.9.2023, 14-18 Uhr

KONFERENZ
Destination Unknown@HoffART-Theater
Eintritt frei, Registrierung über QR-Code (oder anklicken)

WAS WÄRE WENN?
Der Freitagnachmittag wird konkreter. Das BuJazzO hatte 2022 einen Kompositionswettbewerb unter der Überschrift „Zukunftsmusik“ ausgerichtet, damit allerdings vor allem auf das Alter der teilnehmenden Komponist:innen angespielt. Der Saxophonist Niels Klein, der den Wettbewerb leitete, und die Flötistin Jorik Bergman, die zu den Preisträger:innen gehörte, machen sich dennoch gemeinsam Gedanken darüber, was Zukunft für sie und für ihre jeweilige Musik bedeuten mag, ganz konkret, künstlerisch oder für ihre jeweilige Lebensplanung. Der Saxophonist Frank Gratkowski fragt aus eigener Perspektive, was Jazz ist, was er sein und was aus ihm werden könnte. Im zweiten Panel des Jazzforums fragen wir unter der Überschrift „Macht Platz!“ danach, wo sich die Zukunft der Musik gestalten lässt. Kreativität benötigt schließlich Räume, im wörtlichen Sinn genauso wie metaphorisch. Eingeladen haben wir dafür Esther Weickel, die als Projektleiterin des NICA artist development am Europäischen Zentrum für Jazz und aktuelle Musik des Stadtgarten Köln arbeitet, das sie vorstellt; Camille Buscot, Co-Geschäftsführerin der IG Jazz Berlin, die Einblick in regionale genauso wie nationale Strukturdiskurse hat; sowie Jonas Pirzer, Referent im Kunstminsterium Baden-Württemberg, der erklären kann, was es von öffentlicher Seite braucht, um Räume zur Verfügung zu stellen (Moderation: Sophie Emilie Beha).

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Freitag, 29.9.2023, 20 Uhr

DOPPELKONZERT
femenine music@Centralstation
Mother mit Athina Kontou, Lucas Leidinger, Dominik Mahnig, Luise Volkmann
Jorik Bergman’s Julius Eastman Project mit Jorik Bergman, Maripepa Contreras, Inga Rothammel, Minhye Ko, Carla Köllner, Chae Yeon Lee, Luise Volkmann, Mareike Wiening (Mitschnitt hr2 Kultur)
Eintritt: 22 € / Ermäßigungen möglich
Vorverkauf über Centralstation Darmstadt (Link zu ztix)

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SAMSTAG, 30.9.2023, 9:30-12:30 Uhr

KONFERENZ
Destination Unknown@HoffART-Theater
Eintritt frei, Registrierung über QR-Code (oder anklicken)

AM WANDEL MITWIRKEN
Teresa Becker fragt, welche Rolle Musiker:innen bei dem Zukunftsthema überhaupt spielen können: der nachhaltigen Entwicklung. Monika Herzig berichtet von der kürzlich erschienenen Sammlung „New Standards“, die Kompositionen speziell von Musikerinnen enthält, und fragt, wie der Weg zu einer Geschlechtergerechtigkeit im Jazz aussehen könnte. Der Basler Bassist Kaspar von Grünigen stellt die „Volksinitiative für mehr Musikvielfalt“ als eine Aktion aus der Schweizer Basis heraus vor, bei der eine öffentliche Musikförderung skizziert wird, die nicht in erster Linie durch Interessenspolitik und ästhetische Diskussionen gefärbt ist, sondern soziokulturelle Aspekte ins Zentrum stellt.

SAMSTAG, 30.9.2023, 14-18 Uhr

KONFERENZ
Destination Unknown@HoffART-Theater
Eintritt frei, Registrierung über QR-Code (oder anklicken)

ES GEHT UMS GANZE!
Am Samstagnachmittag fassen wir zusammen. Dafür ist ein Blick von außen vielleicht nicht ganz falsch. Thomas Meinecke beschäftigt sich als Autor, DJ und Musiker mit Fragen der Ästhetik, der Geschlechtertheorie, mit Authentizität und künstlerischer Utopie. Im Gespräch mit Peter Kemper wird er über die Zukunft und die Grenzen des Jazz als Genre nachdenken und uns vielleicht das Bild eines Jazz vor Augen führen, den wir uns noch gar nicht vorstellen können. Saxophonist Uli Kempendorff denkt über Fehlstellen im Diskurs an Hochschulen nach, gibt einen Streikbericht, schaut auf interessante Lösungswege aus unseren Nachbarländern und fragt, was man heute von einer künstlerischen Ausbildung erwarten können sollte. Und beim Abschlusspanel unter der Überschrift „Es geht ums Ganze!“ diskutieren wir Jazz als Teil eines aktuellen gesellschaftlichen Diskurses, fragen, welche Aspekte der Praxis improvisierter Musik dazu beitragen können, uns für Gegenwart und Zukunft zu engagieren? Saxophonist Jan Klare erläutert die inneren Strukturen und die Arbeitsweise seiner Band Das Dorf, reflektiert Rollenverständnisse im Ensemble und erklärt, wie sich politische Überzeugung und Musikmachen miteinander vereinen lassen. Die Geigerin Akiko Ahrendt berichtet über die Überschneidungen von Musik und politischem Aktivismus; und die ukrainische Kulturmanagerin Mariana Bondarenko reflektiert, welche Rolle Jazz, Musik, Kultur in Zeiten des Kriegs spielt, spricht aber auch über die ganz direkten Auswirkungen des Kriegs, in dem ja zahlreiche Musiker als Soldaten aktiv sind (Moderation: Sophie Emilie Beha).

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SAMSTAG, 30.9.2023, 20 Uhr

DOPPELKONZERT
out of the box music@Knabenschule
Les Marquises mit Emilie Škrijelj, Tom Malmendier plus Christine Abdelnour
Gratkowskis 5 mit Frank Gratkowski, Philip Zoubek, Robert Landfermann, Dominik Mahnig feat. Ingrid Laubrock
Eintritt: 22 € / erm. 18 €
Vorverkauf über Bessunger Knabenschule (Link zu ztix)

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Das Darmstädter Jazzforum verbindet seit 1989  den Diskurs um Jazz und Improvisierte Musik mit dem praktischen Musikerlebnis in einer einzigartigen Verbindung aus internationaler Konferenz, Konzerten, Workshops und Ausstellungen. Alle Jazzforen sind in unserer Buchreihe „Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung“ dokumentiert (Wolke Verlag).

Neue Bücher 2022

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Roots | Heimat. Diversity in Jazz
herausgegeben von Wolfram Knauer
Hofheim 2022 (Wolke Verlag)
303 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-95593-017-2
Wolke Verlag

(Text des Buchumschlags:)

Jazz ist ein Symbol für Diversität – so mag man zumindest meinen, wenn man die Geschichte afro-amerikanischer Musik betrachtet. Doch zollen wir insbesondere in Europa dieser Idee genügend Respekt? Ist unsere Verehrung der großen Jazzheroen nicht ein bloßes Lippenbekenntnis, wenn wir in dieser Musik, die doch von Freiheit und Individualität handelt, gleichzeitig feststellen müssen, dass Frauen hierzulande nach wie vor selten sind, von BIPoC (Black, Indigenous, People of Color) einmal ganz zu schweigen? Ist der Jazz in Deutschland nicht lange zu einer etablierten Hochkultur geworden, die nur von einer akademischen Minderheit gemacht und gehört wird? Und wenn dem so ist, wie zufrieden sind wir mit dem Status quo bzw. wie können wir diesen ändern? Fragen, auf die dieses Buchs in sehr unterschiedlichen Ansätzen nach Antworten sucht.

Autoren des Bandes:
Reza Askari, Vincent Bababoutilabo, Frieder Blume, Jean-Paul Bourelly, Sylvia Freydank, Ádám Havas, Therese Hueber, Peter Kemper, Harald Kisiedo, Sanni Lötzsch, Anna-Lise Malmros, Gabriele Maurer, Stephan Meinberg, Ella O’Brien-Coker, Constanze Schliebs, Philipp Schmickl, Simin Tander, Philipp Teriete, Nico Thom, Joana Tischkau, Niklaus Troxler, Luise Volkmann, Timo Vollbrecht, Kornelia Vossebein, Jo Wespel.

(Wolfram Knauer, September 2022)


Watching with my Ears. 20 Years Vision Festival New York
von Jorgo Schäfer
Hofheim 2022 (Wolke)
56 Seiten, 39 Euro
ISBN: 978-3-95593-145-2

Von 2000 bis 2019 besuchte der Wuppertaler Künstler Jorgo Schäfer regelmäßig das  Vision Festival in New York. Peter Kowald, der din den 1980er Jahren das Sound Unity Festival mitgegründet hatte, ein Vision-Vorläufer, hatte Schäfer anfangs eingeführt in die Veranstalterkreise; Patricia Nicholson Parker, die das Festival bis heute betreut, sorgte dafür, dass er seinen Tisch inmitten des Publikums aufbauen konnte, um seine musikalischen Erlebnisse künstlerisch festzuhalten.

In einer jetzt erschienenen Retrospektive finden sich Schäfers Arbeiten. Die Materialien: Tusche, Bleistift, Acryl, Karton, Chinapapier, Bütten, Leinwand. Die abgebildeten Sujets: namenlose Spielsituationen, Cooper Moore, Billy Bang, Fred Anderson, Sabir Mateen, Peter Brötzmann, Cecil Taylor, Pharoah Sanders, Maria Mitchel, Henry Grimes, Sonny Simmons, Bobby Few, Hamit Drake. Mal abstrakt, mal eine Mischung aus vor Ort entstandenen Live-Skizzen und im Atelier ausgearbeiteten Übermalungen. Da steht David S. Ware als imposante Figur vor einem leuchtend-roten Hintergrund, sein Saxophon glänzend, hinter ihm ein Vogelschwarm und 32 Geschichtstafeln (Untertitel: „und die Königin von Saba“), wie um zu verdeutlichen, dass es in Wares Musik eben auch um Geschichten geht. Da wird John Coltrane zum „Drtrunkenen Herkules (frei nach Peter Paul Rubens). Da wird Musik zu einer blauen Fläche mit einem schwarzen Kopf darin oder zu einem blauen Kopf, der mit anderen Köpfen korrespondiert. Das Sun Ra Arkestra feiert Marshall Allens 80sten Geburtstag und eine Handvoll Kontrabassisten erinnern an Peter Kowald.

Die Musik hört man nicht, aber irgendwie schafft Schäfer es eine Stimmung einzufangen, die sich mitteilt. Mal Intensität, mal enge Kommunikation, mal Feier des Abends, mal tiefste Konzentration.Der Kunsthistoriker Hermann Ühlein ordnet seine Bilder ein; Patricia Nicholson erzählt von der Idee hinter dem Vision Festival, kurze Gedichte oder Statements, etwa von Cooper Moore, Peter Brötzmann, William Parker, Peter Kowald, Jemeel Moondoc, Terry Jenoure runden das Buch ab. Auf 56  Seiten und dickem Papier nehmen uns Schäfers Bilder mit ins New York der 2000er und 2010er Jahre, in eine Welt der vor allem freien Improvisation, aber auch in eine Welt des laufenden ästhetischen Wandels.

Wolfram Knauer (September 2023)


Sight Readings. Photographers and American Jazz, 1900-60
von Alan John Ainsworth
Bristol/UK 2022 (intellect)
446 Seiten, 35 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78938-421-5

Wir haben im Jazzinstitut immer wieder mit ihnen zu tun: den Fotos, die uns Jazzgeschichte näherbringen. Im Archiv besitzen wir sicher mehr als 50.000 Abzüge, dazu unzählige Fotobücher, teils dokumentarische Darstellungen der Geschichte dieser Musik, teils biographische Annäherungen. Gerade heute, da ich diese Rezension schreibe, hatte ich für ein Rundfunkinterview über Nina Simone Bücher nach Fotos durchgesehen, die mir den Wandel ihrer Bühnenpräsentation vor Augen bringen. Fotos veranschaulichen uns Musiker:innen, die Orte, an denen ihre Musik erklingt, ihr Publikum, die Musikindustrie.

Fotosammlungen wie die „Pictorial History of Jazz“ von Orin Keepnews und Bill Grauer, „Black Beauty, White Heat“ von Frank Driggs oder William Claxtons gemeinsame USA-Reise mit Joachim Ernst Berendt, die zum Band „Jazz Life“ führte, stehen in den Regalen vieler Jazzfans. Bücher über die Geschichte des Jazzfotos sind schon erheblich seltener. 2011 veröffentlichte Benjamin Cawthra „Blue Notes in Black and White. Photography and Jazz“, das sich der Beziehung zwischen Fotografen wie Claxton, Gjon Mili, William Gottlieb, Herman Leonard und den Jazzmusiker:innen, die sie abbildeten, annahm. Fotografinnen waren übrigens selten darunter, und auch Alan John Ainsworths neues Buch über die Beziehung von Fotografen und Jazz lässt sie weigehend außen vor. Aber er weiß um sie und verweist gleich zu Beginn seines Buchs auf ein Bild Bill Gottliebs von der 52nd Street, auf der eindeutig eine Fotografin vor dem Club Three Deuces zu sehen ist.

Nicht nur Frauen aber sind unterrepräsentiert in der Wahrnehmung der Jazzdokumentation, sondern auch Fotografen of color: Die gefeierten Bilder scheinen alle von wenigen weißen Kunstfotografen zu kommen, schreibt Ainsworth, stellt dann aber gleich einem Fotos von Charles Peterson aus dem gerade eröffneten Eddie Condon’s Club von 1946 eines des schwarzen Fotografen Charles Williams gegenüber, der in Los Angeles die International Sweethearts of Rhythm ablichtete. Mit diesen beiden Bildern öffnet Ainsworth den Raum: vom weißen Club zur schwarzen Frauenkapelle, von der Ost- zur Westküste, vom Bohemien-Zirkel zu Bands, deren ursprüngliche Mitglieder ihr Instrument in einem afro-amerikanischen Waisenhaus gelernt hatten. Tatsächlich unterschieden sich auch die Biographien der Fotografen, und ihre Herkunft bestimmt oft genug, wie nahe sie den Subjekten ihrer Arbeit kommen konnten, wie intim die Fotos wurden. Durften sie nur im professionellen Kontext arbeiten, hatten sie Zugang zur Garderobe, dem privaten Leben der Musiker:innen? Waren sie gar, wie etwa der Bassist Milt Hinton, selbst Teil der Musikercommunity?

Im ersten Kapitel befasst sich Ainsworth mit der Bedeutung der Fotografie für das Image der Abgelichteten. Er diskutiert gestellte Publicityfotos von Count Basie und Roy Eldridge, Fotos, mit denen in Zeitschriften beispielsweise für Instrumente geworben wurde, und Fotos die mal mehr, mal weniger natürlich das Publikum zeigten, den archetypischen Swingfan etwa oder Menschen in einem schwarzen Club. Er erinnert daran, dass Fotos Fans immer auch als Erinnerung an musikalische Erlebnisse ihrer Jugend dienten.

Zahlreiche insbesondere der ikonischen Bilder des Jazz wurden mittlerweile so oft veröffentlicht, dass die Stories, die sie bebildern sollen, Teil ihrer eigenen Geschichte wurde. Ainsworth gibt Beispiele, etwa William Gottliebs legendäres Foto von Thelonious Monk, Howard McGhee, Roy Eldridge und Teddy Hill vor Minton’s Playhouse in Harlem. Fotos können aber auch einfach eine Primärquelle sein und als solche Auskunft über das Umfeld der abgebildeten Musiker:innen geben. Um diese lesen zu können, muss man allerdings um die Perspektive wissen, die der Fotograf einnimmt und zusätzlich darum, was in den Fotos nicht zu sehen ist. Man muss die abgelichteten Orte und Aktivitäten also einordnen können, wenn man mehr aus ihnen lesen will als nur Atmosphärisches. Musiker posieren vor dem Bandbus, Musiker schlafen im Bandbus, Musiker spielen auf der Bühne, Musiker spielen zum Tanz: jedes Bild, auch jede der Abbildungen, die Ainsworth seinen Kapiteln beifügt, braucht das Wissen um die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die mit dem Foto verbunden sind.

In einem anderen Kapitel schaut sich Ainsworth Bilder an, die versuchen den Sound des Jazz zu visualisieren, andere, die die Jazzszene einzufangen versuchen, wieder andere, bei denen Instrumente oder Dinge (Cannonball Adderleys Music Stand, Dexter Gordons Reiseunterlagen) im Vordergrund stehen statt der Künstler selbst. Er begleitet Musiker ins Studio, weiß um die Tradition der Theater- und Filmfotografie, kennt den Background etwa von James Kriegsmann, einem Fotografen, dessen Name unter zahlreichen Portraits der Stars der Swingära steht. Er beleuchtet die Geschichte der afro-amerikanischen Fotografie im 20sten Jahrhundert, diskutiert gestellte Bandfotos des frühen Jazz, aber auch ausdrucksvolle Bilder, die Musiker in action oder den Rapport zwischen ihnen und ihrem Publikum zeigen. Er erklärt die Lebensumstände der Fotografen: der eine fotografierte hauptberuflich für eine Zeitung, der andere hatte ein eigenes Portraitstudio, für den dritten war es einfach ein weiteres Standbein einer breiter aufgestellten Berufskarriere. Er beschreibt aber auch die Arbeitsumstände, die in den Jahren vor 1970 sicher einfacher war als später, da man erst bei Veranstaltern oder Agenturen eine Fotogenehmigung einholen musste. Er beschreibt, wie eine neue Fotografengeneration in den 1940er Jahren den Jazz als eine Kunst der Authentizität darstellt, und dabei auch leicht Gefahr läuft, die Künstler zu überhöhen. Und er entdeckt einen spezifisch „anderen“ Blick der aus Europa exilierten und jüdischen Fotografen, diskutiert konkret die Bilder von Clemens Kalischer, Otto Hess, Henry Ries, Gjon Mili, Francis Wolff und Fred Plaut.

Im Schlusskapitel blickt Aisnworth dann noch kurz auf die Jazzfotografie nach 1960, auf Unterschiede, aber auch darauf, wie die Perspektive des bereits Abgelichteten auch den Blick jüngerer Fotografen beeinflusste. Als Zugabe beschreibt er Herb Snitzers Foto „Pops“, ein Portait Louis Armstrongs aus dem Jahr 1960, und als Anhang diskutiert er, was im Englischen „agency“ heißt, also Handlungsmacht, letzten Endes all die Dinge, die der Fotograf selbst in der Hand hat, wenn er sich für ein Bild, einen Frame, eine Perspektive entscheidet.

Ainsworths Buch ist ein dicker Schinken geworden, eine Mischung aus wissenschaftlicher Fotografiegeschichte und Einblick in einen Berufszweig der Jazzwelt, über den wir selten nachdenken. Es ist lesenswert und tief zugleich. Man kann es dem Feld der „new jazz studies“ zuordnen, die erkannt haben, dass interdisziplinäre Blicke auf die Musik und ihr Umfeld zur Erkenntnis über die erklingende Musik selbst beitragen. Dabei gelingt es Ainsworth, unterschiedliche Herangehensweisen zu erklären, auf Perspektiven aufmerksam zu machen und uns auch nahezubringen, was wir nicht sehen. Die zahlreichen Abbildungen seines Buchs (alle schwarz-weiß) laden zum näheren Betrachten ein, vielleicht auch zum Griff ins Bücherregal, wo all die anderen Fotoalben des Jazz stehen, oder aber zur Bildrecherche im Internet. Und seine immer wieder kritische Betrachtung seines Sujets macht einem an jeder Stelle bewusst, dass auch „Sight Readings“ nicht der Schlusspunkt der Erkenntnis über Jazzfotografie ist, sondern höchstens ein Aufzeigen weiter zu erforschender Kapitel.

Alan John Ainsworths „Sight Readings“ ergänzt damit jede Fotobuchsammlung mit einer Dokumentation dessen, was eigentlich geschieht, wenn ein Fotograf Musiker ablichtet, wie Fotos die Wahrnehmung von Jazzgeschichte beeinflussen und wie sich durch sie unser aller Sicht auf den Jazz gebildet hat.

Wolfram Knauer (März 2023)


Schöner fremder Klang. Wie exotische Musik nach Deutschland kam. Band 1: Ragtime, Tango, Rumba & Co (1855-1945)
von Claus Schreiner
Berlin 2022 (J.B. Metzler)
622 Seiten, 29,99 Euro
ISBN: 978-3-476-05694-8

Schöner fremder Klang. Wie exotische Musik nach Deutschland kam. Band 2: Ragtime, Tango, Rumba & Co (1855-1945)
von Claus Schreiner
Berlin 2022 (J.B. Metzler)
62´72 Seiten, 29,99 Euro
ISBN: 978-3-476-05696-2

Schöner fremder Klang. Wie exotische Musik nach Deutschland kam. Band 3: Afrobeat, Salsa, Reggae & Co. (1975-2000)
von Claus Schreiner
Berlin 2022 (J.B. Metzler)
653 Seiten, 29,99 Euro
ISBN: 978-3-476-05698-6

Im Jazz ist Claus Schreiner durch seine Aktivitäten für die Deutsche Jazz Föderation in den 1960er Jahren und seine Teilnahme bei der Gründung der (damals) Union Deutscher Jazzmusiker 1973 bekannt, aber auch als Produzent und Konzertveranstalter und durch seine langjährige Arbeit mit Albert Mangelsdorff und anderen Musikern. Seit den späten 1960er Jahren beschäftigte er sich verstärkt mit brasilianischer und lateinamerikanischer Musik, die er auch auf einem eigenen Label, Tropical Music, dokumentierte. Außerdem hat er grundlegende Bücher über die Musik Brasiliens (1977) und lateinamerikanische Musik (1982) veröffentlicht.

Jetzt hat Schreiber quasi sein opus magnum vorgelegt, eine dreibändige „Spurensuche“, wie er sie beschreibt, des Weges und der Rezeption „exotischer Musik“ nach Deutschland. Sein Thema ist, wie er im Vorwort schreibt, die „urbane populäre Musik aus den Amerikas und Afrika mit Wurzeln in traditioneller bzw. ritueller Musik, wobei auch Mischformen mit verschiedenen Musikstilen aus Europa und später auch Popmusik, Jazz, Rock und Soul aus den USA hinzukommen“. Das wäre sicher ein etwas zu langer Untertitel geworden, und so hat sich Schreiner auf die Zusammenfassung als „exotische Musik“ beschränkt, die zugleich den europäischen Blickwinkel betont, aus dem er deren Rezeption wahrnimmt. Dafür gibt es neben historischen Einordnungen, je näher er der Jahrtausendwende kommt (seine Darstellung endet im Jahr 2000), genügend Asides, die zumindest zwischen den Zeilen auch sein eigenes Wirken streifen.

Schreiner beginnt mit einem nachdenklichen Kapitel zum immer inheränten Rassismus, wenn man auch nur über „exotische“ Musik spricht, streift dabei auch, wie sehr das Interesse an anderen Kulturen zum Ausgang des 19. und Beginn des 20sten Jahrhunderts durch die neu aufkommenden Massenmedien (Fotos, Illustrierte, Schallplatten, Filme) verstärkt wurde. Sein Buch beginnt dann mit dem ersten „Welthit“, wie er ihn nennt, Sebastián Iradiers „La Paloma“, angeblich 1857 bei einer Reise des baskischen Komponisten nach Kuba entstanden. Nichts ist bewiesen, nicht einmal, dass Iradier jemals auf Kuba war, und Schreiners Erzählung gelingt es aus der Unsicherheit der Wahrheit ein Bild des Möglichen zu zeichnen. Er streift Komponisten wie Louis Moreau Gottschalk und erwähnt den Einfluss der Habanera etwa auf Bizets Oper „Carmen“.

Auch Deutschland hatte Kolonien, in Afrika, Neuguinea, China und Samoa, „Deutsche Schutzgebiete“ genannt. Sie waren weit entfernt, aber im „Mutterland“ waren ihre Einwohner nicht gern gesehen, schreibt Schreiner: „Die Mehrzahl der Deutschen steht den Bewohnern ihrer Kolonien in einer gefährlichen Bandbreite zwischen Naivität und Rassismus gegenüber, aber selten auf Augenhöhe.“ Schwarze Menschen sah man lieber auf „Völkerschauen“ im Zoo, höchstens noch auf Werbetafeln, etwa für den Fleischextrakt der Firma Liebig oder Schokolade der Firma Sarotti. Immerhin interessierten sich Ethnologen für die Kultur aus der Fremde, wie sich etwa im Berliner Phonogramm-Archiv zeigt, in dem Tausende an Tonwalzen mit Sprachaufnahmen aus aller Welt gesammelt wurden. Das Interesse am Fremden steigt, doch selbst reisen können die wenigsten. Und so sind neben den „Völkerschauen“ die Erlebnisse durch Musik und Tanz vielleicht die am stärksten individuell erlebbaren Erfahrungen der Fremde für viele Deutsche.

Schreiner beschreibt die Rezeption von Minstrelshows, Ragtimeensembles und schwarzen Solisten nicht nur in den USA, sondern zunehmend auch in Paris, London und Berlin. Er streift die Fisk Jubilee Singers, Arabella Fields, den Erfolg als exotisch empfundener Tänze, die Harlem Hellfighters des Lieutenant James Reese Europe und den Erfolg Josephine Bakers oder später Carmen Mirandas. Er berichtet über die Diskussionen im Bereich des Gesellschafts- genauso wie des modernen Ausdrucks- und Bewegungstanzes. Und immer wieder wird das Publikum auch mit den Originalen konfrontiert, wenn Künstler:innen aus Übersee auf deutschen Bühnen zu erleben sind.

Er befasst sich mit den frühen Jahren des Jazz in Deutschland, hört Eric Borchard genauso wie Klamauk-Jazz, weiß um deutsche Autoren wie Ernest Bornemann und Dietrich Schulz-Köhn, hört Sam Wooding, Paul Whiteman und Jack Hylton. Schreiner beschreibt Paris als Zentrum musikalischer Einwanderer nach Europa, die Faszination mit brasilianischer Musik, den Zauber des Tango; und immer wieder kommen dabei auch die Missverständnisse zur Sprache, die sich beim Kulturtransfer einstellen, etwa wenn der Tango eingedeutscht wird, wenn keiner weiß, ob Jazz nun Musik oder Tanz ist, von den technischen, also musikalischen Details der fremden Musik ganz zu schweigen, die man sich gern zu eigen machen würde, weil sie irgendwie so… cool ist. Kuba und Danzón, die Antillen und der Biguine, und mit der Musik aus Hawaii erreichen, wie Schreiber schreibt, „die letzten Exoten […] Nazi-Deutschland“.

1933 wird alles anders: „Braune Töne“ überschreibt Schreiner sein Kapitel über die dunklen Jahre, berichtet darüber, wie die Nazis bereits zuvor gehegte Resentiments weiter pflegten, aber nicht alle „exotischen“ Importe ablehnten: der Tango etwa gefiel ihnen, und bei anderen Musikstilen versuchten sie es mit „Disziplinierung und Korrektur“.

In Band 2 nimmt sich Schreiner „Samba, Mambo, Bossa und Co.“ vor und beleuchtet die Rezeption der Nachkriegszeit, wobei er sich schon im ersten Band nicht sklavisch an die Chronologie hielt, sondern gern und durchaus zu Recht auf die späteren Folgen von Entwicklungen verwies. Und da sein Fokus auf der Rezeption in Deutschland liegt, ist es ihm zu Beginn wichtig, die veränderten Rahmenbedingungen zu erklären, Besatzung, veränderte Weltsicht(en), Veränderungen auch in der Jugendkultur und in den Hoffnungen der Menschen, denn diese drückten sich ja oft genug in ihren musikalischen Vorlieben aus.

Als Beispiele für die Nachkriegszeit beleuchtet er das Leben Peter Kreuders, der sich unter den Nazis anbiederte, dann 1947 nach Südamerika ging, erst Rio, dann Buenos Aires, wo er angeblich ein Verhältnis mit Evita Perón hatte und eine Ehrenmedaille für „seine Verdienste um die ‚Popularisierung der Argentinischen Volksmusik'“ erhielt; und er schaut auf die Nachkriegskarriere der Sängerin Rosita Serrano, der es offenbar nicht geschadet hatte, dass zuvor schon Hitler ein glühender Verehrer gewesen war. Die Furcht vor dem Einfluss von Jazz und afro-amerikanischer Musik auf die Jugend unterschieden sich in den Nachkriegsjahren gar nicht so sehr im Westen und Osten Deutschlands und führten in beiden Teilen des Landes zu skurilen Verboten.

Auch im zweiten Band geht es dann „einmal um die Welt“, diesmal aus der Perspektive der beiden Nachkriegsdeutschlands. Schreiner betont die Bedeutung der Soldatensender im Westen, erwähnt die musikalische Südsee-Mode, erklärt die Faszination des Skiffle, und beschreibt, wie sich brasilianische Klänge auf dem anfänglichen Umweg über Paris auch in Deutschland ausbreiteten. Er geht den Ursprüngen des Mambo auf den Grund, der ab den 1940er Jahren zur großen Mode in New York wurde, und erklärt, wie aus diesem der Chachachá wurde, der spätestens in den 1960er Jahren die deutschen Tanzschulen flutete. Er erzählt die Geschichte des Calypso anhand der Biographie Lord Kitcheners, schaut auf Leben und Karriere des Trompeters Billy Mo („Ich kauf mir lieber einen Tirolerhut“) und begleitet Harry Belafonte auf Konzertreisen nach Deutschland (West wie Ost).

Er diskutiert die verschiedenen Tanzmoden der Zeit, Folklore-Performances etwa afrikanischer Truppen, überhaupt die Idee eines schwarzen Balletts, macht Ausflüge in Diskurse um Négritude und Panafrikanismus, diskutiert den europäischen Blick auf den Orient und hinterfragt die Mode des Bauchtanzes, der ab 1980 in Frankfurt sogar in einer speziellen Schule unterrichtet wird. Ähnliche Blicke wirft Schreiner auf die Exotisierung brasilianischer, mexikanischer und anderer südamerikanischer Kultur.

Die 1960er Jahren beschreibt Schreiner als ein „Jahrzehnt voller Brüche und Sprünge“. Hippie-Mode, Partyexzesse, Schlager in West und Ost, die sehr bewusst die Klischees fremder Länder heraufbeschwören, die Bossa Nova, die erst die USA, bald aber auch Europa eroberte, oft in Kombination mit Jazzmusikern, Stan Getz in den USA, Caterina Valente in Deutschland. Schreiner beleuchtet die Zeit, in der das politisch engagierte Lied dem deutschen Schlager wie eine Art Gegenentwurf gegenübergestellt wurde, diskutiert die Bedeutung von internationalen Songwettbewerben und entdeckt neue Präsentationsformen exotischer Kultur, etwa durch die Konzertveranstalter Lippmann + Rau, die in den 1960er Jahren eintägige Blues-, Gospel-, Flamenco- und Brasilienfestivals organisierten. Hier kommt dann auch Joachim Ernst Berendt ins Spiel, der in den 1960er Jahren in der Mischung von Jazz und Musikern anderer Länder eine spannende Entwicklung und sich selbst als einen Vorreiter dessen sah, was bald als „Weltmusik“ bezeichnet wurde. Schreiner beschreibt, welche Bedeutung die Einzugsmusik für die Olympischen Spiele 1972 in München hatte, und er diskutiert, wie wichtig Auslandstourneen (organisiert beispielsweise vom Goethe-Institut) für viele der beteiligten Musiker waren.

Die 1960er Jahre waren hierzulande auch das Jahrzehnt des Folk, also beschreibt Schreiner auch diese Thematik: deutsche Volksmusik im Nachgang des Nazireichs, Einfluss des amerikanischen Protestsongs, das Waldeck-Festival, Liedermacher, Folk-Rock, den Unterschied in Wahrnehmung und Präsentation zwischen West- und Ostdeutschland. Die 1970er Jahre sieht er als Jahrzehnt sowohl der Amerikanisierung wie auch der Internationalisierung, diskutiert die Musik von Bands wie Kraftwerk, Klaus Schulze und The Can, aber auch die Hits von Tony Marshall, Costa Cordalis und der Les Humphries Singers. Und er nimmt die Rolle von Musik in Solidaritätsveranstaltungen mit den Opfern der chilenischen Militärdiktatur unter die Lupe oder bei Anti-Vietnam-Kriegs-Demonstrationen, bei Veranstaltungen zur Unterstützung Kubas und anderem mehr. Schließlich blickt er noch in die Fußgängerzonen der 1990er Jahre, die mittlerweile peruanische Folkloreensembles als Geschäftsmodell entdeckt hatten.

Im dritten Band nimmt sich Schreiner das letzte Viertel des 20sten Jahrhunderts vor, „Afrobeat, Salsa, Reggae & Co.“, wie er es unterschreibt. Ende der 1970er Jahre nahm das Interesse an afrikanischer Kultur hierzulande enorm zu, konstatiert er und führt als Beleg an: den Afrika-Schwerpunkt der Berliner Jazztage, das Festival der Weltkulturen „Horizonte“, die Documenta und die Frankfurter Buchmesse, die sich jeweils Afrika gegenüber öffneten. Afrikanische Popmusik wurde auch in Deutschland rezipiert, vor allem aber gab es inzwischen afrikanische Communities in den hiesigen Großstädten, die ihre eigene Kultur pflegten. Und schließlich spielt zum Ende des Jahrtausends auch das Internet eine Rolle dabei, dass die Welt kleiner und damit der Austausch zwischen den Kulturen fließender wird.

Schreiner beginnt diesen dritten Band mit einem Rückblick auf hundert Jahre, die afrikanische Musik als Quelle für Popmusik diente, ein Kapitel, in dem er auch die sich laufend wandelnden Klischees, Vorurteile und Rassismen thematisiert. Er schreibt über die Bedeutung von Musik in verschiedenen Teilen des afrikanischen Kontinents, über Instrumente, Rituale, Tanz, und über den Einfluss der europäischen Kolonialherren mit ihren Hymnen und Chorälen. Er hört sich Beispiele populärer Musik aus Ostafrika an, aus Afrolusamerica, also dem Dreieck zwischen Portugal, Brasilien und Afrika, aus Süd- und West- und Zentralafrika. Er befasst sich mit den musikalischen Auswirkungen kolonialer Umsiedlungspolitik in einem Unterkapitel, das er überschreibt „Kwela und Apartheid“. Er sinniert über Rumba und „Jazz“ in afrikanischer Kultur, „Jazz“ in Anführungsstrichen, weil es eine ganz andere Art von Musik ist als der Jazz, den wir aus den USA kennen. Er stellt die Griots vor, die in Westafrika traditionelle Funktion haben, über die Jahre dann regelrecht zu Popmusikern wurden. Er verweist auf Theorien, die afrikanische Quellen von Blues und Jazz verfolgen. Er benennt Festivals afrikanischer Kultur, die letzten Endes ein neues Selbstbewusstsein spezifisch afrikanischer Kultur schufen. Er weiß um die Afropop-Bewegung der 1970er Jahre, Fela Kuti, Manu Dibango, Thomas Mapfumo, Baaba Maal. Er stellt die 1980er Jahre als ein Jahrzehnt vor, in dem zahlreiche Musiker aus unterschiedlichen, meist durch Krisen ausgelösten Gründen, ihre Heimat verließen, und benennt insbesondere Kriege, Hungersnöte und HIV/AIDS als Gründe für das kulturelle Austrocknen der afrikanischen Musikszene jener Zeit.

