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Roots | Heimat. Diversity in Jazz
herausgegeben von Wolfram Knauer
Hofheim 2022 (Wolke Verlag)
303 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-95593-017-2
Wolke Verlag
(Text des Buchumschlags:)
Jazz ist ein Symbol für Diversität – so mag man zumindest meinen, wenn man die Geschichte afro-amerikanischer Musik betrachtet. Doch zollen wir insbesondere in Europa dieser Idee genügend Respekt? Ist unsere Verehrung der großen Jazzheroen nicht ein bloßes Lippenbekenntnis, wenn wir in dieser Musik, die doch von Freiheit und Individualität handelt, gleichzeitig feststellen müssen, dass Frauen hierzulande nach wie vor selten sind, von BIPoC (Black, Indigenous, People of Color) einmal ganz zu schweigen? Ist der Jazz in Deutschland nicht lange zu einer etablierten Hochkultur geworden, die nur von einer akademischen Minderheit gemacht und gehört wird? Und wenn dem so ist, wie zufrieden sind wir mit dem Status quo bzw. wie können wir diesen ändern? Fragen, auf die dieses Buchs in sehr unterschiedlichen Ansätzen nach Antworten sucht.
Autoren des Bandes:
Reza Askari, Vincent Bababoutilabo, Frieder Blume, Jean-Paul Bourelly, Sylvia Freydank, Ádám Havas, Therese Hueber, Peter Kemper, Harald Kisiedo, Sanni Lötzsch, Anna-Lise Malmros, Gabriele Maurer, Stephan Meinberg, Ella O’Brien-Coker, Constanze Schliebs, Philipp Schmickl, Simin Tander, Philipp Teriete, Nico Thom, Joana Tischkau, Niklaus Troxler, Luise Volkmann, Timo Vollbrecht, Kornelia Vossebein, Jo Wespel.
(Wolfram Knauer, September 2022)
Watching with my Ears. 20 Years Vision Festival New York
von Jorgo Schäfer
Hofheim 2022 (Wolke)
56 Seiten, 39 Euro
ISBN: 978-3-95593-145-2
Von 2000 bis 2019 besuchte der Wuppertaler Künstler Jorgo Schäfer regelmäßig das Vision Festival in New York. Peter Kowald, der din den 1980er Jahren das Sound Unity Festival mitgegründet hatte, ein Vision-Vorläufer, hatte Schäfer anfangs eingeführt in die Veranstalterkreise; Patricia Nicholson Parker, die das Festival bis heute betreut, sorgte dafür, dass er seinen Tisch inmitten des Publikums aufbauen konnte, um seine musikalischen Erlebnisse künstlerisch festzuhalten.
In einer jetzt erschienenen Retrospektive finden sich Schäfers Arbeiten. Die Materialien: Tusche, Bleistift, Acryl, Karton, Chinapapier, Bütten, Leinwand. Die abgebildeten Sujets: namenlose Spielsituationen, Cooper Moore, Billy Bang, Fred Anderson, Sabir Mateen, Peter Brötzmann, Cecil Taylor, Pharoah Sanders, Maria Mitchel, Henry Grimes, Sonny Simmons, Bobby Few, Hamit Drake. Mal abstrakt, mal eine Mischung aus vor Ort entstandenen Live-Skizzen und im Atelier ausgearbeiteten Übermalungen. Da steht David S. Ware als imposante Figur vor einem leuchtend-roten Hintergrund, sein Saxophon glänzend, hinter ihm ein Vogelschwarm und 32 Geschichtstafeln (Untertitel: „und die Königin von Saba“), wie um zu verdeutlichen, dass es in Wares Musik eben auch um Geschichten geht. Da wird John Coltrane zum „Drtrunkenen Herkules (frei nach Peter Paul Rubens). Da wird Musik zu einer blauen Fläche mit einem schwarzen Kopf darin oder zu einem blauen Kopf, der mit anderen Köpfen korrespondiert. Das Sun Ra Arkestra feiert Marshall Allens 80sten Geburtstag und eine Handvoll Kontrabassisten erinnern an Peter Kowald.
Die Musik hört man nicht, aber irgendwie schafft Schäfer es eine Stimmung einzufangen, die sich mitteilt. Mal Intensität, mal enge Kommunikation, mal Feier des Abends, mal tiefste Konzentration.Der Kunsthistoriker Hermann Ühlein ordnet seine Bilder ein; Patricia Nicholson erzählt von der Idee hinter dem Vision Festival, kurze Gedichte oder Statements, etwa von Cooper Moore, Peter Brötzmann, William Parker, Peter Kowald, Jemeel Moondoc, Terry Jenoure runden das Buch ab. Auf 56 Seiten und dickem Papier nehmen uns Schäfers Bilder mit ins New York der 2000er und 2010er Jahre, in eine Welt der vor allem freien Improvisation, aber auch in eine Welt des laufenden ästhetischen Wandels.
Wolfram Knauer (September 2023)
Sight Readings. Photographers and American Jazz, 1900-60
von Alan John Ainsworth
Bristol/UK 2022 (intellect)
446 Seiten, 35 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78938-421-5
Wir haben im Jazzinstitut immer wieder mit ihnen zu tun: den Fotos, die uns Jazzgeschichte näherbringen. Im Archiv besitzen wir sicher mehr als 50.000 Abzüge, dazu unzählige Fotobücher, teils dokumentarische Darstellungen der Geschichte dieser Musik, teils biographische Annäherungen. Gerade heute, da ich diese Rezension schreibe, hatte ich für ein Rundfunkinterview über Nina Simone Bücher nach Fotos durchgesehen, die mir den Wandel ihrer Bühnenpräsentation vor Augen bringen. Fotos veranschaulichen uns Musiker:innen, die Orte, an denen ihre Musik erklingt, ihr Publikum, die Musikindustrie.
Fotosammlungen wie die „Pictorial History of Jazz“ von Orin Keepnews und Bill Grauer, „Black Beauty, White Heat“ von Frank Driggs oder William Claxtons gemeinsame USA-Reise mit Joachim Ernst Berendt, die zum Band „Jazz Life“ führte, stehen in den Regalen vieler Jazzfans. Bücher über die Geschichte des Jazzfotos sind schon erheblich seltener. 2011 veröffentlichte Benjamin Cawthra „Blue Notes in Black and White. Photography and Jazz“, das sich der Beziehung zwischen Fotografen wie Claxton, Gjon Mili, William Gottlieb, Herman Leonard und den Jazzmusiker:innen, die sie abbildeten, annahm. Fotografinnen waren übrigens selten darunter, und auch Alan John Ainsworths neues Buch über die Beziehung von Fotografen und Jazz lässt sie weigehend außen vor. Aber er weiß um sie und verweist gleich zu Beginn seines Buchs auf ein Bild Bill Gottliebs von der 52nd Street, auf der eindeutig eine Fotografin vor dem Club Three Deuces zu sehen ist.
Nicht nur Frauen aber sind unterrepräsentiert in der Wahrnehmung der Jazzdokumentation, sondern auch Fotografen of color: Die gefeierten Bilder scheinen alle von wenigen weißen Kunstfotografen zu kommen, schreibt Ainsworth, stellt dann aber gleich einem Fotos von Charles Peterson aus dem gerade eröffneten Eddie Condon’s Club von 1946 eines des schwarzen Fotografen Charles Williams gegenüber, der in Los Angeles die International Sweethearts of Rhythm ablichtete. Mit diesen beiden Bildern öffnet Ainsworth den Raum: vom weißen Club zur schwarzen Frauenkapelle, von der Ost- zur Westküste, vom Bohemien-Zirkel zu Bands, deren ursprüngliche Mitglieder ihr Instrument in einem afro-amerikanischen Waisenhaus gelernt hatten. Tatsächlich unterschieden sich auch die Biographien der Fotografen, und ihre Herkunft bestimmt oft genug, wie nahe sie den Subjekten ihrer Arbeit kommen konnten, wie intim die Fotos wurden. Durften sie nur im professionellen Kontext arbeiten, hatten sie Zugang zur Garderobe, dem privaten Leben der Musiker:innen? Waren sie gar, wie etwa der Bassist Milt Hinton, selbst Teil der Musikercommunity?
Im ersten Kapitel befasst sich Ainsworth mit der Bedeutung der Fotografie für das Image der Abgelichteten. Er diskutiert gestellte Publicityfotos von Count Basie und Roy Eldridge, Fotos, mit denen in Zeitschriften beispielsweise für Instrumente geworben wurde, und Fotos die mal mehr, mal weniger natürlich das Publikum zeigten, den archetypischen Swingfan etwa oder Menschen in einem schwarzen Club. Er erinnert daran, dass Fotos Fans immer auch als Erinnerung an musikalische Erlebnisse ihrer Jugend dienten.
Zahlreiche insbesondere der ikonischen Bilder des Jazz wurden mittlerweile so oft veröffentlicht, dass die Stories, die sie bebildern sollen, Teil ihrer eigenen Geschichte wurde. Ainsworth gibt Beispiele, etwa William Gottliebs legendäres Foto von Thelonious Monk, Howard McGhee, Roy Eldridge und Teddy Hill vor Minton’s Playhouse in Harlem. Fotos können aber auch einfach eine Primärquelle sein und als solche Auskunft über das Umfeld der abgebildeten Musiker:innen geben. Um diese lesen zu können, muss man allerdings um die Perspektive wissen, die der Fotograf einnimmt und zusätzlich darum, was in den Fotos nicht zu sehen ist. Man muss die abgelichteten Orte und Aktivitäten also einordnen können, wenn man mehr aus ihnen lesen will als nur Atmosphärisches. Musiker posieren vor dem Bandbus, Musiker schlafen im Bandbus, Musiker spielen auf der Bühne, Musiker spielen zum Tanz: jedes Bild, auch jede der Abbildungen, die Ainsworth seinen Kapiteln beifügt, braucht das Wissen um die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die mit dem Foto verbunden sind.
In einem anderen Kapitel schaut sich Ainsworth Bilder an, die versuchen den Sound des Jazz zu visualisieren, andere, die die Jazzszene einzufangen versuchen, wieder andere, bei denen Instrumente oder Dinge (Cannonball Adderleys Music Stand, Dexter Gordons Reiseunterlagen) im Vordergrund stehen statt der Künstler selbst. Er begleitet Musiker ins Studio, weiß um die Tradition der Theater- und Filmfotografie, kennt den Background etwa von James Kriegsmann, einem Fotografen, dessen Name unter zahlreichen Portraits der Stars der Swingära steht. Er beleuchtet die Geschichte der afro-amerikanischen Fotografie im 20sten Jahrhundert, diskutiert gestellte Bandfotos des frühen Jazz, aber auch ausdrucksvolle Bilder, die Musiker in action oder den Rapport zwischen ihnen und ihrem Publikum zeigen. Er erklärt die Lebensumstände der Fotografen: der eine fotografierte hauptberuflich für eine Zeitung, der andere hatte ein eigenes Portraitstudio, für den dritten war es einfach ein weiteres Standbein einer breiter aufgestellten Berufskarriere. Er beschreibt aber auch die Arbeitsumstände, die in den Jahren vor 1970 sicher einfacher war als später, da man erst bei Veranstaltern oder Agenturen eine Fotogenehmigung einholen musste. Er beschreibt, wie eine neue Fotografengeneration in den 1940er Jahren den Jazz als eine Kunst der Authentizität darstellt, und dabei auch leicht Gefahr läuft, die Künstler zu überhöhen. Und er entdeckt einen spezifisch „anderen“ Blick der aus Europa exilierten und jüdischen Fotografen, diskutiert konkret die Bilder von Clemens Kalischer, Otto Hess, Henry Ries, Gjon Mili, Francis Wolff und Fred Plaut.
Im Schlusskapitel blickt Aisnworth dann noch kurz auf die Jazzfotografie nach 1960, auf Unterschiede, aber auch darauf, wie die Perspektive des bereits Abgelichteten auch den Blick jüngerer Fotografen beeinflusste. Als Zugabe beschreibt er Herb Snitzers Foto „Pops“, ein Portait Louis Armstrongs aus dem Jahr 1960, und als Anhang diskutiert er, was im Englischen „agency“ heißt, also Handlungsmacht, letzten Endes all die Dinge, die der Fotograf selbst in der Hand hat, wenn er sich für ein Bild, einen Frame, eine Perspektive entscheidet.
Ainsworths Buch ist ein dicker Schinken geworden, eine Mischung aus wissenschaftlicher Fotografiegeschichte und Einblick in einen Berufszweig der Jazzwelt, über den wir selten nachdenken. Es ist lesenswert und tief zugleich. Man kann es dem Feld der „new jazz studies“ zuordnen, die erkannt haben, dass interdisziplinäre Blicke auf die Musik und ihr Umfeld zur Erkenntnis über die erklingende Musik selbst beitragen. Dabei gelingt es Ainsworth, unterschiedliche Herangehensweisen zu erklären, auf Perspektiven aufmerksam zu machen und uns auch nahezubringen, was wir nicht sehen. Die zahlreichen Abbildungen seines Buchs (alle schwarz-weiß) laden zum näheren Betrachten ein, vielleicht auch zum Griff ins Bücherregal, wo all die anderen Fotoalben des Jazz stehen, oder aber zur Bildrecherche im Internet. Und seine immer wieder kritische Betrachtung seines Sujets macht einem an jeder Stelle bewusst, dass auch „Sight Readings“ nicht der Schlusspunkt der Erkenntnis über Jazzfotografie ist, sondern höchstens ein Aufzeigen weiter zu erforschender Kapitel.
Alan John Ainsworths „Sight Readings“ ergänzt damit jede Fotobuchsammlung mit einer Dokumentation dessen, was eigentlich geschieht, wenn ein Fotograf Musiker ablichtet, wie Fotos die Wahrnehmung von Jazzgeschichte beeinflussen und wie sich durch sie unser aller Sicht auf den Jazz gebildet hat.
Wolfram Knauer (März 2023)
Schöner fremder Klang. Wie exotische Musik nach Deutschland kam. Band 1: Ragtime, Tango, Rumba & Co (1855-1945)
von Claus Schreiner
Berlin 2022 (J.B. Metzler)
622 Seiten, 29,99 Euro
ISBN: 978-3-476-05694-8
Schöner fremder Klang. Wie exotische Musik nach Deutschland kam. Band 2: Ragtime, Tango, Rumba & Co (1855-1945)
von Claus Schreiner
Berlin 2022 (J.B. Metzler)
62´72 Seiten, 29,99 Euro
ISBN: 978-3-476-05696-2
Schöner fremder Klang. Wie exotische Musik nach Deutschland kam. Band 3: Afrobeat, Salsa, Reggae & Co. (1975-2000)
von Claus Schreiner
Berlin 2022 (J.B. Metzler)
653 Seiten, 29,99 Euro
ISBN: 978-3-476-05698-6
Im Jazz ist Claus Schreiner durch seine Aktivitäten für die Deutsche Jazz Föderation in den 1960er Jahren und seine Teilnahme bei der Gründung der (damals) Union Deutscher Jazzmusiker 1973 bekannt, aber auch als Produzent und Konzertveranstalter und durch seine langjährige Arbeit mit Albert Mangelsdorff und anderen Musikern. Seit den späten 1960er Jahren beschäftigte er sich verstärkt mit brasilianischer und lateinamerikanischer Musik, die er auch auf einem eigenen Label, Tropical Music, dokumentierte. Außerdem hat er grundlegende Bücher über die Musik Brasiliens (1977) und lateinamerikanische Musik (1982) veröffentlicht.
Jetzt hat Schreiber quasi sein opus magnum vorgelegt, eine dreibändige „Spurensuche“, wie er sie beschreibt, des Weges und der Rezeption „exotischer Musik“ nach Deutschland. Sein Thema ist, wie er im Vorwort schreibt, die „urbane populäre Musik aus den Amerikas und Afrika mit Wurzeln in traditioneller bzw. ritueller Musik, wobei auch Mischformen mit verschiedenen Musikstilen aus Europa und später auch Popmusik, Jazz, Rock und Soul aus den USA hinzukommen“. Das wäre sicher ein etwas zu langer Untertitel geworden, und so hat sich Schreiner auf die Zusammenfassung als „exotische Musik“ beschränkt, die zugleich den europäischen Blickwinkel betont, aus dem er deren Rezeption wahrnimmt. Dafür gibt es neben historischen Einordnungen, je näher er der Jahrtausendwende kommt (seine Darstellung endet im Jahr 2000), genügend Asides, die zumindest zwischen den Zeilen auch sein eigenes Wirken streifen.
