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Roots | Heimat: Wie offen ist der Jazz?

Das Darmstädter Jazzforum 2021

Alle Beiträge und Panels bei YouTube unter jazzinstitut.darmstadt

Das 17. Darmstädter Jazzforum vom 30. September bis 2. Oktober 2021 fragte nach dem Verhältnis zwischen “Roots” und “Heimat”. Roots steht sowohl für die afro-amerikanischen Wurzeln des Jazz als auch für die die emotionale, familiäre oder ethnische Herkunft von Musiker:innen überall auf der Welt. Heimat steht für die Tatsache, dass gerade der Jazz eine kulturelle und ästhetische Selbstverortung verlangt. Für die einen ist der Jazz kreative Praxis, die global benutzt wird, aber immer zurück auf ihre afro-amerikanische Herkunft verweist. Für die anderen ist Jazz etwas, mit dem man aufgewachsen ist, mithilfe dessen sich die eigene Betroffenheit, der individuelle Standpunkt am besten ausdrücken lässt. Für viele ist Jazz beides, beinhaltet die afro-amerikanische Tradition genauso wie die produktive Freiheit, diese Praxis auch innerhalb der eigenen, von den Ursprüngen des Jazz als afro-amerikanische Musik manchmal weit entfernten Communities anzuwenden.

Und da hakten wir ein. Wir wollten Diskussionen aus dem Umfeld der Black Lives Matter-Bewegung aufnehmen und uns darüber austauschen, wie europäisch beeinflusste Sichtweisen das ethische wie ästhetische Verständnis, die Präsentation und die Rezeption des Jazz mit geprägt haben, inwieweit eine solche eurozentrische Sichtweise auch unser Verständnis von Jazz geformt, wenn nicht gar verformt hat und weiterhin formt, welchen Stellenwert in ihr sowohl die afro-amerikanischen Ursprünge der Musik besitzen als auch unser eigenes kulturelles Umfeld. Wir sprachen über historische Beispiele eurozentrischer Umdeutungen in der Jazzgeschichte, haben aber auch den aktuellen Diskurs über die Relevanz des Jazz in nicht-afroamerikanischen Communities thematisiert. Wir sprachen über Rassismus im Jazz , fragten danach, welche Formen von Ausgrenzung und anderen Othering-Strategien sich im Jazz hierzulande finden lassen, und gingen auf alternative Lesarten der Jazzrezeption ein, Beispiele etwa, wie afroamerikanische Kultur das Verständnis von Musik auf der ganzen Welt verändert hat. Wir wollten die Diskussion dabei keinesfalls auf den Jazz begrenzen, sondern auch auf ähnliche Debatten über Eurozentrismus bzw. Afroamerikanismus etwa in Neuer Musik oder der Popkultur ganz allgemein blicken.

Das Darmstädter Jazzforum ist eine internationale Konferenz. Im Vorfeld erwarteten wir Vorträge und Diskussionen, die über unsere kleine Szene der Jazzforscher:innen hinausreichen, und wir freuten uns wie immer auf ein Publikum von Musiker:innen, Journalist:innen, ernsthaften Jazzfans, aber auch von Studierenden und Forscher:innen unterschiedlichster Disziplinen.


Das Darmstädter Jazzforum ist eine Veranstaltung des Jazzinstitut Darmstadt mit Unterstützung der Wissenschaftsstadt Darmstadt. Es fand 2021 in Zusammenarbeit mit dem HoffART-Theater Darmstadt und dem Kulturzentrum Bessunger Knabenschule statt. Das 17. Darmstädter Jazzforum wurde gefördert vom Kulturfonds Frankfurt RheinMain und vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst. Es wird präsentiert von Jazzthetik – Zeitschrift für Jazz und anderes.


Programmübersicht:

Donnerstag, 30. September 2021, ab 14:00 Uhr
Diskussion – 17. Darmstädter Jazzforum Roots/Heimat (Foto: Wilfried Heckmann)

Wie wird kulturelle Identität geformt und deren Wahrnehmung beeinflusst?
Am ersten Tag des 17. Darmstädter Jazzforums fragen wir danach, wie sich kulturelle Identität in der Musik ausdrückt bzw. wie sie in Musik wahr- oder auch nicht wahrgenommen wird. Philipp Teriete wird über den Ausbildungskanon an den Historically Black Colleges and Universities in den USA im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sprechen und den Einfluss dieser Art an Musikausbildung auf den frühen Jazz diskutieren. Anna-Lisa Malmros diskutiert die sehr unterschiedlichen Identitäten des dänisch-kongolesischen Saxophonisten John Tchicai, der spätestens seit seiner Beteiligung an einigen herausragenden Aufnahmen des US-amerikanischen Free Jazz in den 1960er Jahren auch mit dieser Szene identifiziert wurde.

Welcome-Dinner – 17. Darmstädter Jazzforum Roots/Heimat (Foto: Wilfried Heckmann)

Über Identitäten geht es anschließend auch beim Gespräch mit der Saxophonistin Gabriele Maurer, dem Kontrabassisten Reza Askari und der Sängerin Simin Tander, die ganz persönlich die Erfahrungen von Künstler:innen vorstellen, die auf unterschiedliche Art und Weise betroffen sind, durch Hautfarbe, familiäre Herkunft und/oder ihre künstlerische Auseinandersetzung mit Traditionen, die außerhalb ihrer deutschen Heimat liegen (Moderation: Sophie Emilie Beha). Wir haben dieses Panel überschrieben: “Vom Fremdsein, Ankommen, Fremdbleiben. Gespräch über eigene Erfahrung der Identitätswahrnehmung”.
Ausführliche Abstracts für Donnerstag

Freitag, 1. Oktober 2021, ab 09:30 Uhr
Ádám Havas – 17. Darmstädter Jazzforum Roots/Heimat (Foto: Wilfried Heckmann)

Kulturelle Aneignung und nationales Selbstverständnis (case studies)
Am Vormittag des zweiten Tags sprechen wir über den oft sehr persönlich geprägten Aneignungsprozess afro-amerikanischer Musik in Europa. Philipp Schmickl stellt das Beispiel des Österreichers Hans Falb vor, der 1978 den afro-amerikanischen Trompeter Clifford Thornton in Paris traf und darauf in seiner Heimatstadt im Osten Österreichs Konzerte für und mit Thornton plante, aus denen schließlich ein international beachtetes Festival hervorging. Er hinterfragt die Beweggründe für Falbs kuratorische Aktivität und setzt sie in Beziehung zu Thorntons Ansichten über Musik und Politik der Zeit.

Pausentalk – 17. Darmstädter Jazzforum Roots/Heimat (Foto: Wilfried Heckmann)

Ádám Havas bezieht sich auf eine Aussage Bruce Johnsons von 2002 (“Der Jazz wurde nicht einfach ‘erfunden’ und dann exportiert. Er wurde im Prozess seiner eigenen Verbreitung erfunden”) und wendet sie auf die Rezeption des Jazz in Ungarn an, der sehr bewusst auf kulturelle Praktiken von in Ungarn lebenden Roma-Musiker:innen zurückgriff. Niklaus Troxler schließlich, dessen Plakate Thema einer Ausstellung im Jazzinstitut sind, wird über seinen eigenen Weg zum Jazz erzählen, als Fan, als Begründer und langjähriger Veranstalter des Willisau Jazzfestivals, mit dem er Musiker:innen, für die sein Herz schlägt, in die Schweiz holen konnte, sowie als international renommierter Grafiker und Plakatkünstler.
Ausführliche Abstracts für Freitag

Freitag, 1. Oktober 2021, ab 14 Uhr
Sophie Emilie Beha, Frieder Blume, Joana Tischkau, Jean-Paul Bourelly, Konnie Vossebein
Panel 2: An die Arbeit – 17. Darmstädter Jazzforum Roots/Heimat (Foto: Wilfried Heckmann)

“Wir” und “die anderen”
Die viel-postulierte “Emanzipation” des europäischen Jazz in den 1950er und 1960er Jahren von den US-amerikanischen (und damit insbesondere auch den afro-amerikanischen) Vorbildern führte oft zu einer Haltung des “Wir müssen etwas Eigenes machen”, das – meist eher unbewusst als bewusst – zur Vorstellung führte, das, was die produktive Kraft des Jazz da in Europa hervorbrachte, sei tatsächlich völlig verschieden von dem, was in den USA passierte. Harald Kisiedu hinterfragt diese Zusammenhänge, diskutiert die wichtigen afro-diasporischen Beiträge zum europäischen experimentellen Jazz und die in der Jazzszene ja immer vorhandene Bewunderung afro-amerikanischer Heroen unter dem Aspekt der kulturellen creolization. Timo Vollbrecht arbeitet seit langem als Saxophonist auf der New Yorker Musikszene aktiv, tourt außerdem mit divers besetzten Bands durch Deutschland und Europa. Er hat Mitmusiker:innen nach ihren Erfahrungen mit “social othering” und der Exotisierung ihrer Person/Kunst/Musik befragt und diskutiert davon ausgehend mögliche Strategien, was sich denn für jeden Künstler, jede Künstlerin selbst tun ließe, um mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit in der Musik-Community zu erreichen.

Luise Volkmann LEONEsauvage – 17. Darmstädter Jazzforum Roots/Heimat (Foto: Wilfried Heckmann)

Trompeter Stephan Meinberg fragt nach möglichen Umgangsweisen mit dem eigenen Privilegiert-Sein als “weiß” gelesene Person, die sich zudem beruflich, z.B. als ausübender Musiker, mit größtenteils afro-amerikanischer Musik befasst. In einem Roundtable mit zwei dem Gitarristen Jean-Paul Bourelly, der Veranstalterin Kornelia Vossebein und den Kulturaktivist:innen Joana Tischkau und Frieder Blume wollen wir schließlich darüber diskutieren, was es bedarf, um nicht nur zu einem Bewusstseinswandel, sondern darüber hinaus auch zu einer anderen Repräsentation von Musiker:innen auf der Bühne beizutragen (Moderation: Sophie Emilie Beha). Wir haben dieses Panel optimistisch überschrieben: “An die Arbeit: Realität verändern!!!”
Ausführliche Abstracts für Freitag

Samstag, 2. Oktober 2021, ab 09:30 Uhr
Peter Kemper – 17. Darmstädter Jazzforum Roots/Heimat (Foto: Wilfried Heckmann)

Von Leuten und Menschen (case studies)
Identität ist zum einen etwas ungemein Persönliches, wird zum anderen von außen allerdings oft anders wahrgenommen als von einem selbst. Damit beschäftigt sich der Vormittag des dritten Tags beim Jazzforum, an dem konkrete, sehr verschiedene Beispiele ausgebreitet werden. Nico Thom stellt Bill Ramsey vor, den weißen US-Amerikaner, der (neben einer Schlagerkarriere) in der deutschen Jazzszene der 1950er Jahre als “Mann mit der schwarzen Stimme” gefeiert wurde, und diskutiert dabei unterschiedliche Aspekte der “Amerikanisierung Europas, bei der sich die ‘westeuropäischen Nachkriegsgesellschaften aktiv mit strategischen Eigeninteressen und geschickten Aneignungsstrategien an der Amerikanisierung beteiligt haben'”.

Vincent Bababoutilabo + Wolfram Knauer – 17. Darmstädter Jazzforum Roots/Heimat (Foto: Wilfried Heckmann)

Ausgehend von einem Konzert beim Deutschen Jazz Festival 1978, bei dem der Saxophonist Heinz Sauer gemeinsam mit Archie Shepp und George Adams auf der Bühne stand, setzt sich Peter Kemper schließlich mit Entwicklungsprozess sowohl der Musik wie auch der musikästhetischen Haltungen sowohl Shepps wie auch Sauers auseinander und fragt, ob es dabei auch ästhetische Qualitäten des Jazz gebe, die über alle ethnischen, geographischen und nationalen Identitäten hinausweisen. Als Überleitung zum letzten Nachmittag des Jazzforums betont Vincent Bababoutilabo die Notwendigkeit rassismuskritischer Perspektiven in der Musikpädagogik heute und hierzulande.

Ausführliche Abstracts für Samstag

Samstag, 2. Oktober 2021, ab 14:00 Uhr
Luise Volkmann + Ella O’Brien-Coker – Vortrag beim 17. Darmstädter Jazzforum Roots/Heimat (Foto: Wilfried Heckmann)

Wir wie die Welt sehen
Für die eigene Perspektive ist jede:r einzelne von uns selbst zuständig. Perspektiven sind aber keine feste Vorgabe, sie lassen sich verändern. Von solchen Perspektivveränderungen handelt der letzte Nachmittag des Jazzforums. Zunächst stellen Sanni Lötzsch und Jo Wespel ihr Konzept FESTIVAL BOOST NOW! vor, das zugleich ein Aufruf zur Selbstermächtigung der Musiker:innen und zur Schaffung “zugänglicher Strukturen” innerhalb der Kulturszene (Communities”) ist. Ihr Entwurf fordert die radikale Öffnung für queerfeminischtische, intersektionelle, antirassistische und interdisziplinäre Ansätze sowohl im kreativen Prozess als auch bei der Gestaltung des kulturellen Umfeldes. Dazu entwickeln sie mit ihrer “Meta-Community” nicht nur multiperspektivische Veranstaltungsformate, sondern gleich ganze “Realutopien”. Die Saxophonistin Luise Volkmann hat im April 2021 den vom Jazzinstitut verliehenen Kathrin-Preis erhalten, der mit einer Residenzwoche in Darmstadt verbunden war, bei der sie Recherchen zu Sun Ra, zur afrikanischen Diaspora, zum Black Atlantic, zum sozio-musikalischen und politischen Einfluss von Musik anstellte- Zugleich diskutierte sie mit einem neuen Ensemble den Unterbau ihres Projekts, das am Freitagabend beim Darmstädter Jazzforum zu Gehör kommt, die afro-amerikanische Diaspora also und wie wir als Europäer mit dieser umgehen. In einem eigenen Beitrag und anschließend im Gespräch mit der Singer-Songwriterin Ella O’Brien-Coker wird Volkmann Aspekte von Ritualität, unsere vielen Identitäten und das performative Sprechen diskutieren. Im abschließenden Panel fragen wir danach, welchen Einfluss unsere Eigen- und Fremdsicht auf den Dialog mit “der Welt” hat. Wir haben dazu Constanze Schliebs eingeladen, die über viele Jahre Agenturerfahrung im In- und Ausland verfügt, außerdem als Kuratorin und Festivalgründerin in China aktiv war und ist, Sophie-Therese Hueber vom Musikbereich des Goethe-Instituts, sowie Sylvia Freydank vom Internationalen Musikinstitut Darmstadt (Ferienkurse für Neue Musik), Institutionen, bei denen ähnliche Diskussion ebenfalls seit längerem geführt werden (Moderation: Sophie Emilie Beha). Und wir fragen etwas provokant: “Exportieren wir eigentlich nur Musik oder auch unsere Weltsicht?”
Ausführliche Abstracts für Samstag


Konzert:
Am Freitagabend, 1. Oktober 2021, wird Luise Volkmann mit LEONE sauvage im Saal der Bessunger Knabenschule zu hören sein. (mehr…)


Ausstellung:
Ab 4. Oktober 2021 zeigen wir in der Galerie im Jazzinstitut (und während der Konferenz auch im Konferenzraum) die Ausstellung “Jazzgeschichten in Rot und Blau” mit Plakaten des Schweizer Künstlers Niklaus Troxler. (mehr…)


Weitere Fragen bitte an jazz@jazzinstitut.de


Das 17. Darmstädter Jazzforum wird gefördert von

JazzTalk-Mitschnitte

Sukzessive planen wir an dieser Stelle Mitschnitte unserer JazzTalk-Reihe zu veröffentlichen, denn in fast 20 Jahren sind unterhaltsame, lebendige und manchmal sogar ausgesprochen tiefschürfende Dialoge über Kunst, Musik und Musikerleben zwischen Wolfram Knauer und seinen Gästen entstanden.

Außerdem findet sich hier exklusiv die Langversion eines Radiointerviews mit dem Journalisten und Fotografen Arne Reimer (“American Jazz Legends”) mit hr2-Kultur Jazzredakteur Guenter Hottmann.

POSITIONEN! Jazz und Politik

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Verantwortung! Relevanz! Widerstand! Jazz? Lasst uns diskutieren…

Jazz wurde immer als eine Musik der Widerständigkeit wahrgenommen. Mit dem Einzug in die Institutionen scheint der Jazz ein wenig seines politischen Bewusstseins verloren zu haben. Musiker*innen beschäftigen sich mehr mit technischen und ästhetischen Fragen; das Publikum sonnt sich eher im vergleichenden Blick zurück, als dass es seine Aufmerksamkeit dem oft schwierigeren – und das nicht immer, weil die Musik schwierig ist –, aber solidarischen Blick nach vorn widmet.

Und während in den USA, dem Geburtsland des Jazz, fast jedes Projekt eine politische Note erhält, von Vijay Iyer bis Kamasi Washington, scheint Europa im selbstgefälligen Feiern von Jazz als Kunstmusik versunken. In Zeiten, in denen in ganz Europa die sozialen und politischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte von einem neuen Populismus zurückgedrängt werden, befasst sich aber auch die Kunst insgesamt wieder verstärkt mit gesellschaftlichen Themen, sei es die bewusstere Haltung gegenüber Klimafragen, Armut, Bildung, das globale Verständnis von Menschlichkeit, das Eintreten für die Menschenwürde auf allen Ebenen, eine klare Haltung gegen Sexismus, Rassismus oder sonstige Ausgrenzung. “Diversity”, sagt Kamasi Washington, “should not be tolerated, it should be celebrated.”

Wo also findet diese Feier der Diversität statt im zeitgenössischen europäischen Jazz? Wie ist es um das Bewusstsein für die eigene politische, gesellschaftliche und soziale Verantwortung des Künstlers im Jazz bestellt? Und warum scheint “politisch Lied” ausgerechnet in dem Genre, das die tiefste Geschichte der Widerständigkeit besitzt, immer noch “garstig Lied” zu sein?

Das 16. Darmstädter Jazzforum setzt sich mit diesen und ähnlichen Fragen auseinander, in Vorträgen, Diskussionspanels, Gesprächskonzerten, einem Workshop, einer Ausstellung zum Thema sowie einer abschließenden Buchdokumentation. Wir wollen den Jazz nicht bekehren. Nicht alles muss zuvorderst politisch sein. Im Wissen aber darum, dass auch in 2019 gilt, dass “alles politisch ist”, wollen wir mit Musiker*innen, Expert*innen und Wissenschaftler*innen darüber sprechen, ob nicht vielleicht gerade durch die immer präsente politische Kraft des Jazz, die Tatsache also, dass improvisierte Musik ein seismographisch ziemlich empfindliches Abbild der Gegenwart ist, dieser Musik auch 2019 and beyond ein besonders wichtiger Platz im Kanon der aktuellen Musik gebührt.

Der Konferenzteil des Darmstädter Jazzforums findet vom 3. bis 5. Oktober 2019 tagsüber im Literaturhaus Darmstadt statt. Mit den Konzerten, der Ausstellung und Workshops, mit denen wir die Konferenz flankieren, planen wir unterschiedliche Veranstaltungsorte in Darmstadt zu bespielen.

Weiter unten finden sich Abstracts der einzelnen Programmpunkte sowie Biographien der Referentinnen und Referenten. Unser gedruckter Programmflyer (hier als PDF) enthält einen kürzer gefassten Überblick über das 16. Darmstädter Jazzforum:

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Programm (Stand: 29. Juli 2019)
“POSITIONEN! Jazz und Politik”

Donnerstag, 3. Oktober 2019

AUSSTELLUNG (ab 3. Oktober)

Vortragssaal im Literaturhaus + Galerie im Jazzinstitut Darmstadt

Alles wird gut gegangen sein werden – die Ausstellung

Im Künstlerkollektiv BRIGADE FUTUR III haben sich Benjamin Weidekamp, Elia Rediger, Jérôme Bugnon und Michael Haves zusammengetan, um zu Fragen und Herausforderungen unserer Zeit künstlerisch Stellung zu beziehen. Dabei reflektieren sie nichts Geringeres als den Zustand der Welt, die Auswüchse des Kapitalismus und vor allem auch die Möglichkeiten jedes einzelnen, sich in den Diskurs einzubringen.

Als Musiker transportieren sie ihr politisches Statement im Sinne von Brecht und Weill in vielen Konzerten und Bühnenprojekten, oft zusammen mit anderen Musikern und Künstlern wie der Spielvereinigung Sued aus Leipzig.

Auf Einladung des Jazzinstituts Darmstadt hat sich die BRIGADE FUTUR III der Aufgabe gestellt, ihre Ideen im Rahmen dieser Ausstellung für das 16. Darmstädter Jazzforum “Jazz und Politik” umzusetzen.

Alles wird gut gegangen sein werden… aber wie nur? Wie kann man für ein positives Zukunftsbild einstehen, dessen Voraussetzungen in der Zukunft erst “geschaffen zu sein werden haben?” Die Idee des fiktionalen Futur III war geboren, mit dem die Künstler einen kategorischen Handlungsimperativ verbinden, um ein positives gesellschaftliches Narrativ zu entwerfen, für das es sich zu leben lohnt.

Auf der Basis ihres “Kampfalphabets”, in dem Schrecken unseres gesellschaftlichen Systems mit Alternativen kontrastiert werden, verfolgen sie ihren konzeptionellen Kunstansatz mit Sendungsbewusstsein.

“Die verheerenden Auswirkungen des Raubtierkapitalismus auf die Welt werden immer deutlicher und es ist klar, dass es so nicht mehr weiter gehen kann.” BRIGADE FUTUR III

(wegen der Konferenz im Jazzinstitut Darmstadt öffentlich erst ab 7.10. zu sehen) 


KONFERENZ (Literaturhaus)

14:00 Uhr
Eröffnung

14:15 Uhr
Stephan Braese, Aachen
Stammheim war nie Attica. Zur politischen Widerständigkeit des Jazz in Deutschland seit 1945

Ungeachtet des eminenten Einflusses, den die US-amerikanischen Entwicklungen stets hatten, standen die Entfaltung, aber auch die politischen Wirkungschancen des Jazz in Deutschland stets unter spezifischen Bedingungen. Ausgehend von der (Wieder-)Einführung des Jazz 1945, skizziert der Vortrag einige dieser Bedingungen, zu denen die ethnische Homogenität der deutschen Bevölkerung, der Kampf um die Legitimität des Jazz, ein spezifisch europäischer Kunstbegriff, die (west-)deutsche Interpretation der antiautoritären Bewegung 1966 ff. u.a. gehören. Die Ausführungen stellen die Frage danach, ob und inwieweit diese in den Gründungsjahrzehnten des deutschen Jazz angelegten Dispositive auch im heutigen Verhältnis zwischen Jazz und Politik noch zu erkennen und wirksam sind.

Stephan Braese (geb. 1961) studierte Germanistik, Geschichte und Erziehungswissenschaft in Hamburg. Seit 2009 ist er Ludwig Strauss-Professor für europäisch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte an der RWTH Aachen University. Einschlägige Veröffentlichungen u.a.: “Identifying the Impulse: Alfred Lion Founds the Blue Note Jazz Label”, in Eckart Goebel and Sigrid Weigel (ed.): “Escape to Life” – German Intellectuals in New York: A Compendium of Exile after 1933 (Berlin/ Boston: de Gruyter, 2013): 270-287; “‘kenny clarke im club st-germain-des-prés’ – Zu einem Satz von Alfred Andersch”, in Corina Caduff, Anne-Kathrin-Reulecke, Ulrike Vedder (ed.): Passionen – Objekte/ Schauplätze/ Denkstile (München: Wilhelm Fink 2010): 309-316.

15:15 Uhr
Henning Vetter, Osnabrück
Jazz als politische Musik? Über die Selbstbestimmung des Künstlers über die Rezeption und Deutungshoheit seines Werkes

Spricht man über Politik in Verbindung mit Jazz, so impliziert diese Zusammenführung eine Positionierung des Künstlers und des Publikums gleichermaßen. Doch wie kann eine an sich abstrakte Musik Haltung zeigen, Aussagen treffen? Und: welche Aussagen kann sie überhaupt treffen? Der Vortrag nähert sich diesen Fragestellungen von einer praktischen Seite am Beispiel des Kollektivs “The Dorf”. Dabei geht es auch darum, wer bestimmt, wie die Musik aufgenommen wird und ob die Intention des Künstlers bezüglich der Bedeutung seines eigenen Werkes nicht sogar überflüssig sein kann.

Henning Vetter studierte Musikwissenschaft und Medienkulturwissenschaft an der Universität zu Köln. Seine Abschlussarbeit widmete er dem Bassisten Charles Mingus im Hinblick auf die politische Wirkung dessen musikalischen Werkes. Von 2017 bis 2019 studierte Henning Vetter am Institut für Musik der Hochschule Osnabrück Saxophon und gründete vor drei Jahren gemeinsam mit Freunden in Köln das PAO-Kollektiv für experimentelle und improvisierte Musik.

16:15 Uhr
Nina Polaschegg, Wien
Sind frei Improvisierende die besseren Demokraten?

Gerne werden Jazz und frei improvisierte Musik als demokratisches Gesellschaftsmodell einem hierarchisch aufgebauten Orchesterapparat gegenüber gestellt. Und ein Streichquartett, wo stünde dann dieses? Ob und wieweit solche Modelle tragfähig sind und inwieweit hier Wunsch und Wirklichkeit auseinander klaffen ist eine der Fragen, denen in diesem Vortrag nachgegangen wird. Um in einem Zeitraffer und knappen Rückblick in die Anfänge des Free Jazz politisch motivierte freie Musik im Hier & Jetzt zu beleuchten und dabei auch einen Blick in die Welt der komponierten zeitgenössischen Musik zu werfen. 

Nina Polaschegg studierte Musikwissenschaften, Soziologie und Philosophie in Giessen und Hamburg wo sie auch promovierte. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der zeitgenössischen komponierten, improvisierten und elektronischen Musik sowie im zeitgenössischen Jazz und Musiksoziologie. Sie lebt als Musikwissenschaftlerin, Musikpublizistin, Moderatorin und Kontrabassistin in Wien, arbeitet für diverse öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten in Deutschland, Österreich und der Schweiz und schreibt für verschiedene Fachzeitschriften. Hatte Lehraufträge an den Musikhochschulen bzw. Universitäten Hamburg und Klagenfurt. Als Kontrabassistin spielte sie historisch informiert in  Barockorchestern und widmet sich v.a. der (freien) Improvisation.

17:15 (bis 17:45) Uhr
Benjamin Weidekamp + Michael Haves, Berlin
Alles wird gut gegangen sein werden – Der Talk

Benjamin Weidekamp und Michael Alves sind Mitglieder der  Brigade Futur III, die beim Darmstädter Jazzforum nicht nur musikalisch aktiv werden (zusammen mit der Spielvereinigung Sued am Samstagabend), sondern auch eine Ausstellung in den Räumen des Jazzinstituts und des Literaturhauses Darmstadt zeigen, in der sie den künstlerischen Prozess ihrer kreativen (und immer auch politischen / gesellschaftlichen) Arbeit beleuchten. Darum geht es auch bei ihrem gemeinsamen Vortrag im Konferenzteil des Jazzforums, in dem sie über die Diskussionen um ihre Darmstädter Beiträge berichten werden.

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Freitag, 4. Oktober 2019

AUSSTELLUNG (ab 3. Oktober)

Vortragssaal im Literaturhaus + Galerie im Jazzinstitut Darmstadt
Alles wird gut gegangen sein werden – die Ausstellung
(wegen der Konferenz im Jazzinstitut Darmstadt öffentlich erst ab 7.10. zu sehen)

KONFERENZ (Literaturhaus)

9:30 Uhr
Wolfram Knauer, Darmstadt
Jazz und Politik – politischer Jazz? Eine bundesdeutsche Perspektive

Wer in diesen Zeiten nicht politisch denkt und handelt, hat ein Problem: Die Krisen, von denen wir von allen Seiten bedrängt werden, fordern doch nachgerade Position zu beziehen. Anhand konkreter Beispiele diskutiert Wolfram Knauer die durchaus unterschiedlichen Erwartungshaltungen an die gesellschaftliche Relevanz von Musik. So fragt er beispielsweise, inwieweit wir uns nicht selbst belügen, wenn wir der Musik außermusikalische Kompetenz zusprechen und sie nach dieser bemessen. Zugleich hinterfragt er aber auch, inwieweit Musik unpolitisch sein kann oder sollte. Tun wir Musik nicht unrecht, wenn wir in ihr die Utopie suchen, die uns in unserem eigenen Handeln fehlt?

Wolfram Knauer ist Musikwissenschaftler und seit seiner Gründung Direktor des Jazzinstituts Darmstadt. Er lehrte an mehreren Universitäten und war als erster Nichtamerikaner Louis Armstrong Professor of Jazz Studies an der Columbia University. Er ist Herausgeber der Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung und Autor zahlreicher wissenschaftlicher Beiträge in Büchern und Fachzeitschriften. Bei Reclam erschienen seine Bücher Louis Armstrong (2010), Charlie Parker (2014) und Duke Ellington (2017) sowie jüngst “Play yourself, man!” Die Geschichte des Jazz in Deutschland (2019).

Mario Dunkel, Oldenburg
Afrodiasporische Musik und Populismus in Europa

Dass populäre Musik und Jazz der Verhandlung von Identitätskonzepten dienen, ist keine neue Erkenntnis. Kategorien wie Nation, race, Ethnizität, Gender und Klasse sind seit den Anfängen des Jazz wichtige Diskursfelder, in denen die Musik verortet und verstanden wird. Die Beziehung zwischen Gruppenidentität und Musik ist insbesondere in der Interaktion zwischen aktueller populärer Musik und zeitgenössischen politischen Bewegungen signifikant. So greift die Alternative für Deutschland (AfD) auf Demonstrationen beispielsweise nicht nur auf deutschsprachige Volksmusik und Richard Wagners Walkürenritt zurück, sondern sie setzt auch populäre Musik mit eindeutigen afrodiasporischen Bezügen ein, wenn etwa Xavier Naidoos “Raus aus dem Reichstag” eine Demonstration gegen den Bau einer Moschee in Rostock musikalisch begleitet. Dieser Beitrag geht solchen Aneignungsstrategien von afrodiasporischen Musiken in gegenwärtigen politischen Bewegungen nach. Welche Funktion hat die Verwendung afrodiasporischer Musiken in diesen politischen Bewegungen in Europa? Warum wird die Verwendung afrodiasporischer Musiken in diesen Zusammenhängen nicht als widersprüchlich empfunden, wo sie doch die Forderung nach kultureller Homogenität zu karikieren scheint? Inwiefern kann die Aneignung afrodiasporischer Musiken als Bestandteil aktueller Identitätspolitiken in Europa verstanden werden?

Mario Dunkel studierte in Dortmund, Atlanta und New York Musik, Englisch und Amerikanistik. 2014 promovierte er mit einer Dissertation zu Darstellungen von Jazzgeschichte an der TU Dortmund. Er ist zurzeit Juniorprofessor für Musikpädagogik am Institut für Musik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Konstruktionen und Darstellungen von Jazzgeschichte, Musik und Politik sowie transkulturelle Musikpädagogik. Zurzeit leitet er das internationale Forschungsprojekt „Popular Music and the Rise of Populism in Europe“ (2019-2022).

11:30 Uhr
Martin Pfleiderer, Weimar
“… an outstanding artistic model of democratic cooperation”? Zur Interaktion im Jazz

Glaubt man der Resolution des US-Kongresses aus dem Jahre 1987, so ist Jazz ein herausragendes künstlerisches Modell demokratischer Kooperation. Denn im Jazz, so die verbreitete Vorstellung, halten sich Gruppeninteraktion und individueller Ausdruck die Waage, und in seinen klanglichen Strukturen lassen sich die Prozesse gleichberechtigter Interaktion und Kooperation auch für Außenstehende nachvollziehen. Diese Vorstellungen sollen im Vortrag kritisch hinterfragt werden. Wie geht der interaktive Schaffensprozess im Jazz tatsächlich vonstatten? Welchen Stellenwert haben dabei einerseits körperliche Synchronisierungsprozesse zwischen den MusikerInnen, andererseits explizite Signale und Absprachen? Wird eine gleichberechtigte Interaktion nur inszeniert und auf der Bühne dargestellt, oder ist sie real und hat reale Konsequenzen? Welche Rolle spielen hierarchische Strukturen, Führerschaft und Autorität innerhalb von Jazzbands? Kann schon allein im Prozess des interaktiv-improvisatorischen Musikmachens ein politischer oder sogar utopischer Gehalt aufscheinen oder sind dafür zusätzlich bestimmte Symbole oder Musiker-Statements erforderlich? Neben musiksoziologischen und musikanalytischen Zugängen sollen zur Klärung dieser Fragen auch neuere Ansätze der ›embodied music interaction‹ und der Diskussion um musikalische ›agency‹ herangezogen werden.