Zugleich ist das letzte Viertel des 20sten Jahrhunderts eine Zeit der kulturellen Globalisierung, wie es sie zuvor nie gegeben hatte. Die europäische Hölle, hieß es in Bamako, sei immer noch besser als das afrikanische Paradies. Schreiner beschreibt eine der stärksten Veränderungen bei diesem musikalischen Exodus vieler Künstler: Sie spielten vor einem neuen, ganz anderen Publikum, das auch anders reagierte; und sie mussten sich über kurz oder lang auf eine Art Crossover einlassen, der die musikalischen Traditionen und Moden beider Welten berücksichtigt. Paris war eines der wichtigsten Zentren afrikanischer Musik in Europa, aber auch in London ließen sich ab den Mitt-1980er Jahren zahlreiche afrikanische Stars nieder. Sie alle inspirieren europäische oder amerikanische Popmusiker, gehen ins Studio, produzieren Hits, die ein junges Publikum erreichen und die Neugier auf afrikanische Musik verstärken. Kurz lässt Schreiner Vorläufer eines solchen Interesses Revue passieren: von Miriam Makebas „Pata Pata“ bis zu „The Lion Sleeps Tonight“, das auf einem südafrikanischen Lied basiert.

Musik und Politik gingen Hand in Hand, wie Schreiner in einem Zwischenkapitel betont, in dem er die Afrikapolitik Westdeutschlands und der DDR vergleicht. Dann wird er konkret, erzählt die Geschichte hinter dem Horizonte-Festival „Afrika“ von 1979, für das Willy Brandt ein Vorwort schrieb, verweist auf die Bemühungen zahlreicher Stars in den 1980ern, die (West-)Deutschen auf die Hungersnot in der Sahelzone aufmerksam zu machen (Stichwort: Karlheinz Böhm in „Wetten, dass?“). Er erzählt von Afrika-Begenungen europäischer Musiker wie Jasper Van’t Hoff, Embryo und Hartmut Geerken, und vom Einsatz europäischer und amerikanischer Popmusiker gegen die Apartheid in Südafrika. Er berichtet über das Schicksal afrikanischer Musiker, die sich entschieden in Deutschland zu bleiben und sich dabei manchmal, wie er schreibt, für ein „Nomandenleben zwischen Bühne und Volkshochschule“ entschieden. Und er stellt fest, wie deutsche Musiker von ihren afrikanischen Kollegen lernen, vielleicht ja selbst einmal zu Griots werden könnten, aber mit deutschen Texten.

Es ist ein sich wandelnder globaler Markt, den er da beschreibt, und auch das Goethe-Institut hat mit seiner Kulturarbeit im Ausland einen Anteil daran. In Zeiten des „America First!“ diskutiere man anders über kulturelle Identität, auch die UNESCO habe den Handlungsbedarf erkannt. Nebenbei erzählt Schreiner dann auch noch über die Problematik der sogenannten Ausländersteuer für Musiker aus Afrika oder Lateinamerika oder von dem Versuch Quoten einheimischer Musik im bundesdeutschen Rundfunk durchzusetzen.

Bleibt der Reggae: Auch hier blickt Schreiner zurück auf die Ursprünge, zeichnet die Entwicklung über Mento und Ska nach, erklärt seine (textliche wie musikalische) Sprache, seinen Einfluss auf die Londoner Musikszene, und schließlich die Rezeption des Genres in Deutschland. Was fehlt noch? Die ganz unterschiedliche Aspekte des Exotischen aufnehmende Musik des New Age etwa; Taiko, die Trommelkunst aus Japan, die seit den 1980er Jahren auch in Deutschland viele Anhänger fand; die „Erneuerung des Tango“, wie Schreiner sie nennt, also alles im Gefolge von Astor Piazzolla, aber eben auch die Mode des Tangotanzens in deutschen Großstädten; der Buena Vista Social Club natürlich und seine Auswirkungen auf eine neue Rezeption (und Exotisierung) kubanischer Musik.

Überall, ahnt man ja schon vor der Lektüre, weiß es aber danach noch weit besser, hat die Auseinandersetzung mit den Musiken dieser Welt ihre Spuren hinterlassen. Claus Schreiner gelingt eine Darstellung dieser Spuren in einem fürwahr umfassenden, trotz zahlreicher Verweise und Fußnoten keineswegs wissenschaftlichen, sondern gern auch persönlich-polemischen Werk, das auf Jahrzehnten an Forschung und Erfahrung, an Lektüre und Gesprächen des Marburger Konzertveranstalters, Plattenproduzenten und Lobbyisten für die Musik fusst.

Als Leser:in wird man schnell dazu animiert, die drei Bücher irgendwo aufzuschlagen und sich in den flüssig geschriebenen und immer den musikalischen Laien mitdenkenden Passagen festzulesen. Zum Schluss eines jeden Kapitels gibt es zudem Verweise – nicht nur auf externe Quellen, sondern auch auf solche in den drei vorliegenden Bänden. Schreiner springt vor und zurück, ihm ist das Narrativ des jeweils fokussierten Themas wichtiger als eine rein chronologische Darstellungsweise. Und immer wieder finden sich seine Kommentare aus dem Hier und Jetzt, aus aktuellen Diskursen etwa auch aus dem Themenkomplex kulturelle Aneignung vs. kulturelle Wertschätzung.

„Schöner fremder Klang“ ist ein spannendes Lesebuch (nein, gleich drei davon), unbedingt empfehlenswert, gerade weil Schreiner nicht in Genres denkt, sondern höchstens in Szenen, die menschliche Beziehungsebenen genauso spiegeln wie Marktmechanismen.

Wolfram Knauer (März 2023)


Artistic Research in Jazz. Positions, Theories, Methods
herausgegeben von Michael Kahr
New York 2022 (Routledge])
224 Seiten, 130 Britische Pfund
ISBN: 9780367225957

Das Forschungsfeld des „artistic research“ ist im Bereich der Bildenden Kunst schon lange eingeführt, im Jazz allerdings noch recht neu. Der österreichische Pianist, Komponist und Musikwissenschaftler Michael Kahr befasst sich mit dem Thema nicht erst seit seiner eigenen künstlerischen Forschung zur Jazzgeschichte der Stadt Graz; er hat jetzt außerdem die erste Sammlung an Aufsätzen herausgegeben, die unterschiedliche Ansätze an „artistic research“ diskutieren.

Marcel Cobussen beginnt mit grundlegenden Fragen: Wie lässt sich künstlerische Forschung im Bereich von Jazz und Improvisation durchführen, und was kann Improvisation zum Feld der künstlerischen Forschung beitragen? Konkret befasst er sich mit dem improvisierenden Körper und den Erkenntnissen, die sich ergeben, wenn man Improvisieren lernt, sowie mit der Improvisation als Methode, als kontinuierlich experimentierende Praxis, nicht also als ein Abrufen vorher eingeübter Patterns.

Vincent Meelberg diskutiert die musikalische Improvisation als taktile Praxis, also etwa, welche Auswirkungen die Erfahrung des Anfassens, der körperlichen Handhabung des Instruments, auf das Musikmachen haben. Dazu untersucht er die Aufnahme einer Performance, die er selbst mit seinem Trio eingespielt hat, und fragt an jeder Stelle, was neben dem reinen Hören an körperlichen Sensationen zu spüren war.

Chris Stover beleuchtet die Interaktion zwischen der musikalischen Praxis des Jazz und daraus resultierenden musiktheoretischen oder analytischen Diskursen. Herausgeber Michael Kahr selbst zitiert den Rektor der Universität für angewandte Kunst Wien, der betont, dass Musik doch schon lange künstlerische Forschung gewesen sei, und diskutiert dann konkrete Beispiele aus der Jazzgeschichte, George Russells „Lydian Chromatic Concept of Tonal Organization“ etwa, David Baker, Dave Liebman, Bill Dobbins und andere. Er betont auch die oft vorhandene Nähe herkömmlicher musikwissenschaftlicher Analyse zur erklingenden Musik der Analysierenden (Dieter Glawischnig) und das Bedürfnis zahlreicher Musiker öffentlich über ihre Musik (oder die anderer) zu reflektieren (Ethan Iverson).

Petter Frost Fadnes diskutiert die Entfremdung zwischen der Jazzwelt und jener der „academy“, der intellektuellen Auseinandersetzung mit und über Jazz. Er zeichnet den Weg des „artistic research“ in die Hochschulen nach und versucht zu erklären, warum Ansätze künstlerischer Forschung es ausgerechnet im Bereich des Jazz so schwer haben und was zu tun wäre, um die Situation zu verbessern.

Auch Tracy McMullen bleibt an den Hochschulen und fragt, was dort eigentlich gelehrt wird, wenn es um Jazz geht. Sie zitiert Jason Moran, der vor kurzem gesagt habe, an Hochschulen unterrichte man zwar das „Wie“, selten aber das „Warum“ oder „Wofür“. Sie beleuchtet die (amerikanische) Akademisierung der Jazzpädagogik und zeigt, wie die aktuellen Diskurse heute wieder sehr bewusst aus den Institutionen hinaus und auf die gesellschaftlichen Diskurse im Allgemeinen blicken. Auch William C. Banfield berichtet aus der Praxis seiner eigenen Unterrichtserfahrungen und hinterfragt dabei die Rolle musikalischer (und sonstiger) Bildung ganz generell. Die Bedeutung des Jazz, resümiert er, wird daran gemessen werden, wie er sich aktuellen Diskursen gegenüber verhält, nicht daran, wie glorreich seine Geschichte ist oder wie stark er swingt.

Die letzten vier Kapitel bringen konkrete Beispiele für künstlerischeForschung. Roger T. Dean analysiert Miles Davis‘ Aufnahme von „Shhh/Peaceful“ insbesondere mit Hinblick auf den Editionsprozess im Studio und die daraus resultierenden Veränderungen der ursprünglich improvisierten Musik. Robert L. Burke beschreibt einen analytischen Ansatz, mithilfe dessen Musiker:innen quasi ihre eigenen improvisatorische Praxis hinterfragen können und exemplifiziert diesen Ansatz dann am eigenen Beispiel. Marc Dubry beleuchtet seine Arbeit mit anderen südafrikanischen Musikern. Und Andrew Bain beschreibt die den Entstehungsprozess seiner „Embodied Hope“-Suite als Ergebnis von Vorplanung, Diskussion und Kompromiss.

„Artistic Research in Jazz“ ist weder eine Anleitung zur künstlerischen Forschung noch beschreibt sie das Gebiet ganz konkret und lexikonhaft. Alle Autor:innen (nunja, tatsächlich befindet sich nur eine Autorin unter ihnen) haben eine leicht andere Vorstellung von artistic research – aber das ist kein Wunder, handelt es sich hier doch um eine offene Praxis, die in unserem Fall in der Improvisation die Möglichkeit sieht, zusätzliches Wissen zu generieren.

Was also ist artistic research? Ich weiß es immer noch nicht knapp zu erklären, aber das Buch gibt mir zumindest eine Vorstellung davon, was es sein könnte.

Wolfram Knauer (März 2023)


Ain’t But a Few of Us. Black Music Writers Tell Their Story
herausgegeben von Willard Jenkins
Durham/NC 2022 (Duke University Press)
328 Seiten, 27,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-4780-1903-9

Der Journalist und Herausgeber dieses Buchs Willard Jenkins erzählt im Vorwort seine eigene Geschichte, wie er vom jugendlichen Jazzfan zum Jazzjournalisten wurde, erst für ein Studentenblatt, dann für die lokale Tageszeitung, schließlich für Wochenmagazine und Jazzperiodika. Er rezensierte Platten, Konzerte und reiste zu Festivals. Er las, was andere schrieben, und er unterstützte die wenigen afro-amerikanischen Publikationen zum Jazz mit Beiträgen. In den 1980er Jahren dokumentierte er die Jazz Community um die Great Lakes (Illinois, Indiana, Michigan, Ohio) fürs National Endowment for the Arts, arbeitete dann für den Kulturveranstalter Arts Midwest. Er veröffentlichte einen eigenen Newsletter, war Gründungsmitglied der Jazz Journalists‘ Association und Co-Autor der Autobiographie Randy Westons, und er rief seinen eigenen Blog ins Leben, „Independent Ear“. Immer blieb ihm bewusst, dass er in diesem Metier einer der ganz wenigen afro-amerikanischen Autoren über Jazz war. Auf seinem Blog begann er 2009 eine Interviewreihe mit schwarzen Kolleg:innen, aus der schließlich das vorliegende Buch entstand, in dem er unterschiedliche Perspektiven und berufliche Standorte reflektiert.

Jenkins beginnt sein Buch mit einem Roundtable, bei dem sechs Journalisten und eine Journalistin über ihren Weg zum Schreiben über Jazz berichten. Eric Arnold nennt LeRoi Jones‘ „Blues People“ als erste Inspiration; Jordannah Elizabeth erinnert sich an ihren ersten Blog, der schnell viele Zugriffe erhielt; für Bill Francis kam die Beschäftigung mit dem Jazz aus der Familie; Steve Monroe hatte ursprünglich über Sport geschrieben und wollte sich umorientieren; Rahsaan Clark Morris hatte Amiri Barakas „Jazz and the White Critic“ gelesen; Robin Washington produzierte eine Rundfunksendung über Coltranes „My Favorite Things“; und K. Leander Williams hatte schon im College über Musik geschrieben. Nicht allen von ihnen war der Mangel schwarzer Autoren zum Jazz bewusst: Natürlich lag die Macht des Musikbusiness in weißen Händen; in der schwarzen Community wurde die New York Times eben seltener gelesen als in weißen bürgerlichen Kreisen. Dieses Unverhältnis aber habe Auswirkungen darauf gehabt, wie über die Musik selbst berichtet wurde. „White jazz writers“, zitiert Elizabeth voller Überzeugung Amiri Baraka, „don’t have the emotional, experiential, existential, historical connection with jazz.“ Und Washington, der eigentlich jede Frage mit einem erneuten Hinweis auf seine Coltrane-Sendung beantwortet, beklagt, dass weiße „Experten“ manchmal nicht einmal zuhören, um die Perspektive ihrer schwarzen Kolleg:innen zu verstehen. Die Lösung liege leider auch nicht bei Publikationen, die sich speziell an eine afro-amerikanische Leserschaft richten, argwöhnt Williams, denn auch diese fokussierten ihr Interesse vor allem auf den Massengeschmack.

Im zweiten Kapitel spricht Jenkins mit zehn Autor:innen: Wissenschafter:innen wie Farah Jasmine Griffin und Tammy Kernodle, Biographen und Kulturjournalisten wie Robin D.G. Kelley und Guthrie P. Ramsey Jr., einflussreichen Schriftstellern wie A.B. Spellman und Greg Tate. Sie erzählen ausführlich über ihren eigenen Lebensweg, über ihren Ansatz ans Schreiben über Jazz, an Interviews oder biographische Forschung, über Zweifel an ihrer Arbeit und am Verkaufswert ihrer Publikationen. Beispiel: Als Karen Chilton ihr Manuskript zu einer Hazel Scott-Biographie verschiedenen Verlagen anbot, hörte sie als Antwort: „Hazel Scott, wo is she?“, und dann schauten die Verleger Chilton an und fragten: „And who are you?“

Für Kapitel 3 unterhält Jenkins sich mit vier Herausgebern schwarzer Zeitschriften, nämlich Pure Jazz, Jazz Spotlite News, Jazz Now, und The Crackle. Zu unserer Überraschung erinnert sich Haybert Houston, Herausgeber der kalifornischen Zeitschrift Jazz Now, wie eine „organization in Germany, the Jazz Institute in Darmstadt“ ihm seinerzeit, Anfang der 1990er Jahre, als er gerade mit dem Magazin angefangen hatte, enorm geholfen habe.

In Kapitel 4 kommen Robin James und Ron Scott zu Wort, zwei Journalisten, die für afro-amerikanische Zeitschriften schreiben. In Kapitel 5 unterhält Jenkins sich mit „magazine freelancers“, Autor:innen also, die für die Musik- und Jazzpresse arbeiten, für Jazz Times, Down Beat, Billboard und andere Journale. Kapitel 6 widmet sich Autoren, die eine Weile als „staff reporters“ oder „columnists“ in Zeitungen fest angestellt waren, konkret Martin Johnson (Amsterdam News), Greg Thomas (New York Daily News) und Hollie West (Washington Post). Und in Kapitel 7 kommen jüngere Autor:innen zu Wort, die oft genug im Internet auf Blogs oder in spezifellen Musikportalen publizieren.

Die Anthologie zum Schluss des Buchs versammelt wichtige Texte, die sowohl den Jazz als auch das Schreiben über den Jazz thematisieren. LeRoi Jones‘ „Jazz and the White Critic“ (1963) ist genauso dabei wie Marc Crawfords Nachruf auf Bud Powell (1966); Barbara Gardners Horace Silver-Story (1963); A.B. Spellmans Rezension eines John Coltrane-Konzerts (1965); Bill Quinns Feature über den Saxophonisten Bunky Green; Stanley Crouchs Abrechnung mit der weißen Musikindustrie (2003); Eugene Holley Jr.s Problem mit dem (weißen) Pianisten Bill Evans (2013); Ron Wynns Frage nach einem schwarzen Publikum für Jazz (2003); Anthony Dean-Harris‘ Ruf nach schwarzen Stimmen in der Jazzpresse (2013); Robin D.G. Kelleys Bericht darüber, wie Musiker Anfang der 2000er Jahre in Brooklyn ihr schwarzes Publikum fanden, während in den Clubs Manhattans vor allem weiße Zuhörer saßen; sowie Texte von Playthell Benjamin, Ron Welburn, Greg Tate und John Murph. Schließlich finden sich noch ein paar Beispiele von Musikern, die auch als Autoren in Erscheinung traten, Billy Taylor in einer Reaktion auf einen Artikel über Art Tatum, Wayne Shorter über Kreativität und Wandel, Archie Shepp über die politische und ästhetische Realität der 1960er Jahre, Herbie Nichols über Thelonious Monk, und Rex Stewart über Fletcher Henderson.

Willard Jenkins‘ Buch ist eine wichtige Sammlung, eine Perspektivverschiebung besonderer Art. Sie passt in den Zeitgeist, in dem ja oft genug (und durchaus zu Recht) gefordert wird, dass die Stimmen der „Betroffenen“, also jene aus den Communities selbst zu Worte kommen sollten. Sie stellt verschiedene Haltungen nebeneinander, gemäßigte Stimmen und solche, die in der mangelnden Präsenz schwarzer Autoren ein grundsätzliches Problem eines rassistischen Musikbusiness erkennen. Am Rande kommt (in einem Beitrag von Ron Welburn über Ekkehard Josts Free Jazz-Buch und Joachim Ernst Berendts Jazz Meets the World-Plattenreihe) auch der europäische Diskurs zu Wort, den Welburn einerseits als analytisch genauer beschreibt als der amerikanische der Zeit, der zugleich aber auch deutlich andere Wege dokumentierte als man sie im amerikanischen Jazz kannte.

Jenkins‘ Buch ist zugleich ein Weckruf zumindest an US-Publikationen, mehr afro-amerikanische Autor:innen zu Worte kommen zu lassen. Als vor ein paar Jahren, beklagt John Murph, Down Beat einen neuen Herausgeber suchte, habe die Stellenanzeige „black and brown writers“ sicher nicht im selben Maße erreicht wie ihre weißen Kollegen. Daran, so die zwischen den Zeilen überall durchscheinende Forderung, muss sich etwas ändern. Daran, so die Hoffnung, die man zugleich mitliest, hat sich bereits einiges geändert. Willard Jenkins ist damit quasi Chronist einer Entwicklung, die durch die Veröffentlichung seines Buchs einen stärkeren Schub erhalten könnte.

Wolfram Knauer (Januar 2023)


Phil Seamen, ‚Percussion Genius‘. Legendary Rebel and Born Raver
von Peter Dawn
Wick/UK 2022 (Brown Dog Books)
752 Seiten, 45 Britische Pfund
ISBN: 978-1-83952-391-5
Zu bestellen über https://philseamen.com/products/phil-seamen-percussion-genius

„Ich hörte Phil Seamen zum ersten Mal, als ich 16 Jahre alt war, 1957, im Flamingo Club. All seine Kollegen und ich ganz besonders, als junger, aufstrebender Schlagzeuger, sahen in ihm unseren Helden. Er spielte bewunderswert und mit phänomenaler Technik. Wahrscheinlich der beste, den wir jemals hatten.“ Wer da so schwärmt? Kein Geringerer als Charlie Watts, Rolling-Stones-Drummer und lebenslanger Jazzfan. Über wen er so spricht? Phil Seamen, einer der angesagtesten britischen Schlagzeuger der 1950er und 1960er Jahre, der 1972 im Alter von nur 46 Jahren verstarb.

Seamens Name ist irgendwie Legende – man hat schon mal um Ecken von ihm gehört, weil so viele ältere Musiker von ihm schwärmten, aber was er wirklich machte, wie er wirklich klang, wie er lebte und warum er so früh verstarb… man müsste es mal googeln. Jetzt hat Peter Dawn eine monumentale Biographie des Schlagzeugers vorgelegt, über 700 Seiten, intensiv recherchiert.

Seamen wurde 1926 in Burton on Trent geboren. Mit vier Jahren, erzählte er später, begann er zu trommeln, mit acht erhielt er sein erstes Schlagzeug-Set. Nur wenige Monate später gab er sein erstes Konzert, zusammen mit seiner Tante Sal für Patienten einer psychiatrischen Klinik. Dawn beschreibt das Leben in Burton, die Nachbarschaft, in der Seamen aufwächst. Phil macht eine Ausbildung zum Elektriker in der Brauerei, in der auch sein Vater arbeitete. Mit der Band des Saxophonisten Len Reynolds spielte er zum Tanz, mit den Metro Rhythm Boys, einer Art Band in dne Band, spielte er Boogie Woogie und Jazz. An seinem 19. Geburtstag schloss er seine Elektrikerlehre ab, kurz darauf entschied er sich den Weg des professionellen Musikers einzuschlagen.

Seamen wurde Schlagzeuger der populären Nat Gonella Band, mit der er nicht nur in England, sondern auch in Belgien, Holland, Frankreich und Deutschland auftrat. 1947 entdeckte er Aufnahmen der Dizzy Gillespie Big Band und war gefangen vom Bebop als Stil und von den Schlagzeugern, die darin neue Wege gingen, Kenny Clarke, Max Roach, Art Blakey. Mit Tommy Sampsons Band spielte er Stan Kenton-Arrangements, mit anderen Bands Stücke aus Gillespies Repertoire. Dawn verfolgt Seamens Engagements, zitiert aus Presserezensionen und spricht mit Zeitzeugen. In einem eigenen Kapitel beschreibt er die Londoner Jazzszene der 1940er und 1950er Jahre, in der Seamen den Reiz afrikanischer Rhythmen entdeckte, mit Musikern aus Nigeria abhing und all diese Erfahrungen in Kenny Grahams Afro Cubists einbrachte, eine Band, die sich an der afro-kubanischen Musik orientierte, die im New York jener Jahre der große Hit war.

Seamen tourte mit der Band Jack Parnells, begleitete Billie Holiday bei einem Konzert in London und trat in der Show „Jazz Wagon“ auf. Mittlerweile gehörte er zu den wichtigsten modernen britischen Jazzern um Tubby Hayes und Ronnie Scott. Es war ein Leben voller Musik: Tournee, Theater- oder Clubkonzerte, Studio-Sessions, Rundfunk-Gigs, und Seamen war irgendwie immer der bevorzugte Schlagzeuger.

Am 10. März 1956 heiratete Seamen seine langjährige Freundin Leonie; die Hochzeitsnacht verbrachten sie bei einem Konzert der Sängerin Ella Fitzgerald, die gerade in der Stadt war. Im Herbst des Jahres trat Seamen dann erstmals mit seinem eigenen Quintett auf, dem eine Weile auch der amerikanische Bassist Major Holley angehörte. Anfang 1957 wurde Ronnie Scotts Sextett für eine USA-Tournee gebucht, Seamen aber schaffte es nicht einmal auf die Queen Elizabeth. Ein Zollbeamter warf nur einen Blick auf ihn, schreibt Dawn, nahm ihn dann beiseite, durchsuchte ihn und fand … Heroin. Seamen landete im Untersuchungsknast, seine Frau schaffte mit Mühen sein Instrument per Zug und Taxi zurück nach Hause. Am Ende kam Seamen mit einer Strafe von 80 Pfund davon, von jetz ab aber ist seine Geschichte auch in Dawns Buch eine vom erfolgreichen Schlagtzeuger einerseits, vom abhängigen Junkie andererseits. Den Schuss habe er sich immer heimlich gesetzt, erinnert sich seine damalige Frau, habe ein oder zweimal ein Methadonprogramm probiert, ansonsten viel getrunken: „Er mochte alles, was ihm irgendwie einen Buzz gab.“ Für die Ehe war das letzten Endes zu viel; sie brach auseinander.

Seamen spielte mit Don Rendell und Dizzy Reece, und als Leonard Bernstein seine „West Side Story“ in London aufführen wollte, entschied er sich für Phil als den einzigen geeigneten Schlagzeuger, der Noten lesen und zugleich swingen konnte. Dazu muss man um eine Besonderheit der Beziehung zwischen amerikanischen und britischen Musikern in jenen Jahren wissen: die britische Musikergewerkschaften nämlich hatte erwirkt, dass amerikanische Musiker nur in Ausnahmefällen in Großbritannien auftreten durften. Weiter geht’s mit namhaften Gigs: Jazz Couriers, Tubby Hayes, Ronnie Scott’s erster Club, Aufnahmen für Platten, Rundfunk und Fernsehen.

Rückschläge: Tubby Hayes gefiel es nicht, dass sich Seamen zu sehr in den Vordergrund spielte. Der Rauswurf war aber kein Problem; Seamen spielte mit Ensembles jeglicher stilistischer Ausrichtung, mit dem Joe Harriott Quintet genauso wie mit Alexis Korner’s Blues Incorporated, und er begleite viele begleitete amerikanische Stars bei ihren Gigs im Vereinigten Königreich.

Vom 1969 stammt ein ausführliches Interview des amerikanischen Journalkisten Harry Frost mit Seamen, bei dem auch die Auswirkungen von Drogen auf seine Musik zur Sprache kommen, bei dem er offen über die verschiedenen Substanzen spricht, die er zu sich nahm. Dawn ergänzt das Interview mit Statements aus Seamens Freundeskreis über seine Sucht und darüber, dass er immer wie ein anderer Mensch gewesen sei, wenn er mal wieder aus einer Suchtklinik entlassen wurde.

Ein ausführliches Kapitel widmet Dawn Seamens Schlagzeugspiel, lässt auch hier Seamen selbst sowie Kollegen zu Worte kommen. Nach Alexis Korners Band spielte Seamen in modernen genauso wie in Trad Bands, wie sie damals in England Mode waren; er hing mit Ginger Baker ab, und er wurde Schlagzeuger in Georgie Fame’s Blue Flames Band. Weiter Namen: Dick Morrissey, die Harry South Big Band, Schlagzeug hinter Roland Kirk, Zoot Sims, Freddie Hubbard. Festivals und kleine Pubs, Ginger Bakers Band Air Force, Pläne für die Zukunft. Und dann kam jener schicksalshafte Tag, Freitag, der 13. Oktober 1972. Seamen fuhr mit dem Zug von Wimbledon zur Waterloo Station. Dort aber stieg er, was damals noch möglich war, auf der falschen Seite des Zuges aus, und fiel auf die stromführende dritte Schiene. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert, ging auf eigenes Risiko nach Hause, nahm Schlaftabletten, um runterzukommen, und starb noch in derselben Nacht.

Peter Dawns Buch ist eine ausführliche Würdigung des Lebens und Schaffens von Phil Seamen, „warts and all“, wie man im Englischen sagt, Höhen und Tiefen. Dawn hat sich wirklich ins Thema hineinvertieft, mit Zeitzeugen, Freunden, Verwandten gesprochen, alte Interviews herausgekramt und transkribiert, lässt Kollegen zu Worte kommen, beschreibt Seamens musikalischen Ansatz an sein Instrument, lässt aber auch die dunklen Seiten nicht aus, den Alkohol, die Drogen, die vielleicht nicht direkt, sicher aber indirekt mit verantwortlich waren für seinen Tod.

Dawn erzählt dabei ein wichtiges Kapitel britischer Jazzgeschichte, en detail, für den mit dieser Geschichte weniger vertrauten Leser vielleicht ein wenig zu sehr im Detail. Gerade angesichts der Gebrochenheit dieser Musikerpersönlichkeit aber ist Dawns sorgfältige Dokumentation mehr als gerechtfertigt. Er erweckt den Schlagzeuger quasi fünfzig Jahre nach seinem Tod zu neuem Leben. Und Dawn lässt die Worte nicht trocken auf dem Papier stehen. Auf der Website https://philseamen.com hat er die Musik (als kostenpflichtige Downloads) und Filmausschnite (als Links) des Schlagzeugers versammelt. Sein Buch füllt ohne Zweifel eine Lücke und ist gerade wegen der deutlichen Darstellung der verschiedenen Seiten des Phil Seamen lesenswert.

Wolfram Knauer (Februar 2023)


The Sam Rivers Sessionography. Attempting a Complete Historical Arc
von Rick Lopez
New York 2022 (The Vortex)
769 Seiten, 65 US-Dollar
ISBN: 978-0-578-94871-3
http://www.bb10k.com/

„Sessionology“: Fangen wir mit der Erklärung des Begriffs an: Während eine Diskographie meist vor allem veröffentlichte Aufnahmen eines Künstlers auflistet, mit Angaben über Besetzung, Aufnahmedatum und -ort, Label, Nummer, eventuelle Wiederveröffentlichungen und anderem mehr, geht die Sessionology darüber hinaus, nennt auch Mitschnitte, die oft nur in Sammlerkreisen kursieren, Liveaufnahmen für den Rundfunk, illegale Mitschnitte aus dem Publikum.

Rick Lopez, der ein ähnliches Unterfangen 2014 bereits für den Bassisten William Parker realisierte, hat sich nun also den Saxophonisten Sam Rivers vorgenommen. Er reiste nach Orlando, Florida, wo Rivers‘ Tochter Monique das RivBea Archive verwaltet, seinen Nachlass mit Geschäftspapieren, Fotoalben, Korrespondenz und jeder Menge sonstiger Dokumente.

Daraus bastelte Lopez sein Buch, das er selbst als ein „unvollständiges Puzzle“ beschreibt, eine Collage aus Informationen, die er über viele Jahre gesammelt hat. 1997 habe er das Projekt begonnen, erzählt er, damals als Website, nun also hat er es monumentale Monographie herausgebracht, 724 Exemplare nur, die Rivers‘ Plattenschaffen dokumentieren, seinen New Yorker Loft Rivea Studio, das für die New Yorker Avantgardeszene der 1970er Jahre so wichtig war, die Zusammenarbeit mit Kollegen, sein politisches und gesellschaftliches Engagement, sein Privatleben.

Es beginnt mit Erinnerungen des Saxophonisten selbst an seinen Vater, entnommen verschiedenen Interviews in Rundfunk und Musikzeitschriften. Wir finden seine Geburtsurkunde, erfahren über die ersten musikalischen Erfahrungen in der Kirche und seine ersten Instrumentalerfahrungen in der Schule. Während seines Wehrdienstes an der Westküste tritt er zum ersten Mal öffentlich auf, mit dem Bluessänger Jimmy Witherspoon. Danach zieht er nach Boston, schreibt sich am Boston Conersvatory of Music ein und spielt nebenher mit anderen Studenten, etwa Charlie Mariano oder Jaki Byard.

„46.00.00: Stanley Trotman Trio (?)“ – so beginnt der datenhuberische Teil des Buchs: Gemeint ist das Trio des Pianisten Trotman mit einem unbekannten Schlagzeuger und Rivers am Saxophon, von dem zwar keine Aufnahme erhalten sind, dafür aber ein Foto. Lopez listet verschiedene Bands in den Mitt-1940ern, die sich nicht genau datieren lassen und deren Besetzungen er aus Interviews zusammenklaubt.

Während des Studiums lernte Rivers Beatrice Perry kennen, die beiden heirateten im Oktober 1948, wir sehen die Heiratsurkunde. Lopez sammelt Erinnerungen an die Bostoner Bebop-Szene der späten 1940er Jahre, und: „49.00.00: Sam Rivers Sextet“: die erste Rundfunkübertragung, leider nicht erhalten. Die Aktivitäten dokumentiert Lopez mit Zeitungsausrissen von Ankündigungen seiner Engagements in Clubs und Konzerten, beispielsweise in der Rhythm & Blues-/Jump-Blues-Band von „Fat-Man Robinson“.

In den 1950er Jahren vermischen sich die Welten von Bebop und R&B für Musiker wie Rivers; ab 1957 begann Rivers daneben ernsthaft an einem eigenen Bandrepertoire zu arbeiten. 1958 stieg der in der Nachbarschaft wohnende gerade mal 12 Jahre alte Tony Williams ab und an ein. In diesen Jahren zog sich Rivers auch öfters zur „Lexington Cure“ in eine Entzugsklinik in Lexington, Kentucky, zurück – die Aufenthalte, für dessen Grund keine Informationen vorliegen, hätten eine wichtige Rolle für seine Entwicklung als Komponist gespielt.

In Boston experimentierte Rivers weiter mit den vielen jungen Musikern, die in der Stadt studierten, spielte Tanzgigs, tourte mit T-Bone Walker, war auf Sessions aktiv und trat mit eigenen Bands auf. Tony Williams brachte ihn 1964 für eine große Japan-Tournee als Ersatz George Colemans in die Band von Miles Davis. Jetzt auch beginnt die ernsthafte Diskographie in Lopez‘ Buch mit der Auflistung aller Mitschnitte der Tournee und Erinnerungen der Bandmitglieder oder von Beatrice Rivers. Zugleich ist das Engagement bei Miles Grund für Rivers‘ Umzug nach New York, wo er bald bei Aufnahmen des Blue Note-Labels mitwirkt, etwa mit Larry Young, Tony Williams und Bobby Hutcherson, daneben aber auch unter eigenem Namen („Fuchsia Swing Song“). Jetzt finden sich Ankündigungen und Interviewausschnitte über seine Arbeit mit Cecil Taylor, über Nachbarschaftskonzerte in Harlem, über Projekte, die insbesondere auf die afro-amerikanische Erfahrung Bezug nahmen.

