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Jazz-Brief international aus Polen (September 2025)

Warum Dänemark Polens wichtigste Jazzschule wurde

von Mery Zimny, Musikjournalistin, Radiomoderatorin, Promoterin für Jazz, improvisierte und kreative Musik
August 2025

Die polnische Jazz- und Improvisationsszene befindet sich seit den 2000er-Jahren in einem intensiven Wandel. Der Anstoß dazu war die Entdeckung einer der wichtigsten Ausbildungsrichtungen im Jazz, deren Zentrum Dänemark wurde (zunächst Odense, später Kopenhagen). Auf der dynamischen dänischen Szene hatten schon in den 1960er-Jahren Krzysztof Komeda und Tomasz Stańko Erfolge gefeiert und Kollaborationen aufgebaut. 1963 veröffentlichte Metronome Productions eine Platte mit dem Quintett von Krzysztof Komeda. Verbindungen nach Dänemark waren also von Anfang an Teil unserer Jazzgeschichte.

Frühe Verbindungen zwischen Polen und Dänemark

Im Bereich Ausbildung begann jedoch vor knapp 20 Jahren für viele Pol*innen eine neue Phase: Dänische Hochschulen wurden entdeckt, und Berichte über ihre Lehrmethoden, fast unbegrenzten Möglichkeiten und die Betonung auf der Entwicklung ungebremster Kreativität machten Dänemark für viele Künstler*innen bis heute attraktiv. Musiker*innen, die aus dem starren polnischen Ausbildungssystem kamen, genossen die Freiheit, die ihnen dort geboten wurde. Sie lernten, Fragen nach ihrem eigenen künstlerischen Weg zu stellen und sich – vor allem – nicht mehr durch enge Genregrenzen beschränken zu lassen.

Am Rhythmic Music Conservatory gibt es keine separate Jazzabteilung; alle Musiker*innen studieren, arbeiten, spielen und schaffen gemeinsam. Instrumentalist:innen verbinden sich mit Produzent:innen und Elektronikkünstler*innen und entdecken dabei Dinge, die ihnen zuvor noch nie begegnet waren. Gleich zu Beginn stellen Dozierende nicht die Frage „was“ oder „wie“ man spielen solle, sondern „warum spielst du?“. Für Studierende, die aus dem polnischen System kamen, war das ein Schock.

Freiheit statt Regeln

Dieses systematische Öffnen von Perspektiven und das Aufzeigen neuer Wege erwies sich als entscheidend. Im polnischen Ausbildungssystem fehlt bis heute weitgehend die Diskussion darüber, wie man bewusst eine künstlerische Laufbahn aufbaut oder sich auf die Anforderungen des Marktes vorbereitet. Auch Themen wie mentale Gesundheit oder andere nicht-musikalische Aspekte werden weitgehend ausgeblendet. Musiker*innen, die nach Jahren polnischer Schule technisch hervorragend ausgebildet waren, begannen dank der gewonnenen Freiheit und den neuen Fragen, die ihnen in Dänemark gestellt wurden, wirklich aufzublühen. Dies ist ein wesentlicher Weg, wie die dänische Szene polnische Musiker*innen beeinflusst hat: Sie eröffnet einen kreativeren, individuelleren und interdisziplinäreren Blick auf den Weg als Künstler*in. Ja, als Künstler*in, nicht nur als Jazzmusiker*in. Diese Offenheit, die enormen Möglichkeiten und der völlig andere Zugang zu Studierenden machten Dänemark schon vor vielen Jahren zum wichtigsten Ausbildungszentrum für Pol*innen.

Rückkehr und Transformation der heimischen Szene

Die Rückkehrer*innen aus Dänemark begannen, die heimische Szene deutlich zu verändern. Es setzte ein Prozess des Öffnens und der Genre-Vermischung ein, der in den letzten Jahren spürbar Fahrt aufgenommen hat. Sie zeigten, wie umfassend man Musik denken kann, wie Jazz und Improvisation sich für elektronische Musik öffnen lassen und wie sich auf der Grundlage von Jazz Wurzeln Musik schaffen lässt, die nicht nur Jazz ist. Damit will ich nicht sagen, dass es diese Denkweise in Polen nicht gegeben hätte – letztlich hängt alles von einzelnen Persönlichkeiten ab –, aber die in Dänemark ausgebildeten Künstler*innen hatten einen spürbaren Einfluss auf solche Entwicklungen und auf die Transformationen der heimischen Szene. Viele von ihnen begannen, Musik zu schaffen, die sich oft kaum mehr als Jazz bezeichnen lässt. Und doch füllen sie Jazz- und Avantgarde-Festivals ebenso wie unterhaltende und Mainstream-Bühnen. Immer öfter wird in den Medien oder auf Jazzfestivals nicht mehr von Jazz als Genre gesprochen, sondern von improvisierter Musik mit Jazzelementen oder, weiter gefasst, von Creative Music, wie Anthony Braxton sie nannte. Selbst Musiker*innen, die in Jazz ausgebildet sind und sich in ihrer Arbeit auf Jazz beziehen, meiden oft diese Bezeichnung. Sie wollen Künstler*innen sein, keine Jazzmusiker*innen.

Ich schreibe dies aus meiner eigenen journalistischen Erfahrung, gestützt auf Hunderte von Interviews, aber auch auf Debatten wie jene, die ich beim Jazz Jantar Festival in Danzig moderierte: „Das ist überhaupt kein Jazz – wo verlaufen die Grenzen des Jazz?“. Mein Eindruck ist, dass Musiker*innen immer weniger Interesse daran haben, über Genregrenzen zu diskutieren. Sie wollen einfach frei schaffen.

Festivals und Clubs als Labor für neue Musik

Dieser weite Blick auf Jazz spiegelt sich sowohl im Schaffen neuer Künstler*innengenerationen als auch in den Programmen der Jazzfestivals wider, die die Grenzen des Jazz mutig ausloten. Beispiele sind das bereits erwähnte Jazz Jantar in Danzig, das Jazztopad Festival in Breslau, die International Jazz Platform in Łódź, die Konzertreihe im JazzKlub NOSPR in Kattowitz, das Art of Freedom Jazz Festival in Danzig oder das polnisch-dänische Idealistic Festival, das sich selbst als „genreless“ beschreibt und von den beiden in Dänemark ausgebildeten Musikern Kamil Piotrowicz und Szymon „Pimpon“ Gąsiorek gegründet wurde. Hinzu kommen immer mehr ambitionierte Festivals für improvisierte Musik in Polen, etwa Ad Libitum oder das Spontaneous Music Festival, um nur zwei zu nennen – die Liste ist lang! Eine polnische Hochburg für improvisierende Musiker*innen aus ganz Europa ist unter anderem der Club Pardon, To Tu in Warschau. Auch der Club Ciągoty i Tęsknoty in Łódź bietet ein ambitioniertes Programm.

Die Situation der Clubs ist dabei ein eigenes Thema. Einerseits ist es für solche Orte extrem schwierig, wirtschaftlich zu überleben, viele schließen. Andererseits gibt es nach wie vor keinen Mangel an Bühnen für kreative Musik in Polen. Die zentrale Herausforderung – wie bei den Festivals – bleibt das Geld.

Polnisch-dänische Kooperationen der Gegenwart

Zurück nach Dänemark: Die Ausbildung mehrerer Generationen polnischer Musiker*innen führte ganz selbstverständlich zu zahlreichen Kooperationen. Ein jüngstes Beispiel ist das Scandinavian Art Ensemble, das aus Workshops für polnische und dänische Musiker*innen mit Tomasz Stańko hervorging. Fast ein Jahrzehnt später erschienen bei April Records zwei Alben, und die Band spielte – nun ohne ihren Maestro – eine Reihe von Konzerten in Europa. Polnische Musiker*innen haben zudem gemeinsam mit JazzDanmark ein Festival in Dänemark ins Leben gerufen, die Polish Danish Jazz Days (u. a. mit Radek Wośko, Tomasz Licak, Artur Tuźnik), die bereits mehrere Ausgaben erlebt haben.

Zu den spannendsten Beispielen polnischer Künstler*innen, die in Dänemark studiert haben, zählen der Trompeter Tomasz Dąbrowski, der Saxophonist Kuba Więcek, die Pianisten Grzegorz Tarwid und Kamil Piotrowicz, die Schlagzeuger Szymon Gąsiorek und Albert Karch (letzterer auch Produzent) sowie die Pianistin Malina Midera.

Mery Zimny, Journalistin und Jazz-Promoterin, ist Mitgründerin des Online-Jazzradios JAZZKULTURA, deren Chefredakteurin sie seit 2022 ist. Sie arbeitet außerdem mit Radio Kraków Kultura zusammen und ist mit dem Jazz Forum Magazin verbunden. Sie moderiert Konzerte im NOSPR JazzKlub. Gemeinsam mit dem Ukrainischen Institut und Jazzkultura Radio setzt sie ein internationales Projekt zu polnisch-ukrainischen Jazzbeziehungen um. Sie kooperiert mit vielen polnischen und europäischen Jazzfestivals, nimmt an Diskussionen, Branchentreffen teil und moderiert Konzerte, Podiumsdiskussionen sowie Treffen mit Künstler*innen. Zudem sitzt sie in Jurys bei Jazzwettbewerben.

Universal Consciousness: abstracts

Ablauf der Konferenz:

DONNERSTAG – Nachmittag
25. September 2025

13:45
Bettina Bohle 
Begrüßung und Eröffnung der Konferenz „Universal Consciousness

Organisatorische und inhaltlich einführende Worte zur Konferenz und zur Bedeutung des Gesprächs über Spiritualität im Jazz für die aktuellen Jazzdiskurse insbesondere in Deutschland

Thema:
Spiritualität, Wirkung und Theorie: Perspektiven öffnen

Tag 1 der Konferenz im HoffArt-Theater Darmstadt. Der erste Tag stellt theoretische und musikwissenschaftliche Perspektiven ins Zentrum: Wie lässt sich das Verhältnis von Musik und Spiritualität überhaupt denken und erforschen? Die Beiträge und das anschließende Panel untersuchen Jazz und Improvisierte Musik als Ausdrucksträger für metaphysische, religiöse oder gesellschaftspolitische Anliegen. In der Abendveranstaltung im Programmkino rex erweitern wir den Blick über das Konzert hinaus – mit zwei Filmen und einem Gespräch zur Erfahrungswelt von Künstler*innen.

14:00
Laura Schwinger (Münster)
Self-loss, self-care, self-expression? Jazz und Achtsamkeit

— abstract: —

Jazz und Achtsamkeit scheinen eine wirkungsvolle Verbindung einzugehen – beide sind an Spiritualität angebunden, zu Jazz wird meditiert, über das “Im-Hier-und-Jetzt”-Sein der Interpret:innen diskutiert. Doch handelt es sich bei der Achtsamkeit, die sich mittlerweile als Self-Care-Instrument in vielen Sphären der Gesellschaft findet, um das gleiche Phänomen wie bei den bewusstsensfokussierten Ansätzen im Jazz? Der Vortrag stellt musikbezogene Entwicklungslinien aus Jazzgeschichte und Achtsamkeitskultur gegenüber. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den sinnstiftenden Qualitäten von Achtsamkeitspraktiken aufseiten von Musiker:innen, Rezipient:innen und Vermarkter:innen sowie dem sie umgebenden Spannungsfeld aus Selbstoptimierung, künstlerischer Selbstverwirklichung und spiritueller Orientierung.>

— bio: —

Laura Schwinger studierte Kulturanthropologie und Musikwissenschaft in Mainz, Utrecht und Hilversum. Sie ist seit 2017 Mitherausgeberin der Anthologie testcard – beiträge zur popgeschichte und war viele Jahre lang als Veranstalterin und DJ tätig. In ihrer wissenschaftlichen und publizistischen Arbeit befasst sie sich mit Ideologien in der Popkultur, Medienästhetik und Feminismus .

 

15:15
Uwe Steinmetz (Regensburg)
Just a Vessel – Spirituelle Erfahrung als Formsprache im Spiritual Jazz

— abstract: —

Was macht Spiritual Jazz zu mehr als ein Etikett für Künstler und Labels? Ist nicht alle Musik spirituell – , jedes Konzert auch ein Ritual und wo kommen auch noch Religion ins Spiel? Uwe Steinmetz hört einordnend in die Jazz‐Geschichte und Gegenwart hinein, unternimmt den Versuch einer offenen Typologie des Spiritual Jazz und stellt aktuelle interdisziplinäre und Forschungszugänge vor.

— bio: —

Uwe Steinmetz wurde als Saxofonschüler von Spiritual Jazz und Indischer Musik geprägt. Seit 1999 widmet er sich beruflich den Berührungspunkten von Spiritualität, Religion und Jazz mit einem Fokus auf der Christliche Tradition. Er studierte als Stipendiat in Berlin, Bern und Boston und promovierte an der Universität Göteborg über die musikalische Sprache des religiös inspirierten Jazz.

Uwe ist Mitbegründer des internationalen Netzwerks BlueChurch, Kurator kirchlicher Jazzreihen und Festivals in Europa und veröffentlicht Bücher, Essays und Songbooks. Konzertreisen führten ihn in über 40 Länder und auf fünf Kontinente. Als Solist veröffentlichte er sechzehn CDs unter eigenem Namen und wurde mehrmals für den Preis der Deutschen Schallplattenkritik nominiert. Seit 2024 ist er hauptamtlich als Dekanatskirchenmusiker in der Evangelisch‐Lutherischen Kirche in Bayern tätig und lebt mit seiner Frau, der Cellistin Lauren Franklin Steinmetz und drei gemeinsamen Kindern in Regensburg.

16:30
Panel 1 zu musikwissenschaftlichen Perspektiven mit
André Doehring (Kunstuni Graz), Fanny Opitz (Rundfunkjournalistin und Literaturwissenschaftlerin, Bonn), Hauke Dorsch (Uni Mainz), Moderation: Aida Baghernejad

Bei dem von der Berliner Journalistin und Bloggerin Aida Baghernejad moderierten Panel diskutieren der Musikethnologe Hauke Dorsch, Leiter des Archivs für die Musik Afrikas der Uni Mainz, die SWR-Musikjournalistin und Medienwissenschaftlerin Fanny Opitz und der Musikwissenschaftler André Doehring, Direktor des Instituts für Jazzforschung an der Kunstuni Graz über die unterschiedlichen Herangehensweisen ihrer Disziplinen zum Thema Spiritualität.

— bios: —

André Doehring ist Professor für Jazz- und Popularmusikforschung am von ihm geleiteten Institut für Jazzforschung der Kunstuniversität Graz (Österreich). Seine Arbeitsgebiete sind Analyse und Historiographien von populärer Musik und Jazz sowie Musik und Medien. Er ist Mitherausgeber von Jazzforschung / Jazz Research und Beiträge zur Jazzforschung / Studies in Jazz Research.

Fanny Opitz ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und arbeitet als Musikjournalistin (Autorin, Moderatorin und Redakteurin) für die Kulturwellen der ARD sowie für internationale Medien. Als Jazzkritikerin für SWR Kultur und SRF Kultur gehört der aktuelle Überblick über die internationale Jazzszene zu ihrem Tagesgeschäft. Außerdem kuratiert sie aktuelle Musiksendungen und sorgt für viel Jazz im Radio. Weitere Schwerpunkte sind Weltmusik, Modern Classical und Classical. Außerdem ist sie als Bühnenmoderatorin tätig, gibt Konzerteinführungen und hostet Events wie das Showcase Festival der Jazzahead 2025. Als Dozentin und Coach gibt sie ihr Wissen weiter. Das Thema Jazz und Spiritualität begleitet sie seit vielen Jahren als Expertin für Black Music – zum Beispiel in ihrer 10-teiligen Serie „ 100 Jahre Harlem Renaissance“ (SWR Kultur Musikstunde) sowie in Interviews und Features an der Schnittastelle von Jazz und Philosophie/Theologie, z.B. SWR Kultur Jazz: Der Jazzphilosoph Wadada Leo Smith.