Martin Pfleiderer (Jg. 1967) studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Soziologie in Gießen und war 1999-2005 wissenschaftlicher Assistent für Systematische Musikwissenschaft an der Uni Hamburg. Seit 2009 ist er Professor für Geschichte des Jazz und der populären Musik am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena. Er hat zahlreiche Aufsätze zum Jazz veröffentlicht und ist darüber hinaus leidenschaftlicher Jazzsaxophonist.

14:00 Uhr
Panel mit Nadin Deventer, Berlin | Tina Heine, Salzburg | Lena Jeckel, Gütersloh | Ulrich Stock, Hamburg
Veranstalter/innen: die Influencer des Jazz?

In diesem Panel wollen wir über die Strukturzwänge sprechen, in denen insbesondere große Jazzevents organisiert und wahrgenommen werden. Welche Aufgabe haben Kurator/innen über das reine Programmieren hinaus? Wie können Festivals oder Konzertreihen nachhaltig wirken, eine regionale Szene einbinden und zugleich im internationalen Diskurs des Jazz wahrgenommen werden? Welche Auswirkungen haben programmatische Entscheidungen auf die Diskussion innerhalb der gesamten bundesdeutschen Szene? Oder, und damit deutlicher auf unser Konferenzthema bezogen: Wie gehen Programmverantwortliche auf gesellschafts- und kulturpolitische Diskurse ein? Wollen sie das überhaupt oder müssen sie gegebenenfalls auf gesamtgesellschaftlich diskutierte Themen reagieren? Wie schließlich spiegeln sich ihre Programmentscheidungen in der öffentlichen Wahrnehmung wieder? Mit Tina Heine, Lena Jeckel und Nadin Deventer haben wir drei Programmverantwortliche auf dem Podium, die aus eigener Erfahrung über das Machbare genauso wie über das Wünschenswerte berichten können. Mit Ulrich Stock ist zudem ein Journalist dabei, der immer wieder über die Reaktion der Jazzszene auf aktuelle Fragen berichtet und die verschiedenen Orte erkundet, an denen diese gesellschaftlich-musikalische Auseinandersetzung zu erleben ist.

15:30 Uhr
Nikolaus Neuser + Florian Juncker, Berlin
“Occupied Reading”: Musikalische Intervention

Wie verändert die Lektüre politischer, ästhetischer oder sonstiger Texte die Wahrnehmung von Musik? Wie verändert Musik die Lektüre politischer, ästhetischer oder anderer Texte? Nikolaus Neuser und Florian Juncker machen die Probe aufs Exempel, und wir erfahren: Musik verändert das Denken, aber das Denken verändert auch die musikalische Wahrnehmung. Welchen Diskurs lassen solche intermedialen Erfahrungen entstehen? Und was lehren sie uns letzten Endes über den tatsächlichen Einfluss von Musik (oder Kunst im Allgemeinen) auf unser gesellschaftliches Denken und Handeln?

16:00 Uhr
Hans Lüdemann
“Beyond the underdog”. Gesellschaftliche und politische Positionierung eines deutschen Jazzmusikers heute (Vortrag live am Klavier / Lecture-Performance)

Hans Lüdemann erzählt, warum die politische Einstellung für ihn eine der wichtigen Motivationen war, überhaupt Jazzmusiker zu werden. Er fragt, welche Bedeutung eine politische Haltung in Bezug auf den Jazz heute hat, wie und worin sie sich ausdrücken kann. Am Klavier erklingen politisch gefärbte und gedeutete Musikstücke und es wird den Widersprüchen nachgespürt, die sich zwischen politischer Haltung und Botschaft einerseits und der abstrakten Welt der Töne andererseits auftun können. Aber auch die Positionierung und Behauptung des Musikers in der gesellschaftlichen Realität zwischen Kunst, Kommerz, Kulturförderung und Kapitalismus wird dabei mit ins Bild gerückt.

Hans Lüdemann ist Jazzpianist und Komponist. Er hat mit deutschen und internationalen Größen zusammengearbeitet wie Eberhard Weber, Heinz Sauer, Manfred Schoof, Angelika Niescier, Jan Garbarek und Paul Bley. Im Zentrum seiner Arbeit stehen jedoch eigene Projekte: er spielt Solokonzerte, zuletzt 2018 in China, im Trio ROOMS, arbeitet seit 20 Jahren mit dem afrikanischen Balaphon-Meister Aly Keita im TRIO IVOIRE zusammen und leitet das deutsch-französische Oktett „TransEuropeExpress“. Er erweitert das Klavier mit Samples in mikrotonale Bereiche, was in dem neuen Quartett mikroPULS mit Gebhard Ullmann, Oliver Potratz und Eric Schaefer besonders zur Geltung kommt. Hans Lüdemann hat über 30 Alben bei renommierten Labels veröffentlicht. Seine bisher umfangreichste Produktion, die CD – Box„die kunst des trios“, wurde 2013 mit dem „Echo Jazz“ ausgezeichnet. Lüdemann war von 1993 – 2008 Dozent für Jazz-Klavier und – Ensemble an der Musikhochschule Köln, 2009/2010 und 2015/16 Cornell Visiting Professor am Swarthmore College in Philadelphia/USA.

KONZERT (Centralstation Darmstadt)
20:00 Uhr

Anarchist Republic of Bzzz (FR/NL/TR/USA)

Seb El Zin, in Paris lebender Sänger der Ethno-Punk-Band ITHAK, gründete diese etwas andere Supergroup – musikalisch zwischen Impro-Avantgarde, Worldmusic und Slampoetry. Mehr Informationen zum Konzert

Das Konzert wird präsentiert von

Collage: Kiki Picasso©

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Samstag, 5. Oktober 2019

AUSSTELLUNG (ab 3. Oktober)

Vortragssaal im Literaturhaus + Galerie im Jazzinstitut Darmstadt
Alles wird gut gegangen sein werden – die Ausstellung
(wegen der Konferenz im Jazzinstitut Darmstadt öffentlich erst ab 7.10. zu sehen)

KONFERENZ (Literaturhaus)

9:30 Uhr
Nikolaus Neuser, Berlin
Jazz und improvisierte Musik als soziales Rollenmodell?

Wir sind heute täglich in immer komplexere Zusammenhänge eingebunden, auf die wir in immer schnelleren Rückkopplungen reagieren müssen. Durch die Digitalisierung befinden wir uns sowohl technologisch als auch in unserer Kommunikation und Diskursfähigkeit in erheblichen Umbrüchen. Welche Kompetenzen und Modelle zukünftigen Miteinanders liefert uns die Kulturtechnik der Improvisation vor diesem Hintergrund? Nikolaus Neuser beleuchtet diese Fragestellung auch aus der konkreten Perspektive seiner kulturpolitischen Arbeit.

Nikolaus Neuser studierte an der Folkwang-Hochschule in Essen Trompete bei Uli Beckerhoff. Aktuell interpretiert er mit dem Trio I Am Three unkonventionell  besetzt die Musik von Charles Mingus. 2016 legte das Trio das international vielbeachtete Album Mingus Mingus Mingus (Leo Records) vor (Jahresbestenliste Downbeat Magazin, All about Jazz, NYC Jazz Records uva.). Er arbeitet außerdem im Trio mit Richard Scott und Alexander Frangenheim an elekroakkustischer improvisierter Musik und ist u.a. Mitglied der Ensembles Potsa Lotsa, Andreas Willers´ 7 of 8, des Hannes Zerbe Jazz Orchesters und des Berlin Improvisers Orchestra. Nikolaus Neuser hat mit Matthew Herbert, Matana Roberts, Tyshawn Sorey, Nate Wooley, Maggie Nicols, Peter Fox, Seeed sowie dem London Improvisers Orchestra u.v.a gearbeitet und ist auf über 50 CDs zu hören. Konzertreisen u.a. auf Einladung des Goethe Instituts führten ihn durch Europa, Asien, Nordafrika, die USA, in den Libanon, Jordanien, Saudi-Arabien sowie nach Kolumbien, wo er als Gastprofessor an der Pontificia Universidad Javeriana de Bogotá lehrte.

10:30 Uhr
Michael Rüsenberg, Köln
“Jazz ist stets politisch.” Stimmt diese Aussage von Mark Turner? Und, hört man sie in seiner Musik?

Im November 2016 (Donald Trump ist gerade gewählt), vermutet der amerikanische Saxophonist Mark Turner im Gespräch mit der NZZ, “dass es wieder zu einer Politisierung der Kunst kommen wird.” Das ist eine Überzeugung, die wie unter einem Brennglas den zentralen Inhalt des Politikverständisses weiter Teile der Jazzszene wiedergibt (s. Titel). “Allein schon der Entscheid, als Jazzmusiker zu leben, ist ein politisches Statement. Denn man entscheidet sich damit für Freiheit, für Emanzipation und gegen den Primat des materiellen Erfolgs” (Turner). Michael Rüsenberg unterzieht diese Position einer grundsätzlichen Kritik.

Michael Rüsenberg, geb 1948, Journalist, Buchautor, Gastgeber der philosophischen Gesprächsreihe “Gedankensprünge” in Bann. Adolf-Grimme-Preis 1989, WDR Jazzpreis 2015. Buchprojekt “Improvisation – ein Prinzip des Lebens” (in Vorbereitung)

11:30 Uhr
Thomas Krüger, Berlin

Der Beitrag von Kunst und Kultur, insbesondere des Jazz, für aktuelle gesellschaftspolitische Diskurse

In meinem Beitrag würde ich zunächst auf die Debatte um die Kulturalisierung des Politischen eingehen und aktuelle Tendenzen politischer Verschiebungen aufzeigen. Ich werde die kreative wie auch die rezeptive Seite von kulturellen Artefakten beleuchten und nach dem Politischen in der Ästhetik fragen. Und danach, was der Jazz, insbesondere der frei improvisierende Jazz in diesem Zusammenhang für ein Potential hat.

Thomas Krüger ist seit 2000 Präsident der Bundeszentrale für politischen Bildung. Seit 1995 ist er Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes. Außerdem ist er zweiter stellvertretender Vorsitzender der Kommission für Jugendmedienschutz und Mitglied des Kuratoriums für den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. 1991 bis 1994 war er Senator für Jugend und Familie in Berlin, 1994 bis 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages.

14:00 Uhr
Angelika Niescier + Tim Isfort + Victoriah Szirmai + Korhan Erel
… im Ohr des Betrachters
(Lecture-Performance)

Der Ton: ein physikalisches Ereignis, ohne ästhetische noch politische Intention.
In der Wahrnehmung der Rezipienten wird „der Ton“ aber sofort kontextualisiert – eine essentielle Projektionsfläche für tatsächliche und irreale Intentionen, Botschaften und Diskursangebote. In dieser Lecture Performance mit Musiker*innen, Kurator*innen und Jornalist*innen werden unterschiedliche  Perspektiven des Themenclusters untersucht, um Überschneidungen, Unterschiede und mögliche Kontroversen zu verdeutlichen und um sich in der Diskussion dem Intendierten, Verstandenen und Missverstandenen und dem Phänomen des “Politischen” in der Musik zu nähern.

16:30 Uhr (programmkinorex Darmstadt)
Atef Ben Bouzid, Berlin

Cairo Jazzman – The Groove of a Megacity

“Jazz is more than just a style of music”, sagt Amr Salah. “It’s about freedom.” Salah, ägyptischer Pianist und Komponist, kämpft seit 2009 jedes Jahr darum, das Cairo Jazz Festival zu realisieren. Jazz ist zu seinem Lebensinhalt geworden, weil diese Musik in seinen Augen völkerverbindend ist und speziell der Jugend ein Sprachrohr gibt. Für Amr Salah handelt es sich um einen vielfältigen Musikstil, der damit auch für Liberalität und Offenheit einer Gesellschaft steht, für die es sich zu kämpfen lohnt. Atif Ben Bouzids Film über das Cairo Jazz Festival gibt ungewohnte und vielschichtige Einblicke in das Leben der Zivilgesellschaft in der Megacity Kairo, eingebettet im Jazz als einer universellen, völkerverbindenden und horizonterweiternden Sprache.
Mehr Informationen zum Film

Nach der Filmvorführung gibt es ein Filmgespräch mit dem Regisseur über Jazz und zivilgesellschaftlicher Aktivismus in der arabischen Welt.

Atef Ben Bouzid ist ein deutscher Journalist, Regisseur und Produzent aus Berlin mit dem Fokus auf Sport, Musik und Gesellschaft. “Cairo Jazzman” ist sein Regiedebüt. “Cairo Jazzman” feierte die Weltpremiere beim International Film Festival Rotterdam 2017.

KONZERT (Kulturzentrum Bessunger Knabenschule)
20:00 Uhr

Brigade Futur III + Spielvereinigung Sued
Alles wird gut gegangen sein werden – Das Konzert

Nicht nur grammatikalische Formen lassen sich fiktiv erweitern, sondern auch fiktionale politische Programmatiken in musikalische Spielformen transferieren. Das zumindest beweist die Berliner Brigade Futur 3. Mehr Informationen zum Konzert

Das Konzert wird präsentiert von

Foto: Ebasi Rediger©

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ab Montag, 7. Oktober 2019

AUSSTELLUNG (ab 3. Oktober)

Vortragssaal im Literaturhaus + Galerie im Jazzinstitut Darmstadt
Alles wird gut gegangen sein werden – die Ausstellung
(wegen der Konferenz im Jazzinstitut Darmstadt öffentlich erst ab 7.10. zu sehen)

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Das 16. Darmstädter Jazzforum wird gefördert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, den Kulturfonds Frankfurt RheinMain und der Wissenschaftsstadt Darmstadt. Wir danken für die freundliche Unterstützung durch die Sparkasse Darmstadt.

[:en]

Jazz was often seen as a music of resistance, however with its increasing institutionalization some of this political awareness seems to have vanished. It feels as if musicians are more interested in tackling the technical and aesthetic sides of the music while the audience sits back and compares what it hears with what it knows instead of focusing on the unknown, unexpected and perhaps a bit more complex gaze ahead.

Thus, while in the United States, the birthplace of Jazz, many current projects, be it by Vijay Iyer or Kamasi Washington, sport a political note, musicians in Europe seem to be content with jazz being appreciated as art music. However, at a time when all over Europe the social and political achievements of the past decades are being pushed back by new populist movements, all forms of art must face questions of social responsibility again, whether it’s a more conscious position towards climate change, poverty, education, and a global understanding of humanity, whether it’s advocating human dignity on all levels, or taking a clear stance against sexism, racism and any other kind of exclusion: “Diversity”, says Kamasi Washington, “should not be tolerated, it should be celebrated.”

Where, then, do we find such celebration of diversity within contemporary European jazz? How strong is the awareness of musicians for their own political and social responsibility? And why is it that in jazz, the genre with the deepest history of resistance, singing of political justice seems to be looked down upon?

At the 16th Darmstadt Jazzforum we want to ask such questions, in papers, panels, concert lectures, a workshop, an exhibition as well as an ensuing book documentation. We do not think that jazz needs to be converted. Not everything has to be political first. However, as everything will have a political aspect in 2019 as well, we want to talk to musicians, experts, scholars and others about why jazz with its ever-present history of resistance, with improvisation’s seismographic ability to capture present-time discourses, should take a first seat within the canon of contemporary music.

The conference part of the Darmstadt Jazzforum will take place from 3-6 October 2019 at Literaturhaus Darmstadt. It will be flanked by concerts, an exhibition and workshops at other venues and thus involve the whole city in our discourse about the political in jazz.

[to be continued soon]

The 16th Darmstadt Jazzforum is funded by the Hessen State Ministry for Higher Education, Research and the Arts and the City of Darmstadt – City of Science and Culture

[The rest of this page is in German as that will also be the language of the conference.]

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Programm (Stand: 29. Juli 2019)
“POSITIONEN! Jazz und Politik”

Donnerstag, 3. Oktober 2019

AUSSTELLUNG (ab 3. Oktober)

Vortragssaal im Literaturhaus + Galerie im Jazzinstitut Darmstadt

Alles wird gut gegangen sein werden – die Ausstellung

Im Künstlerkollektiv BRIGADE FUTUR III haben sich Benjamin Weidekamp, Elia Rediger, Jérôme Bugnon und Michael Haves zusammengetan, um zu Fragen und Herausforderungen unserer Zeit künstlerisch Stellung zu beziehen. Dabei reflektieren sie nichts Geringeres als den Zustand der Welt, die Auswüchse des Kapitalismus und vor allem auch die Möglichkeiten jedes einzelnen, sich in den Diskurs einzubringen.

Als Musiker transportieren sie ihr politisches Statement im Sinne von Brecht und Weill in vielen Konzerten und Bühnenprojekten, oft zusammen mit anderen Musikern und Künstlern wie der Spielvereinigung Sued aus Leipzig.

Auf Einladung des Jazzinstituts Darmstadt hat sich die BRIGADE FUTUR III der Aufgabe gestellt, ihre Ideen im Rahmen dieser Ausstellung für das 16. Darmstädter Jazzforum “Jazz und Politik” umzusetzen.

Alles wird gut gegangen sein werden… aber wie nur? Wie kann man für ein positives Zukunftsbild einstehen, dessen Voraussetzungen in der Zukunft erst “geschaffen zu sein werden haben?” Die Idee des fiktionalen Futur III war geboren, mit dem die Künstler einen kategorischen Handlungsimperativ verbinden, um ein positives gesellschaftliches Narrativ zu entwerfen, für das es sich zu leben lohnt.

Auf der Basis ihres “Kampfalphabets”, in dem Schrecken unseres gesellschaftlichen Systems mit Alternativen kontrastiert werden, verfolgen sie ihren konzeptionellen Kunstansatz mit Sendungsbewusstsein.

“Die verheerenden Auswirkungen des Raubtierkapitalismus auf die Welt werden immer deutlicher und es ist klar, dass es so nicht mehr weiter gehen kann.” BRIGADE FUTUR III

(wegen der Konferenz im Jazzinstitut Darmstadt öffentlich erst ab 7.10. zu sehen) 


KONFERENZ (Literaturhaus)

14:00 Uhr
Eröffnung

14:15 Uhr
Stephan Braese, Aachen
Stammheim war nie Attica. Zur politischen Widerständigkeit des Jazz in Deutschland seit 1945

Ungeachtet des eminenten Einflusses, den die US-amerikanischen Entwicklungen stets hatten, standen die Entfaltung, aber auch die politischen Wirkungschancen des Jazz in Deutschland stets unter spezifischen Bedingungen. Ausgehend von der (Wieder-)Einführung des Jazz 1945, skizziert der Vortrag einige dieser Bedingungen, zu denen die ethnische Homogenität der deutschen Bevölkerung, der Kampf um die Legitimität des Jazz, ein spezifisch europäischer Kunstbegriff, die (west-)deutsche Interpretation der antiautoritären Bewegung 1966 ff. u.a. gehören. Die Ausführungen stellen die Frage danach, ob und inwieweit diese in den Gründungsjahrzehnten des deutschen Jazz angelegten Dispositive auch im heutigen Verhältnis zwischen Jazz und Politik noch zu erkennen und wirksam sind.

Stephan Braese (geb. 1961) studierte Germanistik, Geschichte und Erziehungswissenschaft in Hamburg. Seit 2009 ist er Ludwig Strauss-Professor für europäisch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte an der RWTH Aachen University. Einschlägige Veröffentlichungen u.a.: “Identifying the Impulse: Alfred Lion Founds the Blue Note Jazz Label”, in Eckart Goebel and Sigrid Weigel (ed.): “Escape to Life” – German Intellectuals in New York: A Compendium of Exile after 1933 (Berlin/ Boston: de Gruyter, 2013): 270-287; “‘kenny clarke im club st-germain-des-prés’ – Zu einem Satz von Alfred Andersch”, in Corina Caduff, Anne-Kathrin-Reulecke, Ulrike Vedder (ed.): Passionen – Objekte/ Schauplätze/ Denkstile (München: Wilhelm Fink 2010): 309-316.

15:15 Uhr

Henning Vetter, Osnabrück
Jazz als politische Musik? Über die Selbstbestimmung des Künstlers über die Rezeption und Deutungshoheit seines Werkes

Spricht man über Politik in Verbindung mit Jazz, so impliziert diese Zusammenführung eine Positionierung des Künstlers und des Publikums gleichermaßen. Doch wie kann eine an sich abstrakte Musik Haltung zeigen, Aussagen treffen? Und: welche Aussagen kann sie überhaupt treffen? Der Vortrag nähert sich diesen Fragestellungen von einer praktischen Seite am Beispiel des Kollektivs “The Dorf”. Dabei geht es auch darum, wer bestimmt, wie die Musik aufgenommen wird und ob die Intention des Künstlers bezüglich der Bedeutung seines eigenen Werkes nicht sogar überflüssig sein kann.

Henning Vetter studierte Musikwissenschaft und Medienkulturwissenschaft an der Universität zu Köln. Seine Abschlussarbeit widmete er dem Bassisten Charles Mingus im Hinblick auf die politische Wirkung dessen musikalischen Werkes. Von 2017 bis 2019 studierte Henning Vetter am Institut für Musik der Hochschule Osnabrück Saxophon und gründete vor drei Jahren gemeinsam mit Freunden in Köln das PAO-Kollektiv für experimentelle und improvisierte Musik.

16:15 Uhr
Nina Polaschegg, Wien
Sind frei Improvisierende die besseren Demokraten?

Gerne werden Jazz und frei improvisierte Musik als demokratisches Gesellschaftsmodell einem hierarchisch aufgebauten Orchesterapparat gegenüber gestellt. Und ein Streichquartett, wo stünde dann dieses? Ob und wieweit solche Modelle tragfähig sind und inwieweit hier Wunsch und Wirklichkeit auseinander klaffen ist eine der Fragen, denen in diesem Vortrag nachgegangen wird. Um in einem Zeitraffer und knappen Rückblick in die Anfänge des Free Jazz politisch motivierte freie Musik im Hier & Jetzt zu beleuchten und dabei auch einen Blick in die Welt der komponierten zeitgenössischen Musik zu werfen. 

Nina Polaschegg studierte Musikwissenschaften, Soziologie und Philosophie in Giessen und Hamburg wo sie auch promovierte. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der zeitgenössischen komponierten, improvisierten und elektronischen Musik sowie im zeitgenössischen Jazz und Musiksoziologie. Sie lebt als Musikwissenschaftlerin, Musikpublizistin, Moderatorin und Kontrabassistin in Wien, arbeitet für diverse öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten in Deutschland, Österreich und der Schweiz und schreibt für verschiedene Fachzeitschriften. Hatte Lehraufträge an den Musikhochschulen bzw. Universitäten Hamburg und Klagenfurt. Als Kontrabassistin spielte sie historisch informiert in  Barockorchestern und widmet sich v.a. der (freien) Improvisation.

17:15 (bis 17:45) Uhr
Benjamin Weidekamp + Michael Haves, Berlin
Alles wird gut gegangen sein werden – Der Talk

Benjamin Weidekamp und Michael Alves sind Mitglieder der  Brigade Futur III, die beim Darmstädter Jazzforum nicht nur musikalisch aktiv werden (zusammen mit der Spielvereinigung Sued am Samstagabend), sondern auch eine Ausstellung in den Räumen des Jazzinstituts und des Literaturhauses Darmstadt zeigen, in der sie den künstlerischen Prozess ihrer kreativen (und immer auch politischen / gesellschaftlichen) Arbeit beleuchten. Darum geht es auch bei ihrem gemeinsamen Vortrag im Konferenzteil des Jazzforums, in dem sie über die Diskussionen um ihre Darmstädter Beiträge berichten werden.

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Freitag, 4. Oktober 2019

AUSSTELLUNG (ab 3. Oktober)

Vortragssaal im Literaturhaus + Galerie im Jazzinstitut Darmstadt
Alles wird gut gegangen sein werden – die Ausstellung
(wegen der Konferenz im Jazzinstitut Darmstadt öffentlich erst ab 7.10. zu sehen)

KONFERENZ (Literaturhaus)

9:30 Uhr
Wolfram Knauer, Darmstadt
Jazz und Politik – politischer Jazz? Eine bundesdeutsche Perspektive

Wer in diesen Zeiten nicht politisch denkt und handelt, hat ein Problem: Die Krisen, von denen wir von allen Seiten bedrängt werden, fordern doch nachgerade Position zu beziehen. Anhand konkreter Beispiele diskutiert Wolfram Knauer die durchaus unterschiedlichen Erwartungshaltungen an die gesellschaftliche Relevanz von Musik. So fragt er beispielsweise, inwieweit wir uns nicht selbst belügen, wenn wir der Musik außermusikalische Kompetenz zusprechen und sie nach dieser bemessen. Zugleich hinterfragt er aber auch, inwieweit Musik unpolitisch sein kann oder sollte. Tun wir Musik nicht unrecht, wenn wir in ihr die Utopie suchen, die uns in unserem eigenen Handeln fehlt?

Wolfram Knauer ist Musikwissenschaftler und seit seiner Gründung Direktor des Jazzinstituts Darmstadt. Er lehrte an mehreren Universitäten und war als erster Nichtamerikaner Louis Armstrong Professor of Jazz Studies an der Columbia University. Er ist Herausgeber der Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung und Autor zahlreicher wissenschaftlicher Beiträge in Büchern und Fachzeitschriften. Bei Reclam erschienen seine Bücher Louis Armstrong (2010), Charlie Parker (2014) und Duke Ellington (2017) sowie jüngst “Play yourself, man!” Die Geschichte des Jazz in Deutschland (2019).

Mario Dunkel, Oldenburg
Afrodiasporische Musik und Populismus in Europa

Dass populäre Musik und Jazz der Verhandlung von Identitätskonzepten dienen, ist keine neue Erkenntnis. Kategorien wie Nation, race, Ethnizität, Gender und Klasse sind seit den Anfängen des Jazz wichtige Diskursfelder, in denen die Musik verortet und verstanden wird. Die Beziehung zwischen Gruppenidentität und Musik ist insbesondere in der Interaktion zwischen aktueller populärer Musik und zeitgenössischen politischen Bewegungen signifikant. So greift die Alternative für Deutschland (AfD) auf Demonstrationen beispielsweise nicht nur auf deutschsprachige Volksmusik und Richard Wagners Walkürenritt zurück, sondern sie setzt auch populäre Musik mit eindeutigen afrodiasporischen Bezügen ein, wenn etwa Xavier Naidoos “Raus aus dem Reichstag” eine Demonstration gegen den Bau einer Moschee in Rostock musikalisch begleitet. Dieser Beitrag geht solchen Aneignungsstrategien von afrodiasporischen Musiken in gegenwärtigen politischen Bewegungen nach. Welche Funktion hat die Verwendung afrodiasporischer Musiken in diesen politischen Bewegungen in Europa? Warum wird die Verwendung afrodiasporischer Musiken in diesen Zusammenhängen nicht als widersprüchlich empfunden, wo sie doch die Forderung nach kultureller Homogenität zu karikieren scheint? Inwiefern kann die Aneignung afrodiasporischer Musiken als Bestandteil aktueller Identitätspolitiken in Europa verstanden werden?

Mario Dunkel studierte in Dortmund, Atlanta und New York Musik, Englisch und Amerikanistik. 2014 promovierte er mit einer Dissertation zu Darstellungen von Jazzgeschichte an der TU Dortmund. Er ist zurzeit Juniorprofessor für Musikpädagogik am Institut für Musik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Konstruktionen und Darstellungen von Jazzgeschichte, Musik und Politik sowie transkulturelle Musikpädagogik. Zurzeit leitet er das internationale Forschungsprojekt „Popular Music and the Rise of Populism in Europe“ (2019-2022).

11:30 Uhr
Martin Pfleiderer, Weimar
“… an outstanding artistic model of democratic cooperation”? Zur Interaktion im Jazz

Glaubt man der Resolution des US-Kongresses aus dem Jahre 1987, so ist Jazz ein herausragendes künstlerisches Modell demokratischer Kooperation. Denn im Jazz, so die verbreitete Vorstellung, halten sich Gruppeninteraktion und individueller Ausdruck die Waage, und in seinen klanglichen Strukturen lassen sich die Prozesse gleichberechtigter Interaktion und Kooperation auch für Außenstehende nachvollziehen. Diese Vorstellungen sollen im Vortrag kritisch hinterfragt werden. Wie geht der interaktive Schaffensprozess im Jazz tatsächlich vonstatten? Welchen Stellenwert haben dabei einerseits körperliche Synchronisierungsprozesse zwischen den MusikerInnen, andererseits explizite Signale und Absprachen? Wird eine gleichberechtigte Interaktion nur inszeniert und auf der Bühne dargestellt, oder ist sie real und hat reale Konsequenzen? Welche Rolle spielen hierarchische Strukturen, Führerschaft und Autorität innerhalb von Jazzbands? Kann schon allein im Prozess des interaktiv-improvisatorischen Musikmachens ein politischer oder sogar utopischer Gehalt aufscheinen oder sind dafür zusätzlich bestimmte Symbole oder Musiker-Statements erforderlich? Neben musiksoziologischen und musikanalytischen Zugängen sollen zur Klärung dieser Fragen auch neuere Ansätze der ›embodied music interaction‹ und der Diskussion um musikalische ›agency‹ herangezogen werden.

Martin Pfleiderer (Jg. 1967) studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Soziologie in Gießen und war 1999-2005 wissenschaftlicher Assistent für Systematische Musikwissenschaft an der Uni Hamburg. Seit 2009 ist er Professor für Geschichte des Jazz und der populären Musik am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena. Er hat zahlreiche Aufsätze zum Jazz veröffentlicht und ist darüber hinaus leidenschaftlicher Jazzsaxophonist.

14:00 Uhr
Panel mit Nadin Deventer, Berlin | Tina Heine, Salzburg | Lena Jeckel, Gütersloh | Ulrich Stock, Hamburg
Veranstalter/innen: die Influencer des Jazz?

In diesem Panel wollen wir über die Strukturzwänge sprechen, in denen insbesondere große Jazzevents organisiert und wahrgenommen werden. Welche Aufgabe haben Kurator/innen über das reine Programmieren hinaus? Wie können Festivals oder Konzertreihen nachhaltig wirken, eine regionale Szene einbinden und zugleich im internationalen Diskurs des Jazz wahrgenommen werden? Welche Auswirkungen haben programmatische Entscheidungen auf die Diskussion innerhalb der gesamten bundesdeutschen Szene? Oder, und damit deutlicher auf unser Konferenzthema bezogen: Wie gehen Programmverantwortliche auf gesellschafts- und kulturpolitische Diskurse ein? Wollen sie das überhaupt oder müssen sie gegebenenfalls auf gesamtgesellschaftlich diskutierte Themen reagieren? Wie schließlich spiegeln sich ihre Programmentscheidungen in der öffentlichen Wahrnehmung wieder? Mit Tina Heine, Lena Jeckel und Nadin Deventer haben wir drei Programmverantwortliche auf dem Podium, die aus eigener Erfahrung über das Machbare genauso wie über das Wünschenswerte berichten können. Mit Ulrich Stock ist zudem ein Journalist dabei, der immer wieder über die Reaktion der Jazzszene auf aktuelle Fragen berichtet und die verschiedenen Orte erkundet, an denen diese gesellschaftlich-musikalische Auseinandersetzung zu erleben ist.

15:30 Uhr
Nikolaus Neuser + Florian Juncker, Berlin
“Occupied Reading”: Musikalische Intervention

Wie verändert die Lektüre politischer, ästhetischer oder sonstiger Texte die Wahrnehmung von Musik? Wie verändert Musik die Lektüre politischer, ästhetischer oder anderer Texte? Nikolaus Neuser und Florian Juncker machen die Probe aufs Exempel, und wir erfahren: Musik verändert das Denken, aber das Denken verändert auch die musikalische Wahrnehmung. Welchen Diskurs lassen solche intermedialen Erfahrungen entstehen? Und was lehren sie uns letzten Endes über den tatsächlichen Einfluss von Musik (oder Kunst im Allgemeinen) auf unser gesellschaftliches Denken und Handeln?