Anfang der 1970er Jahre zog Rivers mit seiner Familie aus Harlem in die damals noch wenig attraktive Gegend südlich der Houston Street, wo er Musikunterricht geben und den jungen Musikern einen Probenraum zur Verfügung stellen wollte. Als George Wein 1972 mit seinem Newport Jazz Festival nach New York umzog, empfanden das zahlreiche der jungen, engagierten, aber nicht etablierten Musiker als Affront gegenüber ihrer so mühsam aufgebauten innovativen Szene. Als Reaktion organisierten sie ein Gegenfestival, das New York Musicians‘ Jazz Festival, das gegen freien oder geringen Eintritt in allen fünf Stadtteilen stattfand. Und so wurde das gerade erst gegründete Studio Rivbea, also Rivers‘ Loft auf der Bond Street, schnell zu einem der angesagtesten Orte für aktuelle Musik im New York der 1970er Jahre. Die Auflistung von Gigs, pädagogischen Angeboten, Workshops, Sessions, Aufnahmen nimmt zahlreiche Seiten ein. Und es muss wie eine Art Anerkennung der langen Arbeit gewirkt haben, als Rivers 1978 als Gast zum von President Jimmy Carter initiierten White House Jazz Festival eingeladen wurde. Kurz darauf allerdings, im August 1978, führte ein Wasserrohrbruch im Keller des Gebäudes dazu, dass Rivers seinen legendären Loft aufgeben musste.

Immerhin war er damals gut im Geschäft – er tourte regelmäßig durch Europa, nahm zahlreiche Platten auf, unter anderem mit seinem Quartett mit Joe Daley (Tuba), Dave Holland (Bass) und Thurman Barker (Drums). In den späten 1980er Jahren war er auch in der Bigband bzw. im Quintett Dizzy Gillespies unterwegs, wurde Anfang der 1990er Jahre Teil der Band Roots. Im November 2005 starb seine Beatrice in Florida, wohin die Familieetwa 1991 gezogen war. Rivers spielte weiter, bis zu seinem letzten Konzert im Oktober 2011 im Athens Theater in DeLand. Er wurde im Rollstuhl auf die Bühne gefahren, hing meist am Sauerstoff, spielte höchstens drei- oder viertaktige Soli. Am 6. Dezember starb er friedlich zuhause, in Orlando, im Alter von 88 Jahren.

Wie bereits angedeutet: Rick Lopez‘ Buch ist keinesfalls eine Biographie. Es ist auch keine Diskographie, und es ist keine Fotodokumentation. Und doch ist es irgendwie alles zugleich. Es lässt sich nicht in einem Stück lesen, dafür ist es auch gar nicht gedacht. Lopez sammelt Puzzleteilchen, von denen jedes einzelne spannend genug ist und eine weitere Perspektive auf die künstlerische Persönlichkeit des Sam Rivers vermittelt.

„The Sam Rivers Sessionography“ ist eine labor of love, unverzichtbar für Sam Rivers-Fans, und eine große Fundgrube für jeden, der über die freie Szene New Yorks in den späten 1960er bis frühen 1980er Jahren recherchiert.

Wolfram Knauer (Januar 2023)


Mein Gorilla hat ’ne Villa im Zoo. Die Weintraubs Syncopators zwischen Berlin und Australien
von Albrecht Dümling
Regensburg 2022 (ConBrio)
232 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-949425-03-5

Im Jahr 1924, als noch niemand ahnte, dass der Jazz mehr als eine kurze Modeerscheinung sein würde, gründete der Pianist Stefan Weintraub eine Kapelle, die bis in die 1930er Jahre die beliebteste Jazzband Deutschlands war. „Weintraubs Syncopators“ spielten zahlreiche Platten ein, gaben Konzerte auf Bühnen im ganzen Land Landes und waren im Film zu sehen (am bekanntesten im „Blauen Engel“ mit Marlene Dietrich). Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten gingen sie ins Exil, über die Sowjetunion und Japan nach Australien, wo Stefan Weintraub noch bis in die 1950er Jahre Musik machte, inzwischen nur noch als Hobby neben einem Brotjob.

Weintraubs Syncopators jedenfalls sind eine Legende der deutschen Unterhaltungsmusik, zu ihrer Zeit nicht weniger bekannt als die Comedian Harmonists. Jetzt hat der Musikhistoriker Albrecht Dümling, der seit Jahren zur Musikpolitik des NS-Staats sowie zum Musiker-Exil in Australien forscht, die Geschichte der Weintraubs in einem Buch dokumentiert.

In Breslau geboren, hatte Stefan Weintraub im Ersten Weltkrieg bei der leichten Infanterie gedient, und zog nach dem Krieg mit seinen Eltern nach Berlin-Charlottenburg. Er hatte als Kind Klavierunterricht genossen, sogar einen berühmten musikalischen Vorfahren gehabt, wie Dümling weiß, Salomon Weintraub nämlich, einen der bekanntesten jüdischen Kantoren Russlands. Sein Interesse aber galt Anfang der 1920er Jahre der neuen Modemusik, dem Jazz. Mit Freunden gründete er 1924 eine Tanzkapelle, die anfangs noch zum Spaß auftrat, nach populärem Erfolg aber bald zum Beruf der jungen Musiker wurde. Spätestens 1926 hieß die Band Weintraubs Syncopators, bereits im Sommer desselben Jahres war die Band im damals noch ganz jungen Rundfunk zu hören.

Berlin in den 1920er Jahren war eines der größten Zentren für Unterhaltungsmusik im Europa jener Zeit, und die Weintraubs spielten überall: in Cabarets, Ballsälen, auf Varietébühnen. Der Komponist Fridrich Hollaender engagierte sie für eine seiner Revuen und spielte dabei Klavier, so dass Weintraub zum Schlagzeug auswich. Dümling verfolgt all diese Aktivitäten, beschreibt dabei das Nachtleben der Hauptstadt genauso wie die junge Plattenindustrie, hört sich die ersten Aufnahmen der Band an, Instrumentals und Gesangsbegleitungen, zitiert aus zeitgenössischen Rezensionen über Revuen, beschreibt, wie Management und Publicity für eine Band in jener Zeit funktionierte. Die Weintraubs waren mittlerweile so bekannt geworden, dass der Maler Max Oppenheimer sie in einem Gemälde verewigte. Dümling erwähnt aber auch erste kritische Stimmen, die sich beispielsweise am amerikanischen Namen der Band störten und zunehmend am Jazzgehalt des Repertoires. Die Band war in ersten Tonfilmen präsent, und sie tourte extensiv durch Europa. 1932 wollten sie sogar New York erobern, das aber verhinderte die rigorose Auftrittspolitik der amerikanischen Musikergewerkschaft.

Die Programme ihrer Rundfunkauftritte zeigen die Bandbreite des Weinbtraubs-Repertoires zwischen Unterhaltungsmusik, Jazz und Operette. Der Jazz allerdings wich spätestens mit der Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler immer mehr Schlagern und „europäischer Folklore“. Im Herbst 1933 entschlossen sich die Bandmitglieder, die sich, wie Dümling schreibt, erst jetzt bewusst wurden, dass sie alle jüdischer Herkunft waren, von einer Tournee, die sie gerade in die Niederlande geführt hatte, nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren.

Das Exil begann also in Rotterdam. Die Weintraubs hatten sich einen Namen erspielt, der es ihnen leicht machte auch außerhalb Deutschlands Auftritte zu erhalten. Nach den Niederlanden ging es nach Belgien und in die Schweiz. Mitte der 1930er Jahre tourten die Musiker neun Monate lang durch das faschistische Italien, dann durch Österreich und die Tschechoslowakei. In Prag erhielten sie die Einladung zu einem 50-tägigen Russland-Engagement. Von dort ging es 1936 über die Mandschurei nach Japan, und 1937 schließlich nach Australien, wo die Musiker, die bis hierhin mitgekommen waren, sich niederlassen wollen.

Für die Einwanderungsformalitäten mussten sie bürgerliche Berufe angeben; Weintraub selbst erklärte als Pharmazeut tätig sein zu wollen. Tatsächlich spielte die Band aber weiter, in Australien genauso wie in Neuseeland, wenn es auch ausgiebige Diskussionen mit der australischen Musikergewerkschaft gab, die in den zahlreichen Exilmusikern ausländische Konkurrenz witterte. Akribisch dokumentiert Dümling das Ringen der Musiker um eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in Australien, die Denunziation von Nachbarn, die den Exildeutschen nach der britischen Kriegserklärung an Nazideutschland misstrauten, und die knapp anderthalbjährige Inhaftierung von Sommer 1940 bis Herbst 1941. Er beschreibt das Verfahren, das letzten Endes im September 1941 urteilte, die Weintraubs seien wohl keine Spione und könnten daher aus dem Lager entlassen werden, in dem sie zusammen mit früheren Nazis inhaftiert waren. Das Misstrauen gegen die Deutschen ließ allerdings genauwenig nach wie die Streits mit der Musikergewerkschaft.

Irgendwann gelang die Einbürgerung. Die Band war da allerdings bereits Geschichte. Drei der Bandmitglieder blieben der Musik treu, die anderen sahen sich nach bürgerlichen Jobs um. Weintraub wirkte 1958 noch bei einer Aufführung der „Dreigroschenoper“ in Sydney mit, die große Zeit des Bühnenerfolgs aber war nur noch Erinnerung.

Im letzten Kapitel erzählt Dümling die Geschichte der Wiederentdeckung der Weintraubs Syncopators, nachdem Horst H. Lange 1961 einen Artikel über die Band im Jazz Podium verfasst hatte. Horst J.P. Bergmeier begann Anfang der 1980er Jahre einen Briefwechsel mit Stefan Weintraub, der schließlich zu einer kleinen Biographie der Band führte, die Dümling insbesondere für den ersten Teil seines Buchs als wichtige Quelle diente.

Albrecht Dümlings Buch hat zwei Schwerpunkte: Für die Hochzeit der Weintraubs in den 1920er Jahre ordnet er die Aktivitäten der Band in die Unterhaltungsindustrie Berlins jener Zeit ein. Fürs australische Exil greift er auf Protokolle, Erinnerungen, Presseberichte, Archivakten zurück, aus denen klar wird, dass das Leben geflüchteter Deutscher in Australien während, aber auch noch nach Ende des 2. Weltkriegs mit Misstrauen begleitet wurde. Die Arbeit verbindet so genau das, was der Reihentitel verspricht: „Musik & Zeitgeschichte“. Eine Diskographie der erhaltenen Aufnahmen der Weibtraubs Syncopators rundet das Buch ab. Der Verlag hat zudem eine Website mit Audio- und Filmbeispielen angelegt, die es den Leser:innen erlauben, die Musik auch hörend nachzuvollziehen.

Wolfram Knauer (Dezember 2022)


Carolina Shout! The Carolina Jazz Connection
Von Larry Reni Thomas
Drewryville/VA 2022 (United Brothers & United Sisters Communications Systems)
121 Seiten, 20 US-Dollar
http://carolinajazzconnectionwithlarrythomas.blogspot.com/

Larry Reni Thomas ist Pädagoge, studierter Historiker und Journalist, ein regional bekannter, ja geradezu legendärer Radiomoderator (Radio-DJ) aus Wilmington, North Carolina. Seit Jahren ist es ihm ein Anliegen, die Roots des afro-amerikanischen Jazz in seinem Bundesland zu dokumentieren. Dafür hält er Vorträge an Schulen, diskutiert das Thema auch immer wieder in seinen Rundfunksendungen.

Vier dieser Sendungen sind jetzt in diesem Buch nachzulesen. Thomas hat sich jeweils Gäste eingeladen: den Trompeter Jim Ketch, den Bassisten Larry Ridley, die Schlagzeuger Peter Ingram, der Komponist Thomas J. Anderson und die Sängerin Nnenna Freelon. Sie sprechen über vier der „Big Four“, der großen Söhne/Töchter des Landes: John Coltrane, Thelonious Monk, Max Roach und Nina Simone, mal aus eigener Kenntnis als Musikerkollege oder Freund, mal aus dem übergroßen Einfluss der vier Musiker:innen heraus. Ketchs Aufgabe ist es die Besonderheit der Musik der vier Künstler einzuordnen, die anderen Gäste erzählen über den jeweiligen Menschen, also Trane / Monk / Roach / Simone.

Thomas stellt das alles in den Kontext der sozialen Ungerechtigkeit der Zeit, der Segregation, die bis 1954 legal war und die auch danach noch das Zusammenleben der Menschen im US-amerikanischen Süden prägte. Er beginnt das erste Kapitel „Contributing Factors“ ohne Worte, nur mit Fotos, die einerseits den Rassismus der Zeit, andererseits die Beweggründe vieler Menschen fortzuziehen verdeutlichen.

Zwei weitere Kapitel bestehen aus Namenslisten von Musiker:innen, die in North Carolina geboren wurden, Zuordnungen zu Städten im Bundesland, Musiker:innen, deren Eltern oder Großeltern aus North Carolina stammten, und Musikerr:innen, die über die Jahre im Bundesland lebten oder immer nich leben. Ein eigenes Kapitel ist „The Barn“ gewidmet, einem Spielort in Wilmington, in dem in den 1940er und 1950er Jahren alle großen Bands zu hören waren, Cab Calloway, Lionel Hampton, Count Basie, Dizzy Gillespie, Louis Armstrong.

Und schließlich findet sich noch Thomas eigener Essay über Helen Morgan, die Ehefrau des Trompeters Lee Morgan, die ihren Mann im Februar 1972 in einem Club in Manhattan erschoss. Eines Tages in den Mitt-1990er Jahren saß Helen Morgan in Thomas Volkshochschulklasse. Als er erfuhr, wer sie war, bat er sie um ein Interview, das 2016 die Basis für Kasper Collins preisgekrönten Film „I Called Him Morgan“ wurde.

Ein bunter Strauß an Annäherungen an afro-amerikanische Musik mit Wurzeln in North Carolina also. Keine umfassende Geschichte des Jazz im Ländle, eher ein Fokus auf besondere Geschichten, der aber nicht nur über die portraitierten Künstler:innen etwas verrät, sondern auch über die teilnehmenden Gesprächspartner:innen und über Larry Reni Thomas selbst. Der macht in einem Nachwort klar, wie kritisch er dem „Jazz“-Begriff gegenübersteht, sie wichtig es andererseits ist diese kreative Musik in den USA nicht nur den weißen Hörern zu überlassen, sondern das Bewusstsein auch der afro-amerikanischen Hörerschaft zu schärfen.


Made in Germany. Mein Leben für die Musik
von Klaus Doldinger
München 2022 (Piper Verlag)
318 Seiten, 26 Euro
ISBN: 978-3-492-07124-6

Natürlich ist er eine deutsche Jazzikone, ein Musiker, der hierzulande seit den 1950er Jahren tourt und international seit den 1960er Jahren Erfolge feierte. Man kennt ihn als Saxophonisten genauso wie als Filmkomponisten (Stichwort „Tatort“, „Das Boot“), man kennt ihn aber auch – wahrscheinlich ohne das zu wissen – von zahlreichen Werbejingles, die er komponiert hat, von Musik für Fernsehserien und vielem mehr. Musikalisch hat er alles gemacht von Dixieland bis Fusion; einzig an den Experimenten des Free Jazz nahm er nie teil. Er erlebte die kreativsten Jahre deutscher Nachkriegsgeschichte aktiv mit und ist auch heute, mit 86 Jahren, noch ein aufmerksamer Beobachter der Musikszene, vor allem aber nach wie vor ein kreativer Musiker.

Der Anfang von Klaus Doldingers Autobiographie ist jedenfalls schon mal zitierenswert: „Der Jazz traf mich wie der Blitz beim Pinkeln. Ich stand vor der Apotheke meines Onkels im oberbayerischen Schrobenhausen, als der Wind ein paar einzelne Klangfetzen aus dem Gasthof gegenüber an mein Ohr trug.“ Es war kurz nach Kriegsende, und amerikanische Soldaten jammten in der Kneipe, spielten eine Musik, wie er sie nie zuvor gehört hatte. Es war die Initialzündung zu seiner lebenslangen Jazzliebe.

Klaus Doldinger war der erste Sohn eines strengen Vaters, Diplomingenieur mit hohen Positionen im deutschen Postwesen. Die Familie zog oft um, Berlin, Köln, Wien, Schrobenhausen – oder, um genau zu sein: letzteres die familiäre Zuflucht für Mutter und die beiden Söhne, als der Krieg sich dem Ende zuneigte. Jugend in Düsseldorf, wo der Vater mittlerweile Oberpostrat war. Ein Nachbar besaß eine Aufnahme des legendären Jazz at the Philharmonic-Konzerts von 1944 mit Nat King Cole und Illinois Jacquet, eine Platte, die in Doldinger den Wunsch auslöste, selbst Jazz zu spielen. Er erhielt klassischen Klavierunterricht und begeisterte sich dank der Voice of America für Aufnahmen von Count Basie, Oscar Peterson und Duke Ellington. Er ging regelmäßig zu Treffen des Hot-Clubs Düsseldorf, und er griff mehr und mehr zur Klarinette, die ihm jazzgemäßer schien.

Bald freundete er sich mit dem Pianisten Ingfried Hoffmann an, ab 1953 Jahre trat er dann regelmäßig mit den Düsseldorf Feetwarmers auf. Die Band spielte Dixieland und traditionellen Jazz, machte beim in Düsseldorf ausgerichteten Amateur-Jazz Festival den zweiten Platz und Ende 1955 die ersten Plattenaufnahmen für das Kölner Climax-Label. Doldingers Idol der Zeit hieß Sidney Bechet, und dieser, Jacquet und Lester Young waren der Grund, warum er neben Klarinette bald auch Saxophon spielte.

Im Oktober 1955 lernte Klaus Doldinger seine spätere Frau Inge kennen, die quasi für den zweiten Handlungsstrang seiner Autobiographie verantwortlich zeichnet: die Familie. Doldinger schildert den langsamen Weg zum Berufsmusiker, die Widerstände im Elternhaus, Umwege beispielsweise eines Studiums als Tonmeister, das ihm bei seiner späteren Arbeit zugute kommen sollte, seine erste Tournee (mit den Feetwarmers) durch die Vereinigten Staaten im Winter 1960, Begegnungen mit „seinen“ Legenden, Musikern wie George Lewis, Max Roach und anderen.

Anfang der 1960er Jahre gründete Doldinger sein Quartett, kurz darauf wurde der junge Plattenmanager Siegfried Loch auf ihn aufmerksam und bot ihm eine Zusammenarbeit an. „Jazz Made in Germany“ erschien im Oktober 1963 in der Philips-Begleitreihe für die Zeitschrift Twen und wurde nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA veröffentlicht, dort unter dem Titel „Dig Doldinger“. Doldingers Karriere nimmt Fahrt auf, er tourte für das Goethe-Institut durch Europa, Nordafrika und den Nahen Osten. Er schrieb seine erste Filmmusik (für den Zeichentrickfilm „Tempo“, 1963), und er spielte unter dem Pseudonym „Paul Nero“ erfolgreiche Easy-Listening-Platten für Siggi Loch ein. Doldinger erzählt von der ersten Südamerika-Tournee 1965, von Arbeiten fürs Theater, einem Crossover-Konzert für Sinfonierorchester und Jazzband, von den Schwierigkeiten, sein schon damals volles Tourprogramm und das Familienleben unter einen Hut zu bringen, von der legendären Fernsehdebatte, bei der er und Peter Brötzmann aufeinandertrafen (und, nein: die Runde fand zwar am legendären „Internationalen-Frühschoppen“-Tisch statt, aber moderiert wurde sie von Siegfried Schmidt-Joos, nicht von Werner Höfer). Er erinnert sich an die Anwürfe, die er aus der Jazzszene dafür bekam, dass er popmusikalischen Trends gegenüber aufgeschlossen war, und er erinnert sich an seine Zusammenarbeit mit Udo Lindenberg, der ja bekanntermaßen seine Karriere als Jazzschlagzeuger begann.

1970 kam der erste Sohn, im selben Jahr kam auch der Auftrag einen Vorspann für eine neue Fernsehserie zu schreiben, „Tatort“. Die Familie lebte mittlerweile nahe München; Doldinger selbst allerdings überall auf der Welt. Er erzählt von der Zusammenarbeit mit den Ertegun-Brüdern, bei deren Liberty-Label Doldinger ab 1971 unter Vertrag stand. Inzwischen hatte er Passport gegründet, eine Band, die die Kluft zwischen Jazz und Rop bzw. Rock noch konsequenter überbrückte und weit über Deutschland hinaus Erfolg hatte. Ab jetzt wird das Buch ein wenig zur Leistungsschau: „43 Konzerte in sechs Wochen und 23 Städten“ (in den USA), „drei bis vier Filme pro Jahr und (…) mehrere Werbeclips“, ein eigenes Studio als Anbau ans Haus in Icking, Reisen, Preise, Auszeichnungen, Umbesetzungen, die befriedigenden Dreharbeiten für „Das Boot“, die weniger befriedigenden Dreharbeiten für „Die unendliche Geschichte“.

Und schließlich das „Alterswerk“, zu dem nicht nur seine weitere musikalische Entwicklung gehört, sondern auch seine Aktivitäten etwa für GEMA oder Union Deutsche Jazzmusiker (heute: Deutsche Jazzunion), die Zusammenarbeit mit Manfred Krug oder Volker Schlöndorff oder mit den „Old Friends“, einem Quintett, in dem Doldinger auf die etwa gleichaltrigen Kollegen Manfred Schoof, Albert Mangelsdorff, Wolfgang Dauner, Eberhard Weber traf. „Und plötzlich war da Stille“. Die Pandemie hat auch Klaus Doldinger erreicht, alle geplanten Konzerte wurden gecancelt. Zeit zu schreiben – Musik und dieses Buch.

„Made in Germany. Mein Leben für die Musik“ ist eine flott geschriebe und ebenso lesbare Autobiographie geworden. Insbesondere Doldingers Erinnerungen an seine Jugend und die Anfänge seiner Karriere bieten einen Einblick in deutsche Jazzgeschichte; später wird das Buch dann mehr und mehr zu einer Selbstbeschau – was keinesfalls ein Vorwurf sein soll: Doldingers Erfolg ist nunmal eine Tatsache –, was die letzten Kapitel aber etwas mühsam macht. Auf ein Register hat der Verlag verzichtet, stattdessen gibt es eine Diskographie, die gut seine ganz unterschiedlichen Aktivitäten zusammenfasst.

Wolfram Knauer (Oktober 2022)


Komeda. A Private Life in Jazz
von Magdalena Grzebałkowska
Sheffield 2020 (Equinox)
456 Seiten, 30 Britische Pfund
ISBN:978-1-78179-945-1

Komeda on Records
von Dionizy Piątkowski
Warschau 2022 (era jazzu)
263 Seiten,
ISBN: 978-83-965160-0-8
Kontakt: info@jazz.pl

Krzystof Komeda ist vielleicht der ikonischste Musiker, den Polen im Jazz hervorgebracht hat. Er war es, der dem modernen Jazz des Landes ab 1956 seinen eigenen Stempel aufdrückte, mit seinen Kompositionen genauso wie mit dem Sound seiner Bands, seinem eigenen Klavierspiel und seinen Arrangements. Er begründete eine Tradition, der sich polnische Musiker:innen eigentlich bis heute verpflichtet fühlen und die fast eine Art eigenen nationalen Sound hervorgebracht hat. Musiker wie Zbigniew Namysłowski, Andrzej Trzaskowski, Jan Wróblewski, Tomasz Stańko beziehen sich genauso auf ihn wie jüngere Musiker, etwa Leszek Możdżer, Maciej Obara oder Vladyslav Sendecki, die sich seiner zeitlosen Stücke angenommen haben.

Komeda, der einem breiten Publikum insbesondere durch seine Musik zu Filmen Roman Polańskis bekannt wurde, hatte eigentlich Medizin studiert und bis 1957 in Poznan Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde praktiziert. Spätestens 1956 aber, als seine Band beim ersten Polnischen Jazzfestival in Sopot auftrat, wurde ihm die musikalische Karriere wichtiger. Beim zweiten Festival in Sopot waren erstmals deutsche Musiker vertreten, Albert und Emil Mangelsdorff und andere, und das polnische Publikum war von dem fasziniert, was es als eine Art „Frankfurt Sound“ identifizierte. Ein eigener Sound, der sich auf die Jazzgeschichte genauso besinnt wie auf die klassische Musiktradition Europas, macht auch Komedas Musik aus, die darüberhinaus als eine klare Stimme des individuellen Ausdrucks verstanden wurde innerhalb eines trotz der Lockerungen, die es in den 1960er Jahren dem Jazz gegenüber gab, immer noch repressiven Systems.

In ihrer Biographie nähert sich Magdalena Grzebałkowska ihrem Sujet Krzysztf Komeda sehr persönlich. Sie spricht mit Weggefährten, Freunden, Kollegen, zitiert aus zeitgenössischen Berichten über Autritte und Plattenveröffentlichungen, ordnet Komedas Schaffen ein sowohl in die Jazzentwicklung wie auch die politische Situation im Polen seiner Zeit. Sie beschreibt den wachsenden Ruf, den Komeda sich auch außerhalb seines Heimatlandes erarbeitete und seine wachsendes Interesse an Filmmusik, die er ab 1961 insbesondere in seinem Kooperationen mit Roman Polański schuf und von denen „Knife in the Water“ (1962) und „Rosemary’s Baby“ (1968) vielleicht die bekanntesten waren. Für den letztgenannten Film wohnte Komeda 1968 in Los Angeles. Hier erlitt er Ende des Jahres einen Unfall, von dem verschiedene Versionen kursieren. Auch Grzebałkowska kann den genauen Hergang nicht aufklären, erzählt aber, wie dieser Unfall erst zu fürchterlichen Kopfschmerzen führte, dann einer Hirnblutung, einem Krankenhausaufenthalt, zum Koma und schließlich zum Tod Komedas im April 1969.

Grzebałkowskas Buch ist ausdrücklich als Lebensgeschichte betitelt („A Private Life“); ihr Stil ist mal sachlich, mal literarisch, die Musik allerdings kommt vor allem durch zeitgenössische Zitate oder in Gesprächen mit Kolleg:innen zur Sprache.

Dafür widmet sich Dionity Piątkowskis „Komedy on Records“ einzig der Musik Krzysztof Komedas. Bei seinem Buch handelt es sich um eine Art kommentierte Diskographie, in der der Autor Umstände und Bedeutung der Aufnahmen Komedas beschreibt, und über das Aufnahmeschaffen von 1956 bis 1968 hinweg auch Wiederveröffentlichungen listet sowie Aufnahmen, die andere, insbesondere polnische Künstler:innen Komedas Musik nach dessen Tod widmeten. Während Grzebałkowskas Biographie in englischer Übersetzung vorliegt, ist Piątkowskis Buch in polischer Sprache.

Beiden Bücher dokumentieren damit von unterschiedlicher Seite das Leben und Schaffen eines bedeutenden europäischen Musikers. Eine ausführliche Würdigung seiner musikalischen Leistung findet sich übrigens im Buch “ Polski jazz.Wczesna historia i trzy biografie zamknięte Komeda.Kosz.Seifert „, das Roman Kowal bereits 1995 vorgelegt hat, die Kooperation des Pianisten und Komponisten mit Polański dagegen wird in diversen wissenschaftlichen Untersuchungen zur Filmmusik diskutiert.

Wolfram Knauer (September 2022)


Was ist damit nur gemeint? „Geheimnisse“ und Geschichten zu populären Musiktiteln aus dem Jazz- und Unterhaltungsbereich
von Gerhard Klußmeier
Herne 2022 (Gabriele Schäfer Verlag)
142 Seiten, 39,90 Euro
ISBN: 978-3-944487-90-8

Gerhard Klußmeier ist Journalist, längjähriger Vorsitzender des Vereins Swinging Hamburg, in dessen Journal auch eine regelmäßige Kolumne „Was ist damit nur gemeint?“ erscheint, in der Klußmeier der Bedeutung von Titeln der Jazzgeschichte auf die Spur geht. Jetzt hat er 160 dieser detektivischen Geschichten in einem großformatigen Buch zusammengefasst.

Es beginnt bei A wie „Alice Blue Gown“ (aufgenommen unter anderem von Ben Pollack, Harry James oder Glenn Miller; Titel verweist auf die Tochter von US-Präsident Theodore Roosevelt, deren Lieblingsfarbe blau war), und es endet bei Z wie „Zulus Ball“ (aufgenommen von King Oliver’s Creole Jazz Band“, Verweis auf den Zulu Social Aid and Pleasure Club in New Orleans).

Es sind kurze Essays, in denen Klußmeier immer wieder zusätzliche Informationen zur Jazz-, Swing- oder Landesgeschichte der USA versteckt. Mal lässt er die Komponisten selbst zu Worte kommen lässt (Sy Oliver über „Yes, Indeed!“); mal berichtet er über Legenden (wie die zum „Midnight Special“, dass, welcher Insasse des Texas State Prison von den den Scheinwerfern des betreffenden Zugs der Missouri-Pacific-Eisenbahngesellschaft erfasst würde, als nächster entlassen werde); mal ist er mysteriösen Figuren des Nachtlebens auf der Spur („Jack the Bear“, erklärt er, ginge wahrscheinlich auf einen legendären New Yorker Pianisten, obwohl es wohl auch Bordell-Chefin aus New Orleans mit gleichem Spitznamen gegeben habe). Es sind bekannte Standards der Jazzgeschichte („Heebie Jeebies“, „Rose Room, „Sing, Sing, Sing“, „Copenhagen“), daneben aber auch Aufnahmen, die wahrscheinlich nur Jazzfans ein Begriff sein dürften („Did You See Jackie Robinson Hit That Ball?“, „The Good Earth“, „John Silver““Slaughter on Tenth Avenue“). Bebildert ist das alles mit den Labels der Originalveröffentlichungen (die meist aus der Schellackära stammen) sowie zur Geschichte passenden Fotos.

Der Jazz und die populäre Musik der 1930er und 1940er Jahre, argumentiert Klußmeier im Vorwort, sei dem Tagesgeschehen verbundener gewesen als man dies annehmen mag. Seine Geschichten vermitteln so oft auch knappe Einblicke in die Kulturgeschichte der USA.

Wolfram Knauer (Juli 2022)


Barrelhouse Jazzband. The Untold Story 1953-2023
von Rainer Erd
Frankfurt/Main 2022 (Eigenverlag)
244 Seiten, 23 Euro
ISBN: 978-3-96031-005-1
(zu bestellen direkt beim Autor: Rainer.Erd@t-online.de)

Die Barrelhouse Jazzband aus Frankfurt: Deutschlands älteste Jazzband – und Rainer Erd hat im Untertitel gleich ein Jahr vorgegriffen und den anstehenden 70sten Geburtstag 2023 mitgedacht. Nun gut, von den Musikern der Erstbesetzung ist niemand mehr dabei, aber Saxophonist Frank Selten immerhin seit 1961 und Klarinettist Reimer von Essen seit 1962. Rainer Erds Bandbiographie erzählt vom Alltag im Jazzbusiness, und zwar in einer ganz speziellen Abteilung, nämlich der des traditionellen Jazz. Sie erzählt vom ästhetischen Wandel, vom Unterschied zwischen Amateur- und professionellen Musikern, von ganz unterschiedlichen Lebenswegen, die in dieser Band zusammenkommen, von Diskussionen über Repertoire, Spielhaltung und neue Bandmitglieder, von einer stilistischen Haltung, die Respekt fordert, auch, weil sie die eigene Interpretation der Jazzgeschichte dauernd reflektiert und hinterfragt.

Es begann also 1953, als Horst Dubuque, Amateurkornettist, der im AFN auf Jazz aus New Orleans gestoßen war und dem es seither besonders das Spiel wie King Olivers angetan hatte, mit seinem Freund, dem Klarinettisten Alfred Dechert, eine Band gründete. Anfangs probten die sechs Musiker (inklusive übrigens einer Musikerin, Annette Haug am Banjo) im Keller des Hutgeschäfts Dubuque. 1956 trat die Band zum erstenmal auf, wenig später notiert Dubuque in seinem Tagebuch allerdings bereits von der Auflösung der Barrelhouse Jazzband. Es waren erste stilistische Differenzen zwischen Kornettist und Klarinettist, die beinahe zum Auseinanderbrechen geführt hätten, letzten Endes aber damit bereinigt wurden, dass Dechert die Band verließ. Rainer Erd schildert, wie versessen Dubuque darauf gewesen sei, die Musik seiner Idole so genau wie möglich nachzuspielen, wie sehr er „modernere“ Interpretationen des alten Stils, etwa von britischen Musikern wie Ken Colyer, ablehnte. Er beschreibt Besetzungswechsel und ihre Auswirkungen aufs Repertoire genauso wie Höhepunkte der Bandgeschichte, etwa die USA-Reise 1968, die darin gipfelte, dass die gesamte Band zu Ehrenbürgern von New Orleans ernannt wurde. Er verfolgt, wie die Band über die Jahre immer professioneller wurde, eine Professionalisierung, die Dubuque allerdings so mishagte, dass er die Barrelhouse nach einer Afrikatournee fürs Goethe-Institut 1971 verließ.

Die Professionalisierung betraf nicht nur die musikalische Haltung, sondern tatsächlich auch die Entscheidung künftig von der Musik leben zu wollen. Diese fiel jenen Bandmitgliedern leichter, die eh aus Altersgründen aus ihrem Brotberuf ausstiegen, für andere war das durchaus eine biographische Wegmarke. Die Barrelhouse Jazzband spielte immerhin bis zu 120 Konzerte im Jahr, das ließ sich kaum mehr nebenbei bewerkstelligen. Erd erzählt von den Jazzkreuzfahrten, die ab 1987 mehrmals im Mittelmeer stattfanden und auf denen die Barrelhouse Jazzband zu hören war. Er erzählt von den Galatourneen mit amerikanischen Gaststars, die ab 1983 stattfanden und die Band mit namhaften Solisten der Swingära zusammenbrachte. Und er erzählt von stilistischen Erweiterungen, die auch damit zusammenhingen, dass es der Band gelungen war, jüngere Musiker zu verpflichten, die ursprünglich aus anderen stilistischen Lagern kamen waren, den Pianisten Christof Sänger etwa oder den Gitarristen Roman Klöcker.

Den zweiten Teil des Buchs machen zum Teil sehr persönliche biographische Portraits der aktuellen Bandmitglieder aus, Reimer von Essen, Horst Schwarz, Frank Selten, Christof Sänger, Roman Kölcker, Lindy Huppertsberg und Michael Ehret, dem Roadie Rolf Kießling, sowie früherer Bandmitglieder wie Cliff Soden, Jan Luley, Bernd K. Otto, Angi Domdey und dem langjährigen Manager Dieter Nentwig.

Rainer Erds Buch ist nicht das erste über die Barrelhouse Jazzband. Zum 40jährigen Jubiläum erschien 1993 eine von Horst Lippmann herausgegebene Sammlung einschließlich O-Tönen von Bandmitgliedern und Kollegen. 2013 gaben Michael Ehret und Frank Selten zum 60jährigen Bandjubiläum einen opulenten Bildband heraus. Erd lockt mit den „nicht erzählten Geschichten“, und tatsächlich finden sich solche beispielsweise in den Biographien einzelner der Bandmitglieder, aber auch in der Reflektion über stilistische Diskussionen über die Jahre. Eine Reihe an untold stories allerdings lässt auch er letzten Endes unerzählt, deutet sie nur an, wenn er beispielsweise über einen Konflikt berichtet, den es zwischen einigen seiner Gesprächspartner gegeben habe, als es um die Kreuzfahrten der späten 1980er Jahre ging. O-Ton Erd: „Der Leser mag sich seinen eigenen Reim darauf machen. Auch mir war das Erscheinen des Buchs wichtiger, als all das darzustellen, was noch heute für Einige nicht benannt werden kann.“

„Barrelhouse Jazzband. The Untold Story 1953-2023“ ist eine kurzweilige Zusammenfassung eines Kapitels deutscher Jazzgeschichte, einer Band, die auch nach 70 Jahren noch sehr lebendig ist der es gelingt, die Tradition zu feiern und dabei doch auch neu zu interpretieren.