Hauke Dorsch ist wissenschaftlicher Leiter des Archivs für die Musik Afrikas (AMA) und lehrt am ifeas. Er forschte u.a. zu westafrikanischer Musik in der Diaspora, zur Integrationspolitik in Deutschland und zu kubanisch-afrikanischen Beziehungen. Jüngere Forschungen zur namibischen Popularmusik, zur Feminisierung der westafrikanischen Koramusik, zur kongolesischen Rumba in der Ära Mobutu. Die Arbeit im Archiv lädt zur Auseinandersetzung mit Materialität von Kultur, hier besonders Musik, zur Kulturgeschichte von Musik, zu (post-) kolonialen Erwerbungskontexten ein. Darüber hinaus geht es mir stets auch um die Vermittlung afrikanischer Musik an eine breitere Öffentlichkeit, über Konzerte, Workshops, Ausstellungen, DJ-Sets, Medien.

17:30 REFLEXION mit Aida Baghernejad


FREITAG – Vormittag
26. September 2025

Thema:
Körper, Konflikte, Kuratieren: Zwischen Hingabe und Haltung

Am zweiten Konferenztag geht es um die gelebte Praxis: Wie manifestiert sich Spiritualität im künstlerischen Alltag? Wie wirkt Musik in gesellschaftlich angespannten Kontexten? Musiker*innen, Kurator*innen und kulturpolitische Akteur*innen bringen vielfältige Perspektiven auf kreative Handlungsspielräume ein. Im Zentrum stehen dabei sowohl individuelle Positionen als auch kollektive Formate, zwischen Widerstand, Ritual und Selbstsorge. Der Konzertabend mit Michael Wollny und Émile Parisien in der Centralstation sowie eine nächtliche Listening Session mit Hermes Villena und Tanya Gautam runden den Tag atmosphärisch ab.

10:00
Martin Büdel (Darmstadt)
‚Es ist mehr als eine Religion‘: Spiritualität und Transzendenz in madagassischen Jazz-Fusionen

— abstract: —

Jazz wird nicht selten mit unterschiedlichen Formen spiritueller Erfahrung verbunden, in Bezug auf unsichtbare Dimensionen von Inspiration und Imagination, aber auch im engeren Sinne als religiöse Erfahrung, die wiederum kreative Prozesse animiert. Die Vorstellungswelt und musikalische Praxis jazzbegeisterter Musiker*innen in Antananarivo, der Hauptstadt Madagaskars, ist ebenso fundamental geprägt durch ihren Glauben und den Bezug auf Spiritualität. Der Vortrag beleuchtet diese spirituellen Kräfte auf madagassische Musiker*innen und ihre Jazz-Fusionen. So finden sich Formen der Spiritualität in ganz unterschiedlichen
Ausprägungen: zum Beispiel in der engen Verbindung zwischen christlichem Glauben, Gospel- und Kirchenmusik und Jazz; aber auch im Hinblick auf Elemente vorchristlicher Traditionen, die ebenso Inspiration beim Komponieren oder Improvisieren bieten können. Unabhängig davon, ob sie sich auf christliche oder
vorchristliche madagassische Glaubensvorstellungen beziehen, teilen Musiker*innen in Bezug auf Jazz eine gemeinsame Überzeugung: Ihre Musik wird von einer Art ‚Geist des Jazz‘ bestimmt und ermöglicht nicht nur tiefe emotionale Erlebnisse, sondern auch Verbundenheit mit anderen oder Erfahrungen der Transzendenz.

— bio: —

Martin Büdel ist Ethnologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Nach dem Studium der Ethnologie, Soziologie und Afrikastudien promovierte er in Ethnologie mit einer Dissertation über Alltag, Arbeit und den Umgang mit Zeit im ländlichen Frankreich. In seinen überwiegend ethnographisch ausgerichteten Forschungen interessiert er sich für Musik und ästhetische Erfahrung, aber auch für Arbeit und wirtschaftliches Handeln allgemein. Sein aktuelles Forschungsprojekt untersucht das Wechselverhältnis von Musik und Gesellschaft in Jazz und musikalischer Improvisation im madagassischen Hochland, insbesondere in der Hauptstadt Antananarivo. In Kürze erscheint dazu u.a.: ‚Locating Jazz in Madagascar. A Brief Musical Social History.‘ im Journal of Southern African Studies.

11:00
Laura Robles Marcuello (Berlin)
Antigroove – Diskriminierung und kulturelle Aneignung im Rhythmus

— bio: —

Laura Robles Marcuello wurde in Swasiland geboren, wuchs in Lima, Peru, auf und begann bereits mit vier Jahren Cajón zu spielen. Ihre musikalische Ausbildung führte sie über Lehrer wie Amador Chebo Ballumbrosio sowie Begegnungen mit kubanischen Musiker:innen zu einer frühen Auseinandersetzung mit afro-peruanischer und kubanischer Musik.

In ihrem Soloprojekt ANTI-GROOVE greift Laura Robles Rhythmen aus verschiedenen Ländern auf und verändert deren innere Phrasierung durch Morphing und Improvisation. Dabei komponiert sie Rhythmen und Melodielinien, die den Prozess der Veränderung begleiten.

Mit CAMINA sucht Laura Robles nach neuen Wegen, moderne Jazzmusik mit dem afro-peruanischen Cajón zu interpretieren. Gemeinsam mit den Berliner Musikern Peter Ehwald (Saxofon) und Johannes Lauer (Klavier) hat sie eine musikalische Sprache entwickelt, die rhythmische und harmonische Konzepte des Jazz mit den Ausdrucksmöglichkeiten afro-peruanischer Folklore verbindet – eine dicht verwobene Musik von großer improvisatorischer Freiheit und Weite.

11:45 REFLEXION mit Aida Baghernejad (Berlin)


FREITAG – Nachmittag
26. September 2025
Thema:
Körper, Konflikte, Kuratieren: Zwischen Hingabe und Haltung

14:00
Aida Baghernejad (Berlin) im Gespräch mit Maria I.J. Reich (Berlin)
Kunst, Kontext, Kreativität. Kreativität unter angespannten Bedingungen

— bio: —

Maria I.J.Reich ist Geigerin, Komponistin, Forscherin, Dichterin und Pädagogin – eine prägnante Stimme einer neuen Generation improvisierender Musiker*innen in Europa. Ihre Arbeit verbindet
Virtuosität mit kompositorischer Tiefe, interdisziplinärer Forschung und internationaler Bühnenerfahrung. Nach einem Jungstudium an der UdK Berlin und einem kulturwissenschaftlichen Studium mit Auszeichnung entwickelte sie ein Profil, das zeitgenössische Musik, Improvisation und Forschung vereint. Sie lebte in Mexiko, Peru, Italien, Frankreich und Deutschland, spricht fünf Sprachen und bewegt sich zwischen Genres und Disziplinen. Kompositionsaufträge erhielt sie u. a. von Ensemble Reflektor und dem Goethe-Institut, Förderungen u. a. vom Berliner Senat und Musikfonds. Ihr Soloalbum INTERDEPENDENZEN (Relative Pitch Records, 2024) sowie Veröffentlichungen bei transcript, Routledge und Verlag Neue Musik Berlin dokumentieren ihre eigenständige Forschung und Klangsprache. Derzeit arbeitet sie an CARE WORKS – einem Projekt über Fürsorgearbeit in unserer Gesellschaft.

Aida Baghernejad ist freie Journalistin (u.a. Deutschlandfunk Kultur, Zeit Online, RadioEins, Musikexpress, taz, Tagesspiegel, tipBerlin) und schreibt über Musik, Film, Literatur und Essen.  Sie ist außerdem Moderatorin und Co-Moderatorin verschiedener Podcast- und Veranstaltungsformate und erforschte 2024 als Thomas Mann Fellow im Thomas Mann House Los Angeles wie politische Themen im popkulturellen Diskurs verhandelt werden. 2021 erhielt sie den International Music Journalism Award als Musikjournalistin des Jahres, 2019 wurde sie für den besten Text des Jahres ausgezeichnet, und war in den letzten Jahren unter anderem für den Alternativen Medienpreis oder den Listen to Berlin Award nominiert. 2023 war sie die Juryvorsitzende des Deutschen Jazzpreises und ist unter anderem Mitglied des Beirats des Deutschen Jazzpreises, der Jurys des VIA Award des VUT, des IMJA und des Kathrin-Preises des Jazzinstituts Darmstadt.

15:15
Basak Yavuz (Berlin) & Serdar Yilmaz (Istanbul)
An introduction to their artistic project „Triptych of the Absentees“

— abstract: —

Triptych of the Absentees is a transdisciplinary trilogy. It draws in elements of fantasy and allegory to explore themes at the center of the contemporary global  debate: social polarization and the devaluation of fact. At the center of the project is the concept of „absence/presence“ through an ontological perspective, that absence is not non-existence. This stems from our belief that while humanity exists within social and cultural structures, other worlds also exist; that rather than just monotype individuals, artists with different backgrounds, emotions, and thoughts are of value to society, paving the way for the emergence of a new „world of values“. The work also involves the interpretation of absence as a state of active detachment. This absence in the real world has many causes, largely in response to the age of post-truth. Therefore the piece also asks: Is being present an achievement to be accomplished or the flipside of the same coin?

— bios: —

Basak Yavuz (Ph.D.) is a leading jazz figure from Türkiye now based in Berlin, embodies cross-cultural exchange through her international projects. After winning the Nardis Jazz Competition in 2008, she earned a Master of Music from the Manhattan School of Music and completed her doctoral studies in Istanbul, with her dissertation entitled: „The Impact of Twentieth Century Music Theory on John Coltrane’s Performances and Compositions“. Basak has performed internationally, with her debut album „things“ recorded in New York featuring jazz legend Dave Liebman, followed by a second album „a little red bug“ recorded in Istanbul. She has taught at Bahcesehir and Bilgi Universities. Her latest LP, „RAUM 610“, recorded in Berlin and released this year by Rumi Sounds, has been praised for its zappa’esque qualities, demonstrating her ability to push musical boundaries.

Serdar Yilmaz graduated from Marmara University, Department of Fine Arts, Painting Department in İstanbul (MA and PhD). Serdar Yılmaz has many films that were screened at many national and international film festivals and won awards. Similarly, his experimental film and video installations have reached viewers at various international art galleries, solo and group exhibitions and museums. (For example, “the Turkish Delight”, Rio Contemporary Art Museum, Brazil). Yilmaz has worked as a production designer and art director on many feature films and documentaries and won many awards. Some of his awards include; The “Shadowless” (2009, the Golden Boll Film Festival, “the Best Art Director Award”), “Waiting for Heaven” (2007, the Golden Boll Film Festival, Ankara Film Festival, “the Best Art Director Award”). His short films “the Puddle” (2015) and “Fried Chicken” (2013) have been screened at many international film festivals such as the Rotterdam Film Festival (2013), the Cannes Film Festival (2012), the Brooklyn Film Festival (2016-2012), and the Oaxaca Film Festival. He works as an academic at Balikesir University, Fine Art Faculty.

16:30
Panel 2 zu kuratorischen Perspektiven
mit Sohie Emilie Beha (Köln), Klaus Gasteiger (Mainz), Jacobien Vlasman (Berlin), Moderation: Aida Baghernejad

Beim Panel ab 16:30 Uhr diskutieren die Kurator*innen Sophie Emilie Beha, Klaus Gasteiger, Jacobien Vlasman zu Perspektiven beim Umgang mit dem Begriff der Spiritualität bei der Entwicklung von Veranstaltungskonzepten.

— bios: —

Sophie Emilie Beha (*1997) ist Kuratorin und multimediale
Musikjournalistin. Sie hört mit großen Ohren Menschen, Tönen und Phänomenen zu, lässt sie in sich wirken und faltet real-surreale Welten auf, gebaut aus Sprache und Klang. Mehrdimensional durchleuchtet sie in Festivals,
Konzertreihen, Texten, Radiosendungen und Moderationen
soziale und politische Diskurse der Gegenwart, verknüpft sie mit Musik und verrückt scheinbar Unumstößliches. Sophie befragt liebevoll bestehende Grenzen, betrachtet das Fremde als Freundin und widmet sich hingebungsvoll wie ein Trüffelschwein ihrer Suche nach der Quintessenz, getrieben
von Durchlässigkeit und Neugierde. Sie ist Gründerin und Künstlerische Leitung der Konzertreihe „ritual“ und des Festivals „Houbara – Resonanzen Iran“ in
Köln, sowie u.a. Ko-Kuratorin der Cologne Jazzweek und des moers festivals. Sie war bereits zweimal für den Deutschen Jazzpreis nominiert. Mehr Informationen unter: sophieemiliebeha.de

Klaus Gasteiger 1973 im schweizerischen Thun geboren, studierte Musik und Kulturmanagement in Würzburg und Ludwigsburg. Von 2005 bis 2023 war er als Kulturmanager und Konzertdramaturg für BASF in Ludwigshafen tätig und dort für mehrere Konzertreihen verantwortlich. Als künstlerischer Leiter setzte er Projekte unter anderem in Mumbai, Shanghai und New York um. Er entwickelte für das weltweit größte Chemie-Unternehmen zahlreiche Sponsoringprojekte und arbeitete dabei mit Festivals, Museen, Theatern und der Freien Szene zusammen. Zudem war er Geschäftsführer der „Arbeitsgruppe Kulturvision“ und in der kulturellen Regionalentwicklung der Metropolregion Rhein-Neckar aktiv. Klaus Gasteiger war Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen, unter anderem an der Hochschule für Musik Mainz, der Donau Universität Krems und dem Institut für Kulturmanagement in Ludwigsburg. Gasteiger ist 2. Vorsitzender von Jazz RLP, dem Landesverband für Jazz in Rheinland-Pfalz. Seit 2024 ist er selbstständiger Kulturmanager. Er wird im ersten Halbjahr 2025 kulturelle Forschungsreisen zur Ästhetik der Aufführungspraxis etwa zum Kala Ghoda Festival nach Mumbai sowie nach Südostasien unternehmen. Ab der Spielzeit 2026 ist er Co-Intendant des Moselmusikfestivals.

Die in Berlin lebende niederländische Sängerin, Komponistin und Festivalorganisatorin Jacobien Vlasman ist eine vielseitige Stimme der deutschen Jazzszene. Mit zwei Masterabschlüssen (M.A. Mus. EUJAM, M.A. phil. Geisteswissenschaften) verbindet sie künstlerische Neugier mit intellektueller Tiefe. Ihre Projekte – vom Oktett Jaco Says Yes über das elektro-akustische Trio enEn bis zu internationalen Kollektiven – zeigen ihre Offenheit für Klangforschung, Improvisation und neue Ausdrucksformen. Auftritte führten sie u.a. zum Cheltenham Jazz Festival, XJAZZ Istanbul, Luxemburg Jazz Ralley und zur Burghausener  Jazzwoche. Ebenso prägt sie seit fünf Jahren die Berliner Szene als künstlerische Leiterin und Organisatorin des rejazz-festivals und der Konzertreihe Inside, wo sie innovative Formate entwickelt und internationale Künstler*innen zusammenbringt. Zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen (Senat Berlin, Musikfonds e.V.) unterstreichen die künstlerische Strahlkraft ihres Schaffens.

17:30 REFLEXION mit Aida Baghernejad


SAMSTAG – Vormittag
27. September 2025

Thema:
Auf der Suche nach Resonanz: Musikpädagogik, Performance und Alltagspraxis

9:00
Jonas Brinckmann (Holzkirchen)
„Improvisation zwingt dich im Hier und Jetzt zu sein. Wenn du das nicht bist, dann improvisierst du nicht“ – Sichtweisen von Instrumentallehrenden auf das „Jetzt“

— abstract: —

In der Fachliteratur ist zu lesen, dass das Lehren und Lernen von Jazz(improvisation) zunehmend in institutionalisiertem Kontext stattfindet. Jazz als eigenständiges Hauptfach werde an immer mehr Musikschulen und Musikhochschulen etabliert und auch an den allgemeinbildenden Schulen scheint das Konzept Big Band Klasse an Beliebtheit zu gewinnen. Da Jazz zunehmend an Schulen, Musikschulen und Hochschulen praktiziert werde, kommt den Lehrkräften eine entscheidende Rolle bei der aktiven Fortführung und Mitgestaltung einer Jazztradition zu.