Schreiner beginnt mit einem nachdenklichen Kapitel zum immer inheränten Rassismus, wenn man auch nur über „exotische“ Musik spricht, streift dabei auch, wie sehr das Interesse an anderen Kulturen zum Ausgang des 19. und Beginn des 20sten Jahrhunderts durch die neu aufkommenden Massenmedien (Fotos, Illustrierte, Schallplatten, Filme) verstärkt wurde. Sein Buch beginnt dann mit dem ersten „Welthit“, wie er ihn nennt, Sebastián Iradiers „La Paloma“, angeblich 1857 bei einer Reise des baskischen Komponisten nach Kuba entstanden. Nichts ist bewiesen, nicht einmal, dass Iradier jemals auf Kuba war, und Schreiners Erzählung gelingt es aus der Unsicherheit der Wahrheit ein Bild des Möglichen zu zeichnen. Er streift Komponisten wie Louis Moreau Gottschalk und erwähnt den Einfluss der Habanera etwa auf Bizets Oper „Carmen“.
Auch Deutschland hatte Kolonien, in Afrika, Neuguinea, China und Samoa, „Deutsche Schutzgebiete“ genannt. Sie waren weit entfernt, aber im „Mutterland“ waren ihre Einwohner nicht gern gesehen, schreibt Schreiner: „Die Mehrzahl der Deutschen steht den Bewohnern ihrer Kolonien in einer gefährlichen Bandbreite zwischen Naivität und Rassismus gegenüber, aber selten auf Augenhöhe.“ Schwarze Menschen sah man lieber auf „Völkerschauen“ im Zoo, höchstens noch auf Werbetafeln, etwa für den Fleischextrakt der Firma Liebig oder Schokolade der Firma Sarotti. Immerhin interessierten sich Ethnologen für die Kultur aus der Fremde, wie sich etwa im Berliner Phonogramm-Archiv zeigt, in dem Tausende an Tonwalzen mit Sprachaufnahmen aus aller Welt gesammelt wurden. Das Interesse am Fremden steigt, doch selbst reisen können die wenigsten. Und so sind neben den „Völkerschauen“ die Erlebnisse durch Musik und Tanz vielleicht die am stärksten individuell erlebbaren Erfahrungen der Fremde für viele Deutsche.
Schreiner beschreibt die Rezeption von Minstrelshows, Ragtimeensembles und schwarzen Solisten nicht nur in den USA, sondern zunehmend auch in Paris, London und Berlin. Er streift die Fisk Jubilee Singers, Arabella Fields, den Erfolg als exotisch empfundener Tänze, die Harlem Hellfighters des Lieutenant James Reese Europe und den Erfolg Josephine Bakers oder später Carmen Mirandas. Er berichtet über die Diskussionen im Bereich des Gesellschafts- genauso wie des modernen Ausdrucks- und Bewegungstanzes. Und immer wieder wird das Publikum auch mit den Originalen konfrontiert, wenn Künstler:innen aus Übersee auf deutschen Bühnen zu erleben sind.
Er befasst sich mit den frühen Jahren des Jazz in Deutschland, hört Eric Borchard genauso wie Klamauk-Jazz, weiß um deutsche Autoren wie Ernest Bornemann und Dietrich Schulz-Köhn, hört Sam Wooding, Paul Whiteman und Jack Hylton. Schreiner beschreibt Paris als Zentrum musikalischer Einwanderer nach Europa, die Faszination mit brasilianischer Musik, den Zauber des Tango; und immer wieder kommen dabei auch die Missverständnisse zur Sprache, die sich beim Kulturtransfer einstellen, etwa wenn der Tango eingedeutscht wird, wenn keiner weiß, ob Jazz nun Musik oder Tanz ist, von den technischen, also musikalischen Details der fremden Musik ganz zu schweigen, die man sich gern zu eigen machen würde, weil sie irgendwie so… cool ist. Kuba und Danzón, die Antillen und der Biguine, und mit der Musik aus Hawaii erreichen, wie Schreiber schreibt, „die letzten Exoten […] Nazi-Deutschland“.
1933 wird alles anders: „Braune Töne“ überschreibt Schreiner sein Kapitel über die dunklen Jahre, berichtet darüber, wie die Nazis bereits zuvor gehegte Resentiments weiter pflegten, aber nicht alle „exotischen“ Importe ablehnten: der Tango etwa gefiel ihnen, und bei anderen Musikstilen versuchten sie es mit „Disziplinierung und Korrektur“.
In Band 2 nimmt sich Schreiner „Samba, Mambo, Bossa und Co.“ vor und beleuchtet die Rezeption der Nachkriegszeit, wobei er sich schon im ersten Band nicht sklavisch an die Chronologie hielt, sondern gern und durchaus zu Recht auf die späteren Folgen von Entwicklungen verwies. Und da sein Fokus auf der Rezeption in Deutschland liegt, ist es ihm zu Beginn wichtig, die veränderten Rahmenbedingungen zu erklären, Besatzung, veränderte Weltsicht(en), Veränderungen auch in der Jugendkultur und in den Hoffnungen der Menschen, denn diese drückten sich ja oft genug in ihren musikalischen Vorlieben aus.
Als Beispiele für die Nachkriegszeit beleuchtet er das Leben Peter Kreuders, der sich unter den Nazis anbiederte, dann 1947 nach Südamerika ging, erst Rio, dann Buenos Aires, wo er angeblich ein Verhältnis mit Evita Perón hatte und eine Ehrenmedaille für „seine Verdienste um die ‚Popularisierung der Argentinischen Volksmusik'“ erhielt; und er schaut auf die Nachkriegskarriere der Sängerin Rosita Serrano, der es offenbar nicht geschadet hatte, dass zuvor schon Hitler ein glühender Verehrer gewesen war. Die Furcht vor dem Einfluss von Jazz und afro-amerikanischer Musik auf die Jugend unterschieden sich in den Nachkriegsjahren gar nicht so sehr im Westen und Osten Deutschlands und führten in beiden Teilen des Landes zu skurilen Verboten.
Auch im zweiten Band geht es dann „einmal um die Welt“, diesmal aus der Perspektive der beiden Nachkriegsdeutschlands. Schreiner betont die Bedeutung der Soldatensender im Westen, erwähnt die musikalische Südsee-Mode, erklärt die Faszination des Skiffle, und beschreibt, wie sich brasilianische Klänge auf dem anfänglichen Umweg über Paris auch in Deutschland ausbreiteten. Er geht den Ursprüngen des Mambo auf den Grund, der ab den 1940er Jahren zur großen Mode in New York wurde, und erklärt, wie aus diesem der Chachachá wurde, der spätestens in den 1960er Jahren die deutschen Tanzschulen flutete. Er erzählt die Geschichte des Calypso anhand der Biographie Lord Kitcheners, schaut auf Leben und Karriere des Trompeters Billy Mo („Ich kauf mir lieber einen Tirolerhut“) und begleitet Harry Belafonte auf Konzertreisen nach Deutschland (West wie Ost).
Er diskutiert die verschiedenen Tanzmoden der Zeit, Folklore-Performances etwa afrikanischer Truppen, überhaupt die Idee eines schwarzen Balletts, macht Ausflüge in Diskurse um Négritude und Panafrikanismus, diskutiert den europäischen Blick auf den Orient und hinterfragt die Mode des Bauchtanzes, der ab 1980 in Frankfurt sogar in einer speziellen Schule unterrichtet wird. Ähnliche Blicke wirft Schreiner auf die Exotisierung brasilianischer, mexikanischer und anderer südamerikanischer Kultur.
Die 1960er Jahren beschreibt Schreiner als ein „Jahrzehnt voller Brüche und Sprünge“. Hippie-Mode, Partyexzesse, Schlager in West und Ost, die sehr bewusst die Klischees fremder Länder heraufbeschwören, die Bossa Nova, die erst die USA, bald aber auch Europa eroberte, oft in Kombination mit Jazzmusikern, Stan Getz in den USA, Caterina Valente in Deutschland. Schreiner beleuchtet die Zeit, in der das politisch engagierte Lied dem deutschen Schlager wie eine Art Gegenentwurf gegenübergestellt wurde, diskutiert die Bedeutung von internationalen Songwettbewerben und entdeckt neue Präsentationsformen exotischer Kultur, etwa durch die Konzertveranstalter Lippmann + Rau, die in den 1960er Jahren eintägige Blues-, Gospel-, Flamenco- und Brasilienfestivals organisierten. Hier kommt dann auch Joachim Ernst Berendt ins Spiel, der in den 1960er Jahren in der Mischung von Jazz und Musikern anderer Länder eine spannende Entwicklung und sich selbst als einen Vorreiter dessen sah, was bald als „Weltmusik“ bezeichnet wurde. Schreiner beschreibt, welche Bedeutung die Einzugsmusik für die Olympischen Spiele 1972 in München hatte, und er diskutiert, wie wichtig Auslandstourneen (organisiert beispielsweise vom Goethe-Institut) für viele der beteiligten Musiker waren.
Die 1960er Jahre waren hierzulande auch das Jahrzehnt des Folk, also beschreibt Schreiner auch diese Thematik: deutsche Volksmusik im Nachgang des Nazireichs, Einfluss des amerikanischen Protestsongs, das Waldeck-Festival, Liedermacher, Folk-Rock, den Unterschied in Wahrnehmung und Präsentation zwischen West- und Ostdeutschland. Die 1970er Jahre sieht er als Jahrzehnt sowohl der Amerikanisierung wie auch der Internationalisierung, diskutiert die Musik von Bands wie Kraftwerk, Klaus Schulze und The Can, aber auch die Hits von Tony Marshall, Costa Cordalis und der Les Humphries Singers. Und er nimmt die Rolle von Musik in Solidaritätsveranstaltungen mit den Opfern der chilenischen Militärdiktatur unter die Lupe oder bei Anti-Vietnam-Kriegs-Demonstrationen, bei Veranstaltungen zur Unterstützung Kubas und anderem mehr. Schließlich blickt er noch in die Fußgängerzonen der 1990er Jahre, die mittlerweile peruanische Folkloreensembles als Geschäftsmodell entdeckt hatten.
Im dritten Band nimmt sich Schreiner das letzte Viertel des 20sten Jahrhunderts vor, „Afrobeat, Salsa, Reggae & Co.“, wie er es unterschreibt. Ende der 1970er Jahre nahm das Interesse an afrikanischer Kultur hierzulande enorm zu, konstatiert er und führt als Beleg an: den Afrika-Schwerpunkt der Berliner Jazztage, das Festival der Weltkulturen „Horizonte“, die Documenta und die Frankfurter Buchmesse, die sich jeweils Afrika gegenüber öffneten. Afrikanische Popmusik wurde auch in Deutschland rezipiert, vor allem aber gab es inzwischen afrikanische Communities in den hiesigen Großstädten, die ihre eigene Kultur pflegten. Und schließlich spielt zum Ende des Jahrtausends auch das Internet eine Rolle dabei, dass die Welt kleiner und damit der Austausch zwischen den Kulturen fließender wird.
Schreiner beginnt diesen dritten Band mit einem Rückblick auf hundert Jahre, die afrikanische Musik als Quelle für Popmusik diente, ein Kapitel, in dem er auch die sich laufend wandelnden Klischees, Vorurteile und Rassismen thematisiert. Er schreibt über die Bedeutung von Musik in verschiedenen Teilen des afrikanischen Kontinents, über Instrumente, Rituale, Tanz, und über den Einfluss der europäischen Kolonialherren mit ihren Hymnen und Chorälen. Er hört sich Beispiele populärer Musik aus Ostafrika an, aus Afrolusamerica, also dem Dreieck zwischen Portugal, Brasilien und Afrika, aus Süd- und West- und Zentralafrika. Er befasst sich mit den musikalischen Auswirkungen kolonialer Umsiedlungspolitik in einem Unterkapitel, das er überschreibt „Kwela und Apartheid“. Er sinniert über Rumba und „Jazz“ in afrikanischer Kultur, „Jazz“ in Anführungsstrichen, weil es eine ganz andere Art von Musik ist als der Jazz, den wir aus den USA kennen. Er stellt die Griots vor, die in Westafrika traditionelle Funktion haben, über die Jahre dann regelrecht zu Popmusikern wurden. Er verweist auf Theorien, die afrikanische Quellen von Blues und Jazz verfolgen. Er benennt Festivals afrikanischer Kultur, die letzten Endes ein neues Selbstbewusstsein spezifisch afrikanischer Kultur schufen. Er weiß um die Afropop-Bewegung der 1970er Jahre, Fela Kuti, Manu Dibango, Thomas Mapfumo, Baaba Maal. Er stellt die 1980er Jahre als ein Jahrzehnt vor, in dem zahlreiche Musiker aus unterschiedlichen, meist durch Krisen ausgelösten Gründen, ihre Heimat verließen, und benennt insbesondere Kriege, Hungersnöte und HIV/AIDS als Gründe für das kulturelle Austrocknen der afrikanischen Musikszene jener Zeit.
Zugleich ist das letzte Viertel des 20sten Jahrhunderts eine Zeit der kulturellen Globalisierung, wie es sie zuvor nie gegeben hatte. Die europäische Hölle, hieß es in Bamako, sei immer noch besser als das afrikanische Paradies. Schreiner beschreibt eine der stärksten Veränderungen bei diesem musikalischen Exodus vieler Künstler: Sie spielten vor einem neuen, ganz anderen Publikum, das auch anders reagierte; und sie mussten sich über kurz oder lang auf eine Art Crossover einlassen, der die musikalischen Traditionen und Moden beider Welten berücksichtigt. Paris war eines der wichtigsten Zentren afrikanischer Musik in Europa, aber auch in London ließen sich ab den Mitt-1980er Jahren zahlreiche afrikanische Stars nieder. Sie alle inspirieren europäische oder amerikanische Popmusiker, gehen ins Studio, produzieren Hits, die ein junges Publikum erreichen und die Neugier auf afrikanische Musik verstärken. Kurz lässt Schreiner Vorläufer eines solchen Interesses Revue passieren: von Miriam Makebas „Pata Pata“ bis zu „The Lion Sleeps Tonight“, das auf einem südafrikanischen Lied basiert.
Musik und Politik gingen Hand in Hand, wie Schreiner in einem Zwischenkapitel betont, in dem er die Afrikapolitik Westdeutschlands und der DDR vergleicht. Dann wird er konkret, erzählt die Geschichte hinter dem Horizonte-Festival „Afrika“ von 1979, für das Willy Brandt ein Vorwort schrieb, verweist auf die Bemühungen zahlreicher Stars in den 1980ern, die (West-)Deutschen auf die Hungersnot in der Sahelzone aufmerksam zu machen (Stichwort: Karlheinz Böhm in „Wetten, dass?“). Er erzählt von Afrika-Begenungen europäischer Musiker wie Jasper Van’t Hoff, Embryo und Hartmut Geerken, und vom Einsatz europäischer und amerikanischer Popmusiker gegen die Apartheid in Südafrika. Er berichtet über das Schicksal afrikanischer Musiker, die sich entschieden in Deutschland zu bleiben und sich dabei manchmal, wie er schreibt, für ein „Nomandenleben zwischen Bühne und Volkshochschule“ entschieden. Und er stellt fest, wie deutsche Musiker von ihren afrikanischen Kollegen lernen, vielleicht ja selbst einmal zu Griots werden könnten, aber mit deutschen Texten.
Es ist ein sich wandelnder globaler Markt, den er da beschreibt, und auch das Goethe-Institut hat mit seiner Kulturarbeit im Ausland einen Anteil daran. In Zeiten des „America First!“ diskutiere man anders über kulturelle Identität, auch die UNESCO habe den Handlungsbedarf erkannt. Nebenbei erzählt Schreiner dann auch noch über die Problematik der sogenannten Ausländersteuer für Musiker aus Afrika oder Lateinamerika oder von dem Versuch Quoten einheimischer Musik im bundesdeutschen Rundfunk durchzusetzen.