Wolfram Knauer (Juli 2022)


1.000 Tage Savoy. Eine Dokumentation. Drei Jahre geballter Kulturbetrieb in Braunschweig – 1986 bis 1989
von Bärbel Mäkeler
Braunschweig 2022 (text-support)
256 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978-3-9820557-8-7

Drei Jahre nur gab es das Savoy, eine Kleinkunst- und Musikbühne in Braunschweig, doch diese drei Jahre füllen leicht ein reich bebildertes, mit Fakten gefülltes und zugleich überaus lebendiges Erinnerungsbuch einer der beiden Gründungsgesellschafter:innen, Bärbel Mäkeler. Sie hatte ihrer Tochter von ihrem Leben als Veranstalterin erzählt, und die habe sie schließlich ermutigt, das alles doch mal aufzuschreiben, begründet Mäkeler die Initiative zu diesem Buch. Und tatsächlich warteten die Zeugnisse ihrer Zeit im und mit dem Savoy im Regal nur darauf, durchforstet zu werden: Fotos, Programmflyer, Zeitungsberichte, Geschäfts- und Gästebücher.

Entstanden ist ein lebendiges Buch über Braunschweig, über die Alternativkultur in einer Universitätsstadt der 1980er Jahre, über die Realität des Lebens als Wirtin, Veranstalterin, Geschäftsfrau. Im Tagebuch hat Mäkeler notiert: „27.02.1986: Ich mache (…) einen Nachtclub auf. ‚Savoy‘ wird er heißen. Leopoldstraße 7, geöffnet von 9 Uhr morgens bis 5 Uhr nachts.“ Im September war es dann so weit, doch die Öffnungszeiten ließen sich nicht lange halten. 9 Uhr morgens bis 5 Uhr früh, rechnet sie vor, das waren ja 140 Stunden; auch wenn man sich die teilte, war das einfach zu viel. Von Träumen und Illusionen, von „großen Plänen“ und „schrumpfendem Geldbeutel“ ist auf den Seiten zu lesen, von Fehlkalkulationen und dem Ausgehverhalten des Braunschweiger Publikums, von Stars wie Chet Baker, Maria Joao oder Bill Ramsey und von regionalen Bands. Nach zwei Jahren verließ ihr Co-Geschäftsführer das Schiff, und Mäkeler machte als alleinige Geschäftsführerin weiter. Folk, Jazz, Blues, Kabarett brachten die Kasse allerdings nicht ins Plus, und im Februar 1989 klebte der Gerichtsvollzieher erste Pfandsiegel. Im Juni 1989 dann war es vorbei. Die Presse rühmte die Idee, kritisierte aber auch, wie Mäkeler nicht verschweigt, Missmanagement.

Etwa 70 Seiten widmet Mäkeler der Geschäftsgeschichte des Savoy – einschließlich eines Exkurses in die Historie von Varietétheatern in Deutschland -, dann folgt die Erinnerung an Höhepunkte. Knapp 500 Veranstaltungen, 1.900 Künstler:innen, „davon 242 Frauen“, ein Mix aus Musik, Kabarett, Travestie, Show, Tanz und anderem mehr. Wir lesen zeitgenössische Kritiken genauso wie Erinnerungen an Konzerte etwa von Chet Baker, Lou Blackburn, Philip Catherine, Maria Joao, Aki Takase, Katie Webster, Luis di Matteo, Hanns Dieter Hüsch, Embryo und zahlreichen anderen. Ein spezielles Kapitel widmet Mäkeler den Frauen, die auf ihrer Bühne auftraten und spricht dafür mit Gabriel Hasler über ihre Erfahrung als Musikerin im Musikgeschäft. Sie erinnert sich an die PR-Arbeit, an die Technik, an Essen und Trinken und die Kunst des Kellnerns. Eine detaillierte Auflistung der Auftritte des Savoy beschließt die Dokumentation, die vielleicht vor allem für Braunschweiger:innen interessant sein mag, deren Erfahrungen sich aber sicher auch auf ähnliche Spielorte andernorts übertragen lassen.

Wolfram Knauer (Juli 2022)


Chargesheimer fotografiert Jazz, Köln 1950-1970
herausgegeben von Evelyn Bertram-Neunzig
Köln 2022 (emons)
220 Seiten, 35 Euro
ISBN: 978-3-7408-1515-8

Es gibt ein eigenes Kapitel in diesem Buch, überschrieben „Studioaufnahmen von Kenny Clarke. Vorarbeiten für ein Fotobuch?“, das allein die künstlerische wie dokumentarische Qualität der hier dokumentierten Aufnahmen exemplifiziert. Irgendwann Anfang der 1960er Jahre in Köln entstanden, wo der afro-amerikanische Schlagzeuger regelmäßig zu Proben der Kenny Clarke Francy Boland Big Band war, enthält es Studien, mehr als Aufnahmen: die rechte Hand mit ausgestrecktem Stock aufs Becken gerichtet. Verschiedene Bewegungen der Hände mit Stöcken von oben fotografiert. Aufnahmen von vorne, leicht von oben. Handstudien mit Stöcken und Anschlagswinkeln. Was sich liest (und teils auch ansieht) wie für eine Schlagzeugschule aufgenommen, spielt zugleich mit der Form des Schlagzeugs, den runden Becken, den runden Trommeln, den Stöcken, die die Kreise durchstechen, den steuernden Händen. Es sind Bewegungsstudien, die den enormen Respekt des Fotografen vor dem Handwerk des Schlagzeugers belegen.

Chargesheimer war der Künstlername des Kölner Fotografen Karl-Heinz Hargesheimer. Anfang der 1950er Jahren hatte er den Jazz kennengelernt; Mitte des Jahrzehnts hing er mit dem Kreis um Gigi Campi ab, jenem legendären Eiscafé-Betreiber nahe des Funkhauses des WDR, der 1954 ein eigenes Plattenlabel gründete, Konzerte veranstaltete und später die bereits erwähnte Boland Clarke Big Band etablierte. Chargesheimer hatte sich bereits einen Namen durch ikonische Portraits wichtiger Menschen gemacht (Adenauer, Kardinal Frings) und sollte über die Jahre verschiedene Bildbände über seine Heimatstadt herausgeben. Er verstarb 1971 mit gerade mal 47 Jahren. Sein Archiv mit 2.641 Positiven und mehr als 40.000 Negativen landete sieben Jahre später bei der Stadt Köln. Es dauerte bis ins neue Jahrtausend, dass diese Sammlung aufgearbeitet und Stück für Stück digitalisiert wurde. Die zuständige Kunsthistorikerin Evelyn Bertram-Neunzig erhielt den Hinweis, dass Chargesheimer und der Jazzkritiker Joe Schevardo ein Fotobuch zum Jazz geplant hätten und sortierte daher die Negative, Kontaktabzüge, Positive und Fotobücher der Sammlung unter anderem mit speziellem Fokus auf „Jazz“. Herausgekommen ist ein Buch mit unterschiedlichen Facetten, wie Johanna Gummlich in ihrer Beschreibung des Nachlasses beschreibt: „Die Fotos lassen sich als Kunstwerke der Schwarz-Weiß-Fotografie, als subtil psychologisierende Porträtkunst, als Dokumentation des Musiklebens in der Nachkriegszeit und als Beitrag zur Kölner Kulturgeschichte begreifen.“

Die Fotos also: Josephine Baker, ein sehr persönliches Portrait 1953. Hans Kollers New Jazz Stars mit Albert Mangelsdorff im Campi’s in Köln. Ella Fitzgerald, Louis Armstrong. Woody Herman. George Maycock und die Chic Combo im Hotel Kosmopolit. Gigi Campi, Atilla Zoller, Joki Freund, Jutta Hipp. Beryl Bryden mit Fatty George. Lars Gullin, Lee Konitz, Rudi Sehring. Billie Holiday, Red Norvo, Chet Baker, Sidney Bechet. Duke Ellington. Harald Banter Ensemble, Orchester Kurt Edelhagen. Caterina Valente. Und schließlich die CBBB der 1960er Jahre.

Jedes einzelne der Bilder scheint ikonisch. Mal werden Bild und Veröffentlichung nebeneinandergelegt, manchmal sogar die ganze Fotoserie (Kontaktabzug), um den Auswahlprozess zu verdeutlichen. Von Rudi Sehring etwa sehen wir das Originalfoto und erkennen, wie Chargesheimer dieses fürs Plattencover einzoomt und verfremdet. Von Woody Herman gibt es eine Lichtmontage aus drei Fotos, die übereinandergelegt wurden. Sidney Bechet: eine Studie mit Licht und Schatten der Gesichtsfalten. Die CBBB im Studio… Jedes einzelne Bild scheint eine Geschichte zu erzählen, mal eine der Interaktion, aber auch schon mal eine völlig gestellte. Die Zwischen- und Fotountertexte erklären den Kontext der Bilder, und die Druckqualität des Buchs lassen einen verzeihen, dass aus Jutta Hipp eine „Sängerin und Jazzpianistin“ gemacht wurde.

Ein faszinierendes Buch also, meiner Meinung nach eines der schönsten Fotobücher des Jahres. Blätternswert. Immer wieder. Und immer wieder entdeckt man Neues: in der Mimik der Musiker, in der Szene selbst, im Blick des Fotografen. Chargesheimer!

Wolfram Knauer (Juli 2022)


Jazz-Echos aus den Sixties. Kritische Skizzen aus einem hoffnungsvollen Jahrzehnt
herausgegeben von Siegfried Schmidt-Joos
Altenburg 2022 (Kamprad)
228 Seiten, 19,60 Euro
ISBN: 978-3-95755-670-7

Das „jazz-echo“ ist eine verdienstvolle, wenn auch heute kaum mehr bekannte Postille aus den 1950er und 1960er Jahren. Anfangs ein paar Blätter der kleinformatigen Illustrierten „Gondel“, umfasste das Blatt bald acht gut-informierte Seiten, geschrieben meist von keinem Geringeren als Joachim Ernst Berendt. Der „spezielle Charakter“ des Hefts waren die freizügigen Fotos des Heftes, die Berendt wohl dazu brachte, diesen Nebenverdienst unter dem Pseudonym „Joe Brown“ zu verstecken. Ein „kleinformatiges Hochglanzmagazin mit Pinups, Erotik, Unterhaltung und Informationen aus der Film- und Modewelt“ beschreibt Siegfried Schmidt-Joos die Gondel; er übernahm die Redaktion des jazz-echos Ende 1959 von Berendt.

Im jazz-echo also erschienen erstaunlich informierte Artikel – obwohl: so erstaunlich mag das gar nicht sein, wenn man Schmidt-Joos‘ Hinweis erwägt, dass das Heft sechs Jahre vor dem amerikanischen Playboy auf den Markt gekommen war: die Idee war eine ähnliche: dass nämlich Erotik, Klatsch, Nachdenkliches und Kultur durchaus zusammengehen können, warum denn nicht?! Die Fotos jedenfalls waren freizügig genug für die Zeit, so dass ich ältere Besucher bei Führungen durchs Jazzinstitut gerne frage, ob sie das Heft denn noch aus ihrer Jugend kennen und ob es damals über oder unter dem Ladentisch gehandelt wurde.

Für Schmidt-Joos war das jazz-echo eine weitere journalistische Aufgabe neben Artikeln für das Jazz Podium die er seit 1956 verfasste, und seiner Stelle als Jazzredakteur bei Radio Bremen seit Januar 1960. Er schrieb über die ganze Welt des Jazz, schon damals wortgewandt und mindestens so meinungsstark, wie er bis in die Gegenwart geblieben ist (beispielsweise in seinem Buch „Die Stasi swingt nicht“).

Beide Aspekte – also die Wortgewandtheit und die Meinungsstärke – erkennt man gleich im ersten Kapitel, einer Studie über den Klarinettisten Jimmy Giuffre, ursprünglich im Januar 1962 veröffentlicht und basierend auf Schmidt-Joos‘ Erfahrungen bei einem Konzert des Giuffre Trio mit Paul Bley Steve Swallow in Bremen im November 1961. Er habe die erste Platte des Trios mit Titel „Fusion“ gehört und sei enttäuscht gewesen, schreibt Schmidt-Joos, und erläutert die Probleme des kritischen Urteils: Soll man diese Musik nun nach den Wertmaßstäben europäischer Musik oder nach jenen des Jazz beurteilen? „Als wir am Nachmittag vor dem Konzert eine Mikrophonprobe hatten, schienen sich all diese Einwände zu bestätigen: der Einwand der Spannungslosigkeit, der Morbidität, der Langeweile, des esoterischen Experimentierens um jeden Preis.“ Dann aber wurde das Konzert „eine der größten Jazz-Überraschungen, die ich je erlebt hatte. Es wurde ein Erlebnis.“ Und nun geht er dem Konzept auf den Grund, zitiert dafür aus Briefen, die Giuffre an Horst Lippmann geschrieben hatte und in denen er beschreibt, wie sich das Konzept eines Trios ohne Schlagzeug eher durch Zufall ergeben habe und wie wichtig seine beiden Kollegen dafür seien, die es ihnen zu dritt erlaubten „die Trennungslinie zwischen den Solisten völlig fallen [zu] lassen“. „Mein Ziel ist es“, schreibt Giuffre in diesen Briefen, „überlieferte, traditionsgebundene Verfahrensweisen und Formvorstellungen aus meiner Musik auszuschließen.“ Schmidt-Joos ordnet ein: Der Jazz habe sich ja schon zuvor mit der Ausweitung der konventionellen Harmonik befasst, mit der Erschließung neuer Klänge und Klangmöglichkeiten, mit dem Bruch mit dem gebundenen, durchgehenden Rhythmus. Im Giuffre Trio sei all das besonders gut gelungen. „Noch niemals hat es in der Jazzmusik eine so freie und dennoch in sich geschlossene Art kollektiven Improvisierens gegeben“, befindet der Autor. Er betont gleichzeitige Soli, vergleicht einige der Stücke des Repertoires mit Beispielen der aleatorischen, seriellen Musik, betont aber auch: „Das Swing-Gefühl blieb erhalten. Es ist abstrakt geworden, es ist nur noch innerhalb der Phrasen spürbar.“

Es sind so viele Stellen in diesem Artikel von 1962 zitierenswert, dass dies allein schon zeigt, warum „Jazz-Echos aus den Sixties“ ein beeindruckendes, ein wichtiges Buch ist. Neben den klugen Erkenntnissen Schmidt-Joos‘ und seiner Ko-Autoren erlaubt es nämlich einen Blick auf die Diskurse der Zeit, die irgendwo zwischen Legitimierung des Jazz als Kunstform und dem Versuch eines Verständnisses der neuesten Experimente schwankt.

Also, im Schnelldurchgang: Nat Hentoff schreibt über die „Zukunft der Rhytmusgruppe“ (1964) und unterstreicht: „Der Jazz wird in zunehmendem Maße ein immer aufmerksameres Publikum erfordern.“ Schmidt-Joos porträtiert Ornette Coleman (1965), versucht für sich Elemente wie Colemans Melodieführung, seine Behandlung von Tonhöhe, Dymanik, Form zu verstehen und ermuntert seine Leser dazu, auch dann weiterzuhören, wenn sie mit der Musik erst einmal wenig anfangen können: „Beweisen nicht der Bebop Charlie Parkers und andere zunächst als fremdartig oder gar abwegig empfundene Jazz-Erscheinungen, dass unser künstlerisches Bewusstsein nach einer längeren Hörgewöhnung auch Klänge zu akzeptieren vermag, die uns zunächst unerträglich erschienen?“

Schmidt-Joos stellt Sonny Rollins (1963) und Bill Evans (1965) vor. Manfred Miller schreibt einen der ersten ernsthaften Texte über Peter Brötzmann (1966; im Buch ebenfalls enthalten sind Millers Rezensionen über „For Adolphe Sax“ und „Machine Gun“, 1967/1968). Mike Zwerin erinnert sich humorvoll an persönlichen Begegnungen mit Miles Davis (1967). Werner Burkhardt hinterfragt den ungewöhnlichen Personalstil Don Cherrys (1965). Manfred Miller stellt Wolfgang Dauner als einen Neuerer des Jazz vor (1966). Ingolf Wachler diskutiert über den Disput zwischen Mainstream und Avantgarde (1963). Joachim Ernst Berendt erinnert an den gerade verstorbenen Bassisten Oscar Pettiford (1960), Schmidt-Joos an Dinah Washington (1964) und Eric Dolphy (1964).

Das alles ist lesenswert als Zeitstudie, lesenswert gerade wegen der Diskurse, die auf den Seiten des jazz-echos (nicht anders als auf denen des Jazz Podiums der Zeit) ausgetragen wurden. Schmidt-Joos hat die Beiträge klug ausgewählt und zusammengestellt; immer wieder bebildert durch Titelseiten der betreffenden Hefte, ansonsten durch inhaltlich motivierte und atmosphärische Fotos.

Wolfram Knauer (Juni 2022)


Further On Up the Road. Traveling to the Blues
von Martin Feldmann
Frankfurt/Main 2022 (Eigenverlag)
268 Seiten, 49 Euro
ISBN: 978-3-00-069843-9
Bestellungen über: http://further-on-up-the-road.de

Der Redakteur Martin Feldmann reiste seit 1970er Jahren regelmäßig durch die Welt auf der Suche nach Bluesmusik. Seine Fotos erschienen über die Jahre in Tageszeitungen und Fachmagazinen, aber auch in seinen selbst herausgegebenen Blueskalendern. Jetzt hat Feldmann seine Erinnerungen an die Reisen durch die Vereinigten Staaten genauso wie durch Europa auf der Suche nach dem Blues in einem Buch zusammengefasst, komplett mit etwa 500 Fotos.

Es ist eine sehr persönliche Bluesgeschichte geworden, im wahrsten Sinne des Wortes mit den Augen Feldmanns gesehen. Da finden sich die üblichen Konzertfotos von Festivals und aus kleinen Clubs etwa in Chicago, Detroit, New York, Kansas City, St. Louis, Memphis, Clarksdale, Baton Rouge, New Orleans, Houston, Austin, Los Angeles oder San Francisco, Abbildungen von Plakaten, Eintrittskarten, Briefen, Speisekarten, vor allem aber viele ungewöhnliche und überaus persönliche Fotos Feldmanns: Albert Collins mit Fans, Produzent Jim O’Neal am Telefon, John Henry Davis mit Kasse auf dem Kopf, tanzende Paare zu Byther Smith, Straßenmusiker in New Orleans, der Friseur Wade Walton auf seiner Harmonika im Frisiersalon, aber auch Buddy Guy im Frankfurter Sinkkasten, Champion Jack Dupree in Siegen, George Jackson vor dem Gartenzaun und und und. Die Geschichten, die Feldmann dazu erzählt, sind Erinnerungen an seine Reisen oder kurze biographische Abrisse der abgebildeten Künstlerinnen und Künstler. Manchmal erinnert er sich an die Musik, meistens vor allem an die Stimmung, die auch auf seinen Fotos zu erkennen ist.

Martin Feldmann hat sein Buch Further On Up the Road im Selbstverlag herausgebracht, mit deutsch/englischem Textteil ist es direkt vom Autor zu beziehen.

Wolfram Knauer (Mai 2022)


The Syntax of Sound. Untersuchungen zur Musik Pat Methenys (1974-1994)
Von Georg Alkofer
Münster 2022 (Waxmann)
341 Seiten, 39,90 Euro
ISBN: 978-3-8309-4472-0

Als Ziel formuliert Georg Alkofer zu Beginn seines Buchs, durch systematische Analyse der Musik herausfinden zu wollen, ob Pat Metheny „den etablierten Konventionen der Stile folgt oder ob ihm eine persönliche Ausdrucksweise oder gar ein wiedererkennbarer Personalstil zugemessen werden“ könne (15f).

Tscha, mag der interessierte und Blindfoldtest-feste Hörer sagen, natürlich hat Metheny einen wiedererkennbaren Personalstil! Aber so ist es nun mal mit der Wissenschaft: Sie will, soll, nein: sie muss auch diejenigen Dinge analytisch belegen, die einem bei oberflächlicher Betrachtung zunächst klar erscheinen. Sie legt die Lupe an, seziert, ordnet, argumentiert, resümiert und kann am Schluss im besten Falle belegen: Ja, so ist es.

Und so ist es auch, erfahren wir, wenn wir ein wenig vorlaut 300 Seiten vorblättern und lernen, wie wichtig die Mitwirkung in Gary Burtons Band für die Ausbildung Methenys persönlicher Ästhetik war, wie er in seinen eigenen Produktionen meist projektbezogen arbeitete, dabei unterschiedlichste Einflüsse aufnahm, von Postbop und Ornette Coleman über Country bis Folk und Pop, wie der Sound ihm über die Jahre immer wichtiger wurde, wie sich sein kompositorischer Ansatz genauso veränderte sie seine instrumentale Technik, wobei er „Klang“ (also Sound) „mitunter gleichberechtigt zu allen anderen eine Komposition bestimmenden Parametern“ setzte (316).

Seine Suche nach neuen Klängen und neuen Ausdrucksmöglichkeiten führt zu zahlreichen instrumentalen Innovationen bis hin zur Pikasso-Guitar, einem mit 42 Saiten gestücktem Instrument auf Basis einer Gitarre mit diversen Resonanzsaiten. „Sich selbst“, spitzt Metheny das einmal zu, sehe gar nicht so sehr als Gitarristen: „Für mich geht es um Sound und Orchestrierung“ (316). Diese allerdings erreicht er durchaus auf dem Weg instrumentaler Virtuosität, die sich an Vorbildern wie Wes Montgomery oder Jim Hall genauso orientiert wie an Bläsern, wobei er eine lockere, von ihm selbst mit „looseness“ umschriebene Artikulation benutzt, „die das Anschlaggeräusch der Saiten zu vermeiden sucht, durch Slides Übergänge schafft und gemäß dem Atem bläserhaft phrasiert oder mittels horizontaler Orientierung auf dem Griffbrett sequenzierende Tonfolgen durch Aufschlags- und Abziehbindungen erzeugt“ (317). Die Jazzgeschichtsschreibung habe Metheny meist in die Stilschublade „Fusion“ gesteckt, erklärt Alkofer, allerdings habe der Gitarrist auch Einflüssen aus Free Jazz bis Pop gegenüber offen gestanden und sich immer vor allem als forschenden Künstler verstanden.

Aber stopp, ich bin vorgeprescht, also zurück zum Anfang des Buchs. Im Kapitel „Biographie / Sozialisation“ geht es genau darum, wobei Alkofer biographische Details auf ein Minimum reduziert und vor allem Bekanntes widergibt (21ff). Im Unterkapitel über „Lern- und Lehrsituationen“ (26ff) lässt er erahnen, dass Metheny, der mit 19 Jahren als jüngster Dozent sowohl am Berklee College in Boston wie auch in Miami unterrichtete, schon damals eine klare Vorstellung zumindest der Ausgangslage seiner musikalischen Forschung besaß. Es folgt eine kurze stilhistorische Einordnung der 1970er Jahre im Jazz, und dann geht’s ans Eigentliche, oder wie Alkofer es überschreibt: „Die Musik Pat Methenys: Analysen“

Im Quartett Gary Burtons habe Metheny sich damit auseinandersetzen müssen, dass sich seine und die melodischer konzipierte Spielhaltung des Vibraphonisten deutlich unterschieden. Die Zeit bei Burton sei wie ein „Ersatz einer formalen musikalischen Ausbildung“ gewesen, schreibt Alkofer, bei ihm habe er gelernt, wie wichtig der Parameter Dynamik beispielsweise für die narrative Qualität und damit die Publikumswirkung der Musik sei (47).

Durch die Arbeit bei Burton wurde auch Manfred Eicher auf Metheny aufmerksam (48) und bot ihm 1973 an, ein Album unter eigenem Namen einzuspielen, das zwei Jahre später unter dem Titel „Bright Size Life“ erschien. Alkofer analysiert die Musik der Platte , fragt nach Aspekten der Kompositionsstruktur (51), nach der Rolle der Gitarre als „Bedingung der Komposition“ und nach Fusion von Jazz und Country (67).

Für das nächste Album „Watercolors“ stellt er „erste Farbkonturen eines Ensembleklangs“ fest (70), betont, wie wichtig die langjährige Zusammenarbeit  mit dem Pianisten Lyle Mays für Methenys Entwicklung gewesen sei und erklärt den Titel seines Buchs, „Syntax of Sound“ durch ein Zitat Methenys, in dem dieser auf eine Art gemeinsamen Nenner der ihn beeinflussenden Musik verweist (90). Neben musikalischen Parametern erläutert Alkofer auch technische Entwicklungen, die sich auf das Spiel Methenys auswirken, „Digital Delay und Chorus“ (91), Verstärkung (93), Gitarrenmodelle (94), Besaitung (96), Plektrumtechnik (97), die alle zum „Sound“ als Ausdruck musikalischer Identität beitragen.

Atmosphärisch interessiert ihn die Beschäftigung mit „pastoraler Stilistik“, etwa in „New Chautaqua“ und die damit verbundene „Öffnung des Jazzbegriffs“ (133). Das Album „American Garage“ charakterisiert er als „jugendlichen Jazz ’n Roll“ (135), als „Ausdruck eines stilistischen und kulturellen Wandels“, eines Ansatzes, „der sich stilistisch auf die amerikanischen Wurzeln seiner Generation in Gestalt der Genres Rock’n Roll, Soul und Pop bezieht“ (161).

Das Album „80/81“ gibt Anlass zu einer Diskussion des Einflusses Ornette Colemans auf Methenys Musik (164ff), das Album „As Falls Wichita, so Falls Wichita Falls“ zur Diskussion der Reduktion auf eine Duobesetzung mit Lyle Mays (197ff). Für die 1980er Jahre diskutiert Alkofer Traditionsbezug (211), globale Fusionierungen (213) aber auch elektronische und akustische Innovationen (214ff), derer sich Metheny bedient.

Er hört sich das Album „Rejoicing“ von 1983 an (237ff) und beschreibt den Unterschied des Trios mit Charlie Haden und Billy Higgins zur Metheny Group (unter anderem eine deutlicher Hinwendung zu Elementen der Jazztradition). Er entdeckt Einflüsse der Minimal Music im Album „Still Life (Talking)“ von 1987 (254ff), er findet Methenys Version von David Bowies „This Is Not America“ in den Pop Pop Charts  (268ff), und er betrachtet „Song X“,  ein Album das Metheny 1985 mit Ornette Coleman aufnahm (272ff).

Von 1992 stammte „Zero Tolerance for Silence“, auf dem in Overdub-Technik einzig Metheny zu hören ist. Alkofer diskutiert die Faktur der Stücke, die ein Kritiker mit „semi-organized noise“ beschrieben hatte und stellt fest, Metheny habe hier „das Blues-Rock-Vokabular einer künstlerischen Stilisierung“ zugeführt, bei der, „obwohl er also nur traditionelles Rock-Vokabular anwendet, (…) die Summe der Klangereignisse nicht auf das Genre Rock“ verweist (282).

Der Spielhaltung von „looseness“, die Alkofer zuvor festgestellt hat, stellt Metheny hier jene der „tightness“ entgegen, beschreibt das Album selbst als „Erkundung klanglicher Dichte“ (284). Metheny habe immer ein Interesse an stilistischen Randbereichen gehegt, schreibt Alkofer (286), hier genauso wie in seiner Zusammenarbeit mit keinem geringeren als dem britischen Gitarristen Derek Bailey und erklärt, wie in „Zero Tolerance for Silence“ die Verwendung eigentlich konventioneller Stilmittel in seiner Dekontextualisierung zu einer Wahrnehmung als Avantgarde führen konnte (285).

Alkofer beendet seine analytische Diskussion mit dem 1991 eingespielten Album „Secret Story“, das Metheny selbst als ambitioniertestes Projekt seiner Laufbahn und Kulminationspunkt seiner kompositorischen Fähigkeiten beschrieben habe (287). Über 80 Personen waren an dem Album beteiligt, das Alkofer „orchestrale Programmmusik“ nennt; die Arrangements seien bis ins kleinste Detail ausgearbeitet gewesen. Er habe „Secret Story“ als Filmmusik-Album ohne Film erachtet, erklärt Metheny, sich dabei vor allem auf seine Rolle als Komponist fokussiert, weniger auf die des Gitarristen (292). „Wie unter einem Brennglas“, fasst Alkofer zusammen, verarbeite die Musik dieses Albums viele Elemente, die im Laufe der Entwicklung Methenys seit den 1970er Jahren eine Rolle spielten (307ff): Country/Americana, Jazz, Minimal Music, New Age, World Music, Popmusik, symphonische Elemente, Qualität der Studio-Produktion, Verarbeitung akustischer, elektrischer und elektronischer Klänge.

Georg Alkofer, der selbst als Gitarrist und Posaunist tätig ist, hat mit seiner Arbeit über Pat Metheny seinen Doktorgrad erlangt, entsprechend musikwissenschaftlich sind große Teile des Buchs gehalten. Die ausgiebigen Analysen aber sollten nicht abschrecken: Alkofer gelingt es in den einleitenden und den zusammenfassenden Absätzen immer wieder den Blick seiner Leser:innen auf das zu richten, worauf es ihm ankommt: die musikalische Entwicklung Pat Methenys, mögliche Gründe für ästhetische Entscheidungen sowie die Art und Weise der Umsetzung und ihre Auswirkungen auf sein weiteres Schaffen.

Wolfram Knauer (April 2022)


 

Dozenten und Dozentinnen 2022

Rabie Azar …

… war in Syrien acht Jahre lang Mitglied des Syrischen Nationalorchesters und des National Syrian Orchestra of Arabic Music sowie des Mediterranean Orchestra gewesen, bevor er dem syrischen Bürgerkrieg nach Deutschland entfloh. Von 2015 bis 2018 war der Bratschist Mitglied im Florida Lake Symphony Orchestra. Internationale Tourneen mit all diesen Orchestern führten ihn durch Europa und in die halbe arabische Welt.

Foto: Imago/Bridges-Musikprojekt©

In seiner Heimat Syrien lehrte er parallel zu seinen Konzertengagements zunächst auch Violine und Viola an der Al Baath Universität in Homs sowie dem Sulhi al Wadi-Institut für Musik in Damaskus. Sein Studium hatte er 2005 am nationalen Musikkonservatorium von Damaskus abgeschlossen, wo er in klassisch-westlicher und in traditionell-orientalischer ebenso wie in zeitgenössischer populärer Musik ausgebildet wurde.

In Deutschland ist Rabie Azar u.a. Mitglied des Frankfurter „Bridges – Musik verbindet“-Kammerorchesters und lebt seit ein paar Jahren in Darmstadt. Neben zahlreichen Bühnenerfahrungen in sehr unterschiedlichen Kontexten während der letzten Jahre unterrichtet Azar auch im musikalischen Weiterbildungsprojekt Waggong e.V. in Frankfurt, wo er sein Wissen über die Fusion unterschiedlichster Musiktraditionen und deren vielfältigen Elementen der Improvisation an seine Schüler:innen weitergibt.

Heidi Bayer

… hat in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Karriere hingelegt, die sie in eine Reihe mit anderen jungen (sie ist Jahrgang 1987) europäischen Spitzen-Trompeterinnen wie Andrea Motis, Laura Jurd oder Airelle Besson stellt. Seit 2020 ist sie Resident des NICA-Artist Development Program im Kölner „Stadtgarten“. Heidi Bayer ist eine von drei Nominierten für den diesjährigen „Deutschen Jazzpreis“ in der Kategorie „Blechblasinstrumente“.

Foto: Franka Hills©

Bayer, die aus dem oberfränkischen Kulmbach stammt und ursprünglich mit der Klarinette begann, kam über die Schul-Bigband zur Trompete und zum Jazz, und wurde anschließend kulturell-musikalisch im Großraum Frankfurt sozialisiert. Einem Studium im Fach Kulturmanagement in Marburg schloss sich ein Bachelor in Jazz- und Popularmusik an der Hochschule für Musik in Mainz an, bevor es sie nach einem Auslandssemester in Miami endgültig in die Jazzmetropole Köln weiterzog und einen Masterstudiengang Jazz / Improvising Artist bei Ryan Carniaux und Thomas Rückert an der Folkwangschule in Essen folgen ließ.

In ihrer neuen Wahlheimat, in der Domstadt, mischte Bayer sich in die vielfältige Szene ein, zeigte Präsenz auf unzähligen Sessions und war schnell gefragt bei diversen großen und kleinen Bands, die das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Struktur immer wieder anders ausbuchstabieren; in Bigbands wie dem Subway Jazz Orchestra, der Hendrika Entzian Bigband oder dem Fuchsthone Orchestra ebenso wie beispielsweise in den Bands von Janning Trumann, Shannon Barnett, Stefan Karl Schmid oder Sven Decker. In Darmstadt war sie zuletzt 2021 mit Luise Volkmanns LEONEsauvage zu hören.

Zunehmend fokussiert sich Bayer auf ihre eigenen Projekte, ihr Duo mit dem Pianisten Sebastian Scobel oder ihr Quartett Virtual Leak, dessen Debüt-CD im Frühjahr 2020 erschienen ist. Nicht nur als Instrumentalistin, sondern zunehmend auch als Bandleaderin, Arrangeurin und Komponistin erarbeitet sie sich den Zugriff auf die ganz große Palette der Klänge.

Christopher Dell …

… ist seit den späten 1990er Jahren Stammgast in der illustren Riege der Lehrkräfte bei den Darmstädter Jazz Conceptions.  Seitdem hat der gebürtige Darmstädter eine fantastische musikalische Karriere hingelegt, die ihm neben dem Musikpreis seiner Heimatstadt, den der Vibraphonist bereits 2005 erhielt, im vergangenen Jahr den „Deutschen Jazzpreis“ und in diesem Jahr auch noch den „Hessischen Jazzpreis 2022“ einbrachte.

Foto: Johanna Lippmann©

Aber nicht nur als improvisierender Musiker zählt Dell zu den herausragenden Protagonisten der Gegenwart, sondern auch als Stadtbautheoretiker, Philosoph und Architekturkritiker sind Dells Diskursbeiträge europaweit gefragt. Plan, Struktur, Komplexität, Information sind zentrale Begriffe im künstlerischen wie akademischen Kosmos Christopher Dells. Insbesondere mit seinen egalitären Trios D.R.A. (Dell/Ramond/Astor) und Dell/Lillinger/Westergaard verfolgt er diese musikalische Philosophie seit bald zwei Jahrzehnten konsequent. „Dell mag es schwierig, mag die Schwelle, den Widerstand. (…) Musikalische Forschung ohne Gefallsucht, das ist sein Metier“, schrieb Ulrich Stock in der ZEIT dazu.