Die im Titel angesprochene Zeitlichkeit wird als ein zentrales Element des  (Jazz)Improvisierens beschrieben. Dabei gehe es nicht um musikalische „Time“, sondern um Zeit als fortlaufendes Kontinuum zwischen Vergangenheit und Zukunft – als Abfolge von Ereignissen. Mit einer Auffassung des Improvisierens als gleichzeitiges Erfinden und Ausführen im Rahmen eines undeterminierten Prozesses in Echtzeit, wird damit eine bestimmte innere Haltung der Spieler*innen verbunden: Als nicht-reflexiv, entspannt aber wach, loslassend, wertfrei und fokussiert auf das Hier und Jetzt. Vor diesem Hintergrund werden im Rahmen des Vortrags Interviewausschnitte von Instrumentallehrkräften im nicht-hochschulischen Bereich präsentiert und untersucht. Die dadurch entstehenden Eindrücke konturieren ein Jazzimprovisieren im Hier und Jetzt aus instrumentalpädagogischer Perspektive. Darüber hinaus geben sie Einblicke, vor welchen Herausforderungen die befragten Lehrkräfte beim Unterrichten des Jazzimprovisierens stehen

— bio: —

Jonas Brinckmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Musikpädagogik an der Musikhochschule Carl Maria v. Weber in Dresden. Er studierte Lehramt Musik und Jazzsaxofon an den Musikhochschulen in Dresden und München. Nach seinem Studienabschluss unterrichtete er Saxofon, Klarinette und Ensembles an den städtischen Musikschulen Rottenburg a.d.L, Garching b. München und Unterschleißheim. Momentan leitet er die Amateurbigband „Hard Days Night Big Band“, unterrichtet Jazzsaxofon in der Schulmusikabteilung der Musikhochschule München und gibt Band Workshops im Auftrag des Bayerischen Musikrats. Neben seiner pädagogischen Tätigkeit spielt er als Baritonsaxophonist in der Band von Harald Rüschenbaum, im Christian Elsässer Jazzorchestra oder der Munich Lab Band und ist Gast in Bands in ganz Europa, wie dem Concept Art Orchestra Prag, Tobias Hoffmann Jazzorchestra Graz oder der Jakob Helling Concert Band Wien.

10:00
Maria Spychiger (Frankfurt)
Fly me to the Moon. Connecting patterns im Jazz

— abstract: —

Ausgehend vom Konzept der connecting patterns, das Gregory Bateson in seinem Hauptwerk Mind and Nature, a Necessary Unity (1979) als Grundlage des Ästhetischen identifiziert hat, stellt dieser Beitrag die Frage nach den verbindenden Mustern im Jazz. Das Flussnetz entlang dem Mississippi und den Ohio hinauf, mit dem sich der Jazz von New Orleans aus in die rivertowns und weiter in die Metropolen von Chicago und New York City ausbreitete, steht wie eine große Metapher für solche Muster. Connecting patterns werden wirksam, wenn Menschen sich ihnen öffnen, auf sie antworten und sich mit ihnen koordinieren. Es werden im Vortrag einige solche unmittelbaren Antworten in der musikalischen Wahrnehmung angesprochen. Darüber hinaus wird die Sphäre erläutert, in welcher Verbundenheit erlebt und erfahren wird: die ästhetisch-sakrale Sphäre als Bereich erweiterter Welterfahrung, wie sie die Musik insgesamt bietet. Die Spezifika des Jazz als connecting agent gilt es auszuloten. Als grandioses Beispiel wird einerseits Fly Me to the Moon vorgestellt, das erste Lied, das mit der Apollo 10 Mission sogar Himmel und
Erde miteinander verbunden und die Astronauten mit der zurückgelassenen Erde musikalisch zusammengehalten hat. Weiter beleuchtet die Referentin mit einem persönlichen Erlebnis in einer der rivertowns – Louisville am Ohio – die pädagogische Dimension der connecting patterns und ihre große Wirkung und Präsenz in der Praxis des Jazz.

— bio: —

Maria Spychiger, Professorin für empirische Musikpädagogik an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main von 2007-2025, durchlief ihren akademischen Bildungsweg mit den Fächern Psychologie, Pädagogik und Ästhetik in der Schweiz, Deutschland und den USA. Doppelvenia Legendi für Musikpsychologie und Musikpädagogik. Zahlreiche Forschungsprojekte mit Schwerpunkten in der musikalischen Bildung und der musikbezogenen Identitäts- und Selbstkonzeptforschung sowie der Entwicklung des Konzepts der Fehlerkultur. Neuere Arbeiten widmen sich dem Person-Welt-Bezug mit Fokus auf die ästhetisch-sakrale Sphäre. Internationale Publikations- und Vortragstätigkeit, Reviewerin für viele Fachzeitschriften und Forschungsgesellschaften. An der HfMDK Frankfurt am  Main hat sie u.a. den Studiengang Master Musikpädagogik aufgebaut und das Konsortium Graduiertenschule Musikpädagogik zur Zusammenarbeit verschiedener Ausbildungsstandorte gegründet.

11:00
Michael Wollny (Leipzig)
Living Ghosts

— abstract: —

Der Vortrag erkundet das Spannungsfeld zwischen Körper, Geist und Klang im künstlerischen Prozess, insbesondere in improvisierter Musik. Ausgehend von der Metapher des „Geists“ als Inspiration, Erscheinung oder Nachklang beleuchtet der Vortrag, wie Musik als „lebender Geist“ wirkt – durch Musiker:innen, durch Instrumente, durch Räume. Zwischen Spiritualität und Automatismus, zwischen Handwerk und Hauch bewegt sich die künstlerische Praxis in einem oszillierenden System von Bewusstem und Unbewusstem, Intuition und Technik.

Künstlerische Prozesse werden als hauntologische Phänomene verstanden: Geisterhaftes, Abwesendes, Nicht-mehr- oder Noch-nicht-Seiendes prägt sowohl das musikalische Material als auch seine Ausführung. Begriffe wie „Muscle Memory“, „Zungenrede“, „Griffbibliothek“ oder „haptische Choreographie“ verweisen auf körperliche Speicher, die von Musik „heimgesucht“ werden. Werkstatt und Bühne erscheinen als Orte der Beschwörung, in denen der schöpferische Akt zwischen Kontrolle und Hingabe changiert.

Anhand musikalischer Beispiele und Zitate, klassischer Horrorfilm-Narrative und interdisziplinärer Verweise formuliert der Vortrag eine Poetik des musikalischen Zwischenreichs – ein Raum, in dem Musik nicht nur erklingt, sondern durch Musiker:innen hindurch spricht. Musik als „lebender Geist“ wird so zum Medium einer künstlerischen Epiphanie, die sich rationaler Durchdringung entzieht und dennoch präzise gestaltet ist.

— bio: —

Michael Wollny zählt heute zu den bedeutendsten europäischen Jazzmusikern. Nach einer klassischen Ausbildung und frühem Jazzstudium bei Chris Beier entwickelte er einen unverwechselbaren pianistischen Stil zwischen Improvisation, Klassik und Avantgarde. Bekannt wurde er mit dem Trio [em] (Eva Kruse, Eric Schaefer), das 2005 mit dem Album call it [em] den Auftakt zur ACT-Reihe Young German Jazz gab. Seither prägt Wollny die Szene mit stiloffenen Projekten und international gefeierten Veröffentlichungen. Das Trio-Album Weltentraum (2014) markierte seinen Durchbruch weit über die Jazzwelt hinaus – inklusive Auftritten in den Hauptnachrichtensendungen und ausverkauften Konzertsälen. Wollny arbeitet regelmäßig mit Musiker:innen wie Heinz Sauer, Joachim Kühn, Vincent Peirani, Emile Parisien, Andreas Schaerer oder Nils Landgren, ebenso mit Künstlern aus Pop, Literatur und Neuer Musik. Als Solist, mit seinem Trio oder in wechselnden Besetzungen hat er über 30 Alben veröffentlicht, zahlreiche Preise gewonnen und ist als Professor, Kompositionsauftragsnehmer und Artist in Residence in ganz Europa aktiv. Wollny versteht seine Musik als „Wunderkammer“: ein ständig wachsendes Klangarchiv, gespeist aus Einflüssen von Schubert bis Björk, von Varèse bis Kraftwerk.

11:45 REFLEXION mit Aida Baghernejad


SAMSTAG – Nachmittag
27. September 2025

Thema
Auf der Suche nach Resonanz: Musikpädagogik, Performance und Alltagspraxis

Improvisation als Moment der Gegenwart, als Zugang zu kollektiven Erfahrungen und als künstlerischer wie pädagogischer Möglichkeitsraum steht im Mittelpunkt dieses Tages. Neben Beiträgen zu Mental Health, Musikpädagogik und ästhetischer Forschung stellen Musiker*innen und Performer*innen ihre Perspektiven auf Spiritualität im kreativen Prozess vor. Was passiert im „Jetzt“ des Spiels – und wie lässt sich diese Erfahrung vermitteln? Der Abend gehört dem Yarns Ensemble und ihrer Musik zwischen musikalischer Spurensuche und klanglicher Gemeinschaft.

14:00:
Jan Kobrzinowski (Münster) & Hans Hansen (Bexhörn)
Beyond Music. A Journey into Healing Frequencies of Sound and Music

— abstract: —

Wir starten einen langfristigen Podcast über die mögliche Heilkraft von Musik als transformatives Instrument für ganzheitliche Heilung und auch sozialen und Weltfrieden – sowohl physisch als auch geistig – durch Musik und Sound. Unsere Initiative zielt darauf ab, die tiefgreifende Wirkung von Klang und Musik als soziales und individuelles Instrument für Menschlichkeit, Wohlbefinden, Krisenbewältigungsstrategiein und Nachhaltigkeit auf unserem Planeten zu erforschen und ein tieferes Verständnis dieses Heilungspotenzials für Einzelpersonen, Gemeinschaften und soziale Gruppen zu fördern. Ein Work-in-Progress-Projekt mit einem öffentlichen professionellen YouTube-Kanal und Website/einem Blog: Video-Interviews, auch um sie Sponsoren zu präsentieren und evtl. finanzielle Unterstützung für einen später möglichen Dokumentarfilm zu finden. Einige Videos sind aufgrund sorgfältig durchgeführter Genehmigungsprozesse mit allen Protagonist*innen noch nicht veröffentlicht. Alle YouTube-Interviews mit Künstler*innen, Veranstalter*innen, Musikforscher*innen etc. werden erst nach endgültiger Genehmigung auf unserem YouTube-Kanal veröffentlicht. Zeile: Untersuchung der Praktiken von Musikern, Heilern, Lehrern, Wissenschaftlern, die bewusst mit Heilung durch die Kraft von Klang und Musik arbeiten. Die Podcast-Reihe liefert strukturierte Interviews mit Künstlern, Experten und Praktikern, die ihre Erkenntnisse und Erfahrungen teilen. Die Ergebnisse sollen öffentlich zugänglich gemacht werden, um Menschen über die heilende Kraft von Musik und Klang aufzuklären und zu inspirieren.

–bios:–

Jan Kobrzinowski wurde 1959 in Hamburg geboren. Studium der Geisteswissenschaften an der Uni Hamburg, Aufenthalt in Mallorca/Spanien, dort Co-Leiter eines internationalen Kulturzentrums; Journalist für Jazz und andere Musik, Musiker, lizensierter Workshopleiter TaKeTiNa®-Methode (Advanced Rhythm Teacher) wohnt in Münster/Germany, www.kobrzinowski.com

Hans Hansenis a versatile filmmaker, photographer, and musician known for his collaborative work, particularly as a Director of Photography and editor for the Barcelona-based production company Minimal Films on award-winning documentaries like „Al final de la escapada“. His creative portfolio also includes photography for publishers like Triangle Postals and musical compositions, reflecting a transnational career balanced between his professional hub in Barcelona and a personal base in Germany.

15:15
Die Unwucht (Berlin)Lecture Performance

— abstract: —

Das Duo DIE UNWUCHT arbeitet seit über acht Jahren an Arbeitsweisen für Improvisierte Musik. Dabei spannen Christopher Kunz und Florian Fischer schon von Beginn an den Bogen zur gesellschaftlichen Einbettung und zum Einbezug von Spiritualität und Körperarbeit als wichtige Träger zum Erinnern und Reproduzieren musikalischer Inhalte. Über die Jahre hat DIE UNWUCHT eigene Methoden und Arbeitsweisen entwickelt, die in einer offenen lecture performance in drei Abschnitten vorgestellt werden.

1. Kurze konzertante performance von DIE UNWUCHT als „Arbeitsprobe“
2. Vorstellung der Probenarbeit von DIE UNWUCHT
Drei Übungen, die Meditation und Körpergefühl mit Theorien der Spektralmusik vereinen und eine Musik, die aus sich selbst heraus entsteht, begünstigen:
– Körpergefühl als wichtiger Träger zum Erinnern und Reproduzieren musikalischer Inhalte
– Betrachtung der Band-Arbeit im globaleren Kontext hinsichtlich spiritueller Methoden und Einflüsse
3. Einbettung des künstlerischen Schaffens in den gesellschaftlichen und politischen Raum.- Sind Arbeitsweisen und die Konstruktion / Komposition von Musik politisch?
– Spiritualität und Avantgarde

 

 

— bio: —

Florian Fischer ist experimenteller Schlagzeuger und Improvisationsmusiker.
Inspiriert von Spektralmusik, Zeitgenössischer Komposition und Black American Music arbeitet er an seiner eigenen Spielart Improvisierter Musik, in die er zudem Konzepte aus Psychologie, Soziologie, Theater, bildender Kunst und Literatur einfließen lässt. Neben seinem Soloprogramm und eigenen Projekten rund um das Duo „Die Unwucht“ arbeitete er auch international u.a. mit Loren Stillman, Achim Kaufmann, Elisabeth Coudoux, Ignaz Schick und Nicola Miller. Als künstlerischer Leiter von „Projekt_Freispiel“ kuratiert und koordiniert er Konzerte, Workshops und Diskussions-Panels zum Thema Freiheit und Improvisation. florianfischerdrums.com

Christopher Kunz (Tenor – und Sopransaxophon) arbeitet an Klangstrukturen, wandelbaren Motiven und der Suche nach einer individuellen harmonischen
Sprache. Seine Musik umfasst sowohl lyrische und melodische Elemente als auch abstrakteres strukturelles Material und deckt ein weites Feld von minimalem, transparentem bis zu dichtem und dunklem Expressionismus ab.

In den Kollektiven Die Unwucht, FLUT, Perplexities on Mars und im Duo mit Pianist Simon Lucaciu geht er dieser Klangsprache in freien Improvisationen und Eigenkompositionen nach. 

16:30
Panel 3 zu künstlerischen Perspektiven mit Philipp Gropper (Berlin), Zola Mennenöh (Köln) und Mark Porter (Erfurt), Moderation: Aida Baghernejad

Den Abschluss der Konferenz bildet das letzte Panel, in dem sich der Musiker Philipp Gropper, die Performance Künstlerin und Musikerin Zola Mennenöh und der Religionswissenschaftler Mark Porter von der Uni Erfurt über persönliche Zugänge, spirituelle oder religiöse Bezüge in ihrem Schaffen – und die damit verbundenen Chancen und Herausforderungen unterhalten.

— bios: —

Philipp Gropper ist Saxophonist und Komponist. Nach seinem Jazzstudium an der UdK Berlin und zwei Jahren beim Bujazzo arbeitet er als freischaffender Saxophonist und Komponist. Er gründete mehrere eigenständige Bands, darunter das Trio Hyperactive Kid (2003), das Quartett PHILM (2012) sowie die elektroakustische Band TAU5 (2013). 2020 startete er ein weiteres Projekt mit Grischa Lichtenberger und Gaia Mattiuzzi. Konzerte führten ihn in über 40 Länder auf fünf Kontinenten. Gropper spielte mit Musiker:innen wie Ralph Towner, Bobby McFerrin, Maria João, Mat Maneri, Nils Petter Molvaer, SEEED u.v.a., sowie als Sideman in Projekten wie Wanja Slavin’s Lotus Eaters, Pablo Held’s Glow, The Killing Popes oder dem European Movement Jazz Orchestra. Er wirkte an über 60 Alben mit und engagiert sich kulturpolitisch u.a. in der IG Jazz Berlin, der Initiative gegen Klassismus in der Musik, bei Future Bloom sowie im Jazzkollektiv Berlin. Gropper versteht seine Musik stets als Auseinandersetzung mit afroamerikanischer Musik und setzt auf kollektive, gesellschaftlich relevante Arbeitsformen.