Bleibt der Reggae: Auch hier blickt Schreiner zurück auf die Ursprünge, zeichnet die Entwicklung über Mento und Ska nach, erklärt seine (textliche wie musikalische) Sprache, seinen Einfluss auf die Londoner Musikszene, und schließlich die Rezeption des Genres in Deutschland. Was fehlt noch? Die ganz unterschiedliche Aspekte des Exotischen aufnehmende Musik des New Age etwa; Taiko, die Trommelkunst aus Japan, die seit den 1980er Jahren auch in Deutschland viele Anhänger fand; die „Erneuerung des Tango“, wie Schreiner sie nennt, also alles im Gefolge von Astor Piazzolla, aber eben auch die Mode des Tangotanzens in deutschen Großstädten; der Buena Vista Social Club natürlich und seine Auswirkungen auf eine neue Rezeption (und Exotisierung) kubanischer Musik.
Überall, ahnt man ja schon vor der Lektüre, weiß es aber danach noch weit besser, hat die Auseinandersetzung mit den Musiken dieser Welt ihre Spuren hinterlassen. Claus Schreiner gelingt eine Darstellung dieser Spuren in einem fürwahr umfassenden, trotz zahlreicher Verweise und Fußnoten keineswegs wissenschaftlichen, sondern gern auch persönlich-polemischen Werk, das auf Jahrzehnten an Forschung und Erfahrung, an Lektüre und Gesprächen des Marburger Konzertveranstalters, Plattenproduzenten und Lobbyisten für die Musik fusst.
Als Leser:in wird man schnell dazu animiert, die drei Bücher irgendwo aufzuschlagen und sich in den flüssig geschriebenen und immer den musikalischen Laien mitdenkenden Passagen festzulesen. Zum Schluss eines jeden Kapitels gibt es zudem Verweise – nicht nur auf externe Quellen, sondern auch auf solche in den drei vorliegenden Bänden. Schreiner springt vor und zurück, ihm ist das Narrativ des jeweils fokussierten Themas wichtiger als eine rein chronologische Darstellungsweise. Und immer wieder finden sich seine Kommentare aus dem Hier und Jetzt, aus aktuellen Diskursen etwa auch aus dem Themenkomplex kulturelle Aneignung vs. kulturelle Wertschätzung.
„Schöner fremder Klang“ ist ein spannendes Lesebuch (nein, gleich drei davon), unbedingt empfehlenswert, gerade weil Schreiner nicht in Genres denkt, sondern höchstens in Szenen, die menschliche Beziehungsebenen genauso spiegeln wie Marktmechanismen.
Wolfram Knauer (März 2023)
Artistic Research in Jazz. Positions, Theories, Methods
herausgegeben von Michael Kahr
New York 2022 (Routledge])
224 Seiten, 130 Britische Pfund
ISBN: 9780367225957
Das Forschungsfeld des „artistic research“ ist im Bereich der Bildenden Kunst schon lange eingeführt, im Jazz allerdings noch recht neu. Der österreichische Pianist, Komponist und Musikwissenschaftler Michael Kahr befasst sich mit dem Thema nicht erst seit seiner eigenen künstlerischen Forschung zur Jazzgeschichte der Stadt Graz; er hat jetzt außerdem die erste Sammlung an Aufsätzen herausgegeben, die unterschiedliche Ansätze an „artistic research“ diskutieren.
Marcel Cobussen beginnt mit grundlegenden Fragen: Wie lässt sich künstlerische Forschung im Bereich von Jazz und Improvisation durchführen, und was kann Improvisation zum Feld der künstlerischen Forschung beitragen? Konkret befasst er sich mit dem improvisierenden Körper und den Erkenntnissen, die sich ergeben, wenn man Improvisieren lernt, sowie mit der Improvisation als Methode, als kontinuierlich experimentierende Praxis, nicht also als ein Abrufen vorher eingeübter Patterns.
Vincent Meelberg diskutiert die musikalische Improvisation als taktile Praxis, also etwa, welche Auswirkungen die Erfahrung des Anfassens, der körperlichen Handhabung des Instruments, auf das Musikmachen haben. Dazu untersucht er die Aufnahme einer Performance, die er selbst mit seinem Trio eingespielt hat, und fragt an jeder Stelle, was neben dem reinen Hören an körperlichen Sensationen zu spüren war.
Chris Stover beleuchtet die Interaktion zwischen der musikalischen Praxis des Jazz und daraus resultierenden musiktheoretischen oder analytischen Diskursen. Herausgeber Michael Kahr selbst zitiert den Rektor der Universität für angewandte Kunst Wien, der betont, dass Musik doch schon lange künstlerische Forschung gewesen sei, und diskutiert dann konkrete Beispiele aus der Jazzgeschichte, George Russells „Lydian Chromatic Concept of Tonal Organization“ etwa, David Baker, Dave Liebman, Bill Dobbins und andere. Er betont auch die oft vorhandene Nähe herkömmlicher musikwissenschaftlicher Analyse zur erklingenden Musik der Analysierenden (Dieter Glawischnig) und das Bedürfnis zahlreicher Musiker öffentlich über ihre Musik (oder die anderer) zu reflektieren (Ethan Iverson).
Petter Frost Fadnes diskutiert die Entfremdung zwischen der Jazzwelt und jener der „academy“, der intellektuellen Auseinandersetzung mit und über Jazz. Er zeichnet den Weg des „artistic research“ in die Hochschulen nach und versucht zu erklären, warum Ansätze künstlerischer Forschung es ausgerechnet im Bereich des Jazz so schwer haben und was zu tun wäre, um die Situation zu verbessern.
Auch Tracy McMullen bleibt an den Hochschulen und fragt, was dort eigentlich gelehrt wird, wenn es um Jazz geht. Sie zitiert Jason Moran, der vor kurzem gesagt habe, an Hochschulen unterrichte man zwar das „Wie“, selten aber das „Warum“ oder „Wofür“. Sie beleuchtet die (amerikanische) Akademisierung der Jazzpädagogik und zeigt, wie die aktuellen Diskurse heute wieder sehr bewusst aus den Institutionen hinaus und auf die gesellschaftlichen Diskurse im Allgemeinen blicken. Auch William C. Banfield berichtet aus der Praxis seiner eigenen Unterrichtserfahrungen und hinterfragt dabei die Rolle musikalischer (und sonstiger) Bildung ganz generell. Die Bedeutung des Jazz, resümiert er, wird daran gemessen werden, wie er sich aktuellen Diskursen gegenüber verhält, nicht daran, wie glorreich seine Geschichte ist oder wie stark er swingt.
Die letzten vier Kapitel bringen konkrete Beispiele für künstlerischeForschung. Roger T. Dean analysiert Miles Davis‘ Aufnahme von „Shhh/Peaceful“ insbesondere mit Hinblick auf den Editionsprozess im Studio und die daraus resultierenden Veränderungen der ursprünglich improvisierten Musik. Robert L. Burke beschreibt einen analytischen Ansatz, mithilfe dessen Musiker:innen quasi ihre eigenen improvisatorische Praxis hinterfragen können und exemplifiziert diesen Ansatz dann am eigenen Beispiel. Marc Dubry beleuchtet seine Arbeit mit anderen südafrikanischen Musikern. Und Andrew Bain beschreibt die den Entstehungsprozess seiner „Embodied Hope“-Suite als Ergebnis von Vorplanung, Diskussion und Kompromiss.
„Artistic Research in Jazz“ ist weder eine Anleitung zur künstlerischen Forschung noch beschreibt sie das Gebiet ganz konkret und lexikonhaft. Alle Autor:innen (nunja, tatsächlich befindet sich nur eine Autorin unter ihnen) haben eine leicht andere Vorstellung von artistic research – aber das ist kein Wunder, handelt es sich hier doch um eine offene Praxis, die in unserem Fall in der Improvisation die Möglichkeit sieht, zusätzliches Wissen zu generieren.
Was also ist artistic research? Ich weiß es immer noch nicht knapp zu erklären, aber das Buch gibt mir zumindest eine Vorstellung davon, was es sein könnte.
Wolfram Knauer (März 2023)
Ain’t But a Few of Us. Black Music Writers Tell Their Story
herausgegeben von Willard Jenkins
Durham/NC 2022 (Duke University Press)
328 Seiten, 27,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-4780-1903-9
Der Journalist und Herausgeber dieses Buchs Willard Jenkins erzählt im Vorwort seine eigene Geschichte, wie er vom jugendlichen Jazzfan zum Jazzjournalisten wurde, erst für ein Studentenblatt, dann für die lokale Tageszeitung, schließlich für Wochenmagazine und Jazzperiodika. Er rezensierte Platten, Konzerte und reiste zu Festivals. Er las, was andere schrieben, und er unterstützte die wenigen afro-amerikanischen Publikationen zum Jazz mit Beiträgen. In den 1980er Jahren dokumentierte er die Jazz Community um die Great Lakes (Illinois, Indiana, Michigan, Ohio) fürs National Endowment for the Arts, arbeitete dann für den Kulturveranstalter Arts Midwest. Er veröffentlichte einen eigenen Newsletter, war Gründungsmitglied der Jazz Journalists‘ Association und Co-Autor der Autobiographie Randy Westons, und er rief seinen eigenen Blog ins Leben, „Independent Ear“. Immer blieb ihm bewusst, dass er in diesem Metier einer der ganz wenigen afro-amerikanischen Autoren über Jazz war. Auf seinem Blog begann er 2009 eine Interviewreihe mit schwarzen Kolleg:innen, aus der schließlich das vorliegende Buch entstand, in dem er unterschiedliche Perspektiven und berufliche Standorte reflektiert.
Jenkins beginnt sein Buch mit einem Roundtable, bei dem sechs Journalisten und eine Journalistin über ihren Weg zum Schreiben über Jazz berichten. Eric Arnold nennt LeRoi Jones‘ „Blues People“ als erste Inspiration; Jordannah Elizabeth erinnert sich an ihren ersten Blog, der schnell viele Zugriffe erhielt; für Bill Francis kam die Beschäftigung mit dem Jazz aus der Familie; Steve Monroe hatte ursprünglich über Sport geschrieben und wollte sich umorientieren; Rahsaan Clark Morris hatte Amiri Barakas „Jazz and the White Critic“ gelesen; Robin Washington produzierte eine Rundfunksendung über Coltranes „My Favorite Things“; und K. Leander Williams hatte schon im College über Musik geschrieben. Nicht allen von ihnen war der Mangel schwarzer Autoren zum Jazz bewusst: Natürlich lag die Macht des Musikbusiness in weißen Händen; in der schwarzen Community wurde die New York Times eben seltener gelesen als in weißen bürgerlichen Kreisen. Dieses Unverhältnis aber habe Auswirkungen darauf gehabt, wie über die Musik selbst berichtet wurde. „White jazz writers“, zitiert Elizabeth voller Überzeugung Amiri Baraka, „don’t have the emotional, experiential, existential, historical connection with jazz.“ Und Washington, der eigentlich jede Frage mit einem erneuten Hinweis auf seine Coltrane-Sendung beantwortet, beklagt, dass weiße „Experten“ manchmal nicht einmal zuhören, um die Perspektive ihrer schwarzen Kolleg:innen zu verstehen. Die Lösung liege leider auch nicht bei Publikationen, die sich speziell an eine afro-amerikanische Leserschaft richten, argwöhnt Williams, denn auch diese fokussierten ihr Interesse vor allem auf den Massengeschmack.
Im zweiten Kapitel spricht Jenkins mit zehn Autor:innen: Wissenschafter:innen wie Farah Jasmine Griffin und Tammy Kernodle, Biographen und Kulturjournalisten wie Robin D.G. Kelley und Guthrie P. Ramsey Jr., einflussreichen Schriftstellern wie A.B. Spellman und Greg Tate. Sie erzählen ausführlich über ihren eigenen Lebensweg, über ihren Ansatz ans Schreiben über Jazz, an Interviews oder biographische Forschung, über Zweifel an ihrer Arbeit und am Verkaufswert ihrer Publikationen. Beispiel: Als Karen Chilton ihr Manuskript zu einer Hazel Scott-Biographie verschiedenen Verlagen anbot, hörte sie als Antwort: „Hazel Scott, wo is she?“, und dann schauten die Verleger Chilton an und fragten: „And who are you?“
Für Kapitel 3 unterhält Jenkins sich mit vier Herausgebern schwarzer Zeitschriften, nämlich Pure Jazz, Jazz Spotlite News, Jazz Now, und The Crackle. Zu unserer Überraschung erinnert sich Haybert Houston, Herausgeber der kalifornischen Zeitschrift Jazz Now, wie eine „organization in Germany, the Jazz Institute in Darmstadt“ ihm seinerzeit, Anfang der 1990er Jahre, als er gerade mit dem Magazin angefangen hatte, enorm geholfen habe.
In Kapitel 4 kommen Robin James und Ron Scott zu Wort, zwei Journalisten, die für afro-amerikanische Zeitschriften schreiben. In Kapitel 5 unterhält Jenkins sich mit „magazine freelancers“, Autor:innen also, die für die Musik- und Jazzpresse arbeiten, für Jazz Times, Down Beat, Billboard und andere Journale. Kapitel 6 widmet sich Autoren, die eine Weile als „staff reporters“ oder „columnists“ in Zeitungen fest angestellt waren, konkret Martin Johnson (Amsterdam News), Greg Thomas (New York Daily News) und Hollie West (Washington Post). Und in Kapitel 7 kommen jüngere Autor:innen zu Wort, die oft genug im Internet auf Blogs oder in spezifellen Musikportalen publizieren.
Die Anthologie zum Schluss des Buchs versammelt wichtige Texte, die sowohl den Jazz als auch das Schreiben über den Jazz thematisieren. LeRoi Jones‘ „Jazz and the White Critic“ (1963) ist genauso dabei wie Marc Crawfords Nachruf auf Bud Powell (1966); Barbara Gardners Horace Silver-Story (1963); A.B. Spellmans Rezension eines John Coltrane-Konzerts (1965); Bill Quinns Feature über den Saxophonisten Bunky Green; Stanley Crouchs Abrechnung mit der weißen Musikindustrie (2003); Eugene Holley Jr.s Problem mit dem (weißen) Pianisten Bill Evans (2013); Ron Wynns Frage nach einem schwarzen Publikum für Jazz (2003); Anthony Dean-Harris‘ Ruf nach schwarzen Stimmen in der Jazzpresse (2013); Robin D.G. Kelleys Bericht darüber, wie Musiker Anfang der 2000er Jahre in Brooklyn ihr schwarzes Publikum fanden, während in den Clubs Manhattans vor allem weiße Zuhörer saßen; sowie Texte von Playthell Benjamin, Ron Welburn, Greg Tate und John Murph. Schließlich finden sich noch ein paar Beispiele von Musikern, die auch als Autoren in Erscheinung traten, Billy Taylor in einer Reaktion auf einen Artikel über Art Tatum, Wayne Shorter über Kreativität und Wandel, Archie Shepp über die politische und ästhetische Realität der 1960er Jahre, Herbie Nichols über Thelonious Monk, und Rex Stewart über Fletcher Henderson.
Willard Jenkins‘ Buch ist eine wichtige Sammlung, eine Perspektivverschiebung besonderer Art. Sie passt in den Zeitgeist, in dem ja oft genug (und durchaus zu Recht) gefordert wird, dass die Stimmen der „Betroffenen“, also jene aus den Communities selbst zu Worte kommen sollten. Sie stellt verschiedene Haltungen nebeneinander, gemäßigte Stimmen und solche, die in der mangelnden Präsenz schwarzer Autoren ein grundsätzliches Problem eines rassistischen Musikbusiness erkennen. Am Rande kommt (in einem Beitrag von Ron Welburn über Ekkehard Josts Free Jazz-Buch und Joachim Ernst Berendts Jazz Meets the World-Plattenreihe) auch der europäische Diskurs zu Wort, den Welburn einerseits als analytisch genauer beschreibt als der amerikanische der Zeit, der zugleich aber auch deutlich andere Wege dokumentierte als man sie im amerikanischen Jazz kannte.
Jenkins‘ Buch ist zugleich ein Weckruf zumindest an US-Publikationen, mehr afro-amerikanische Autor:innen zu Worte kommen zu lassen. Als vor ein paar Jahren, beklagt John Murph, Down Beat einen neuen Herausgeber suchte, habe die Stellenanzeige „black and brown writers“ sicher nicht im selben Maße erreicht wie ihre weißen Kollegen. Daran, so die zwischen den Zeilen überall durchscheinende Forderung, muss sich etwas ändern. Daran, so die Hoffnung, die man zugleich mitliest, hat sich bereits einiges geändert. Willard Jenkins ist damit quasi Chronist einer Entwicklung, die durch die Veröffentlichung seines Buchs einen stärkeren Schub erhalten könnte.