Über seine Ideen für den diesjährigen Kurs sagt er folgendes:

„Ich werde mit den TeilnehmerInnen Materialien aus meinem Werkzyklus „Das Arbeitende Konzert/ The Working Concert“ erarbeiten.“

Angela Frontera

… fand 1993 den weiten Weg von Belo Horizonte ins beschauliche Rheinhessen. Die Tochter einer Musikerfamilie, die als Perkussionistin bereits in Brasilien mit vielen großen Namen aufgetreten war, fasste in Deutschland und Europa schnell in der vitalen Latin-Szene Fuß. Neben „ernsthaften“ musikalischen Projekten mit Airto Moreira, Paulo Cardoso, Edo Zanki oder dem auch kommerziell sehr erfolgreichen LatinJazz-Projekt Café del Mundo, sah man die Perkussionistin in vielen Fernsehshows an der Seite von Nina Hagen, Grace Jones, Lou Bega oder gelegentlich auch in der „Harald-Schmidt-Show“.

Foto: Seele Zeigen©

Ihre wohl bekannteste und dauerhafteste Zusammenarbeit mit dem Duo „Rosanna & Zélia“ brachte ihr viel internationale Aufmerksamkeit in der so genannten World Music-Szene der 90er und 00er-Jahre. Aber auch in der Jazzband Witchcraft um die Bassistin Lindy Huppertsberg oder der Frankfurter Frauen-Popband Kick La Luna fühlt sich Frontera in den letzten Jahren wohl. Vor allem ihre Vielseitigkeit als Perkussionistin, seltener am klassischen Schlagzeug-Set – wobei sie auch das beherrscht, wie sie nicht zuletzt auf Uli Partheils letzter Produktion „Reflections2020“ unter Beweis stellt – machen Angela Frontera zu einer äußerst gefragten und damit überaus Band-erfahrenen Musikerin.

Uli Partheil

… ist seit 2021 künstlerischer Leiter der Darmstädter Jazz Conceptions und damit Nachfolger seines langjährigen musikalischen Mentors und Freundes Jürgen Wuchner. Partheil ist einer der aktivsten Protagonisten der Darmstädter Szene, beeinflusst von der Musik Duke Ellingtons, Thelonious Monks, kubanischen Rhythmen und dem Blues. Er ist nicht nur ein versierter Pianist in sämtlichen Stilistiken des Jazz, sondern auch als Komponist tätig. In seinen Kompositionen geht er äußerst kreativ mit den verschiedenen Einflüssen um, die ihn als Musiker prägen.

Foto: Oskar Partheil©

Uli Partheil studierte an der Mannheimer Musikhochschule unter anderem bei Professor Jörg Reiter Jazzpiano, außerdem Komposition und Arrangement. Seit Beginn der 1990er Jahre arbeitete er mit Jürgen Wuchner, Matthias Schubert, Janusz Stefanski, Ack van Rooyen, Rudi Mahall, Emil Mangelsdorff, Hanns Höhn, Peter Back, dem Wiener Kronenbräu Orchester und vielen anderen zusammen. Als Begleiter ist er auch immer wieder am Staatstheater Darmstadt zu hören. Bis zum Beginn der Pandemie leitete er das von ihm selbst ins Leben gerufene Darmstädter Jugendweltmusikorchester.

Mit seinem Working Trio „Playtime“ ist er in den letzten Jahren mit verschiedenen Literatur- & Jazz-Projekten erfolgreich. Zuletzt veröffentlichte er gemeinsam mit Ulli Jünemann, Ralf Cetto und Angela Frontera den Longplayer „Reflections2020“. Partheil unterrichtet an der Jazz & Pop School Darmstadt. Für seine musikalischen Verdienste und sein Wirken für die Förderung des jazzmusikalischen Nachwuchses erhielt er 2008 den Darmstädter Musikpreis.

Über seine Vorstellungen zum diesjährigen Workshop schreibt er folgendes:

Ich möchte wieder versuchen mindestens ein Stück auswendig und ganzheitlich zu erarbeiten, d.h. die Musiker:innen sollen nicht nur ihren Part, sondern das ganze Werk lernen und verstehen. Dazu werde ich eigene Kompositionen und andere ausgewählte Stücke mitbringen.“

Christian Ramond …

… hat sie alle begleitet: Joe Pass, Lee Konitz, Dave Liebman, Kenny Wheeler, Charlie Mariano, Thomas Stanko, Albert Mangelsdorf, Doug Rainey, Randy Brecker, Don Friedman, Philippe Catherine, Keith Copeland … eine nicht enden wollende Reihe großartiger Jazzmusiker. Und wahrscheinlich wäre die Reihe der Länder, in denen Ramond noch nicht aufgetreten ist weitaus kürzer als die Liste seiner internationalen Gastspiele. Hinzu kommen annähernd 100 Einspielungen auf CD oder Schallplatte.

Foto: Christian Ramond©

Dieses enorme Lebenswerk liegt darin begründet, dass der in Bonn geborene Kontrabassist in allen Stilistiken des Jazz – von Swing bis zum freien Zusammenspiel – zuhause ist. Ramonds Spiel ist dabei nicht nur äußerst solide, sondern auch höchst wandlungsfähig – ohne seine eigene, charaktervolle Klangsprache zu verlieren, die mit Sicherheit auch in seinem Ensemble während der 31. Darmstädter Jazz Conceptions zum Tragen kommen wird.

Über seine Vorstellungen zum diesjährigen Workshop schreibt er folgendes:

„In meinem Ensemble möchte ich Kompositionen von drei Wegbereitern des modernen Jazz – Duke Ellington, Charles Mingus und Ornette Coleman – erarbeiten. Die lineare, harmonische und rhythmische Sprache des Jazz soll wie bei Mingus ergänzt werden durch freie Improvisation ,Kommunikation und kollektives Zusammenspiel. Material und Form der Improvisation soll gemeinsam entdeckt und erarbeitet werden und es besteht Offenheit für Ideen, gegebenenfalls eigene Stücke der Ensemblemitglieder.“

Jazz Conceptions


Sommerworkshop seit 1992

Die Darmstädter Jazz Conceptions wurden 1992 von dem Darmstädter Bassisten Jürgen Wuchner (1948-2020) ins Leben gerufen und finden bis heute in nahezu unveränderter Form statt. Die Einzigartigkeit beruht auf dem Konzept eines reinen Ensemble-Workshops mit einem hohen Maß an Eigenverantwortlichkeit der Teilnehmenden und auch der Dozent:innen. Es geht darum individuelle musikalische Konzepte, die in der Welt des zeitgenössischen Jazz in großer Vielfalt existieren, den Teilnehmer:innen näher zu bringen und ihnen einen Einblick in die Werkstatt des Musik-Schaffens zu geben.

„Die beste Erfindung seit es Musikunterricht gibt…?“ (Teilnehmer:in)

Eine offene Haltung mitbringen, sein Instrument „beherrschen“, sich wohlfühlen 

Was bedeutet dies für die Teilnahme an den Jazz Conceptions? Das allerwichtigste zuerst: Es geht immer darum innerhalb einer Woche ein Ensemble zu entwickeln, in dem alle Beteiligten, egal welchen Background sie besitzen, eine musikalische Rolle finden in der sie sich wohl fühlen. Um das zu erreichen, sind bestimmte Kompetenzen wünschenswert. Grundsätzlich sollte man beim Spielen seines Instruments nur in dem Maße mit sich selbst beschäftigt sein, dass man immer noch in der Lage ist den anderen zuzuhören. Man sollte auch wissen, dass es Techniken wie Intonation, Timing, Improvisation gibt, die im Jazz eine zentrale Rolle spielen. Dabei ist eine langjährige Erfahrung mit Jazz und Improvisation gar nicht von Bedeutung. Die Fähigkeit zuhören zu können, ist sehr viel entscheidender – und das fällt eben leichter, wenn man sein Instrument beherrscht.

Hilfreich ist auch, mit einer grundsätzlich offenen Haltung in den Workshop zu gehen und das eigene Ego hinten anzustellen. Denn es geht darum gemeinsam etwas zu erarbeiten. Und am Ende sollten alle ihren Spaß haben.

„Meine ersten Jazz Conceptions / Die bestehenden Zweifel an dem offenen Konzept hatten sich nach einem Tag vollständig zerschlagen. / Es ist anders, aber sehr gut.“ (Teilnehmer:in)

Die Jazz Conceptions sind ein Ensembleworkshop

Bei der Bildung der Ensembles ist die Eigenverantwortung und Selbsteinschätzung der Teilnehmenden gefragt. Beim ersten Zusammentreffen erklären alle Dozent:innen, was sie in der Woche vorhaben. Anschließend überlegen die Teilnehmer:innen sich, in wessen Gruppe sie gerne möchten. Auf dem Hof der Knabenschule finden sich dann die Ensembles erstmals zusammen. Man kann in Ruhe miteinander reden über Erwartungen und eventuelle Unsicherheiten. Man muss vielleicht Kompromisse eingehen. Am Ende haben sich die Ensembles gefunden. Das funktioniert seit über 30 Jahren in hervorragender Weise und ist eine der Besonderheiten dieses Workshops.

„Ein breites Leistungsspektrum der TeilnehmerInnen wird durch das Konzept und die Qualität der DozentInnen zu sehr guten musikalischen Ergebnissen gelenkt. Jeder ist in die Ausarbeitung der Stücke eingebunden.“ (Teilnehmer:in)

Seit Corona: Veränderte Raumbelegungen

Zwei Dinge, die sich in den beiden vergangenen Corona-Jahren bewährt haben möchten wir künftig gerne beibehalten: Die Begrenzung der Ensemblegrößen auf höchstens acht Mitglieder sowie die räumliche Verteilung der Gruppen auf verschiedene Probenorte, wobei der zentrale Treffpunkt im Hof der Bessunger Knabenschule beibehalten wird. Mit je drei Proberäumen in der nahe gelegenen Akademie für Tonkunst sowie in der Bessunger Knabenschule wird ruhiges und konzentriertes Arbeiten in den Gruppen mit ausreichend Platz wesentlich einfacher.

„Zentraler Treffpunkt: Bessunger Knabenschule! Super Team. Verpflegung und Ambiente bei tollem Wetter perfekt.“ (Teilnehmer:in)

Was sind die typischen Inhalte der Jazz Conceptions?

Die Darmstädter Jazz Conceptions bieten die einmalige Möglichkeit, in Zusammenarbeit mit professionellen Musikschaffenden im wahrsten Sinne des Wortes etwas aus der Werkstatt des Jazz zu erfahren. Gruppen erarbeiten Stücke; da wird über die richtige Art des Übens gesprochen und harmonische Feinheiten erklärt, solistische oder kollektive Improvisationen geprobt und besprochen. Zwischen den Gruppensitzungen besteht die Möglichkeit des individuellen Übens oder des lockeren Gesprächs in der nur für den Workshop geöffneten Cafeteria unter freiem Himmel. Begleitend werden theoretische oder gelegentlich auch jazzhistorische Programmpunkte angeboten. An jedem Abend der Woche gibt es bei Sessions in verschiedenen Darmstädter Openair Locations die Möglichkeit, die Ergebnisse der täglichen Arbeit zu zeigen oder einfach nur zu „jammen“.

„Was mir neben den super Locations der Jamsessions besonders gefallen hat, war die unterstützende Haltung der Dozenten an diesen Abenden. Hierdurch haben sich einige Teilnehmer mehr auf die Bühne getraut – trotz eines voll besetzten Schlossgartens.“ (Teilnehmer:in)

Die Profis als ein Teil des Ganzen

Die fünf Dozent:innen, die von uns ausgewählt werden, sowie der künstlerische Leiter Uli Partheil bringen Kompetenzen mit, die es ihnen ermöglichen offen, flexibel und spontan aus einer mehr oder weniger zufällig entstandenen Gruppe von unterschiedlichen Talenten ein funktionierendes Ensemble zu formen. Dabei ist es wichtig, dass sie in der Lage sind auf die individuellen Fähigkeiten der Gruppenmitglieder einzugehen und vor allem deren individuellen Stärken herauszuarbeiten.

Die Ensemblearbeit bewegt sich immer in einem Spannungsfeld. Alle Teilnehmenden möchten einerseits tun, was sie schon gut können, andererseits möchten sie aber auch neue Erfahrungen machen und Dinge ausprobieren. Die Herausforderung für Lernende und Unterrichtende besteht darin, hier eine Balance zu finden.

Die Darmstädter Jazz Conceptions arbeiten jedes Jahr aufs Neue daran, Laien und professionelle Musikerinnen und Musiker zusammenzubringen, die sich gemeinsam auf die Suche nach dieser Balance machen. Am Ende geht es immer nur um die Musik und ihr zu dienen.

„Super Dozent:innen mit ganz unterschiedlichen Konzepten. Durch die gelöste Atmosphäre entstand die Möglichkeit, auch abseits des offiziellen Teils mit diesen neue Möglichkeiten zu entdecken und auch bekanntes anders einzuordnen. Tolle Erfahrungen. Danke dafür.“ (Teilnehmer:in)

Dozentinnen und Dozenten 2024

Christopher Dell (Vibraphon)
Norbert Dömling (Bass)
Jan Leipnitz (Schlagzeug)
Uli Partheil (Piano)
Anke Lucks (Posaune)
Almut Schlichting (Baritonsaxophon)

Als künstlerischer Leiter des Workshops ist der Pianist Uli Partheil seit 2022 für die Auswahl der Dozent:innen verantwortlich. Die ausgewählten  Musiker:innen für den Sommer-Workshop stehen in der Regel im Februar oder März fest. Das aktuelle Workshop-Programm wird dann um Ostern herum bekannt gegeben. Anmeldungen sind erst dann verbindlich möglich, wenn das Online-Anmeldeformular auf dieser Seite freigeschaltet wurde.

HIER GEHT’S zu weiteren INFORMATIONEN (bitte zuerst lesen!) zur Teilnahme.
Das  ANMELDEFORMULAR für die Darmstädter Jazz Conceptions 2024 wird am 6. April 2024 freigeschaltet. 

„Ein tiefgreifender musikalischer Plan. Am Ende der Woche fühlt man ein Leuchten.“ (Teilnehmer:in)

Die Darmstädter Jazz Conceptions sind eine Gemeinschaftsveranstaltung des Kulturzentrums Bessunger Knabenschule und des städtischen Jazzinstituts Darmstadt.

Mit freundlicher Unterstützung der Wissenschaftsstadt Darmstadt und des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst.

Alle Dozenten der Jazz Conceptions von 1992 bis 2023

Felix Astor, Rabie Azar, Peter Back, Johannes Bauer, Heidi Bayer, Harry Beckett, Han Bennink, Karl Berger, Matthew Bookert, Élodie Brochier, Rüdiger Carl, Graham Collier, Marty Cook, Thomas Cremer, Christopher Dell, Erwin Ditzner, Axel Dörner, Silke Eberhard, Reimer von Essen, Johannes Fink, Jörg Fischer, Martial Frenzel, Angela Frontera, Christina Fuchs, Valentin Garvie, Peter Giger, Rachel Gould, Sebastian Gramss, Carola Grey, Michael Griener, Gerhard Gschlößl, Daniel Guggenheim, Gunter Hampel, Gabriele Hasler, Maike Hilbig, Allen Jacobson, Ute Jeutter, Nicole Johänntgen, Sven-Ake Johansson, Llewellyn Jones, Ekkehard Jost, Wollie Kaiser, Kalle Kalima, Anna Kaluza, Günter Klatt, Morris Kliphuis, Richard Koch, Hans Koller, Peter Kowald, Steve Lacy, Tony Lakatos, Detlef Landeck, Ingrid Laubrock, Christoph Lauer, Johannes Lauer, Hazel Leach, Martin LeJeune, Kathrin Lemke, Rudi Mahall, Emil Mangelsdorff, Lucía Martínez, Stefan Meinberg, Krzysztof Misiak, Frank Möbus, Mani Neumaier, Angelika Niescier, Tom Nicholas, Uwe Oberg, Axel Pape, Uli Partheil, Michel Pilz, Elvira Plenar, Wolfgang Puschnig, Gerd Putschögl, Adam Pieronczyk, Christian Ramond, John-Dennis Renken, Wolfgang Reisinger, Bertram Ritter, Laura Robles, Michael Sagmeister, Heinz Sauer, Ack van Rooyen, Joe Sachse, Taiko Saito, Jon Sass, Uli Scherer, Ulli Schiffelholz, Daniel Schmitz, Johannes Schmitz, John Schröder, Matthias Schubert, Henning Sieverts, Thomas Siffling, Günter ‚Baby‘ Sommer, Janusz Stefanski, Oliver Steidle, Norbert Stein, John Tchicai, Christof Thewes, Gebhard Ullmann, Philipp van Endert, Felix Wahnschaffe, Peter Weiss, Jürgen Wuchner … (to be continued)

heimat@jazzinstitut 2022

Kreatives Auftanken in der Pandemie

Unsere Kurzresidenz-Reihe für 2022 im Jazzinstitut

Unsere Gesellschaft tritt im dritten Jahr der Pandemie in eine Phase der Erschöpfung. Das gilt besonders für Kulturschaffende und für Kreative. Umso mehr werden Rückzugsorte und Räume der Inspiration gebraucht, die ein kreatives Auftanken ermöglichen.

2022 stellt das Jazzinstitut Darmstadt während fünf Terminen seine Räumlichkeiten und fachlichen Ressourcen Jazzmusikerinnen und -musikern für Kurzresidenzen zur Verfügung. Für einige Tage erhalten sie die Gelegenheit, das Darmstadt zur HEIMAT ihrer aktuellen künstlerischen Ambitionen und Projekte zu machen. HEIMAT meint hier einen Ursprungspunkt für Kreativität und neue künstlerische Impulse. HEIMAT liefert den Humus für kreatives Wachstum.

Die Auswahl für heimat@jazzinstitut 2022 berücksichtigt Projekte, die personell und konzeptionell Aspekte der Gender Equity, der Diversität und der Überwindung sozialer Ungleichheit in den Mittelpunkt stellen. Zudem sollen Ideen für eine Genre- oder Kunstform übergreifenden Umsetzung besonders unterstützt werden. Ziel ist es dabei, spannenden Musiker:innen ein temporäres Labor für ihre persönliche künstlerische Profilierung zu bieten. Das Jazzinstitut ist dabei vorübergehende HEIMAT, Ort der Reflexion und zugleich Plattform für die Weiterentwicklung ihrer künstlerischen Karrieren.

heimat@jazzinstitut 2022 wir gefördert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst und der Wissenschaftsstadt Darmstadt

heimat@jazzinstitut – die Idee

Beginnend mit dem Jahr 2022 stellt das Jazzinstitut Darmstadt während vier, respektive fünf über das Jahr verteilten Terminen seine Räumlichkeiten und fachlichen Ressourcen Musikerinnen und Musiker aus dem Bereich des zeitgenössischen Jazz und der aktuellen improvisierten Musik für Kurzresidenzen zur Verfügung. Für einige Tage erhalten sie die Gelegenheit, Darmstadt und das Jazzinstitut zur HEIMAT ihrer aktuellen künstlerischen Ambitionen und Projekte zu machen. Hintergrund und Ausgangspunkt stellen dabei die Diskussionen dar, die während des 17. Darmstädter Jazzforum „Roots_Heimat: Wie offen ist der Jazz?“ im Jahr 2021 geführt wurden.

Der Begriff der (künstlerischen) HEIMAT trägt der Tatsache Rechnung, dass gerade der Jazz eine kulturelle und ästhetische Selbstverortung verlangt. HEIMAT bezeichnet folglich einen Ursprungspunkt für Kreativität und neue künstlerische Impulse. Jazz ist dabei mehr als Musik; eine kreative Praxis, die global benutzt wird, dabei auf ihre afro-amerikanische Herkunft verweist, zugleich aber auch etwas, mit dem man aufgewachsen ist, mit dessen Hilfe sich die eigene Betroffenheit als Person, der individuelle Standpunkt am besten ausdrücken lässt. HEIMAT liefert somit den Humus für kreatives Wachstum.

Die Auswahl der Künstler:innen für heimat@Jazzinstitut findet unabhängig von Alter, Renommee oder künstlerischer Vita der Eingeladenen ab. Ein besonderer Blick soll vielmehr auf Musiker:innen und Projekte gelegt werden, die persönlich und konzeptionell Aspekte der Gender Equity, der kulturellen Diversität und die Überwindung sozialer Divergenz berücksichtigen. Auch Ideen einer Genre oder Kunstform übergreifenden Umsetzung sollen besonders unterstützt werden. Ziel ist es, spannenden Musiker:innen ein temporäres Labor für ihre persönliche künstlerische Profilierung zu bieten. Das Jazzinstitut ist dabei vorübergehende HEIMAT, Ort der Reflexion und zugleich Plattform für die weitere Entwicklung der künstlerischen Karrieren

heimat@jazzinstitut – die Nachhaltigkeit und die Regionalität

Als Veranstalter beschäftigt sich auch das Jazzinstitut zunehmend mit Aspekten der Nachhaltigkeit kultureller Projekte, des Schutzes unserer natürlichen Umwelt und Wegen zur Klimaneutralität von Veranstaltungen. Die längere Verweildauer an einem Ort erspart Künstler:innen nicht nur ressourcenraubendes Reisen von Konzert zu Konzert, sondern ermöglicht auch den intensiveren Austausch zwischen den Kreativen und den Veranstaltenden. Bei Reisen, Unterbringung, Verpflegung und Produktion achten wir auf Klimaneutralität und Schonung der natürlichen Ressourcen. Gleichzeitig ist es unser Ziel als Veranstalter, den Beteiligten langfristig Ansprechpartner bei ihrer weiteren künstlerischen Entwicklung zu bleiben. Wir möchten die Bindung der Musiker:innen zu ihrer heimat@jazzinstitut nachhaltig weiterpflegen und insbesondere junge Musiker:innen im weiteren Verlauf ihrer Karrieren langfristig unterstützen. Dies gilt besonders für junge Bands mit regionalem Bezug zu Südhessen und Rhein-Main, die an dem Projekt beteiligt sein werden.

heimat@jazzinstitut – die HEIMAT

Das Jazzinstitut Darmstadt ist Europas größtes öffentliches Forschungsarchiv zum Jazz und ein Kulturinstitut der Wissenschaftsstadt Darmstadt. Über vier Etagen beherbergt es in einem vollständig modernisierten, barocken Jagdschloss eine der weltweit bedeutendsten Sammlungen zur Geschichte und Gegenwart afro-amerikanisch geprägter Improvisationsmusik. Seit dem Jahr 1998 veranstaltet das Jazzinstitut regelmäßig Konzerte in seinem als Veranstaltungsraum ausgestatteten, akustisch exzellenten, historischen Tonnengewölbe aus dem frühen 18. Jahrhundert. Zugleich ist das Jazzinstitut internationale Anlaufstelle und Netzwerker bei der Dokumentation aktueller Entwicklungen und Tendenzen im zeitgenössischen Jazz von internationalem Ruf.

heimat@jazzinstitut – das Programm 2022

19. bis 22. Januar 2022: Ronny Graupe & Nicole Schneider – DUO-LOG

Im Zentrum dieser Session stand die gleichzeitige Improvisation von Zeichnung und Jazz. Der Berliner Gitarrist Ronny Graupe und die Darmstädter Illustratorin Nicole Schneider begaben sich in einen audio-visuellen Dialog und gingen dabei der Frage nach, welche Formen der künstlerischen Interaktionen möglich sind – Call-and-Response mit Stift und Instrument. Mittels digitaler Zeichentechnik und elektrischem Sound loteten Musiker und Künstlerin die Möglichkeiten audiovisueller Ausdrucksformen in einer gemeinsamen Live-Performance aus.

Ronny Graupe, 2021 ausgezeichnet mit dem Deutschen Jazzpreis als Gitarrist des Jahres, und die für ihre gleichermaßen einfühlsamen wie humorvollen Porträtserien Darmstädter Persönlichkeiten bekannte Künstlerin Nicole Schneider, bei Jazzkonzerten in Darmstadt allgegenwärtige zeichnerische Chronistin von Livemusik entwarfen ein doppelbödiges Kunsterlebnis.

5. bis 8. April 2022: Quartertone – be:prepared

Das junge, hochveranlagte Jazzquartett aus Frankfurt und Darmstadt um den Empfänger des letztjährigen Jazzstipendiums der Stadt Frankfurt/Main, Darius Blair, wurde ausgewählt das Land Hessen 2022 bei der Bundesbegegnung „Jugend jazzt“ zu vertreten. Darius Blair (Saxophon), Jan Iser (Schlagzeug), Luis Schell (Bass) und Finn Heine (Gitarre) bereiteten diesen wichtigen Auftritt im Jazzinstitut gemeinsam in Darmstadt vor und erarbeiteten ihr Programm, bevor sie sich in die deutschen Jazzhochburgen zum Studium zerstreuen. Das große Finale bildete ein Konzert im ehrwürdigen Gewölbekeller des Jazzinstituts inklusive Videoproduktion und Band-Coaching mit dem Kölner Hochschuldozenten und Komponisten Florian Ross. (Foto: Wilfried Heckmann)

25. bis 28. Mai 2022: Angelika Niescier Quartett & OODT – The Hidden Tune

Über drei Jahre arbeitete die Kölner Saxofonistin an ihrem Wunschprojekt, das schon im Mai 2020 und im Mai 2021 nach Darmstadt kommen sollte und jedes Mal wegen der Corona-Pandemie verschoben werden musste.

Seit ihrer zweiten Begegnung mit dem Orang Orang Drum Theatre (OODT) in Malaysia im März 2019 bereitete Niescier die intensive musikalische Begegnung mit ihrem Trio (Angelika Niescier, Altsaxofon, John-Dennis Renken, Trompete und Matthias Akeo Nowak, Bass) und dem sechsköpfigen Perkussion-Ensemble vor, dass sich seit den Anfängen seiner Gründung im Jahr 2014 auf die Erkundung und Erforschung verschiedener traditioneller malaysischer und südostasiatischer Musikinstrumente und Spielstile mit einem zeitgenössischen Ansatz konzentriert, indem es die Grenzen zwischen Musik, Tanz und Theater aufhebt, die Perkussion-Tradition mit theatralischem Ausdruck bereichert und letztendlich die Wahrnehmung von Kunst im Allgemeinen erweitert.

Ihre sechstägige Residency in Darmstadt war das erste Zusammentreffen der neun Musiker:innen auf europäischem Boden. Eine intensive Probenphase mit anschließender Weltpremiere bei einem Konzert in der Bessunger Knabenschule bereitete den Auftritt beim moers music-Festival an Pfingsten 2022 vor.

18. bis 21. August 2022: Appaloosa – Sustainability Tour

Ihre viertägige heimat@jazzinstitut-Residenz in Darmstadt vom 18. bis 22. August 2022 nutzten die fünf Musiker:innen der Nürnberger Band Appaloosa unter anderem für eine intensive Probenphase mit abschließendem Konzert im Rahmen der Open Air-Konzertreihe auf dem Bessunger Jagdhof am 21. August. Außerdem fanden einige professionelle Mitschnitte des Darmstädter Tonstudios Sound & More im Gewölbekeller unter dem Jazzinstitut sowie eine Online-Q&A zum Thema Klimaneutralität im Musikalltag mit dem Hamburger Pianisten Benjamin Schaefer statt.

Ressourcenschonung, Nachhaltigkeit und Klimaneutralität

Für Veranstaltende stellen sich ganz praktische Fragen bei der Durchführung einer Veranstaltung unter dem Aspekt der Ressourcenschonung. Auch das Jazzinstitut beschäftigt sich zunehmend mit Aspekten der Nachhaltigkeit kultureller Projekte, des Schutzes unserer natürlichen Umwelt und Wegen zur Klimaneutralität von Veranstaltungen.

Eine längere Verweildauer an einem Ort erspart Künstler:innen nicht nur zeit- und ressourcenraubendes Reisen von Konzert zu Konzert, sondern ermöglicht auch den intensiveren Austausch zwischen den Kreativen und den Veranstaltenden. Bei Reisen, Unterbringung, Verpflegung und Produktion wollen wir verstärkt auf Klimaneutralität und Schonung der natürlichen Ressourcen achten. Wir möchten die Bindung der Musiker:innen zu ihrer heimat@jazzinstitut nachhaltig weiterpflegen und insbesondere junge Musiker:innen im weiteren Verlauf ihrer Karrieren langfristig unterstützen.

CO2-Einsparung bei Mobilität und Transport

Da ist zunächst der Bereich der Mobilität, der laut Green-Touring-Guide, den die Mannheimer Popakademie vor einigen Jahren veröffentlicht hat, den größten Anteil bei den klimaschädlichen Emissionen verursacht. Bei Musikveranstaltungen sind das etwa 10% auf Seiten der Bands und 33% auf Seiten des Publikums, das selbstverständlich aufgefordert ist zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum gut angeschlossenen Bessunger Jagdhof anzureisen.

Auch die Musiker:innen legten ihre Weg von Nürnberg mit der Bahn und öffentlichen Verkehrsmitteln zurück. Möglich ist das für eine Band nur, wenn der Veranstaltungsort sperrige Instrumente wie Klavier, Schlagzeug, Verstärker oder wie im Fall der Band Appaloosa sogar ein Vibraphon bereitstellt. Der lokale Transport des Vibraphons, das sich das Jazzinstitut von der nahe gelegenen Akademie für Tonkunst ausgeliehen hatte, erfolgte zum Beispiel per Lastenfahrrad. Die Sonderanfertigung des Darmstädter Tüftlers Eike Günther macht den Transport auch sperriger Güter möglich.

Sonnenstrom für mobiles Studio und Konzertbeschallung

Die Aufnahmen während der Kurzresidenz und die Beschallung des Konzerts am Sonntag führte das Darmstädter Studio Sound & More durch. Tonmeister Klaus Endel betreibt schon seit vielen Jahren sein Studio ausschließlich mit Sonnenstrom aus der hauseigenen PV-Anlage. Seit neuestem kann er mobil arbeiten, dank zweier Lithium-Eisen-Phosphat Akkus mit ausreichender Leistung und einem Stromverteiler mit Anzeige der aktuellen Spannung und der bezogenen Leistung. Über eine App ist per Bluetooth der Zustand der Akkus jederzeit abfragbar. Bereits ein Akku reicht um mindestens acht Stunden (wahrscheinlich deutlich mehr) Aufnahmen mit dem mobilen Equipment machen zu können. Auch beim Sound und der Beleuchtung des Konzerts auf dem Bessunger Jagdhof am 21.8. kamen die beiden Akkus zum Einsatz.

Kurze Wege und lokale Versorgung

Bei der Unterbringung der fünf Musiker:innen verzichteten wir auf die Nutzung großer Hotels in der Peripherie. Vielmehr verbrachte die Band ihre Tage in Darmstadt in einer gemeinsamen Ferienwohnung, die nur 50 Meter vom Jazzinstitut entfernt ist. Lebensmittel zur Selbstversorgung gibt’s dort in den umliegenden kleinen Bessunger Bäckereien und Lebensmittellädchen, leckeren Kaffee und selbstgebackenen Kuchen im Café Mela am Forstmeisterplatz, ein gemeinsames Abschlussdinner im Restaurant Belleville gegenüber dem Jazzinstitut.

Tipps und Ideen für mehr Klimaneutralität im Musikalltag

Über all diese Dinge diskutierte die Band am Freitagvormittag auch noch einmal bei einer Videokonferenz mit dem Hamburger Jazzpianisten und Komponisten Benjamin Schaefer. Bei dieser Gelegenheit bekamen sie von ihm noch einige Tipps, wie in ihrem persönlichen Musikeralltag – beim Proben, Unterrichten und Konzertieren – Klimaneutralität umgesetzt werden kann. Schaefer setzte das Thema in den vergangenen Jahren als Vorstandsmitglied der Deutschen Jazzunion auf die Agenda. Aus seiner praktischen Erfahrung als Profimusiker, der viel herumreist, hat er ein Konzept entwickelt, seinen professionellen CO2-Fußabdruck in kurzer Zeit maximal zu verringern. Auch dadurch konnten die fünf jungen Appaloosas während ihrer Zeit bei heimat@jazzinstitut sicherlich viel für die künftige eigene Praxis als Jazzmusiker:innen mitnehmen.

16. bis 19. November 2022: Mandy Neukirchner – Bebop Mädchen goes Darmstadt

Mandy Neukirchner ist eine Gitarristin aus Leipzig, die 2020 unter dem Titel „Bebop Mädchen“ einen Podcast ins Leben rief, in dem sie aktuelle Themen behandelt, die Karriereplanung und Alltagssituationen von Musiker:innen gleichermaßen betreffen – das Ganze aus einer bewusst feministischen Perspektive (Bebop Mädchen). Die Inhalte, die sie auf frische und unverbaute Art mit ihren Gesprächspartner:innen angeht, reichen von der Bewältigung weiblicher Selbstzweifel beim Musikmachen bis zur allgemeinen Mysogynie im Musikbusiness oder auf Musikerinnen bezogene Hatespeech im Netz.

Wir hatten Mandy Neukirchner zur fünften Kurzresidenz unter dem Titel heimat@jazzinstitut vom 16. bis 19. November nach Darmstadt eingeladen. Die vier Tage in Darmstadt nutzte Neukirchner gemeinsam mit Expertinnen zu einer ausgiebigen Evaluation von inzwischen mehr als zwei Jahren Podcasting.

Dazu traf sie virtuell auf SWR-Journalistin Julia Neupert, von der Neukirchner Tipps und Anleitungen zur weiteren Professionalisierung des Formats erhielt. Dabei ging es um redaktionelle Recherche, den dramaturgischen Aufbau des Podcasts und die Weiterentwicklung der Moderation, inklusive der Gesprächsführung im Interview.

Von der erfahrenen Podcasterin Imke Machura von der Hamburger Agentur „Raketerei“ erhielt Neukirchner ein vom Jazzinstitut vermitteltes Online-Coaching in Sachen Monetarisierung und Entwicklung eines Social Media-Profils für ihren eigenen Podcast.

Mit der Stuttgarter Kulturmanagerin Lisa Tuyala tauschte sie sich darüber aus, welche spannenden Fragestellungen und Antworten es im Bereich Frauen in der Musikbranche gibt – wo stehen wir in der Diskussion? Welche Vernetzungen fehlen, welche existieren? Welche Geprächspartner:innen kommen in Frage und worüber müsste man mit ihnen reden? Tuyala ist u.a. Mit-Initiatorin des Netzwerks „Women* of Music“ (W*oM).