16:00 Uhr
Hans Lüdemann
“Beyond the underdog”. Gesellschaftliche und politische Positionierung eines deutschen Jazzmusikers heute (Vortrag live am Klavier / Lecture-Performance)

Hans Lüdemann erzählt, warum die politische Einstellung für ihn eine der wichtigen Motivationen war, überhaupt Jazzmusiker zu werden. Er fragt, welche Bedeutung eine politische Haltung in Bezug auf den Jazz heute hat, wie und worin sie sich ausdrücken kann. Am Klavier erklingen politisch gefärbte und gedeutete Musikstücke und es wird den Widersprüchen nachgespürt, die sich zwischen politischer Haltung und Botschaft einerseits und der abstrakten Welt der Töne andererseits auftun können. Aber auch die Positionierung und Behauptung des Musikers in der gesellschaftlichen Realität zwischen Kunst, Kommerz, Kulturförderung und Kapitalismus wird dabei mit ins Bild gerückt.

Hans Lüdemann ist Jazzpianist und Komponist. Er hat mit deutschen und internationalen Größen zusammengearbeitet wie Eberhard Weber, Heinz Sauer, Manfred Schoof, Angelika Niescier, Jan Garbarek und Paul Bley. Im Zentrum seiner Arbeit stehen jedoch eigene Projekte: er spielt Solokonzerte, zuletzt 2018 in China, im Trio ROOMS, arbeitet seit 20 Jahren mit dem afrikanischen Balaphon-Meister Aly Keita im TRIO IVOIRE zusammen und leitet das deutsch-französische Oktett „TransEuropeExpress“. Er erweitert das Klavier mit Samples in mikrotonale Bereiche, was in dem neuen Quartett mikroPULS mit Gebhard Ullmann, Oliver Potratz und Eric Schaefer besonders zur Geltung kommt. Hans Lüdemann hat über 30 Alben bei renommierten Labels veröffentlicht. Seine bisher umfangreichste Produktion, die CD – Box„die kunst des trios“, wurde 2013 mit dem „Echo Jazz“ ausgezeichnet. Lüdemann war von 1993 – 2008 Dozent für Jazz-Klavier und – Ensemble an der Musikhochschule Köln, 2009/2010 und 2015/16 Cornell Visiting Professor am Swarthmore College in Philadelphia/USA.

KONZERT (Centralstation Darmstadt)
20:00 Uhr

Anarchist Republic of Bzzz (FR/NL/TR/USA)

Seb El Zin, in Paris lebender Sänger der Ethno-Punk-Band ITHAK, gründete diese etwas andere Supergroup – musikalisch zwischen Impro-Avantgarde, Worldmusic und Slampoetry. Mehr Informationen zum Konzert

Das Konzert wird präsentiert von

Collage: Kiki Picasso©

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Samstag, 5. Oktober 2019

AUSSTELLUNG (ab 3. Oktober)

Vortragssaal im Literaturhaus + Galerie im Jazzinstitut Darmstadt
Alles wird gut gegangen sein werden – die Ausstellung
(wegen der Konferenz im Jazzinstitut Darmstadt öffentlich erst ab 7.10. zu sehen)

KONFERENZ (Literaturhaus)

9:30 Uhr
Nikolaus Neuser, Berlin
Jazz und improvisierte Musik als soziales Rollenmodell?

Wir sind heute täglich in immer komplexere Zusammenhänge eingebunden, auf die wir in immer schnelleren Rückkopplungen reagieren müssen. Durch die Digitalisierung befinden wir uns sowohl technologisch als auch in unserer Kommunikation und Diskursfähigkeit in erheblichen Umbrüchen. Welche Kompetenzen und Modelle zukünftigen Miteinanders liefert uns die Kulturtechnik der Improvisation vor diesem Hintergrund? Nikolaus Neuser beleuchtet diese Fragestellung auch aus der konkreten Perspektive seiner kulturpolitischen Arbeit.

Nikolaus Neuser studierte an der Folkwang-Hochschule in Essen Trompete bei Uli Beckerhoff. Aktuell interpretiert er mit dem Trio I Am Three unkonventionell  besetzt die Musik von Charles Mingus. 2016 legte das Trio das international vielbeachtete Album Mingus Mingus Mingus (Leo Records) vor (Jahresbestenliste Downbeat Magazin, All about Jazz, NYC Jazz Records uva.). Er arbeitet außerdem im Trio mit Richard Scott und Alexander Frangenheim an elekroakkustischer improvisierter Musik und ist u.a. Mitglied der Ensembles Potsa Lotsa, Andreas Willers´ 7 of 8, des Hannes Zerbe Jazz Orchesters und des Berlin Improvisers Orchestra. Nikolaus Neuser hat mit Matthew Herbert, Matana Roberts, Tyshawn Sorey, Nate Wooley, Maggie Nicols, Peter Fox, Seeed sowie dem London Improvisers Orchestra u.v.a gearbeitet und ist auf über 50 CDs zu hören. Konzertreisen u.a. auf Einladung des Goethe Instituts führten ihn durch Europa, Asien, Nordafrika, die USA, in den Libanon, Jordanien, Saudi-Arabien sowie nach Kolumbien, wo er als Gastprofessor an der Pontificia Universidad Javeriana de Bogotá lehrte.

10:30 Uhr
Michael Rüsenberg, Köln
“Jazz ist stets politisch.” Stimmt diese Aussage von Mark Turner? Und, hört man sie in seiner Musik?

Im November 2016 (Donald Trump ist gerade gewählt), vermutet der amerikanische Saxophonist Mark Turner im Gespräch mit der NZZ, “dass es wieder zu einer Politisierung der Kunst kommen wird.” Das ist eine Überzeugung, die wie unter einem Brennglas den zentralen Inhalt des Politikverständisses weiter Teile der Jazzszene wiedergibt (s. Titel). “Allein schon der Entscheid, als Jazzmusiker zu leben, ist ein politisches Statement. Denn man entscheidet sich damit für Freiheit, für Emanzipation und gegen den Primat des materiellen Erfolgs” (Turner). Michael Rüsenberg unterzieht diese Position einer grundsätzlichen Kritik.

Michael Rüsenberg, geb 1948, Journalist, Buchautor, Gastgeber der philosophischen Gesprächsreihe “Gedankensprünge” in Bann. Adolf-Grimme-Preis 1989, WDR Jazzpreis 2015. Buchprojekt “Improvisation – ein Prinzip des Lebens” (in Vorbereitung)

11:30 Uhr
Thomas Krüger, Berlin

Der Beitrag von Kunst und Kultur, insbesondere des Jazz, für aktuelle gesellschaftspolitische Diskurse

In meinem Beitrag würde ich zunächst auf die Debatte um die Kulturalisierung des Politischen eingehen und aktuelle Tendenzen politischer Verschiebungen aufzeigen. Ich werde die kreative wie auch die rezeptive Seite von kulturellen Artefakten beleuchten und nach dem Politischen in der Ästhetik fragen. Und danach, was der Jazz, insbesondere der frei improvisierende Jazz in diesem Zusammenhang für ein Potential hat.

Thomas Krüger ist seit 2000 Präsident der Bundeszentrale für politischen Bildung. Seit 1995 ist er Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes. Außerdem ist er zweiter stellvertretender Vorsitzender der Kommission für Jugendmedienschutz und Mitglied des Kuratoriums für den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. 1991 bis 1994 war er Senator für Jugend und Familie in Berlin, 1994 bis 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages.

14:00 Uhr
Angelika Niescier + Tim Isfort + Victoriah Szirmai + Korhan Erel
… im Ohr des Betrachters
(Lecture-Performance)

Der Ton: ein physikalisches Ereignis, ohne ästhetische noch politische Intention.
In der Wahrnehmung der Rezipienten wird „der Ton“ aber sofort kontextualisiert – eine essentielle Projektionsfläche für tatsächliche und irreale Intentionen, Botschaften und Diskursangebote. In dieser Lecture Performance mit Musiker*innen, Kurator*innen und Jornalist*innen werden unterschiedliche  Perspektiven des Themenclusters untersucht, um Überschneidungen, Unterschiede und mögliche Kontroversen zu verdeutlichen und um sich in der Diskussion dem Intendierten, Verstandenen und Missverstandenen und dem Phänomen des “Politischen” in der Musik zu nähern.

16:30 Uhr (programmkinorex Darmstadt)
Atef Ben Bouzid, Berlin

Cairo Jazzman – The Groove of a Megacity

“Jazz is more than just a style of music”, sagt Amr Salah. “It’s about freedom.” Salah, ägyptischer Pianist und Komponist, kämpft seit 2009 jedes Jahr darum, das Cairo Jazz Festival zu realisieren. Jazz ist zu seinem Lebensinhalt geworden, weil diese Musik in seinen Augen völkerverbindend ist und speziell der Jugend ein Sprachrohr gibt. Für Amr Salah handelt es sich um einen vielfältigen Musikstil, der damit auch für Liberalität und Offenheit einer Gesellschaft steht, für die es sich zu kämpfen lohnt. Atif Ben Bouzids Film über das Cairo Jazz Festival gibt ungewohnte und vielschichtige Einblicke in das Leben der Zivilgesellschaft in der Megacity Kairo, eingebettet im Jazz als einer universellen, völkerverbindenden und horizonterweiternden Sprache.
Mehr Informationen zum Film

Nach der Filmvorführung gibt es ein Filmgespräch mit dem Regisseur über Jazz und zivilgesellschaftlicher Aktivismus in der arabischen Welt.

Atef Ben Bouzid ist ein deutscher Journalist, Regisseur und Produzent aus Berlin mit dem Fokus auf Sport, Musik und Gesellschaft. “Cairo Jazzman” ist sein Regiedebüt. “Cairo Jazzman” feierte die Weltpremiere beim International Film Festival Rotterdam 2017.

KONZERT (Kulturzentrum Bessunger Knabenschule)
20:00 Uhr

Brigade Futur III + Spielvereinigung Sued
Alles wird gut gegangen sein werden – Das Konzert

Nicht nur grammatikalische Formen lassen sich fiktiv erweitern, sondern auch fiktionale politische Programmatiken in musikalische Spielformen transferieren. Das zumindest beweist die Berliner Brigade Futur 3. Mehr Informationen zum Konzert

Das Konzert wird präsentiert von

Foto: Ebasi Rediger©

— — —

ab Montag, 7. Oktober 2019

AUSSTELLUNG (ab 3. Oktober)

Vortragssaal im Literaturhaus + Galerie im Jazzinstitut Darmstadt
Alles wird gut gegangen sein werden – die Ausstellung
(wegen der Konferenz im Jazzinstitut Darmstadt öffentlich erst ab 7.10. zu sehen)

— — —

Das 16. Darmstädter Jazzforum wird gefördert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, den Kulturfonds Frankfurt RheinMain und der Wissenschaftsstadt Darmstadt. Wir danken für die freundliche Unterstützung durch die Sparkasse Darmstadt.

 

 

[:de]15. Darmstädter Jazzforum[:en]15th Darmstadt Jazzforum[:]

[:de]

Jazz @ 100 | (K)eine Heldengeschichte

Vorträge, Diskussionen, Dokumentationen & Musik zum 15. Darmstädter Jazzforum vom 28. bis 30. September 2017

Wissenschaftler, Journalisten, Musiker und Zuhörer diskutieren vor dem Hintergrund des 100sten Jubiläums der vermeintlich ersten Jazzaufnahme 1917 über verschobene Perspektiven der Jazzgeschichtsschreibung und warum es trotzdem so schwierig zu sein scheint, ohne name-dropping à la „New Orleans“, „Chicago“, „Louis Armstrong“, „Miles“, „Bird“ und „Ella“ über diese in der ganzen Welt verbreiteten und geliebten Musik zu schreiben und zu sprechen. Beim 15. Darmstädter Jazzforum sollen diese Themen aus unterschiedlichster Warte behandelt weden.

Dabei wollen wir die Jazzgeschichte nicht neu schreiben. In der internationalen  Konferenz, in Konzerten und einer Ausstellung hoffen wir allerdings auf eine lebendige Diskussion darüber, wie unser Verständnis von dieser Musik, ihrer Geschichte und ihrer Ästhetik geprägt wurde. Wir verstehen den Jazz als eine Musik mit einer mehr als hundertjährigen Geschichte, und wir wissen, dass diese weit komplexer ist, als die Geschichtsbücher uns das meistens wahrmachen wollen. Unser Ziel ist es, ein wenig von dieser Komplexität zu entwirren, wohl wissend, dass wir damit höchstens an der Oberfläche kratzen werden.

Daneben gewährt eine  Ausstellung mit Fotos von Arne Reimer einen Blick “hinter die Kulissen” des “öffentlichen” Jazzlebens von Musiker/innen und drei abendliche Konzerte von Musikern, die auch bei der Konferenz zu Wort kommen, runden die Veranstaltung ab. Die Konferenz selbst ist öffentlich und bei freiem Eintritt. Konfernzsprache ist Englisch. Um unverbindliche Anmeldung wird gebeten.

Details zur Konferenz “Jazz @ 100 | (K)eine Heldengeschichte”
Details zum Konzert mit dem Kirk Lightsey Quintet feat. Paul Zauner
Details zum Konzert mit dem Julia Hülsmann Oktett
Details zum Konzert mit Orrin Evans
Details zur Ausstellung “My Encounters with ‘American Jazz Heroes'”

Donnerstag, 28. bis Samstag, 30. September, Konferenz und Ausstellung im Literaturhaus, Konzerte in der Centralstation und in der Bessunger Knabenschule

Wir bedanken uns bei unseren Partnern und Förderern

Überregionale Medienpartner sind der Hessische Rundfunk mit seinem Kulturprogramm hr2-Kultur, der erneut das „Darmstädter Jazzforum“ präsentiert und unter anderem Mitschnitte und Sendungen zum Darmstädter Jazzforum plant sowie die Zeitschrift Jazzthetik.

Wie auch schon in den vergangenen Jahren unterstützt das Hessische Ministe­rium für Wissenschaft und Kunst und der Kulturfonds Frankfurt RheinMain gGmbH das 15. Darmstädter Jazzforum. Weitere Förderung kommt von der Sparkassenkulturstiftung Hessen-Thüringen und der Sparkasse Darmstadt. Dadurch werden z.B. zeitgemäße Produktions-, Werbe- und Dokumentationskonzepte umgesetzt, die mit dem üblichen Budget des Jazzinsti­tuts Darmstadt nicht realisiert werden können – bei einer national und international beachteten Veranstaltung wie dem Darmstädter Jazzforum aber unverzichtbar sind.[:en]

Jazz @ 100 | An alternative to a story of heroes

Conference, Concerts, exhibition, 28 – 30 September 2017

Details about the conference “Jazz @ 100 | An alternative to a story of heroes”
Details about the concert with the Kirk Lightsey Quintet feat. Paul Zauner
Details about the concert with the Julia Hülsmann Octet

Details about the concert with Orrin Evans
Details about the exhibition “My Encounters with ‘American Jazz Heroes'”

In the centenary of jazz ­– the recordings of the Original Dixieland Jass Band from 1917 are often cited as the first jazz recordings ever – the Darmstadt Jazzforum conference looks at the pitfalls of jazz historiography, which often relies on myths and legends that distort what is even more important: the multi-perspectivity of a music which is being created not only by great masters, but certainly by many individualists.

In all of this, the 15th Darmstadt Jazzforum does not plan to re-write jazz historiography. During the international conference, during concerts and an exhibition, however, we hope for a lively discussion about how our understanding of the music, its history and its aesthetic has been shaped. We see jazz as a music with a history of more than a hundred years, and we know that it’s much more complex than history books usually tell us. Our objective is to unravel some more of this complexity, even though we know that we will only be scratching at the surface. We do not just want to look at the past, either, but are just as much interested in papers that focus on today’s developments and their significance in the cultural discourse jazz always was a part of.

The Darmstadt Jazzforum will focus on different aspects of jazz historiography, such as:

Places:
Jazz historiography mostly talks of major cities, of New Orleans, Chicago or New York, of Paris, London or Berlin. An alternative reading might identify other places (such as Charleston, St. Louis, Los Angeles or Lyon, Leeds, Wuppertal) and link these to specific events, movements, or group activities. An alternative reading might also stress the fact that any fixation of cultural activity to a specific place forgets aspects of mobility which are important in a music dealing mostly with cultural encounters. How do “scenes” and connections between scenes work? What does the historigraphic choice of focusing on a specific “place” or the deliberate negation of geographical positioning mean for our understanding of jazz? And what are the specific connections between locations and the music itself?

People:
Jazz historiography often talks about successful or tragic heroes. An alternative reading might move other protagonists into the focus, might talk about temporary networks which enable artistic developments but are much more than mere musical relationships. An alternative reading should not necessarily question the importance of the great personalities but ask what kind of an example they set and/or what examples might have been alternatives from a very different direction. Focusing on people in jazz one needs to ask about the concept of artistic or commercial “success”; one needs to look at the processual aspects of improvisation (as opposed to the “Werk” aesthetic which shines through in most artists’ discographies); and one needs to look at the involvement of artists in the cultural discourses of their direct environments (community, city, scene, politics).

Style:
It seems like those lucky days when jazz history could easily be categorized with clear stylistic distinctions are over since the 1970s. And yet we often search for new descriptions to sum up more recent developments. The designation of stylistic names may be helpful for talking about music, but is it a suitable procedure in the internet era in which genre-hopping is the rule for a whole generation? The discussion about “genre” or “style” needs to take into consideration how such terms and categories have been canonized in the past and are being used in the present, by the music press, the industry, by fans as well as even by those pretending not to like jazz (Branford Marsalis: “People think if nobody sings it’s jazz.”). When questioning the illusion of genre purity, one has to ask about the general necessity  for categories in the first place and speculate about a future with no need to “file under…”

Presentations, Discussions, Concerts, Exhibition

At the 15th Darmstadt Jazzforum all of these topics are addressed by scholars from different disciplines, by journalists and by musicians. An exhibition with photos by Arne Reimer allows a “view behind the scenes” of the public life of jazz musicians. Three concerts will complete the event (and some of the musicians will also talk at the conference). Attending the conference is free. We ask, though, for informal registration.

More about the 15th Darmstadt Jazzforum about “Jazz @ 100. An alternative to a story of heroes” (concerence program, information about the concerts and the exhibition) will be online here in late May.

PS: The language at the Darmstadt Jazzforum conference is English.[:]

[:de]Neue Bücher 2016[:en]New Books 2016[:]

A Treasury of Rhode Island Jazz & Swing Musicians
Von Dennis Pratt & Tom Shaker
West Greenwich/Rhode Island 2016 (Consortium Publishing)
218 Seiten, 35 US-Dollar
ISBN: 978-0-940139-70-1

Dennis Pratt und Thom Shaker haben die Jazzliteratur mit diesem Buch um ein biographisches Personenlexikon erweitert, das Musiker:innen listet, die im amerikanischen Bundesstaat Rhode Island geboren oder aktiv sind. Dazu gehören bekannte Namen wie Frankie Carle, Hal Crook, Paul Gonsalves, Bobby Hackett, Scott Hamilton, George Masso, Dave McKenna oder Duke Robillard, daneben zahlreiche Musiker:innen, die wahrscheinlich außerhalb von Rhode Island kaum bekannt sind. Jeder Eintrag enthält eine kurze Biographie, insbesondere das Wer, Wann und Mit Wem, dazu jede Menge Fotos und eine kurze Zusammenfassung der Jazzszene in Rhode Island. Es ist ein auch optisch schönes Buch geworden, das vor allem Jazzfans im Land selbst ansprechen wird, allerdings kaum Informationen über Aufnahmen oder gar den Stil der gelisteten Musiker:innen gibt.

Wolfram Knauer (Januar 2021)


Murray Talks Music. Albert Murray on Jazz and Blues
herausgegeben von Paul Devlin
Minneapolis 2016 (University of Minnesota Press)
274 Seiten, 25,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8166-9955-1

Der 2013 verstorbene Albert Murray war ein bedeutender afro-amerikanischer Philosoph und Kulturtheoretiker, dessen Arbeit und Denken unter anderem Wynton Marsalis nachhaltig beeinflusste, mit dem zusammen er Jazz at Lincoln Center möglich machte. Jazzfans ist er vielleicht am ehesten als Co-Autor der Autobiographie Count Basies bekannt, des 1985 erschienenen Buchs “Good Morning Blues”. Paul Devlin hat nun etliche der Aufsätze und Interviews mit und von Albert Murray in einem Band versammelt, der einen Blick auf die ästhetischen Diskurse der 1980er bis 2000er Jahre gibt, in denen die Bedeutung des Jazz als des kulturellen Gedächtnisses Afro-Amerikas sich mit neuen Konnotationen, aber auch mit neuen Institutionen verfestigte.

Es geht los mit einem Interview, das Wynton Marsalis 1994 mit Murray führte, in dem die beiden über die Bedeutung des Blues für den Jazz sprechen und diese Musikform als wichtigste kulturelle Botschaft Amerikas definieren. Murrays Interview mit Dizzy Gillespie von 1985 ist ein Gespräch auf gleicher Augenhöhe, in dem Gillespie über seine Zeit bei Earl Hines spricht, über wichtige Trompeter, über die Bedeutung des Bebop und sein Interesse an lateinamerikanischer Musik. Konkret für sein Basie-Buch sprach Murray Anfang der 1980er Jahre mit dem Posaunisten Dan Minor darüber, wie Basie den Spitznamen “Count” bekam, mit dem Sänger Billy Eckstine über die Birdland-Tourneen, die er mit der Basie-Band unternahm, sowie mit dem Impresario John Hammond über seinen Bezug zur Basie-Band.

Greg Thomas unterhält sich mit Murray über die Position afro-amerikanischer Literatur im Kanon der amerikanischen Literaturgeschichte. In Interviews mit Paul Devlin und Russell Neff äußert sich Murray sowohl über sein Bekenntnis zur Tradition wie auch über seine Neugier an der Avantgarde und darüber, dass der Blues für ihn die beiden verbinde. In einem weiteren Gespräch mit Paul Devlin erklärt Murray, wie stark Regionen, Städte und Landschaften die Musik und ihre Musiker beeinflussten. Es sei immer ein Fehler, argumentiert Murray in einem von Susan Page moderierten Call-In-Radiogespräch, Kunstformen nach Kriterien wie “Fortschritt” zu beurteilen. Mit dem Literaturwissenschaftler Robert H. O’Meally unterhält er sich über den Schriftsteller Ralph Ellison und dessen Bezug zum Jazz. Loren Schoenberg lud Stanley Crouch und Murray 1989 in seine Radioshow, um mit ihnen über die Bedeutung Duke Ellingtons zu diskutieren und zwischendurch Aufnahmen zu spielen, auf die sie sofort reagieren. Schließlich findet sich zum Schluss des Buchs noch Murrays letzter veröffentlichter Aufsatz, “Jazz: Notes toward a Definition”, eine kluge Zusammenfassung Murrays Erklärung, was Jazz bedeutet, als afro-amerikanische, als amerikanische und irgendwie auch als globale Kunstform.

Paul Devlins ausführliches Vorwort ordnet Murrays Bedeutung für die Diskurse der 1980er und 190er Jahre ein, und Greg Thomas schreibt ein Nachwort, in dem er noch einmal herausstellt, wie einflussreich Murrays Verständnis von Blues und Jazz als einem ästhetischen Statement gewesen sei.

“Murray Talks Music” ist also keine Jazzgeschichtsbuch. Auf jeder Seite geht es Murray darum zu hinterfragen oder zu erklären, wovon diese Musik handelt, warum sie so klingt wie sie klingt, und welche Bedeutung sie für die gesellschaftlichen, politischen und ästhetischen Diskurse des 20sten Jahrhunderts hatte. Es ist damit eine Fundgrube für jeden, den die Themen interessieren, mit denen Afro-Amerika sich im ausgehenden 20sten Jahrhundert neu definierte.

Wolfram Knauer (Mai 2018)


Listening to Jazz
von Benjamin Bierman
New York 2016 (Oxford University Press)
374 Seiten, 81,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-997561-7

Benjamin Biermans “Listening to Jazz ist eine Jazzgeschichte, die sich an Lehrerinnen und Lehrer richtet sowie an deren Schülerinnen und Schüler, und die dabei nicht bei den “Geschichten” stehenbleibt, die man sonst oft in “textbooks” liest, wie Schulbücher im Englischen genannt werden, sondern tiefer eindringt in die Materie. Bierman nutzt keine Notenbeispiele, wie dies sonst oft und gern getan wird, sondern sogenannte “listening guides” oder “listening focuses”, also kurze textliche Annäherungen, um die Leser/innen durch das Hören konkreter improvisierter Musik zu führen.

Bierman beginnt mit den Elementen des Jazz, Improvisation, Komposition, die gebräuchlichsten Instrumente, die üblichen Bandbesetzungen. Dann erklärt er chronologisch die unterschiedlichen Phasen der Jazzgeschichte, von Vorformen wie Blues und Ragtime über New Orleans, Chicago, Swing, Cool Jazz, Hardbop bis zu Free Jazz, Fusion und den aktuellsten Ausprägungen. Er streut knapp den biographischen Hintergrund bedeutender Musiker ein; am wichtigsten aber ist ihm das gelenkte Hören der Aufnahmen, die man entweder im Internet findet, über eine Spotify-Playlist ansteuern oder über eine Website des Verlags downloaden kann. Seine Höranalysen bleiben oft an der Oberfläche, beschreiben in solchen Fällen reine Formabläufe, kommen aber auch als eingehende “listening guides” daher, bei denen die Geschehnisse auf den verschiedenen Ebenen näher erläutert werden, Form, Stil, Melodie und Harmonik, Rhythmik und Begleitung. Immer wieder streut Bierman außerdem Themenböcke ein, die zu der besprochenen Zeit auch diskutiert wurden, etwa Rassismus, das wirtschaftliche Überleben von Musikern, die Klangqualität früher Aufnahmen oder das Thema von Frauen im Jazz. Überhaupt achtet er darauf, den Fokus immer wieder auf Musikerinnen zu legen, und das nicht nur, wenn es um Sängerinnen wie Billie Holiday oder Ella Fitzgerald geht. Jedes Kapitel endet mit einer knappen Zusammenfassung der Teilkapitel, mit Begriffen, die in dem Kapitel erklärt wurden, mit den wichtigsten Personen, die darin vorkamen, mit möglichen Gesprächs- und Diskussionsthemen, sowie mit Tipps für weiterführende Literatur.

Biermans Buch ist gut lesbar und stellt eine gelungene Handreichung für Lehrerinnen und Lehrer dar, die mithilfe der Kapitel Beispiele für ihren Unterricht aussuchen können und dabei nicht bei den üblichen “Hits” der Jazzgeschichtsschreibung verharren müssen. Wo sonst wird etwa, wie im Kapitel New York, neben Coleman Hawkins’ “Body and Soul” auch Alberto Socarrás’ “Masabi” untersucht? Wo sonst finden neben Benny Goodman und Count Basie auch die International Sweethearts of Rhythm mit “Blue Lou” Erwähnung? Schon hier zeigt sich, dass das Buch eher am Aufbrechen als am Festschreiben des Repertoirekanons im Jazz interessiert ist. Am erfrischendsten ist dies schließlich dort zu spüren, wo Bierman sich nicht scheut, bis in die jüngste Gegenwart zu gehen, und Aufnahmen etwa von Lionel Loueke, Robert Glasper, Brian Blade und anderen zu beleuchten.

Wenn dem Buch eines fehlt, ist dies herauszustreichen, wie international der Jazz über das Jahrhundert seines Bestehens geworden ist, wie sehr die Sprache des Jazz zu einer globalen geworden ist, und dass diese Tatsache zu ganz eigenen Idiomen außerhalb der USA geführt hat. Aber das wäre dann wahrscheinlich die Fortführung seines Anliegens – quasi für die Oberstufe.

Als “textbook” zum amerikanischen Jazz ist “Listening to Jazz” auf jeden Fall sehr empfehlenswert.

Wolfram Knauer (Februar 2018)


Jazzing. New York City’s Unseen Scene
von Thomas H. Greenland
Urbana/IL 2016 (University of Illinois Press)
247 Seiten, 28 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08160-6

Jazz ist … Musik! Überhaupt ist Musik zuallererst einmal Musik und wenig anderes. Das Publikum erlebt Jazzmusiker in der Regel als Geschöpfe aus einer anderen Welt, als kreative Erfinder, die allabendlich auf der Bühne stehen, um sich jeden Tag auf das Risiko der Improvisation einzulassen, jeden Tag etwas Neues zu spielen. Dass das Musikerdasein sehr viel komplexer ist, dass Musiker in der Regel in eine professionelle genauso wie ehrenamtliche Szene eingebunden sind, zu der die Kollegen genauso gehören wie die Veranstalter, die Kritiker, die Produzenten und das Publikum, darum geht es in Thomas Greenlands Buch “Jazzing. New York City’s Unseen Scene”. Greenland interessieren die Umstände, die das Musikmachen in New York erst ermöglichen, die “Szene”, die den Musikern sowohl Community ist als auch am Diskurs über die musikalische Bedeutung aktueller Projekte mitwirkt.

Tom Greenland basiert sein Buch auf mehr als 100 Interviews, die er mit Musikern, Veranstaltern, Kritikern und Fans zwischen 2002 und 2010 geführt hatte. 2013, erzählt er einleitend, sei er zu einem Gedenkkonzert für einen Jazzfan eingeladen worden und habe sich gefragt, was es bedeutet, dass so viele professionell mit der Musik Befasste den Verstorbenen als einen der ihren begriffen, als Teil der Welt, die sie dazu befähigt, kreativ tätig zu sein. Ausgehend von dieser Erfahrung entwickelt der Autor eine Vorstellung von Jazz, die nicht allein aus dem musikalisch Erklingenden besteht, sondern immer auch nach den Kontexten fragt, all das erst möglich werden lassen. Er beginnt mit einer Reflektion darüber, was genau wir denn eigentlich hören, wenn wir einer Jazz-Performance zuhören, wann wir Musik als “gelungen” oder als “nicht gelungen” empfinden, welchen Einfluss die virtuose Beherrschung eines Instruments auf unser Hören hat, wie wichtig uns Originalität der musikalischen Erfingung und die Erfahrung ist, überrascht zu werden? Und er will wissen, wie stark all solche Faktoren von der Umgebung beeinflusst sind, in der die Musik gemacht wird?

Sein zweites Kapitel ist den Fans gewidmet, die einen wichtigen Teil der Jazz Community ausmachen. Greenland fragt – mit Bezug auf die New Yorker Situation -, wie solche Communities aus Fans entstehen, wie sie sich beispielsweise durch die digitale Revolution der letzten Jahre verändert haben, welche unterschiedlichen Hörgewohnheiten – und eng verbunden damit welche ästhetischen Vorstellungen – es unter ihnen gibt. Greenland überschreibt zwei Teilkapitel dieses Blocks mit “Listening In”, womit er die Hörbildung durch Schallplatten meint, und “Listening Out”, wie er das Bekenntnis zum Livekonzert beschreibt.

Wie sich aus Fan Communities eine Szene bildet umreißt das dritte Kapitel. Greenland beschreibt darin anhand von Interviewexzerpten, wie Fans ihren eigenen Platz innerhalb des regionalen Jazzlebens finden, wie sie sich mit Orten identifizieren und wie diese Identifikation mit einem Ort zugleich Einfluss auf ihre Hörgewohnheiten nimmt. Zugleich geht er der Frage nach, welche Rolle die gesellschaftliche Sanktion dessen spielt, was gerade als “hip” angesehen wird. Im vierten Kapitel beschreibt er das Tagesgeschäft der Clubs und anderer Spielorte in der Stadt, unterscheidet dabei Geschäftsmodelle, die vom konventionellen Jazzclub, also etwa dem Village Vanguard oder dem Sweet Basil, bis zu Veranstaltungen reichen, die von Musikern selbst kuratiert werden. Im Zusammenhang hiermit reflektiert er auch auf den Einfluss der Publikumserwartung auf die Programmgestaltung der jeweiligen Spielorte.

Neben den Clubbetreibern machen aber noch andere Faktoren die “Szene” aus. Im fünften Kapitel beleuchtet Greenland die Karriere etwa der Kritiker Gary Giddins und David Adler, des Plattenladen-Besitzers Bruce Gallanter, von Bildenden Künstlern und Fotografen, fragt, wie sie zum Jazz kamen, welche Zufälle dazu führten, dass aus ihrer Passion ein Beruf wurde, und welche Chancen und Schwierigkeiten mit ihre jeweiligen Tätigkeiten verbunden sind.