Wolfram Knauer (Januar 2023)
Phil Seamen, ‚Percussion Genius‘. Legendary Rebel and Born Raver
von Peter Dawn
Wick/UK 2022 (Brown Dog Books)
752 Seiten, 45 Britische Pfund
ISBN: 978-1-83952-391-5
Zu bestellen über https://philseamen.com/products/phil-seamen-percussion-genius
„Ich hörte Phil Seamen zum ersten Mal, als ich 16 Jahre alt war, 1957, im Flamingo Club. All seine Kollegen und ich ganz besonders, als junger, aufstrebender Schlagzeuger, sahen in ihm unseren Helden. Er spielte bewunderswert und mit phänomenaler Technik. Wahrscheinlich der beste, den wir jemals hatten.“ Wer da so schwärmt? Kein Geringerer als Charlie Watts, Rolling-Stones-Drummer und lebenslanger Jazzfan. Über wen er so spricht? Phil Seamen, einer der angesagtesten britischen Schlagzeuger der 1950er und 1960er Jahre, der 1972 im Alter von nur 46 Jahren verstarb.
Seamens Name ist irgendwie Legende – man hat schon mal um Ecken von ihm gehört, weil so viele ältere Musiker von ihm schwärmten, aber was er wirklich machte, wie er wirklich klang, wie er lebte und warum er so früh verstarb… man müsste es mal googeln. Jetzt hat Peter Dawn eine monumentale Biographie des Schlagzeugers vorgelegt, über 700 Seiten, intensiv recherchiert.
Seamen wurde 1926 in Burton on Trent geboren. Mit vier Jahren, erzählte er später, begann er zu trommeln, mit acht erhielt er sein erstes Schlagzeug-Set. Nur wenige Monate später gab er sein erstes Konzert, zusammen mit seiner Tante Sal für Patienten einer psychiatrischen Klinik. Dawn beschreibt das Leben in Burton, die Nachbarschaft, in der Seamen aufwächst. Phil macht eine Ausbildung zum Elektriker in der Brauerei, in der auch sein Vater arbeitete. Mit der Band des Saxophonisten Len Reynolds spielte er zum Tanz, mit den Metro Rhythm Boys, einer Art Band in dne Band, spielte er Boogie Woogie und Jazz. An seinem 19. Geburtstag schloss er seine Elektrikerlehre ab, kurz darauf entschied er sich den Weg des professionellen Musikers einzuschlagen.
Seamen wurde Schlagzeuger der populären Nat Gonella Band, mit der er nicht nur in England, sondern auch in Belgien, Holland, Frankreich und Deutschland auftrat. 1947 entdeckte er Aufnahmen der Dizzy Gillespie Big Band und war gefangen vom Bebop als Stil und von den Schlagzeugern, die darin neue Wege gingen, Kenny Clarke, Max Roach, Art Blakey. Mit Tommy Sampsons Band spielte er Stan Kenton-Arrangements, mit anderen Bands Stücke aus Gillespies Repertoire. Dawn verfolgt Seamens Engagements, zitiert aus Presserezensionen und spricht mit Zeitzeugen. In einem eigenen Kapitel beschreibt er die Londoner Jazzszene der 1940er und 1950er Jahre, in der Seamen den Reiz afrikanischer Rhythmen entdeckte, mit Musikern aus Nigeria abhing und all diese Erfahrungen in Kenny Grahams Afro Cubists einbrachte, eine Band, die sich an der afro-kubanischen Musik orientierte, die im New York jener Jahre der große Hit war.
Seamen tourte mit der Band Jack Parnells, begleitete Billie Holiday bei einem Konzert in London und trat in der Show „Jazz Wagon“ auf. Mittlerweile gehörte er zu den wichtigsten modernen britischen Jazzern um Tubby Hayes und Ronnie Scott. Es war ein Leben voller Musik: Tournee, Theater- oder Clubkonzerte, Studio-Sessions, Rundfunk-Gigs, und Seamen war irgendwie immer der bevorzugte Schlagzeuger.
Am 10. März 1956 heiratete Seamen seine langjährige Freundin Leonie; die Hochzeitsnacht verbrachten sie bei einem Konzert der Sängerin Ella Fitzgerald, die gerade in der Stadt war. Im Herbst des Jahres trat Seamen dann erstmals mit seinem eigenen Quintett auf, dem eine Weile auch der amerikanische Bassist Major Holley angehörte. Anfang 1957 wurde Ronnie Scotts Sextett für eine USA-Tournee gebucht, Seamen aber schaffte es nicht einmal auf die Queen Elizabeth. Ein Zollbeamter warf nur einen Blick auf ihn, schreibt Dawn, nahm ihn dann beiseite, durchsuchte ihn und fand … Heroin. Seamen landete im Untersuchungsknast, seine Frau schaffte mit Mühen sein Instrument per Zug und Taxi zurück nach Hause. Am Ende kam Seamen mit einer Strafe von 80 Pfund davon, von jetz ab aber ist seine Geschichte auch in Dawns Buch eine vom erfolgreichen Schlagtzeuger einerseits, vom abhängigen Junkie andererseits. Den Schuss habe er sich immer heimlich gesetzt, erinnert sich seine damalige Frau, habe ein oder zweimal ein Methadonprogramm probiert, ansonsten viel getrunken: „Er mochte alles, was ihm irgendwie einen Buzz gab.“ Für die Ehe war das letzten Endes zu viel; sie brach auseinander.
Seamen spielte mit Don Rendell und Dizzy Reece, und als Leonard Bernstein seine „West Side Story“ in London aufführen wollte, entschied er sich für Phil als den einzigen geeigneten Schlagzeuger, der Noten lesen und zugleich swingen konnte. Dazu muss man um eine Besonderheit der Beziehung zwischen amerikanischen und britischen Musikern in jenen Jahren wissen: die britische Musikergewerkschaften nämlich hatte erwirkt, dass amerikanische Musiker nur in Ausnahmefällen in Großbritannien auftreten durften. Weiter geht’s mit namhaften Gigs: Jazz Couriers, Tubby Hayes, Ronnie Scott’s erster Club, Aufnahmen für Platten, Rundfunk und Fernsehen.
Rückschläge: Tubby Hayes gefiel es nicht, dass sich Seamen zu sehr in den Vordergrund spielte. Der Rauswurf war aber kein Problem; Seamen spielte mit Ensembles jeglicher stilistischer Ausrichtung, mit dem Joe Harriott Quintet genauso wie mit Alexis Korner’s Blues Incorporated, und er begleite viele begleitete amerikanische Stars bei ihren Gigs im Vereinigten Königreich.
Vom 1969 stammt ein ausführliches Interview des amerikanischen Journalkisten Harry Frost mit Seamen, bei dem auch die Auswirkungen von Drogen auf seine Musik zur Sprache kommen, bei dem er offen über die verschiedenen Substanzen spricht, die er zu sich nahm. Dawn ergänzt das Interview mit Statements aus Seamens Freundeskreis über seine Sucht und darüber, dass er immer wie ein anderer Mensch gewesen sei, wenn er mal wieder aus einer Suchtklinik entlassen wurde.
Ein ausführliches Kapitel widmet Dawn Seamens Schlagzeugspiel, lässt auch hier Seamen selbst sowie Kollegen zu Worte kommen. Nach Alexis Korners Band spielte Seamen in modernen genauso wie in Trad Bands, wie sie damals in England Mode waren; er hing mit Ginger Baker ab, und er wurde Schlagzeuger in Georgie Fame’s Blue Flames Band. Weiter Namen: Dick Morrissey, die Harry South Big Band, Schlagzeug hinter Roland Kirk, Zoot Sims, Freddie Hubbard. Festivals und kleine Pubs, Ginger Bakers Band Air Force, Pläne für die Zukunft. Und dann kam jener schicksalshafte Tag, Freitag, der 13. Oktober 1972. Seamen fuhr mit dem Zug von Wimbledon zur Waterloo Station. Dort aber stieg er, was damals noch möglich war, auf der falschen Seite des Zuges aus, und fiel auf die stromführende dritte Schiene. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert, ging auf eigenes Risiko nach Hause, nahm Schlaftabletten, um runterzukommen, und starb noch in derselben Nacht.
Peter Dawns Buch ist eine ausführliche Würdigung des Lebens und Schaffens von Phil Seamen, „warts and all“, wie man im Englischen sagt, Höhen und Tiefen. Dawn hat sich wirklich ins Thema hineinvertieft, mit Zeitzeugen, Freunden, Verwandten gesprochen, alte Interviews herausgekramt und transkribiert, lässt Kollegen zu Worte kommen, beschreibt Seamens musikalischen Ansatz an sein Instrument, lässt aber auch die dunklen Seiten nicht aus, den Alkohol, die Drogen, die vielleicht nicht direkt, sicher aber indirekt mit verantwortlich waren für seinen Tod.
Dawn erzählt dabei ein wichtiges Kapitel britischer Jazzgeschichte, en detail, für den mit dieser Geschichte weniger vertrauten Leser vielleicht ein wenig zu sehr im Detail. Gerade angesichts der Gebrochenheit dieser Musikerpersönlichkeit aber ist Dawns sorgfältige Dokumentation mehr als gerechtfertigt. Er erweckt den Schlagzeuger quasi fünfzig Jahre nach seinem Tod zu neuem Leben. Und Dawn lässt die Worte nicht trocken auf dem Papier stehen. Auf der Website https://philseamen.com hat er die Musik (als kostenpflichtige Downloads) und Filmausschnite (als Links) des Schlagzeugers versammelt. Sein Buch füllt ohne Zweifel eine Lücke und ist gerade wegen der deutlichen Darstellung der verschiedenen Seiten des Phil Seamen lesenswert.
Wolfram Knauer (Februar 2023)
The Sam Rivers Sessionography. Attempting a Complete Historical Arc
von Rick Lopez
New York 2022 (The Vortex)
769 Seiten, 65 US-Dollar
ISBN: 978-0-578-94871-3
http://www.bb10k.com/
„Sessionology“: Fangen wir mit der Erklärung des Begriffs an: Während eine Diskographie meist vor allem veröffentlichte Aufnahmen eines Künstlers auflistet, mit Angaben über Besetzung, Aufnahmedatum und -ort, Label, Nummer, eventuelle Wiederveröffentlichungen und anderem mehr, geht die Sessionology darüber hinaus, nennt auch Mitschnitte, die oft nur in Sammlerkreisen kursieren, Liveaufnahmen für den Rundfunk, illegale Mitschnitte aus dem Publikum.
Rick Lopez, der ein ähnliches Unterfangen 2014 bereits für den Bassisten William Parker realisierte, hat sich nun also den Saxophonisten Sam Rivers vorgenommen. Er reiste nach Orlando, Florida, wo Rivers‘ Tochter Monique das RivBea Archive verwaltet, seinen Nachlass mit Geschäftspapieren, Fotoalben, Korrespondenz und jeder Menge sonstiger Dokumente.
Daraus bastelte Lopez sein Buch, das er selbst als ein „unvollständiges Puzzle“ beschreibt, eine Collage aus Informationen, die er über viele Jahre gesammelt hat. 1997 habe er das Projekt begonnen, erzählt er, damals als Website, nun also hat er es monumentale Monographie herausgebracht, 724 Exemplare nur, die Rivers‘ Plattenschaffen dokumentieren, seinen New Yorker Loft Rivea Studio, das für die New Yorker Avantgardeszene der 1970er Jahre so wichtig war, die Zusammenarbeit mit Kollegen, sein politisches und gesellschaftliches Engagement, sein Privatleben.
Es beginnt mit Erinnerungen des Saxophonisten selbst an seinen Vater, entnommen verschiedenen Interviews in Rundfunk und Musikzeitschriften. Wir finden seine Geburtsurkunde, erfahren über die ersten musikalischen Erfahrungen in der Kirche und seine ersten Instrumentalerfahrungen in der Schule. Während seines Wehrdienstes an der Westküste tritt er zum ersten Mal öffentlich auf, mit dem Bluessänger Jimmy Witherspoon. Danach zieht er nach Boston, schreibt sich am Boston Conersvatory of Music ein und spielt nebenher mit anderen Studenten, etwa Charlie Mariano oder Jaki Byard.
„46.00.00: Stanley Trotman Trio (?)“ – so beginnt der datenhuberische Teil des Buchs: Gemeint ist das Trio des Pianisten Trotman mit einem unbekannten Schlagzeuger und Rivers am Saxophon, von dem zwar keine Aufnahme erhalten sind, dafür aber ein Foto. Lopez listet verschiedene Bands in den Mitt-1940ern, die sich nicht genau datieren lassen und deren Besetzungen er aus Interviews zusammenklaubt.
Während des Studiums lernte Rivers Beatrice Perry kennen, die beiden heirateten im Oktober 1948, wir sehen die Heiratsurkunde. Lopez sammelt Erinnerungen an die Bostoner Bebop-Szene der späten 1940er Jahre, und: „49.00.00: Sam Rivers Sextet“: die erste Rundfunkübertragung, leider nicht erhalten. Die Aktivitäten dokumentiert Lopez mit Zeitungsausrissen von Ankündigungen seiner Engagements in Clubs und Konzerten, beispielsweise in der Rhythm & Blues-/Jump-Blues-Band von „Fat-Man Robinson“.
In den 1950er Jahren vermischen sich die Welten von Bebop und R&B für Musiker wie Rivers; ab 1957 begann Rivers daneben ernsthaft an einem eigenen Bandrepertoire zu arbeiten. 1958 stieg der in der Nachbarschaft wohnende gerade mal 12 Jahre alte Tony Williams ab und an ein. In diesen Jahren zog sich Rivers auch öfters zur „Lexington Cure“ in eine Entzugsklinik in Lexington, Kentucky, zurück – die Aufenthalte, für dessen Grund keine Informationen vorliegen, hätten eine wichtige Rolle für seine Entwicklung als Komponist gespielt.
In Boston experimentierte Rivers weiter mit den vielen jungen Musikern, die in der Stadt studierten, spielte Tanzgigs, tourte mit T-Bone Walker, war auf Sessions aktiv und trat mit eigenen Bands auf. Tony Williams brachte ihn 1964 für eine große Japan-Tournee als Ersatz George Colemans in die Band von Miles Davis. Jetzt auch beginnt die ernsthafte Diskographie in Lopez‘ Buch mit der Auflistung aller Mitschnitte der Tournee und Erinnerungen der Bandmitglieder oder von Beatrice Rivers. Zugleich ist das Engagement bei Miles Grund für Rivers‘ Umzug nach New York, wo er bald bei Aufnahmen des Blue Note-Labels mitwirkt, etwa mit Larry Young, Tony Williams und Bobby Hutcherson, daneben aber auch unter eigenem Namen („Fuchsia Swing Song“). Jetzt finden sich Ankündigungen und Interviewausschnitte über seine Arbeit mit Cecil Taylor, über Nachbarschaftskonzerte in Harlem, über Projekte, die insbesondere auf die afro-amerikanische Erfahrung Bezug nahmen.
Anfang der 1970er Jahre zog Rivers mit seiner Familie aus Harlem in die damals noch wenig attraktive Gegend südlich der Houston Street, wo er Musikunterricht geben und den jungen Musikern einen Probenraum zur Verfügung stellen wollte. Als George Wein 1972 mit seinem Newport Jazz Festival nach New York umzog, empfanden das zahlreiche der jungen, engagierten, aber nicht etablierten Musiker als Affront gegenüber ihrer so mühsam aufgebauten innovativen Szene. Als Reaktion organisierten sie ein Gegenfestival, das New York Musicians‘ Jazz Festival, das gegen freien oder geringen Eintritt in allen fünf Stadtteilen stattfand. Und so wurde das gerade erst gegründete Studio Rivbea, also Rivers‘ Loft auf der Bond Street, schnell zu einem der angesagtesten Orte für aktuelle Musik im New York der 1970er Jahre. Die Auflistung von Gigs, pädagogischen Angeboten, Workshops, Sessions, Aufnahmen nimmt zahlreiche Seiten ein. Und es muss wie eine Art Anerkennung der langen Arbeit gewirkt haben, als Rivers 1978 als Gast zum von President Jimmy Carter initiierten White House Jazz Festival eingeladen wurde. Kurz darauf allerdings, im August 1978, führte ein Wasserrohrbruch im Keller des Gebäudes dazu, dass Rivers seinen legendären Loft aufgeben musste.