Zola Mennenöh ist eine deutsche Sängerin, Multi-Instrumentalistin, Komponistin und visuell arbeitende Künstlerin mit Wurzeln in Jazz und Klassik. Sie studierte am JIB Berlin, am Rytmisk Musikkonservatorium Kopenhagen und bei der norwegischen
Improvisationskünstlerin Sidsel Endresen. Aufgewachsen in einer Großfamilie im Bergischen Land, bildet sie in ihren Arbeiten auf unkonventionelle Weise ihre, von Kontrasten geprägte, Herkunft ab: zwischen Tradition/Vision, Ordnung/kreativem Chaos, Disziplin/Freiheit, Gemeinschaft/Individualismus und kreiert eine ganz
eigene, vielschichtige Nischenmusik, die sich über Genre- und Disziplin-Grenzen hinwegsetzt, stets geführt von der Kraft der Improvisation. Sie kollaboriert aktuell mit Max Andrzejewski, Shahzad Ismaily, Sissi Rada, Halvcirkel, Simon Toldam, Kathrin Pechlof und steht u.a. mit ihrem Projekt ANIMA MUNDI auf der Bühne. Ihr Debütalbum „Longing for Belonging“ (2020, figureight records) wurde für den  Deutschen Jazzpreis 2021 nominiert.

Mark Porter studierte am University College, Oxford, und am King’s College, London, bevor er 2014 an der City University, London, im Fach Ethnomusikologie promovierte. Anschließend war er Postdoc am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. Diese Position ebnete den Weg für sein jüngstes Projekt zu christlicher musikalischer Innovation und sich verändernden ökologischen Beziehungen, das am dortigen Fachbereich Theologie und Religionswissenschaften angesiedelt ist. Seine Arbeit widmet sich der Vielfalt musikalischer Praktiken und Erfahrungen im Christentum und darüber hinaus und fragt nach deren Bedeutung für Individuen, Gemeinschaften und größere kulturelle und soziale Konstellationen. Er ist Autor zweier Monografien (Contemporary Worship and Everyday Musical Lives, 2016; Ecologies of Resonance in Christian Musicking, 2020) und Mitherausgeber des Bandes Ethics and Christian Musicking. Zudem ist er Programmvorsitzender der Konferenz Christian Congregational Music: Local and Global Perspectives. Seine Texte erschienen in zahlreichen internationalen Fachzeitschriften, und er hat an Universitäten weltweit gelehrt und referiert. Einen praxisorientierten Schwerpunkt setzt er durch die Arbeit mit Gemeinschaften, Workshops sowie kreative Projekte und Performances. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ist Mark auch Musiker und war als Worship Leader, Musikdirektor, Organist und Chorleiter in verschiedenen Kirchen in Großbritannien und Deutschland aktiv.

17:30 REFLEXION mit Aida Baghernejad


Jazz-Brief international aus der Ukraine (Mai 2025)

Jazz im Widerstand: Die ukrainische Jazzszene im Krieg


 von Mariana Bondarenko, Leiterin der Musikabteilung des Ukrainischen Instituts
 Kyjiw, April 2025

Seit Beginn der umfassenden russischen Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 ist jeder Aspekt des ukrainischen Lebens tiefgreifend betroffen – und die Jazzszene bildet da keine Ausnahme. Doch selbst unter ständiger Bedrohung, Beschuss, Stromausfällen und Vertreibung hat der ukrainische Jazz nicht nur überlebt – er hat neue Stärke, Resilienz und internationale Anerkennung gefunden.

Vor dem Kriegsausbruch war Jazz in der Ukraine – wie überall – ein Ausdruck von Kunst, Experimentierfreude und Lebensfreude. Musiker:innen loteten die Grenzen des Klangs aus, entwickelten Grooves, traten auf Festivals auf, hatten neue Release-Alben und teilten sie mit ihrem Publikum. Doch mit Kriegsbeginn veränderte sich die Funktion der Musik grundlegend. Sie wurde zu mehr als nur Kunst. Sie wurde zur Botschaft, zur Waffe der Wahrheit, zum Schild für die Seele und zur Brücke zur Welt.

Musik als Widerstand und Heilung

In den ersten Kriegsmonaten reagierten ukrainische Jazzmusiker:innen sofort. Einige traten dem Militär bei. Andere organisierten Benefizkonzerte in Luftschutzkellern, Bahnhöfen oder U-Bahnen. Wieder andere gingen mit ihren Instrumenten ins Ausland und erzählten die Geschichte der Ukraine durch Musik. Initiativen wie das seit 2014 aktive Music Battalion setzten ihre wichtige Arbeit fort und brachten Musik sowohl zu den Truppen als auch zur Zivilbevölkerung.

In Lwiw begann die Initiative Music Cultural Front mit Jazz Konzerten am Bahnhof für Geflüchtete und weitete ihr Engagement später auf Online- und Offline-Benefizkonzerte aus – sogar aus Luftschutzkellern. In Charkiw eröffnete das Kharkiv Music Fest mit einem Konzert in der U-Bahn – ein kraftvolles Symbol kulturellen Widerstands.

Da viele Jazzmusiker:innen aus verschiedenen Landesteilen in Lwiw Zuflucht fanden, entstand im Rahmen des Jazz Bez Festivals 2022 das Programm Jazz Relocation mit Künstler:innen aus Charkiw, Dnipro, Kyjiw und anderen Städten. Einige von ihnen begannen auch an der Mykola-Lysenko-Musikakademie Lwiw zu unterrichten. Der ursprünglich aus der Krim stammende und später in Kyjiw ansässige Usein Bekirov leitet nun die Jazzabteilung; Jakiv Tsvetinsky aus Dnipro und Viktor Pavelko aus Kyjiw ergänzen das Team als Dozenten.

Ehemals geschlossene Jazzclubs öffneten nach und nach wieder – in Kyjiw, Odesa, Rivne, Tschernihiw und Lwiw. Viele Festivals fanden trotz Vertreibung weiterhin statt oder kehrten gestärkt zurück. Jazz Bez in Lwiw, Art Jazz in Rivne, Jazz Kolo in Kyjiw, die Lviv Jazz Days und Bouquet Kyiv Stage kehrten mit Programmen zurück, die lokale und internationale Acts kombinierten. Besonders bemerkenswert: Bouquet Kyiv Stage etablierte sich auch international mit Winter- und Sommerausgaben in London seit 2022 sowie einer georgischen Edition in Tiflis.

Künstlerresidenzen als sichere Häfen und kreative Zentren

Internationale Künstlerresidenzen boten ukrainischen Jazzmusiker:innen im Krieg nicht nur physischen Schutz, sondern auch kreative Kontinuität und Zugang zu neuen Publikumskreisen. In Polen initiierte Katowice City of Gardens unter der Leitung von Martyna van Niewland ein spezielles Residenzprogramm für ukrainische Musiker:innen. Es bot Ressourcen, Proberäume, professionelle Kontakte und Auftrittsmöglichkeiten in der Region.

Ähnliches geschah in Schweden: Musikcentrum ÖST in Stockholm startete ein Residenzprogramm, das es ukrainischen Künstler:innen ermöglichte, Projekte zu entwickeln, mit schwedischen Musiker:innen zu arbeiten und an lokalen Festivals teilzunehmen. In Kooperation mit Stim und dem Stim Forward Fund wurden in den Jahren 2022–2023 elf Musiker:innen und Musikprofis aus der Ukraine in Schweden unterstützt, mit Förderung der Postcode Foundation. Seit 2024 wurde die Zusammenarbeit mit dem Capacity-Building-Programm Resonate UA fortgesetzt. Die erste Delegation ukrainischer Musiker:innen wird an der jazzahead! in Bremen teilnehmen und ihre Projekte dem internationalen Fachpublikum präsentieren.

Neue Plattformen und junge Generationen

Trotz der massenhaften Vertreibung, auch von Studierenden und jungen Künstler:innen, geht die Musikausbildung in der Ukraine weiter. Die Musikakademien sind weiterhin aktiv – und an der Kyjiwer Musikakademie R. Glier wurde mit Jazzclub „43“ ein neuer Treffpunkt für junge Musiker:innen gegründet.

 Eröffnung Jazzclub „43“

Eine herausragende Initiative ist das Drum Island Fest, das 2022 vom Schlagzeuger und Komponisten Dmytro Khoroshun ins Leben gerufen wurde – als Reaktion auf die vielen vertriebenen Kinder in Kyjiw. Das Festival schafft einen sicheren Raum für junge Schlagzeuger:innen und bietet heute neben Wettbewerben auch Masterclasses, Jam-Sessions und Mentoring. 2024 nahm das Team als Delegation am Überschlag Festival in Hannover teil – vermittelt durch das Ukrainische Institut. 2025 präsentiert das Festival erstmals ein internationales Line-up mit Alirio Torrealba (Venezuela) und Christin Neddens (Deutschland).

Unabhängige Communities wie Fusion Jams haben sich zu kreativen Hubs für moderne Jazzexperimente entwickelt. Dort formierte sich die Band Hyphen Dash, Saxophonist Andrii Barmalii präsentierte erstmals eigene Stücke, Gitarrist Jewhenij Puhatschow, Keyboarder Jewhenij Dubowyj und Drummer Mychajlo Halaktionow gründeten eigene Quartette. Im März 2025 feierte die Szene ihr sechsjähriges Jubiläum mit Acts wie Hyphen Dash, Yevhen Puhachov Quartet, BITLO und Aesthetic Combination – die Stimme einer mutigen neuen Generation.

Andrii Barmalii Quartet

Inspiriert vom schwedischen Jazznetzwerk KNUTPUNKT initiierte der 32 Jazz Club in Kyjiw die Gründung des Netzwerks MayDay Art für neue Jazzspielstätten in der Ukraine. Gemeinsam mit dem Ukrainischen Institut wurde 2024 eine ukrainisch-belgische Tour in vier Städten realisiert – mit vier Konzerten und zwei Masterclasses.

Widerstand an der Front

Viele Musiker:innen sind nicht nur kulturelle Botschafter, sondern aktive Verteidiger:innen ihres Landes. Einige kämpfen an der Front. So etwa Saxophonist, Komponist und Bandleader Danylo Vinarikov aus Dnipro, heute Leiter der Dnipro Big Band der Philharmonie Dnipro. Nach seiner Rückkehr von der Front gründete er 2024 ein Festival zum Gedenken an Serhii Artemov, einen gefallenen Musikerfreund. Das Ukrainische Institut veröffentlichte die Notensammlung „Serhii Artemov. In Memoriam“ mit acht seiner Kompositionen, die bei Konzerten in der Ukraine und international gespielt wurden – etwa beim NUEjazz Festival oder den Hof Jazz Nights in Deutschland sowie bei einem Tribute-Konzert in Montréal. Weitere Konzerte sind geplant.

Kultur für die Front

Seit Kriegsbeginn sammeln viele Musiker:innen Spenden oder spenden ihre Gagen für die ukrainische Armee. Eine der nachhaltigsten Initiativen ist „NaShapku“ (dt.: „Auf den Hut“) – eine wöchentliche Benefizkonzertreihe, initiiert von Radiomoderatorin Sonia Sotnyk gemeinsam mit der Stiftung Svoi. Seit 2015 wurden über 210 Konzerte veranstaltet und mehr als 6,7 Mio. UAH (ca. 160.000 €) gesammelt. Die Einnahmen flossen u. a. in medizinische Ausrüstung wie eine der größten Sammlungen von Sauerstoffkonzentratoren während der COVID-19-Pandemie und heute in medizinische Hilfe für Soldat:innen. Jeden Donnerstag versammelt sich die NaShapku-Community im Pepper’s Club in Kyjiw mit hervorragenden Jazzacts.

Internationale Partnerschaften

Seit 2022 ist die ukrainische Jazzszene ein Teil des internationalen Diskurses: Die Ukraine präsentierte erstmals einen eigenen Stand bei der jazzahead!, unterstützt vom Ukrainischen Institut. Acts wie Vadim Neselovsky, Ihor Osypov, LELEKA, GANNA und DZ’OB traten bei Showcases auf. Auch bei WOMEX gab es eine nationale Delegation mit Showcase-Künstler:innen. Seither sind ukrainische Delegationen regelmäßig bei beiden Events vertreten.

DZ’OB bei jazzahead! 2024

Ein weiterer Meilenstein war der Beitritt des Ukrainischen Instituts zum Europe Jazz Network (EJN) 2023. Seither wurde ein Verzeichnis ukrainischer Musiker:innen in der Diaspora veröffentlicht und die ukrainische Jazzszene offiziell in das EJN Jazz Panorama aufgenommen. Delegationen nehmen jährlich an der European Jazz Conference teil – eine Plattform für Austausch, neue Kooperationen und Sichtbarkeit.

Ukraine beim EJN

Beispiele erfolgreicher Kooperationen:

  • Schweden–Ukraine: Drummer Peter Danemo und Bandurist Georgi Matviiv – ein Dialog zwischen nordischer Klangästhetik und ukrainischer Tiefe.
  • Global Jazz – Ukraine: Pianist Usein Bekirov veröffentlichte das Album Free Way mit Legenden wie Bill Evans, Frank Gambale, Michael League und Dennis Chambers.
  • Belgien–Ukraine: Pianist Ivan Paduart, Gitarrist Patrick Deltenre, Bassist Ihor Zakus und Drummer Yaroslav Borys traten gemeinsam in der Ukraine auf – organisiert im Rahmen der Green Pilot Tours.
  • Deutschland–Ukraine: Die Band LELEKA mit Sängerin Viktoria Anton und Gastmusiker Maksym Berezhniuk veröffentlichte das Album RIZDVO – ukrainische Weihnachtslieder in Jazzvariationen.
  • Polen–Ukraine: Pianistin Kateryna Ziabliuk spielte mit der polnischen All-Female-Jazzband N.E. im Showcase bei jazzahead! 2024.
  • Portugal–Ukraine: Sängerin Kateryna Avdysh veröffentlichte ihr Debütalbum Always Alive, u. a. mit dem Song One Way Ticket im Duett mit Salvador Sobral (ESC-Gewinner 2017).

Medienpartnerschaften und Sichtbarkeit

2023 widmete Jazz Forum (Polen) eine ganze Ausgabe der ukrainischen Jazzszene. In Frankreich veröffentlichte Citizen Jazz das Sonderheft We Insist! in Kooperation mit Meloport und dem Ukrainischen Institut. 2024 startete das Projekt Ukrainisch-Polnische Jazzverbindungen (im Rahmen von Grace Note und JazzKultura) eine umfassende Recherche zur Jazzgeschichte beider Länder, die in Artikeln und Interviews mündete.

Interviews bei JazzKultura

Das Magazin All About Jazz startete die Reihe A Brief Guide to Ukrainian Jazz – ein internationaler Überblick über die Szene.

Fazit

Auch wenn der Krieg weitergeht und die Herausforderungen wachsen – die ukrainische Jazzszene bleibt eine lebendige Kraft des Widerstands, der Gemeinschaft und des künstlerischen Ausdrucks. Doch diese Dynamik braucht internationale Unterstützung: durch Residenzen, Bookings, Kompositionsaufträge, Bildungsprogramme und kreative Kooperationen.

Jedes Projekt, jedes Konzert, jede neue Verbindung stärkt nicht nur die Kunst, sondern auch den Überlebenswillen eines Landes – für seine Kultur, seine Freiheit, seine Stimme.

Gerade jetzt braucht der ukrainische Jazz die Welt – und die Welt braucht den Mut und die Kreativität des ukrainischen Jazz.

Lasst uns weiterspielen. Lasst uns zuhören. Lasst uns zusammenstehen.

Ausschreibung Journalist:innen-Camp beim 19. Darmstädter Jazzforum

Journalist:innen-Camp beim Darmstädter Jazzforum 2025 – Bewerbungsfrist verlängert bis 4. Juli!