Während die ersten fünf Kapitel sich also damit auseinandersetzten, wie eigentlich die Nichtmusiker der Jazzszene Jazz “performen”, geht es im letzten Kapitel um die konkrete Beziehung der Künstler zu ihrem Publikum. Greenland spricht mit Musikern darüber, wie sie eine Beziehung zu ihren Hörern aufbauen, mit Clubbetreibern darüber, wie sie zu einer kommunikativen kreativen Atmosphäre beitragen, und mit Kritikern darüber, wie ihnen manchmal ihre professionelle Brille den Blick auf die Musik verstellt. Er beschreibt, wie die Kommunikation mit einem Livepublikum kreative Energie erzeugen und wie Musik, wenn denn alles richtig zusammenkommt und stimmt, für ein fast schon spirituelles Erlebnis bei allen Beteiligten sorgen kann.

Thomas Greenlands Buch ist gerade wegenb des ungewöhnlichen Blicks auf die Jazzszene ein überaus lesenswertes und kurzweilig geschriebenes Buch, das sich teilweise so spannend liest wie Paul Berliners epochales “Thinking in Jazz” von 1994, das die Musik ähnlich weitsichtig innerhalb ihrer Kontexte darzustellen versuchte.

Wolfram Knauer (August 2017)


Ein schmaler Grat. Die Jazz-Sektion, zeitgenössische Kunst und Musik in der Tschechoslowakei
herausgegeben von Rüdiger Ritter & Martina Winkler
Bremen 2016 (Universität Bremen)
161 Seiten
ISBN: 978-3-00-053959-6

Ausgerechnet der Jazz wurde in der Tschechoslowakei in der 1980er Jahren als staats- und systemgefährdend angesehen, so sehr, dass das Regime 1987 einen Schauprozess anstrengte, der in langjährigen Haftstrafen für die Vorstandmitglieder der Jazz-Sektion endete. 2016 kuratierte der Historiker Rüdiger Ritter eine Ausstellung über die Jazz-Sektion. Das Begleitbuch zur Ausstellung stellt die Aktivitäten dieser Gruppe von Kulturaktivisten in den Kontext der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung der CSSR in jenen Jahren und dokumentiert damit ein faszinierendes Kapitel europäischer Jazz-, nein europäischer Kulturgeschichte.

Die Jazz-Sektion wurde 1971 gegründet und anfangs von allen Seiten als Win-Win-Lösung verstanden, war für die Regierung eine Unterabteilung der Musikergewerkschaft, die eine bessere Kontrolle der Jazzszene ermöglichte, wurde von den Musikern auf der anderen Seite als eine unabhängige Organisation angesehen, die helfen konnte, Konzerte und das Jazzleben noch besser zu organisieren.

In einem ersten Kapitel blickt Ritter auf die Geschichte des tschechoslowakischen Jazz seit den 1920er Jahren, fokussiert dabei schnell auf die Nachkriegszeit und die sich wandelnde Haltung der Kulturpolitik gegenüber dem Jazz. Er beschreibt, wie der Prager Frühling 1968 und der Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen auf der einen Seite die Situation aller kultureller Aktivitäten verschärfte, auf der anderen Seite 1971 zur Gründung der Jazz-Sektion führte. Zugleich beschreibt er, dass die überregionalen Prager Jazz-Tage eine Art Experimentierfeld für Jazz und populäre Musik waren, und dass genau diese stilistische Offenheit und das damit verbundene Interesse jugendlicher Hörer die Organisatoren des Events und die Vertreter der Jazz-Sektion zugleich verdächtig machten, “unterwanderte sie doch den staatlichen Monopolanspruch in der Jugendbildung und Freizeitgestaltung”. Anhand des von der Jazz-Sektion herausgegebenen Bulletins “Jazz” zeigt Ritter, wie sich die ästhetische Haltung der Macher über die Jahre verändert, die dem Blatt ab der 20sten Ausgabe die Unterschrift “Bulletin für zeitgenössische Musik” beigaben. Es war also zuvorderst der Interpretationswandel dessen, was unter Jazz zu subsumieren war, der die staatliche Repression herausforderte. Die zahlreichen Fotos im Buch dokumentieren die Begeisterung der Jazz-Tage unter vor allem jungen Zuhörern, und Ritters Text bietet den Kontext des gesellschaftlichen Diskurses, innerhalb dessen die Jazz-Sektion eine Art “Sammlungsbecken für alternatives Denken in der Kunst” darstellte. Er beschreibt die zermürbenden, teilweise aber auch mit subversivem Spaß betriebenen Scharmützel zwischen Mitgliedern der Jazz-Sektion und der Geheimpolizei. Ende der 1970er Jahre wurde es ernster: die Jazz-Sektion wurde 1980 verboten, die Konzerte der 100. Prager Jazz-Tage fanden aber auch ohne offizielle Erlaubnis in der Illegalität statt. Trotz des Verbots ging es im Untergrund weiter, mit Konzerten und Veröffentlichungen. Ritter beschreibt die Zunahme der Repressionen und die Vorgehensweise der Jazz-Sektion, diese zu umgehen. Am Ende wurde der Vorstand wegen verbotener Geschäfte der Prozess gemacht und die beiden Vorsitzenden am 11. März 1987 zu 9 bzw. 16 Monaten Haft verurteilt. Es folgten Proteste aus aller Welt, auf die die tschechische Regierung nur mit dem Hinweis reagierte, es sei bei dem Prozess “keineswegs um die Verurteilung des Jazz oder die Diffamierung eines Kunstbegriffs gegangen, sondern man habe lediglich Steuersünder bestraft”. Zum Ende seines Aufsatzes betont Ritter, dass es beim Wirken der Jazz-Sektion um weit mehr gegangen sei als um Jazz, dass die Jazz-Sektion über die Jahre eine Art Fürsprecher für die Freiheit der aktuellen Kunst geworden sei und damit zu einer wichtigen Stimme im Versuch einer Veränderung des Systems von innen heraus.

Heidrun Hamersky schildert in ihrem Beitrag zum Buch die allgemeine Vorstellung der sozialistischen Regierung in der Tschechoslowakei davon, was Kunst und Kultur bewirken solle, beschreibt die Zentralisierung des Kulturbetriebs und die Praxis der Zensur, die Veränderungen aufgrund sich wandelnder politischer Haltungen über die Jahre und die Bedeutung der Jazz-Sektion und der Bürgerrechtsbewegung Charta 77 für die stärker werdende Opposition, die schließlich zur samtenen Revolution führte.

Jan Blüml schließlich beschreibt in seinem Beitrag die Funktion des Jazz und die der Jazz-Sektion als wichtigstem Organisationsgremium dieser Szene in der Zeit der sogenannten Normalisierung der 1970er und 1980er Jahre. Er betont, dass die Jazz-Sektion zwar vor allem in Prag aktiv war, ihr Einfluss sowohl im Jazz- und Rockbereich, in der Insistenz auf ihre Unabhängigkeit aber auch in der ganzen Tschechoslowakei zu spüren war.

“Ein schmaler Grat” erschien als Begleitbuch zu einer Ausstellung über die Jazz-Sektion und ist entsprechend reich bebildert mit Faksimiles von Plakaten und Schriftstücken sowie mit vielen Fotos, in denen deutlich wird, welch enormes Feedback die Veranstaltungen zwischen Jazz und Rock insbesondere bei einem jüngeren Publikum fanden. Die Texte sind durchgängig zweisprachig auf Deutsch und Tschechisch gehalten und ungemein informativ. Jede Abbildung wird zudem mit einem kurzen Begleittext kontextualisiert. Rüdiger Ritter, den anderen Ausstellungsmachern und Autoren ist zu danken, diesen zwar durchaus bekannten, in dieser Detailliertheit bislang aber nicht zusammengefassten Aspekt osteuropäischer Jazzgeschichte festgehalten und dokumentiert zu haben. Es ist weit mehr als ein Katalog zu Ausstellung; “Ein schmaler Grat” ist zugleich ein Lehrbuch darüber, dass Kultur und kultureller Diskurs immer auch politisch sind.

Wolfram Knauer (Juni 2017)


Jazz & the City. Jazz in Graz von 1965 bis 2015
von Michael Kahr
Graz 2016 (Leykam)
523 Seiten, 1 beiheftende CD, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-7011-0357-7

Michael Kahr ist Musiker und Musikwissenschaftler und hat in beiden Funktionen die verschiedenen Einrichtungen der Kunstuniversität Granz besucht und benutzt, die sich mit Jazz beschäftigen, das Institut für Jazz also genauso wie das Institut für Jazzforschung. In seinem Buch “Jazz & the City” setzt er sich mit der Grazer Jazzgeschichte der Gegenwart auseinander und skizziert dabei zugleich den Einfluss einer so ausgewiesenen Jazzausbildung auf die Jazzszene einer Stadt.

Am 1. Januar 1965 nahm das Institut für Jazz an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Graz seine Arbeit auf; 1969 wurde die Internationale Gesellschaft für Jazzforschung und 1971 das Institut für Jazzforschung gegründet. Diese Institutionalisierung des Jazz in der Landeshauptstadt der Steiermark ist die Anfangsmarke für Kahrs Untersuchung, die er bis in die Gegenwart reichen lässt. Er stellt dabei keine konkrete Fragestellung vor, sondern skizziert den Jazz als einen wichtigen Teil der Grazer Kulturentwicklung. Seine Herangehensweise ist dabei eine vor allem beschreibende: In einem ersten Kapitel geht es um den Kontext, also die Geschichte des Jazz in Graz nach dem II. Weltkrieg. Ein eigenes Kapitel erhalten die Studien- und Forschungseinrichtungen der Universität für Musik und darstellende Kunst sowie die an ihrer Ausrichtung maßgeblich beteiligten Personen. Ein drittes Kapitel stellt wichtige Musiker der Grazer Jazzszene genauso vor wie Lehrende an der Hochschule und Studierende, die diese Szene über die Jahre mitgeprägt hatten. Und ein viertes Kapitel fokussiert auf die wichtigsten Veranstalter, Konzertreihen und Festivals. In all diesen Kapiteln finden sich unzählige Details, oft biographischer Natur, Hinweise auf Interaktion der Künstler/innen mit der Szene, auf besondere, in der Stadt verankerte oder auch international ausgerichtete Projekte, auf Bands, Ensembles und Orchester zwischen Dixieland, freier Improvisation und Balkan-Jazz. Dabei liefert Kahr eine Art Lexikon der Grazer Jazzszene von 1965 bis heute mit Informationen, die manchmal etwas stark ins Detail gehen mögen (wenn etwa jede Besetzungsänderung einzelner Bands nachvollzogen wird), gibt ab und an auch außermusikalische Informationen (etwa dass Eje Thelin ein ausgezeichneter Koch war), enthält sich in Bezug auf die Musik selbst zugleich jeder ästhetischen Wertung.

Aus dem allen ragt das letzte Kapitel des Buchs heraus, dem Kahr die nüchterne Überschrift gibt: “Künstlerische Forschung zur Grazer Jazzgeschichte”. “Basierend auf dem in der Forschungsarbeit für dieses Buch erworbenen historischen Wissen”, erklärt der Autor, “wurde ein Kompositionsvorhaben initiiert, mit dem Ziel, spezifische Erkenntnisse zu den künstlerischen Prozessen in der Grazer Jazzgeschichte aufzuarbeiten und strukturelle Merkmale in der Musik ausgewählter MusikerInnen und Ensembles zu dokumentieren.” Kahr beschreibt, dass dieser sehr persönliche Zugang zu Jazztheorie oder Jazzreflektion an der Grazer Universität von etlichen Musikern gelehrt wurde, und bietet dann eine eigene Analyse seiner Komposition “Annäherung”, geschrieben in der Ich-Form des Komponisten und in einer Art Kompositionstagebuch. Er beschreibt die Gedankengänge bei der Auswahl musikalischer Ideen, die Beziehung, die er zwischen bestimmten musikalischen Interaktionsformen und Erkenntnissen seiner Recherchen sieht, begründet die Auswahl von Zitaten etwa aus Arbeiten von Dieter Glawischnig und Harald Neuwirth, aber auch aus dem “Erzherzog Johann-Lied”, “das im Ausdruck von kultureller Identität in der Steiermark eine wichtige Rolle einnimmt”. Er erklärt den Prozess der kompositorischen Entscheidungsfindung, warum er also einzelne Einfälle beibehält, andere dagegen verwirft, begründet schon mal, dass sich bestimmte Versionen für ihn als Pianisten “natürlicher” anfühlten. Die drei-sätzige Komposition hängt dem Buch als Audiodatei auf einer Daten-CD bei, die auch eine PDF-Fassung der kompletten Partitur enthält.

Michael Kahr hat mit seinem Buch eine Art Stadtgeschichte des Jazz zwischen 1965 und heute verfasst. Er schildert zugleich den Einfluss der Institutionalisierung und der mit der Einrichtung der diversen Studien- und Forschungszweige für Jazz verbundenen Internationalisierung auf die bereits vorhandenen bzw. sich nach und nach verändernden Strukturen der Grazer Jazzszene. Ein Literaturverzeichnis, ein Block mit Fotos etlicher der behandelten Musiker/innen und Bands sowie ein Personenregister schließen den Band ab.

Wolfram Knauer (Juni 2017)


Flamingos und andere Paradiesvögel. 40 Jahre Leipziger Jazztage
herausgegeben von Stefan Heilig & Benjamin Heine & Laysa Herrlich
Leipzig 2016 (Jazzclub Leipzig)
368 Seiten, 39 Euro
ISBN: 978-3-00-054042-4

10. bis 12. Juni 1976: In Leipzig finden zum ersten Mal die Jazztage statt. Helmut Sachse spielt mit seinem Quartett, Ulrich Gumpert mit Günter Sommer im Duo, Luten Petrowski mit Sextet, Manfred Schulzes Ensemble und Synopsis, das spätere Zentralquartett. Es war ein identitätsstiftendes Festival, für die Musiker, die anfangs vor allem unter Landsleuten blieben, dann erste Kontakte in die “sozialistischen Bruderländer” machten und ab 1978 immer auch Musiker aus dem Westen einluden.

Aus Anlass des 40-jährigen Jubiläums hat der Jazzclub Leipzig im letzten Jahr ein Buch vorgelegt, dass 40 Jahre Leipziger Musikgeschichte, ach was, ostdeutscher, tatsächlich aber gesamtdeutscher Musikgeschichte dokumentiert. Die Plakate, die kompletten Besetzungslisten, Erinnerungen von Musikern, Veranstaltern und Fans im Publikum, Antragsprosa für den Kulturbund der DDR und vieles mehr. Da berichtet Monika Spiller, wie es dazu kam, dass Musiker ab 1980 anstelle Blumen eine Originalgrafik verschiedener Leipziger Künstler erhielten. Immo Fitzsche erinnert sich, wie er dabei half, dass westliche Musiker ihre DDR-Mark, die im Westen ja weit weniger wert waren, während des Aufenthaltes auszugeben. Die Kulturdirektion Leipzig beschwert sich 1986 über die Planung eines Punkabends. Gerhard Schulz weiß noch, wie das Festival 1998 in ein Zirkuszelt verlegt wurde, weil die Kongresshalle wegen baulicher Mängel gesperrt war. Horst-Udo Försterling war dabei, als die ersten Jazztage im vereinten Deutschland abgehalten wurden. Steffen Pohle erinnert sich an ein Gespräch mit Keith Jarrett. Stephan Kämmerer erzählt, dass Stéphane Grappelli zuerst an Johann Sebastian Bachs Grab wollte. Stefan Heilig und Benjamin Heine unterhalten sich mit dem langjährigen künstlerischen Leiter der Jazztage, Bert Noglik, und Ulrich Steinmetzger spricht mit Stefan Heilig, der 2008 die Geschäfte des Jazzclubs und damit auch die Organisation des Festivals übernahm. Zum Schluss kommen dann Joe Sachse, der insgesamt 20 Mal bei den Leipziger Jazztagen auftrat, und zwei der größten Leipziger Jazzsöhne zu Wort, nämlich Rolf und Joachim Kühn.

“Flamingos und andere Paradiesvögel” gelingt es mit vielen Fotos und Dokumenten nicht nur diejenigen Leser anzusprechen, die eine eigene Erinnerung an die Leipziger Jazztage haben, sondern darüber hinaus die Atmosphäre einer Veranstaltung heraufzubeschwören, die von einem mutigen Avantgardefestival zu einem etablierten Großereignis wurde, das die Grundingredienzien des Jazz, als Mut und Risiko, nie außer Acht ließ. Natürlich finden die großen Würfe Erwähnung, die Begegnung von Joachim Kühn mit Ornette Coleman etwa. Mehr noch aber liest man sich in den vielen Anekdoten und Erinnerungen von Machern und Auftretenden fest, die letztlich sowohl die professionelle Arbeit wie auch das ehrenamtliche Engagement feiern, eine Arbeit, die Jazzclubs und -vereine landein, landauf kennen, egal wie groß die Veranstaltungen sind, die sie zu verantworten haben. Das Buch ist damit mehr geworden als eine reine Festivalchronik. Ein würdiges Geburtstagsgeschenk: Zum Blättern mehr als zum Lesen. Zum Entdecken genauso wie zum Erinnern. Und immer wieder eine Anregung zum Hören jedweder Tondokumente, die einem die hier gelisteten Musiker und Bands vergegenwärtigen können.

Wolfram Knauer (Juni 2017)


Sing! Inge, sing! Der zerbrochene Traum der Inge Brandenburg
von Marc Boettcher
Berlin 2016 (parthas berlin)
271 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-86964-113-3

Das Nachwort gehört eigentlich an den Beginn der Geschichte: Wie der Grafiker Thomas Rautenberg auf einem Münchner Flohmarkt ein Fotoalbum einer Sängerin vor unterschiedlichen Bands entdeckte und bei dem Händler weitere 500 Fotos und zahlreiche Tonbänder. Wie er, nachdem er eine Produktion über Bert Kaempfert im Fernsehen sah, den Filmemacher ausfindig machte und anschrieb, ob er sich nicht vorstellen könne, das Leben der Inge Brandenburg zu verfilmen. Dieser Filmemacher war Marc Boettcher, und der war nach kurzem fasziniert von der Sängerin, die zu den ganz Großen im deutschen Jazz zählte, aber weitgehend vergessen schien. Den inzwischen mehrfach preisgekrönten Film produzierte er trotz erheblicher Hürden, und weil das Material, das er für die Dokumentation ausgewertet hatte, so viel mehr hergab, entschloss er sich, ein Buch zu schreiben, das die vergessene Inge Brandenburg zumindest zurück auf die Bühne der Erinnerung holt.

Er erzählt die Geschichte einer traurigen Kindheit in Leipzig, der unglücklichen Ehe der Eltern, des Heimaufenthalts, erst in Dessau, dann in Bernburg. Nach dem Krieg flüchtet Inge Brandenburg nach Augsburg, arbeitete in einer Bäckerei und nahm nebenbei Klavierunterricht. Als sie in der Schwäbischen Landeszeitung eine Annonce liest, in der eine gut aussehende Sängerin gesucht wird, bewirbt sie sich und erhält im November 1949 zum ersten Mal die Gelegenheit vor Publikum aufzutreten. Sie arbeitet mit einer Tanzkapelle, die vor allem durch amerikanische Clubs tingelt, und sie lernt mehr und mehr Jazzmusiker kennen, die sie schätzten, weil sie so deutlich kein Schlagersternchen ist, sondern sich für den aktuellen Jazz der Zeit interessiert. Böttcher hat genügend O-Töne von Brandenburg, um sie von den GI-Clubs erzählen zu lassen, vom Frankfurter Jazzkeller, von einer Tournee nach Nordafrika, von ersten Erfolgen in Skandinavien, wo sie mit den bedeutendsten schwedischen Jazzmusikern zusammenarbeitete. Sie verliebt sich in Charles Hickman, der als Disc Jockey für den AFN in Frankfurt tätig ist, und sie wird mehr und mehr auch von der breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen, als eine Sängerin im Stil amerikanischer Vorbilder, die vom Jazz her kommen, aber sich vor der Popmusik nicht scheuen. Sie tritt beim Wettbewerb des Antibes/Juan-les-Pins-Festivals im Juli 1960 auf, ist dann beim Schlagerwettbewerb in Knokke dabei und gewöhnt sich langsam daran, zwischen den Genres zu agieren, “Schlager contra Jazz”.

Auf Anregung ihrer Plattenfirma singt sie bald auch deutschsprachige Schlager, die sie selbst für “das grausamste für mich” hält. Sie würde lieber nur Jazz singen, aber vom Jazz, lautet eine Schlagzeile jener Jahre über sie, “wird man nicht satt”. Boettcher beschreibt die Wirrungen einer Künstlerkarriere der 1960er Jahre, hier eine Theaterrolle, dort ein Schlagerengagement, zwischendurch mal wieder Jazz; er weiß um Verehrer, Affären und um die Einsamkeit, die ihr steter Begleiter bleibt. Als Gegengewicht zu den Schlagerproduktionen entwickelt Brandenburg ein Programm mit dem Gunter Hampel Quartett und nahm mit ihm die Platte “It’s All Right With Me” auf, die von der Kritik entweder hoch gelobt oder schrecklich verrissen wird. Zugleich bringt sie Beat-Platten heraus, aber auch selbstgetextete Chansons (etwa “Das Riesenrad” oder “Wie ein Strohhalm im Wind” mit Musik von Wolfgang Dauner). Sie nimmt ein paar Rollen für Fernsehfilme und fürs Theater an; ihre finanzielle Lage aber wird immer prekärer. Boettcher zitiert aus Polizeiberichten und Zeugenvernehmungen etwa eines Vorfalls, bei dem Inge Brandenburg nach einem streitvollen Abend in ihrer Stammkneipe einem Taxifahrer, der sie nicht weiterfahren wollte, in den Unterarm biss. Sie streitet – glücklos – mit ihrer Plattenfirma; ihre Auftritte, egal ob vor Publikum oder den Kameras, werden selten. Sie zieht von Frankfurt nach München, macht Fernsehunterhaltung, tritt bei Kirchentagen und Jugendveranstaltungen auf. George Tabori engagiert sie 1971 für sein Stück “Pinkville” in Berlin. Gesundheitliche Probleme, beruflich aktive und ruhigere Zeiten wechseln einander ab, Depressionen und Alkohol bestimmen immer mehr ihren Alltag und behindern sie noch mehr als sonst in der beruflichen Zuverlässigkeit. 1991 veröffentlicht das Label Bear Family Records eine vielbeachtete Compilation früherer Aufnahmen und sorgt so für ein neues Interesse an der Sängerin; nach einer Stimmband-OP nimmt sie bei einer Gesangspädagogin Stimmtraining und wagt im Herbst 1993 mit dem Walter Lang Trio ein Comeback.

Als Inge Brandenburg im Februar 1999 im Alter von 70 Jahren an den Folgen des jahrzehntelangen Raubbaus stirbt, ist es schon lange einsam um sie geworden. Dem Journalist Marcus Woelfle gelingt es, wenigstens Teile des Nachlasses von Inge Brandenburg zu sichern, andere waren bereits vom Entrümpler weggeräumt worden. Und da sind wir wieder am Anfang, dort nämlich, wo Marc Boettcher ins Spiel kommt, der aus den Dokumenten erst einen großartigen Film, jetzt ein detailbesessenes Buch über eine Künstlerin gemacht hat, die zu Recht als Deutschlands größte Jazzsängerin gefeiert wurde, daneben aber am Leben und am Erfolg gescheitert ist.

“Sing, Inge sing!” ist ein oft bedrückendes Buch. Die Wendungen in Inge Brandenburgs Karriere und die Verflechtung privater Ereignisse und musikalischer Entscheidungen bieten Stoff für eine ungemein spannende Lektüre, bebildert mit Fotos und Dokumenten aus einem Leben, dass trotz aller musikalischen Glücksmomente eben auch ein “zerbrochener Traum” war.

Wolfram Knauer (März 2017)


Hobsbawm, Newton und Jazz. Zum Verhältnis von Musik und Geschichtsschreibung
herausgegeben von Andreas Linsenmann & Thorsten Hindrichs
Paderborn 2016 (Ferdinand Schöningh)
208 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-506-78295-3

Jazzfreunde kannten Eric Hobsbawm lange Jahre vor allem unter einem Pseudonym: Als Francis Newton veröffentlichte er 1959 seine Studie “The Jazz Scene”, die den Jazz einmal nicht einzig nach dem gängigen Muster einer klar gegliederten Stilgeschichte beschreibt, sondern daneben Themenfelder wie “Music, Business, People” abdeckt und damit kulturgeschichtliche Ansätze vorlegt, die bis dahin in Bezug auf den Jazz kaum existierten.

Im November 2013 widmete sich eine Tagung an der Johann Gutenberg Universität in Mainz dem – wie es im Untertitel heißt – “Verhältnis von Musik und Geschichtsschreibung” bei “Hobsbawm, Newton und Jazz”. In der Einleitung erzählen die Herausgeber die Publikationsgeschichte des Buchs und unterstreichen, warum sie die Ansätze Hobsbawms insbesondere in “The Jazz Scene” für so wegweisend halten. Der britische Kulturwissenschaftler Peter Burke ordnet “The Jazz Scene” in Hobsbawms unter Klarnamen veröffentlichte Publikationen ein. Anton Pelinka portraitiert ihn als “Intellektuellen der westlichen Gegenkultur” und diskutiert sein Verhältnis zu Marxismus, Kommunismus und den USA.

Wolfram Knauer nimmt Hobsbawms Fokus auch auf das Politische zum Anlass, die Jazzgeschichte von genau dieser Seite zu beleuchten und das sich wandelndes Verhältnis zwischen Jazz und Politik in den USA des 20sten Jahrhunderts zusammenzufassen. Viola Rühse stellt Hobsbawms Ansätze den “Jazzanalysen” Theodor W. Adornos aus den 1950er Jahren gegenüber. Martin Niederauer nimmt die Überlegungen Hobsbawms über die subversiven Aspekte des Jazz zum Anlass für einen Artikel über Herrschaft und Befreiung im Jazz, stellt fest, dass Hobsbawm in seiner Herrschaftskritik auf der politisch-sozialhistorischen Ebene verhaftet geblieben sei, verweist auf die zusätzliche musikalisch-ästhetische Ebene (Stichwort: Improvisation als emanzipatorischer Fortschritt) und resümiert, dass weder der einen noch der anderen Ebene Vorrang einzuräumen sei und wie Jazz dennoch “einen kleinen Beitrag zur Entwicklung einer Idee von Befreiung leisten” könne. Christian Broecking nimmt seine Studien über die US-amerikanische Jazzszene der 1990er und 2000er Jahre zum Anlass danach zu fragen, wie wichtig politische Intentionen für insbesondere afro-amerikanische Künstler in jenen Jahren waren.

Daniel Schläppi schließlich versucht Hobsbawms Ansätze ins 21ste Jahrhundert zu transferieren, identifiziert dafür zuerst zentrale Aspekte in dessen Sicht auf den Jazz, aber auch “Leerstellen und Denkfehler in Hobsbawms Musikverständnis”, etwas sein Festhalten am “sich am Virtuosentum labenden Geniekult”, seine Vorstellung von Herrschafts- (und Kreativitäts-)Verhältnissen in den von ihm favorisierten Bigbands, seine Vernachlässigung der Interaktion in kleineren Ensembles, und sein etwas klischeehaftes Verständnis des Protestpotentials im Jazz und bei seinen Protagonisten. Dann fragt er, inwieweit einige der Voraussetzungen, die Hobsbawm für den Jazz als gegeben setzt, im 21sten Jahrhundert überhaupt noch gelten bzw. welche neue Faktoren für heute zu untersuchen wären. Gilt also Hobsbawms Fokussierung auf “Stellenwert und Funktion des Faktors ‘Rasse'” noch? Ist sein Verständnis von Jazz als einer Art “idiomatische Leitkultur” des 20sten Jahrhunderts noch gültig? Wie müsste man die elementar veränderten Produktions-, Vermarktungs- und Konsumstrategien heute diskutieren oder überhaupt die völlig veränderte Struktur der Jazzszene? Welche Auswirkungen hat zum einen die Professionalisierung, zum anderen die Akademisierung auf Musiker und ihre Musik? Er beschreibt eine gewisse Selbstreferentialität der Jazzszene, die auf der anderen Seite aber schon lange ihren Subkulturstatus verloren habe. Er fragt nach dem Kontrast zwischen lokaler Verankerung und globaler Vernetzung im internationalen Jazz. Und er betont, dass sich eine heutige Jazzforschung auch mit Fragen zu den mehr und mehr prekären Verhältnissen umgehen müsse, in welchen viele Musiker leben, sowie mit dem Zwang und der Tendenz zur Selbstvermarktung. Schläppi beendet das Buch damit mit der Aufforderung an eine interdisziplinäre Jazzforschung, sich an Hobsbawm ein Beispiel zu nehmen und weiter zu forschen, um die Relevanz dieser Musik, ihre künstlerischen wie materiellen Zukunftsperspektiven beschreiben zu können.

“Hobsbawm, Newton und Jazz” ist bei alledem ein spannender Blick auf die weitsichtigen Ansätze des Historikers Eric J. Hobsbawm und ein gelungener Versuch, dessen Fragestellungen auf ihre Aktualität hin zu überprüfen.

Wolfram Knauer (Februar 2017)


Kontrollierter Kontrollverlust. Jazz und Psychoanalyse
herausgegeben von Konrad Heiland
Gießen 2016 (Psychosozial-Verlag)
340 Seiten, 32,90 Euro
ISBN: 978-3-8379-2530-2

Konrad Heiland ist Psychotherapeut, zugleich Autor von Musikfeatures für den Bayerischen Rundfunk. In seinem jüngsten Buch versammelt er Artikel, die sich mit beiden Bereichen seiner Tätigkeit befassen, der Psychotherapie, in der, wie es im Klappentext heißt, “freie Assoziationen fruchtbar gemacht” werden, und dem Jazz, in dem sich “die musikalischen Möglichkeiten gerade durch die Improvisation” entfalten, oder, wie er zusammenfasst: “beide profitieren von kreativer Freiheit innerhalb klarer Strukturen”.

Im Vorwort erklärt Heiland seinen eigenen Weg, zum Jazz genauso wie zur Musiktherapie. Im Eingangskapitel dann zeichnet er die parallele Entwicklung von Jazz und Psychoanalyse im 20sten Jahrhundert nach, thematisiert die stilistische Vielseitigkeit des Jazz und den Mythos der Authentizität, die Affektregulation und das Phänomen des Jazz-Kellers, die Heldenverehrung in der Musik und die “extreme Kurzlebigkeit zahlreicher Jazz-Künstler”. Theo Piegler skizziert in seinem Beitrag die Geschichte der Psychoanalyse von Siegmund Freud bis in die Gegenwart. Antje Niebuhr betrachtet die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen freier Assoziation und Improvisation, fragt, zuerst im Kontext der Psychoanalyse, dann in jenem der musikalischen Improvisation, “frei wovon und frei wofür?”, um zum Schluss ihre eigene Rolle näher zu betrachten, als Psychoanalytikerin, die ebenfalls einem seelischen Prozess unterliege, “der sich im Spannungsfeld zwischen Kontrolle und Kontrollverlust ereignet”. Um Analytiker zu sein, erklärt sie mit musikalischer Parabel, sollte man sich “seiner inneren Musik öffnen, um dann mit dem Patienten improvisieren zu können”.

Heiland spricht mit dem Geiger Uli Bartel über die Freiheiten, die über kontrollierten Kontrollverlust möglich sind, und die innerhalb konkreter Strukturen stattfinden, egal ob sich solche in musikalischer Form manifestieren oder in Spiritualität. Jörg Schaaf fragt danach, was Improvisation in der Interpretation von Mainstream-Jazz so spannend macht und betrachtet dafür nacheinander das Instrument, die Form, die melodische, rhythmische und harmonische Gestaltung. Hannes König macht sich Gedanken zur affektiven Wirkung von Jazz, fragt nach der emotionalen Tiefe, die Musik im Musizierenden genauso wie im Hörer auslösen kann und findet, das die “Atmosphäre der Freiheit” den Jazz besonders dazu befähige emotionale Reaktionen hervorzurufen. Und auch er kommt zum Schluss, dass die Tatsache, dass man bei der Jazzimprovisation auf Kontrolle verzichte, um Kontrolle zu erlangen, dieser Musik ihre ganz besondere Magie verleihe.