Zum Auftakt lud Wolfram Knauer Neukirchner am Mittwoch, den 16. November zu einer Diskussionsrunde über „Jazz und die Zukunft des Radio“ im Rahmen der Mainzer Jazzgespräche an der Universität Mainz ein. Zudem begleitete sie Arndt Weidler am Freitagmorgen zur Online-Zukunftswerkstatt der Deutschen Jazzunion zum Thema „Jazz und Digitalität – Kunst, Diskurs und Rechteverwertung im digitalen Bereich“. Die restliche Darmstädter Zeit nutzte Neukirchner , um im Archiv des Jazzinstituts nach neuen Themen zu recherchieren.

heimat@jazzinstitut – Unsere Leistungen pro Kurzresidenz
  • Tagegeld pro vollem Tag der Anwesenheit pro Musiker:in
  • Auftrittshonorar pro Musiker:in
  • Übernachtungskosten (Unterbringung Gästehaus)
  • Reisekosten, lokale Transporte (nur ÖPNV, keine PKW oder Flugkosten)
  • Verpflegung/ein gemeinsames Abendessen
  • Aufnahmetechnik, Instrumente, Back-Line bei Bedarf
  • Externe Dienst- und Personalleistungen, z.B. Tontechnik, Grafik, Choreographie, PR-Beratung, Filmproduktion bei Bedarf
  • Interne Dienst- und Personalleistungen, z.B. Proberäume, Unterstützung bei Recherchen, Betreuung, Pressearbeit, Werbung, GEMA, KSK


Roots | Heimat: Wie offen ist der Jazz: Abstracts

Sorry, but these abstracts are in the language of the corresponding papers (partly German, partly English).


Ablauf der Konferenz:

DONNERSTAG – Nachmittag
30. September 2021

14:00:
Wolfram Knauer
Wie offen ist der Jazz? Ziemlich!

Wolfram Knauer leitet seit 1990 das Jazzinstitut Darmstadt. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt Monographien über Louis Armstrong (2010, 2021), Charlie Parker (2014), Duke Ellington (2017) sowie ‚Play yourself, man!‘ Die Geschichte des Jazz in Deutschland (2019). Im Frühjahr 2008 lehrte er als erster nicht-amerikanischer Louis Armstrong Professor of Jazz Studies an der Columbia University in New York.

Thema:
Wie wird kulturelle Identität geformt und deren Wahrnehmung beeinflusst?

14:30:
Philipp Teriete
Racial Uplift, Community und die Zukunft schwarzer Musik.
Der musikalische Ausbildungskanon an den Historically Black Colleges and Universities im späten 19. und frühen 20. Jh. und der Einfluss auf den frühen Jazz

— abstract: —

Die Historically Black Colleges and Universities (HBCUs) haben seit ihrer Gründung maßgeblich zum ‚Racial Uplift‘ der ‚Black Community‘ beigetragen. Die Musikausbildung an den HBCUs zielte im späten 19. und frühen 20. Jh. vor allem darauf ab Musiklehrer:innen für die Schulen und Universitäten im ganzen Land hervorzubringen. Nicht zuletzt deshalb hatten die HBCUs auch eine gewichtige Stimme in der Debatte um die ‚Future of Black Music‘ (‚Classical‘ vs. ‚Popular‘).

In der Jazzforschung ist die Rolle der HBCUs bisher kaum diskutiert worden. Durch die Fokussierung auf das Leben und Werk herausragender ‚Jazz Heroes‘ wurde der Blick auf den musikalischen Ausbildungshintergrund der ‚Black Community‘ gleichsam verstellt. Gleichzeitig ist die Professionalität der Ausbildung – insbesondere schwarzer Jazzmusiker:innen – unterschätzt worden und man hat ihnen nicht selten ein Autodidaktentum angedichtet. Dabei hatten viele der Protagonist:innen des Jazz entweder selbst an HBCUs studiert oder waren von Lehrer:innen unterrichtet worden, die an HBCUs ausgebildet worden waren. An den HBCUs wurde das musikalische ‚Handwerk‘ bis weit ins 20. Jh. anhand ‚klassischer‘, europäischer Musik und nach ‚klassischen‘ Lehrplänen vermittelt. Diese waren nach dem Vorbild der führenden US-amerikanischen und europäischen Konservatorien entworfen worden und umfassten neben Instrumental- und Gesangsstudiengängen auch musiktheoretische Disziplinen (Harmonielehre, Kontrapunkt etc.).

Ich möchte in meinem Vortrag untersuchen, welchen Einfluss die Ausbildung an den HBCUs auf die Entwicklung schwarzer Jazzmusiker:innen und ihrer Musik gehabt hat. Dabei soll ebenfalls diskutiert werden, inwieweit ‚positive‘ und negative Vorurteile und der Geniekult die ästhetischen Wertvorstellungen und die historischen Narrative des Jazz geprägt haben.

— bio: —

Philipp Teriete ist international als Pianist, Komponist und Forscher tätig. Er ist Dozent für Musiktheorie an der HSLU Luzern und arbeitet zurzeit an seinem Promotionsprojekt zum Thema The Influence of 19th-Century European Music Theory on Early Jazz. Philipp studierte Klavier und Musiktheorie an der Hochschule für Musik Freiburg, RAM London, und dem CNSMD Paris, sowie Jazz Composition/Piano an der Norwegian Academy of Music Oslo und der New York University. (philippteriete.com)

15:30:
Anna-Lisa Malmros (engl.)
Black Dada / Ascension Unending
John Tchicai between Amiri Baraka and John Coltrane

— abstract: —

American and European Experimentalism viewed through the life and music of Danish-Congolese musician, composer and educator John Tchicai (1936-2012) whose works is interdisciplinary, as in his many collaboration with poets, first and foremost Amiri Baraka (LeRoi Jones) and his groundbreaking Black Dada Nihilismus (1965). Anna-Lisa Malmros will start with that poem which builds upon and constructs a long history of black life and trauma, and then survey the perspectives on black music by European philosophers and writers such as Theodor W. Adorno, Slavoj Zizek and Harald Kisiedu.

The talk discusses Tchicai’s different identities, the influence of his Congolese heritage, for instance, the fact that he was one of few European musicians who managed to make a mark on the US-American jazz scene, while Tchicai saw himself as a European first and all. It also discusses the experimental approaches Tchicai was involved in in the 1960s which have resulted in a change of perspective positioning the music somewhere between the complicated mesh of pop-art, modernism, New Music, „serious“ art and crossover styles.

— bio: —

Anna-Lise Malmros studied music history and theory at the University of Copenhagen, and wrote her PhD thesis about Alban Berg’s „Lulu“. For several years she worked as a music critic – focusing on rock, blues and pop – for different newspapers and periodicals, but also as an educator and lecturer in high schools and as an administrator in the Danish Music Council, specifically representing rock, pop and jazz. Her biography project on John Tchicai was initiated by Tchicai himself a few years before his death in 2012.

 

16:30: Roundtable 1
Vom Fremdsein, Ankommen, Fremdbleiben. Gespräch über eigene Erfahrung der Identitätswahrnehmung

Ein Gespräch mit der Saxophonistin Gabriele Maurer, dem Kontrabassisten Reza Askari und der Sängerin Simin Tander stellt ganz persönlich die Erfahrungen von Künstler:innen vor, die auf unterschiedliche Art und Weise betroffen sind, durch Hautfarbe, familiäre Herkunft und/oder ihre künstlerische Auseinandersetzung mit Traditionen, die außerhalb ihrer deutschen Heimat liegen (Moderation: Sophie Emilie Beha). Wir haben dieses Panel überschrieben: “Vom Fremdsein, Ankommen, Fremdbleiben. Gespräch über eigene Erfahrung der Identitätswahrnehmung”.

— bio: —

Gabriele Maurer fand im Alter von 3 Jahren zur Musik. In jungen Jahren bestritt sie klassische Wettbewerbe wie Jugend Musiziert bevor sie sich dem Jazz zuwandte und 2017 ihr Studium für Jazzsaxophon an der Musikhochschule Mannheim begann. Seitdem wurde die Newcomerin für ihre genre-freien Kompositionen mit ihrem Projekt „GMQ“ und ihrem einladenden Spiel mehrfach ausgezeichnet. „Maurers Weg ist der durch die Musik: Sie ist im Jazz zuhause! Und wer ihr zuhört, fühlt sich bei ihr zu Gast. In einem wundervollen Heim, voller warmer, weicher, fließender Saxophonklänge.“ (SWR ‚Kunscht‘). (gabrielemaurerquintett.com)

Reza Askari, Bassist aus Köln; ausführliche Vita unter reza-askari.com

 

 

 

Die deutsch afghanische, aus Köln stammende Sängerin und Komponistin Simin Tander gehört zu den aufregendsten Persönlichkeiten des europäischen Jazz. Sie „balanciert an der Grenze von Schmerz und Schönheit, von Grazie und Leidenschaft“ (Augsburger Allgemeine) und verzaubert mit einem Klangreichtum und einer Intensität, wie man sie selten erlebt. Sie interpretiert und komponiert Texte und Lieder auf unterschiedlichen Sprachen, so auch auf Paschtu, der Sprache der Afghanen und ihres früh verstorbenen Vaters. In den vergangenen 15 Jahren tourte sie mit ihrem niederländische Quartett auf internationalen Festivals (u.a. North Sea Jazz Festival, Hongkong Jazzfestival, Madrid Jazzfestival, Philharmonie Essen, Jarasum Jazzfestival South Korea) und veröffentlichte zwei hoch gelobte Alben in Eigenregie. Gemeinsam mit dem norwegischen Star-Pianisten Tord Gustavsen gab sie mit What was said (2016) ihr Debut auf dem renommierten Label ECM Records. Es folgten weltweite Tourneen (u.a. London Jazz Festival, Montreal Jazzfestival, Brussels Jazzfestival, San Francisco SF Jazz Fest),  enthusiastische Kritiken und der Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik. Im Herbst 2020 erschien Simin Tanders neuestes Werk Unfading (Jazzhaus Records), eine Hommage an weibliche Dichterinnen aus unterschiedlichen Kulturen und Epochen. Neben zahlreichen weiteren, internationalen Projekten doziert Simin an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und gibt weltweit Workshops. (simintander.com)

Sophie Emilie Beha ist Musikjournalistin. Sie moderiert Radiosendungen, Konzerteinführungen, Podiumsdiskussionen und Livestreams. Daneben schreibt sie Texte für verschiedene Fachmagazine und Zeitungen und managt Social-Media-Kanäle. (twitter.com/sophiemiliebeha)


FREITAG – Vormittag
1. Oktober 2021

Thema:
Aneignung und nationales Selbstverständnis (case studies)

9:30:
Philipp Schmickl
Centrisms at the periphery?
Tracing and documenting the impact of an African-American avantgarde jazz musician on a jazz club located at the European margins

— abstract: —

In 1978 the young Austrian jazz club owner Hans Falb (born 1954) met the African-American avantgarde jazz musician Clifford Thornton (1936–1983). Thornton who also was an ethnomusicologist (who took part in the Pan-African Cultural Festival 1969 in Algiers) and until the early 1970s appeared as a supporter of the Black Panther Party, became a guide in musical, spiritual and political matters for Falb who just had opened his place, the Jazzgalerie Nickelsdorf, right at the border between the Eastern and Western blocs.

Although Thornton died in 1983, his presence at the Jazzgalerie is still evident today, however not as easily perceivable as a portrait hanging on the wall. The impression that the exchange during the three years until Thornton’s last Nickelsdorf-visit in 1981 made on the Jazzgalerie, was strong. By looking at source material from the Jazzgalerie’s archive that relates to Thornton – interviews, letters, records or recordings –, I will touch on questions of centers and peripheries in the conceptualization of the nature of jazz music as well as on genesis myths and the identification of its roots and origins. I will argue that Thornton’s partisan but still open-minded views on these questions contributed strongly to the local identity of the Jazzgalerie and endorsed its development to one of the globally most important places for free jazz and improvised music.

The source material as well as the strong character of the locality suggest that one cannot speak of a simple import of Thornton’s beliefs and music – they must be evaluated in light of the local conditions. Here concepts of glocalization or hybridity are key to the understanding of the practices the encounter entailed.

— bio: —

Philipp Schmickl graduated in anthropology (University of Vienna, 2010) with the thesis Das scape jazzistique. Improvisationen in einem globalen Feld. In 2011 he started the book-series THEORAL and published 15 issues of conversations with improvising musicians in German, English and French and visited many (and worked for some) festivals in Europe, Lebanon and Mexico. Science stipend of the City of Vienna in 2015 and 2017. Since March 2020 he is a PhD-student at the University of Music and Performing Arts in Graz (Institute of Jazz Research) where he is researching the history of the „Konfrontationen“, a 40-years-old festival for free jazz and improvised music. (musicaustria.at)

Ádám Havas
Towards the Deconstruction of Hegemonic Narratives
Romani Musicians‘ Role in the Articulation of East European Difference

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Drawing on his research on the Hungarian jazz scene Ádám Havas presents his findings on the meanings of the bebop tradition through the cultural practices of Hungarian Romani jazz musicians. The presentation will cast light on how practicing jazz becomes a main instrument for reinventing „otherness“, East-European „difference“ and, at the same time, to acquire social status within a semi-peripheral geopolitical context.

— bio: —

Ádám Havas earned his PhD in sociology from Corvinus University of Budapest in 2018. He currently serves as Head of Social Sciences at Milestone Institute. His research focuses on the cultural constructions of jazz in East Central Europe. His publications appeared in Popular Music, Jazz Research Journal, Jazz Research News, Hungarian Studies and LeftEast, among others. He has recently submitted his book manuscript The Genesis and Structure of the Hungarian Jazz Diaspora.  He is co-editing with Bruce Johnson a special issue of Popular Music & Society on global jazz diasporas, and co-edits with Bruce Johnson and David Horn the Routledge Companion to Diasporic Jazz Studies. (milestone-institute.org/staff-faculty/adam-kornel-havas)

11:30:
Niklaus Troxler
im Gespräch mit Wolfram Knauer

— abstract: —

Niklaus Troxler schließlich, dessen Plakate Thema einer Ausstellung im Jazzinstitut sind, wird über seinen eigenen Weg zum Jazz erzählen, als Fan, als Begründer und langjähriger Veranstalter des Willisau Jazzfestivals, mit dem er Musiker:innen, für die sein Herz schlägt, in die Schweiz holen konnte, sowie als international renommierter Grafiker und Plakatkünstler.

— bio: —

Niklaus Troxler, geb. 1.5.1947 in Willisau/Schweiz. Graphic Designer. Organisierte Jazzkonzerte in Willisau von 1966-2013, das Jazz Festival Willisau von 1975-2009. Professor für Kommunikationsdesign an der Staatl. Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart 1998-2013. Viele internationale Design- und Kunstpreise. Seine Plakate sind in den wichtigsten Designsammlungen, so u.a. im Museum of Modern Art in New York, im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg, Kunstbibliothek Berlin, Stedelijk Museum in Amsterdam. Wohnt in Willisau/Schweiz und Berlin. (troxlerart.ch)


FREITAG – Nachmittag
1. Oktober 2021

Thema:
„Wir“ und die anderen

14:00:
Harald Kisiedu
“We Are Bessie Smith’s Grandchildren”
Reflections on Creolization in post-1950s Jazz in Europe

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Histories of post-1950s jazz in Europe are by and large still shaped by an emancipation discourse which posits that during the 1960s white European improvisers came into their own by dissociating themselves from their African American spiritual fathers. Challenging a historical narrative in which „European“ is usually used as a synonym for „white“ and going beyond both Eurocentric and US-centric perspectives, this paper argues for a decentered perspective with respect to historiographies of jazz in Europe. Such a perspective not only allows for the uncovering of a hidden history of critically important Afro-diasporic contributions to experimental jazz in Europe and of deeply meaningful interactions between Afro-diasporic and white European improvisers but also accounts for jazz’s global dimension and the transfer of ideas beyond nationally conceived spaces. European improvisers’ sustained engagement with black musical knowledge amounts to a cultural dynamic, which may best be described in terms of creolization.

— bio: —

Harald Kisiedu is a historical musicologist and received his doctorate from Columbia University. His research interests include jazz as a global phenomenon, music of the African diaspora, black experimental music, post-war European avant-garde, improvisation, transnationalism and Wagner. Kisiedu is also a saxophonist and has performed with Branford Marsalis, George Lewis, Henry Grimes, Hannibal Lokumbe and Champion Jack Dupree. He has made recordings with the NY-based ensemble Burnt Sugar the Arkestra Chamber and composer/improviser Jeff Morris. He is a lecturer in jazz history and jazz studies at the Institute of Music at the University of Applied Sciences Osnabrück. Kisiedu is the author of European Echoes: Jazz Experimentalism in Germany, 1950-1975, published by Wolke Verlag. (haraldkisiedu.com)

Timo Vollbrecht
Das Problem des „othering“ und die Handlungsmacht weißer Musiker:innen

— abstract: —

Das vorliegende Paper thematisiert das Problem des „othering” in einer postmigrantischen und stilistisch zunehmend vielfältigen Musikszene, in der eurozentrische Perspektiven nach wie vor als goldener Standard gelten. Im Vorfeld geführte Gespräche mit BPoC-Jazz-Musiker*innen geben zunächst einen Einblick in deren Erfahrungen, als „Andere“ behandelt und in ihrer Person/Kunst/Musik exotisiert zu werden. Diese Erlebnisse reihen sich ein in eine lange Tradition des Exotismus, die den Jazz und andere Musikrichtungen seit jeher begleitet. Von diesen Gesprächen ausgehend wird diskutiert, welche Rolle insbesondere weiße Musiker*innen einnehmen können, um mehr Gerechtigkeit in der Musikszene zu erreichen. Im Fokus stehen dabei das Erkennen der eigener Handlungsmacht, das Konzept des Verbündet-Seins, Artistic Citizenship und, nicht zuletzt, die konstruktivistische Kraft der Musik selbst.

— bio: —

Timo Vollbrecht ist ein international tätiger Jazzsaxofonist, Komponist und Forscher. Er studierte Saxofon in Berlin und New York, ist aktiv in die Musikszene in Brooklyn eingebunden, wo er u.a. mit Ben Monder, Theo Bleckmann und Ralph Alessi spielt, während er mit seiner Band Fly Magic in Deutschland und Europa tourt. Im Rahmen seiner Promotion analysierte er den künstlerischen Prozess des ECM Records-Produzenten Manfred Eicher im Tonstudio. Derzeit lehrt er an der Jazzabteilung der New York University. (timovollbrecht.com)

Stephan Meinberg
Vom Umgang mit dem Privilegiert-Sein

— abstract: —

In Verhältnisse geboren, die (Zwischen-)Ergebnis vieler Jahrhunderte vorheriger Geschichte sind, werden wir in mannigfacher Weise von diesen Verhältnissen und so auch von dieser Geschichte geprägt. Wie wir damit individuell und in verschiedenen kollektiven Zusammenhängen umgehen, hängt von vielen, darunter auch subjektiven Faktoren ab. Wie groß ist zum Beispiel unsere Motivation, uns überhaupt umfassender über das Zustande-Kommen unserer jeweiligen Situiertheit bewusst zu werden? Angenommen wir werden als „weiß“ gelesen. Damit sind wir in einer Realität vielfacher Benachteiligung von als nicht-„weiß“ kategorisierten Menschen in eine in dieser Hinsicht bevorzugte, privilegierte Position gestellt mit substanziellen, durchschnittlich auch sehr deutlichen materiellen Folgen. Und das unabhängig davon, ob wir selber das nun wollen oder nicht. Wie verhalten wir uns dazu? Weiter gehende Annahme: wir werden als „weiß“ gelesen und  haben zugleich eine Vorliebe für bestimmte afroamerikanische Musiken, zum Beispiel Jazz.  Vielleicht ist unser Enthusiasmus für diese Musik sogar so stark, dass wir uns mit ihr  in der einen oder anderen Form auch beruflich befassen, also einen erheblichen Teil unseres Lebens mit ihr verbringen. Dies dann nicht zuletzt auch, um so die von uns benötigten, sogenannten „Brötchen“ zu organisieren. Welchen Stellenwert haben für uns die sozialen Umstände, in denen diese Musik ursprünglich entstanden ist? Und wie ausgeprägt ist unser Interesse, die weitere Entwicklung dieser Umstände bis heute
zu verstehen? Hat das eventuell und wenn ja welche Auswirkungen auf unsere konkrete Praxis mit der Musik? Hat es möglicherweise auch Auswirkungen auf Aspekte unseres Lebens jenseits der Musik?

— bio: —

Der Trompeter Stephan Meinberg absolvierte zunächst ein Studium der europäischen Klassik an der Musikhochschule Lübeck, dann ein Jazz-Studium an der Musikhochschule Köln und 1999/2000 als DAAD-Stipendiat ein zusätzliches Studienjahr an der New School University, New York (u.a. bei Billy Harper, Reggie Workman, etc). Mit seinem Quintett Vitamine sowie den kollektiven Gruppen Heelium, moLd und Arnie Bolden veröffentlichte er insgesamt sieben CDs. Als Sideman arbeitete Stephan Meinberg u.a. mit Matthäus Winnitzkis Trio Cnirbs, Andre Nendza A-Tronic, Nils-Wogram-Septet, Dieter Glawischnig Hamburg Ensemble, Salsa-Gruppen von Javier Plaza und Bazon Quiero, NDR-BigBand (unter Leitung von Steve Gray, Maria Schneider, Bob Brookmeyer, uvm). Für das Goethe-Institut spielte er in Afrika, Asien, Europa und Nordamerika. (jazzinstitut.de/deutsch-dozentinnen-und-dozenten-2021/#2021meinberg)

16:30: Panel 2
An die Arbeit: Realität verändern!!!

  • Joana Tischkau + Frieder Blume
  • Jean-Paul Bourelly
  • Kornelia Vossebein
  • Moderation: Sophie Emilie Beha

— abstract: —

In einem Roundtable mit zwei dem Gitarristen Jean-Paul Bourelly, der Veranstalterin Kornelia Vossebein und den Kulturaktivist:innen Joana Tischkau und Frieder Blume wollen wir schließlich darüber diskutieren, was es bedarf, um nicht nur zu einem Bewusstseinswandel, sondern darüber hinaus auch zu einer anderen Repräsentation von Musiker:innen auf der Bühne beizutragen (Moderation: Sophie Emilie Beha). Wir haben dieses Panel optimistisch überschrieben: “An die Arbeit: Realität verändern!!!”

— bios: —

Joana Tischkau ist freischaffende Choreografin und Performerin. In ihren Arbeiten versucht Sie die Absurdität und Willkür diverser Unterdrückungsmechanismen aufzuzeigen und bedient sich dabei an postkolonialen Theorien, feministischen Diskurse und popkulturellen Phänomenen. Aus diesen Überlegungen entwickelte sie die Solo Arbeit WHAT.YEAH., die 2014 zum Festival WORKS AT WORK in der Danshallerne Kopenhagen eingeladen wurde. Gemeinsam mit Elisabeth Hampe (Dramaturgie) und Frieder Blume (Sound Design) folgte das Stück TPFKAWY/Thepieceformerlyknownaswhatyeah, welche bei den Hessischen Theatertagen in Darmstadt 2017 gezeigt wurde. Ihre Masterabschlussarbeit PLAYBLACK, welche am Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt uraufgeführt wurde im Frühjahr/Sommer 2020 zur Tanzplattform Deutschland, dem Impulse Festival Showcase in NRW, sowie nach HELLERAU, europäisches Zentrum der Künste in Dresden eingeladen. In Tischkaus Folgearbeit BEING PINK AIN‘T EASY richtet sie die Auseinandersetzung noch stärker auf die weiße Behauptung von Neutralität, Normativität und Universalität und dem gleichzeitigen Begehren nach Schwarzer Verkörperung.  BEING PINK AIN’T EASY prämierte im Oktober 2019 an de Sophiensælen in Berlin und wurde zum Friendly Confrontations Festival an den Münchner Kammerspielen sowie dem Tanzquartier in Wien eingeladen. Gemeinsam mit Elisabeth Hampe, Anta Helena Recke und Frieder Blume gründete sie 2020 das Deutsche Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music (DMSUBM) welches In Frankfurt am Main und in Berlin eröffnet wurde. Das DMSUBM ist Deutschlands führendes Museum für Schwarze Kultur, Popularmusik und Geschichte. Es beherbergt ein umfassendes Archiv an Schallplatten, Magazinen, Autogrammen und Erinnerungsstücken, die an einem lebendigen Ort der Vermittlung und Diskussion von Schwarzer Geschichte ausgestellt werden. Joana Tischkau lebt und arbeitet in Frankfurt am Main und Berlin. (berlinerfestspiele.de)

Frieder Blume ist Musikwissenschaftler, Komponist und Produzent. Er studierte Musikwissenschaft und Gender Studies an der Humboldt Universität in Berlin wo er sich mit  den Verknüpfungen von Musik und gesellschaftlichen Identitätskonstruktionen beschäftigte. Als Sound Designer arbeitete er mit Joana Tischkau und Elisabeth Hampe an den Produktionen Being Pink Ain’t Easy (2019) und Colonastics (2020) zusammen. In 2020 komponierte er die Musik für den Film The Book of S of I. Chapter One: Creatures Born from Hopelessness für die Künstlerin und Filmemacherin Maren Blume. (ra.co/dj/friederblume/biography)

Raised by first-generation Haitians, Jean-Paul Bourelly grew up amidst an unusual blend of Haitian meringue, folkloric, and hard-edged urban blues of Chicago’s South Side. Along with his own singular musical vision, inspired by Howlin Wolf, Jimi Hendrix and a splash of Carlos Santana, Bourelly began to formulate his unique musical synthesis. At the age of 18, after a one year scholarship studying with the great alto saxophonist and educator Bunky Green, he moved to New York. During his early years he worked with notable jazz figures like drummer Elvin Jones, Pharoah Sanders, AACM founder Muhal Richard Abrams, Roy Haynes and recorded with Miles Davis. Along with engagements at the original Knitting Factory and tours in Europe he was an important figure on scenes like the Black Rock Coalition and Mbase. Reconnecting with Haitian musicians from the popular folkloric group Foula, he formed Ayibobo which merged his Haitian and his jazz improvisational sensibility. This was a first sign of him discovering his sound within an African space. In Berlin, he renewed his focus on the sound which today may be called Afro Futuristic. This was affirmed by his collaboration with historian Paul Gilroy on the Black Atlantic project (Berlin HKW 2004). This work would take him towards a wider perspective, an ideal of a possible Black Atlantic sound, something that could encompass the totality of his style. (bourelly.com)

Kornelia Vossebein ist Projektleiterin „NICA artist development“ im Europäischen Zentrum für Jazz und aktuelle Musik Stadtgarten Köln. Zuvor hatte sie die künstlerische Leitung etwa des Bunker Ulmenwall in Bielefeld und des soziokulturellen Zentrums Zeche Karl in Essen inne. Sie arbeitete für Festivals wie das moers Festival und die Monheim Triennale und engagiert sich in zahlreichen Gremien auf Landes- wie Bundesebene,  ist so beispielsweise seit 2018 eine vond rei Sprecher:innen der Bundeskonferenz Jazz. (NICA)

 

Sophie Emilie Beha ist Musikjournalistin. Sie moderiert Radiosendungen, Konzerteinführungen, Podiumsdiskussionen und Livestreams. Daneben schreibt sie Texte für verschiedene Fachmagazine und Zeitungen und managt Social-Media-Kanäle. (twitter.com/sophiemiliebeha)


SAMSTAG – Vormittag
2.
Oktober 2021

Thema:
Von Leuten und Liedern (case studies)

9:30:
Nico Thom
„Der Mann mit der schwarzen Stimme“.
Europäischer Amerikanismus am Beispiel von Bill Ramsey

— abstract: —

Der 1931 in Cincinnati/Ohio (USA) geborene Jazz-, Rhythm’n’Blues- und Folk-Sänger William McCreery Ramsey hat im deutschsprachigen Raum vor allem als Schlagersänger Bill Ramsey Bekanntheit erlangt. Er war darüber hinaus als Schauspieler, Moderator und Hochschuldozent sehr aktiv gewesen. Seit 1951 lebte und arbeitete er in Deutschland und der Schweiz; erst in Frankfurt am Main, dann in Zürich sowie Wiesbaden und seit 1991 in Hamburg, wo er bis zu seinem Tod im Juli 2021 seinen Ruhestand verbrachte. 1984 erhielt er die deutsche Staatsbürgerschaft.

Anhand Ramseys Lebensgeschichte und seines künstlerischen Schaffens soll das kulturelle Phänomen des Europäischen Amerikanismus thematisiert werden. Gemeint ist damit die Amerikanisierung Europas, bei der sich die „westeuropäischen Nachkriegsgesellschaften aktiv mit strategischen Eigeninteressen und geschickten Aneignungsstrategien an der Amerikanisierung beteiligt haben“.

Im Vortrag werden unter anderem die Institutionen beleuchtet, die Ramseys Popularität befördert haben, z.B. die Radiosender American Forces Network (AFN) und das Kultur-Programm des Hessischen Rundfunks (HR 2 Kultur), die Fernsehsender Südwestfunk (SWF) und das Erste Deutsche Fernsehen (ARD) sowie die Plattenlabel Polydor und Bear Family Records.

Auch einzelne Weggefährten von Ramsey werden in den Fokus genommen; bspw. der österreichische Filmregisseur Franz Marischka, der schweizer Jazz- und Schlagermusiker Hazy Osterwald sowie die beiden deutschen Musikproduzenten Heinz Gietz und Kurt Feltz.

Nicht zuletzt der rassisch-konnotierte Hautfarben-Aspekt soll zur Sprache kommen, denn obwohl Ramsey kein Afro-Amerikaner ist, wird ihm ein „schwarzes Timbre“ zugeschrieben. 

— bio: —

Nico Thom studierte Musikwissenschaft, Philosophie, Wissenschafts-management und Hochschuldidaktik an den Universitäten in Leipzig, Halle/Saale, Jena, Oldenburg sowie Hamburg. Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er forschte und lehrte an (Musik-) Hochschulen und Universitäten in Leipzig, Klagenfurt (Österreich), Weimar, Rostock, Lübeck und Hannover. Seit 2021 ist er an der Hochschule für Künste in Bremen tätig. Neben seinen Aktivitäten in Forschung, Lehre und Verwaltung agiert er als Jazzmusiker und Labelbetreiber. (nico-thom.info/)

10:30:
Peter Kemper
„Ich hatte halt den Blues nicht mit der Muttermilch eingesogen.“
Heinz Sauer & Archie Shepp – Differenzen eines musikalischen Dialogs

— abstract: —

Als am 24. September 1978 auf dem Deutschen Jazzfestival Frankfurt Heinz Sauer, Archie Shepp und George Adams in einer „Tenorsax-Battle“ aufeinandertrafen, kam es zu einer beispielhaften Kollision „afro-amerikanischer“ und „europäischer“ Jazzästhetik. Noch heute treiben die Erfahrungen von damals Heinz Sauer selbstreflexiv um: „Ich bin wirklich kein Rassist, aber ich dachte damals, verdammt, das schaffst du nicht, da hättest du auch so eine schwarze Mama haben müssen wie Shepp, die dich in den Armen wiegte. Ich hatte halt den Blues nicht mit der Muttermilch eingesogen, den ganzen afro-amerikanischen Background. Und ich dachte sofort, das darfst du nicht imitieren. Der hat etwas in seinem Blut, das du als weißer Deutscher nicht hast.“ (H.S. 2020)

An dieser Begegnung des Black Music-Verfechters Shepp, der als selbstbewusster Dramaturg des Free Jazz und später als aufgeklärter Neo-Traditionalist immer die Emanzipationspotentiale der „African American Music“ freizulegen suchte, mit dem durch europäische Klassik und einem national-konservativ geprägten Elternhaus sozialisierten Sauer lassen sich zahlreiche Aspekte des Kongressthemas exemplifizieren: Ist Jazz eine genuin afro-amerikanische Musik, die ihre Wurzeln in der black community heute mehr und mehr zu verlieren droht? Ist das selbst schon eine europäische Sichtweise? Warum verkörpert Jazz für Heinz Sauer immer den „Sound der Freiheit“? Gibt es ästhetische Qualitäten des Jazz, die über alle ethnischen, geographischen und nationalen Identitäten hinausweisen?

— bio: —

Peter Kemper, Jahrgang 1950, langjähriger Kulturredakteur im Hessischen Rundfunk (hr), von 1981 bis 2015 einer der Programmverantwortlichen für das Deutsche Jazzfestival Frankfurt. Seit 1981 Musikkritiker im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt John Coltrane – Eine Biographie und Eric Clapton – Ein Leben für den Blues, 2023 erscheint Der Sound der Freiheit – Jazz als Kampf um Anerkennung (alle Reclam-Verlag). (schallplattenkritik.de/jury/peter-kemper)

11:30:
Vincent Bababoutilabo
#BlackLivesMatter in der Musikpädagogik?
Über die Notwendigkeit rassismuskritischer Perspektiven in der Musikpädagogik

— abstract: —

Rassismus greift in unser menschliches Miteinander ein. Er trennt Menschen, versucht sie in Kategorien, Identitäten, Nationen, Kulturen oder Ethnien einzuschließen, unterstellt ein „kollektives Wesen“, bestimmt was „normal“, „eigen“ oder „fremd“ ist und organisiert Zugänge zu gesellschaftlichen Rechten, Teilhabe sowie Reichtum.

U.a. der grausame Anschlag von Hanau sowie die zahlreichen, darauffolgenden #BlackLivesMatter-Proteste des Jahres 2020 zeigten uns: Rassismus ist eine historisch gewachsene Realität, auch in Deutschland. Er durchdringt alle Bereiche, davon ist auch Jazzmusik nicht ausgenommen.

Wie stellt sich Rassismus im Jazz-Bereich dar? Was können wir dagegen tun? Diese Fragen greift Vincent Bababoutilabo auf. In seinem Vortrag präsentiert er eine Einführung in rassismuskritische Perspektiven, historischen Überblick sowie eine Diskussion von Jazz als antirassistische Praxis.

— bio: —

Vincent Bababoutilabo ist ein in Berlin lebender Musiker, Autor und Aktivist an der Schnittstelle zwischen Kunst und Politik. In den letzten Jahren fokussierten seine künstlerischen, wissenschaftlichen sowie aktivistischen Projekte insbesondere die Bereiche Migration, Flucht, Dekolonisierung, Ausbeutung und Widerständigkeit sowie die Suche nach positiven Visionen für eine gerechte Gesellschaft, in der wir alle ohne Angst verschieden sein können. Er ist freier Referent für rassismuskritische Musikpädagogik und Mitglied in zahlreichen zivilgesellschaftlichen Initiativen wie dem NSU-Tribunal oder der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD-Bund e.V.). (bababoutilabo.jimdofree.com)


SAMSTAG – Nachmittag
2. Oktober 2021

Thema:
Wie wir die Welt sehen

14:00:
Jo Wespel & Sanni Lötzsch

FESTIVAL BOOST NOW! – Selbstermächtigung der Musiker:innen, Communities und zugängliche Strukturen

— abstract: —

Gemeinsam mit einem Kollektiv weiterer Musiker:innen riefen Jo Wespel und Sanni Lötzsch im Juni 2021 zu einer zukunftsorientierten und emanzipatorischen Meta Community auf. Sie streben 52 – deutschlandweit vernetzte – Communitys an, die jeweils 52 einwöchige Musikfestivals im interdisziplinären Austausch und in einem „antirassistischen, queerfeministischen und gemeinwohlorientierten“ Rahmen veranstalten. In ihrer Realutopie „Festival Boost Now!“wollen sie die strukturell bedingte Chancenungleichheit sowie den Konkurrenzkampf in der Non-Mainstream-Music ausmanövrieren, ein größeres und diverseres Publikum ansprechen, die Demokratie stärken sowie frische Musik und Kunst fördern. Das Ziel: Jährlich und institutionell 365 Tage innovative MUSIK, Gemeinwohl, Interdisziplinarität, Multiperspektivität, Intersektionalität, Antirassismus, Queerfeminismus, Diversität, Plurale Ökonomik, Aktivismus, Nachhaltigkeit, Kooperation, Bildung, Demokratie, Vorträge, Flashmobs, Workshops, Unterricht für Benachteiligte, Transparenz, Inklusion, Offenheit, Respekt, Potenzialentfaltung, Gemeinschaft → FUN!