Immerhin war er damals gut im Geschäft – er tourte regelmäßig durch Europa, nahm zahlreiche Platten auf, unter anderem mit seinem Quartett mit Joe Daley (Tuba), Dave Holland (Bass) und Thurman Barker (Drums). In den späten 1980er Jahren war er auch in der Bigband bzw. im Quintett Dizzy Gillespies unterwegs, wurde Anfang der 1990er Jahre Teil der Band Roots. Im November 2005 starb seine Beatrice in Florida, wohin die Familieetwa 1991 gezogen war. Rivers spielte weiter, bis zu seinem letzten Konzert im Oktober 2011 im Athens Theater in DeLand. Er wurde im Rollstuhl auf die Bühne gefahren, hing meist am Sauerstoff, spielte höchstens drei- oder viertaktige Soli. Am 6. Dezember starb er friedlich zuhause, in Orlando, im Alter von 88 Jahren.
Wie bereits angedeutet: Rick Lopez‘ Buch ist keinesfalls eine Biographie. Es ist auch keine Diskographie, und es ist keine Fotodokumentation. Und doch ist es irgendwie alles zugleich. Es lässt sich nicht in einem Stück lesen, dafür ist es auch gar nicht gedacht. Lopez sammelt Puzzleteilchen, von denen jedes einzelne spannend genug ist und eine weitere Perspektive auf die künstlerische Persönlichkeit des Sam Rivers vermittelt.
„The Sam Rivers Sessionography“ ist eine labor of love, unverzichtbar für Sam Rivers-Fans, und eine große Fundgrube für jeden, der über die freie Szene New Yorks in den späten 1960er bis frühen 1980er Jahren recherchiert.
Wolfram Knauer (Januar 2023)
Mein Gorilla hat ’ne Villa im Zoo. Die Weintraubs Syncopators zwischen Berlin und Australien
von Albrecht Dümling
Regensburg 2022 (ConBrio)
232 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-949425-03-5
Im Jahr 1924, als noch niemand ahnte, dass der Jazz mehr als eine kurze Modeerscheinung sein würde, gründete der Pianist Stefan Weintraub eine Kapelle, die bis in die 1930er Jahre die beliebteste Jazzband Deutschlands war. „Weintraubs Syncopators“ spielten zahlreiche Platten ein, gaben Konzerte auf Bühnen im ganzen Land Landes und waren im Film zu sehen (am bekanntesten im „Blauen Engel“ mit Marlene Dietrich). Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten gingen sie ins Exil, über die Sowjetunion und Japan nach Australien, wo Stefan Weintraub noch bis in die 1950er Jahre Musik machte, inzwischen nur noch als Hobby neben einem Brotjob.
Weintraubs Syncopators jedenfalls sind eine Legende der deutschen Unterhaltungsmusik, zu ihrer Zeit nicht weniger bekannt als die Comedian Harmonists. Jetzt hat der Musikhistoriker Albrecht Dümling, der seit Jahren zur Musikpolitik des NS-Staats sowie zum Musiker-Exil in Australien forscht, die Geschichte der Weintraubs in einem Buch dokumentiert.
In Breslau geboren, hatte Stefan Weintraub im Ersten Weltkrieg bei der leichten Infanterie gedient, und zog nach dem Krieg mit seinen Eltern nach Berlin-Charlottenburg. Er hatte als Kind Klavierunterricht genossen, sogar einen berühmten musikalischen Vorfahren gehabt, wie Dümling weiß, Salomon Weintraub nämlich, einen der bekanntesten jüdischen Kantoren Russlands. Sein Interesse aber galt Anfang der 1920er Jahre der neuen Modemusik, dem Jazz. Mit Freunden gründete er 1924 eine Tanzkapelle, die anfangs noch zum Spaß auftrat, nach populärem Erfolg aber bald zum Beruf der jungen Musiker wurde. Spätestens 1926 hieß die Band Weintraubs Syncopators, bereits im Sommer desselben Jahres war die Band im damals noch ganz jungen Rundfunk zu hören.
Berlin in den 1920er Jahren war eines der größten Zentren für Unterhaltungsmusik im Europa jener Zeit, und die Weintraubs spielten überall: in Cabarets, Ballsälen, auf Varietébühnen. Der Komponist Fridrich Hollaender engagierte sie für eine seiner Revuen und spielte dabei Klavier, so dass Weintraub zum Schlagzeug auswich. Dümling verfolgt all diese Aktivitäten, beschreibt dabei das Nachtleben der Hauptstadt genauso wie die junge Plattenindustrie, hört sich die ersten Aufnahmen der Band an, Instrumentals und Gesangsbegleitungen, zitiert aus zeitgenössischen Rezensionen über Revuen, beschreibt, wie Management und Publicity für eine Band in jener Zeit funktionierte. Die Weintraubs waren mittlerweile so bekannt geworden, dass der Maler Max Oppenheimer sie in einem Gemälde verewigte. Dümling erwähnt aber auch erste kritische Stimmen, die sich beispielsweise am amerikanischen Namen der Band störten und zunehmend am Jazzgehalt des Repertoires. Die Band war in ersten Tonfilmen präsent, und sie tourte extensiv durch Europa. 1932 wollten sie sogar New York erobern, das aber verhinderte die rigorose Auftrittspolitik der amerikanischen Musikergewerkschaft.
Die Programme ihrer Rundfunkauftritte zeigen die Bandbreite des Weinbtraubs-Repertoires zwischen Unterhaltungsmusik, Jazz und Operette. Der Jazz allerdings wich spätestens mit der Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler immer mehr Schlagern und „europäischer Folklore“. Im Herbst 1933 entschlossen sich die Bandmitglieder, die sich, wie Dümling schreibt, erst jetzt bewusst wurden, dass sie alle jüdischer Herkunft waren, von einer Tournee, die sie gerade in die Niederlande geführt hatte, nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren.
Das Exil begann also in Rotterdam. Die Weintraubs hatten sich einen Namen erspielt, der es ihnen leicht machte auch außerhalb Deutschlands Auftritte zu erhalten. Nach den Niederlanden ging es nach Belgien und in die Schweiz. Mitte der 1930er Jahre tourten die Musiker neun Monate lang durch das faschistische Italien, dann durch Österreich und die Tschechoslowakei. In Prag erhielten sie die Einladung zu einem 50-tägigen Russland-Engagement. Von dort ging es 1936 über die Mandschurei nach Japan, und 1937 schließlich nach Australien, wo die Musiker, die bis hierhin mitgekommen waren, sich niederlassen wollen.
Für die Einwanderungsformalitäten mussten sie bürgerliche Berufe angeben; Weintraub selbst erklärte als Pharmazeut tätig sein zu wollen. Tatsächlich spielte die Band aber weiter, in Australien genauso wie in Neuseeland, wenn es auch ausgiebige Diskussionen mit der australischen Musikergewerkschaft gab, die in den zahlreichen Exilmusikern ausländische Konkurrenz witterte. Akribisch dokumentiert Dümling das Ringen der Musiker um eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in Australien, die Denunziation von Nachbarn, die den Exildeutschen nach der britischen Kriegserklärung an Nazideutschland misstrauten, und die knapp anderthalbjährige Inhaftierung von Sommer 1940 bis Herbst 1941. Er beschreibt das Verfahren, das letzten Endes im September 1941 urteilte, die Weintraubs seien wohl keine Spione und könnten daher aus dem Lager entlassen werden, in dem sie zusammen mit früheren Nazis inhaftiert waren. Das Misstrauen gegen die Deutschen ließ allerdings genauwenig nach wie die Streits mit der Musikergewerkschaft.
Irgendwann gelang die Einbürgerung. Die Band war da allerdings bereits Geschichte. Drei der Bandmitglieder blieben der Musik treu, die anderen sahen sich nach bürgerlichen Jobs um. Weintraub wirkte 1958 noch bei einer Aufführung der „Dreigroschenoper“ in Sydney mit, die große Zeit des Bühnenerfolgs aber war nur noch Erinnerung.
Im letzten Kapitel erzählt Dümling die Geschichte der Wiederentdeckung der Weintraubs Syncopators, nachdem Horst H. Lange 1961 einen Artikel über die Band im Jazz Podium verfasst hatte. Horst J.P. Bergmeier begann Anfang der 1980er Jahre einen Briefwechsel mit Stefan Weintraub, der schließlich zu einer kleinen Biographie der Band führte, die Dümling insbesondere für den ersten Teil seines Buchs als wichtige Quelle diente.
Albrecht Dümlings Buch hat zwei Schwerpunkte: Für die Hochzeit der Weintraubs in den 1920er Jahre ordnet er die Aktivitäten der Band in die Unterhaltungsindustrie Berlins jener Zeit ein. Fürs australische Exil greift er auf Protokolle, Erinnerungen, Presseberichte, Archivakten zurück, aus denen klar wird, dass das Leben geflüchteter Deutscher in Australien während, aber auch noch nach Ende des 2. Weltkriegs mit Misstrauen begleitet wurde. Die Arbeit verbindet so genau das, was der Reihentitel verspricht: „Musik & Zeitgeschichte“. Eine Diskographie der erhaltenen Aufnahmen der Weibtraubs Syncopators rundet das Buch ab. Der Verlag hat zudem eine Website mit Audio- und Filmbeispielen angelegt, die es den Leser:innen erlauben, die Musik auch hörend nachzuvollziehen.
Wolfram Knauer (Dezember 2022)
Carolina Shout! The Carolina Jazz Connection
Von Larry Reni Thomas
Drewryville/VA 2022 (United Brothers & United Sisters Communications Systems)
121 Seiten, 20 US-Dollar
http://carolinajazzconnectionwithlarrythomas.blogspot.com/
Larry Reni Thomas ist Pädagoge, studierter Historiker und Journalist, ein regional bekannter, ja geradezu legendärer Radiomoderator (Radio-DJ) aus Wilmington, North Carolina. Seit Jahren ist es ihm ein Anliegen, die Roots des afro-amerikanischen Jazz in seinem Bundesland zu dokumentieren. Dafür hält er Vorträge an Schulen, diskutiert das Thema auch immer wieder in seinen Rundfunksendungen.
Vier dieser Sendungen sind jetzt in diesem Buch nachzulesen. Thomas hat sich jeweils Gäste eingeladen: den Trompeter Jim Ketch, den Bassisten Larry Ridley, die Schlagzeuger Peter Ingram, der Komponist Thomas J. Anderson und die Sängerin Nnenna Freelon. Sie sprechen über vier der „Big Four“, der großen Söhne/Töchter des Landes: John Coltrane, Thelonious Monk, Max Roach und Nina Simone, mal aus eigener Kenntnis als Musikerkollege oder Freund, mal aus dem übergroßen Einfluss der vier Musiker:innen heraus. Ketchs Aufgabe ist es die Besonderheit der Musik der vier Künstler einzuordnen, die anderen Gäste erzählen über den jeweiligen Menschen, also Trane / Monk / Roach / Simone.
Thomas stellt das alles in den Kontext der sozialen Ungerechtigkeit der Zeit, der Segregation, die bis 1954 legal war und die auch danach noch das Zusammenleben der Menschen im US-amerikanischen Süden prägte. Er beginnt das erste Kapitel „Contributing Factors“ ohne Worte, nur mit Fotos, die einerseits den Rassismus der Zeit, andererseits die Beweggründe vieler Menschen fortzuziehen verdeutlichen.
Zwei weitere Kapitel bestehen aus Namenslisten von Musiker:innen, die in North Carolina geboren wurden, Zuordnungen zu Städten im Bundesland, Musiker:innen, deren Eltern oder Großeltern aus North Carolina stammten, und Musikerr:innen, die über die Jahre im Bundesland lebten oder immer nich leben. Ein eigenes Kapitel ist „The Barn“ gewidmet, einem Spielort in Wilmington, in dem in den 1940er und 1950er Jahren alle großen Bands zu hören waren, Cab Calloway, Lionel Hampton, Count Basie, Dizzy Gillespie, Louis Armstrong.
Und schließlich findet sich noch Thomas eigener Essay über Helen Morgan, die Ehefrau des Trompeters Lee Morgan, die ihren Mann im Februar 1972 in einem Club in Manhattan erschoss. Eines Tages in den Mitt-1990er Jahren saß Helen Morgan in Thomas Volkshochschulklasse. Als er erfuhr, wer sie war, bat er sie um ein Interview, das 2016 die Basis für Kasper Collins preisgekrönten Film „I Called Him Morgan“ wurde.
Ein bunter Strauß an Annäherungen an afro-amerikanische Musik mit Wurzeln in North Carolina also. Keine umfassende Geschichte des Jazz im Ländle, eher ein Fokus auf besondere Geschichten, der aber nicht nur über die portraitierten Künstler:innen etwas verrät, sondern auch über die teilnehmenden Gesprächspartner:innen und über Larry Reni Thomas selbst. Der macht in einem Nachwort klar, wie kritisch er dem „Jazz“-Begriff gegenübersteht, sie wichtig es andererseits ist diese kreative Musik in den USA nicht nur den weißen Hörern zu überlassen, sondern das Bewusstsein auch der afro-amerikanischen Hörerschaft zu schärfen.
Made in Germany. Mein Leben für die Musik
von Klaus Doldinger
München 2022 (Piper Verlag)
318 Seiten, 26 Euro
ISBN: 978-3-492-07124-6
Natürlich ist er eine deutsche Jazzikone, ein Musiker, der hierzulande seit den 1950er Jahren tourt und international seit den 1960er Jahren Erfolge feierte. Man kennt ihn als Saxophonisten genauso wie als Filmkomponisten (Stichwort „Tatort“, „Das Boot“), man kennt ihn aber auch – wahrscheinlich ohne das zu wissen – von zahlreichen Werbejingles, die er komponiert hat, von Musik für Fernsehserien und vielem mehr. Musikalisch hat er alles gemacht von Dixieland bis Fusion; einzig an den Experimenten des Free Jazz nahm er nie teil. Er erlebte die kreativsten Jahre deutscher Nachkriegsgeschichte aktiv mit und ist auch heute, mit 86 Jahren, noch ein aufmerksamer Beobachter der Musikszene, vor allem aber nach wie vor ein kreativer Musiker.
Der Anfang von Klaus Doldingers Autobiographie ist jedenfalls schon mal zitierenswert: „Der Jazz traf mich wie der Blitz beim Pinkeln. Ich stand vor der Apotheke meines Onkels im oberbayerischen Schrobenhausen, als der Wind ein paar einzelne Klangfetzen aus dem Gasthof gegenüber an mein Ohr trug.“ Es war kurz nach Kriegsende, und amerikanische Soldaten jammten in der Kneipe, spielten eine Musik, wie er sie nie zuvor gehört hatte. Es war die Initialzündung zu seiner lebenslangen Jazzliebe.
Klaus Doldinger war der erste Sohn eines strengen Vaters, Diplomingenieur mit hohen Positionen im deutschen Postwesen. Die Familie zog oft um, Berlin, Köln, Wien, Schrobenhausen – oder, um genau zu sein: letzteres die familiäre Zuflucht für Mutter und die beiden Söhne, als der Krieg sich dem Ende zuneigte. Jugend in Düsseldorf, wo der Vater mittlerweile Oberpostrat war. Ein Nachbar besaß eine Aufnahme des legendären Jazz at the Philharmonic-Konzerts von 1944 mit Nat King Cole und Illinois Jacquet, eine Platte, die in Doldinger den Wunsch auslöste, selbst Jazz zu spielen. Er erhielt klassischen Klavierunterricht und begeisterte sich dank der Voice of America für Aufnahmen von Count Basie, Oscar Peterson und Duke Ellington. Er ging regelmäßig zu Treffen des Hot-Clubs Düsseldorf, und er griff mehr und mehr zur Klarinette, die ihm jazzgemäßer schien.