Joachim Ernst Berendt war anfangs Journalist und Jazzkritiker, später Produzent, Konzert- und Festivalveranstalter, noch später “geradezu (…) ein Säulenheiliger der Musiktherapie”. Konrad Heiland versucht diese verschiedenen Seiten des “Jazzpapstes” aus seiner Biographie heraus zu erklären und sie zugleich in seiner ästhetischen Haltung zum Jazz zu verorten, die immer eine suchende gewesen sei, eine Art “meditativer Versenkung, die Klangreise in die unerforschten Innenräume hinein” – also durchaus selbst erlebte Musiktherapie. Daniel Martin Feige sieht Jazz als “Artikulation und Exemplifikation von Unverfügbarkeit”. Mit der Pianistin Laia Genc spricht Konrad Heiland schließlich über Improvisation sowie über die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Unterschiede im künstlerischen Ausdruck von Frauen und Männern.

Heiland diskutiert die Musik des Labels ECM als Alternative zur afro-amerikanischen Jazzerfahrung und vergleicht die Ästhetik von ECM mit der von John Zorns Tzadik-Label. Andreas Jacke untersucht Miles’ Davis Musik zum Film “Fahrstuhl zum Schaffott” sowie sein Album “Kind of Blue” bzw. “bestehende Deutungsmuster und eigene Beschreibungen” zu diesen Projekten, die er allerdings nicht überall gebührend hinterfragt, stattdessen teilweise sogar sehr eigenwillig interpretiert (Widerspruch etwa zu seiner Interpretationen von Miles’ Aussage, es gäbe im Jazz keine falschen Töne, von Davis’ Haltung zum Free Jazz, von angeblichen Konstanten in Davis’ Spiel, oder zu seinem knappen Vergleich von Rassismus in den USA und Frankreich).

Sebastian Leikert versucht das von ihm selbst entwickelte Systems der kinestätischen Semantik, mit der sich musikalische Vorgänge psychoanalytisch beschreiben lassen, auf Miles Davis’ “Bitches Brew” anzuwenden. Andreas Jacke portraitiert den Schlagzeuger Robert Wyatt. Konrad Heiland befasst sich mit Charles Mingus und wagt dabei einige philosophisch-psychoanalytische Anmerkungen zum Thema Rassismus. Willem Strank fragt nach der Funktion von Jazz als Soundtrack zu zwei amerikanischen Film Noirs der 1950er Jahre. Christopher Dell plädiert für eine Technologie der Improvisation auch und gerade in der Architektur. Und zum Schluss erzählt Klaus Lumma von seiner persönlichen Beziehung zu New Orleans und wie der Jazz dort zwischen Begräbnisritualen, Karneval und dem Hurricane Katrina immer auch therapeutische Funktion besessen habe.

Alles in allem enthält der Band damit etliche, teils überzeugendere, teils mühsam zu lesende, teils zu Widerspruch ermutigende Beiträge. Der rote Faden ist die Aufgabe, die Heiland allen Autoren stellte, in ihrem gewählten Kapitel nämlich zumindest am Rande die Idee eines kontrollierten Kontrollverlustes in der Improvisation oder in der Psychoanalyse zu thematisieren. Am Ende mag man als Leser vielleicht nicht mit allen Facetten dessen einverstanden ist, was die Autoren da anreißen. Einen Beitrag zum Diskurs aber bieten sie allemal…

Wolfram Knauer (Februar 2017)


Categorizing Sound. Genre and Twentieth-Century Popular Music
von David Brackett
Berkeley/CA 2016 (University of California Press)
368 Seiten, 19,95 US-Dollar
ISBN: 9780520248717

Wenn etwas die Musik des 20sten Jahrhunderts bestimmte, dann die Kategorisierung von Genres. Von Anfang erhielten Schallplatten Empfehlungen dafür, in welcher Abteilung des Plattenladens sie stehen sollten, damit die Kundschaft sie auch gezielt suchen und finden kann. “File under” aber ist eine Schublade, die einbezieht und zugleich ausschließt.

David Brackett beschäftigt sich in seinem Buch “Categorizing Sound” mit ebenden Schubladen, in die populäre Musik im 20sten Jahrhundert gepresst wurde, fragt nach den Gründen solcher Zuordnung, aber auch nach ihren Auswirkungen. Er diskutiert dabei den Genre-Begriff im allgemeinen und die Unterschiede in der Darstellung populärer Musik etwa in Verkaufskatalogen der Plattenfirmen, weiß auch um den Einfluss der Charts, wie sie ab den späten 1930er Jahren zu finden sind, auf die Bedeutung von Genre-Klassifizierungen.

Dann geht er kapitelweise die verschiedenen Klassifizierungen durch, die sich im Bereich der populären Musik finden. Zu Beginn des 20sten Jahrhunderts, stellt er fest, war die wichtigste Kategorie, die Musik als “anders”, als “ungewöhnlich” herausstellte, jene der “foreign music”, unter der die Plattenindustrie in den USA alles zusammenfasste, was ethnische Zugehörigkeitsgefühle in ihrer Kundschaft hervorrufen könnte, die ja in einer Einwanderergesellschaft lebten. Das Kapitel “Forward to the Past” widmet sich frühen Bluesaufnahmen der 1920er Jahre, diskutiert Aufnahmen von Mamie Smith, aber auch solche weißer Bluessängerinnen, und beschreibt den Einfluss der Marketingentscheidung für “race records” auf die Plattenindustrie ganz allgemein.

Im Kapitel “The Newness of Old-Time Music” fragt Brackett nach den Identifikationsstrategien früher Country-Music-Aufnahmen. In “From Jazz to Pop” befasst er sich mit dem Aufstieg des Swing zur populären Musik des Tages. Dafür vergleicht er die musikalischen Vokabeln, die Musik beim Publikum “ankommen” lassen, konkret am Beispiel von “Tuxedo Junction” in der Interpretation durch Erskine Hawkins und durch Glenn Miller, wobei er ein Modell der parallelen Entwicklungen entwirft, in der es Musik gibt, die sich nach wie vor an einen speziellen (schwarzen) Käuferkreis wendet, solche, die er als “crossover race music” bezeichnet und schließlich den “Mainstream, der auf ein breites Publikum abzielt. Das Kapitel “The Corny-ness of the Folk” beschreibt einen ähnlichen Weg von “authentisch” zu breitenwirksam im Bereich der folkloristisch abstammenden Hillbilly- und Countrymusik.

Im Kapitel “The Dictionary of Soul” diskutiert Brackett die Etablierung eigener Rhythm ‘n’ Blues-Charts im Billboard-Magazin und den Aufstieg einer klar schwarz konnotierten Musik auch in die weißen Hitparaden Amerikas. “Crossover Dreams” führt diese Geschichte weiter bis in die 1980er und 1990er Jahre und identifiziert dabei insbesondere sendbare musikalische Radioformate.

Ursprünglich habe er das Buch mit einem Kapitel über Musikvideos in den 1990er Jahren und ihren Einfluss auf Genrewahrnehmung fortsetzen wollten, schreibt Brackett im letzten Kapitel, und erwähnt auch die spannenden Änderungen in den Marketingstrategien, die sich durch die Entwicklung von Music Information Retrieval-Möglichkeiten ergeben hätten, durch die potentiellen Kunden zu ihrem jeweiligen Musikgeschmack passende Genres vorgeschlagen werden.

Brackett versucht in seinem Buch letztlich also weniger eine Geschichte der Kategorisierung selbst denn vielmehr eine Geschichte der Praxis der Kategorisierung. Er fragt nach dem Warum von Genrezuschreibungen und nach den Änderungen, die zum Teil musikalisch, zum Teil durch den Markt erfolgten. Er fragt nach den Diskursen, die die Wahrnehmung von Musikgenres in ihrer Popularität, ihrem künstlerischen Anspruch, ihrem kommerziellen Erfolg beeinflussten. Sein Buch bietet darin ein Beispiel, wie man sich der Komplexität dieser Materie nähern kann, selbst wenn das Aufdröseln aller Beziehungsgeflechte manchmal zu größerer Unübersichtlichkeit führen kann.

Wolfram Knauer (Februar 2017)


Brötzmann. Graphic Works 1959-2016
von Peter Brötzmann
Hofheim 2016 (Wolke Verlag)
368 Seiten, 49 Euro
ISBN: 978-3-95593-075-2

Ein großer schwarzer Klecks über einer dicken geschwungenen Linie. Darunter, rot, wie aufgestempelt auf den dicken packpapierfarbenen Umschlag: der Buchtitel. “Brötzmann. Graphic Works 1959-2016”. Reduktion, Abstraktion, Information; Kriterien also, die einen Rahmen geben und zugleich die Fantasie anregen. Peter Brötzmanns grafisches Werk ist das Thema dieses neuen Buchs, das pro Seite mindestens eine Abbildung enthält und nur von kurzen Texten unterbrochen ist. Im ersten dieser Beiträge stellt David Keenan Bezüge zwischen der grafischen Arbeit des Saxophonisten und seiner Musik her. Jost Gebers erinnert sich an ein Plakat fürs Total Music Meeting 1979 mit einem Foto, das Gebers anfangs absurd fand, das sich später aber als das nachgefragteste Poster des Festivals erwies. John Corbett diskutiert Brötzmanns “Design-Konzept” und reißt die Frage an, inwieweit die Wahrnehmung des Musikers nicht auch durch seine bildnerische Kunst geprägt ist, da Brötzmann viele seiner Cover selbst gestalten konnte. Corbett beschreibt außerdem die Designanweisungen, die in der Regel mit den Entwürfen des Saxophonisten kommen. Und er fragt sich, was Brötzmann wohl von den Kopien seiner Entwürfe hält, die er beispielsweise in Klaus Untiets Design der JazzWerkStatt-Cover erkennt (nebenbei: Untiet ist auch für die Gestaltung dieses Buchs zuständig). Lasse Marhaug betont das Spielerische in Brötzmanns bildnerischen Arbeiten. Und im längsten Textbeitrag zum Buch nähert sich Karl Lippegaus erst der Plattencover-Gestaltung im Jazz seit Einführung der Langspielplatte, und erklärt dann, dass Brötzmanns Entwürfe für Platten und Poster durchaus auch die künstlerische Haltung seiner Musik widerspiegeln.

Der Hauptteil des Buchs aber sind die Bilder. Sie stehen im Vordergrund, mit zurückgenommenen Zusatzinformationen, also bei Postern Jahres- und Größenangabe, bei Covern die Angabe von Jahr, Label und Format, ganz unten in der Fußzeile, direkt neben der Seitenzahl. Den Anfang macht die Typographie – wichtiges Werkzeug für jeder Grafiker, gerade wenn er, wie Brötzmann in den späten 1950er Jahren, in der Werbebranche tätig ist. Es sind diese leicht ausgefransten Buchstaben und Zahlen, die sich immer wieder in seiner Arbeit finden und die, in einigen CD-Veröffentlichungen reduziert auf Material (Hintergrund) und Typographie sofort als “Brötzmannesk” erkennbar sind. Ob er nämlich Fotos oder klar konturierte grafische Elemente benutzt; immer spielt die Typographie eine wichtige Rolle, fasst zusammen, erklärt, vermittelt.

Bei den Abbildungen seiner Poster fällt eine Werbegrafik für PUR-Zigaretten aus dem Rahmen, schon die nächste Seite aber enthält ein Plakat für das Konzert des Charles Mingus Sextet in Wuppertal im Jahr 1964. Immer wieder stehen künstlerisches Original (beispielsweise ein Holzschnitt oder eine mixed-media-Collage) und das daraus resultierende Ergebnis (Foto oder Cover) nebeneinander, lassen dabei auch das Mitdenken der Nutzung des Bildes erkennen. Einige seiner LP-Cover wirken geradezu ikonisch, “Machine Gun” von 1968 insbesondere, aber auch Globe Unity’s “Improvisations” von 1978. Fürs Label FMP entwickelte er verschiedene Linien, die sich teilweise auch in den Postern fürs Total Music Meeting wiederfinden lassen. Einzelfotos oder Fotostrecken stehen für das Dokumentarische dieser Veröffentlichungen, und wenn man sie mit einigen CD-Entwürfen aus den 1990er Jahren vergleicht, erkennt man in letzteren geradezu ein nostalgisch anmutendes Wiederaufgreifen jener früheren Elemente.

Zum Schluss gibt es einige Fotos aus der Werkstatt Brötzmanns, dem kreativen Studio, in dem seine Drucke entstehen (und in dessen Hintergrund man CDs von Coleman Hawkins und Lester Young ausmacht). Womit wir dann endlich bei der Musik wären. Obwohl: Um die geht es in diesem Buch eigentlich nur am Rande, so wie es bei seiner Musik (live) höchstens am Rande um die Gestaltung seiner Platten oder Ankündigungsplakate geht. In der Kunstgeschichte spricht man gern von “künstlerischen Doppelbegabungen”, doch wenn man sich aufmacht, nach Parallelen der Ergebnisse in Bild und Klang zu suchen, wird man weniger fündig als wenn man sich über die Parallelen im künstlerischen Ansatz Gedanken macht. Dazu findet sich etliches in Gérard Rouys 2014 ebenfalls bei Wolke erschienenen Buch ” We Thought We Could Change the World. Conversations with Gérard Rouy” (siehe unsere damalige Rezension).

“Brötzmann. Graphic Works 1959-2016” ist ein Kompendium Brötzmanns grafischer Arbeit (ein Katalog seiner Malerei und weiterer Druckgrafik erschien 2010). In den zahlreichen Abbildungen dokumentiert es auch Jazzgeschichte, präsentiert aber vor allem eine faszinierende weitere Perspektive eines der prägenden Saxophonisten unserer Zeit.

Wolfram Knauer (Januar 2017)


Die Stasi swingt nicht. Ein Jazzfan im Kalten Krieg
von Siegfried Schmidt-Joos
Halle (Saale) 2016 (Mitteldeutscher Verlag)
608 Seiten, 29,95 Euro
ISBN: 978-3-95462-761-5

Es sei keine Autobiographie, insistiert Siegfried Schmidt-Joos, angesprochen auf sein jüngstes Buch, das schließlich nur einen Teil seines Lebens beschreibe, von seiner Geburt, 1936 in Gotha, bis zum Beginn seiner Laufbahn bei der ARD, 1960 bei Radio Bremen. Es ist auch keine Jazzgeschichte Deutschlands – dafür ist der Ausschnitt genauso zu knapp. Und doch stimmt beides: Schmidt-Joos begleitete schließlich die Musik des 20sten Jahrhunderts durch eine Vielzahl and Genres und Stilen, und seine Liebe zur Musik war geprägt von seinen Erfahrungen in zwei (und in der Erinnerung sogar drei) Systemen. Diese Erinnerungen prägten seinen Blick auf den Jazz und die populäre Musik. Sein Buch ist damit eine Standortbestimmung im Rückblick, eine bewusst gewählte subjektive Perspektive auf die Stellung des Jazz und seine Rezeption in der DDR und im Westdeutschland der Nachkriegszeit. Und das ist, um es schon vorweg zu sagen, erhellend und lesenswert wie wenig, was bislang über die deutsche Jazzgeschichte geschrieben wurde.

Schmidt-Joos beginnt sein Buch 1957 und endet nur unwesentlich später, mit der Erfahrung seiner “Republikflucht” also, mit dem Wechsel von Ost nach West. Dazwischen erzählt er von seiner Kindheit in Gotha, vom Unfall, als er beim Spielen im Sommer 1945 eine Panzerfaust fand, die explodierte und ihn seine rechte Hand kostete. Er erzählt vom Entdecken des Jazz und von der subversiven Kraft, die dieser Musik in den Kriegsjahren zugekommen sei, erinnert an die Ressentiments gegen den Jazz im Dritten Reich genauso wie an die Musiker und Fans, die dennoch zu “ihrer” Musik standen. Er lässt seine Leser den Jazzbeginn auch in der sowjetischen Zone miterleben und zeigt, wie die anfängliche Offenheit langsam einer weltanschaulichen Skepsis wich. Und er beschreibt, mit welchen ideologischen Verrenkungen das System den Jazz bald zum Instrument des Klassenfeinds stilisierte.

1950 hörte der Oberschüler Siegfried Schmidt im AFN Frankfurt die Aufnahme “Trouble, Trouble” mit Betty Roché und war gefangen. Er schildert, wie sein immer stärkeres Interesse an der Musik zumindest im Rückblick einherging mit einer kritischeren Auseinandersetzung mit den politischen Zuständen seines eigenen Landes. Bei einem Westbesuch in Heidelberg stieß er auf sein erstes Jazzbuch (Robert Goffins “Jazz – From the Congo to the Metropolitan”) und fing an, seine Liebe zu dieser Musik auch historisch zu untermauern. Er studierte Germanistik, der Jazz blieb ein Hobby, eine Liebhaberei, wie er schreibt, doch in dem großen Ernst, mit dem er diese betrieb, war er nicht allein. Schmidt-Joos erzählt von Reginald Rudorf, dem er im März 1954 zum ersten Mal begegnete, und der ihm erklärte, alle Jazzforscher seien Marxisten. Rudorf hielt Vorträge, leitete Diskussionen, ordnete die verschiedenen Jazzentwicklungen der Zeit ästhetisch ein. Die von ihm gegründete Interessengemeinschaft Jazz Leipzig, die eine Weile eng mit der Arbeitsgemeinschaft Jazz in Halle zusammenarbeitete, wurde nach nur vier Monaten aufgelöst, weil die Mitglieder nicht für die Kasernierte Volkspolizei werben wollten, und weil sie beabsichtigten westliche Musiker und Jazzkenner zu Ehrenmitgliedern zu machen.

Schmidt-Joos ist Zeitzeuge für die Jazzszenen in “beiden Deutschlands” jener Jahre, und er macht nicht den Fehler, diese komplett voneinander zu treffen, sondern stellt nachvollziehbar die Diskurse dar, die sich zum Teil ähnelten und zum Teil völlig auseinandergingen. Dabei versucht er den Spagat, Innenansichten genauso zu liefern wie die historische Einordnung. Oder vielleicht eher andersrum: Das Gerüst der historischen Fakten, die er, später Spiegel-erprobter Journalist, mit Belegen aus zeitgenössischen Quellen oder Fachliteratur belegt, füllt er mit den eigenen Erinnerungen auf, die ihnen die persönliche Perspektive verleihen. “Die Lehrpläne”, schreibt er etwa über die Aktivitäten der (West-)Deutschen Jazz Föderation in den 1950er Jahren, “wie publizistisch und didaktisch mit dem Jazz umzugehen sei, waren in den Jazz-Clubs entwickelt worden”, um dann anhand konkreter Beispiele (Dietrich Schulz-Köhn, Horst Lippmann, Olaf Hudtwalcker) zu erläutern, was das konkret bedeutet. Er beschreibt die ästhetischen Diskussionen, die anhuben, als aus den ehrenamtlich organisierten Hot Clubs festere Institutionen wurden, DJF etwa oder die ersten Jazzredaktionen der ARD-Rundfunkanstalten.

Es sind solche Asides in die Details deutscher Jazzgeschichte, die Schmidt-Joos’ Erinnerungen besonders wertvoll machen: Wie die Deutsche Jazzföderation der Musik zu ihrer ersten bundesdeutschen Lobby verhalf; oder wie Dieter Zimmerle strategisch klug die Zeitschrift Jazz Podium gründete und eng mit den verschiedenen Aktivitäten der Szene verzahnte. Er setzt sich ausführlich mit der “grauen Eminenz” hinter all diesen Diskussionen auseinander, Joachim Ernst Berendt, beleuchtet dessen Debatte mit Theodor W. Adorno über die Relevanz des Jazz, und rückt etliche Legenden über die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Jazzmusikern in jener Zeit zurecht. Berendt habe bei solchen Legendenbildungen eine wichtige Rolle gespielt, argumentiert er, habe immer wieder Zusammenhänge vereinfacht – damit letztendlich aber auch verfälscht.

Seit 1955 konnte Schmidt-Joos diese Diskussionen bei regelmäßigen Westbesuchen auch persönlich mitverfolgen und weiß also um die Parallelen und die Unterschiede zu den Diskussionen, die seine Freunde und Kollegen im Osten Deutschlands zur selben Zeit führten. Schmidt-Joos war auf der einen Seite ein wichtiges Mitglied der Hallenser Jazzszene, wurde zunehmend aber auch zu einem Mittler zwischen den Szenen – Halle, Leipzig, Westdeutschland. Als Reginald Rudorf im Oktober zu einem geheimen Treffen der ihm bekannten Jazzkreise in der DDR einlud, ahnte Schmidt-Joos, dies könne vielleicht der Anfang einer DDR-Jazzföderation sein, in Anlehnung an die DJF im Westen. Tatsächlich handelte es sich um eine Art Konferenz, bei der darüber diskutiert wurde, wie die Jazzliebhaber mit den Reglementierungen durch den Staat umgehen sollten, dass es notwendig sei, den Jazz aus der “Illegalität” zu holen. In der Folge kam man ins Gespräch mit den Staats-Funktionären und publizierte (in einer Auflage von 100 Exemplaren) ein Jazz-Journal, das allerdings nur dreimal erscheinen durfte. Im Zuge der damaligen politischen Tauwetter-Periode wurde Jazz also tatsächlich stärker öffentlich präsentiert und wahrgenommen, etwa in einer Sendung im DDR-Fernsehen Anfang 1956 oder beim ersten DDR-Jazzfestival in Halle im Dezember desselben Jahres.

Dann aber folgte der von Schmidt-Joos nicht weniger eindringlich beschriebene Backlash, etwa als Reginald Rudorfs Film “Vom Lebensweg des Jazz” über die Entstehung und Geschichte des Jazz, 1956 für die DEFA gedreht, von 40 auf 20 Minuten heruntergekürzt wurde. Der Druck auf die Jazz-Aktiven nahm zu. Die Jazzwelt war eben auch eine Welt der Unangepassten und damit den Sicherheitsorganen der DDR suspekt. Die Stasi nahm die Aktivitäten der Wortführer des Jazz mehr und mehr unter Beobachtung, und als die ersten Verhaftungen und Anklagen erfolgten, entschieden sich Schmidt-Joos und sein Freund, der Gitarrist Alfons Zschockelt, die DDR zu verlassen.

Im letzten Viertel seines Buchs dann, Schmidt-Joos ist in Frankfurt gelandet, gelingt ihm eine bemerkenswerte Darstellung der Diskurse im westdeutschen Jazz der zweiten Hälfte der 1950er Jahre. Er berichtet vom Jazzkeller Frankfurt, vom hiesigen Musikhaus Glier als Umschlagplatz für Musiker und Fans, von seiner Zusammenarbeit mit Joachim Ernst Berendt bei der Neuausgabe des Jazzbuchs von 1958, oder mit Fritz Rau im “Konzertreferat Inland” der DJF, der Keimzelle der späteren Konzertagentur Lippmann und Rau. Er schiebt ein Kapitel ein über die Bedeutung der Voice of America und ihres Moderators Willis Conover, schreibt über die Tourneen des amerikanischen State Department, die ausdrücklich als eine kultur-politische Waffe im Kalten Krieg gedacht waren, um dann seine eigene Mitarbeit in der Zeitschrift “schlagzeug” zu thematisieren, herausgegeben vom Äquator-Verlag, dessen Ziel es war, mit Zeitschriften auch im Osten Deutschlands mehr oder weniger unterschwellige propagandistisch zu wirken. Im Januar 1960 erhielt Schmidt-Joos eine Festanstellung als Jazzredakteur bei Radio Bremen. Es ist eine neue Periode seines Lebens und seiner professionellen Auseinandersetzung mit der Musik.

“Die Stasi swingt nicht” ist, wie eingangs gesagt, keine Autobiographie, auf jeden Fall aber ein autobiographisch gefärbter Blick auf eine Epoche. Schmidt-Joos zeigt sich darin als begnadeter Erzähler, dem es insbesondere gelingt, seinen Lesern viele der Macher jener Jahre mit sehr persönlichen Erinnerungen näherzubringen, den schon genannten Reginald Rudorf beispielsweise oder Karlheinz Drechsel, Günter Boas, Werner Wunderlich, Horst H. Lange, Theo Lehmann und viele andere. Seine Entscheidung, die Geschichte des Jazz in beiden Teilen Deutschlands der 1950er Jahre miteinander zu verzahnen, ist bei alledem nicht so sehr eine dramaturgische Entscheidung, sondern vielmehr die notwendige Reaktion auf seine eigene Biographie, in der sich die Erlebnisse im Osten mit den Erfahrungen im Westen immer gegeneinander befeuerten. Eine ungemein kurzweilige Lektüre, die, weit übers Autobiographische hinaus, Zeitgeschichte lebendig werden lässt.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Jazzistisches
Von Johannes Beringer
Berlin 2016 (Johannes Beringer / books on demand)
206 Seiten, 16,90 Euro
ISBN: 978-3-7412-3669-3

2016beringerJohannes Beringer ist ein Schweizer Publizist, Herausgeber und Übersetzer. Während er meist über Film schrieb, galt seine Leidenschaft nebenbei auch dem Jazz; im vorliegenden selbst-verlegten Band fasst er seine diesbezüglichen “unbeauftragten aber nicht nebenbei” entstandenen Texte zusammen. In fünf Kapiteln lässt er Eindrücke von Aufnahmen, Konzerten, Erlebnissen mit der Musik Revue passieren, eigene, also durchaus autobiographisch lesbare Erfahrungen, gebrochen durch Autoren, die sein Jazzverständnis mit prägen halfen, durch Filme, die sein Bild der Musik beeinflussten, und durch Anekdoten, die verständlich machen, wie sich sein Jazzgeschmack entwickelte.

Beringer, 1941 in Winterthur geboren, schaute 1963 im Zürcher Club “Africana” vorbei, wo Dollar Brand ein Engagement hatte und Irène Schweizer Einflüsse der südafrikanischen Energie aufschnappte und in ihre Musik übertrug. Später zog er nach Berlin, wo er noch heute lebt. Sein Buch greift auf Erlebnisse in beiden Ländern zurück, wechselt dabei wie eine Improvisation von Thema zu Thema, angestoßen mal durch Musikernamen, dann durch spezielle Aufnahmen, durch die Erinnerung an ein Konzert, durch die Reflexion über ein Instrument und ähnliches mehr. Da geht es im zweiten Kapitel in fast elliptischer Form etwa von der Unmittelbarkeit der Musik zu einer Reflexion über schwarze und weiße Bassisten, zu Charles Mingus’ “Scenes in the City”, zu einem Auftritt des Mingus Quintett im Quartier Latin 1976, zu Bill Evans, Paul Bley und Keith Jarrett, zu Steve Lacy, Ornette Coleman und Jimmy Giuffre, um schließlich bei der Frage zu landen, ob all diese (und andere) Musik Trost oder Besänftigung erzeugt, ob sie Seelenmusik oder Seelenmassage sei. Kapitel 3 widmet sich Joe Hendersons “Recorda me”, dem Thema der Jazz-Zeitschriften, der Verbindung von Ekstase und Technik in der Musik von Joachim Kühn, um mit der Erinnerung an ein Konzert von Lee Konitz zu enden. Kapitel 4 beginnt mit der Überlegung, welche Musik wohl vom ’68er Lebensgefühl tangiert sei, fragt nach dem gesellschaftlichen Bewusstsein von Jazzmusikern, blickt auf Jazzstandards und freie Improvisation. In Kapitel 5 schließlich nimmt Beringer Jacques Rédas Einlassungen zur “einzigen Farbe” (nämlich der blauen) zum Ausgangspunkt, erinnert daran, wie der Jazz nach Europa gelangte, hört Aufnahmen von Chet Baker (1955) und macht sich Gedanken zur Gestik von Miles Davis, lauscht Andrew Hill und Steve Kuhn, liest Martin Williams, Whitney Balliett und Nat Hentoff, und versichert, dass es nie falsch sei, eine Platte zu kaufen, auf der Paul Motian mitspiele.

Johannes Beringers Buch ist also wie eine ausgedehnte Improvisation – man muss sich schon drauf einlassen, den Gedankenspiralen des Autors zu folgen, die selten chronologisch angelegt sind und auch thematische Blöcke immer wieder sprengen. Das macht die gezielte Lektüre, die es insbesondere einem Rezensenten einfacher macht, etwas schwierig, weil es immer leichter ist, einen Faden zu verfolgen als immer neu sich formierenden Themensträngen. Also sollte man das Buch gerade nicht als Rezensent lesen, sondern es eher als eine Art Gesprächsangebot verstehen, bei dem man sich festquatscht und die Themen wechselt, die eine oder andere Aufnahme gemeinsam hört, um dann in besonders eindrucksvollen Erinnerungen zu schwelgen. Johannes Beringers Buch handelt vom Jazz. Es ist kein Jazz, aber etwas “Jazzistisches” hat es in dieser Grundhaltung allemal.

Wolfram Knauer (Oktober 2016)


Jazz im Film, 1927-1965
von Klaus Huckert & Edgar Huckert
Saarbrücken 2016 (35 MM. Das Retro-Film-Magazin. Sonderausgabe)
76 Seiten, 6 Euro
Web: 35MM Retrofilmmagazin

2016huckert“Jazz im Film”, das ist eine ganz eigene Thematik. Es gibt Filme, die das Thema “Jazz” behandeln, Filmbiographien realer oder fiktiver Musiker, Filme, in denen Jazz eine dramaturgische Rolle spielt, oder Filme, die sich vor allem durch ihre Soundtrack als Jazzfilme definieren. Klaus Huckert und Edgar Huckert, die seit langem die Website Jazz im Film betreiben, haben ihr Wissen für eine Sonderausgabe des Filmmagazins “35MM” zusammengefasst.

Sie beginnen ihren Überblick im Jahr 1927 und mit dem Film “The Jazz Singer”, der als einer der ersten Tonfilme des Genres gilt, dessen Titel aber, wie die Autoren schreiben, irreführend ist, weil es sich bei der von Al Jolson dargestellten Figur eher um einen Minstrelsänger handelt.

Sie behandeln Kurzfilme wie “St. Louis Blues” mit Bessie Smith oder “Black and Tan” mit Duke Ellington, und Cartoons der 1930er Jahre, in denen Jazz immer wieder eine Rolle spielte. Ein umfassendes Kapitel ist den Filmen der 1930er Jahre gewidmet, bei denen es sich oft um Revuefilme handelte, aber auch Kurzfilmen, in denen Swingorchester der Zeit im Mittelpunkt standen. Neben Hollywood findet dabei auch das französische und deutsche Kino Erwähnung. Für die 1940er Jahre fügen die Autoren “Spielfilme mit Bezug zur Geschichte des Jazz” hinzu, also etwa Victor Schertzingers “Birth of the Blues” oder Arthur Lubins “New Orleans”, außerdem die ersten Biopics über die Dorsey Brothers, Bojangles Robinson und Bix Beiderbecke. Für die 1950er Jahre kommen Anmerkungen über Kriminalfilme und Streifen aus dem Umkreis der Nouvelle Vague hinzu, aber auch wichtige deutsche Filme wie “Liebe, Jazz und Übermut” mit Peter Alexander oder “Das Brot der frühen Jahre” mit Musik von Attila Zoller. Ein eigenes Kapitel erhält die “Jazz im Film”-Literatur. Geraldine Monika Stratemann erzählt von der Leidenschaft ihres verstorbenen Mannes, des Zahnarztes und Jazz-Filmografen Klaus Stratemann, dessen Bücher etwa zu Duke Ellington und Louis Armstrong zu den Standardwerken der Jazzfilm-Literatur gehören. Die Gegenwart (was hier die Zeit von 1966 bis 2018 (!) bedeutet) wird in einem zweiten Band behandelt, auf den die Autoren zum Schluss ihrer Abhandlung verweisen. Eine Filmografie der wichtigsten Streifen von 1921 bis 1965 beschließt die Publikation.

“Jazz im Film 1927-1965” gibt einen schnellen Überblick über die verschiedenen Aspekte des Themas. Es ist leicht lesbar und richtet sich dabei an Film- und Jazzfans gleichermaßen. Es enthält vereinzelte Wertungen, die dem Leser aber durchaus die eigene Meinung freistellen. Am meisten haben diesen Rezensenten die etwas schablonenhaften musikalischen Stilbeschreibungen irritiert, die dem Jazzlaien Begriffe wie New Orleans-Jazz, Dixieland, Swing oder Bebop näherbringen wollen, sich dabei aber stark in Klischees genügen. Tatsächlich wäre statt solche Beschreibungen vielleicht eine Einordnung der Atmosphäre hilfreicher gewesen, für die Jazz in jenen Jahren stand. Und schließlich fehlt in dem Büchlein ein Kapitel über die Rezeption der beschriebenen Filme und dessen, wofür sie standen – in den USA genauso wie zumindest in Deutschland.