Schlagzeuger Jim Black nennt das Konzept „ein Leuchtfeuer der Inspiration“. „They not only dream of what‘s possible, they actually turn these ideas and inspirations into tangible realities, that we can all take part in, … a completely immersive experience.“

–bios:–

Sanni Lötzsch ist Musikerin, Komponistin und Produzentin, Subkultur-Festival-Organisatorin und Queerfeministin. Sie ist musikalisch vor allem mit ihrem Solo-Projekt KID BE KID international unterwegs und auf renommierten Festivals wie dem Festival International de Jazz de Montréal (CAN), Elbjazz, Fusion Festival, X-Jazz  u.v.m. zu sehen gewesen. Ihr einzigartiges Skillset aus Beatboxing, Gesang, Klavier und Synthesizer trifft auf poetische Lyrics und rhythmische Virtuosität. Als Mitglied des Subwater-Beats-Kollektivs aus Berlin und Dresden hat sie zahlreiche Festivals und Konzerte mitorganisiert. Durch ihr künstlerisches Schaffen sowie in Workshops für Beatboxing, Arrangement, Komposition und Gesang empowered sie Menschen als wichtiges Vorbild auf dem Weg in eine Gesellschaft, die keine Rollenklischees mehr braucht. (springstoff.com)

Der Gitarrist Jo Wespel ist auch Komponist, Producer, Forscher, Tutor, Denker, (Festival-) Organisator, Postzeitgenosse, Subkulturschaffender, Xenofeminist,  Motivator, Antirassist, Reisender, leidenschaftlicher Lacher und privilegierter  Bewohner des Planeten Erde. Seine prozess- und nachhaltigkeitsorientierten Bands und Projekte sind: Zur Schönen Aussicht, Sinularia, Beatdenker, Recursive Rhythm Get-Together, Festival Boost Now! und das Subwater Beats Kollektiv. Egal was er macht, es geht immer um Austausch, Energie, Innovation, Synergie, Spekulation,  Multidimensionalität, Offenheit, Community, Pluralismus, Vorstellungskraft,  Rhythmus, Frische, Komplexität, Menschen und endless FUN! (subwaterbeats.de)

15:00:
Luise Volkmann
Ritualität im Jazz

Luise Volkmann & Ella O’Brien-Coker
Ritualität, unsere vielen Identitäten und das performative Sprechen

— abstract: —

Kommt! Singt, nein schreit unsere Hymne „Kill your darlings, live the kitsch, we dance down our creed. There’s to many walls ‚round here, dreams to come“. In der Arbeit mit ihrem Ensemble LEONEsauvage beschäftigt sich Luise Volkmann seit einigen Jahren damit einen musikalisch-rituellen Moment zu schaffen, der Musiker:innen und Publikum gemeinsam in Ekstase bringt: „vowing we bear creative notion“. In Bezugnahme auf verschiedene afrikanische Musikauffassungen und afroamerikanischen Free Jazz reflektiert sie in ihrer Arbeit ihr Selbstbild als deutsche Musikerin sowie neue und alte Formen von Musik, Konzert, Grenze und Ritual.

Anders als in Diskursen um kulturelle Aneignung, möchte Volkmann mit dem Konzept des Rituals die verbindenden Seins-Ebenen in den Vordergrund stellen: „let’s uphold the seldom glance of recognition“. Im Ritual vermutet Volkmann verbindende Elemente der Alltäglichkeit, der Gemeinschaft und der kraftvollen Praxis von Musik. In einer rituellen lecture performance sucht Volkmann nach Wegen des Mehr-Mensch-Sein.

Mit dem Mensch-Sein und mit unseren vielen Identitäten beschäftigt sich im Anschluss das inszenierte Gespräch von Ella O’Brien-Coker und Luise Volkmann. Sie arbeiten sich an verschiedenen Ängsten, Hemmungen und Rollen* ab, die Debatten um unterschiedliche Diskriminierungsformen immer wieder begleiten und verändern. (*LUISE: Auch unsere Diskurse sind ritualisiert).

Im Zwiegespräch wird das Spannungsfeld zwischen Identität, Positionierung und somit der Frage von (Un)Eindeutigkeit erschlossen. Was bedeutet eine tiefere Verhandlung der inneren Verhältnisse nach Außen? Und inwiefern kann dies zum aktuellen Diskurs beitragen?

In einem performativen Prozess dekonstruieren sie ihre Identitäten als weiße* und Schwarze Frauen* in einen Raum voller Gefühle, Sensibilität und Vertrauen (*ELLA: de-koloniale und queer-feministische Schreibpraxis, z.B. dass wir bei weiß und Schwarz nicht von visuellen Beschreibungen, sondern von der gesellschaftlichen Erfahrung sprechen).

#Ritual, Safer Space, Begegnung, Gemeinschaft, Gefühl, Liebe, Empowerment, Performativ, Intersektionalität, Identität

— bios: —

Luise Volkmann ist eine junge Composer-Performerin aus Bielefeld. Sie hat Saxophon, Komposition und Musikwissenschaft in Leipzig, Paris und Köln studiert. Ihr Reisen und Leben in Deutschland, Frankreich, Dänemark, Palästina und Brasilien hat sie für verschiedene künstlerische und sozio-kulturelle Projekte inspiriert. Sie interessieren die Arbeit im Kollektiv, politische, soziale und ästhetische Betrachtung von Musik und das Wissen aus unterschiedlichen Kunst-, Praxis- und Lebensbereichen. (luisevolkmann.jimdofree.com/)

Für Ella O’Brien-Coker sind die verschiedenen Rollen, die ihre Identität ausmachen immer eine Frage des Kontexts. Als Sängerin/Lyrikerin/Rapperin mit verschiedenen Bands und Projekten auf der Bühne und im Proberaum. Als Musikwissenschaftlerin und Autorin auf der Spur dessen, was zwischen den Zeilen steht. Als intersektionale Aktivistin einstehend für marginalisierte Positionen und engagiert in Community-Arbeit. Als Tochter und Schwester Teil eines komplexen Familienzusammenhangs, der die Grundlage für alle vorangegangenen Interessen darstellt. Und nicht zuletzt als Ella einfach all diese Dinge gleichzeitig und noch ein wenig mehr. (facebook.com/ellaobc/)

16:30:
Panel 3
Exportieren wir eigentlich nur Musik oder auch unsere Weltsicht?

  • Constanze Schliebs
  • Therese Hueber (Goethe-Institut)
  • Sylvia Freydank (IMD)
  • Moderation: Sophie Emilie Beha

— abstract: —

Im abschließenden Panel fragen wir danach, welchen Einfluss unsere Eigen- und Fremdsicht auf den Dialog mit “der Welt” hat. Wir haben dazu Constanze Schliebs eingeladen, die über viele Jahre Agenturerfahrung im In- und Ausland verfügt, außerdem als Kuratorin und Festivalgründerin in China aktiv war und ist, Sophie-Therese Hueber vom Musikbereich des Goethe-Instituts, sowie Sylvia Freydank vom Internationalen Musikinstitut Darmstadt (Ferienkurse für Neue Musik), Institutionen, bei denen ähnliche Diskussion ebenfalls seit längerem geführt werden (Moderation: Sophie Emilie Beha). Und wir fragen etwas provokant: “Exportieren wir eigentlich nur Musik oder auch unsere Weltsicht?”

— bios: —

Constanze Schliebs, Sinologin mit Schwerpunkt Peking Oper, seit 24 Jahren als Konzertagentin und Kuratorin selbständig. Neben Booking und  Tournee Organisation in Europa und Asien auch Künstlermanagement. Künstlerische Leitung Tränenpalast und blueNites Festival 1999-2001, Festivalgründerin Jazz Improvise Meeting China, Kuratorin Jazzoffensive Potsdam. (asianetwork.de)

Therese Hueber hat Musikwissenschaft, Musikpädagogik und Ethnologie studiert. Nach Tätigkeiten am Institut für Musikwissenschaft der LMU und in einer PR-Agentur in München betreut sie seit 2011 in der Zentrale des Goethe-Instituts die Förderprogramme im Bereich Musik. (goethe.de)

Sylvia Freydank, in Dresden geboren, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Sprachwissenschaft in Dresden, Genf und Berlin. Nach verschiedenen Stationen bei Festivals, beim Musikverlag Schott und als freie Autorin ist sie seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team des Internationalen Musikinstituts Darmstadt (IMD) mit Schwerpunkt Projektentwicklung, künstlerische Planung und Kommunikation, u. a. für die Darmstädter Ferienkurse. (https://internationales-musikinstitut.de/de/imd/ueber/team/sylvia-freydank/)

Sophie Emilie Beha ist Musikjournalistin. Sie moderiert Radiosendungen, Konzerteinführungen, Podiumsdiskussionen und Livestreams. Daneben schreibt sie Texte für verschiedene Fachmagazine und Zeitungen und managt Social-Media-Kanäle. (https://twitter.com/sophiemiliebeha?lang=de)


Das 17. Darmstädter Jazzforum wird gefördert von 

Roots | Heimat: Wie offen ist der Jazz? (blog)

[:de]

Gedanken zum Thema des 17. Darmstädter Jazzforums

12. August 2020:

Als ob er unseren Call for Papers gelesen hätte, hat Ethan Iverson den jüngsten Eintrag seines Blogs eurozentrischen Perspektiven auf die Musik gewidmet und dabei auf Aussagen aus früheren seiner Posts verlinkt, die für das Thema von Belang sind (Do the Math). Iverson gibt damit einen Aspekt vor, der uns während der Konferenz im Herbst 2021 interessieren könnte. Norman Lebrecht beleuchtet einen anderen Aspekt, wenn er die aktuelle Debatte um den Musiktheoretiker Heinrich Schenker und die „historischen Wurzeln der white supremacy“ darstellt (Slipped Disc). Jacqueline Warwick diskutiert, wie die Musikpädagogik in den USA durch den Fokus auf westeuropäische Kunstmusik dominiert ist, fasst die Schenker-Debatte zusammen, und fordert Musikprogramme, die aktiven Musiker:innen, die eine höhere Ausbildung anstreben, tatsächlich etwas bringen (The Conversation). Schließlich lesen wir Howard Reichs Hommage an Charlie Parkers bevorstehende Hundertjahrfeier, in der der Autor eine Reihe von Klischees verwendet, indem er zunächst Birds Einfluss mit dem Mozarts, Chopins und Gershwins vergleicht und ihn (sowie die anderen genannten) dann auch noch als „Revolutionär“ feiert (Chicago Tribune).

Man mag sich fragen, ob solche Klischees, die durch eine Genieästhetik geprägt sind, deren Wurzeln im Europa des 19. Jahrhunderts liegen, der Musik gerecht werden. Dies jedenfalls könnte ebenfalls eines der Themen sein, die wir nächstes Jahr beim Darmstädter Jazzforum diskutieren möchten, und in den nächsten JazzNews werden wir weitere Beispiele dafür vorstellen, wie und wo eurozentrische Perspektiven unsere Sicht auf den Jazz prägen. Wir wollen dabei die Geschichte nicht verteufeln, sondern sind an einer bewussten Auseinandersetzung mit den Folgen eurozentristischer Sichtweisen interessiert. Wir wollen also diskutieren, wie Machtstrukturen, sowohl innerhalb der Musikindustrie als auch im ästhetischen Diskurs, eine bestimmte Weltsicht begünstigt haben, und wie Künstler:innen, Wissenschaftler:innen, Kritiker:innen und Fans unterschiedlich mit dieser Tatsache umgehen. Wir hoffen also auf vielfältige Vorschläge, Ansätze und Perspektiven auf unseren Call for Papers, dessen Deadline der 30. November 2020 ist.


26. August 2020:

„Eurozentrismus im Jazz“? … einige weitere Gedanken

Das Thema unseres nächsten Darmstädter Jazzforums im Herbst 2021 beschäftigt uns zurzeit täglich, während zeitgleich bereits die ersten Vorschläge für Vorträge, Panels und künstlerische Interventionen eintreffen. So diskutieren wir in Bezug auf das Thema „Eurozentrismus und Jazz“ beispielsweise darüber, was es bedeutet, dass das Goethe-Institut den Jazz seit den frühen 1960er Jahren als ein Beispiel für den aktuellen Diskurs im deutschen Musikleben nutzt, und wie dieses offizielle Gütesiegel das Selbstverständnis vieler Musiker:innen, die im Laufe der Jahre an Goethe-Tourneen teilgenommen haben, verändert hat. Wir sprechen schon mal vom Jazz als dem größten Geschenk (Afro-)Amerikas an die Welt, gerade weil er so inklusiv ist und Musiker:innen aus der ganzen Welt dazu auffordert, ihre persönlichen Einflüsse mit einzubringen. Was aber, wenn das Annehmen dieser Einladung dazu führt, dass die afroamerikanischen Ursprünge der Musik fast vergessen scheinen? Brauchen wir also eine ständige Erinnerung an die Wurzeln des Jazz? Reicht es nicht, dass der Jazz als musikalische Sprache bis heute so viele junge Musiker:innen in ihrer Kreativität inspiriert? Gibt es einen Widersprich zwischen dem notwendigen Respekt und der Freiheit der Künste, also auch der, sich von Traditionen loszusagen? Oder, um auf das Goethe-Beispiel zurückzukommen: Wenn es eine Form des Jazz gibt, die als deutsche Kunstform wahrgenommen wird, wo und wie zeigen wir dann unser Bewusstsein für den afroamerikanischen Ursprung dieser Kunstform? Sind wir uns des Aneignungsprozesses überhaupt bewusst, der mit der globalen Ausbreitung des Jazz einhergeht?

Beim Jazzforum im Herbst 2021 laden wir also zu Vorträgen ein, die sich mit der Frage befassen, wie der Jazz seinen heutigen Stellenwert erlangt hat, hoffen daneben aber auch auf Podiumsdiskussionen und auf musikalische Interventionen, die die Sicht der Künstler auf das Thema eröffnen. Lassen Sie uns wissen, was Ihnen dazu einfällt. Wir freuen uns auch über ungewöhnliche Ideen, auch über solche, die über den reinen Jazzbezug hinausgehen. Die Deadline für alle Vorschläge ist der 30. November 2020.


9. September 2020:

„Eurozentrismus im Jazz?“(!)

Es ist ja ein wenig, wie wenn man sich ein neues Auto kauft und plötzlich überall genau dasselbe Modell oder dieselbe Farbe sieht, auch wenn man diese zuvor nie bemerkt hatte. Seit wir das Thema des nächsten Darmstädter Jazzforums bekannt gemacht haben, nämlich „Eurozentrismus im Jazz“, wird uns fast täglich bewusst, wie viele verschiedene Perspektiven dieses beinhaltet. Die jüngste Erinnerung ist eine Ausstellung im Frankfurter Museum für Angewandte Kunst mit dem Titel „Deutsches Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music“. Kurt Cordsen spricht mit Anta Helena Recke, einer der Kurator:innen, über die Idee hinter der Ausstellung, in der Stereotype hinterfragt werden, mit denen schwarze Menschen in der deutschen Unterhaltungsindustrie oft identifiziert wurden, sowie das Narrativ, das sich daraus bildete (BR, DMfSUuBM).

Kurz darauf lasen wir Giovanni Russonellos Artikel in der New York Times über Jazz als Protestmusik, ein Beispiel dafür, wie politisch der Jazz (die Musik? die Künste?) im gegenwärtigen politischen Klima in den Vereinigten Staaten wieder geworden sein mögen. Michael Rüsenberg unterstreicht allerdings, dass man auch ganz anders sehen kann, wofür der Jazz steht. Wir haben diese Diskussion in unserem Eintrag über „Protest Music“ zusammengefasst (siehe oben, 6. September).

Wie das (kurzlebige, jedenfalls bisher) Deutsche Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music zeigt auch der Fokus auf den Jazz als politisches Werkzeug Aspekte in der Geschichte dieser Musik auf, die sowohl in ihrem Ursprung als afroamerikanische Kunstform wie auch in einem durch eine europäische Sichtweise geprägten Verständnis von Kunst verankert sind, dass nämlich in der Regel hinter jeder Art von Kunst ein Verweis auf Außermusikalisches, Außerliterarisches, Außerkünstlerisches stecke, sie weiterführende Zwecke, Motive oder Ziele verfolge. Die Unterschiede solcher Lesarten sind groß und sie sind nicht nur kulturell bedingt. „Community Building“ beispielsweise hat eine ganz andere Bedeutung in einem Land, dessen Sozialsystem vom Markt und von Eigenverantwortung geprägt ist als in einem Wohlfahrtsstaat. Kunst bildet dann doch irgendwie immer auch die Wirklichkeit ab, lassen Sie uns also analysieren und nicht urteilen (!), welchen Einfluss die verschiedenen eurozentrischen Perspektiven auf die Rezeption und Entwicklung des Jazz hatten, sowohl was sein Verständnis als afroamerikanische Musik wie auch als kreative Weltmusik anbelangt.

Wenn Sie die kurzen Einführungen gelesen haben, die wir bereits darüber gegeben haben, worum es 17. Darmstädter Jazzforum im Herbst 2021 gehen könnte, dann wissen Sie bereits über die Vielfalt der möglichen Themen. Jetzt sind aber auch Sie gefragt:

— Call for Papers —

Wir laden Sie ein uns Vorschläge für Referate, Panels oder künstlerische Interventionen über eines dieser Teilgebiete (oder ein ganz anderes) zuzusenden, das Ihrer/Eurer Perspektive angemessen ist. Und wir würden uns freuen, wenn Sie unseren Call for Papers mit anderen potentiell Interessierten teilen, mit Kolleg:innen, Künstler:innen, Journalist:innen, Aktivist:innen. Wir sind sind (innerhalb gewisser Grenzen) dazu in der Lage Reisespesen zu ersetzen. Die aktuelle Deadline für Vorschläge ist der 30. November 2020.


23. September 2020

„Aus der Neuen Welt“?

Haben Sie jemals von George Bridgetower gehört? Wahrscheinlich eher nicht. Nun, er war der Geigenvirtuose, dem Ludwig van Beethoven ursprünglich seiner später als Kreutzer Sonate bekannt gewordene Komposition gewidmet hat. Patricia Morrisroe erzählt die Geschichte des in Polen geborenen Musikers, Sohn eines Vater afrikanischer Herkunft und einer deutsch-polnischen Mutter, der mit seinen Eltern eine Weile in Mainz lebte und dann, unter dem Management seines Vaters und oft genug als „junger Neger aus den Kolonien“ vermarktet, 1789 ein Violinkonzert in Paris gab. 1803 traf er Beethoven in Wien, der ihm seine „Mulatten-Sonate komponiert für den Mulatten Bridgetower, den großen Verrückten und Mulatten-Komponisten“ widmete, eine Widmung, die er aber wieder zurücknahm, nachdem Bridgetower abfällige Bemerkungen über eine von Beethoven bewunderte Frau gemacht hatte. Kurz darauf widmete der Komponist das Stück dem französischen Geiger Rudolphe Kreutzer, der es allerdings nie spielte. Sie können die faszinierende Geschichte aus Morrisroes Feder hier weiterlesen (New York Times).

Was aber hat all das mit Jazz zu tun? Nun, es ist ein frühes Beispiel für eine Perspektive des Eurozentrismus, mit dem wir uns während des 17. Darmstädter Jazzforums im Oktober 2021 befassen wollen. Wenn Eurozentrismus oft und auch oft zu recht als eine hegemoniale und dabei auch rassistische Weltsicht gelesen wird, kann man diesen auch als eine Sicht verstehen, die die Welt einfach nur aus dem recht kleinen Blickfeld der eigenen Erfahrung erklärt. Beethovens Entscheidung, die Sonate umzuwidmen, hatte wahrscheinlich nichts mit irgendeiner Art eurozentrischem oder gar rassistischem Denken zu tun. Aber die Tatsache, dass George Bridgetower fast vollständig vergessen ist, obwohl er damals Bewunderer in den höchsten Kreisen der europäischen Kulturszene besaß, hat etwas damit zu tun, dass Geschichtsschreibung oft nur die Geschichte der männlichen Helden erzählt, nicht die seiner weiblichen, schwarzen, schwulen, lesbischen oder sonstwie „anderen“ Kolleg:innen.

Oh, und wo wir gerade über klassische Musik sprechen: Zachary Woolfe und Joshua Barone befragten Dirigent:innen, Musiker:innen und Musikmanager:innen über Vor- und Nachteile von Blind Auditions und sprechen mit ihnen darüber, wie schwer es ist, in amerikanischen Orchestern Diversität zu garantieren (New York Times). Das alles ist zugleich eine Diskussion über kulturellen Zugang, über außermusikalische Bedeutung von Musik, über die Notwendigkeit von Quotenregelungen, aber auch über die Diversifizierung des Repertoires. Wie wäre es zudem mit einer Diversifizierung der künstlerischen Ansätze, könnte man ergänzen. Der Klang, die hierarchische Struktur, das ganze Konzept des klassischen Orchesters ist ja ein zutiefst in europäischen Traditionen verwurzeltes Konzept. Mittlerweile gibt es Ensembles, die versuchen, diese Strukturen zu ändern, Streichquartette, die ohne Noten vor sich spielen, Bläserensembles, deren Mitglieder alle stehen statt zu sitzen, Ensembles, die die Verantwortung des Dirigenten, der Dirigentin mal einer/m tatsächlichen überlassen (der/die vor dem Orchester steht), mal aber auch anderen Ensemblemitgliedern, und vieles mehr. Wir sprechen übrigens nach wie vor über klassische Musik. Wir sprechen allerdings auch über Performance-Praktiken, die weit stärker mit Jazz und improvisierter Musik assoziiert sind. Performance-Ansätze zu verändern könnte ein Weg sein, sich aus den Zwängen der eurozentrischen Konventionen zu befreien. Ob das Ergebnis dann große Musik ist… hängt von den Musiker:innen ab. Warum aber sollte man nicht ab und zu selbst die großartigsten Traditionen herausfordern, insbesondere wenn es um dem Weg in eine diversere Zukunft geht?

— Call for Papers —
Wir laden Sie ein uns Vorschläge für Referate, Panels oder künstlerische Interventionen über eines dieser Teilgebiete (oder ein ganz anderes) zuzusenden, das Ihrer/Eurer Perspektive angemessen ist. Und wir würden uns freuen, wenn Sie unseren Call for Papers mit anderen potentiell Interessierten teilen, mit Kolleg:innen, Künstler:innen, Journalist:innen, Aktivist:innen. Wir sind sind (innerhalb gewisser Grenzen) dazu in der Lage Reisespesen zu ersetzen. Die aktuelle Deadline für Vorschläge ist der 30. November 2020.

7. Oktober 2020
„Eurozentrismus“: ein problematischer Begriff…
Wenn der Jazz ein Geschenk Afro-Amerikas an die Welt war, wie oft zu lesen ist, und wenn die Musik jeden, der sie spielt, dazu auffordert “sich selbst zu spielen”, also den eigenen kulturellen Background mit ins Idiom einfließen zu lassen, wie beeinflusst ein solcher Mix an Information, Haltungen und Ansätzen wohl den Diskurs über die Musik? Wenn der Jazz immer noch als Identifikationsmittel innerhalb der afro-amerikanischen Community gilt, wie gehen wir dann mit der Tatsache um, dass er mittlerweile Teil der globalen Musikindustrie geworden ist, die weniger von Community- als von kommerziellen Interessen gelenkt ist, oder mit der Tatsache, dass der Jazz von vielen nationalen oder regionalen Szenen überall auf der Welt als ein probates Idiom angenommen wurde, in dem lokale Künstler:innen ihre Emotionen ausdrücken können? “Eurozentrismus” ist ein problematischer Begriff, der oft kultureller Dominanz und dem kolonialen Erbe Europas assoziiert wird. Ist es möglich, über dieses Thema neutraler zu sprechen, als eine Art Darstellung geschichtlicher Entwicklungen, eines künstlerischen Diskurses, an dem der Jazz seit dem frühen 20sten Jahrhundert beteiligt war, nicht also in moralischen, sondern vor allem in beschreibenden Termini?
— Call for Papers —

Dies sind einige der Fragen, die wir beim 17. Darmstädter Jazzforum ansprechen wolle, das wir vom 30. September bis 2. Oktober 2021 planen. Wir laden Sie ein uns Vorschläge für Referate, Panels oder künstlerische Interventionen über eines dieser Teilgebiete (oder ein ganz anderes) zuzusenden, das Ihrer/Eurer Perspektive angemessen ist. Und wir würden uns freuen, wenn Sie unseren Call for Papers mit anderen potentiell Interessierten teilen, mit Kolleg:innen, Künstler:innen, Journalist:innen, Aktivist:innen. Wir sind (innerhalb gewisser Grenzen) dazu in der Lage Reisespesen zu ersetzen. Die aktuelle Deadline für Vorschläge ist der 30. November 2020.


21. Oktober 2020:

Musikalische Gentrifizierung?

Kai Bartol schreibt über „musikalische Gentrifizierung“ im The Michigan Daily, fragt etwa, wieso der Jazz in den USA gerade bei einem weißen Publikum so populär wurde, obwohl zur gleichen Zeit der Gruppe, aus der die musikalischen Erfinder dieser Musik stammten, kein angemessener Platz in der Gesellschaft zugestanden wurde. Er spricht mit dem Kulturhistoriker Ed Sarath über Unterschiede in der Rezeption schwarzer Musik, die darauf basieren, ob man selbst Teil der afro-amerikanischen Community ist oder nicht. „Der eurozentrische Rahmen „, erklärt Sarath, „in dem Musik an den Schulen gelehrt wird, wäscht schwarze Musik geradezu weiß und trennt sie von ihren schwarzen Wurzeln.“

Noch ein Denkanstop also und ein weiteres Thema, um das es beim 17. Darmstädter Jazzforum gehen könnte, das wir vom 30. September bis 2. Oktober 2021 planen. (Andere Aspekte und andere Perspektiven wurden bereits in den letzten Newslettern genannt; Sie können diese alle aber auch auf der Seite zum Jazzforum nachlesen, die unten verlinkt ist.) Wir laden Sie ein uns Vorschläge für Referate, Panels oder künstlerische Interventionen über eines dieser Teilgebiete (oder ein ganz anderes) zuzusenden, das Ihrer/Eurer Perspektive angemessen ist. Und wir würden uns freuen, wenn Sie unseren Call for Papers mit anderen potentiell Interessierten teilen, mit Kolleg:innen, Künstler:innen, Journalist:innen, Aktivist:innen. Wir sind (innerhalb gewisser Grenzen) dazu in der Lage Reisespesen zu ersetzen. Die aktuelle Deadline für Vorschläge ist der 30. November 2020.


4. November 2020:

„Decolonization“

Wegen Covid-19 wurden im vergangenen Sommer die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik abgesagt (bzw. ins nächste Jahr verschoben), aber die Kolleg:innen unseres Schwesterinstituts sind beispielsweise mit einer Podcast-Reihe präsent, in der Künstler:innen über eine Vielzahl unterschiedlicher aktueller Themen sprechen. Der jüngste dieser Podcasts ist ein Gespräch der in China geborenen Komponistin, Multiinstrumentalistin, Sängerin und Performerin Du Yun mit dem Komponisten Raven Chacon über ihre gemeinsame Opernproduktion „Sweet Land“, aber auch über aktuelle Diskussionen zur „Entkolonialisierung“ zeitgenössischer Musik, ein Thema, das Chacon in Konferenzen und Konzertreihen etwas überbemüht sieht, das, wie er erklärt, weit komplexer sei als es oft dargestellt wird. Sein Argument ist, dass „indigene Künstler:innen oder Minderheiten-Künstler:innen nicht als Lehrbuch für andere über ihr eigenes Volk verstanden werden möchten. Was uns viel mehr interessiert, oder was viel interessanter sein könnte, ist, wenn man gefragt wird: Naja, was denkst du denn über Zeit, was denkst du über die Räumlichkeit von Sound, oder was denkst du über hörbare Klänge, oder, was denkst du über … was auch immer: Frequenz, Licht, das Universum “ [ab 49:08], worauf Du Yun erwidert, dass so viele dieser Aspekte immer noch aus einer vor allem eurozentrischen Sichtweise interpretiert werden, sie, Chacon und andere, die aus nicht-europäischen Traditionen kommen, aber einen ganz anderen Blick haben könnten (Ferienkurse Darmstadt). Alles in allem also ein Ruf nach Respekt für andere Weltsichten, Respekt, der sich in den Worten wiederfinden sollte, die wir benutzen, oder zumindest in einem Bewusstsein dafür, wie wir Worte benutzen und wie sie verstanden werden oder verstanden werden können.

Noch ein Denkanstoß also und ein weiteres Thema, um das es beim 17. Darmstädter Jazzforum gehen könnte, das wir vom 30. September bis 2. Oktober 2021 planen. (Andere Aspekte und andere Perspektiven wurden bereits in den letzten Newslettern genannt; Sie können diese alle aber auch auf der Seite zum Jazzforum nachlesen, die unten verlinkt ist.) Wir laden Sie ein uns Vorschläge für Referate, Panels oder künstlerische Interventionen über eines dieser Teilgebiete (oder ein ganz anderes) zuzusenden, das Ihrer/Eurer Perspektive angemessen ist. Und wir würden uns freuen, wenn Sie unseren Call for Papers mit anderen potentiell Interessierten teilen, mit Kolleg:innen, Künstler:innen, Journalist:innen, Aktivist:innen. Wir sind (innerhalb gewisser Grenzen) dazu in der Lage Reisespesen zu ersetzen. Die aktuelle Deadline für Vorschläge ist der 30. November 2020.


18. November 2020:

„Afro Modernism in Contemporary Music“

Das in Frankfurt beheimatete Ensemble Modern hat ein Symposium über „Afro-Modernism in Contemporary Music“ organisiert. Dabei ging es vor allem um das Gebiet der sogenannten Neuen Musik, aber da diese sich zurzeit genauso neu erfindet wie andere Genres (einschließlich der Jazz), kamen eine Reihe an Dingen zur Sprache, die auch für das nächste Darmstädter Jazzforum interessant sein könnten, das wir für den Oktober 2021 planen.

Die Teilnehmer, unter ihnen der Initiator des Symposiums George E. Lewis im Gespräch mit Harald Kisiedu, sprachen etwa darüber, dass, nur weil bestimmte Beispiele der aktuellen Musik nicht gehört, nicht programmiert und kuratiert werden, das nicht bedeute, dass es sie nicht gäbe. Auch das Labeln von Musik wurde thematisiert, das in der Regel ausgrenzt, oder wie eine Teilnehmerin im Live-Chat schrieb: „Die Obsession Dinge definieren zu wollen, hat immer mit dem Versuch der Kontrolle und Ausgrenzung zu tun.“ Und doch spricht George Lewis selbst, wie er erklärt, nach wie vor von „contemporary classical music“, akzeptiert aber nicht, wenn solch ein Begriff einzig für eine pan-europäische Idee von Musik verwandt wird. Klar gäbe es in der Vergangenheit problematische Programmierungen; man solle die Diskussion über sie aber als Chance sehen, andere Musik, andere Komponist:innen, andere Perspektiven kennenzulernen. Das Frankfurter Symposium ist auch im Nachhinein online zu sehen (Ensemble Modern).

Bereits zuvor hatte George E. Lewis im Sommer an einem Panel teilgenommen, bei dem es um „Decolonizing the Curating Discourse in Europe“ ging, und in seinem Eröffnungsstatement fasst er mögliche Schritte zusammen, das Konzert- und Festivalrepertoire zu öffnen, und betont dafür eine geistige Haltung der „creolozation“, die es „der zeitgenössischen Musik erlaubt, über ihr eurozentrisches Konzept musikalischer Identität hinauszugehen und dabei eine wirkliche Weltmusik zu werden. Und mit eurozentrisch meine ich nicht ‚eurologisch‘ [Teil eines von Lewis selbst geprägten Begriffspaars ‚eurologisch‘ / ‚afrologisch‘] (…) Die Idee des Eurologischen könnte tatsächlich Teil des Versuchs einer Dekolonialisierung werden; Eurozentrismus dagegen niemals. Der ist einfach zu simplizistisch, zu hegemonial, zu geschlossen, zu sehr ethnisch essentialistisch “ (21:05-20:40). (Academy of Arts, das gesamte Statement dauert von 5:30 bis 23:30).

Einige solcher Aspekte mögen auch beim 17. Darmstädter Jazzforum diskutiert werden, das wir vom 30. September bis 2. Oktober 2021 planen. (Andere Aspekte und andere Perspektiven wurden bereits in den letzten Newslettern genannt; Sie können diese alle aber auch auf der Seite zum Jazzforum nachlesen, die unten verlinkt ist.) Wir laden Sie ein uns Vorschläge für Referate, Panels oder künstlerische Interventionen über eines dieser Teilgebiete (oder ein ganz anderes) zuzusenden, das Ihrer/Eurer Perspektive angemessen ist. Und wir würden uns freuen, wenn Sie unseren Call for Papers mit anderen potentiell Interessierten teilen, mit Kolleg:innen, Künstler:innen, Journalist:innen, Aktivist:innen. Wir sind (innerhalb gewisser Grenzen) dazu in der Lage Reisespesen zu ersetzen. Die aktuelle Deadline für Vorschläge ist der 30. November 2020; eine Verlängerung des Calls for Papers bis Ende des Jahres ist wahrscheinlich; mehr dazu im nächsten Newsletter.


2. Dezember 2020:
Und wie ist es mit der kulturellen Aneignung?

Einen kürzlich erschienenen Artikel überschreibt der Journalist Georg Spindler: „Musik gehört keinem, sie ist frei “ (Mannheimer Morgen). Kulturelle Aneignung, findet er, ließe sich auch als kreativer Fortschritt verstehen, wofür er Beispiele aus klassischer Musik und Jazz anführt. Dann fokussiert er auf eine Debatte insbesondere in den USA, „die Weißen hätten von der schwarzen Community alles übernommen und kommerzialisiert – außer der Last“, „everything but the burden“ also (einen Buchtitel des Autors Greg Tate zitierend). Musik anderer Kulturen als Ausgangspunkt des kreativen Prozesses zu nutzen sei allerdings keineswegs Plagiat, sondern gängige Kulturpraxis. Ein Aspekt, den Spindler in seinem Artikel außen vor lässt, ist, dass jedwedes Material, das man sich für seine kreative Arbeit aus anderen Kulturen „borgt“, mit Respekt vor seinem Ursprung behandelt werden sollte, sowie die Tatsache, dass, wann immer wir Material anderer Kulturen für unseren künstlerischen Diskurs nutzen, dieses automatisch mit unserer ästhetischen Haltung verknüpft wird, was wiederum die Gefahr in sich birgt, dass wir, je vertrauter uns dieses Material wird, unsere eigenen ästhetischen Werte zurück auf die Quellen des Materials und seine ursprüngliche kulturelle Umgebung übertragen.