Bald freundete er sich mit dem Pianisten Ingfried Hoffmann an, ab 1953 Jahre trat er dann regelmäßig mit den Düsseldorf Feetwarmers auf. Die Band spielte Dixieland und traditionellen Jazz, machte beim in Düsseldorf ausgerichteten Amateur-Jazz Festival den zweiten Platz und Ende 1955 die ersten Plattenaufnahmen für das Kölner Climax-Label. Doldingers Idol der Zeit hieß Sidney Bechet, und dieser, Jacquet und Lester Young waren der Grund, warum er neben Klarinette bald auch Saxophon spielte.
Im Oktober 1955 lernte Klaus Doldinger seine spätere Frau Inge kennen, die quasi für den zweiten Handlungsstrang seiner Autobiographie verantwortlich zeichnet: die Familie. Doldinger schildert den langsamen Weg zum Berufsmusiker, die Widerstände im Elternhaus, Umwege beispielsweise eines Studiums als Tonmeister, das ihm bei seiner späteren Arbeit zugute kommen sollte, seine erste Tournee (mit den Feetwarmers) durch die Vereinigten Staaten im Winter 1960, Begegnungen mit „seinen“ Legenden, Musikern wie George Lewis, Max Roach und anderen.
Anfang der 1960er Jahre gründete Doldinger sein Quartett, kurz darauf wurde der junge Plattenmanager Siegfried Loch auf ihn aufmerksam und bot ihm eine Zusammenarbeit an. „Jazz Made in Germany“ erschien im Oktober 1963 in der Philips-Begleitreihe für die Zeitschrift Twen und wurde nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA veröffentlicht, dort unter dem Titel „Dig Doldinger“. Doldingers Karriere nimmt Fahrt auf, er tourte für das Goethe-Institut durch Europa, Nordafrika und den Nahen Osten. Er schrieb seine erste Filmmusik (für den Zeichentrickfilm „Tempo“, 1963), und er spielte unter dem Pseudonym „Paul Nero“ erfolgreiche Easy-Listening-Platten für Siggi Loch ein. Doldinger erzählt von der ersten Südamerika-Tournee 1965, von Arbeiten fürs Theater, einem Crossover-Konzert für Sinfonierorchester und Jazzband, von den Schwierigkeiten, sein schon damals volles Tourprogramm und das Familienleben unter einen Hut zu bringen, von der legendären Fernsehdebatte, bei der er und Peter Brötzmann aufeinandertrafen (und, nein: die Runde fand zwar am legendären „Internationalen-Frühschoppen“-Tisch statt, aber moderiert wurde sie von Siegfried Schmidt-Joos, nicht von Werner Höfer). Er erinnert sich an die Anwürfe, die er aus der Jazzszene dafür bekam, dass er popmusikalischen Trends gegenüber aufgeschlossen war, und er erinnert sich an seine Zusammenarbeit mit Udo Lindenberg, der ja bekanntermaßen seine Karriere als Jazzschlagzeuger begann.
1970 kam der erste Sohn, im selben Jahr kam auch der Auftrag einen Vorspann für eine neue Fernsehserie zu schreiben, „Tatort“. Die Familie lebte mittlerweile nahe München; Doldinger selbst allerdings überall auf der Welt. Er erzählt von der Zusammenarbeit mit den Ertegun-Brüdern, bei deren Liberty-Label Doldinger ab 1971 unter Vertrag stand. Inzwischen hatte er Passport gegründet, eine Band, die die Kluft zwischen Jazz und Rop bzw. Rock noch konsequenter überbrückte und weit über Deutschland hinaus Erfolg hatte. Ab jetzt wird das Buch ein wenig zur Leistungsschau: „43 Konzerte in sechs Wochen und 23 Städten“ (in den USA), „drei bis vier Filme pro Jahr und (…) mehrere Werbeclips“, ein eigenes Studio als Anbau ans Haus in Icking, Reisen, Preise, Auszeichnungen, Umbesetzungen, die befriedigenden Dreharbeiten für „Das Boot“, die weniger befriedigenden Dreharbeiten für „Die unendliche Geschichte“.
Und schließlich das „Alterswerk“, zu dem nicht nur seine weitere musikalische Entwicklung gehört, sondern auch seine Aktivitäten etwa für GEMA oder Union Deutsche Jazzmusiker (heute: Deutsche Jazzunion), die Zusammenarbeit mit Manfred Krug oder Volker Schlöndorff oder mit den „Old Friends“, einem Quintett, in dem Doldinger auf die etwa gleichaltrigen Kollegen Manfred Schoof, Albert Mangelsdorff, Wolfgang Dauner, Eberhard Weber traf. „Und plötzlich war da Stille“. Die Pandemie hat auch Klaus Doldinger erreicht, alle geplanten Konzerte wurden gecancelt. Zeit zu schreiben – Musik und dieses Buch.
„Made in Germany. Mein Leben für die Musik“ ist eine flott geschriebe und ebenso lesbare Autobiographie geworden. Insbesondere Doldingers Erinnerungen an seine Jugend und die Anfänge seiner Karriere bieten einen Einblick in deutsche Jazzgeschichte; später wird das Buch dann mehr und mehr zu einer Selbstbeschau – was keinesfalls ein Vorwurf sein soll: Doldingers Erfolg ist nunmal eine Tatsache –, was die letzten Kapitel aber etwas mühsam macht. Auf ein Register hat der Verlag verzichtet, stattdessen gibt es eine Diskographie, die gut seine ganz unterschiedlichen Aktivitäten zusammenfasst.
Wolfram Knauer (Oktober 2022)
Komeda. A Private Life in Jazz
von Magdalena Grzebałkowska
Sheffield 2020 (Equinox)
456 Seiten, 30 Britische Pfund
ISBN:978-1-78179-945-1
Komeda on Records
von Dionizy Piątkowski
Warschau 2022 (era jazzu)
263 Seiten,
ISBN: 978-83-965160-0-8
Kontakt: info@jazz.pl
Krzystof Komeda ist vielleicht der ikonischste Musiker, den Polen im Jazz hervorgebracht hat. Er war es, der dem modernen Jazz des Landes ab 1956 seinen eigenen Stempel aufdrückte, mit seinen Kompositionen genauso wie mit dem Sound seiner Bands, seinem eigenen Klavierspiel und seinen Arrangements. Er begründete eine Tradition, der sich polnische Musiker:innen eigentlich bis heute verpflichtet fühlen und die fast eine Art eigenen nationalen Sound hervorgebracht hat. Musiker wie Zbigniew Namysłowski, Andrzej Trzaskowski, Jan Wróblewski, Tomasz Stańko beziehen sich genauso auf ihn wie jüngere Musiker, etwa Leszek Możdżer, Maciej Obara oder Vladyslav Sendecki, die sich seiner zeitlosen Stücke angenommen haben.
Komeda, der einem breiten Publikum insbesondere durch seine Musik zu Filmen Roman Polańskis bekannt wurde, hatte eigentlich Medizin studiert und bis 1957 in Poznan Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde praktiziert. Spätestens 1956 aber, als seine Band beim ersten Polnischen Jazzfestival in Sopot auftrat, wurde ihm die musikalische Karriere wichtiger. Beim zweiten Festival in Sopot waren erstmals deutsche Musiker vertreten, Albert und Emil Mangelsdorff und andere, und das polnische Publikum war von dem fasziniert, was es als eine Art „Frankfurt Sound“ identifizierte. Ein eigener Sound, der sich auf die Jazzgeschichte genauso besinnt wie auf die klassische Musiktradition Europas, macht auch Komedas Musik aus, die darüberhinaus als eine klare Stimme des individuellen Ausdrucks verstanden wurde innerhalb eines trotz der Lockerungen, die es in den 1960er Jahren dem Jazz gegenüber gab, immer noch repressiven Systems.
In ihrer Biographie nähert sich Magdalena Grzebałkowska ihrem Sujet Krzysztf Komeda sehr persönlich. Sie spricht mit Weggefährten, Freunden, Kollegen, zitiert aus zeitgenössischen Berichten über Autritte und Plattenveröffentlichungen, ordnet Komedas Schaffen ein sowohl in die Jazzentwicklung wie auch die politische Situation im Polen seiner Zeit. Sie beschreibt den wachsenden Ruf, den Komeda sich auch außerhalb seines Heimatlandes erarbeitete und seine wachsendes Interesse an Filmmusik, die er ab 1961 insbesondere in seinem Kooperationen mit Roman Polański schuf und von denen „Knife in the Water“ (1962) und „Rosemary’s Baby“ (1968) vielleicht die bekanntesten waren. Für den letztgenannten Film wohnte Komeda 1968 in Los Angeles. Hier erlitt er Ende des Jahres einen Unfall, von dem verschiedene Versionen kursieren. Auch Grzebałkowska kann den genauen Hergang nicht aufklären, erzählt aber, wie dieser Unfall erst zu fürchterlichen Kopfschmerzen führte, dann einer Hirnblutung, einem Krankenhausaufenthalt, zum Koma und schließlich zum Tod Komedas im April 1969.
Grzebałkowskas Buch ist ausdrücklich als Lebensgeschichte betitelt („A Private Life“); ihr Stil ist mal sachlich, mal literarisch, die Musik allerdings kommt vor allem durch zeitgenössische Zitate oder in Gesprächen mit Kolleg:innen zur Sprache.
Dafür widmet sich Dionity Piątkowskis „Komedy on Records“ einzig der Musik Krzysztof Komedas. Bei seinem Buch handelt es sich um eine Art kommentierte Diskographie, in der der Autor Umstände und Bedeutung der Aufnahmen Komedas beschreibt, und über das Aufnahmeschaffen von 1956 bis 1968 hinweg auch Wiederveröffentlichungen listet sowie Aufnahmen, die andere, insbesondere polnische Künstler:innen Komedas Musik nach dessen Tod widmeten. Während Grzebałkowskas Biographie in englischer Übersetzung vorliegt, ist Piątkowskis Buch in polischer Sprache.
Beiden Bücher dokumentieren damit von unterschiedlicher Seite das Leben und Schaffen eines bedeutenden europäischen Musikers. Eine ausführliche Würdigung seiner musikalischen Leistung findet sich übrigens im Buch “ Polski jazz.Wczesna historia i trzy biografie zamknięte Komeda.Kosz.Seifert „, das Roman Kowal bereits 1995 vorgelegt hat, die Kooperation des Pianisten und Komponisten mit Polański dagegen wird in diversen wissenschaftlichen Untersuchungen zur Filmmusik diskutiert.
Wolfram Knauer (September 2022)
Was ist damit nur gemeint? „Geheimnisse“ und Geschichten zu populären Musiktiteln aus dem Jazz- und Unterhaltungsbereich
von Gerhard Klußmeier
Herne 2022 (Gabriele Schäfer Verlag)
142 Seiten, 39,90 Euro
ISBN: 978-3-944487-90-8
Gerhard Klußmeier ist Journalist, längjähriger Vorsitzender des Vereins Swinging Hamburg, in dessen Journal auch eine regelmäßige Kolumne „Was ist damit nur gemeint?“ erscheint, in der Klußmeier der Bedeutung von Titeln der Jazzgeschichte auf die Spur geht. Jetzt hat er 160 dieser detektivischen Geschichten in einem großformatigen Buch zusammengefasst.
Es beginnt bei A wie „Alice Blue Gown“ (aufgenommen unter anderem von Ben Pollack, Harry James oder Glenn Miller; Titel verweist auf die Tochter von US-Präsident Theodore Roosevelt, deren Lieblingsfarbe blau war), und es endet bei Z wie „Zulus Ball“ (aufgenommen von King Oliver’s Creole Jazz Band“, Verweis auf den Zulu Social Aid and Pleasure Club in New Orleans).
Es sind kurze Essays, in denen Klußmeier immer wieder zusätzliche Informationen zur Jazz-, Swing- oder Landesgeschichte der USA versteckt. Mal lässt er die Komponisten selbst zu Worte kommen lässt (Sy Oliver über „Yes, Indeed!“); mal berichtet er über Legenden (wie die zum „Midnight Special“, dass, welcher Insasse des Texas State Prison von den den Scheinwerfern des betreffenden Zugs der Missouri-Pacific-Eisenbahngesellschaft erfasst würde, als nächster entlassen werde); mal ist er mysteriösen Figuren des Nachtlebens auf der Spur („Jack the Bear“, erklärt er, ginge wahrscheinlich auf einen legendären New Yorker Pianisten, obwohl es wohl auch Bordell-Chefin aus New Orleans mit gleichem Spitznamen gegeben habe). Es sind bekannte Standards der Jazzgeschichte („Heebie Jeebies“, „Rose Room, „Sing, Sing, Sing“, „Copenhagen“), daneben aber auch Aufnahmen, die wahrscheinlich nur Jazzfans ein Begriff sein dürften („Did You See Jackie Robinson Hit That Ball?“, „The Good Earth“, „John Silver““Slaughter on Tenth Avenue“). Bebildert ist das alles mit den Labels der Originalveröffentlichungen (die meist aus der Schellackära stammen) sowie zur Geschichte passenden Fotos.
Der Jazz und die populäre Musik der 1930er und 1940er Jahre, argumentiert Klußmeier im Vorwort, sei dem Tagesgeschehen verbundener gewesen als man dies annehmen mag. Seine Geschichten vermitteln so oft auch knappe Einblicke in die Kulturgeschichte der USA.
Wolfram Knauer (Juli 2022)
Barrelhouse Jazzband. The Untold Story 1953-2023
von Rainer Erd
Frankfurt/Main 2022 (Eigenverlag)
244 Seiten, 23 Euro
ISBN: 978-3-96031-005-1
(zu bestellen direkt beim Autor: Rainer.Erd@t-online.de)
Die Barrelhouse Jazzband aus Frankfurt: Deutschlands älteste Jazzband – und Rainer Erd hat im Untertitel gleich ein Jahr vorgegriffen und den anstehenden 70sten Geburtstag 2023 mitgedacht. Nun gut, von den Musikern der Erstbesetzung ist niemand mehr dabei, aber Saxophonist Frank Selten immerhin seit 1961 und Klarinettist Reimer von Essen seit 1962. Rainer Erds Bandbiographie erzählt vom Alltag im Jazzbusiness, und zwar in einer ganz speziellen Abteilung, nämlich der des traditionellen Jazz. Sie erzählt vom ästhetischen Wandel, vom Unterschied zwischen Amateur- und professionellen Musikern, von ganz unterschiedlichen Lebenswegen, die in dieser Band zusammenkommen, von Diskussionen über Repertoire, Spielhaltung und neue Bandmitglieder, von einer stilistischen Haltung, die Respekt fordert, auch, weil sie die eigene Interpretation der Jazzgeschichte dauernd reflektiert und hinterfragt.
Es begann also 1953, als Horst Dubuque, Amateurkornettist, der im AFN auf Jazz aus New Orleans gestoßen war und dem es seither besonders das Spiel wie King Olivers angetan hatte, mit seinem Freund, dem Klarinettisten Alfred Dechert, eine Band gründete. Anfangs probten die sechs Musiker (inklusive übrigens einer Musikerin, Annette Haug am Banjo) im Keller des Hutgeschäfts Dubuque. 1956 trat die Band zum erstenmal auf, wenig später notiert Dubuque in seinem Tagebuch allerdings bereits von der Auflösung der Barrelhouse Jazzband. Es waren erste stilistische Differenzen zwischen Kornettist und Klarinettist, die beinahe zum Auseinanderbrechen geführt hätten, letzten Endes aber damit bereinigt wurden, dass Dechert die Band verließ. Rainer Erd schildert, wie versessen Dubuque darauf gewesen sei, die Musik seiner Idole so genau wie möglich nachzuspielen, wie sehr er „modernere“ Interpretationen des alten Stils, etwa von britischen Musikern wie Ken Colyer, ablehnte. Er beschreibt Besetzungswechsel und ihre Auswirkungen aufs Repertoire genauso wie Höhepunkte der Bandgeschichte, etwa die USA-Reise 1968, die darin gipfelte, dass die gesamte Band zu Ehrenbürgern von New Orleans ernannt wurde. Er verfolgt, wie die Band über die Jahre immer professioneller wurde, eine Professionalisierung, die Dubuque allerdings so mishagte, dass er die Barrelhouse nach einer Afrikatournee fürs Goethe-Institut 1971 verließ.