Doch mag solche Kritik zu viel verlangen von einem Büchlein, das vor allem einen komprimierten Überblick zum Ziel hat und schließlich in seinem Literaturüberblick auf genügend Veröffentlichungen hinweist, die genau solche Kontextualisierungen zum Thema haben. “Jazz im Film 1927-1965” ist im Din-A-4-Format mit vielen farbigen Abbildungen von Filmplakaten oder Szenenfotos allemal eine lobenswerte Publikation, die neugierig macht auf einige Streifen, die man bereits kennt, und auf viele, die man immer schon mal sehen und hören wollte.

Wolfram Knauer (August 2016)


Dieses unbändige Gefühl der Freiheit. Irène Schweizer – Jazz, Avantgarde, Politik
von Christian Broecking
Berlin 2016 (Broecking Verlag)
479 Seiten, 34,99 Euro
ISBN: 978-3-938763-43-8

This Uncontainable Feeling of Freedom. Irène Schweizer – European Jazz and the Politics of Improvisation
by Christian Broecking (translation: Jeb Bishop)
Berlin 2021
471 Seiten, 19,99 (E-Book)
ISBN: 978-3-75411-017-1

UmschlagIm Februar 2013 fuhr Christian Broecking erstmals nach Zürich, um sich mit Irène Schweizer zu unterhalten. Die Pianistin zeigt sich eher wortkarg; da gäbe es doch ein paar schöne Artikel, sagt sie und gibt Broecking einige Zeitungsausschnitte, mehr bräuchte es doch nicht. Überhaupt, über sie zu erzählen, das könnten andere doch viel besser als sie. In den folgenden Jahren ist Broecking immer wieder bei ihr, und nach und nach öffnet sich Schweizer, erzählt von ihrem langen Musikerleben, daneben aber auch von ihren politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen. Zwischendurch trifft sich der Autor mit vielen ihrer Kolleg/innen über die Jahre, fragt sie nach der Pianistin aus, konfrontiert Schweizer dann mit diesen Erinnerungen und gelangt schließlich zu einer umfassenden Biographie, die tatsächlich viel mehr ist: nämlich eine Geschichte des europäischen Jazz seit den 1960er Jahren, erzählt aus der Perspektive eine seiner wichtigsten Protagonistinnen.

Broecking wählt den Ansatz der Oral History, unterhält sich mit Weggefährt/innen, mit der Schwester, mit Veranstaltern und Produzenten, vor allem aber mit Musikerkolleg/innen. Wir erfahren von der Kindheit Schweizers in der Gastwirtschaft der Familie in Schaffhausen und dem Klavier im Festsaal, von der ersten Begegnung mit dem Jazz und der ersten Band, den Crazy Stokers, die bereits ganz ohne stilistische Einschränkungen traditionellen und modernen Jazz mischten.

Ende der 1950er Jahre nahm Irène mit den Modern Jazz Preachers, die Art Blakeys Jazz Messengers nacheiferten, mehrfach am Amateur-Jazz-Festival Zürich teil. Mit ihrem eigenem Trio trat sie ab 1963 auf, wurde bald von der südafrikanischen Exil-Musiker-Szene in Zürich beeinflusst, und wechselte nach und nach vom Amateur- ins Profilager. Schweizer traf auf Peter Brötzmann und Peter Kowald, und sie hörte Cecil Taylor, der sie erst in eine Krise stürzte, letzten Endes aber zur Neubesinnung des eigenen Stils brachte. Sie wurde Teil einer europäischen Free-Music-Szene, wirkte im Kreis um das Label Free Music Production (FMP) mit, spielte auf den großen Festivals von Berlin oder Willisau. 1976 begann sie neben der Ensemblearbeit ihre “Solo-Karriere”, wirkte daneben in Bands und bei Veranstaltungen mit, die der Frauenbewegung nahestanden, etwa der Feminist Improvising Group FIG.

Neben der Musik war Irène Schweizer dabei immer eine politische Frau, interessierte sich für gesellschaftliche Diskurse der Zeit, arbeite – selbst eine bekennende Lesbe – in der Homosexuellen Frauengruppe Zürich mit. Irgendwann fand die Selbstorganisation auch in der Szene statt: beim Festival Fabrikjazz etwa oder beim Label Intakt Records. Schweizer engagierte sich, auch musikalisch, in der Anti-Apartheid-Bewegung, und sie wurde vom Schweizer Geheimdienst überwacht.

1991 fand das erste Konzert des Trios Les Diaboliques mit Maggie Nicols und Joëlle Léandre statt, im selben Jahr erhielt Schweizer den Kunstpreis der Stadt Zürich. Sie wurde mehr und mehr zur Grande Dame des Schweizer Jazz, und Christian Broecking dokumentiert ausführlich ihre Reisen, Konzerte, Begegnungen, die ästhetischen Diskurse, in denen sie mitmischte und zu denen sie durchaus eine Meinung hat.

Eine kurze Einschätzung ihrer Musik und eine Transkription der “Jungle Beats II” von Olivier Senn und Toni Bechtold beschließen das Buch, das außerdem eine Diskographie, einen umfangreiches Fotokapitel sowie ein akribisches Register enthält.

Dass Broecking selbst, aber auch so viele andere, Irène Schweizer als eher wortkarg schildern, mag man am Ende der lebendigen Lektüre gar nicht glauben. Tatsächlich erfährt man am meisten von Schweizers Freundinnen und Freunden, von den Kolleginnen und Kollegen, die sie zum Teil seit langem kennen, die freimütig über ihre Marotten, ihre Stärken wie Schwächen berichten und dabei eine Künstlerin präsentieren, die einen eigenen und doch recht klaren Lebensweg gegangen ist. “Christian Broecking”, heißt es im Covertext des Buchs “hat eine der ungewöhnlichsten Musikerinnenbiografien der europäischen Nachkriegszeit rekonstruiert.” Dass ihm dies mit sorgfältigen Hintergrundrecherchen und Zeitzeugeninterviews so ungemein lebendig gelungen ist, ist ein Verdienst an sich. Sein Buch handelt von Irène Schweizer, tatsächlich aber beschreibt es eine ganz spezifische Perspektive der Entwicklung improvisierter Musik in Europa seit den 1960er Jahren. Und ist damit weit mehr als eine Biographie…

Wolfram Knauer (Juli 2016)

Nachtrag Mai 2021:

Es waren einige der letzten Telefonate, die wir mit Christian Broecking führten, in denen er eine englischsprachige Ausgabe seines Buchs visionierte. Die Suche nach einem adäquaten Übersetzer führte ihn zu Jeb Bishop, den Chicagoer Posaunisten und professionellen Übersetzer. Das Erscheinen dieser englischsprachigen Ausgabe seines Buchs hat Broecking nicht mehr erlebt – er verstarb Anfang 2021 in Berlin.


Für Augen & Ohren. Schallplatte und Kunst – Edition Longplay
von Rainer Haarmann
Schülp 2016 (Edition Longplay)
152 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3-00-051925-3

2016haarmannRainer Haarmann ist ein Überzeugungstäter. Er gründete und leitete über lange Jahre das Festival Jazz Baltica, mit dem er jedes Jahr die verschlafene schleswig-holsteinische Provinz für ein paar Tage zum Zentrum des internationalen Jazzlebens machte. Nachdem Haarmann Im Sommer 2011 sein letztes Festival leitete, überlegte er, wie es nun weiter gehen könnte. Der Zufall kam ihm zu Hilfe, aber eigentlich war es gar kein Zufall, sondern eher das lange überfällige Zusammenfallen der unterschiedlichen Interessen, die ihn immer schon umtrieben: die Musik, die Bildende Kunst und die Leidenschaft für das Medium der Langspielplatte. Im Herbst 2011 also traf Haarmann zusammen mit der Pianistin Clara Haberkamp bei einer Kunstmesse in Berlin die Malerin Rosilene Ludovico, die ihn auf die Idee brachte, Kunst, Musik und Schallplatte miteinander zu verbinden. Er machte sich mit dem Procedere der Vinyl-Plattenherstellung vertraut und produzierte im Frühjahr 2012 die erste LP der neuen Edition Longplay: “Don Friedman Plays Don Friedman”, aufgenommen bei der letzten von Haarmann verantworteten Jazz Baltica. Es folgen 14 weitere Platten, und ein Ende ist nicht in Sicht.

Jetzt hat Rainer Haarmann ein Buch herausgegeben, in dem er die Genese seines Plattenlabels beschreibt. Er beginnt mit einem allgemeinen Kapitel über die Geschichte der Schallplatte von Schellack bis Download, an das sich ein zweites anschließt, das – vor allem anhand von Fotos – die Vielfalt der Covergestaltung in der Jazzgeschichte dokumentiert. Die meisten dieser Albumcover stammen – wie anhand der zahlreichen Autogramme unschwer zu erkennen ist – aus der eigenen Sammlung des Autors. Haarmann schildert die Idee zur ungewöhnlichen Vinyl-Reihe, in der er Musiker und Bildende Künstler paarte, und Wolfgang Sandner nobilitiert das Ganze mit einem Essay, der betont, wie sich Musik und Bildende Kunst auf vielfältige Art und Weise ergänzen können, der aber auch auf die konkreten Beispiele der Edition Longplay eingeht. Den größten Teil des Buchs macht dann ein Durchgang durch alle 15 Alben aus, jeweils eingeleitet mit der Abbildung des Covers, mit Interviewausschnitten oder kurzen Texten zu den Künstlern (also den Musikern sowie den Malern), mit Fotos aus beiden Bereichen und weiteren Abbildungen des künstlerischen Schaffens der Maler. Die meisten dieser Texte entstammen fremden Quellen, Plattenrezensionen etwa, Kunstkatalogen, Redemanuskripten, ab und an aber auch eigens für das Buch verfassten Texten der Künstler. Zu finden sind dabei Kapitel über: Don Friedman & Rolf Rose; Clara Haberkamp & Rosilene Ludovico; Martin Wind & Max Neumann; Hank Jones, Don Friedman & Dietrich Rünger; Kate McGarry, Keith Ganz & Theo Bleckmann; Jonathan Kreisberg & Gabriele Worgitzki; Edmar Castaneda, Joe Locke & Christine Streuli; Rainer Böhm, Johannes Enders & Julia Schmidt; Martin Wind & Max Neumann; Katja Riemann, Christopher Dell & Etel Adnan; Alan Broadbent & Martina Geist; Charlotte Greve, Keisuke Matsuno & Julia Schmidt; Axel Schlosser & Martina Geist.

“Für Augen & Ohren” ist eine Ermutigung, beide zu öffnen, Augen wie Ohren, auch wenn bei der Lektüre das Hören zu kurz kommt, da die Musik diesem Buch nun mal nicht beiliegt. Doch das Konzept, das sich Rainer Haarmann für sein Label vorgestellt hat, kommt deutlich rüber und überzeugt gerade auch in der Dokumentation dieses Buchs. Stellenweise weiß man dabei nicht genau, was man gerade vor sich hat: Mal liest es sich wie eine Reflexion über Kunst und Musik, mal wie ein etwas ausführlich geratener Labelprospekt einschießlich Rezensionsauszügen, mal wie eine Hommage an die Künstler, dann aber auch wieder wie eine stolze Selbsterklärung des Autors. Vielleicht ist es tatsächlich von allem ein bisschen. Textlich mag man sich an ein paar zu vielen Wiederholungen stören, vielleicht auch an den dauernden Ich-Bezügen (“mein Festival”, “mein Label”, “meine Neugierde”, “mein Bemühen”). Statt der Katalog- und Zeitungsausrisse mag man sich mehr Texte wie den von Wolfgang Sandner wünschen, dem es auf nur vier Seiten gelingt einen Gedankenkosmos über die Durchlässigkeit der Gattungsgrenzen (Malerei, Skulptur, Musik, Tanz) auszubreiten. Und schließlich hätte dem Buch ein ordentliches Lektorat gut getan, um ärgerliche Fehler insbesondere bei Namen zu verhindern (“Scott Joblin”, “Kid Oliver”, “Marry Records”, “Jobst Gebers”, “Johnathan Blake” [OOPS, und da erwischen Sie den Rezensenten bei einem “ärgerlichen Fehler”, denn dieser Name (Johnathan) ist völlig korrekt geschrieben, was nur beweist, das Fehler überall passieren, auch in Rezensionen], oder gar den LP-Titel “One Hundret Dreams”, in dem die Orthographie sogar bei einer Edition Longplay-eigenen Produktion versagt hat). Davon abgesehen aber macht “Für Ohren & Augen” neugierig, darauf nämlich beide aufzusperren, egal, ob man eine LP des Haarmann’schen Labels sieht oder hört, oder aber sich andere Cover und ihren Inhalt vornimmt, die oft genug in Beziehung zueinander stehen.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Essener Beiträge. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen, Band 128
herausgegeben von (Schriftleitung): Thomas Dupke
Essen 2015 (Historischer Verein für Stadt und Stift Essen e.V.)
341 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978-3-8375-1347-9

2016raberDie Jazzgeschichte Deutschlands wurde über lange Jahre vor allem von Sammlern und Jazzfans erzählt. Das hat viel für sich, waren doch gerade die Sammler lange Jahre die wirklichen Experten für dieses Thema. Horst H. Lange erstmals 1966 erschienenes Buch “Jazz in Deutschland” war insofern ein Pionierwerk. Wo diese Privatforscher anfangs vor allem auf ihre eigene Sammlung sowie auf Dokumente von Sammlerfreunden zurückgriffen, entwickelte sich über die Jahre und meist in sehr speziellen Sammlergazetten (die britische Zeitschrift “Storyville” ist dafür wahrscheinlich das beste Beispiel) ein weniger persönlicher und dafür historisch-nüchternerer Zugang zur Jazzgeschichte, für den neben den Anekdoten und den diskographischen Angaben auch die Quellenforschung immer wichtiger wurde.

Inzwischen ist die Jazzgeschichte in der etablierten Geschichtswissenschaft angekommen. Immer noch gibt es von Fans geschriebene Rückblicke etwa auf die Clubgeschichte einzelner Regionen, oft liebevoll, aber ziemlich distanzlose Publikationen, die höchstens wegen der sehr individuellen Perspektive der Autoren und vielleicht noch wegen des Abdrucks historischer Dokumente (am besten mit Quellenangabe) interessant sind. Daneben aber sehen es immer mehr Stadt- und Landesarchive als ihre Pflicht an, die lokale Jazzszene zu dokumentieren, und auch historische Vereine haben ein offenes Ohr etwa für Jazz-, Rock-, Folk- oder Popgeschichte ihrer Region. Stück für Stück kommt durch solche lupenhaften Blicke auf einzelne Szenen eine Art Überblick über den Jazz in Deutschland zustande, der vielleicht nicht den großen Bogen, dafür aber auf jeden Fall den kleinen wagt.

Ralf Jörg Rabers Beitrag in der vom Historischen Verein für Stadt und Stift Essen herausgegebenen Schriftenreihe “Essener Beiträge” ist ein guter case in point. Überschrieben “Als der Jazz nach Essen kam” behandelt Raber auf 50 Seiten die Frühgeschichte dieser Musik von Anfang der 1920er Jahre bis zum Beginn des Nationalsozialismus.

Er erzählt, wie bereits vor 1920 afro-amerikanische Künstler und solche aus den deutschen Kolonien vor allem in Varieté- oder Zirkusshows auftraten. Mit dem Ende der Tanzverbote der Kriegsjahre dann, schreibt Raber, “schossen auch in Essen Tanzlokale wie Pilze aus dem Boden”. Die neue Musik aus Amerika, das, was bald unter dem Begriff “Jazz” zusammengefasst wurde, stand anfangs vor allem noch für die Beschreibung verschiedener Tanzarten; spätestens ab 1921 aber, als im Weinlokal Fürstenhof “Gottys (Excentric) original-American-Jazz-Band” angekündigt wurde, nahm die Öffentlichkeit “Jazz” offenbar auch als Musik wahr. Raber hat die Essener Allgemeine Zeitung der Jahre genauso durchgeackert wie die städtischen Akten, in denen sich etwa ein Antrag des Besitzers des Lokals für Musikdarbietungen findet. Wenig ist bekannt über diese oder ähnliche Bands, die höchstens in Werbeanzeigen präsent waren, von denen es aber weder Bilder noch gar Tonaufnahmen gibt. Wahrscheinlich, schlussfolgert Raber nicht ganz zu Unrecht, waren die ersten Jazzbands in Essen wohl eher Salonkapellen mit leicht verändertem Outfit, um der neuen Mode Rechnung zu tragen.

Bald waren, schreibt Raber, auch amerikanische Schallplattenaufnahmen in Deutschland erhältlich, obwohl, wie er Horst H. Lange zitiert, mehr als die Hälfte der für das Plattenlabel Odeon gepressten Jazzplatten ins Ausland exportiert wurden. Ab 1924 findet er in den Tageszeitungen vermehrt Hinweise auf Jazzprogramme, die entweder zum Tanz erklangen oder als Rahmenprogramm etwa für die Diseuse Claire Waldorf. Raber zählt die unterschiedlichen Ensembles auf und nennt die wichtigsten Auftrittsorte, insbesondere das Arkadia (ab 1924) und die Casanova (ab 1928). Außer den Annoncen allerdings findet sich in der zeitgenössischen Tagespresse kaum etwas über die Bands, ihr Repertoire oder gar die Qualität ihrer Musik. Vom November 1925 stammt der erste ausführliche Artikel des Essener Anzeigers über Jazz als Soundtrack der modernen Großstadt. Und im September 1926 wurde ein Ensemble, nämlich Onkel Heinrich und sein Viel harmonisches Orchester, näher vorgestellt, wobei der Rezensent allerdings die Band allerdings eher als abschreckendes Beispiel sieht und klagt, “der Leidtragende ist der moderne Jazz”.

Ein kurzes Unterkapitel widmet Raber dem Rundfunk, in dem eigentlich erst ab 1930 regelmäßig Aufnahmen deutscher oder auch ausländischer Bands zu hören waren. Etwa zur selben Zeit war der Jazz auch im Tourneeprogramm der Ballsäle und Varietébühnen angelangt. Im Arkadia, in der Casanova oder der Scala traten Heinz Wehner, die Weintraub Syncopators oder Ben Berlin auf, letzterer mit einer verjazzten “Carmen”-Suite. Mit den Bon-John Girls und den 12 Musical Ladies waren 1929 und 1931 erstmals US-amerikanische Kapellen zu hören, beides übrigens Frauenbands, was uns einiges über die Rolle von Musikerinnen im frühen Jazz sagt und die verfälschende Wahrnehmung durch die Jazzgeschichtsschreibung.

Sam Woodings Band war seit 1925 in Europa unterwegs; in Essen spielten der Pianist und sein Ensemble erstmals im März 1931. Der Lokalreporter überschlägt sich: “Natürlich macht das Negerorchester Negermusik. Kultivierte Negermusik, aber Negermusik”, um dann zu empfehlen, “Wer sich darüber aufklären lassen möchte, was Jazz ist und Negermusik, der besuche in diesen Tagen die Casanova.” Derselbe Reporter lässt uns auch an seinem eigenen Erstaunen teilhaben, darüber nämlich, dass die Musik der Wooding Band so völlig anders klingt als die von Paul Whiteman oder Jack Hylton, die demgegenüber “beinahe klassische Musik” machten.

Zum Abschluss seines Essays vergleicht Raber die Präsenz des Jazz in Essen mit der in anderen Städten. Verglichen mit Berlin sei Essen sicher Provinz gewesen, urteilt er, den Vergleich mit umliegenden Großstädten brauche die Stadt allerdings nicht zu scheuen; auch in Köln, Dortmund oder Wuppertal sei authentischer Jazz schließlich frühestens Anfang der 1930er Jahre zu hören gewesen. Er bedauert die mangelnden Bildzeugnisse über die Szene und begründet die mangelnde Quellenlage auch aus seiner Erfahrung heraus, dass er in seinen Recherchen immer wieder auf die Meinung gestoßen sei, vor 1945 habe es in Deutschland ja gar keinen “richtigen Jazz” gegeben.

Rabers Fazit: (1.) Eine tiefere Untersuchung zum Phänomen von Jazz und als Jazz annoncierter Musik in den 1920er Jahren ist dringend notwendig. (2.) Es ist überraschend und in der Jazzgeschichtsschreibung kaum dokumentiert, wie viele Frauenkapellen in jenen Jahren aufgetreten sind. Und (3.) Rassistische Ausfälle habe er zumindest aus seiner Sichtung der Lokalpresse heraus kaum feststellen können.

Ich habe Ralf Jörg Rabers Essay in den “Essener Beiträgen” insbesondere als Ermutigung für Historiker auch anderer Städte gelesen, die Dokumente in ihren örtlichen Stadt- und Zeitungsarchiven auf Quellen zu durchforsten, in welchen Kontexten in jenen Jahren annonciert und wahrgenommen wurde. Dabei kommt es eben gerade nicht auf die Sicht von heute an, die weiß, wohin der Jazz sich entwickeln sollte, sondern auf die Darstellung jener ersten Begegnung mit einem Phänomen, das irgendwo zwischen Staunen und Ergriffenheit, zwischen Unterhaltung und “vielleicht doch Kunst” angelegt wurde.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


A Listener’s Guide to Free Improvisation
von John Corbett
Chicago 2016 (University of Chicago Press)
172 Seiten, 15 US-Dollar
ISBN: 978-0-226-35380-7

2016corbettGroßartig! Anders kann man dieses Büchlein nicht preisen. John Corbett schreibt ein Buch nicht etwa über Free Jazz oder freie improvisierte Musik, sondern eine aufmerksame, selbstironische und dabei ungemein nützliche Anleitung, wie man selbst ohne weitere Vorkenntnisse freier Improvisation näher kommen kann. Und seine Anleitung allein öffnet die Ohren und macht neugierig, nicht nur auf die Musik, sondern – eigentlich vor allem – auf das eigene Hören und Hörvermögen, auf die vielen Experimente, die er vorschlägt, um sich des Hörsinns neu zu versichern und sich von den Routinen des gewohnt strukturellen Hörens zu befreien. Und damit ist sein “Listener’s Guide to Free Improvisation” eigentlich viel mehr: nämlich eine Anleitung zum Hören – ganz allgemein!

Aber der Reihe nach: Der Jazz und insbesondere die Szene der improvisierten Musik ziehe schon gern mal Cliquenzirkel an, schreibt Corbett, deren vermeintliches Fachwissen, dass sie in einem Patois wiedergeben, das ihn an das eines Comic-Book-Salesman erinnert, deren vermeintliches Fachwissen also die Tatsache überdeckt, dass es tatsächlich keinerlei Vorwissens bedarf, um freie Improvisation zu hören. Gerade diese Nicht-Erwartungshaltung grenze freie Improvisation schließlich sowohl von den Hörtraditionen der klassischen Musik wie auch von denen des Jazz ab. Und dabei sei jede Hörfähigkeit willkommen: Menschen mit einem guten Langzeitgedächtnis werden bestimmte Aspekte der Performance hören, während andere ihren Spaß daran haben, sich im Moment zu verlieren.

Aber bloß keine Angst, beruhigt Corbett: Mit dem Hören improvisierter Musik sei es ein wenig wie mit dem Beobachten wilder Vögel: Jeder kann es tun, und eigentlich gibt es keine Fehler dabei. Mit der Zeit stelle sich das Fachwissen quasi automatisch ein: Je mehr man hört, desto mehr will man wissen, je mehr man weiß, desto mehr will man hören.

Und dann beginnt er bei Null. Nichts mitbringen solle man zum Konzert, empfiehlt er, außer einem freien Kopf, höchstens einem Notizbuch, einem Stift und einer Uhr. Er erklärt grob den Unterschied zwischen freier Improvisation, strukturierter Improvisation (Zettel auf dem Notenpult), Free Jazz (optionale runde Sonnenbrillen), Noise Music und Improv. Letzteres sei ja eigentlich ein Theater- und Comedy-Genre, bei dem die Beteiligten angehalten sind, nie mit “Nein” zu reagieren, sondern immer mit “Ja, und…”, um den Flow nicht zu unterbrechen. In der Musik allerdings, schreibt Corbett augenzwinkernd, sei ein “Nein” oft schon ganz hilfreich, weil es sonst keine Spannung gäbe und man in die Gefahr gerät, dass sich alles wie New Age Music anhöre – und hier folgt dann sein eigenes erschrockenes “NEIN!!!”

Wie also kann man als ungeübter Hörer auf die Tatsache reagieren, dass freie Improvisation üblicherweise ohne Puls auskommt, ohne klare rhythmische Strukturen, die einem wie gewohnt Halt geben. Es sei sicher eine Sache des Trainings, meint Corbett, aber wenn man sich drauf einlässt – und er gibt Tipps, wie man das am besten tut –, dann öffneten sich einem tiefere Ebenen des musikalischen Geschehens. Auf keinen Fall solle man sich vor der Dauer eines Konzerts fürchten – es wird schon nicht ewig sein, beruhigt Corbett, außerdem stünde es jedem frei einfach zu gehen.

In der Ornithologie genauso wie beim Musikhören gäbe es drei Herangehensweisen, schreibt er: Beobachtung, Vergleich und Analyse, die aber nur in exakt dieser Reihenfolge funktionierten. Er ermutigt seine Leser, den sogenannten Cocktail-Party-Effekt auszunutzen, der es uns erlaubt, uns auf einzelne Spieler zu konzentrieren, um unterscheiden zu lernen und dadurch zu einem differenzierteren Gesamteindruck zu gelangen. Er empfiehlt Notizen zu machen, um ein Gefühl für den Verlauf des improvisatorischen Zusammenspiels zu erhalten – wobei es nicht wirklich auf die Notizen selbst ankomme, sondern vor allem um den Konzentrationsprozess, der damit verbunden ist. Verfolge die Interaktion, fordert er seine Leser auf, um bewusst auf die verschiedenen Zusammenstellungen zu horchen: Dialog, unabhängige simultane Aktion, Imitation, Konsens und Streit, Unterstützung und Herausstellen, Raum lassen und zurückhaltend sein, Kontrapunkt.

Die Improvisation “im Hier und Jetzt” (die Momentform, wie Stockhausen sie nennt) sei für die meisten Improvisatoren genauso schwierig zu spielen wie es für die Hörer sei, diese zu verfolgen, weil beiden meist die Erinnerung dazwischenfunkt. Mit etwas Übung aber könne man seinen eigenen Weg finden, Strukturen zu erkennen und persönliche Vokabeln zu identifizieren.

Corbett weiß, dass solch eine Musik live besser zu erleben ist als auf Tonträger, gibt dennoch Plattentipps für Beispiele freie Improvisation, darunter Aufnahmen von Derek Bailey, Cecil Taylor, Irène Schweizer, Peter Brötzmann, Anthony Braxton, Barry Guy, dem Schlippenbach Trio, Evan Parker und anderen. Er erklärt, worauf man in unterschiedlichen Zusammenstellungen achten könne, im Solospiel etwa, im Duo, Trio, Quartett oder größeren Besetzungen. Er weist auf die Extreme hin, also die Situation auf der einen Seite, in der alles improvisiert ist, und jene, in der nichts improvisiert ist, und er diskutiert das trügerische Konzept von “Freiheit”, bei der man ja immer fragen müsse, “frei wovon…?” und “frei wofür…?”.

Er erklärt Haltungen von Musikern, die sich der totalen Improvisation verschrieben haben (“hermetic free”) und von jenen, die, wie Steve Lacy dies nannte, “poly-free” spielen, sich also die Freiheit nehmen, alles zu machen, was ihnen in den Sinn kommt, und sich nicht durch den Zwang zur totalen Improvisation einengen zu lassen. Auch für diese Spielhaltung gibt er Plattenempfehlungen, nennt etwa Sun Ra, Muhal Richard Abrams, ICP, Anthony Braxton, Wadada Leo Smith, Henry Threadgill, Anthony Davis, John Zorn, William Parker, Tim Berne, Tobias Delius, die Vandermark 5 und andere.

Zum Schluss hält Corbett noch ein schönes und von fleißigen Konzertgängern zu bestätigendes Plädoyer dafür, dass man beim Eindösen besonders gut aufnahmebereit sei. Das könne einem im Konzert als mangelnder Respekt ausgelegt werden, außerdem solle man vorsichtig sein, wenn man zum Schnarchen neige. Last not least aber bekräftigt Corbett, dass man sich nicht einreden lassen solle, improvisierte Musik sei besser als irgendeine andere Form an Musik. Die besten Hörer, fasst er zusammen, sind letzten Endes auch hier solche, die neugierig sind und die neugierig bleiben.

John Corbetts “Listener’s Guide to Free Improvisation” ist eine flüssig lesbare Einführung ins Musikhören, die dem interessierten “Anfänger” genauso hilfreich sein kann wie dem erfahrenden “Profihörer”. Letzterer mag sich wünschen, so etwas zu Anfang seiner eigenen Hörerfahrung zur Hand gehabt zu haben. Dass Corbett bei allen Tipps immer wieder den ganz individuellen Zugang betont, kann nicht hoch genug bewertet werden. Corbett ist eben kein Oberlehrer, sondern jemand, der aus eigener Erfahrung berichtet und dabei ziemlich gut abbildet, welche unterschiedlichen Haltungen man beim Hören entwickeln kann.

Eine schnelle, höchst vergnügliche und anregende Lektüre also, Tipps, die man am liebsten gleich morgen bei einem Konzert mit freier Improvisation ausprobieren möchte.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Berlin, 1920-1950. Sounds of an Era
von Marco Paysan
Hamburg 2016 (Edel earBook)
348 Seiten, 3 CDs, 49,95 Euro
ISBN: 978-3-943573-17-6

2016paysanMarco Paysan ist Historiker, Plattensammler und Autor etlicher Aufsätze über die Frühzeit von Jazz und Tanzmusik in Deutschland. Jetzt hat er ein umfassendes Kompendium über Berlin zwischen den Jahren 1920 und 1950 vorgelegt. Das LP-große, durchgängig zweisprachig (deutsch und englisch) gehaltene Buch mit seinen beiheftenden drei CDs will nichts weniger als eine historische Einordnung jener Epoche, in der Jazz noch als Tanzmusik fungierte.

Im ersten Kapitel seines Buchs beschreibt Paysan Berlin als Medienhauptstadt, als kulturelle Mitte Europas, als eine “Metropole zwischen den politischen Welten”. Es folgt eine lange Bildstrecke mit Fotos, Postkarten und Zeitschriftenausrissen, die Berlin als Reisemetropole dokumentieren (Bahnhöfe, Züge, Hotels) und das reichhaltige und sich wandelnde Nachtleben der Weimarer Republik zeigen (Bars, Revuetheater, Tanzsäle, aber auch Kaufhäuser und Prominenz). Etwa 60 Seiten des Buchs machen die Liner Notes zu den drei beiheftenden CDs aus, die “sachkundige Kommentare zur Musik” sowie Gründe für die Auswahl der betreffenden Titel geben und darüber hinaus “auf künstlerische, medien- und sozialhistorische Zusammenhänge” hinweisen. Die Auswahl der Musik umfasst die Größen der Szene, Efim Schachmeister, Eric Borchard, Dajos Béla, Julian Fuhs, die Weintraub Syncopators, Barbabas von Géczy, Hans Bund, James Kok, Ilja Livschakoff, Berhard Etté, Albert Vossen, Kurt Hohenberger, Teddy Stauffer, Heinz Wehner, Erhard Bauschke, Willy Berking, Teddy Kleindin, Benny de Weille, Horst Winter und andere, sowie schließlich das Radio-Berlin-Tanzorchester, Kurt Widmann und Werner Müller für die direkte Nachkriegszeit. “Krise, Umgestaltung und Untergang” lautet die Überschrift über eine Fotostrecke, die das Dritte Reich dokumentiert, “Trümmer, Tatkraft und Teilung” schließlich jenes weit kürzere Kapitel, in dem Paysan dokumentiert, wie die Menschen sich auch im zerstörten Nachkriegs-Berlin noch an das Lebensgefühl der Jahre zuvor erinnerten.

“Berlin 1920-1950. Sounds of an Era” ist ein Dokument dafür, dass die großen Metropolen dieser Welt immer auch einen eigenen Soundtrack haben. Die Musik führt uns in die klingenden Träume, denen sich die Berliner und ihre Besucher in jenen Jahren hingeben konnten; die mehr als 250 Schwarz-weiß- und Farbabbildungen machen deutlich, was diese Musik die Stadt beschallte. Die Fotos wirken mal nostalgisch, scheinen eine vergangene Welt heraufzubeschwören, lassen daneben aber auch die Begeisterung für die Musik verstehen machen, die selbst von den Nazis nicht zum Verstummen gebracht werden konnte. Paysan will den “Mythos Berlin” analysieren, indem er seine Symbole für sich stehen lässt. Er weiß, dass dieser Mythos sich nicht allein aus der Hochkultur erschuf, sondern seine hauptsächlichen Wurzeln in der populären Kultur der Zeit hatte. Seine Erfahrung, dass nämlich die “Programmhefte von Luxus-Bars oder Ballhäusern oder alte Werbe- und Kundenzeitschriften von Schallplattenfirmen” lange nicht als bewahrungswürdig galten, waren einer der Beweggründe für dieses Buch, in dem er einen großen Teil seiner privaten Sammlung angezapft hat. Im Vorwort zur Diskographie der auf den CDs enthaltenen Titel weist Paysan zu Recht darauf hin, wie wichtig für die Absicherung der Besetzungsangaben seine eigenen Interviews mit Musikern jener Zeit waren.