[:en]

Some further thoughts on the topic of the 17th Darmstadt Jazzforum

12 August 2020:

As if he read our call for papers, Ethan Iverson has devoted one of his latest blog entries to a discussion of Eurocentric perspectives in music and has linked to some of his own earlier posts relevant to the subject (Do the Math). Iverson gives one aspect of what we are interested in to discuss at our conference in the fall of 2021. Norman Lebrecht highlights another aspect, explaining details of a current debate regarding the music theorist Heinrich Schenker and music theory „historically rooted in white supremacy“ (Slipped Disc). Jacqueline Warwick discusses how music education in the USA is dominated by a focus on Western European art music, summarizes the Schenker discussion, and asks for music programs that are relevant to actual musicians wanting a higher education (The Conversation). Finally, we read Howard Reich’s tribute to Charlie Parker’s upcoming centennial in which the author uses a number of cliches, first comparing Bird’s impact on music to Mozart, Chopin and Gershwin, then referring to him (and the others named) as „revolutionaries“ (Chicago Tribune).

At our conference, we might ask whether such cliches informed by a „genius“ aesthetic the roots of which can be found in 19th century Europe do the music any justice. These, though, are just some of the topics we might talk about at the Darmstadt Jazzforum next year, and in the next editions of JazzNews we will provide further examples of where Eurocentric perspectives shape our view of jazz. In all of this, we are interested in a leveled discussion about the subject, not in a demonization of the European perspective. We are looking to discuss the reality, then, in which power structures, both within the industry and the aesthetic discourse, have favored a specific worldview, and how artists, scholars, critics and fans have developed different levels of awareness for this reality. We have issued a Call for Papers (deadline: 31 December 2020) and are looking forward to diverse approaches, perspectives and proposals.


26 August 2020:

„Eurocentrism in Jazz“? … some more thoughts

At the Jazzinstitut, we continue to discuss the topic of our next Darmstadt Jazzforum conference, while the first proposals for papers, panels and artistic interventions are already arriving. One of the subjects about „Eurocentism“ we discuss, for instance, is how the Goethe-Institut has been using jazz as an example of German musical discourse since the early 1960s, and how that official seal of approval has changed the self-image of many musicians who partook in Goethe tours over the years. We like to speak of jazz as (Afro-)America’s biggest gift to the world, precisely because it is so inclusive, asking musicians from everywhere to add their own personal influences to the mix. Yet, what if the acception of this invitation is overdone to the extent that the African American origins of the music are being neglected? Do we, then, need a constant reminder of the roots of jazz? Isn’t it enough that jazz as a musical language to this day inspires so many young musicians in their creativity? Might this be a question of respect vs freedom of the arts, freedom from the need to refer to traditions, that is. Or, to get back to the Goethe example: If there is a form of jazz that is being sold as a German art form, do we meet our responsibility of respecting the musical idiom as an originally African American art form? Are we at all aware of the appropriation process that happened during the global spread of jazz?

While we invite historical papers for our Jazzforum conference that look at how jazz has earned the status it holds today, we also hope for panel discussions and musical interventions offering artists‘ perspectives on the subject. Let us know what you think. We are happy for any suggestions! The deadline for all proposals is: 30 November 2020.


9 September 2020

„Eurocentrism in Jazz?“(!)

It’s a bit like when you buy a new car and suddenly see the same model or color everywhere even though you never noticed it before. Since we started announcing the subject of next year’s Darmstadt Jazzforum conference, „Eurocentrism in Jazz“, we realize the many different perspectives this topic involves. One recent reminder was an exhibition shown at Frankfurt’s Museum for Applied Arts, called „German Museum for Black Entertainment and Black Music“. Kurt Cordsen talks to Anta Helena Recke, one of the curators, about the idea behind the exhibition which focuses on stereotypes about black people in the German entertainment industry and the narrative they informed (BR, DMfSUuBM).

Giovanni Russonello’s New York Times essay about jazz as protest music, on the other hand, is an example of how political jazz (music? the arts?) may have become once more in the current political climate in the United States. However, after reading Russonello’s piece, Michael Rüsenberg points out that there are other perspectives on what jazz stands for. We summarized all of this in our entry on „protest music“ above (6 September).

Like the (short-lived, so far) German Museum for Black Entertainment and Black Music, the focus on jazz as a political tool has implications that are both based in the music’s history as an African American art form and a European understanding of art pointing to something beyond what can be seen, heard, read, an ulterior purpose, motive, or goal. The differences are deep, and they are far from just being cultural. „Community building“, for instance, has far more importance in a country that depends on market and self-responsibility when it comes to the wellbeing of its citizens than is the case in a social welfare system. Art reflects reality: thus, let us analyze, not judge (!) what influence the manifold Eurocentric perspectives have had on the reception and the development of jazz both in its understanding as an African-American and a creative world music.

If you’ve followed our short introductions to what the Darmstadt Jazzforum might be about, you already recognize the diversity of possible topics. But it’s up to you, as well:

— Call for papers —

We invite you to send us proposals for papers, panels, artistic interventions that look at any of these (or other) topics from your perspective. We also ask you to share our Call for Papers with others interested, colleagues, artists, journalists, activists. We will (within limits) be able to help with travel expenses. The deadline for all proposals is: 30 November 2020.


23 September 2020

„From the New World“?

Ever heard of George Bridgetower? Chances are you haven’t. Well, he was a virtuoso violinist whom Ludwig van Beethoven originally dedicated one of his most famous pieces to which later became known as the Kreutzer Sonate. Patricia Morrisroe tells the story of Bridgetower, born in Poland to a father of African descent and a German-Polish mother, who lived in Mainz with his parents for a while, and soon, managed by his father and billed as a „young Negro of the Colonies“ performed a violin concerto in Paris in 1789. In 1803 he met Beethoven in Vienna who then dedicated his „Mulatto sonata composed for the mulatto Bridgetower, great lunatic and mulatto composer“, a decication he took back after Bridgetower purportedly made a rude commend about a woman the composer admired. Beethoven later dedicated the piece to the French violinist Rudolphe Kreutzer who, though, never played it. You can read Morrisroe’s fascinating story here (New York Times).

So what does this have to do with jazz? Well, it is an early example of a different kind of Eurocentrism which we will be discussing at the 17th Darmstadt Jazzforum conference in October 2021. While Eurocentrism can easily be seen as a term describing a racist worldview, one might more easily understand it as a worldview of „I explain the world by what I see and know“. Beethoven’s decision to change the dedication of his sonata probably had nothing to do with Eurocentrism or racism. But the fact that George Bridgetower was completely forgotten, even though he had admirers in the highest circles of the classical world,has to do with a view on history that tends to write the story of the male hero, bot not his female, Black, gay, lesbian or in whatever other way „different“ colleague.

Oh, and while we’re at classical music, Zachary Woolfe and Joshua Barone asked conductors, musicians and arts managers about the problems of blind auditions and talk about how difficult it is to guarantee diversity in American orchestras (New York Times). It’s a discussion also about cultural access, about extramusical meanings of music, about the need to claim quotas, but also for a diversification of the repertoire. How about a diversification of approaches, though, one might ask. The sound, the hierarchic structure, the whole concept of the classical orchestra is one deeply connected to a European concept. There are ensembles meanwhile that have tried to change those structures, string quartets playing without music in front of them, wind ensembles performing standing instead of sitting, ensembles which shift the responsibility for a conductor from a real one (in front of the orchestra) to ensemble members and much more. We are, remember, still talking about classical music. We are, though, also talking about performance practices much more connected to jazz and improvised music. Changing performance approaches might support efforts to get away from those Eurocentric conventions. Whether the result is great music… depends on the musicians. However, why not challenge traditions for a more diverse future?

— Call for papers —
We invite you to send us proposals for papers, panels, artistic interventions that look at any of these (or other) topics from your perspective. We also ask you to share our Call for Papers with others interested, colleagues, artists, journalists, activists. We will (within limits) be able to help with travel expenses. The deadline for all proposals is: 30 November 2020.

7 October 2020

„Eurocentrism“: a problematic term…

If jazz was a gift to the world, as is often said, and if the music literally demands of anybody playing it to “play themselves”, i.e. to add their own cultural influences to the idiom, how does such a mix of information, attitudes and approaches influence the discourse about the music? If jazz still functions as a tool for identification within the African American (arts) community, how do we deal with the fact that the music has become part of a global music industry, less controlled by community than commercial ideals, or with the fact that jazz has been adopted by many national or regional scenes around the world as a valid idiom for the local artists’ expressive needs? “Eurocentrism” is a loaded term, often linked to cultural dominance and a colonialist past. Is it possible to talk about it more neutrally, as an account of reality, of an artistic discourse that jazz has been part of since the early 20th century, not as a moral but a descriptive instance?

— Call for papers —

Those are questions we will ask at the 17th Darmstadt Jazzforum conference, to be held 30 September – 2 October 2021. We invite you to send us proposals for papers, panels, artistic interventions that look at any of these (or other) topics from your perspective. We also ask you to share our Call for Papers with others interested, colleagues, artists, journalists, activists. We will (within limits) be able to help with travel expenses. The deadline for all proposals is: 30 November 2020


21 October 2020:

Musical Gentrification

Kai Bartol writes about „musical gentrification“ in The Michigan Daily, asking how jazz became popular with a white audience in the US while at the same time the musical innovators were never granted a proper place in their society. He talks to cultural historian Ed Sarath about differences in the reception of Black music depending on whether one is part of the African American community or not. „The Eurocentric framework“, says Sarath, „that governs how music is taught in schools works to whitewash Black music and separates it from its Black roots.“

Food for thought, and another aspect of the topic of the 17th Darmstadt Jazzforum conference, to be held 30 September – 2 October 2021. (More aspects from quite different perspectives were mentioned in our last newsletters, and you can find them all on the Jazzforum’s webpage linked to below.) We invite you to send us proposals for papers, panels, artistic interventions that look at any of these (or other) topics from your perspective. We also ask you to share our Call for Papers with others interested, colleagues, artists, journalists, activists. We will (within limits) be able to help with travel expenses. The deadline for all proposals is: 30 November 2020.


4 November 2020:

„Decolonization“

Due to Covid-19 the 2020 Summer Courses for Contemporary Music (Ferienkurse für Neue Musik) in Darmstadt had to be canceled (postponed until next year), but our colleagues have started a podcast series of dialogues between artists about a variety of subjects. The latest of them has the Chinese-born composer, multi-instrumentalist, vocalist and performer Du Yun converse with the composer Raven Chacon about their joined opera production „Sweet Land“, but also about current discussions on „decolonizing“ contemporary music a term Chacon calls „overused“ in conferences or concert series because the topic is much more complex. He argues that „an indigenous artist or a minoritized artist does not want to be the text book to a group of people about their own history. What would be interesting or what could be appealing is, if one gets asked: Well, tell us your thoughts on time, tell us your thoughts on spacialization of  sound, or tell us your thoughts on audible sounds, or tell us your thoughts on … whatever: frequency, light, universe“ [from 49:08], to which Du Yun replies that many of these factors are still being looked upon from a Eurocentric perspective, but they who come from other traditions might not see it that way (Ferienkurse Darmstadt). All of which is a call for respect to other views of the world, a respect that should be reflected in the words we use as well, or at least in an awareness for how we use words and how they are or could be understood.

Food for thought, and another aspect of the topic of the 17th Darmstadt Jazzforum conference, to be held 30 September – 2 October 2021. (More aspects from quite different perspectives were mentioned in our last newsletters, and you can find them all on the Jazzforum’s webpage linked to below.) We invite you to send us proposals for papers, panels, artistic interventions that look at any of these (or other) topics from your perspective. We also ask you to share our Call for Papers with others interested, colleagues, artists, journalists, activists. We will (within limits) be able to help with travel expenses. The deadline for all proposals is: 30 November 2020.


18. November 2020:

„Afro Modernism in Contemporary Music“

The Frankfurt-based Ensemble Modern organized a symposium about „Afro-Modernism in Contemporary Music“ which focused on contemporary composition. However, as that field is currently being redefined itself (as are other genres, including jazz), the conference made a lot of points that might be relevant for the Darmstadt Jazzforum as well, planned for October 2021.

The participants, among them the symposium’s initiator George E. Lewis in conversation with Harald Kisiedu, talked about the fact that just because a certain repertoire of music is not being heard, programmed, or curated doesn’t mean it doesn’t exist. Another aspect discussed was the labeling of music which usually tends to be exclusive, or as one of the commentators in the live-chat summarized:  „The obsession with definition is an attempt to control and erase.“ And yet, George Lewis explains that he continues to use a label such as „contemporary classical music“, however he will not accept that this term is only applied to a pan-European music idea. Realizing faults at programming, he suggests, can be a chance, an opportunity to get to know other music, composers or musicians, other perspectives. The Frankfurt symposium can be re-viewed online (Ensemble Modern).

During the summer, George E. Lewis also took part in a panel about „Decolonizing the Curating Discourse in Europe“, and in his opening statement he summarizes possible steps for opening up the concert and festival repertoire, emphasizing that the mental envelop of what he calls creolization might „allow contemporary music to move beyond its Eurocentric conception of musical identities towards becoming a true world music, and by Eurocentric I don’t mean ‚Eurological‘ [a term coined by Lewis himself and juxtaposed to ‚afrological‘] (…) The Eurocological could become a part of decolonization; Eurocentric: never. Simplistic, hegemonic, closed, and ethnically essentialist“ (21:05-20:40). (Academy of Arts, complete statement from 5:30 to 23:30).

Again, watching these panels, we realize how many of such aspects might be discussed at the 17th Darmstadt Jazzforum conference as well, to be held 30 September – 2 October 2021. (Other aspects from quite different perspectives were mentioned in our last newsletters, and you can find them all on the Jazzforum’s webpage linked to below.) We invite you to send us proposals for papers, panels, artistic interventions that look at any of these (or other) topics from your perspective. We also ask you to share our Call for Papers with others interested, colleagues, artists, journalists, activists. We will (within limits) be able to help with travel expenses. The current deadline for all proposals is: 30 November 2020; there may be an extension to the deadline until the end of the year; we will report about that in our next newsletter.


2. December 2020
What about cultural appropriation?

In a recent article the German journalist Georg Spindler argues that „music does not belong to anybody, it is free“ (Mannheimer Morgen). Cultural appropriation, he writes, can also be understood as progress, for which argument he cites examples from classical music to jazz. He then focuses on debates in the USA about „whites“ having taken „everything but the burden“ from the Black community (quoting a book title by writer Greg Tate). Using music from other cultures as a starting point for the creative process is not plagiarism, though, says Spindler, but a usual cultural practice. One aspect Spindler neglects in his argument is that any material „borrowed“ from other cultures should always be used with respect to their origin, and that once we use material from other cultures, it will automatically mix with our own aesthetic approach, thus, we should be aware that our growing familiarity with such material might make us transfer our own aesthetic values back to the source material and its culture.

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LEONEsauvage

[:de]

1. Oktober 2021, 20:00 Uhr

Kathrin-Preis 2021

Preisverleihung und Preisträgerinnenkonzert in der Bessunger Knabenschule
Ludwigshöhstraße 142, 64285 Darmstadt

Eine Veranstaltung im Rahmen des 17. Darmstädter Jazzforums

Roots | Heimat: Wie offen ist der Jazz?

LEONEsauvage

Aufmunternde Worte, Träumen vom Kollektiv, lebensbejahende, kämpferische Hymnen und eine schillernde Mixtur aus Spektakel, Ritual und ausuferndem Getöse posaunt Luise Volkmann mit ihrer Free Jazz Big Band LEONEsauvage heraus.

Das zehnköpfige Ensemble LEONEsauvage ist tatsächlich wild. Träumen von einer Welt, in der Musik ihren Zuhörer:innen das gibt, was ihnen im Leben fehlt: einen Moment der Freiheit, ein Ritual des Loslassens und Ausrastens, ein Zelebrieren von Kreativität und Erfindungsgeist, als Mittel gegen die harte Realität. Und natürlich auch die Gemeinschaft, gegen die Einsamkeit des Einzelnen. Zusammen sind wir stark!

Luise Volkmann | Altsaxofon, Jan Frisch | Stimme, Gitarre, Matthew Halpin | Tenorsaxofon, Connie Trieder | Querflöte, Florian Walter | Baritonsaxofon, Matthias Muche | Posaune, Heidi Bayer | Trompete, Keisuke Matsuno | Gitarre, Florian Herzog | Kontrabass, Dominik Mahnig | Schlagzeug

Luise Volkmann erhält den Kathrin-Preis 2021. Die Kölner Saxofonistin und Komponistin, präsentiert nun mit LEONEsauvage ein zweites Large Ensemble, das in der Tradition des Free Jazz steht. Ganz anders als ihr dreizehnköpfiges Ensemble Été Large, basiert die Musik von LEONEssauvage zu großen Teilen auf kollektiver Improvisation. Ihre Kompositionen tragen Titel wie „Preacher“ oder „The Cool“ und weisen hiermit auf die unterschiedlichen Charaktere in der Band hin, die Volkmann bewusst theatral inszeniert. Es geht um die Persönlichkeit des einzelnen Spielers und darum, wie sich diese einzelnen Farben zu einem gemeinsamen Klang zusammenfügen. Einem Klang, der von Hymnen gespickt ist, die proklamieren: Dreams To Come.

Die Idee zu dem Projekt LEONEsauvage kam Volkmann 2016 in Paris. „Paris ist ein hartes Pflaster: Es gibt viel Obdachlosigkeit auf er Straße. 2016 waren auch immer wieder große Boulevards von Flüchtlingen überschwemmt, die mitten in der Stadt kampierten. Die Stadt ist teuer, Raum ist knapp, die Möglichkeiten zu gestalten sind knapp, die Leute arbeiten hart und vereinsamen. Deswegen wollte ich einen Moment etablieren, der die Pariser für eine kurze Zeit von ihrem Alltag befreit. Kurz ausrasten, frei sein und Kraft in der Gemeinschaft tanken, sich der Härte des Alltags entgegen zu setzen.“ Darauf gründete sie die erste Version von LEONEsauvage mit jungen Musiker:nnen aus Paris. Inspiriert von Sun Ra’s Arkestra, arbeitete das Ensemble an einer mitreißenden Bühnenperformance: Die Musiker:nnen arbeiteten mit Bewegungs-Cues, auffallender Schminke und ließen sich mehrere Male von Schauspieler:innen coachen. Auf der Bühne standen sie immer mit unterschiedlichen Tänzer:innen aus dem Bereich des Zeitgenössischen Tanzes oder des Street Dance.

„Ich habe meine Bachelor-Arbeit über Sun Ra geschrieben und war beeindruckt, wie ganzheitlich er gearbeitet hat. Er hat es meiner Meinung nach geschafft, ein ganzes Konstrukt einer alternativen Welt zu bauen. Mit dieser Errungenschaft wollte ich mich solidarisieren mit LEONEsauvage und ein Ensemble bilden, dass auch politische und soziale Aussagen treffen kann.“

Haltung hat das Ensemble: In dem Stück Hymne pour LEONEsauvage schreien die jungen Musiker dem Hörer entgegen: „Kill your darlings, live the kitsch. We dance down our creed. There’s too many walls ‚round here. Dreams to come, dreams to come. Wild and untamed blowers, yarning, fragile heads. All to make, all to give. Free the music we give.“ Es ermutigt also zum zerbrechlich sein, zum authentisch sein, dazu äußere Zwänge in uns selbst aufzulösen und mit Hilfe der Musik freier zu werden. Hymne pour LEONEsauvage war sozusagen das Gründungsstück der Band.

In dem Stück Preacher singt der Sänger „Let us live an innocent thought of companionship“ oder „Revolt against the negation of love“ und spricht damit ein Thema an, dass Volkmann sehr am Herzen liegt: Die Gemeinschaft. „Wie gesagt hat mich die starke Vereinsamung in Paris immer traurig gemacht. Ich hab immer gelernt, dass man zusammen stärker ist. Das Ensemble LEONEsauvage haben wir auch versucht, als Kollektiv zu organisieren. Das hat manchmal besser, manchmal weniger gut geklappt. Aber auf jeden Fall haben die Konzerte immer eine unheimliche Kraft entfaltet. Ich hatte immer das Gefühl, die ganze Band hat sich wochenlang danach gesehnt, sich fix und fertig zu spielen. Da konnte man die Kraft der Gemeinschaft immer spüren und das Publikum war mitgerissen. Ich hab immer gescherzt und gesagt- meine Free-Jazz-Tanzband“.

Bis ins Jahr 2018 spielte das Ensemble in Paris fast monatlich. Als Volkmann im selben Jahr nach Kopenhagen zog, gründete sie dort die zweite Besetzung von LEONEsauvage, mit der auch die Aufnahmen zu dem Album entstanden. In Kopenhagen traf sie am Rhythmischen Musikkonservatorium auf eine buntes und internationales Konglomerat aus Musiker:innen. Die beiden Sänger der CD sind der portugiesische Jazz- und Popsänger João Neves und der isländische Rocker Hrafnkell Flóki Kaktus Einarsson. Zusammen bilden sie ein stimmungsvolles Duo, das genug Kante und Unschärfe zulässt, die diese Musik braucht. Die vier Saxophonist:innen des Ensembles kommen aus Polen, Deutschland und Argentinien und bilden zusammen einen gewaltigen Klangkörper. Die Rhythmusgruppe besteht aus Jazz- und Improvisationsmusikern aus Frankreich, Italien, Polen und Norwegen. Eine international besetzte Truppe, die zum Tanzen und Ausrasten einlädt.

Tatsächlich wird es dieses Jahr passend zur Veröffentlichung des Albums auch die deutsche Version des Ensembles geben. „Ich denke mit dem Projekt extra megaloman. Die Idee von LEONEsauvage soll die Welt infiltrieren.“ Luise Volkmann gewann 2020 den Kathrin-Lemke-Preis des Jazzinstitut Darmstadt und konnte mithilfe des Preises eine dritte Besetzung aus vorwiegend in NRW lebenden Musiker:innen gründen. Und nicht nur das: Sie konnte in der Residenz in Darmstadt auch weiter zu dem Thema forschen, dass sie im Bezug auf den Free Jazz und Sun Ra interessiert. „Wie gehe ich als deutsche Jazzmusikerin mit dem Erbe der afro-amerikanischen Kultur um? Ich glaube es gibt viel zu wenig Diskurse über diese Frage. Ich bin von der Form der Musik von Sun Ra oder auch dem Art Ensemble of Chicago sehr berührt und möchte mich solidarisieren, möchte davon lernen und möchte vielleicht sogar einen Teil dieser Tradition fortführen. Es ist gar nicht so einfach, dafür den richtigen Ton zu treffen.“ Das Jazzinstitut forscht bei seinem diesjährigen Symposium zu Eurozentrismus und bietet hier Luise Volkmann die Möglichkeit die langjährige Arbeit mit dem Ensemble und ihre Nachforschung zum Free Jazz und afro-amerikanischer Musik zu präsentieren.

Das Album „Dreams To Come” kommt gerade zur richtigen Zeit und setzt der schwierigen und komplexen Zeit, die hinter uns liegt, Optimismus und Aktivismus entgegen. „Ich sehe die Musik im Herzen der Gesellschaft. Ich glaube daran, dass Kreativität das Mittel ist, mit dem man Umbrüche meistern kann und mit der das Leben noch lebenswerter und bunter wird.“

 


Konferenz:
Von Donnerstag, 30. September, bis Samstag, 2. Oktober 2021, diskutieren wir über „Roots | Heimat: Wie offen ist der Jazz?“ (mehr…)


Ausstellung:
Ab 4. Oktober 2021 zeigen wir in der Galerie im Jazzinstitut (und während der Konferenz auch im Konferenzraum) die Ausstellung „Jazzgeschichten in Rot und Blau“ mit Plakaten des Schweizer Künstlers Niklaus Troxler. (mehr…)

Weitere Fragen bitte an jazz@jazzinstitut.de


Das 17. Darmstädter Jazzforum wird gefördert von 

[:en]1 October 2021, 8:00pm
Concert at Bessunger Knabenschule (Ludwigshöhstraße 142, 64285 Darmstadt)
This concert is part of the 17th Darmstadt Jazzforum about „Roots | Heimat: Wie offen ist der Jazz?“

LEONEsauvage

Uplifting words, dreams of the collective, life-affirming, combative hymns and a dazzling mixture of spectacle, ritual and sprawling bluster trumpeted out by Luise Volkmann and her free jazz big band LEONEsauvage.

The ten-piece ensemble LEONEsauvage is indeed a wild one. Dreaming of a world where music gives its listeners what they lack in life: a moment of freedom, a ritual of letting go and letting loose, a celebration of creativity and inventiveness, all of this a remedy against the harsh reality. And of course, community, which helps against the loneliness of the individual. Together we are strong!

Line-up: Luise Volkmann | altosax, leader, Jan Frisch | voice, guitar, Sebastian Gille | tenorsax, Connie Trieder | flute, Florian Walter | baritonsax, Matthias Muche | trombone, Heidi Bayer | trumpet, Keisuke Matsuno | guitar, Florian Herzog | bass, Dominik Mahnig | drums

Luise Volkmann is a Cologne-based saxophonist and composer who now presents LEONEsauvage, her second large ensemble in the free jazz tradition. Quite different from her thirteen-piece ensemble Été Large, LEONEssauvage’s music is largely based on collective improvisation. Their compositions bear titles such as „Preacher“ or „The Cool“, thus pointing to the different characters in the band, which Volkmann deliberately stages theatrically. It is about the personality of the individual player and how these individual colors come together to form a common sound. A sound peppered with hymns that proclaim: Dreams To Come.

Volkmann got the idea for the LEONEsauvage project in Paris in 2016. „Paris is a tough place: There is a lot of homelessness on the streets. In 2016, large boulevards were also repeatedly flooded with refugees camping out in the middle of the city. The city is expensive, space is scarce, opportunities to create are scarce, people work hard and become lonely. That’s why I wanted to establish a moment that would free Parisians from their daily lives, and if only for a short time. To briefly escape, to be free, and to gather strength in community, to confront the harshness of everyday life.“ These ideas, then made her found the first version of LEONEsauvage with young musicians from Paris. Inspired by Sun Ra’s Arkestra, the ensemble worked out a rousing stage performance: the musicians worked with movement cues, eye-catching make-up and had actors coach them several times. On stage they were always accompanied by different dancers from the field of contemporary dance or street dance.

„I wrote my bachelor’s thesis on Sun Ra and was impressed by how holistically he worked. He managed, in my opinion, to build a whole construct of an alternative world. It is an achievement I wanted to show solidarity with by forming LEONEsauvage as an ensemble that could also make political and social statements.“

The ensemble certainly has a wider attitude: In the piece „Hymne pour LEONEsauvage“, the young musicians scream at the listener: „Kill your darlings, live the kitsch. We dance down our creed. There’s too many walls ‚round here. Dreams to come, dreams to come. Wild and untamed blowers, yarning, fragile heads. All to make, all to give. Free the music we give.“ The song encourages being fragile, being authentic, dissolving external constraints in ourselves and becoming freer with the help of music“. Hymne pour LEONEsauvage“ was, so to speak, the founding piece of the band.

In the track „Preacher“, the singer sings „Let us live an innocent thought of companionship“ or „Revolt against the negation of love“ and thus addresses a topic that is very close to Volkmann’s heart: Community. „As I said, the intense loneliness in Paris has always made me sad. I’ve always learned that you’re stronger together. We also tried to organize the ensemble LEONEsauvage as a collective. Sometimes it worked better, sometimes not so well. But in any case, the concerts have always unfolded an incredible power. I always had the feeling that the whole band had been longing to play for weeks. You could always feel the power of community and the audience was carried away. I always joked and called it ‚my free jazz dance band'“.

Until 2018, the ensemble played in Paris almost on a monthly basis. When Volkmann moved to Copenhagen that same year, she formed the second lineup of LEONEsauvage there, with whom she also recorded the album. In Copenhagen, she met a colorful and international conglomeration of musicians at the Rhythmic Music Conservatory. The two singers on the CD are Portuguese jazz and pop singer João Neves and Icelandic rocker Hrafnkell Flóki Kaktus Einarsson. Together they form an atmospheric duo that allows enough edge and fuzziness that this music needs. The ensemble’s four saxophonists come from Poland, Germany and Argentina, and together they form a formidable body of sound. The rhythm section consists of jazz and improvisational musicians from France, Italy, Poland and Norway. An international troupe that invites you to dance and go wild.

In fact, this year, to coincide with the release of the album, there will also be the German version of the ensemble. „I think with the project extra megalomaniac. The idea of LEONEsauvage is to infiltrate the world.“ Luise Volkmann won the Jazzinstitut Darmstadt’s Kathrin-Preis in 2020 and, with the help of the award, could form a third lineup of musicians mainly living in Northrhine-Westfalia. But not only that: she could also continue her research on the topic, on free jazz and on Sun Ra during a residency in Darmstadt. „As a German jazz musician, how do I deal with the heritage of African-American culture? I think there is far too little discourse on this question. I am very touched by the form of the music of Sun Ra or also the Art Ensemble of Chicago and want to show solidarity, want to learn from it and maybe even want to continue a part of this tradition. It’s not so easy to strike the right note for that.“ The Jazzinstitut’s fall conference in 2021 focuses on „Roots | Heimat“, and at the conference Luise Volkmann will have the opportunity to present her many years of work with the ensemble as well as her research on free jazz and African-American music.

The album „Dreams To Come“ comes just at the right time, countering the difficult and complex times that lie behind us with optimism and activism. „I see music at the heart of society. I believe that creativity is the means by which you can master upheavals and with which life becomes even more livable and colorful.“

 

 


Conference:
From, Thursday, 30 September, through Saturday, 2 October 2021, we will be discussing about „Roots | Heimat: Wie offen ist der Jazz? (more…)


Exhibition:
From 4 October 2021 the gallery of the Jazzinstitut shows the exhibition „Jazz Stories in Red and Blue“ with posters created by Swiss artist and jazz promoter Niklaus Troxler. Some posters will be shown at the conference venue during the Jazzforum. (more…)


If you have any further questions, fee free to write us at jazz@jazzinstitut.de


Das 17. Darmstädter Jazzforum wird gefördert von

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[:de]Jazzgeschichten in Rot und Blau[:en]Jazz Stories in Red and Blue[:]

[:de]Niklaus Troxler / Grafische Kunst

Willisau ist ein kleines Schweizer Städtchen im Zentrum von Europa. Hier trifft sich seit Mitte der 1960er Jahre die wegweisende Internationale Jazz Avantgarde.

Der Schweizer Grafiker Niklaus Troxler ist der Name hinter den Konzerten und dem  legendären Willisau Jazz Festival. Über die Programmgestaltung hinaus hat er insbesondere mit seinen weltbekannten Plakatentwürfen dem Jazz in Willisau sein einzigartiges  künstlerisches Gesicht gegeben. Es ist ein weltumspannendes /kulturübergreifendes  geprägtes Gesamtkunstwerk aus Musik, Kunst und Performing, das Niklaus Troxler seit Mitte der 1960er Jahre in Willisau entwickelt hat.

Die Ausstellung „Jazzgeschichten in Rot und Blau“ nähert sich anhand von grafischen Werken dem ästhetischen Verständnis von Niklaus Troxlers, der den Jazz als Anregung für innovative grafische Ansätze nutzt. Für diese Ausstellung hat er dem Jazzinstitut  viele noch wenig gezeigte Plakate auch in kleinerem Format zur Verfügung gestellt.

Niklaus Troxlers Plakate stehen für Gebrauchskunst mit Kultcharakter. Er übersetzt den Jazz und die Begegnungen mit den Musiker:innen  in seine eigene Bildwelt, die durch Farben, Formen und Typografie geprägt ist. In unzähligen Variationen seiner sehr variantenreichen Bildsprache versucht er das für ihn Typische in der Musik einzufangen. So werden Instrumente zu Symbolen, Buchstaben zu Umrissen, Formen und Farben zu Bewegungsmustern. Denn alles was Niklaus Troxler am Jazz spannend findet, fasziniert ihn auch am Bild: die Mischung aus Komposition und Offenheit und damit auch die Improvisation und der Zufall.

Gerade sein enger persönlicher Kontakt zu den Musiker:innen und der Musik inspirieren ihn immer wieder zu den unterschiedlichsten Stilistiken.  Es gibt nicht den typischen „Troxler-Stil“. Genau das macht seine Kunst zeitlos und besonders.

Und so bilden in seinem Œuvre auch das kleine Heimatdorf „Willisau“ ganz natürlich mit der New Yorker Free Music Szene eine künstlerische Einheit.


Ausstellung
4. Oktober bis 31. Dezember 2021 in der Galerie des Jazzinstituts Darmstadt
geöffnet Mo, Di, Do 10 -17 Uhr, Fr 10 -14 Uhr (bitte melden Sie sich an!)



Das 17. Darmstädter Jazzforum wird gefördert von

[:en]Niklaus Troxler / Graphic art

Willisau is a small Swiss town in the center of Europe. It is also the place where the pioneering international jazz avant-garde has been meeting since the mid-1960s.

Swiss graphic designer Niklaus Troxler is the name behind the concerts and the legendary Willisau Jazz Festival. Beyond the program design, he has given jazz in Willisau its unique artistic face, especially with his world-famous poster designs. It is a global/cross-cultural shaped synthesis of music, art and performing that Niklaus Troxler has developed in Willisau since the mid-1960s.

The exhibition „Jazz Stories in Red and Blue“ uses graphic works to focus on Niklaus Troxler’s aesthetic understanding of jazz as a stimulus for innovative graphic approaches. For this exhibition, he has provided the Jazzinstitut with many rarely shown posters, in bigger as well as in smaller formats.

Niklaus Troxler’s posters stand for commercial art with cult character. He translates jazz and the encounters with the musicians into his own visual world, which is characterized by colors, shapes and typography. In countless variations of his varied visual language, he tries to capture what is typical for him in the music. Thus instruments become symbols, letters become outlines, shapes and colors become patterns of movement. The reason behind this: everything that Niklaus Troxler finds exciting about jazz also fascinates him about the picture: the mixture of composition and openness and thus also improvisation and chance.

It is precisely his close personal contact with the musicians and the music that inspires him time and again to create in differerent styles. Thus, there is no typical „Troxler style“. Perhaps it is this fact that makes his art timeless and special.

And so, in his œuvre, his small hometown of „Willisau“ naturally forms an artistic unity with the New York free music scene.


Exhibition

30 September through 2 October 2021 during the conference at the conference venue

4 October through 31 December 2021 at the Jazzinstitut Darmstadt’s gallery
open: Monday, Tuesday, Thursday 10am-5pm, Friday 10am-2pm


Conference:
From, Thursday, 30 September, through Saturday, 2 October 2021, we will be discussing about „Roots | Heimat: Wie offen ist der Jazz? (more…)


Concert:
On Friday evening, 1 October 2021, Luise Volkmann and LEONE sauvage at Bessunger Knabenschule. (more…)


If you have any further questions, fee free to write us at jazz@jazzinstitut.de[:]

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