Die Professionalisierung betraf nicht nur die musikalische Haltung, sondern tatsächlich auch die Entscheidung künftig von der Musik leben zu wollen. Diese fiel jenen Bandmitgliedern leichter, die eh aus Altersgründen aus ihrem Brotberuf ausstiegen, für andere war das durchaus eine biographische Wegmarke. Die Barrelhouse Jazzband spielte immerhin bis zu 120 Konzerte im Jahr, das ließ sich kaum mehr nebenbei bewerkstelligen. Erd erzählt von den Jazzkreuzfahrten, die ab 1987 mehrmals im Mittelmeer stattfanden und auf denen die Barrelhouse Jazzband zu hören war. Er erzählt von den Galatourneen mit amerikanischen Gaststars, die ab 1983 stattfanden und die Band mit namhaften Solisten der Swingära zusammenbrachte. Und er erzählt von stilistischen Erweiterungen, die auch damit zusammenhingen, dass es der Band gelungen war, jüngere Musiker zu verpflichten, die ursprünglich aus anderen stilistischen Lagern kamen waren, den Pianisten Christof Sänger etwa oder den Gitarristen Roman Klöcker.
Den zweiten Teil des Buchs machen zum Teil sehr persönliche biographische Portraits der aktuellen Bandmitglieder aus, Reimer von Essen, Horst Schwarz, Frank Selten, Christof Sänger, Roman Kölcker, Lindy Huppertsberg und Michael Ehret, dem Roadie Rolf Kießling, sowie früherer Bandmitglieder wie Cliff Soden, Jan Luley, Bernd K. Otto, Angi Domdey und dem langjährigen Manager Dieter Nentwig.
Rainer Erds Buch ist nicht das erste über die Barrelhouse Jazzband. Zum 40jährigen Jubiläum erschien 1993 eine von Horst Lippmann herausgegebene Sammlung einschließlich O-Tönen von Bandmitgliedern und Kollegen. 2013 gaben Michael Ehret und Frank Selten zum 60jährigen Bandjubiläum einen opulenten Bildband heraus. Erd lockt mit den „nicht erzählten Geschichten“, und tatsächlich finden sich solche beispielsweise in den Biographien einzelner der Bandmitglieder, aber auch in der Reflektion über stilistische Diskussionen über die Jahre. Eine Reihe an untold stories allerdings lässt auch er letzten Endes unerzählt, deutet sie nur an, wenn er beispielsweise über einen Konflikt berichtet, den es zwischen einigen seiner Gesprächspartner gegeben habe, als es um die Kreuzfahrten der späten 1980er Jahre ging. O-Ton Erd: „Der Leser mag sich seinen eigenen Reim darauf machen. Auch mir war das Erscheinen des Buchs wichtiger, als all das darzustellen, was noch heute für Einige nicht benannt werden kann.“
„Barrelhouse Jazzband. The Untold Story 1953-2023“ ist eine kurzweilige Zusammenfassung eines Kapitels deutscher Jazzgeschichte, einer Band, die auch nach 70 Jahren noch sehr lebendig ist der es gelingt, die Tradition zu feiern und dabei doch auch neu zu interpretieren.
Wolfram Knauer (Juli 2022)
1.000 Tage Savoy. Eine Dokumentation. Drei Jahre geballter Kulturbetrieb in Braunschweig – 1986 bis 1989
von Bärbel Mäkeler
Braunschweig 2022 (text-support)
256 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978-3-9820557-8-7
Drei Jahre nur gab es das Savoy, eine Kleinkunst- und Musikbühne in Braunschweig, doch diese drei Jahre füllen leicht ein reich bebildertes, mit Fakten gefülltes und zugleich überaus lebendiges Erinnerungsbuch einer der beiden Gründungsgesellschafter:innen, Bärbel Mäkeler. Sie hatte ihrer Tochter von ihrem Leben als Veranstalterin erzählt, und die habe sie schließlich ermutigt, das alles doch mal aufzuschreiben, begründet Mäkeler die Initiative zu diesem Buch. Und tatsächlich warteten die Zeugnisse ihrer Zeit im und mit dem Savoy im Regal nur darauf, durchforstet zu werden: Fotos, Programmflyer, Zeitungsberichte, Geschäfts- und Gästebücher.
Entstanden ist ein lebendiges Buch über Braunschweig, über die Alternativkultur in einer Universitätsstadt der 1980er Jahre, über die Realität des Lebens als Wirtin, Veranstalterin, Geschäftsfrau. Im Tagebuch hat Mäkeler notiert: „27.02.1986: Ich mache (…) einen Nachtclub auf. ‚Savoy‘ wird er heißen. Leopoldstraße 7, geöffnet von 9 Uhr morgens bis 5 Uhr nachts.“ Im September war es dann so weit, doch die Öffnungszeiten ließen sich nicht lange halten. 9 Uhr morgens bis 5 Uhr früh, rechnet sie vor, das waren ja 140 Stunden; auch wenn man sich die teilte, war das einfach zu viel. Von Träumen und Illusionen, von „großen Plänen“ und „schrumpfendem Geldbeutel“ ist auf den Seiten zu lesen, von Fehlkalkulationen und dem Ausgehverhalten des Braunschweiger Publikums, von Stars wie Chet Baker, Maria Joao oder Bill Ramsey und von regionalen Bands. Nach zwei Jahren verließ ihr Co-Geschäftsführer das Schiff, und Mäkeler machte als alleinige Geschäftsführerin weiter. Folk, Jazz, Blues, Kabarett brachten die Kasse allerdings nicht ins Plus, und im Februar 1989 klebte der Gerichtsvollzieher erste Pfandsiegel. Im Juni 1989 dann war es vorbei. Die Presse rühmte die Idee, kritisierte aber auch, wie Mäkeler nicht verschweigt, Missmanagement.
Etwa 70 Seiten widmet Mäkeler der Geschäftsgeschichte des Savoy – einschließlich eines Exkurses in die Historie von Varietétheatern in Deutschland -, dann folgt die Erinnerung an Höhepunkte. Knapp 500 Veranstaltungen, 1.900 Künstler:innen, „davon 242 Frauen“, ein Mix aus Musik, Kabarett, Travestie, Show, Tanz und anderem mehr. Wir lesen zeitgenössische Kritiken genauso wie Erinnerungen an Konzerte etwa von Chet Baker, Lou Blackburn, Philip Catherine, Maria Joao, Aki Takase, Katie Webster, Luis di Matteo, Hanns Dieter Hüsch, Embryo und zahlreichen anderen. Ein spezielles Kapitel widmet Mäkeler den Frauen, die auf ihrer Bühne auftraten und spricht dafür mit Gabriel Hasler über ihre Erfahrung als Musikerin im Musikgeschäft. Sie erinnert sich an die PR-Arbeit, an die Technik, an Essen und Trinken und die Kunst des Kellnerns. Eine detaillierte Auflistung der Auftritte des Savoy beschließt die Dokumentation, die vielleicht vor allem für Braunschweiger:innen interessant sein mag, deren Erfahrungen sich aber sicher auch auf ähnliche Spielorte andernorts übertragen lassen.
Wolfram Knauer (Juli 2022)
Chargesheimer fotografiert Jazz, Köln 1950-1970
herausgegeben von Evelyn Bertram-Neunzig
Köln 2022 (emons)
220 Seiten, 35 Euro
ISBN: 978-3-7408-1515-8
Es gibt ein eigenes Kapitel in diesem Buch, überschrieben „Studioaufnahmen von Kenny Clarke. Vorarbeiten für ein Fotobuch?“, das allein die künstlerische wie dokumentarische Qualität der hier dokumentierten Aufnahmen exemplifiziert. Irgendwann Anfang der 1960er Jahre in Köln entstanden, wo der afro-amerikanische Schlagzeuger regelmäßig zu Proben der Kenny Clarke Francy Boland Big Band war, enthält es Studien, mehr als Aufnahmen: die rechte Hand mit ausgestrecktem Stock aufs Becken gerichtet. Verschiedene Bewegungen der Hände mit Stöcken von oben fotografiert. Aufnahmen von vorne, leicht von oben. Handstudien mit Stöcken und Anschlagswinkeln. Was sich liest (und teils auch ansieht) wie für eine Schlagzeugschule aufgenommen, spielt zugleich mit der Form des Schlagzeugs, den runden Becken, den runden Trommeln, den Stöcken, die die Kreise durchstechen, den steuernden Händen. Es sind Bewegungsstudien, die den enormen Respekt des Fotografen vor dem Handwerk des Schlagzeugers belegen.
Chargesheimer war der Künstlername des Kölner Fotografen Karl-Heinz Hargesheimer. Anfang der 1950er Jahren hatte er den Jazz kennengelernt; Mitte des Jahrzehnts hing er mit dem Kreis um Gigi Campi ab, jenem legendären Eiscafé-Betreiber nahe des Funkhauses des WDR, der 1954 ein eigenes Plattenlabel gründete, Konzerte veranstaltete und später die bereits erwähnte Boland Clarke Big Band etablierte. Chargesheimer hatte sich bereits einen Namen durch ikonische Portraits wichtiger Menschen gemacht (Adenauer, Kardinal Frings) und sollte über die Jahre verschiedene Bildbände über seine Heimatstadt herausgeben. Er verstarb 1971 mit gerade mal 47 Jahren. Sein Archiv mit 2.641 Positiven und mehr als 40.000 Negativen landete sieben Jahre später bei der Stadt Köln. Es dauerte bis ins neue Jahrtausend, dass diese Sammlung aufgearbeitet und Stück für Stück digitalisiert wurde. Die zuständige Kunsthistorikerin Evelyn Bertram-Neunzig erhielt den Hinweis, dass Chargesheimer und der Jazzkritiker Joe Schevardo ein Fotobuch zum Jazz geplant hätten und sortierte daher die Negative, Kontaktabzüge, Positive und Fotobücher der Sammlung unter anderem mit speziellem Fokus auf „Jazz“. Herausgekommen ist ein Buch mit unterschiedlichen Facetten, wie Johanna Gummlich in ihrer Beschreibung des Nachlasses beschreibt: „Die Fotos lassen sich als Kunstwerke der Schwarz-Weiß-Fotografie, als subtil psychologisierende Porträtkunst, als Dokumentation des Musiklebens in der Nachkriegszeit und als Beitrag zur Kölner Kulturgeschichte begreifen.“
Die Fotos also: Josephine Baker, ein sehr persönliches Portrait 1953. Hans Kollers New Jazz Stars mit Albert Mangelsdorff im Campi’s in Köln. Ella Fitzgerald, Louis Armstrong. Woody Herman. George Maycock und die Chic Combo im Hotel Kosmopolit. Gigi Campi, Atilla Zoller, Joki Freund, Jutta Hipp. Beryl Bryden mit Fatty George. Lars Gullin, Lee Konitz, Rudi Sehring. Billie Holiday, Red Norvo, Chet Baker, Sidney Bechet. Duke Ellington. Harald Banter Ensemble, Orchester Kurt Edelhagen. Caterina Valente. Und schließlich die CBBB der 1960er Jahre.
Jedes einzelne der Bilder scheint ikonisch. Mal werden Bild und Veröffentlichung nebeneinandergelegt, manchmal sogar die ganze Fotoserie (Kontaktabzug), um den Auswahlprozess zu verdeutlichen. Von Rudi Sehring etwa sehen wir das Originalfoto und erkennen, wie Chargesheimer dieses fürs Plattencover einzoomt und verfremdet. Von Woody Herman gibt es eine Lichtmontage aus drei Fotos, die übereinandergelegt wurden. Sidney Bechet: eine Studie mit Licht und Schatten der Gesichtsfalten. Die CBBB im Studio… Jedes einzelne Bild scheint eine Geschichte zu erzählen, mal eine der Interaktion, aber auch schon mal eine völlig gestellte. Die Zwischen- und Fotountertexte erklären den Kontext der Bilder, und die Druckqualität des Buchs lassen einen verzeihen, dass aus Jutta Hipp eine „Sängerin und Jazzpianistin“ gemacht wurde.
Ein faszinierendes Buch also, meiner Meinung nach eines der schönsten Fotobücher des Jahres. Blätternswert. Immer wieder. Und immer wieder entdeckt man Neues: in der Mimik der Musiker, in der Szene selbst, im Blick des Fotografen. Chargesheimer!
Wolfram Knauer (Juli 2022)
Jazz-Echos aus den Sixties. Kritische Skizzen aus einem hoffnungsvollen Jahrzehnt
herausgegeben von Siegfried Schmidt-Joos
Altenburg 2022 (Kamprad)
228 Seiten, 19,60 Euro
ISBN: 978-3-95755-670-7
Das „jazz-echo“ ist eine verdienstvolle, wenn auch heute kaum mehr bekannte Postille aus den 1950er und 1960er Jahren. Anfangs ein paar Blätter der kleinformatigen Illustrierten „Gondel“, umfasste das Blatt bald acht gut-informierte Seiten, geschrieben meist von keinem Geringeren als Joachim Ernst Berendt. Der „spezielle Charakter“ des Hefts waren die freizügigen Fotos des Heftes, die Berendt wohl dazu brachte, diesen Nebenverdienst unter dem Pseudonym „Joe Brown“ zu verstecken. Ein „kleinformatiges Hochglanzmagazin mit Pinups, Erotik, Unterhaltung und Informationen aus der Film- und Modewelt“ beschreibt Siegfried Schmidt-Joos die Gondel; er übernahm die Redaktion des jazz-echos Ende 1959 von Berendt.
Im jazz-echo also erschienen erstaunlich informierte Artikel – obwohl: so erstaunlich mag das gar nicht sein, wenn man Schmidt-Joos‘ Hinweis erwägt, dass das Heft sechs Jahre vor dem amerikanischen Playboy auf den Markt gekommen war: die Idee war eine ähnliche: dass nämlich Erotik, Klatsch, Nachdenkliches und Kultur durchaus zusammengehen können, warum denn nicht?! Die Fotos jedenfalls waren freizügig genug für die Zeit, so dass ich ältere Besucher bei Führungen durchs Jazzinstitut gerne frage, ob sie das Heft denn noch aus ihrer Jugend kennen und ob es damals über oder unter dem Ladentisch gehandelt wurde.
Für Schmidt-Joos war das jazz-echo eine weitere journalistische Aufgabe neben Artikeln für das Jazz Podium die er seit 1956 verfasste, und seiner Stelle als Jazzredakteur bei Radio Bremen seit Januar 1960. Er schrieb über die ganze Welt des Jazz, schon damals wortgewandt und mindestens so meinungsstark, wie er bis in die Gegenwart geblieben ist (beispielsweise in seinem Buch „Die Stasi swingt nicht“).
Beide Aspekte – also die Wortgewandtheit und die Meinungsstärke – erkennt man gleich im ersten Kapitel, einer Studie über den Klarinettisten Jimmy Giuffre, ursprünglich im Januar 1962 veröffentlicht und basierend auf Schmidt-Joos‘ Erfahrungen bei einem Konzert des Giuffre Trio mit Paul Bley Steve Swallow in Bremen im November 1961. Er habe die erste Platte des Trios mit Titel „Fusion“ gehört und sei enttäuscht gewesen, schreibt Schmidt-Joos, und erläutert die Probleme des kritischen Urteils: Soll man diese Musik nun nach den Wertmaßstäben europäischer Musik oder nach jenen des Jazz beurteilen? „Als wir am Nachmittag vor dem Konzert eine Mikrophonprobe hatten, schienen sich all diese Einwände zu bestätigen: der Einwand der Spannungslosigkeit, der Morbidität, der Langeweile, des esoterischen Experimentierens um jeden Preis.“ Dann aber wurde das Konzert „eine der größten Jazz-Überraschungen, die ich je erlebt hatte. Es wurde ein Erlebnis.“ Und nun geht er dem Konzept auf den Grund, zitiert dafür aus Briefen, die Giuffre an Horst Lippmann geschrieben hatte und in denen er beschreibt, wie sich das Konzept eines Trios ohne Schlagzeug eher durch Zufall ergeben habe und wie wichtig seine beiden Kollegen dafür seien, die es ihnen zu dritt erlaubten „die Trennungslinie zwischen den Solisten völlig fallen [zu] lassen“. „Mein Ziel ist es“, schreibt Giuffre in diesen Briefen, „überlieferte, traditionsgebundene Verfahrensweisen und Formvorstellungen aus meiner Musik auszuschließen.“ Schmidt-Joos ordnet ein: Der Jazz habe sich ja schon zuvor mit der Ausweitung der konventionellen Harmonik befasst, mit der Erschließung neuer Klänge und Klangmöglichkeiten, mit dem Bruch mit dem gebundenen, durchgehenden Rhythmus. Im Giuffre Trio sei all das besonders gut gelungen. „Noch niemals hat es in der Jazzmusik eine so freie und dennoch in sich geschlossene Art kollektiven Improvisierens gegeben“, befindet der Autor. Er betont gleichzeitige Soli, vergleicht einige der Stücke des Repertoires mit Beispielen der aleatorischen, seriellen Musik, betont aber auch: „Das Swing-Gefühl blieb erhalten. Es ist abstrakt geworden, es ist nur noch innerhalb der Phrasen spürbar.“
Es sind so viele Stellen in diesem Artikel von 1962 zitierenswert, dass dies allein schon zeigt, warum „Jazz-Echos aus den Sixties“ ein beeindruckendes, ein wichtiges Buch ist. Neben den klugen Erkenntnissen Schmidt-Joos‘ und seiner Ko-Autoren erlaubt es nämlich einen Blick auf die Diskurse der Zeit, die irgendwo zwischen Legitimierung des Jazz als Kunstform und dem Versuch eines Verständnisses der neuesten Experimente schwankt.