24.–28. September 2025 | Jazzinstitut Darmstadt

Du interessierst dich für Musikjournalismus, beschäftigst dich mit Text, Ton oder Bild – aber Jazz war bislang nicht dein Thema?
Du bist neugierig, willst schreiben, interviewen, hinterfragen – und mit anderen über ästhetische, politische oder spirituelle Aspekte von Musik ins Gespräch kommen?

Dann bewirb dich für das Journalist:innen-Camp beim Darmstädter Jazzforum 2025!

Ausschreibung als pdf hier.

Bis zu acht angehende oder bereits aktive Kulturjournalist:innen – ob Studierende, Berufsanfänger:innen oder Quereinsteiger:innen – erhalten die Gelegenheit, das Jazzforum journalistisch zu begleiten. Mit professioneller Unterstützung der Journalistin und Kuratorin Sophie Emilie Beha entstehen Texte, Interviews, Podcastfolgen oder audiovisuelle Beiträge, die während der Tagung und im Nachgang veröffentlicht werden. Im Mittelpunkt stehen neue Themen, Perspektiven und Haltungen im Jazz und der Improvisierten Musik – aber auch der Austausch untereinander, ein neugieriger Blick auf die Szene und viel Experimentierfreude!

Teilnahmebedingungen:
Die Teilnahme am Workshop ist kostenlos. Unterkunft wird gestellt, zusätzlich gibt es ein Tagegeld von 24 Euro pro Tag. Die Kosten für die Anreise mit der Bahn werden übernommen.

So bewirbst du dich:
Schick uns bis zum 4. Juli 2025 eine formlose E-Mail, in der du dich kurz vorstellst, uns sagst, warum du teilnehmen möchtest und welche Berührungspunkte du mit Musik, Kultur oder journalistischer Arbeit hast – egal ob in Studium, Ausbildung, Projekten oder privat.

Bewerbungen bitte an:
jazzforum@jazzinstitut.de

Rückfragen bitte an: bohle@jazzinstitut.de

Sophie Emilie Beha arbeitet in verschiedenen Kontexten, darunter Musik, Text, Sprache, Kuration, Improvisation, Dramaturgie und Poesie. Sie ist Autorin und Moderatorin für verschiedene öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten und schreibt regelmäßig für Zeitungen und verschiedene Fachzeitschriften. Sowohl auf der Bühne als auch vor der Kamera moderiert sie Festivals, Konzerteinführungen, Podcasts und Podiumsdiskussionen. Sie war 2021 und ist 2025 für den Deutschen Jazzpreis nominiert. Seit 2022 wird ihre kuratorische Tätigkeit von NICA artist development gefördert.

Das Darmstädter Jazzforum findet seit 1989 alle zwei Jahre statt. Es ist eine weltweit einmalige Mischung aus Fachkongress, Konzertreihe, Workshops und Ausstellung.

Jazz Brief international

Jazz-Briefe aus aller Welt

Füller auf Büttenpapier mit handschriftlichem Text "Jazz-Brief international"Mit den Jazz-Briefen startet das Jazzinstitut Darmstadt eine neue Rubrik innerhalb seines monatlichen Newsletters. Die Idee: Perspektiven auf die aktuelle Situation des Jazz und der improvisierten Musik aus verschiedenen Regionen der Welt – verfasst von Musiker:innen, Kurator:innen, Journalist:innen oder Wissenschaftler:innen vor Ort.

Das Format ist inspiriert von der Kolumne „Brief aus …“ der Plattform nachtkritik.de, die damit regelmäßig Einblicke in Theaterlandschaften anderer Länder gibt. Unser Ziel ist es, Stimmen sichtbar zu machen, die den internationalen Diskurs über Jazz mitgestalten – und dabei ganz eigene Kontexte, Herausforderungen und Dynamiken beschreiben.

Die Jazz-Briefe erscheinen sowohl in unserem Newsletter (Deutsch/Englisch) als auch in voller Länge auf unserer Website.

Bisherige Beiträge:

Mai 2025: aus der Ukraine von Mariana Bondarenko, Leiterin der Musikabteilung des Ukrainischen Instituts

September 2025: aus Polen von Mery Zimny, Musikjournalistin und Jazz-Promoterin

Dozentinnen und Dozenten 2025

Corinna Danzer

Foto: Dirk Ostermeier

…  ist Jazzmusikerin und Musikvermittlerin mit gleicher Hingabe. Eine leidenschaftliche Erklärerin aus dem Herzen Europas und zugleich begeisternde Botschafterin der afroamerikanischen Musikgeschichte. Am Tenor- und Altsaxophon zuhause, studierte sie zunächst an der Amsterdam Hoogeschool voor de Kunsten, zog in die Jazzstadt Frankfurt, wo sie 1991 das damals noch frische, heute so begehrte, Arbeitsstipendium für Jazz der Stadt erhielt und – nach einem Intermezzo in New York –, schließlich doch Mainhattan und seiner pulsierenden Szene den Vorzug gab. Danzer spielte dort in dem ihr eigenen zurückhaltendem Gestus und sanfter Intonation mit der Frankfurter „Krem“, Emil Mangelsdorff, Manfred Bründl, Vitold Rek, Thomas Cremer oder Adrian Mears, wirkte in der Bigband des Hessischen Rundfunks bei Konzerten neben internationalen Stars wie Benny Golson, Kenny Burell, Ernie Watts oder Ingrid Jensen mit.

Heute ist Corinna Danzer in vielerlei Hinsicht so etwas wie die Stimme und das Gesicht der freien Jazzpädagogik in Frankfurt. Zwar folgte ihrer Hinwendung Anfang der 2000er Jahre zur „Bühne für die Kleinen“ keine vollständige Abwendung von der Bühne für die Großen, doch häufiger als mit renommierten Kolleg*innen, wie dem Gitarristen Martin Lejeune oder der Pianistin Anke Helfrich, sieht man sie inzwischen in den Schulen der Mainmetropole und des hessischen Umlandes mit ihren außergewöhnlichen musikpädagogischen Projekten.

Mit ihrer von großer Empathie genährten Nahbarkeit, ihrer Authentizität und  Unverstelltheit gelingt es ihr mit Leichtigkeit, das Herz der jüngsten Fans für den Jazz und das Erlebnis Musik zu öffnen. Sie ist eine originelle Entwicklungshelferin in Sachen Jazz, eine begeisterungsfähige Pädagogin und eine mit allen Wassern ihrer künstlerischen Vita gewaschene Musikerin. Dafür wurde sie 2023 mit dem Hessischen Jazzpreis ausgezeichnet.

Über ihren Vorstellungen zum Workshop sagt sie:

„Für den Workshop werde ich einige Stücke aus verschiedenen Epochen zur Auswahl mitbringen, von denen keines in einem Real Book zu finden ist. Wir werden uns die Musik so zu eigen machen, wie es in der Entstehungszeit des Jazz übliche Praxis war: Mit Ohr, Stimme, Herz und Verstand – und Trial and Error. Diese Art zu lernen macht Spaß und sorgt für ein tiefes Verständnis für Form, Rhythmus und Harmonien, und viel Kompetenzzuwachs – gerade auch für die Improvisation.“


Rudi Fischerlehner …

Foto: David Beecroft

…  spielt Schlagzeug in Projekten verschiedener Schattierung von improvisierter und experimenteller Musik, Jazz und Post-Rock. Außerdem schreibt und produziert er Musik für Bands, Filme und Performances. Geboren 1977 in Oberösterreich, beginnt er früh Schlagzeug zu spielen und bekommt Unterricht an Schlagzeug und klassischer Perkussion. Als Teenager beginnt er mit Bands in und um Linz aufzutreten, anschließend zieht er nach  Wien, reist nach Afrika und China, verbringt einige Monate in New York und lebt aktuell in Berlin. Fischerlehner veröffentlichte zwei Schlagzeug-Solo Alben, Spectral Nichts und 15 8 SLUM, spielt oder spielte mit Xenofox, Der Dritte Stand, Fiium Shaarrk, Joke Lanz, Mia Dyberg, Isambard Khroustaliov, dem Julie Sassoon Quartet, Matthias Schubert, Tonia Reeh, Gorilla Mask und vielen anderen zusammen.

Über seine Ideen für den diesjährigen Kurs sagt er folgendes:

„Gemeinsam mit dem Ensemble möchte ich aus freien Improvisationen Klänge, Texturen und Zugänge extrahieren, die dann zusammen mit komponierten Skizzen von mir und den Teilnehmer*innen das Rohmaterial für das Konzert bilden. Davon ausgehend werden wir mit verschiedenen Strategien experimentieren, das so entstandene Vokabular zu einem längeren Set zusammenzufügen – im weiten Spektrum der Möglichkeiten zwischen Spontanität und Arrangement.“


Martin Lejeune …

Foto: 7lue

… studierte Jazzgitarre an der Hochschule der Künste in Amsterdam. 1994 kam er nach Frankfurt, wo er als freischaffender Gitarrist, Komponist und Arrangeur tätig ist. Zudem ist er Lehrbeauftragter der Jazzabteilung der Hochschule für Musik in Mainz und am Peter-Cornelius-Konservatorium der Stadt Mainz. Auftragskompositionen im Bereich der angewandten Musik entstanden unter anderem für Film, Tanz und Hörstück.

Vor allem komponierte er für die Bühne: Wuppertaler Bühnen, Theater Freiburg, Kosmos Theater Wien, Theater Basel, Theaterhaus Frankfurt, Ensemble 9. November, Volksbühne im Großen Hirschgraben, Stalburg-Theater Frankfurt, Neues Theater Höchst, Theater Willy Praml und für das Deutsche Jazzfestival Frankfurt.

Als Gitarrist arbeitete er unter anderem mit der HR Bigband, dem HR Sinfonie Orchester, dem Mahler Chamber Orchestra, dem National Ballett Mannheim, der Neuen Philharmonie Frankfurt, am Schauspiel Frankfurt, am Staatstheater Mainz, bei den Luisenburg-Festspielen Wunsiedel, mit Mikail Aslan, Alfred Harth, John Tchicai, Phill Niblock, Corinna Danzer, Bob Degen, Emil Mangelsdorff, Bändi (Finnish Tango) le jeune matin, dem European Groove Orchestra, den Soul Jazz Dynamiters, No Lega, Charles unlimited und tos les quatre matins.

Neben anderen Auszeichnungen erhielt er 2003 das Arbeitsstipendium Jazz der Stadt Frankfurt. Aktuell: 38. Deutscher Rock & Pop Preis – Bestes Weltmusikalbum 2020 (mit Bändi) und Frankfurter Kinder- und Jugendtheaterpreis Karfunkel 2021 (mit Klaar Kimming)

Über seine Ideen für den diesjährigen Kurs sagt er folgendes:

„Ich möchte mich gerne mit dem freien Spiel und den fließenden Grenzen zu komponiertem Material auseinandersetzen. Das ist angelehnt an mein aktuelles Projekt „tous les quatre matins“. Hierzu wird es hilfreiche Tipps für Improvisationskonzepte geben.“


Athina Kontou

Foto: Thekla Ehling

… wuchs zwischen Athen und Frankfurt auf, studierte Musikwissenschaft in Mainz und Jazz-Kontrabass in Weimar und Leipzig. Die Deutsch-Griechin ist festes Ensemblemitglied bei Luise Volkmanns Été Large, „Trieders Holz“ der Flötistin Conni Trieder sowie dem aktuellen Trio der Berliner Pianistin Julia Kadel. Daneben bewegt sie sich aber auch gerne in der Szene für frei improvisierte Musik. Kontous zentrales Projekt ist ihr eigenes Ensemble „Mother“, mit dem sie die Musiktraditionen ihrer griechischen Heimat mit der Klangsprache des zeitgenössischen Jazz verbindet. Traditionelle Musiken werden bei ihr durch zeitgenössische Klangwelten anreichert und damit eine Atmosphäre kreiert, die intuitiv verständlich und zugleich sehr persönlich ist.

Athina Kontou sucht in ihrer Musik immer nach dem Verbindenden in den verschiedenen Kulturen. Als Grenzgängerin zwischen den Stilen, die tief in Tradition und dem eigenen persönlichen Erleben gründet, strebt sie nach einem neuem Ausdruck in dieser kulturellen Auseinandersetzung. Der Versuch mit „Mother“ einen lebendigen, farbenreichen Klangkörper zu bilden, in dem durch die Intensität des Zusammenspiels und die Sensibilität der Arrangements ein organisches künstlerisches Produkt entsteht, wurde in den vergangenen Jahren mit viel öffentlicher Anerkennung belohnt. Ihr erstes Album „Tzivaeri“ erschien 2022 auf nWog-Records und war 2023 in der Auswahl für den Preis der Deutschen Schallplattenkritik und den Deutschen Jazzpreis. Als Instrumentalistin war Athina Kontou außerdem 2024 für den Deutschen Jazzpreis in der Kategorie „Saiteninstrumente“ nominiert. Sie lebt seit 2021 in Köln und engagiert sich auch kulturpolitisch zum Thema Nachhaltigkeit in der Musikbranche.

Zu ihren Vorstellungen für die Arbeit mit ihrem Ensemble sagt sie folgendes:

„Ich möchte mit dem Ensemble an der Kombination von folkloristischen Melodien/Spielarten und freier Improvisation arbeiten. Außerdem werde ich mit den Teilnehmer*innen das Thema Bandsound bearbeiten und versuchen, in der Woche als Klangkörper zusammenzuwachsen. Ich freue mich auf ein spielerisches Miteinander! Eigenkompositionen und Ideen der Teilnehmer*innen sind herzlich willkommen.“


Uli Partheil

Foto: Oskar Partheil

… ist seit 2021 künstlerischer Leiter der Darmstädter Jazz Conceptions und damit Nachfolger seines langjährigen musikalischen Mentors und Freundes Jürgen Wuchner. Partheil ist einer der aktivsten Protagonisten der Darmstädter Szene, beeinflusst von der Musik Duke Ellingtons, Thelonious Monks, kubanischen Rhythmen und dem Blues. Er ist nicht nur ein versierter Pianist in sämtlichen Stilistiken des Jazz, sondern auch als Komponist tätig. In seinen Werken geht er äußerst kreativ mit den verschiedenen Einflüssen um, die ihn als Musiker prägen.

Uli Partheil studierte an der Mannheimer Musikhochschule unter anderem bei Professor Jörg Reiter Jazzpiano, außerdem Komposition und Arrangement. Seit Beginn der 1990er Jahre arbeitete er mit Jürgen Wuchner, Matthias Schubert, Janusz Stefanski, Ack van Rooyen, Rudi Mahall, Emil Mangelsdorff, Hanns Höhn, Peter Back, dem Wiener Kronenbräu Orchester und vielen anderen zusammen. Als Begleiter ist er auch immer wieder am Staatstheater Darmstadt zu hören. Bis zum Beginn der Pandemie leitete er das von ihm selbst ins Leben gerufene Darmstädter Jugendweltmusikorchester.

Mit seinem Working Trio „Playtime“ ist er in den letzten Jahren mit verschiedenen Literatur- & Jazz-Projekten erfolgreich. Zuletzt veröffentlichte er gemeinsam mit Ulli Jünemann, Ralf Cetto und Angela Frontera den Longplayer „Reflections2020“. Partheil unterrichtet an der Jazz & Pop School und der Akademie für Tonkunst in Darmstadt. Für seine musikalischen Verdienste und sein Wirken für die Förderung des jazzmusikalischen Nachwuchses erhielt er 2008 den Darmstädter Musikpreis.

Über seine Vorstellungen zum diesjährigen Workshop schreibt er folgendes:

Ich möchte wieder versuchen mindestens ein Stück auswendig und ganzheitlich zu erarbeiten, d.h. die Musiker*innen sollen nicht nur ihren Part, sondern das ganze Werk lernen und verstehen. Dazu werde ich eigene Kompositionen und andere ausgewählte Stücke mitbringen.“


Jon Sass …

Foto: Vera Schüller

… scheint als Tuba geboren, schrieb der österreichische Produzent Christian Kolonovits einmal kurioserweise über den Austro-Amerikaner. Sass ist ein Mensch des Dialogs. Als junger Tubist nach Österreich gekommen, war und ist das musikalische Gespräch mit Partnern die wichtigste Basis seiner Musik. Indem er Dialog über alle Generationengrenzen und kulturellen Unterschiede hinweg zum Mittelpunkt macht, transferiert er Gedanken auf die Ebene seiner Sprache, die Musik.