Die Aufgabe, die Sammler wie Paysan, zumal, wenn sie so akribisch an das Thema herangehen, wahrnehmen, ist dabei nicht überzubewerten. Dass dem Historiker Paysan insbesondere in seinen Linernotes, deren musikalische Beschreibungen schon mal irgendwo zwischen poetisch überhöht und Sammlerjargon changieren, der Enthusiasmus anzumerken ist, mit dem er selbst diese Musik hört, tut dem dokumentarischen Anspruch des Werks keinen Abbruch. Schließlich handelt es sich hier weder eine Geschichte des frühen Jazz in Deutschland, noch überhaupt um den Versuch, sich konkret auf die Musik zu fokussieren. Paysan ist die Kontextualisierung eines Lebensgefühls wichtig, jenes “Mythos Berlin” eben, der sich aus dem Zusammenspiel von Musik, Architektur, Mode, Kunst, gesellschaftlichem Leben und anderem mehr ergibt und in diesem Buch auch für die Leser deutlich erahnen lässt.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Hans Dulfer. The Story of My Life, Young & Foolish. Part I
von Nathalie Lans
Schiedam/Niederlande 2016 (Scriptum)
400 Seiten, 49,90 Euro
ISBN: 978-90-5094-988-5

2016dulferDulfer… Dulfer…. Candy Dulfer? – in Deutschland kennt man seine Tochter besser als ihren Vater. Hans Dulfer aber ist ein in den Niederlanden überaus beliebter und einflussreicher Saxophonist, ein Musiker, der die offenen Ohren unserer holländischen Nachbarn in seiner Musik und in Projekten verkörpert, in denen er seine ursprüngliche Liebe, den Jazz, mit Rock, Soul oder gar Punk verbindet. Nun ist ein schwergewichtiges Buch erschienen, das seine Tochter im Vorwort schlicht “das große Hans Dulfer Buch” nennt, und das ist es fürwahr. 400 schwere Seiten im LP-Format, mehr als 4 cm dick das Ganze, Hochglanzfotos.

Der Inhalt folgt chronologisch seinem Leben, ab 1955 tatsächlich jährlich, und stellt dabei Bilder aus dem Familienalbum solchen wichtiger Ereignisse oder Platten gegenüber. Da finden sich Bilder von Hans als Fußballspieler und solche, die ihn als Leichtmatrosen zeigen. Dulfer selbst bekennt, dass er zum Jazz vor allem gefunden habe, um sich von anderen zu unterscheiden. Ende der 1950er Jahre hatten er und seine Freunde genügend Gelegenheit, die großen amerikanischen Vorbilder live im Konzert in Amsterdam zu hören, Chet Baker, Gerry Mulligan, Quincy Jones und andere. 1960 wird Dulfer sogar Fotomodell, zündet sich für eine Zeitungswerbung eine Winfield-Zigarette an, Saxophon auf den Knien.

Wehrdienst, Hochzeit und der Schock, Albert Ayler live zu hören. 1965 tut Dulfer sich mit Willem Breuker und anderen Musikern zu einer Band zusammen, die vielleicht die erste Free-Jazz-Besetzung des Landes war. Er gründet mit Heavy Soul Music ein eigenes Plattenlabel und die Konzertreihe Jazz in Parasdiso, in dem neben Dulfers eigenen Besetzungen auch Ben Webster, Dexter Gordon oder Don Byas vorbeischauen. Seine Band Ritmo-Natural verbindet Jazz, Rock, und kubanische Rhythmen. Mit Boy Edgar reist er nach New York, 1972 spielt er als einer der ersten Musiker im neu eröffneten Bimhuis. Er erhält Preise und tourt mit Roswell Rudd, spielt auf internationalen Festivals und engagiert sich für politische Ziele. Er bereist die Welt und steht mit Legenden aus Jazz und Blues auf der Bühne.

Dulfers Art von Jazz sorgt dabei durchaus auch für Unmut unter Kollegen, die entscheiden, der “starke Pop-Charakter” seiner Musik rechtfertige keine öffentliche Förderung. Er macht tatsächlich immer weniger Unterschiede, tritt mit Jazzkollegen genauso auf wie mit Rock- oder Popsängern oder Musikern aus der Punkszene. Seine Tochter Candy wird erwachsen und fängt an, sich selbst einen Namen als Musikerin zu machen. Prince und Madonna werden auf sie aufmerksam, und aus der Jazzlegende Hans Dulfer wird mehr und mehr der “Vater von Candy Dulfer”. Dennoch: Auch in den folgenden Jahren tourt er durch die Welt, spielt in Japan, den USA, in Kanada und vor Präsident Bill Clinton, als dieser die Niederlande besucht.

Das dicke Buch “Hans Dulfer. The Story of My Life, Young & Foolish” hält all dies minutiös fest. Hunderte Fotos, schwarzweiß und farbig dokumentieren ein reiches Musikerleben. Die verbindenden Texte (auf Niederländisch) sind knapp gehalten, das Layout aber macht selbst diese eher kurzen Texte äußerst schwer lesbar. Was nutzt eine riesige Schriftgröße, wenn der verantwortliche Grafiker alle paar Seiten Zitate in Großbuchstaben einblendet, oft genug noch verschiedenfarbig gesetzt oder unterlegt?!?

Es ist also tatsächlich ein reichhaltiges Buch, bei dem man sich fragen mag, ob hier nicht weniger mehr gewesen wäre. Eine sorgfältigere Auswahl der Fotos (die nun wirklich nicht alle qualitativ gut oder auch nur dokumentarisch notwendig sind), ein leichter lesbarer Text, eine weniger unkritische Haltung der Autorin, vielleicht etwas mehr O-Töne von Dulfer selbst (der in der holländischen Zeitschrift Jazzism eine überaus lesenswerte Kolumne hat) oder seinen Mitstreitern. Aber dann muss man das Buch wohl als das nehmen was es ist: eben keine kritische Biographie, sondern ein Dokument, das Dulfer zu seinem 75sten Geburtstag vor allem feiern will.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Gender and Identity in Jazz
Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 14
herausgegeben von Wolfram Knauer
Hofheim 2016 (Wolke Verlag)
320 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3-95593-014-1
www.wolke-verlag.de/knauer_14.html

2016knauerFull disclosure vorneweg: Dies ist natürlich keine Buchbesprechung, sondern parteiische Werbung. Wir sind stolz auf die jüngste Publikation in der vom Jazzinstitut herausgegebenen Reihe “Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung”, die wie immer das letzte Darmstädter Jazzforum dokumentiert. Als Thema hatten wir uns im Oktober 2015 “Gender und Identität im Jazz” vorgenommen und dazu Referent/innen eingeladen, um das Thema von möglichst unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten.

Es ging um die Wahrnehmung von Instrumentalistinnen, um “männlichen” oder “weiblichen” Sound, um Homosexualität, Körperlichkeit und die Verleugnung des erotischen Moments in der Musik, um Jutta Hipp, Ivy Benson, Clare Fischer, Sun Ra und andere. Die Teilnehmer der Konferenz reflektierten über Jazzgeschichte und schauten selbstbewusst auf die Gegenwart. Sie diskutierten Wege, wie sich Vorurteile überwinden lassen und wie man den Gender-Diskurs des 21sten Jahrhunderts im Jazz angemessen beschreiben kann. Dass der Blick auf den Jazz verfälscht wird, wenn man seine Protagonisten auf einzelne Teile ihrer vielfältigen Identität reduziert, ist klar. Diese jedoch in Jazzgeschichte und -gegenwart völlig außer Acht zu lassen, ist ein genauso großes Versäumnis. In diesem Buch wollen wir somit einen Diskurs fortführen, der auch in unserer bereits erheblich veränderten Welt wichtig bleibt.

Wir finden: Es ist gut gelungen. Nichts wurde ausdiskutiert, aber viele Themen wurden angerissen. Viele der Teilnehmer/innen der Konferenz spiegelten uns zurück, wie angenehm der offene und inspirierte Austausch war. Ein wenig davon spürt man auch in der Schriftform, nicht nur in den 17 Essays selbst, sondern auch in den Fotos, die einen Teil der Lebendigkeit der Veranstaltung ausstrahlen.

Wir sind also stolz. Lassen Sie uns wissen, was Sie meinen!

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Conversations in Jazz. The Ralph J. Gleason Interviews
von Ralph J. Gleason
herausgegeben von Ted Gioia
New Haven 2016 [book: Yale University Press]
276 Seiten, 20 Britische Pfund
ISBN: 978-0-300-21452-9

2016gleasonaRalph Gleason gehört zu den Legenden der amerikanischen Jazzkritik. Früh entdeckte er, dass die neuen Medien, also Rundfunk und Fernsehen, zu mehr taugten als die Musik “nur” zu spielen. In der inzwischen auf DVD wiederveröffentlichten Fernsehserie “Jazz Casual” bittet er die Musiker zwischendrin zum Gespräch, um mit ihnen über ihre Erfahrungen, aber auch die Besonderheit ihres eigenen Stils zu sprechen. In diesem Buch versammelt Ted Gioia aus dem Nachlass Gleasons vierzehn Interviews, die dieser in erster Linie aus persönlichem Interesse führte, die meisten in seinem Haus in Berkeley bei San Francisco. Alle Interviews stammen aus den Jahren 1959 bis 1961, einer Zeit also, in welcher der Jazz sich im Wandel befand. Gioia versieht jedes der Interviews mit einer kurzen Einleitung, die das folgende Gespräch kontextualisiert.

Und dann folgen mal bekannte, mal neue, mal wichtige, mal nebensächliche Informationen. John Coltrane etwa erzählt, dass er seinen Sound auf dem Altsaxophon überhaupt nicht möge und wie er dazu kam, “My Favorite Things” aufzunehmen. Quincy Jones fragt sich, warum eine Bigband auf Platte nicht so klingt wie eine Bigband live und zeigt sein frühes Bewusstsein dafür, was sich auf dem Markt verkauft und was nicht. Dizzy Gillespie erzählt von seinen Anfängen im Jazz und dass er versuche, möglichst an nichts zu denken, wenn er spiele.

John Lewis spricht über seine Einflüsse und die Genese des Modern Jazz Quartet. Milt Jackson verrät, dass sein aufregendstes Erlebnis die Arbeit mit Dizzy Gillespie und Charlie Parker 1945 gewesen sei. Percy Heath erinnert sich an die Jazzszene in Philadelphia und beschreibt die Jazzbegeisterung in Europa. Connie Kay erinnert sich an seine Zeit mit Lester Young und erklärt, dass die Disziplin im Modern Jazz Quartet ihn in keiner Weise einschränke. Sonny Rollins spricht über Coleman Hawkins und über das tägliche Üben.

Philly Joe Jones verrät, dass er eigentlich lieber mit einer Bigband spiele. Bill Evans nennt Earl Hines als einen wichtigen Einfluss und findet die Publikumsresonanz auf sein Spiel unglaublich wichtig. Horace Silver erklärt seine Herangehensweise an eine Komposition und erklärt, dass eine akute Sehnenscheidenentzündung ihm eine Weile zu schaffen gemacht habe. Les McCann windet sich um eine Beschreibung für seine Art von Musik herum und findet das Wort “Soul” sei etwas zu überfrachtet.

Jon Hendricks erzählt, dass Art Tatum nur fünf Häuser von seinem Elternhaus entfernt wohnte und über seinen Ansatz beim Vocalese. Und Duke Ellington findet im einzigen Interview, das nicht bei Gleason zuhause, sondern vor den Kameras von “Jazz Casual” entstand, dass sich das amerikanische Publikum ziemlich weit entwickelt habe, was ihm Dinge ermögliche, die er 20 Jahre zuvor nicht erfolgreich hätte aufführen können

Die meisten dieser Interviews sind Erstveröffentlichungen, und auf jeden Fall lesenswert. Gleason war einer der einfühlsamsten und kenntnisreichsten Journalisten seiner Zeit, und man merkt, dass seine Interviewpartner sich bei ihm in ihrem ästhetischen Anspruch an ihre Kunst ernst genommen fühlten.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


American Jazz Heroes, Volume 2. Besuche bei 50 Jazz-Legenden
von Arne Reimer
Köln 2016 (Jazz Thing Verlag)
240 Seiten, 55 Euro
ISBN: 978-3-9815858-1-0

2016reimerDer vor drei Jahren erschienene erste Band von “American Jazz Heroes” war bereits ein großer Wurf: Einer der renommiertesten deutschen Jazzfotografen fährt zu Musikerlegenden in die USA, um sie in ihrem heimischen Umfeld abzulichten und zu interviewen. Die begeisterten Rezensionen animierten Arne Reimer dazu, ein zweites Buch nachzuschieben. Wieder machte er sich auf in die USA, reiste von der Ost- bis zur Westküste, vom hohen Norden bis in den tiefen Süden und bringt seinen Lesern eine Sammlung der wohl menschlichsten Einblicke in die Welt all dieser Jazzlegenden mit, wie sie in der Jazzliteratur so bislang nirgends zu finden ist. Die Portraits der Musiker in ihrer vertrauten Umgebung stehen im Vordergrund, daneben aber gibt es reichlich atmosphärische Eindrücke, von Haus oder Wohnung, von Musikecken, Plattensammlungen, von Menschen, für die Musik zwar im Mittelpunkt ihres Wirkens steht, die darüber hinaus aber ein Leben wie jeder andere führen, die in ihrer Karriere mal mehr, mal weniger erfolgreich waren, sich ganz unterschiedliche Lebensstandards erarbeiten konnten, die mal optimistisch, mal frustriert auf die komplexe Gegenwart reagieren.

Da erwähnt etwa Eddie Henderson, dass er einst einer der besten Eiskunstläufer im Land und später als Arzt gearbeitet habe. Sonny Rollins betont die politische Bedeutung seines Irokesenschnitts, mit dem er auf das Schicksal der amerikanischen Ureinwohner aufmerksam machen wollte. Charles Lloyd macht klar, dass er eigentlich nicht gern rede, weil er mit seiner Musik alles doch so viel besser sagen könne, um dann zu erzählen, wie sehr die Kompromisslosigkeit Ornette Colemans ihn ermutigt habe. Auch Al Foster gibt sich erst wortkarg, um dann angeregt zu berichten, wie Miles Davis ihm Selbstvertrauen geschenkt habe. Ahmad Jamal lässt sich ungern ohne Sonnenbrille fotografieren, weil er auf einem Auge schielt. Man spürt gleichsam, wie er im langen Gespräch nach und nach Vertrauen zum Fotografen gewinnt, dem er am Ende einen seiner Pullover bringt, weil es draußen kalt geworden ist.

Es sind solche menschlichen Momente, die sich durch alle der Interviews ziehen. Freddie Redds Bescheidenheit meint man in den Portraits förmlich zu sehen. Horace Parlan lebt in einem Pflegeheim und erzählt, dass seine Entscheidung, nach Dänemark zu ziehen, vielleicht sein Leben gerettet habe. In Paris trifft Reimer auf Sunny Murray, der das französische Sozialsystem lobt, das ihm wenigstens die Miete, Krankenversicherung und kostenfreie Medikamente zahlt. Auch Kirk Lightsey erzählt von den Vorzügen in Paris zu leben. Billy Cobham holt Arne Reimer am Bahnhof in Bern ab und fährt mit ihm aufs Dorf, wo er im Keller eines Holzfabrikanten zwei Lagerräume für seine Schlagzeuge angemietet hat.

In Philadelphia trifft Arne Reiner auf Odean Pope, der einen persönlichen Sound jeder technischen Meisterschaft vorzieht. Mickey Roker erzählt von der Eifersucht zwischen Stanley Turrentine und Shirley Scott. Und Marshall Allen bittet den Fotografen in sein Haus, das wie ein Museum wirkt, und in dem auch Sun Ra in den 1970er Jahre lebte, um ihm dann seine Philosophie zu erklären: “Wenn du eine bessere Welt willst, musst du bessere Musik spielen. So einfach ist das!”

Zurück in New York betont Amina Claudine Myers die Vielseitigkeit des Blues. Muhal Richard Abrams erklärt die Idee hinter der von ihm mit-gegründeten AACM. Roscoe Mitchell verrät, dass er während seiner Army-Zeit Unterricht bei einem Klarinettisten der Heidelberger Symphoniker nahm. Oliver Lake betont die Bedeutung von Musikernetzwerken wie der Black Artist Group.

Hubert Laws wohnt in einem Haus mit Swimmingpool und Tennisplatz in Hollywood und lädt Reimer zu einem Hauskonzert mit Freunden ein. Bobby Hutcherson erinnert sich, wie Marilyn Monroe einmal in den Club in L.A. kam, in dem er gerade spielte. Ernie Watts erklärt wieso er 1981 mit den Rolling Stones auftrat. Billy Harper telefoniert erst einmal mit seinem Anwalt, weil er sich mit seiner Ex-Frau um ein Apartment streitet, und erzählt dann, dass er dabei war, als Lee Morgan von seiner Frau erschossen wurde. Kenny Barron ist sich sicher, dass er von Saxophonisten genauso stark beeinflusst worden sei wie von Pianisten. Kenny Burrell verrät das Geheimnis hinter dem Sound der Blue-Note-Produktionen. Roy Haynes hat zwar sein Kurzzeitgedächtnis verloren, weiß aber, dass er “old school with a hip attitude” ist.

Curtis Fuller trifft Reimer im Altenheim, Ben Riley gar in einem Zimmer im Pflegeheim, das er sich mit einem Zimmergenossen teilt. Die Bilder eines eingeschweißten Käsebrots und einer Nährlösungsdose mit Strohhalm sprechen Bände. Mike Mainieri erzählt von seiner Krebserkrankung seiner Frau, und Billy Hart bittet Reimer erst einmal, ihm mit den Augentropfen zu helfen. Die Fotos von Les McCann, der nach einem Schlaganfall vor drei Jahren nicht mehr laufen kann und sich auf seinem Bett ablichten lässt, wirken voyeuristisch, würde der Pianist nicht selbstbewusst in die Kamera lächeln. Noch verstörender sind die Fotos von Charli Persip. Da gibt es ein Bild, das Armut und Trostlosigkeit ausstrahlt wie wenige sonst in diesem Buch. Der Schlagzeuger sitzt, nur mit kurzer Hose und Sandalen bekleidet, auf einem kaputten Drehstuhl, der Teppichboden unter seinen Füßen übersäht mit Dreck. “Wenn ich mir meinen Kontostand ansehe”, zitiert Reimer ihn, “fühle ich mich nicht wie eine Legende.”

Bunky Green holt den Fotografen am Flughafen von Jacksonville ab. Jack DeJohnette kommt mit seinem weißen Audi A5. Sonny Simmons erzählt von den Problemen, die seine Ehe mit der weißen Trompeterin Barbara Donald mit sich brachten. Steve Swallow und Carla Bley verraten das Geheimnis einer erfolgreichen Musikerbeziehung – “Wir komponieren nie zusammen, aber wir sprechen drüber” – und geben Reimer eine Tüte mit selbstgezüchteten Tomaten mit auf die Rückreise im Bus. Junior Mance beschwört, wie wichtig es sei, in seiner Musik auch für aktuelle Einflüsse offen zu bleiben. Randy Brecker erzählt über die nie enden wollende Suche nach dem perfekten Mundstück. Archie Shepp erklärt die Tradition eleganter Kleidung im amerikanischen Musikgeschäft. Jon Hendricks erinnert sich, wie Charlie Parker ihn ermutigte Jazzsänger zu werden. Lee Konitz berichtet von der Herausforderung auch vielfach gespielte Stücke neu klingen zu lassen. Gary Burton erzählt von seinem Coming-Out als Schwuler. James Blood Ulmer erinnert sich daran, wie es war, mit Ornette Coleman zu spielen. Diesen, also Ornette Coleman selbst, besuchte Reimer gleich mehrere Male, und sein Artikel über ihn liest sich wie ein warmer Nachruf auf einen entfernten und doch sehr nahen Freund.

Dr. Lonnie Smith lädt Arne Reimer ein, im Gästezimmer zu übernachten. George Coleman sieht während des Interviews aus den Augenwinkeln ein Baseball-Spiel im Fernseher. Gunther Schuller erlaubt Reimer ausdrücklich zu fotografieren, was immer er wolle: “Hier gibt es keine Geheimnisse”. Bob Dorough nimmt den Fotografen mit in sein Anwesen in Mount Bethel in Pennsylvania. Richard Davis lebt, mit Gehhilfe und Treppenlift, in Madison, Wisconsin. Roy Ayers freut sich, dass HipHop-Musiker Samples seiner Musik benutzen, weil das ein bisschen Geld in die Kasse bringe. Eugene Wright schließlich erinnert sich an Buddy DeFranco und Dave Brubeck und freut sich über Reimers Besuch, da sonst nur selten jemand vorbeischaut.

Kein Vorwort des Fotografen und Autors, ganz hinten eine kurze Biographie. Tatsächlich aber ist Arne Reimer in diesen Portraits in jeder Zeile präsent, weil er es ist, der die Musiker besucht, und weil die Geschichten von der Begegnung zwischen ihm und seinen Gastgebern leben. Man ahnt, dass die Reisen großer Vorbereitung bedurften, und in seinen Berichten über die Hausbesuche erfährt man weit mehr als in üblichen Musikerinterviews. Arne Reimer gelingt es sowohl fotografisch wie auch sprachlich, die Atmosphäre seiner Verabredungen mit den Jazzlegenden rüberzubringen. Er beschreibt, mal in Worten, mal in Bildern, wie freundlich, wie verschlossen, wie fröhlich oder wie einsam die meist älteren Herren sind (mit Amina Claudine Myers und Carla Bley sind tatsächlich nur zwei Frauen unter den Gesprächspartnern). Und fast nebenbei erfährt Reimer dabei mehr über Jazzgeschichte, als man gemeinhin liest.

Das ist vielleicht der besondere Wert dieses Buchs: Arne Reimer hat das Auge eines guten Fotografen und die Geduld, sich auf sein Gegenüber einzulassen. Er lässt seine Gesprächspartner erzählen, holt sie bei den Themen an, die ihnen wichtig sind, sei es ihre Jugend, seien es Begegnungen mit großen Kollegen, seien es die Beschwernisse des Alltags, Medizin und Augentropfen einbegriffen. Es gelingt ihm dabei auf tief berührende Weile, der Seele dieser Musiker nahe zu kommen. Er erzählt die wahre Geschichte der Menschen hinter der Musik, eine Geschichte, die von ästhetischen Selbstzweifeln genauso handelt wie von der Notwendigkeit zu überleben.

“American Jazz Heroes, Vol. 2” ist damit weit mehr als ein gutes Fotobuch mit atmosphärischen Beschreibungen. In seinen Texten genauso wie in seinen Bildern erzählt Arne Reimer von genau dem, was im Jazz am wichtigsten ist: von der Individualität, von der Konsequenz des Musikmachens, aber auch vom Alltag alternder Künstler im Amerika des 21sten Jahrhunderts. Absolut empfehlenswert!

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Saxofone. Ein Kompendium
von Uwe Ladwig
4. Auflage, Wahlwies 2016(Buchwerft)
292 Seiten, 74 Euro
Zu bestellen über www.ladwig-oldtime-saxophone.de

2016ladwigUwe Ladwig hat die 4. Auflage seines Saxophon-Kompendiums veröffentlicht. Im Vergleich zur ersten Auflage wurden alle Artikel überarbeitet und zum Teil neu angeordnet. Insbesondere die Geschichte einzelner Saxophonbauer wurde ergänzt; neu sind zusätzliche Kapitel zum Saxophonbau in Rumänien und den Niederlanden. Außerdem enthält die neue Auflage eine CD mit Klangbeispielen vom Sopranino bis zum Subkontrabasssaxophon, vom Couenophone in C und dem Slide-Saxophon.

Ansonsten gilt die Empfehlung, die wir im Juli 2012 für die erste Ausgabe des Kompendiums machten:

Alles, aber auch wirklich alles, was man über das Saxophon wissen will, kann man aus Uwe Ladwigs umfangreichen, sehr schön gestalteten und mit über 350 [in der neuen Auflage über 460] teils farbigen Fotos reich bebilderten Buch erfahren. Anders als in Ralf Dombrowskis „Portrait Saxofon“ geht es dem Autor dabei allerdings nicht um die Interpreten, die hier nur eine kleine Nebenrolle spielen, sondern einzig um das Instrument selbst, in allen üblichen und unüblichen Bauarten und Varianten, vom Sopran- bis zum Basssaxophon.

Ladwig beginnt – wie sollte es anders sein – mit Adolphe Sax, der das Instrument 1846 zum Patent einreichte (bereits vier Jahre zuvor hatte Hector Berlioz das Instrument in einem Zeitungsartikel erwähnt). Neben der Skizze zum Patentantrag und einer Diskussion zu Bohrungsvarianten finden sich detaillierte Ansichten eines frühen Instruments und Instrumentenkoffers.

Der Hauptteil des Buchs dekliniert dann die verschiedenen Hersteller durch. Ladwig beginnt in den USA mit Conn, Buescher, Martin etc. und benennt genauso ausführlich Firmen aus Europa, Asien und Südamerika. Neben kurzen Firmengeschichten klassifiziert er dabei die produzierten Instrumente und liefert zugleich einen Seriennummernkatalog, anhand dessen sich Instrumente datieren lassen. Neben den großen Firmen finden sich kleine, neben alteingesessenen neue Hersteller, jeweils mit detaillierten Beschreibungen und, wo immer möglich, Abbildungen.

Ladwig diskutiert Erfindungen und zusätzliche Patente zu Klappen oder Klappenverbindungen, zeigt Fabrikräume etwa der Firma Keilwerth, aber auch viele aussagekräftige Werbeseiten der Hersteller über die Jahrzehnte. In einem Appendix werden Sonderformen des Saxophons besprochen, etwa Kunststoffinstrumente (man denke an Charlie Parkers Massey-Hall-Konzert oder an Ornette Colemans Auftritte – beide spielten übrigens ein Instrument der Firma Grafton) und Saxophone aus Holz. Ladwig listet sogenannte „Stencils“ auf, also Produktionen einer eingesessenen Firma für andere, oft kleinere Hersteller, und er beschreibt Werkzeuge und übliche Arbeitsvorgänge in der Saxophonwerkstatt, von der Instrumenten-Instandhaltung bis zur Koffer-Restaurierung. Zum Schluss gibt er noch Tipps zur Mikrophonierung von Saxophonen.

Ein ausführliches Register beschließt das Buch, das ohne Übertreibung als ein Standardbuch für Saxophonsammler und -bauer beschrieben werden kann. Neben all dem Wissen, das Ladwig in die Seiten packt, liest man sich dabei immer wieder an kuriosen Aspekten von Firmen- oder Baugeschichten fest.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Sweet Home Chicago | Calendar 2016
Rare Vintage Photographs by Martin Feldmann
Attendorn 2016 (Pixelbolide)
15,95 Euro
zu bestellen über www.blueskalender.de

2016feldmannIn den 1980er Jahren war Martin Feldmann immer wieder in den USA unterwegs. seit einigen Jahren stellt er aus den Blues-Erkundungen seiner Reisen Fotokalender zusammen, die den Blues als eine Musik des schwarzen Amerikas dokumentieren. Der vierte Kalender dieser Art zeigt für 2016 zwölf Fotos von der Maxwell Street sowie vor Blues-Clubs in der South und der West Side Chicagos. der exzentrische Tänzer und Sänger Muck Muck Man ist dabei, J.B. Hutto, Andrew Odom , Jimmy Davis, Little Pat Rushing, John Hendry Davis Jr. sowie weitere, unbekannte Musiker und wichtige Sites der so bedeutenden Chicagoer Bluesszene.

(Wolfram Knauer, Dezember 2015)


 

 

Ausstellungen

Foto: Manfred Hörr (Manfred Rinderspacher)

Anstehende Ausstellungen – Upcoming Exhibitions

“JAZZ-LIFE”
Die Plakate einer legendären Konzertreihe in Weinheim und Hemsbach

Künstlergespräch mit Manfred Magin am 12.01.2024 ab 18:30 Uhr in der Galerie des Jazzinstitut Darmstadt

Die Konzertreihe JAZZ-LIFE, ins Leben gerufen vom Hemsbacher Elektromeister Manfred “Herres” Hörr, hatte kein geringeres Ziel, als die größten Musikerinnen und Musiker des Jazz auf die Bergstraße zu holen. Mal auf der Wachenburg in Weinheim, in Kellerclubs oder der örtlichen Sporthalle, immer zeichneten sich die Veranstaltungen durch eine persönliche Atmosphäre aus und das machte sie einzigartig. Manfred Hörr stellte als Impresario diese Intimität her, indem er Freundschaften zu den Musiker*innen aufbaute, für sie kochte und sie in die Region einband.

Neben Hörr prägte der Grafik-Designer Manfred Magin JAZZ-LIFE mit seinen Plakatentwürfen in rot und schwarz auf weiß. Mit seinen Plakaten rückt er die Musiker*innen schemenhaft in den Vorder-grund. Die rote Typografie springt einem sofort ins Auge. Eines sollte klar sein: Hier handelt es sich um ein “Herres-Konzert” und das verspricht feinste Jazzqualität.

Manfred Magin schenkte dem Jazzinstitut Darmstadt im Jahr 2022 die JAZZ-LIFE-Plakate. Sie bilden den Mittelpunkt der Ausstellung und werden mit Berichten von Zeitzeug*innen, Fotografien und Pressematerial rund um die Konzerte wiederbelebt.

 

 

Laufzeit: 12.01.2024 – 22.03.2024

[:de]Neue Bücher 2015[:en]New Books 2015[:]

[:de]Rencontres du jazz et de la musique contemporaine
herausgegeben von Jean-Michel Court & Ludovic Florin
Toulouse 2015 (Presses Universitaires du Midi)
184 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-2-8107-0374-6

Das vorliegende Buch ist die Dokumentation einer Tagung, die im Oktober 2013 in Toulouse stattfand und sich mit aktuellen Beziehungen zwischen Jazz und Zeitgenössischer (sogenannter “Neuer”) Musik beschäftigte. Im Vorwort stecken die beiden Herausgeber das Feld ab, das irgendwo zwischen Anthony Braxton und IRCAM-Experimenten angesiedelt ist und bei dem oft die Genrebezeichnung, ob “Jazz” oder “Neue Musik”, im Weg steht, da die Musik selbst solche Grenzen inzwischen gern und oft überschreitet.

Die Beiträge selbst sind theoretisch-musikwissenschaftlicher Natur. Im ersten Teil findet Vincenzo Caporaletti, dass die jüngere Entwicklung im Kunstmusikbereich neue wissenschaftliche Ansätze benötigt und stellt sein “principe autiotactile” vor, durch das sich sowohl für komponierte wie auch für improvisierte Musik die performativen Prozesse genauso analysieren ließen wie die ästhetischen Prozesse, die durch die Musik wie auch durch äußere, etwa mediale Einwirkungen mitbestimmt werden. Alexandre Pierrepont nähert sich der Frage, inwieweit die genre-spezifische Einordnung und Wertung von Musik aus den Bereichen europäischer klassischer Musik und des afro-amerikanischen Jazz nicht auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser zu Missverständnissen führt, wenn die Querverbindungen, die ja zwischen den Genres bestehen, oft und gern mit kulturellen Konnotationen versehen werden. Pierre Sauvanet betrachtet, wie das Moment der “Tradition” von Musikern im Jazz, der Neuen Musik und in tatsächlich “traditionellen” Musikrichtungen unterschiedlich behandelt wird.

Im zweiten Teil des Buchs geht es an konkrete Analysen. Pierre Fargeton befasst sich mit Franz Koglmanns langjähriger Auseinandersetzung mit dem Third Stream, der Neuen Musik und anderen Kunstrichtungen. Konkret untersucht er Koglmanns “Join!” eine “Oper” aus dem Jahr 2013 auf diverse Bezüge (1.) zum Jazz und (2.) zur Zeitgenössischen Musik. Martin Guerpin analysiert die Komposition “Unisono” des israelischen Komponisten Ofer Pelz und identifiziert darin insbesondere die Jazzverweise. Wataru Miyakawa untersucht das Werk des japanischen Komponisten Toru Takemitsu, in dem ihn vor allem der Einfluss des Lyrian Chromatic Concept von George Russell interessiert.