Also, im Schnelldurchgang: Nat Hentoff schreibt über die „Zukunft der Rhytmusgruppe“ (1964) und unterstreicht: „Der Jazz wird in zunehmendem Maße ein immer aufmerksameres Publikum erfordern.“ Schmidt-Joos porträtiert Ornette Coleman (1965), versucht für sich Elemente wie Colemans Melodieführung, seine Behandlung von Tonhöhe, Dymanik, Form zu verstehen und ermuntert seine Leser dazu, auch dann weiterzuhören, wenn sie mit der Musik erst einmal wenig anfangen können: „Beweisen nicht der Bebop Charlie Parkers und andere zunächst als fremdartig oder gar abwegig empfundene Jazz-Erscheinungen, dass unser künstlerisches Bewusstsein nach einer längeren Hörgewöhnung auch Klänge zu akzeptieren vermag, die uns zunächst unerträglich erschienen?“
Schmidt-Joos stellt Sonny Rollins (1963) und Bill Evans (1965) vor. Manfred Miller schreibt einen der ersten ernsthaften Texte über Peter Brötzmann (1966; im Buch ebenfalls enthalten sind Millers Rezensionen über „For Adolphe Sax“ und „Machine Gun“, 1967/1968). Mike Zwerin erinnert sich humorvoll an persönlichen Begegnungen mit Miles Davis (1967). Werner Burkhardt hinterfragt den ungewöhnlichen Personalstil Don Cherrys (1965). Manfred Miller stellt Wolfgang Dauner als einen Neuerer des Jazz vor (1966). Ingolf Wachler diskutiert über den Disput zwischen Mainstream und Avantgarde (1963). Joachim Ernst Berendt erinnert an den gerade verstorbenen Bassisten Oscar Pettiford (1960), Schmidt-Joos an Dinah Washington (1964) und Eric Dolphy (1964).
Das alles ist lesenswert als Zeitstudie, lesenswert gerade wegen der Diskurse, die auf den Seiten des jazz-echos (nicht anders als auf denen des Jazz Podiums der Zeit) ausgetragen wurden. Schmidt-Joos hat die Beiträge klug ausgewählt und zusammengestellt; immer wieder bebildert durch Titelseiten der betreffenden Hefte, ansonsten durch inhaltlich motivierte und atmosphärische Fotos.
Wolfram Knauer (Juni 2022)
Further On Up the Road. Traveling to the Blues
von Martin Feldmann
Frankfurt/Main 2022 (Eigenverlag)
268 Seiten, 49 Euro
ISBN: 978-3-00-069843-9
Bestellungen über: http://further-on-up-the-road.de
Der Redakteur Martin Feldmann reiste seit 1970er Jahren regelmäßig durch die Welt auf der Suche nach Bluesmusik. Seine Fotos erschienen über die Jahre in Tageszeitungen und Fachmagazinen, aber auch in seinen selbst herausgegebenen Blueskalendern. Jetzt hat Feldmann seine Erinnerungen an die Reisen durch die Vereinigten Staaten genauso wie durch Europa auf der Suche nach dem Blues in einem Buch zusammengefasst, komplett mit etwa 500 Fotos.
Es ist eine sehr persönliche Bluesgeschichte geworden, im wahrsten Sinne des Wortes mit den Augen Feldmanns gesehen. Da finden sich die üblichen Konzertfotos von Festivals und aus kleinen Clubs etwa in Chicago, Detroit, New York, Kansas City, St. Louis, Memphis, Clarksdale, Baton Rouge, New Orleans, Houston, Austin, Los Angeles oder San Francisco, Abbildungen von Plakaten, Eintrittskarten, Briefen, Speisekarten, vor allem aber viele ungewöhnliche und überaus persönliche Fotos Feldmanns: Albert Collins mit Fans, Produzent Jim O’Neal am Telefon, John Henry Davis mit Kasse auf dem Kopf, tanzende Paare zu Byther Smith, Straßenmusiker in New Orleans, der Friseur Wade Walton auf seiner Harmonika im Frisiersalon, aber auch Buddy Guy im Frankfurter Sinkkasten, Champion Jack Dupree in Siegen, George Jackson vor dem Gartenzaun und und und. Die Geschichten, die Feldmann dazu erzählt, sind Erinnerungen an seine Reisen oder kurze biographische Abrisse der abgebildeten Künstlerinnen und Künstler. Manchmal erinnert er sich an die Musik, meistens vor allem an die Stimmung, die auch auf seinen Fotos zu erkennen ist.
Martin Feldmann hat sein Buch Further On Up the Road im Selbstverlag herausgebracht, mit deutsch/englischem Textteil ist es direkt vom Autor zu beziehen.
Wolfram Knauer (Mai 2022)
The Syntax of Sound. Untersuchungen zur Musik Pat Methenys (1974-1994)
Von Georg Alkofer
Münster 2022 (Waxmann)
341 Seiten, 39,90 Euro
ISBN: 978-3-8309-4472-0
Als Ziel formuliert Georg Alkofer zu Beginn seines Buchs, durch systematische Analyse der Musik herausfinden zu wollen, ob Pat Metheny „den etablierten Konventionen der Stile folgt oder ob ihm eine persönliche Ausdrucksweise oder gar ein wiedererkennbarer Personalstil zugemessen werden“ könne (15f).
Tscha, mag der interessierte und Blindfoldtest-feste Hörer sagen, natürlich hat Metheny einen wiedererkennbaren Personalstil! Aber so ist es nun mal mit der Wissenschaft: Sie will, soll, nein: sie muss auch diejenigen Dinge analytisch belegen, die einem bei oberflächlicher Betrachtung zunächst klar erscheinen. Sie legt die Lupe an, seziert, ordnet, argumentiert, resümiert und kann am Schluss im besten Falle belegen: Ja, so ist es.
Und so ist es auch, erfahren wir, wenn wir ein wenig vorlaut 300 Seiten vorblättern und lernen, wie wichtig die Mitwirkung in Gary Burtons Band für die Ausbildung Methenys persönlicher Ästhetik war, wie er in seinen eigenen Produktionen meist projektbezogen arbeitete, dabei unterschiedlichste Einflüsse aufnahm, von Postbop und Ornette Coleman über Country bis Folk und Pop, wie der Sound ihm über die Jahre immer wichtiger wurde, wie sich sein kompositorischer Ansatz genauso veränderte sie seine instrumentale Technik, wobei er „Klang“ (also Sound) „mitunter gleichberechtigt zu allen anderen eine Komposition bestimmenden Parametern“ setzte (316).
Seine Suche nach neuen Klängen und neuen Ausdrucksmöglichkeiten führt zu zahlreichen instrumentalen Innovationen bis hin zur Pikasso-Guitar, einem mit 42 Saiten gestücktem Instrument auf Basis einer Gitarre mit diversen Resonanzsaiten. „Sich selbst“, spitzt Metheny das einmal zu, sehe gar nicht so sehr als Gitarristen: „Für mich geht es um Sound und Orchestrierung“ (316). Diese allerdings erreicht er durchaus auf dem Weg instrumentaler Virtuosität, die sich an Vorbildern wie Wes Montgomery oder Jim Hall genauso orientiert wie an Bläsern, wobei er eine lockere, von ihm selbst mit „looseness“ umschriebene Artikulation benutzt, „die das Anschlaggeräusch der Saiten zu vermeiden sucht, durch Slides Übergänge schafft und gemäß dem Atem bläserhaft phrasiert oder mittels horizontaler Orientierung auf dem Griffbrett sequenzierende Tonfolgen durch Aufschlags- und Abziehbindungen erzeugt“ (317). Die Jazzgeschichtsschreibung habe Metheny meist in die Stilschublade „Fusion“ gesteckt, erklärt Alkofer, allerdings habe der Gitarrist auch Einflüssen aus Free Jazz bis Pop gegenüber offen gestanden und sich immer vor allem als forschenden Künstler verstanden.
Aber stopp, ich bin vorgeprescht, also zurück zum Anfang des Buchs. Im Kapitel „Biographie / Sozialisation“ geht es genau darum, wobei Alkofer biographische Details auf ein Minimum reduziert und vor allem Bekanntes widergibt (21ff). Im Unterkapitel über „Lern- und Lehrsituationen“ (26ff) lässt er erahnen, dass Metheny, der mit 19 Jahren als jüngster Dozent sowohl am Berklee College in Boston wie auch in Miami unterrichtete, schon damals eine klare Vorstellung zumindest der Ausgangslage seiner musikalischen Forschung besaß. Es folgt eine kurze stilhistorische Einordnung der 1970er Jahre im Jazz, und dann geht’s ans Eigentliche, oder wie Alkofer es überschreibt: „Die Musik Pat Methenys: Analysen“
Im Quartett Gary Burtons habe Metheny sich damit auseinandersetzen müssen, dass sich seine und die melodischer konzipierte Spielhaltung des Vibraphonisten deutlich unterschieden. Die Zeit bei Burton sei wie ein „Ersatz einer formalen musikalischen Ausbildung“ gewesen, schreibt Alkofer, bei ihm habe er gelernt, wie wichtig der Parameter Dynamik beispielsweise für die narrative Qualität und damit die Publikumswirkung der Musik sei (47).
Durch die Arbeit bei Burton wurde auch Manfred Eicher auf Metheny aufmerksam (48) und bot ihm 1973 an, ein Album unter eigenem Namen einzuspielen, das zwei Jahre später unter dem Titel „Bright Size Life“ erschien. Alkofer analysiert die Musik der Platte , fragt nach Aspekten der Kompositionsstruktur (51), nach der Rolle der Gitarre als „Bedingung der Komposition“ und nach Fusion von Jazz und Country (67).
Für das nächste Album „Watercolors“ stellt er „erste Farbkonturen eines Ensembleklangs“ fest (70), betont, wie wichtig die langjährige Zusammenarbeit mit dem Pianisten Lyle Mays für Methenys Entwicklung gewesen sei und erklärt den Titel seines Buchs, „Syntax of Sound“ durch ein Zitat Methenys, in dem dieser auf eine Art gemeinsamen Nenner der ihn beeinflussenden Musik verweist (90). Neben musikalischen Parametern erläutert Alkofer auch technische Entwicklungen, die sich auf das Spiel Methenys auswirken, „Digital Delay und Chorus“ (91), Verstärkung (93), Gitarrenmodelle (94), Besaitung (96), Plektrumtechnik (97), die alle zum „Sound“ als Ausdruck musikalischer Identität beitragen.
Atmosphärisch interessiert ihn die Beschäftigung mit „pastoraler Stilistik“, etwa in „New Chautaqua“ und die damit verbundene „Öffnung des Jazzbegriffs“ (133). Das Album „American Garage“ charakterisiert er als „jugendlichen Jazz ’n Roll“ (135), als „Ausdruck eines stilistischen und kulturellen Wandels“, eines Ansatzes, „der sich stilistisch auf die amerikanischen Wurzeln seiner Generation in Gestalt der Genres Rock’n Roll, Soul und Pop bezieht“ (161).
Das Album „80/81“ gibt Anlass zu einer Diskussion des Einflusses Ornette Colemans auf Methenys Musik (164ff), das Album „As Falls Wichita, so Falls Wichita Falls“ zur Diskussion der Reduktion auf eine Duobesetzung mit Lyle Mays (197ff). Für die 1980er Jahre diskutiert Alkofer Traditionsbezug (211), globale Fusionierungen (213) aber auch elektronische und akustische Innovationen (214ff), derer sich Metheny bedient.
Er hört sich das Album „Rejoicing“ von 1983 an (237ff) und beschreibt den Unterschied des Trios mit Charlie Haden und Billy Higgins zur Metheny Group (unter anderem eine deutlicher Hinwendung zu Elementen der Jazztradition). Er entdeckt Einflüsse der Minimal Music im Album „Still Life (Talking)“ von 1987 (254ff), er findet Methenys Version von David Bowies „This Is Not America“ in den Pop Pop Charts (268ff), und er betrachtet „Song X“, ein Album das Metheny 1985 mit Ornette Coleman aufnahm (272ff).
Von 1992 stammte „Zero Tolerance for Silence“, auf dem in Overdub-Technik einzig Metheny zu hören ist. Alkofer diskutiert die Faktur der Stücke, die ein Kritiker mit „semi-organized noise“ beschrieben hatte und stellt fest, Metheny habe hier „das Blues-Rock-Vokabular einer künstlerischen Stilisierung“ zugeführt, bei der, „obwohl er also nur traditionelles Rock-Vokabular anwendet, (…) die Summe der Klangereignisse nicht auf das Genre Rock“ verweist (282).
Der Spielhaltung von „looseness“, die Alkofer zuvor festgestellt hat, stellt Metheny hier jene der „tightness“ entgegen, beschreibt das Album selbst als „Erkundung klanglicher Dichte“ (284). Metheny habe immer ein Interesse an stilistischen Randbereichen gehegt, schreibt Alkofer (286), hier genauso wie in seiner Zusammenarbeit mit keinem geringeren als dem britischen Gitarristen Derek Bailey und erklärt, wie in „Zero Tolerance for Silence“ die Verwendung eigentlich konventioneller Stilmittel in seiner Dekontextualisierung zu einer Wahrnehmung als Avantgarde führen konnte (285).
Alkofer beendet seine analytische Diskussion mit dem 1991 eingespielten Album „Secret Story“, das Metheny selbst als ambitioniertestes Projekt seiner Laufbahn und Kulminationspunkt seiner kompositorischen Fähigkeiten beschrieben habe (287). Über 80 Personen waren an dem Album beteiligt, das Alkofer „orchestrale Programmmusik“ nennt; die Arrangements seien bis ins kleinste Detail ausgearbeitet gewesen. Er habe „Secret Story“ als Filmmusik-Album ohne Film erachtet, erklärt Metheny, sich dabei vor allem auf seine Rolle als Komponist fokussiert, weniger auf die des Gitarristen (292). „Wie unter einem Brennglas“, fasst Alkofer zusammen, verarbeite die Musik dieses Albums viele Elemente, die im Laufe der Entwicklung Methenys seit den 1970er Jahren eine Rolle spielten (307ff): Country/Americana, Jazz, Minimal Music, New Age, World Music, Popmusik, symphonische Elemente, Qualität der Studio-Produktion, Verarbeitung akustischer, elektrischer und elektronischer Klänge.
Georg Alkofer, der selbst als Gitarrist und Posaunist tätig ist, hat mit seiner Arbeit über Pat Metheny seinen Doktorgrad erlangt, entsprechend musikwissenschaftlich sind große Teile des Buchs gehalten. Die ausgiebigen Analysen aber sollten nicht abschrecken: Alkofer gelingt es in den einleitenden und den zusammenfassenden Absätzen immer wieder den Blick seiner Leser:innen auf das zu richten, worauf es ihm ankommt: die musikalische Entwicklung Pat Methenys, mögliche Gründe für ästhetische Entscheidungen sowie die Art und Weise der Umsetzung und ihre Auswirkungen auf sein weiteres Schaffen.
Wolfram Knauer (April 2022)