Jon Sass ist ein wahrer Groove-Meister und einer der kreativsten Tubaspieler aller Zeiten. In New York City geboren, wuchs er in Harlem auf und begann mit 14 Jahren Tuba zu spielen. Zwei Wochen nach seinem High-School-Abschluss begann seine professionelle Karriere, die ihn zwischen Boston, Wien und New York pendeln ließ, während er gleichzeitig sein Studium an der Boston University absolvierte. Es war der legendäre Tubist Howard Johnson der Jon Sass‘ europäische Karriere maßgeblich beeinflusste. Johnson empfahl ihn 1979  Matthias Rüegg für dessen Vienna Art Orchestra, und der Student entschied sich aus dem Bauch heraus, nach seinem Universitätsabschluss nach Wien zu ziehen.

Jon spielte und tourte weltweit oder nahm Platten auf mit zahlreichen Topp-Musiker*innen wie Ivan Neville, Vince Mendoza, Ricky Ford, Bobby Shew, Steven Mead, den Kammerorchestern der Wiener und der Berliner Philharmonikern, in Duo-Besetzungen mit Dave Taylor, Arkady Shilkloper und Wolfgang Puschnig. Außerdem spielte er mit Ray Anderson, Michelle Rosewoman, David Murray, Sunny Murray, Butch Morris, Leon Thomas, Peter Erskine, Frank Foster, Erika Stucky, HenryThreadgill, Howard Johnson Heavy Tuba und eben dem Vienna Art Orchestra, wo er unter anderem Jürgen Wuchner kennenlernte. Jon komponiert seine eigene Musik und war auch als Arrangeur unter anderem für die James Brown Horns tätig.

Seit Oktober 2022 unterrichtet Jon Sass Tuba mit Schwerpunkt Jazz und Popular music am JAM LAB MUSIC UNIVERSITY in Wien, vermutlich die einzige universitäre Lehrstelle dieser Art weltweit.

Spiritualität im Jazz und der Blues vom guten Leben [blog]

Gedanken zum Thema der Konferenz zum 19. Darmstädter Jazzforum vom 24. bis 28. September 2025


Seit 1989, also eigentlich schon ein Jahr länger als das Jazzinstitut Darmstadt selbst (gegründet im Oktober 1990), gibt es das Darmstädter Jazzforum. Der Initiator des ersten Jazzforums, der Gießener Musikwissenschaftler und Jazzmusiker Ekkehard Jost, formulierte den Anspruch der Veranstaltung in einem Vorwort zum ersten Tagungsband als, „einen ersten Versuch, verstreute Forschungsvorhaben und -ergebnisse aufeinander beziehbar zu machen, Erfahrungsaustausch zwischen Musikwissenschaftlern und Musikern zu ermöglichen und eine interessierte Zuhörerschaft über den aktuellen Stand der Jazzforschung – oder doch zumindest einiger seiner Teilbereiche – zu informieren.“ (Ekkehard Jost (Hrsg.): Darmstädter Jazzforum 89. Beiträge zur Jazzforschung. Hofheim 1990, S. 9)

Unter der Leitung von von Wolfram Knauer (17 Ausgaben zwischen 1991 bis 2023) hat sich das Jazzforum nicht nur in seinen Vortragsformen (Referat und Diskussion) stark weiterentwickelt, sondern ist auch viel stärker an den konkreten Aus- und Wechselwirkungen seiner Themensetzungen mit der künstlerischen und sozialen Alltagserfahrung der Menschen innerhalb der Jazzszene interessiert. Seit 2024 lenkt nun Bettina Bohle die Geschicke des Jazzinstituts Darmstadt. Damit wurde auch das Jazzforum noch einmal einem kritischen Blick von außen unterworfen. Für die Ausgabe im September 2025 werden wir am in den letzten Ausgaben unter Wolfram Knauer etablierten Format im wesentlichen festhalten. Insbesondere den Ansatz, ein übergreifendes Thema bzw. eine zentrale Fragestellung in den Mittelpunkt des Jazzforum zu stellen, werden wir absehbar beibehalten.  Ebenso wollen wir Beiträge aus der akademischen Diskussion, von Forschenden, weiterhin in den Mittelpunkt stellen und darüber zur Diskussion einladen. Dabei spielt Interdisziplinarität eine große Rolle: Jazzgeschichtliche  Forschung steht neben musikwissenschaftlicher Analyse und sozialwissenschaftliche Fragestellungen treffen auf kulturpolitische Debatten.

Für das bevorstehende 19. Darmstädter Jazzforum haben wir uns für das Thema „Spiritualität“ entschieden. Warum das so ist, wie unser teaminternen Überlegungen dazu verlaufen sind, welche anderen interessanten Ansätze von außen wir zu diesem Themenfeld entdecken, wollen wir hier vorstellen. Wir werden versuchen, diese Seite regelmäßig mit Beiträgen aus dem Jazzinstitut zu befüllen.

Wir freuen uns dabei auch über Input und Hinweise zu interessanten Aspekte von außerhalb, die wir gerne in Rücksprache mit den Autor*innen und natürlich nach unserer kritischen Betrachtung, gerne an dieser Stelle veröffentlichen.


Im Juni 2024 starteten wir mit folgenden Überlegungen zu „Spiritualität und Jazz“ institutsintern ins Thema.

Juni 2024 von Marie Härtling

Jazz und Spiritualität – ein chronologischer Bogen

Robert Patterson Singers, 1962 (Archiv JID)

Jazz und Spiritualität sind nicht nur auf den zweiten Blick Themen, die eng im Austausch stehen. Begonnen mit der Versklavung und christlichen Missionierung von Afrikaner*innen in Amerika, über das Konvertieren von Jazzmusiker*innen zum Islam in den 1960er und 1970er-Jahren und in die Gegenwart, mit der Frage nach einem achtsamen Leben von Jazz-Musiker*innen.

Spirituals und Gospel

Ihrer ursprünglichen Spiritualität beraubt, beginnen die afrikanischen Sklaven im 19. Jahrhundert sich den Zwang, den christlichen Glauben praktizieren zu müssen, zunutze zu machen. Ohne dafür bestraft zu werden, dürfen sich die Sklav*innen und später die „befreiten“ Sklav*innen in Gottesdiensten treffen. In Spirituals und Gospel verarbeiten sie ihre kollektiven Erfahrungen und führen durch sprachliche Codes in den Liedtexten ihre Oral-History weiter. „Swing low, sweet chariot, coming for to carry me home“, die Liedzeile des berühmten Spirituals der Fisk Jubilee Singers vom Ende des 19. Jahrhunderts, drückt eine Sehnsucht nach den Roots und eine transzendente Verbindung zur Heimat Afrika aus. Gemeinsam praktizierter Glaube wird zu einer der Grundsäulen der Afroamerikanischen Kultur, wirkt sinnstiftend und verspricht Heilung und eine bessere Zukunft. Die Musik, die fester Bestandteil dieser religiösen Rituale ist, wird zu einem Grundstein für die musikalische Bildung der Afroamerikaner*innen und beflügelt die Weiterentwicklung der schwarzen Musik in Amerika, auch den Jazz.

Spiritualität in der Bürgerrechtsbewegung

Mit der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren beginnt eine neue Form des kollektiven Glaubens. Es geht nicht mehr darum, sich durch Assimilation Freiräume zu schaffen, sondern Abgrenzung von „den Unterdrückenden“ soll eigene, selbstbestimmte Räume aufmachen. Dabei spalten sich die Lager. Während der eher christlich spirituell verwurzelte Martin Luther King im Sinne Gandhis den gewaltfreien Widerstand propagiert, macht der ebenso spirituelle Malcom X als Mitglied der Nation of Islam Furore mit seinem Aufruf zur Gewalt. Viele Afroamerikaner*innen konvertieren zum Islam, nicht nur weil sie sich hier der weißen Vorherrschaft entzogen fühlen, sondern auch aus pragmatischen Gründen. So werden Personen mit muslimischen Namen weniger diskriminiert.

Der Sound eines offen spirituell geprägten Jazz

Im Jazz findet ab den 1960er Jahren eine Hinwendung zu musikalischen Traditionen der islamischen und hinduistischen Kultur hin. Der von der Apartheit in Südafrika geprägte Musiker Abdullah Ibrahim (Dollar Brand) kommt in den 1960er Jahren in die USA und konvertiert zum Islam. Gemeinsam mit u.a. Pharoah Sanders, Don Cherry, Alice und John Coltrane, verkörpert er Figuren im Jazz, die sich sehr offen zu ihrer Spiritualität bekennen und das in die Musik einfließen lassen. Zusammenfassend, bietet die Spiritualität den Afroamerikaner*innen einen gemeinsamen Ausweg vor der rassistischen Wirklichkeit.

Forschungsfragen zu Spiritualität und Musik heute

Wirft man einen Blick in die Gegenwart, wird sich mit dem Thema Spiritualität im musikalischen Kontext allgemein gehäuft auseinander gesetzt. Im Band-Kontext wird das Zusammenspiel der Musiker*innen untersucht und nach einem „Band-Spirit“ und „Band-Ritualen“ geforscht. Dabei tauchen Begriffe wie „Atmosphäre“ als Platzhalter auf. Bezogen wird sich hier auf den gesamten Prozess, von der Lehratmosphäre im Musik- und Instrumentalunterricht, über das obengenannte Zusammenspiel von Musiker*innen und das Komponieren von Musikstücken selbst. Besonders während der Corona-Pandemie zeigte sich hier eine Veränderung in der Kompositionsatmosphäre. Viele Musiker*innen äußerten sich zu ihrer entweder sehr hohen oder sehr niedrigen Inspiration durch die Isolation während der Pandemie. Auch das Erlebnis der Hörer*innen wird untersucht. Welche Rituale gibt es, auf Konzertbesuche und das Musikhören generell bezogen und welche Atmosphäre entsteht dabei? Begriffe wie „Music is my Religion“ entstehen bereits in der Techno-Szene der 1990er-Jahre.

Jazz und Improvisation im Blickwinkel der Spiritualität

Bezogen auf den Jazz und die improvisierte Musik wird erforscht, wie sich der „Flow“ des Improvisierens auswirkt, auch auf die seelische Gesundheit der Musiker*innen. Ca. 100 Jahre nach der Entstehung des Jazz unter obengenannten Umständen, fragt man nach den persönlichkeitsbildenden Aspekten, Teil einer Jazz-Szene zu sein. Gibt es einen „Jazz-Spirit“? Wie spirituell ist der Zugang von Musiker*innen zur Jazzmusik und gibt es Punkte, an dem sie durch die Musik ihre eigene Wirklichkeit begründen? Gibt es Menschen die von sich behaupten, „Jazz als Sinn des eigenen Lebens“ zu haben?

Der chronologisch aufgespannte Bogen durch das Sujet „Jazz und Spiritualität“ umfasst eine Fülle an Themen aus verschiedenen Disziplinen und ist nach allen Seiten offen. Die Frage nach dem Sinn, warum gibt es Jazz, warum hört man Jazz, warum spielt man Jazz und was ist eigentlich Jazz, treiben seit Jahrzehnten Musiker*innen, Journalist*innen und Hörer*innen um. Es scheint als gäbe es keine definitive Antwort, nur: da ist einfach irgendetwas, das hat mich eingenommen, daran halte ich fest und ich kann es nicht sehen, aber es ist da.


Juni 2024 von Arndt Weidler

Free Your Spirit – Jazz und Spiritualität

Robert Patterson Singers, 1962 (Archiv JID)

Technologisch, gesellschaftlich und politisch betrachtet, befindet sich die Menschheit derzeit in einem gewaltigen Transformationsprozess. Veränderungen der persönlichen Lebenswelt werden dabei von den allermeisten Menschen weltweit als alltägliche Bedrohung  wahrgenommen. Künstliche Intelligenz, demografischer Wandel, die aggressive Konkurrenz internationaler Beziehungen, Klimakrise, Bedrohungen der Biodiversität oder der ungleiche Zugang zu gesellschaftlichen und natürlichen Ressourcen überfordern dabei ein balanciertes Empfinden für die Bewertung persönlicher Handlungsmacht der Individuen.

Grausame Realität vs. Heilende Parallelwelten

Liegt da nicht der Rückzug aus der erlebten Realität und der Übertritt in künstlich geschaffene oder transzendentale Erfahrungswelten nahe; der Rückzug in eine Welt, die, wenn nicht ideal, so doch scheinbar unberührt und verlässlich bleibt, ganz gleich wie tiefgreifend und nachhaltig sich die Wirklichkeit verändert?

Diese Welt kann einerseits im virtuellen Parallelraum liegen – Individuen handeln und interagieren dort als Avatare oder Pseudonyme (Stichwort „Metaverse“) – oder eben in einer spirituellen Sphäre, in jener geistigen Meta-Ebene also, die – enthoben von der Alltäglichkeit kognitiver und biophysikalischer Immanenz – Transzendenz, Übersinnliches, Irrationales zulässt.

Perspektivwechsel fürs nächste Jazzforum?

Wir haben bei unseren letzten Jazzforen viel darüber nachgedacht, inwieweit eine transformationsoffene Musik wie der Jazz, zu dessen Kernelementen die Improvisation, die Innovation und die Interaktion, aber auch die besondere, kunstbezogene Haltung und die kultursoziologische Erfahrung der sich in diesem Kontext bewegenden Akteur*innen zählen, mit den globalen Entwicklungen moderner Gesellschaften resonieren. Wie politisch ist der Jazz? Wie geht er mit Forderungen nach geschlechtlicher Gleichstellung (gender equity) oder der Repräsentanz ethnischer und sozialer Diversität um? Welche Verantwortung tragen Kulturschaffende und Kreative? Ist die musikalische Praxis, die Art und Weise wie Musiker*innen Jazz interpretieren, ihr persönlicher Kommentar zur selbst erlebten Realität?

Wir sind also immer davon ausgegangen, dass die Musiker*innen proaktiv auf Veränderungen ihrer Umwelt reagieren, nicht nur um diese nachvollziehbar, künstlerisch zu spiegeln, sondern vielfach sogar, um sie bewusst zu verändern.

Aber kann es nicht auch umgekehrt sein, dass sich der Transformationsdruck der Gesellschaft auch auf die Kreativen niederschlägt; dass der Rückzug aus der erlebten Realität, die ja ganz praktisch für viele Jazzmusiker*innen hart genug ist, auch hier stattfindet? Vielleicht ist ja die Erschaffung eines Kunstwerks, dass nur für sich Selbst steht, gespeist aus der „Energie“ eines Individuums, allein ausreichender Antrieb künstlerischer Produktivität? Welche Rolle spielen Konstrukte wie „neue Innerlichkeit“, „Selbstfindung“, „kosmische Ordnung“ als Quelle der Inspiration beim Erschaffen neuer Musik und in der Aufführungspraxis?

Spiritualität beschäftigt den Jazz immer schon

Die Rückbesinnung auf, die Hinwendung zu oder die „Flucht“ in die Spiritualität (je nach Perspektive) hat schließlich historisch immer eine Rolle gespielt, ganz besonders auch in der slave culture beider Amerikas zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert: Da geht es um die Bewahrung oder Adaption echter oder vermeintlicher Rituale der afrikanischen „Heimat“, aber auch um Widerständigkeit im gewalttätigen und willkürhaften Unterdrückungssystem der Sklaverei, der Segregation und der Zwangschristianisierung. Musikalischen und kulturellen Ausdruck findet das in Field Songs, Spirituals und Gospelmusik, in Mardi Gras und Okkultismus, im Country Blues als devils music, in „unchristlicher“ Soulmusik, bis hin zum Sprengen der (jazz)musikalischen Konventionen durch Free Jazz im Sinne Ornette Colemans, dem surrealen Impetus des Afrofuturismus eines Sun Ra Arkestra oder dem frenetisch Transzendentalen einer Alice Coltrane bis hin zu Kamasi Washington.

Was würde mich bei dem Thema interessieren?

Mit welchen Themen könnte sich also ein Jazzforum befassen, das das Spannungsverhältnis oder eben die Symbiose von Spiritualität und Jazz behandelt?

Musik- und Sozialhistorisch:

  • Analysen zur „afrikanischen“ Ritualität in klassischen Sprituals
  • Schaffung von Spiritualität durch call-and-response-Muster in Gospel und Blues
  • Bedeutung von Spiritualität und „devianter“ Religionen für schwarze US-amerikanische Musiker*innen anhand von Beispielen: Dizzy Gillespie, Art Blakey, Yusef A. Lateef, John & Alice Coltrane, Benny Golson, Al Jarreau u.a.

Musikwissenschaftlich

  • Einflüsse als besonders spirituell wahrgenommener Musiken des Orients oder Südostasiens auf Schaffensphasen einzelner Musiker*innen
  • Veränderungen des Personalstils unter dem Einfluss veränderter oder wachsender Religiosität
  • Auswirkungen auf Bandsound oder Interaktion im Bandkontext durch spirituell geprägte Rituale

Philosophisch

  • Musik als Lebenssinn oder sinnveränderndes Medium
  • Jazz als ideale Imagination vom „guten Leben“
  • Sind „gutes“ Leben und „verantwortliches“ Leben dasselbe? Hedonismus versus Ethik

Psychologisch

  • Seelische Heilung durch Musik
  • Aufbau von psycho-sozialer Resilienz durch Förderung besonderer (musikalischer) Talente
  • „Kopfkino“ als Antrieb künstlerischer Produktivität

Soziologisch

  • Die Rolle religiös vorgeprägter Musiker*innen-Netzwerke
  • Der Einfluss der Institution Kirche auf die Entwicklung und Verbreitung des Jazz

Juni 2024 von Bettina Bohle

Sinnsucher*innen – Jazz, Spiritualität und das gute Leben

Robert Patterson Singers, 1962 (Archiv JID)

„God is a DJ!“ – Der Liedtitel der britischen Band Faithless aus den 1990er Jahren ist längst zu einem geflügelten Wort geworden. Er greift die zentralen Themen und Fragestellungen des diesjährigen Darmstädter Jazzforums auf: die Verbindung zwischen Musik, Spiritualität und der Suche nach Sinn.

Viele Jazzmusikerinnen waren religiös oder sahen ihre Musik in einem spirituellen oder metaphysischen Kontext. John Coltrane etwa widmete „A Love Supreme“ seiner tief empfundenen Gotteserfahrung, während Sun Ra mit seiner kosmischen Philosophie eine ganz eigene spirituelle Welt erschuf. Diese Dimensionen des Jazz spiegeln eine existenzielle Sinnsuche wider – eine Suche, die sowohl Musikerinnen als auch Hörer*innen berührt.

Die Fragen nach dem Sinn des Lebens, dem Glauben an eine höhere Instanz und dem eigenen Platz im Universum sind so alt wie die Menschheit selbst. Während sie früher oft mit dem Jenseits und der Vorbereitung auf das ewige Leben verbunden waren, geht es heute verstärkt um die Gestaltung eines erfüllten, sinnhaften Lebens im Hier und Jetzt. Dabei rückt das Verständnis des Menschen als Teil einer umfassenden, lebendigen Gemeinschaft in den Fokus. Mit der Sehnsucht nach etwas Ursprünglichem und Authentischem verbindet sich häufig auch eine gewisse Skepsis gegenüber Rationalität und Technisierung – ein Spannungsfeld, das eng mit dem Begriff der Spiritualität verknüpft ist.

Kunst spielte seit jeher eine zentrale Rolle in rituellen, spirituellen und religiösen Zusammenhängen. Jazz als offenes, improvisationsgetriebenes und global vernetztes Musikgenre bietet sich in besonderem Maße für diese Form der Sinnsuche an. Improvisation bedeutet, im Moment zu sein – in direkter Interaktion mit Mitmusiker*innen und Publikum. Jazzgeschichte ist zudem eng mit der afroamerikanischen Erfahrung verknüpft: Ursprünglich als Musik der Unterdrückten entstanden, formuliert Jazz eine Utopie des Miteinanders und kann als Weg des Widerstands und der Hoffnung verstanden werden.

Ein weiteres zentrales Thema ist die Verbindung von Körper und Geist. Der lateinische Begriff „spiritus“ verweist sowohl auf Atem als auch auf Geist – eine Dualität, die in der Musik spürbar wird. Gerade in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Fragmentierung, Technisierung und schwindender direkter menschlicher Interaktion wird der Wunsch nach gemeinschaftlichen Erlebnissen immer deutlicher. Die wachsende Beliebtheit von Live-Konzerten oder der Ansturm auf Sonderausstellungen in Museen zeigen, wie sehr Menschen nach geteilter Erfahrung, nach Sinn und Zusammenhalt suchen – aber auch nach Eskapismus. Kultur übernimmt hier eine Funktion, die früher oft Religionen zugeschrieben wurde. Besonders während der Corona-Pandemie wurde die verbindende Kraft von Musik und Kunst schmerzlich vermisst – und ihre Bedeutung umso bewusster wahrgenommen.

Auch Utopien und Zukunftsvisionen spielen eine Rolle in diesem Kontext. Immer wieder entwirft Kunst alternative Gesellschaftsentwürfe, die nicht selten eine kritische Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen enthalten. In diesem Spannungsfeld zwischen Jazz, Spiritualität und gesellschaftlicher Reflexion setzt das Darmstädter Jazzforum 2025 an. Es lädt dazu ein, die vielfältigen Facetten dieser Sinnsuche zu erkunden und die tiefgehenden Wechselwirkungen zwischen Musik, Spiritualität, Transzendenz und dem guten Leben zu reflektieren.

APE OUT – Die perfekte Symbiose von Jazz und Videospiel?

Autor: Oliver Gries

[Trigger-Warnung: Die eingebetteten Inhalte (Trailer) enthalten Darstellungen physischer Gewalt! Minderjährige oder Personen, für die derlei explizite Darstellungen emotional belastend sein könnten, bitten wir von der Ansicht der Videos Abstand zu nehmen.]

Improvisierte Musik im bewegten Bild

Die Gattung Jazz ist in seiner gesamten Laufbahn des Öfteren mit anderen medialen Formen in Kontakt getreten. Dabei ist gerade die Beziehung zwischen Jazz und Film über die Jahre recht intim geworden; sowohl bei Klassikern wie „Anatomie eines Mordes“ (1959), als auch bei moderneren Produktionen wie „Midnight in Paris“ (2011) scheint der Jazz regelrecht in der DNA verbaut zu sein. Kein Wunder: Das immense Potential des Jazz, in seiner Komplexität und improvisatorischen Vielfalt, klimatische Spannung und emotionale Höhepunkte zu erzeugen, bietet in vielerlei Hinsicht eine ideale Passform für das Medium des Films. In manchen Fällen rücken zwar musikalische Kernaspekte wie eben diese Spontanität, Improvisation, Liveness etc. zwangsläufig in den Hintergrund und entfalten sich wenn überhaupt nur begrenzt, sofern die Handlung des Films es ihnen abverlangt.

Auf der anderen Seite gibt es aber auch Beispiele für den vordergründigen Einsatz von improvisatorischer Musik im Film, beispielsweise in der Gattung Stummfilm oder bei Produktionen wie Louis Malles „Fahrstuhl zum Schafott“ (1958), für welchen Miles Davis in nur einer Nacht den kompletten Soundtrack improvisierte und aufnahm, oder Alejandro G. Iñárritus „Birdman“ (2014), bei dem der Schlagzeuger Antonio Sánchez ganze Szenen in seinen Improvisationen adaptierte. Dazu kommentierte er: „The movie fed on the drums and the drums fed on the imagery.“

Vertonungen im Videospiel

Doch welchen Stellenwert findet der Jazz denn nun im Medium des Videospiels? Eigentlich könnte man ja meinen, dass sich besagtes Medium, mit seinem de-facto inhärenten Augenmerk auf Interaktivität und Spontanität, für eine Fusion mit dieser Gattung Musik regelrecht anbieten würde. Doch – wie es im diskursiven Rahmen des Videospiel-Journalismus bereits diskutiert wurde – waren Jazz-Soundtracks in Spielen bis vor relativ kurzer Zeit noch eine relative Seltenheit. Die potentiellen Gründe reichen dabei von der vergleichsweise jungen Existenz des Mediums bis hin zu den dominanten kulturellen Strömungen während seiner Entwicklung.

Inzwischen gibt es glücklicherweise eine Vielzahl nennenswerter Spiele, die teilweise oder maßgeblich Jazz-basierte Soundtracks aufweisen, von großen AAA-Produktionen wie „Super Mario Odyssey“ (2017) bis zu originellen Indie-Spielen wie „Cuphead“ (2017). Die Art und Weise der Implementation des Jazz variiert dabei in beträchtlichem Ausmaß von Spiel zu Spiel, mit unterschiedlichem Fokus auf Genre, Stil, (historischer) Repräsentation usw. Allerdings unterscheiden sich hier die Arten der Implementation des Jazz im Vergleich zu jenen im Film in vielen Fällen recht geringfügig. Dies mag wenig verwunderlich sein, wenn man bedenkt, wie prägend der Einfluss des Films auf den Werdegang des Videospiels war und weiterhin ist; aber existiert da nicht Potential, welches geradezu darum bettelt, ausgeschöpft zu werden? Videospiele haben über die Jahre eine Unzahl an technologisch beeindruckenden Innovationen präsentiert, darunter Systeme prozeduraler Generierung von Animationen, Figuren und sogar ganzen Spielwelten. Warum nicht auch von Musik? Ist es überhaupt möglich, ein Spiel seinen Soundtrack in Echtzeit generieren bzw. „improvisieren“ zu lassen?

Improvisierte Musik im Videospiel APE OUT

Im Lichte dieser Problematik möchte ich an dieser Stelle ein denkwürdiges, interaktives Kunstwerk in den Vordergrund rücken: Das 2019 von Devolver Digital veröffentlichte Videospiel APE OUT.

Wie es vom obigen Trailer wahrscheinlich bereits zu erahnen ist, ist APE OUT in konzeptueller Hinsicht recht simpel: Der/die Spielende versetzt sich in die Position eines Gorillas, welcher wiederholt von Menschen gefangen und eingesperrt wird und sich daraufhin immer wieder mit Gewalt befreien muss. In diesem kurzen und bündigen Handlungsspielraum hat der Protagonist nur eine begrenzte Anzahl an Möglichkeiten, mit der virtuellen Welt zu kommunizieren: Laufen,  Greifen und Werfen. Trotz dieser mechanischen Simplizität bietet APE OUT durch diverse Techniken prozeduraler Level-Generierung und Gegner-Positionierung eine große Vielfalt an möglichen Szenarien und Abläufen, welche dem/der Spielenden immerzu unterschiedliche Herausforderungen in den Weg stellen.

Und hierin liegt auch auf der Ebene des Soundtracks das Kernelement, durch welches APE OUT sich von dem Großteil seiner medialen Artgenossen abhebt: Ein immenses Ausmaß an adaptiver Interaktivität. Nicht nur nimmt jeder erzielte Kill seitens des/der Spielenden durch einen plötzlich ertönenden Beckenschlag einen unmittelbaren Einfluss auf den Soundtrack; der Soundtrack passt sich in seiner Struktur und Intensität von Moment zu Moment an eine Vielzahl unvorhersehbarer Variablen an – sei es eine große Anzahl an Gegnern, die in kurzer Zeit getötet wurden, oder so etwas subtiles wie das Material des Bodens, auf welchem der Gorilla sich bewegt. Um diese Funktionalität zu ermöglichen, nutzte der Komponist Matt Boch eine Machine-learning – Technologie namens variational autoencoder neural network, welche aus Bochs vorher komponiertem und gesampletem Tonmaterial dynamisch neue Tonspuren generiert. Dadurch wird garantiert, dass jeder individuelle Playthrough von APE OUT von einem individualisierten Soundtrack begleitet wird. Hierbei kann durchaus – wie es Forscher*innen und Komponist*innen experimenteller Computermusik wie Joel Chadabe und George E. Lewis in vergleichbaren Fällen bereits getan haben[1] – von einem Beispiel „interaktiver Komposition“ gesprochen werden. Lewis spricht im Bezug auf etwaige Interaktivitäten zwischen Mensch und Computer auch mitunter von einer „dialogischen“ Improvisation zwischen den zwei Entitäten und wirft interessante Fragen im Bezug auf die Hierarchie zwischen menschlicher Intention und maschineller Programmation auf.[2]

Doch ist das, was APE OUT uns bietet, bereits „richtige“ Improvisation? Die Frage zieht direkte Parellelen zur Debatte um „Künstliche Intelligenz“, und ob von ihr erzeugte Produkte in ihrem Stellenwert verglichen werden können mit menschlicher Intention, menschlicher Arbeit, menschlicher Kunst usw. Das neuronale Netzwerk, welches den Soundtrack von APE OUT generiert – so eindrucksvoll dieser Prozess auch sein mag – bezieht sich schließlich ebenfalls auf bereits komponiertes Material; ist das folglich nicht mehr Imitation und Variation als Improvisation? Spätestens an dieser Stelle der Diskussion kommt meistens jemand daher, der die ganze Prämisse „originaler Improvisation“ in Frage stellt und entgegnet, dass alle menschengemachte Kunst in irgendeiner Form iterativ sei; dass „richtige“ Improvisation nur ein Ideal, aber keine Wirklichkeit sein kann. Diese Debatte, so spannend sie auch ist, sprengt leider nicht nur den Rahmen dieses Beitrags, sondern scheint für jetzt (und, seien wir ehrlich, in absehbarer Zukunft) keinen konkreten Schlussstrich zu erlangen.

Aber einen Soundtrack lupenreiner, wahrhaftiger Improvisation zu erzeugen war von vorneherein nie APE OUT’s ausdrücklicher Anspruch; nach eigenen Angaben des Entwicklers Gabe Cuzzillo[3] war das gesamte Konzept seines Spiels maßgeblich von Pharoah Sanders’ Stück „You’ve Got to Have Freedom“ – welches auch in der Endszene des Spiels ertönt – inspiriert. Geradezu „besessen“ von der entfesselten, schieren Unberechenbarkeit des Stücks wollte er ein Spiel kreieren, welches es schafft, die von ihm wahrgenommene „wilde, tierhafte“ Katharsis des Stücks zu verkörpern.[4] Dieser Zielsatz inspirierte sämtliche stilistischen Eigenschaften des Spiels – vom abstrakten, Saul Bass-esken[5] Kunststil bis hin zum hochoktanigen Schlagzeug-Soundtrack.

Auch im Launch-Trailer des Spiels kommt Sanders’ Stück recht prominent zur Geltung

Kritische Betrachtung der Wahl des Protagonisten von APE OUT (oder: „Warum ein Gorilla?“)

Es ist auch eben dieses Konzept des „Tierhaften“, welches APE OUT in den Augen einiger problematisieren dürfte: Die Tatsache, dass der Hauptcharakter dieses dediziert auf Jazz (und damit auf „schwarzer Musik“) basierenden Spiels ein Gorilla ist, weckt für einige sicherlich unangenehme Erinnerungen an den rassistischen Stereotyp des Vergleichs von schwarzen Menschen mit Affen. Selbst wenn die Message des Spiels eine prinzipiell emanzipatorische sein mag, ist dies dennoch eine potentiell strittige artistic choice, welche zwar nicht in böswilliger Absicht erfolgt sein mag, aber sich dennoch in eine lange Tradition rassifizierter Stereotypisierung einfügt. Dies soll jetzt nicht die besprochenen Errungenschaften von APE OUT klein reden, sondern ist schlichtweg eine Anerkennung der Existenz des Kunstwerks im weiteren Kontext der strukturell rassistischen Gesellschaft, in welcher es entstanden ist.

Impro or no Impro? Abschließende Gedanken

Aber – um noch einmal auf die Problematik vom Anfang des Beitrags zurückzukommen – schafft es APE OUT, sich den Jazz nicht lediglich als Begleitmusik nutzbar zu machen, sondern ihn gleichberechtigt in den Vordergrund zu rücken? Die Antwort auf diese Frage ist – man verzeihe mir die formelhafte Bemerkung – natürlich erst einmal Ansichtssache. Sie hängt davon ab, welche Facetten des Jazz man als besonders wichtig wahrnimmt, sei es die Unmittelbarkeit, die Spontanität, die Improvisation und weitere Faktoren. Es kann APE OUT diesbezüglich zumindest eines angerechnet werden: Dass es besagten Aspekten und Idealen in solch einem Ausmaß entgegenkommt, dass es in seinem Medium als definitive Besonderheit hervorsticht. Die adaptive Echtzeit-Generation eines Spiele-Soundtracks auf solch einem Level an Qualität und Variabilität, wie APE OUT sie erzielt, birgt meines Erachtens immenses Potential für die Zukunft der Komposition interaktiver Musik – und vielleicht, mit etwas Glück, auch endlich einen künstlerisch tatsächlich wertvollen Verwendungszweck für KI.


[1]Born_Georgina_2017_Improvisation_and_Social_Aesthetics_p91-109

[2]Born_Georgina_2017_Improvisation_and_Social_Aesthetics_p105

[3]https://www.gamedeveloper.com/design/road-to-the-student-igf-gabe-cuzzillo-s-i-ape-out-i-; https://www.gamereactor.de/video/309103/Ape+Out+-+Gabe+Cuzzillo+Interview/

[4]Vgl. https://www.gamereactor.de/video/309103/Ape+Out+-+Gabe+Cuzzillo+Interview/ & https://www.gamedeveloper.com/design/road-to-the-student-igf-gabe-cuzzillo-s-i-ape-out-i-

[5]Aus dem Interview von Gabe Cuzzillo auf der Webseite Game Developer: „The soundtrack is a series of jazz drum solos. I hope the music emphasizes the improvisational, animal feeling of the game, as well as fits aesthetically with the Saul Bass-inspired art. The song “You’ve Got To Have Freedom“ by Pharoah Sanders inspired lot of the feel of the game.“ URL: https://www.gamedeveloper.com/design/road-to-the-student-igf-gabe-cuzzillo-s-i-ape-out-i-



Der Autor, Oliver Gries, ist Student der Musikwissenschaft und Amerikanistik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er hat im September und Oktober 2024 ein studentisches Praktikum im Jazzinstitut Darmstadt absolviert. Der Text verbindet Olivers persönliche Leidenschaften für Games und Jazzmusik – und er war das Resultat spannender Diskussionen, die wir im Jazzinstitut mit ihm über die Möglichkeiten und Beschränkungen der Verwendung improvisierter Musik im Kontext intuitiver Visualisierung wie sie bei Computerspielen eingesetzt wird, geführt haben.

UNIVERSAL CONSCIOUSNESS

Konferenz, Workshop, Konzerte, Filmreihe, Ausstellung – das 19. Darmstädter Jazzforum vom 24.–28. September 2025

Eine Musik, die offen für Wandel ist – wie der Jazz – spiegelt globale gesellschaftliche Entwicklungen wider. Diese Themen standen bereits in früheren Darmstädter Jazzforen zur Diskussion. Wie aber beeinflussen gesellschaftliche Veränderungen die Künstler*innen und die Jazz-Szene? Wie reagieren sie auf zeitgeschichtliche Herausforderungen? Gestalten sie diese aktiv oder ziehen sie sich zurück? Das Jazzforum 2025 widmet sich der künstlerischen und spirituellen Auseinandersetzung im Jazz – historisch und zeitgenössisch – und untersucht damit verbundene künstlerische und soziale Praktiken.

Jazz, Spiritualität und der Blues des guten Lebens

Musik hat seit jeher eine zentrale Rolle in spirituellen und rituellen Kontexten gespielt. Call-and-Response-Strukturen, die in vielen Musiktraditionen verankert sind, fördern Dialog und Gemeinschaft und stehen oft für spirituelle Verbundenheit. Dabei ist Musik ein Medium der Inspiration und Kommunikation und kann durch Tanz und Bewegung zur körperlichen Erfahrung werden.

Viele afro-amerikanische Musiker*innen nutzten spirituelle musikalische Formen – von Spirituals über Gospel bis hin zum Free Jazz – als Widerstand gegen Rassismus und Diskriminierung. Diese spirituelle Widerstandskraft prägte die Entwicklung des Jazz nachhaltig. Jazz als offenes, improvisationsbetontes Genre und seine Live-Charakteristik bieten auch heute Raum für unterschiedliche Sinnsuchbewegungen.

Das Jazzforum 2025, das vom 24. bis 28. September in Darmstadt stattfindet, wird unter dem von Alice Coltrane inspirierten Titel „Universal Consciousness – Jazz, Spiritualität und der Blues des guten Lebens“ historische und aktuelle (künstlerische) Reflexionen beleuchten.

Programm (Stand: 22. September 2025)

Programmübersicht zum Download als PDF 

Alle Abstracts zu den Vorträgen und kurze Vorstellung der Teilnehmenden

Mittwoch, 24. September 2025
Eröffnung @Jazzinstitut Darmstadt
Auftakt mit Geschichte, Gegenwart und Klang

Zum Auftakt des 19. Darmstädter Jazzforums schlagen wir einen Bogen von der Geschichte des Jazzinstituts zur künstlerischen Gegenwart. Die Eröffnung würdigt 35 Jahre dokumentierte und gelebte Jazzkultur mit einer Ausstellung zur Geschichte des Instituts. Im anschließenden Eröffnungskonzert begibt sich das Kathrin Pechlof Trio auf eine sinnlich-intellektuelle Spurensuche im musikalischen Vermächtnis von Alice Coltrane – zwischen klanglicher Tiefe und konzentrierter Offenheit im „Universal Consciousness“.

18:00 Uhr: Ausstellung@Jazzinstitut „35 1/5 Umdrehungen“
Empfang und Eröffnung des Jazzforums mit Vernissage der Ausstellung zur Geschichte des Jazzinstituts Darmstadt
20:00 Uhr: Konzert@Jazzinstitut (Gewölbekeller)
Kathrin Pechlof Trio Tickets hier

Donnerstag, 25. September 2025
Konferenz@HoffArt-Theater „Universal Consciousness“
Spiritualität, Wirkung und Theorie: Perspektiven öffnen

Der erste Konferenztag im HoffArt-Theater stellt theoretische und musikwissenschaftliche Perspektiven ins Zentrum: Wie lässt sich das Verhältnis von Musik und Spiritualität überhaupt denken, und erforschen? Die Beiträge und das anschließende Panel untersuchen Jazz und Improvisierte Musik als Ausdrucksträger für metaphysische, religiöse oder gesellschaftspolitische Anliegen. Live-Zeichnungen von Lena Gätjens begleiten die Konferenz. In der Abendveranstaltung im programmkinorex erweitern wir den Blick über das Konzert hinaus – mit zwei Filmen und einem Gespräch zur Erfahrungswelt von Künstler*innen.

13:45 Uhr: Einführung von Bettina Bohle
14:00 Uhr: Key Note-Vortrag von Laura Schwinger, „Self-loss, self-care, self-expression? Jazz und Achtsamkeit“
15:15 Uhr: Vortrag von Uwe Steinmetz, „Just a Vessel?“
16:30 Uhr: Panel zu musikwissenschaftlichen Perspektiven mit André Doehring (Graz), Hauke Dorsch (Mainz), Fanny Opitz (Köln/Bonn)
17:30 Uhr: Reflexion mit Aida Baghernejad

18:15 Uhr: Filmreihe@programmkinorex „Jazz is the Place“
Auftakt der Filmreihe mit einem Gespräch zwischen Kurator Patrick Holzapfel und der Harfenistin Kathrin Pechlof, anschließend „Momma Don’t Allow“ (GB, 1956) und „Sven Klangs kvintet“ (SWE, 1976) Tickets hier

Freitag, 26. September 2025
Konferenz@HoffArt-Theater „Universal Consciousness“
Körper, Konflikte, Kuratieren: Zwischen Hingabe und Haltung

Am zweiten Konferenztag geht es um die gelebte Praxis: Wie manifestiert sich Spiritualität im künstlerischen Alltag? Wie wirkt Musik in gesellschaftlich angespannten Kontexten? Musiker*innen, Kurator*innen und kulturpolitische Akteur*innen bringen vielfältige Perspektiven auf kreative Handlungsspielräume ein. Im Zentrum stehen dabei sowohl individuelle Positionen als auch kollektive Formate, zwischen Widerstand, Ritual und Selbstsorge. Live-Zeichnungen von Lena Gätjens begleiten die Konferenz. Der Konzertabend in der Centralstation mit Michael Wollny und Emile Parisien sowie eine nächtliche Listening Session von und mit Hermes Villena und Tanya Gautam runden  den Tag atmosphärisch  ab.

10:00 Uhr: Vortrag von Martin Büdel, „Es ist mehr als eine Religion: Spiritualität und Transzendenz in madagassischen Jazz-Fusionen“
11:00 Uhr: Vortrag von Laura Robles Marcuello, „Antigroove – Diskriminierung und kulturelle Aneignung im Rhythmus“
11:45 Uhr: Reflexion mit Aida Baghernejad
14:00 Uhr: Gespräch zu Kreativität unter angespannten Bedingungen zwischen Aida Baghernejad und Maria I.J. Reich 
15:15 Uhr: Präsentation von Bazak Yavuz / Serdar Yilmaz zum Programm „Triptych of the Absentees“
16:30 Uhr: Panel zu kuratorischen Perspektiven mit Sophie Emilie Beha (Köln), Klaus Gasteiger (Mainz), Jacobien Vlasman (Berlin)
17:30 Uhr: Reflexion mit Aida Baghernejad

20 Uhr: Konzert@Centralstation (Saal)
Michael Wollny / Emile Parisien Tickets hier
22:00 Uhr: Listening Session@Centralstation Bar
Hermes Villena & Tanya Gautam, „Spirituality in Sound – A Sonic Collage“

Samstag, 27. September 2025
Konferenz@HoffArt-Theater „Universal Consciousness“
Auf der Suche nach Resonanz: Musikpädagogik, Performance und Alltagspraxis

Improvisation als Moment der Gegenwart, als Zugang zu kollektiven Erfahrungen und als künstlerischer wie pädagogischer Möglichkeitsraum steht im Mittelpunkt dieses Tages. Neben Beiträgen zu Mental Health, Musikpädagogik und ästhetischer Forschung stellen Musiker*innen und Performer*innen ihre Perspektiven auf Spiritualität im kreativen Prozess vor. Was passiert im „Jetzt“ des Spiels – und wie lässt sich diese Erfahrung vermitteln? Live-Zeichnungen von Lena Gätjens begleiten die Konferenz. Am Abend begibt sich das Yarns Ensemble in der Bessunger Knabenschule auf musikalische Spurensuche nach klanglicher Gemeinschaft.

09:00 Uhr: Vortrag von Jonas Brinckmann, „Perspektiven von Instrumentallehrenden auf das ‚Jetzt‘ des Improvisierens“
10:00 Uhr: Vortrag von Maria Spychiger, „Fly me to the Moon. Connecting patterns im Jazz“
11:00 Uhr: Vortrag von Michael Wollny, „Living Ghosts“
11:45 Uhr: Reflexion mit Aida Baghernejad
14:00 Uhr: Jan Kobrzinowski / Hans Hansen, „Beyond Music. A Journey into Healing Frequencies of Sound and Music“
15:15 Uhr: lecture performance Die Unwucht
16:30 Uhr: Panel zu künstlerischen Perspektiven mit Philipp Gropper (Berlin), Zola Mennenöh (Köln), Mark Porter (Erfurt)
17:30 Uhr: Reflexion mit Aida Baghernejad

20:00 Uhr: Konzert@Bessunger Knabenschule
The Yarns Ensemble Tickets hier

Sonntag, 28. September 2025
Filmreihe@programmkinorex 
Nachklang und Perspektivwechsel

Der Sonntag bietet Raum für Reflektion und Ausblick. In Kooperation mit dem programmkinorex fragen wir, wie sich Spiritualität, Jazz und gesellschaftliches Bewusstsein im Film erzählen lassen am Beispiel von Filmen zu Ornette Colemann und Sun Ra. Zwischen den beiden Filmen führen wir ein Gespräch über Bildsprache und Musik.

11:00 Uhr: Filmreihe@programmkinorex
Jazz is the Place
Zwei Filme werden gezeigt „Ornette: Made in America“ und „A Joyful Music“ dazwischen gibt es ein Filmgespräch zwischen Filmemacher und Regisseur Teoman Yüzer und Arndt Weidler Tickets hier

Themenschwerpunkte der einzelnen Panels

Panel 1 (25.9.)
Wie drückt sich Spiritualität in Musik aus – und wie lässt sich das erforschen? Dieses Panel nähert sich dieser Frage aus theoretischen und empirischen Perspektiven und untersucht musikalische Ausdrucksformen im Kontext von Spiritualität, Religion, Transzendenz, Achtsamkeit und metaphysischen Betrachtungsweisen. Besonderes Augenmerk gilt dem Jazz als improvisierter Live-Musik: Inwiefern begünstigt seine performative Offenheit eine besondere Form der Wahrnehmung und Bedeutungskonstitution? Welche historischen Linien verbinden Jazz mit spirituellen und gesellschaftspolitischen Bewegungen – etwa in Form religiöser Symbolik, utopischer Weltentwürfe oder widerständiger Praxis? Und schließlich: Wo endet die analytische Zugänglichkeit durch Sprache – und beginnt das Erkenntnispotenzial musikalischer Erfahrung selbst?

Panel 2 (26.9.)
Mehr als Programm: Kuratieren zwischen Atmosphäre, Anspruch und Wirkung
Dieses Panel widmet sich der Frage, welche Atmosphären Kurator:innen bewusst erzeugen wollen – und welche tatsächlich im Konzert erfahrbar werden. Es geht um künstlerische Intentionen, strukturelle Rahmenbedingungen und beispielhafte Formate, die kollektives Erleben ermöglichen, spirituelle Tiefe berühren oder gesellschaftliche Fragen ins Spiel bringen – auch jenseits religiöser Kontexte. Welche Spielräume eröffnen sich für eine Vermittlung, die sinnlich und reflexiv zugleich ist? Und was ließe sich gestalten, wenn Ressourcen und Räume keine Grenzen setzten?

Panel 3 (27.9.)
Was bedeutet Spiritualität im musikalischen Alltag? Musiker:innen sprechen über persönliche Zugänge, spirituelle oder religiöse Bezüge in ihrem Schaffen – und die damit verbundenen Chancen und Herausforderungen. Dabei geht es auch um das Spannungsverhältnis zwischen persönlicher Sinnsuche, öffentlicher Wirkung und musikalischer Form. Ist Spiritualität heute eine Haltung, ein ästhetisches Konzept oder ein Risiko? Und was bedeutet das für künstlerische Zukunftsentwürfe?

Blog

Weiterlesen: In unserem Blog zum Jazzforum sammeln wir lose Gedanken zum Thema Spiritualität, Jazz und möglichen Fragestellungen zum Thema, versuchen aber auch regelmäßig über den Fortschritt der Veranstaltung und besondere geplante Formate während des 19. Darmstädter Jazzforums zu schreiben.

Beteiligung am Darmstädter Jazzforum 2025

Zum 19. Darmstädter Jazzforum waren über einen Call Musiker*innen, Wissenschaftler*innen, Veranstalter*innen, Journalist*innen, Musikpädagog*innen und weitere Interessierte eingeladen, Beiträge einzureichen.

  • Bei Interesse an einer Teilnahme an der Konferenz als Zuhörer*in schreiben Sie gerne eine E-Mail an: jazzforum@jazzinstitut.de

Bei Rückfragen oder Unterstützungsbedarf wenden Sie sich an:
Bettina Bohle, Tel. +49 6151 963740
oder
Arndt Weidler, Tel. +49 6151 963744

Hotelzimmer für Konferenzteilnehmer:innen sind für Selbstzahler*innen zu einem Tagungstarif verfügbar im Maritim, mehr Informationen hier.

Barrierefreiheit

Die Veranstaltung findet in deutscher Lautsprache statt. Die Veranstaltungsorte und -formate sollen möglichst barrierearm gestaltet sein. Bei Unterstützungsbedarf für die Teilnahme setzen Sie sich bitte mit uns in Verbindung. Wir planen, eine Kinderbetreuung während des Jazzforums zu organisieren, für Teilnehmende wie Besucher*innen. Bei Interesse bitte möglichst frühzeitig melden unter jazzforum@jazzinstitut.de