Im dritten Teil des Bandes berichtet der Gitarrist Frédéric Maurin darüber, wie er Methoden der Spektralmusik, die in den 1970er Jahren im Kreis der IRCAM in Paris entwickelt wurde, etwa für seine Band Ping Machine nutzbar macht. Cécile Auzolle untersucht das “Wintermärchen” des belgischen Komponisten Philippe Boesmans von 1999 und hat dabei Einflüsse aus dem jazz sowie improvisatorische Passagen im Fokus, die in der Oper vom Ensemble Aka Moon ausgeführt wurden. Henri Fourès hinterfragt die Begriffe Jazz, Zeitgenössische Musik, Komposition, Notation und Improvisation auf ihre Wertigkeit in der Hochschullehre. Zum Schluss berichten die Bassistin Joëlle Léandre, der Saxophonist Douglas Ewart und der Trompeter Mike Mantler über ihre eigenen Erfahrungen im Feld zwischen den Welten von Jazz und Neuer Musik.

“Rencontres du jazz et de la musique contemporaine” wirft ein Schlaglicht auf eine offenbar immer noch wichtige Diskussion in den beiden darin angesprochenen Welten. Der einleitende Überblick listet frühere Beschäftigungen mit dem Thema auf (hier fehlt allerdings der Band “Jazz und Komposition”, der das 2. Darmstädter Jazzforum von 1991 dokumentiert und in dem dieses Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet wurde). Sowohl in den allgemein theoretischen wie auch den konkreter praktischen Kapiteln fehlt ein wenig – aber das ist bei einer Tagung, die das nicht ausdrücklich zum Thema machte, vielleicht auch kaum zu leisten – die grundlegende Diskussion einer anders als aus dem europäischem Wissenschaftsdiskurs entstandenen Reflexion über Musik, eine Perspektive also, die sowohl Jazz wie auch die in europäischer Tradition stehende Neue Musik etwa aus dem Blickwinkel von Community, von Macht, von Geschlechterungleichheit oder ähnlichem betrachtet, sich dabei nicht auf die bestehenden meist europäisch gefärbten und genormten Diskurstraditionen einlässt, sondern mutig nach neuen sucht. Das von George Lewis und Benjamin Piekut 2016 herausgegebene Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies geht da einen anderen Weg, braucht, um das Thema abzudecken allerdings auch über 1000 Seiten.

Wolfram Knauer (März 2018)


Bunk Monk & Funk – and other attractions
von Anders Stefansen (& Jan Søttrup)
Kopenhagen 2012 (People’s Press)
248 Seiten, 249 Dänische Kronen
ISBN: 978-8771-37035-5

Anders Stefansen ist ein bisschen der Fritz Rau Dänemarks: ein Konzertveranstalter, der eher zufällig ins Geschäft kam, in den frühen 1960er Jahren für Norman Granz dessen Skandinavien-Tourneen organisierte (so wie dies Lippmann + Rau in Deutschland taten), später auch populärere Acts betreute, von den Beatles bis zu den Rolling Stones. In seiner Autobiographie erinnert sich Stefansen an die vielen Freundschaften zu Musikern, die er in seinem Berufsleben schließen konnte, an das Tourleben, an Probleme und ihre jeweilige Lösung, und an Begegnungen wie die mit John Coltrane, Andrés Segovia, Count Basie, Duke Ellington, Ben Webster, Cecil Taylor und vielen anderen. Er beleuchtet die Realitäten des Business, schwelgt aber vor allem in Erinnerungen. Wenn es dabei auch mehr um die Menschen geht als um die Musik, so ist die Lektüre seines Buchs dennoch erhellend nicht nur für diejenigen, die von seiner Arbeit als Konzertveranstalter profitierten, etwa weil sie selbst im Publikum saßen. Seine Anekdoten beleuchtet zugleich eine ungewöhnliche Karriere zwischen Musik und guter Küche (Stefansen eröffnete eines der ersten French Cuisine Restaurants in Dänemark). Und seine Anekdoten über Henry Miller, den er traf, als er den Film “Ruhige Tage in Clichy” produzierte, sind besondere Zugaben der Lektüre.

Wolfram Knauer (Januar 2018)


Fashion and Jazz. Dress, Identity and Subcultural Improvisation
von Alphonso D. McClendon
London 2015 (Bloomsbury Academic)
194 Seiten, 24,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-85785-127-7

Von den Banduniformen der Swingorchester über die Gardenie im Haar von Billie Holiday bis zu Wynton Marsalis’ in Brooks Brothers-Anzüge gekleidetes Lincoln Center Jazz Orchestra: Jazzmusiker waren immer auch Mode-Ikonen. Miles Davis mag diese Facette seines Bühnenlebens am stärksten ausgelebt haben, doch findet sich das Bewusstsein für die Bühnengarderobe durch die Jazzgeschichte. Als Art Blakey seiner Band in den 1970er Jahren für eine Weile erlaubte, in Straßenklamotten aufzutreten, war das eine Ausnahme. Er wie andere Musiker wussten, dass sie als afro-amerikanische Künstler Vorbildfunktion hatten.

Alphonso D. McClendon ist Modeforscher und hat sich in seinem Buch “Fashion and Jazz” dem Subtext der Musikergarderobe durch die Jazzgeschichte angenommen. Ihm ist wichtig, auf die gegenseitigen Einflüsse zwischen Jazz und Mode hinzuweisen, wie er gleich im ersten Kapitel deutlich macht, in dem er Parallelen und Einflusswege nennt, dass nämlich sowohl Mode wie auch Jazz auf ihre jeweilige Art und Weise vom Freiheit des Ausdrucks handeln. Es habe im Jazz durchaus eine “Sprache der Kleidung” gegeben, sagt er – will heißen: die Bühnenpräsentation hatte immer auch etwas zu bedeuten, und Kleidung habe zur visuellen Ästhetik von Jazzmusikern beigetragen, ob in der Performance auf der Bühne oder in Abbildungen.

Im zweiten Kapitel geht McClendon das Thema dann chronologisch an. Er beschreibt die Mode der Ragtime-Ära und der Bluesmusiker, die Bühnenkostüme von Swing-Musikern und die Selbstdarstellung der Bebopper, die zugleich “die Konstruktion eines subkulturellen Stils” gewesen sei, und stellt schließlich fest, das sowohl Mode wie auch Jazz ähnliche Perioden von Konformität (1900-1920), populärem Einfluss (1920-1940) und Widerstand (1940-1960) durchgemacht hätten.

Kapitel 3 diskutiert Momente “der Moderne” bzw. “des Modernen” und die Kommunikation beider durch Mode und Spielpraktiken im Jazz. Im vierten Kapitel beschreibt McClendon Strategien der Distinktion durch Jazz und Mode, um sich im fünften Kapitel etwa auf die Darstellung von Frauen und Männern in frühen Sheet-Music-Covers zu konzentrieren. Kapitel 6 diskutiert subversive Konnotationen, die sich etwa in Texten von Bluessängerinnen finden oder im Eingang von Jazzthemen in die Literatur oder den Film. Kapitel 7 ist überschrieben “Narcotics and Jazz: A Fashionable Addiction” und beschreibt unter anderem, wie elegante Kleidung auch helfen konnte ein Leben im Schatten der Drogensucht zu verschleiern. Kapitel 8 fokussiert auf Billie Holiday als Musik- wie Mode-Ikone; Kapitel 9 beschreibt Duke Ellington und Benny Carter als “traditionellen Dandy” sowie Dizzy Gillespie und Gerry Mulligan als “modernen Dandy” und blickt kurz darauf, wie amerikanische Präsidenten wie Bill Clinton und Barack Obama ihre Nähe zum Jazz als Imagefaktor ausnutzten.

McClendons Buch reicht leider nur bis ins Jahr 1960 und verpasst damit die politische Garderobe von Dashikis, schwarzen Lederjacken oder soul-beeinflusster Hipstermode der 1960er und 1970er Jahre, thematisiert also auch nicht die Rückkehr zur ordentlichen Garderobe mit Aufkommen der Young Lions der 1980er Jahre. Er thematisiert damit weder die modetechnische Annäherung zwischen den Genres, etwa in Richtung Rock oder auch Neue Musik, noch die Unterschiede etwa in im Modeverhalten amerikanischer und europäischer Musiker. Doch gelingt ihm in diesem eigentlich auf der Hand liegenden und doch so ganz anderen Blick auf Jazzgeschichte eine Perspektive, die Aufschluss über Imagebildung, Selbstverständnis der Künstler und die gegenseitige Beeinflussung von Image und künstlerischem Anspruch erlaubt. Etliche Bilder, eine ausführliche Bibliographie und ein Namensindex schließen das Buch ab.

Wolfram Knauer (August 2017)


Sales Rectangles. Daunik Lazro. Vieux Carré
von Guillaume Belhomme
Nantes 2015 (Lenka Lente)
44 Seiten, 1 Mini-CD, 9 Euro
ISBN: 978-2-9545845-9-1

Am 21. Mai 2011 spielte der Saxophonist Daunik Lazro ein inspiriertes unbegleitetes Solokonzert in einen Buchladen in Rouen. Guillaume Belhomme versucht die Stimmung des Konzerts einzufangen, indem er eines der Stücke Lazros, eine lange Improvisation über Joe McPhees “Vieux Carré” mit kurzen Blicken in die Bücher, die um ihn herum stehen und liegen, verbindet. Seine knappen, aus jeweils nicht mehr als einem Satz bestehenden Kommentare lassen sich den diesen Büchern allerdings erst zuweisen, wenn man sie anhand der im Büchlein abgedruckten Barcodes (bzw. die diesen beigefügten ISBN-Nummern) sucht. Und tatsächlich gelingt es Belhomme dabei ein wenig, jene Stimmung eines Konzerts im Buchladen einzufangen, bei dem die Konzentration auf die Musik von den Blicken zu und in die Bücher, von der Wahrnehmung der Atmosphäre, von kurzen Reflektionen darüber, was man da aufblättert, während man zugleich zuhört, unterbrochen, aber durchaus auch bereichert wird. Ein ungewöhnliches, durchaus inspirierendes Experiment, das den Leser / Hörer quasi subkutan auf die Komplexität der Wahrnehmung von Musik aufmerksam macht.

Wolfram Knauer (März 2017)


Spirits Rejoice! Jazz and American Religion
von Jason C. Bivins
New York 2015 (Oxford University Press)
369 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-023091-3

Jazz und Spiritualität sind für viele Musiker eine zusammenhängende Einheit. Duke Ellington, John Coltrane, Albert Ayler, Rahsaan Roland Kirk, Yusef Lateef, Anthony Braxton – die Liste der Musiker, für die ihre musikalische immer auch eine spirituelle Suche war, ist lang. Der Religionswissenschaftler und Jazzgitarrist Jason Bivins beleuchtet in seinem Buch dieses Verhältnis zwischen Religion und Musik anhand zahlreicher Beispiele und legt, gerade weil er seine Studien aus der Perspektive eines Religionsforschers und mit dem Wissen eines Jazzers macht, ein wichtiges Buch vor, in dem das Thema weit fundierter angegangen wird als in vielen Biographien der bereits genannten Musiker.

In seinen “ersten Meditationen” zum Thema stellt Bivins fest, dass Jazz genauso wie Religion in ihrer jeweiligen Individualität der Wahrnehmung schwer fassbare Gebilde seien. Er weiß um die ganz unterschiedlichen Ausprägungen des Religiösen oder Spirituellen gerade in der Musik, die irgendwo zwischen Ritual und Weltforschung liegt. Er fragt, wie sich das spirituelle Umfeld, aus dem Musik heraus initiiert oder rezipiert wird, auf die Musik selbst auswirkt. Er befasst sich mit konkreten Traditionen, auf die Jazz sich immer wieder bezog. Er betrachtet Beispiele, in denen mit Jazz amerikanische Geschichte genauso wie religiöse Aspekte derselben dargestellt werden. Er befasst sich mit Jazz in religiös-musikalischer Praxis. Er hinterfragt das Klischee von Jazz als rituelle oder heilende Praxis. Er diskutiert Verweise im Jazz auf Mystizismus, Selbstlosigkeit, die klangliche Verbindung zu einem höheren Wesen. Es untersucht Kosmologien und metaphysische Theorien im Jazz. Er will damit nicht nur Aspekte der Jazzgeschichte durch ihre Verankerung in religiösen Praktiken erklären helfen, sondern zugleich die Religionsgeschichte in den USA seit den 1920er Jahren mithilfe ihres Widerhalls im Jazz beleuchten.

Bivins geht dabei weder chronologisch vor noch versucht er seine Thesen an zentralen Figuren festzumachen, wenn es auch an konkreten Beispielen nicht mangelt in seinem Buch. Natürlich spielt der Einfluss der schwarzen Kirche auf viele afro-amerikanischen Musiker eine wichtige Rolle. Er beschreibt das Zeugnis ablegende (“testifyin'”) Tenorsaxophonspiel Albert Aylers. Er findet Spiritualität in Charles Gayles Bühnen- genauso wie Straßenmusikauftritten. Er fragt nach den Gründen von Jazzmusikern zum Islam, zum Buddhismus, zum Bahá’í, zur Scientology zu konvertieren und ihre Reflektion über die jeweilige religiöse Praxis und ihre Auswirkung auf ihre Musik. Er befasst sich mit den Ausprägungen des “Radical Jewish jazz” und mit der Idee einer imaginären Folklore in den Vereinigten Staaten.

Er beschäftigt sich mit Beispielen, in denen Jazzmusiker bzw. ihre Werke religiöse Geschichte erzählen und verwebt dabei eng religiöse und politische Aussagen, etwa in den Aufnahmen von Charles Mingus, Archie Shepp, Max Roach und Abbey Lincoln. Auch der Saxophonist Fred Ho und sein Einsatz für einen Asian American Jazz kommen zur Sprache sowie Sun Ras Verweise auf weltumspannende Verbindungen, die weit über den Planeten Erde hinausreichen. Er geht auf Ellingtons “Sacred Concerts” ein und widmet eine längere Passage John Carters Komposition “Roots and Folklore”, die, wie er findet, ein würdiger Träger des Pulitzer Preises gewesen wäre, den Wynton Marsalis später für sein Oratorium “Blood On the Fields” erhielt.

Er entdeckt im Bemühen von Musikern seit den 1950er Jahren sich zu organisieren neben den politischen auch spirituelle Gründe, wie er etwa am Beispiel der AACM und der Black Artists Group zeigt. Die von Horace Tapscott gegründete Underground Musicians Association, die Saint John Coltrane African Orthodox Church und Alice Coltranes Ashram sind für ihn konkrete Beispiele, wie Jazz als spirituell-religiöses Ritual gelebt und zelebriert werden kann.

Im zweiten Teil seines Buchs beschäftigt sich Bivins mit den engen Verbindungen zwischen Ritual und Improvisation, nennt Beispiele aus dem Schaffen von Duke Ellington, Mary Lou Williams, Milford Graves, Cecil Taylor, bezieht sich aber auch auf das Feld des afro-kubanischen Jazz, auf Steve Colemans Studien zur Yoruba-Kultur und auf die Musik des Art Ensembles of Chicago.

Ein eigenes Kapitel befasst sich mit Meditation und Mystizismus und verweist dabei auf Musiker wie Steve Lacy, Arthur Blythe, William Parker und Davis S. Ware. Ornette Colemans Harmolodics und George Russells Lydian Chromatic Concept werden von Bivins nicht allein als musiktheoretische Abhandlungen verstanden, sondern als Beispiel für kosmologische und metaphysische Versuche Jazz, Improvisation, ja Musik ganz allgemein zu fassen. In dieses Kapitel gehören auch Anthony Braxtons Tri-Axium-System und Wadada Leo Smith’ Ankhrasmation.

In seinem Schlusskapitel stellt Bivins dann noch einmal klar, dass die Auseinandersetzung mit Jazz oder mit Religion notwendigerweise eine fragmentarische sein muss, dass beide Praktiken ein Versuch sind, sich der Komplexität der Welt zu nähern, unsere eigene Sicht aber immer durch das geprägt ist, was wir bereits “wissen”. Für einige sei Musik wie Religion, weiß er, das aber beinhalte weit mehr als die pure Hingabe. Wie die Religion in amerikanische (und weltweiter) Geschichte, habe auch die Musik subversive Funktionen gehabt, habe Einfluss auf die Wahrnehmung der Realität genommen und diese damit ändern können.

Bivins’ Entscheidung, keine klar strukturierte Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Jazz und verschiedenen Ausprägungen von Spiritualität zu wählen, sondern stattdessen Themen zu identifizieren und von verschiedenen Seiten zu beleuchten, führt dazu, dass man auch als Leser die Vorstellung von Religion, Spiritualität, Ritual weiter fasst. Wo man zu Beginn der Lektüre von der sehr offenen Fassung der Begriffe noch ein wenig irritiert sein mag, da ist man dem Autor am Ende genau dafür dankbar, da er es schafft, auch beim Lesen die schnellen Analogien zu vermeiden. Bivins gelingt es, diesen offenen Geist in seine Leser zu übertragen – für den europäischen Leser dann auch in Richtung all der Themen, die sich hierzulande in die verschieden Kapitel einflechten ließen.

Wolfram Knauer (März 2017)


Omniverse Sun Ra
von Hartmut Geerken & Chris Trent
Wartaweil 2015 (Waitawhile Books / Art Yard)
304 Seiten, 69 Euro
ISBN: 978-0-9933514-0-2

Von 1994 stammt das damals im LP-Schallplattenformat veröffentlichte, von Hartmut Geerken und Bernhard Hefele herausgegebene Buch “Omniverse Sun Ra”. Jetzt erschien eine Neuauflage dieses Werks, das das Universum des Meisters aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben versucht.

Geerken war in den 1960er bis 1980er Jahren Institutsleiter verschiedener Goethe-Institute. Als Perkussionist hat er daneben mit zahlreichen Musikern vor allem aus dem Bereich der improvisierten Musik zusammengearbeitet. In Jazzkreisen ist er dabei insbesondere als Kenner des Oeuvres Sun Ras bekannt und war für Konzerte des Arkestra verantwortlich, etwa 1971 in Kairo, wo er seinerzeit fürs Goethe-Institut wirkte. Sein Buch von 1994 war eine kleine Sensation für die Aufarbeitung des Ra’schen Oeuvres; die Neuauflage ist nicht weniger willkommen.

Was übernommen wurde: Amiri Baraka beginnt das coffeetable-große Buch mit einem einleitenden, sehr persönlichen Text über den Meister. Robert Campbell erzählt die irdische Biographie Herman Blounts von seiner Geburt in Birmingham, Alabama, im Jahr 1914 bis zu seinem Tod im Mai 1993 und ordnet zugleich die verschiedenen Besetzungen und musikalischen Phasen seines Schaffens zu. Sigrid Hauff untersucht die mythologische und spirituelle Welt, die Sun Ra musikalisch genauso wie in Texten oder Interviews heraufzubeschwören versuchte. Chris Cutler ordnet sein musikalisches Schaffen in den größeren Kontext von Jazz und afro-amerikanischer Musikgeschichte ein. Robert Lax versammelt mehr oder weniger unzusammenhängende Gesprächsfetzen, Bonmots und Aphorismen des Pianisten, Komponisten, Bandleaders und spirituellen Philosophen. Salah Ragab berichtet über Konzerte des Arkestra in Ägypten in den Jahren 1983 und 1984. Karlheinz Kessler hinterfragt die Verwendung von Ritualen in den Performances der Band. Gabi Geist schreibt ein Horoskop für jemanden, der immer sagte, dass sein Geburtstag und -ort höchstens irdisch seien, tatsächlich aber seiner Herkunft nicht gerecht würden. Hartmut Geerken schließlich erinnert sich an den Besuch des Arkestra in Ägypten im Dezember 1971. Zwischendrin finden sich zahlreiche Fotos, viele davon von der britischen Fotografin Val Wilmer.

Was neu ist: Ein Text Bernhard Helefes entfällt in der Neuauflage. Den ausführlichen diskographischen Teil des Buchs hat Chris Trent neu geordnet. Wieder gibt es einen umfangreichen Bildteil, der die Plattencovers zeigt.

“Omniverse Sun Ra” war schon in der ersten Ausgabe von 1994 eine labor of love. Die neue Ausgabe hat einen Hardcover-Einband, ein etwas handlicheres Format, einen Block mit Farbfotos der Band, die im früheren Buch nicht enthalten waren. Es verzichtet auf die Tapeologogy, also die Auflistung oft privater Konzertmitschnitte, sowie auf die ausführliche Bibliographie der früheren Ausgabe.

“Omniverse Sun Ra” bleibt bei alledem ein großartiges Buch, das in Wort, Bild und Tonträgerverweisen als hervorragendes Nachschlagewerk über die Welt und Weltsicht Sun Ras genauso zu nutzen ist wie als eine Dokumentation, in der auch “Nachgeborenen” die Bühnenperformance des Arkestra vor Augen geführt wird.

Wolfram Knauer (März 2017)


A City Called Heaven. Chicago and the Birth of Gospel Music
von Robert M. Marovich
Urbana/IL 2015 (University of Illinois Press)
488Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08069-2

Gospelmusik, erklärt Robert Marovich, Rundfunkmoderator, Herausgeber des Journal of Gospel Music und Musikhistoriker, sei die künstlerische Antwort auf die Great Migration gewesen, in der tausende und abertausende Afro-Amerikaner zu Beginn des 20sten Jahrhunderts aus den Südstaaten in den Norden zogen und insbesondere in Städten wie Chicago ein neues Zuhause fanden. Blues, sagte Mahalia Jackson einmal, seien Lieder der Verzweiflung gewesen, Gospel dagegen Lieder der Hoffnung. Das Genre, erklärt Makovich in seinem Buch, das sich auf die Verankerung der Musik im Chicago des 20sten Jahrhunderts fokussiert, sei wie eine soziale Organisation organisiert gewesen, die jeden, egal wie gut er oder sie singen konnte, willkommen geheißen hätte.

In seinem Buch beschreibt Marovich die Entwicklung der Gospelmusik von frühen Hymnen und Camp Meetings über die beschriebene Great Migration und die lebendige Gospelszene von Chicago bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sounds, Rhythmen und der Enthusiasmus dieser Musik Eingang in die Popmusik fanden und schließlich zur Begleitmusik der Bürgerrechtsbewegung wurden. Er greift auf Interviews und selten ausgewertete historische Quellen zurück, um die Einbettung der Musik in die Community zu beschreiben; er entdeckt die Bedeutung von Predigern, deren eindringliche Sermons ab den 1920er Jahren ja sogar auf Schallplatte veröffentlicht wurden; er berichtet von frühen Aufnahmen für das noch junge Radio genauso wie für die aufstrebende Plattenindustrie. Er geht auf weithin bekannte Gospel-Künstler ein, Thomas A. Dorsey etwa oder Mahalia Jackson, genauso aber auch auf weniger, oft nur lokal bekannte Musikerinnen und Musiker. Er weiß um die Hintergründe der Gospeltourneen, die in den 1930er Jahren große Erfolge feierten, und er beschreibt die Entwicklung des Gospelquartetts über die Jahre.

Die Zuwanderung nach Chicago aus dem Süden hielt bis in die 1940er Jahre an und vermittelte der Gospelmusik damit über lange Jahre jene wichtige Funktion des Haltgebens in der Fremde. Radio- und frühe Fernsehshows nahmen sich des Genres an, und immer mehr wurde Gospel auch zu einem kommerziellen Produkt. In seiner Übersicht über die verschiedenen Stränge des Genres kennt Marovich alle Solisten, Bands, Quartette und Chöre und beschreibt sowohl ihre Einbindung in die örtliche kirchliche Gemeinschaft wie auch ihr sehr unterschiedliches Verhältnis zur Plattenindustrie. Mitte der 1950er Jahre fiel der Gospelmusik schließlich eine neue Rolle zu, als Mahalia Jackson zu einer glühenden Vertreterin des Civil Rights Movement und einer engen Verbündeten Dr. Martin Luther Kings wurde.

Die große Zeit des Gospel war mit dem Tode Mahalia Jacksons und Roberta Martins vorbei; und hier endet auch Marovichs Buch, mit einem nur kurzen Ausblick auf die Gegenwart. “A City Called Heaven” ist ungemein detailreich, dadurch stellenweise etwas mühsam zu lesen, aber durch einen umfangreich aufgeschlüsselten Index ein gutes Nachschlagewerk zum Thema. Marovich zeigt anhand der Gospelmusik in Chicago, wie sich sich Genre- und Stadtgeschichtsschreibung miteinander verbinden lassen, weil die Nöte und Zwänge des Lebens in der Großstadt letztlich die Entwicklung einer Musik als spirituelles Gegengewicht befördert haben.

Wolfram Knauer (Januar 2017)


La Nuée. L’AACM: un jeu de société musicale
von Alexandre Pierrepont
Marseille 2015 (Éditions Parenthèses)
443 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-2-86364-669-4

2008 veröffentlichte George E. Lewis sein Buch “A Power Stronger Than Itself. The AACM and American Experimental Music”, das die musikalische und ästhetische Welt der Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago seit den 1960er Jahren aus der Ecke einer “nur” afro-amerikanischen Avantgarde holte und zeigte, wie sehr die darin Aktiven Teil eines generellen und weit über Amerika hinausreichenden künstlerischen Diskurses waren und sind.

Im Vorwort seines Buchs über die AACM schildert Alexandre Pierrepont, wie es dazu kam, dass er sich als Anthropologe entschied, eine Studie zur AACM zu schreiben, wie er mittendrin von Lewis’ Arbeit erfuhr und sofort bereit war, mit seinem eigenen Projekt zurückzustecken. Lewis aber habe ihn zum Weitermachen ermutigt: Sein Buch sei eine Innenansicht, so Lewis, ein so komplexes Thema aber brauche immer mehrere Perspektiven, und Pierreponts Arbeit könne vielleicht eine sinnvolle Außenansicht bieten. Und so ist mit “La Nuée” (“Der Schwarm”) jetzt ein zweites umfangreiches Buch auf dem Markt, das die AACM von den 1960er Jahren bis heute als einen künstlerische Ansatz beschreibt, der weit über die erklingende oder auf Tonträgern dokumentierte Musik hinausreicht, vor allem nämlich in den daran beteiligten Akteuren ein Selbstbewusstsein geschaffen hat, das sie weit über den Kreis des Jazz, der afro-amerikanischen oder sogar der amerikanischen Musik hinaus einordnen lässt.

Pierrepont präsentiert im ersten Kapitel 25 Gründe warum, und Erklärungen wie Afro-Amerikaner in den USA ausgegrenzt oder marginalisiert wurden. Er zeigt, dass Musik gerade in diesem Zusammenhang wichtige soziale Funktionen übernahm. Er schildert die Situation in Chicago und erklärt, wie sich hier ab den 1950er Jahren eine aktive experimentelle Musikszene herausbildete. Im zweiten Kapitel beschreibt er die Idee hinter der AACM, die unterschiedlichen Ensembles und Projekte, die aus dem Kreis der Musiker entstanden, die europäische Erfahrung von Mitgliedern etwa des Art Ensemble of Chicago zwischen den Jahren 1969 und 1974, die Verbindungen zwischen der Chicagoer und der New Yorker Avantgarde-Szene ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre (die viel damit zu tun hatte, dass etliche Chicagoer Musiker inzwischen an die Ostküste umgezogen waren), sowie den Einfluss der AACM und ihres Konzepts auf europäische Improvisations-Kollektive.

Im dritten Kapitel untersucht Pierrepont die AACM als Kooperative und Verein, als Geheimbund und Brüderschaft, als sozio-musikalische Bewegung und Weltschule, beschreibt ihre formale Organisation, aber auch die “respectful anarchy”, die sich aus ihren Verbindungen etwa zum Black Arts Movement und anderen auch politisch aktiven Organisationen ergaben. Dabei sei sie bis heute eine Vereinigung afro-amerikanischer Musiker geblieben. Egal ob in Tongebung, Improvisation oder Komposition sei eines der verbindenden Merkmale der aus der AACM entstandenen Musik zum einen die Betonung von Individualität, zum zweiten aber auch das Einbringen des Subjekts in kollektive Prozesse. Pierrepont beschreibt pädagogische Konzepte, die sich aus den Schulprojekten der Association ergaben, und umreißt musikalische als soziale Verbindungen und die daraus resultierenden Gruppenzugehörigkeits-Prozesse. Im vierten Kapitel beschreibt er die Offenheit der AACM-Mitglieder gegenüber Genre, kompositorischen und improvisatorischen Experimenten, der Verwendung und Aneignung im Jazz bislang eher unüblicher Instrumente, der Weiterentwicklung elektronischer Klang- (und musikalischer Reaktions)möglichkeiten, sowie der Arbeit im Solo- und großorchestralen Kontext. Das Art Ensemble of Chicago warb mit dem Slogan “Ancient to the Future”, und in dieser Haltung, dass die Formung jedweder (künstlerischen) Zukunft sich auf die eigene Interpretation der Vergangenheit beziehe, sieht Pierrepont eines der Geheimnisse hinter der Langlebigkeit der AACM als Organisation. “Ich ziehe die Mythokratie der Demokratie vor”, zitiert er Sun Ra. “Noch vor der Geschichte. Alles vor der Geschichte sind Mythen… Das ist der Ort, an dem die Schwarzen sind. Realität ist gleich Tod, weil alles, was real ist, einen Anfang und ein Ende hat. Die Mythen sprechen vom Unmöglichen, von Unsterblichkeit. Und da alles Mögliche bereits versucht wurde, müssen wir eben das Unmögliche versuchen.”

Alexandre Pierreponts Studie zur AACM bietet eine gelungene Interpretation dessen, wofür die Association for the Advancement of Creative Musicians stand und steht, eine Einordnung ästhetischer wie gesellschaftlicher Vorstellungen und Aktivitäten aus der Gruppe, und den Versuch, das alles in Verbindung zu bringen mit ästhetischen, kritischen, philosophischen und spirituellen Aspekten, die weit über die Arbeit der AACM-Mitglieder hinausgehen. Ihm ist dabei, in Gesprächen mit Musikern, in den Beschreibungen von Konzert- und Aktionssituationen, in der historischen genauso wie der anthropologischen Einordnung all dessen ein kluges Buch gelungen, das die Rolle der AACM im Jazz genauso zu verorten in der Lage ist wie in der aktuellen Musik des 20sten (und letzten Endes auch 21.) Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Jazz Tales from Jazz Legends. Oral Histories from the Fillius Jazz Archive at Hamilton College
Von Monk Rowe (& Romy Britell)
Rochester 2015 (Richard W. Couper Press)
209 Seiten, 20 US-Dollar
ISBN: 978-1-937370-17-6

Das Hamilton College ist eine relativ kleine Hochschule in Clinton, New York. Einer ihrer Absolventen, Milt Fillius Jr., zog nach seinem Diplom ans andere Ende des Landes, nach San Diego, hielt aber Kontakt zu seiner Alma Mater. Er liebte Jazz und er war ein guter Freund des Sängers Joe Williams, der 1988 die erste Ehrendoktorwürde des Hamilton College erhielt. Im Gespräch mit Williams und dem Bassisten Milt Hinton wurde Fillius bewusst, wie viel an Wissen über den Jazz tatsächlich nur in der Erinnerung der Musiker bewahrt und wie wichtig Oral History gerade in diesem Bereich ist. Er etablierte also ein umfassendes Interview-Projekt, für das mittlerweile weit über 300 Künstler/innen in Ton und Bild festgehalten wurden. Die Interviews, von denen viele der Hamilton-Archivar Monk Rowe selbst durchführte, dokumentieren die Welt des Swing genauso wie die des modernen Jazz. Die meisten dieser Erinnerungen sind auf der Website des Hamilton College nachzulesen; eine für die Jazzforschung ungemein hilfreiche Sammlung. Es handelt sich bei den Interviewten nicht unbedingt um die großen Stars der Jazzgeschichte, obwohl etwa mit Lionel Hampton, Nat Adderley, Herbie Hancock, James Moody, Oscar Peterson, Ruth Brown und anderen auch solche vertreten sind. Viele der Musikererinnerungen stammen stattdessen von Sidemen, die über ihre Zeit in den großen Bands berichten, über das Leben “on the road”, über die alltäglichen Probleme eines reisenden Musikers, über Rassismus und vieles mehr

In “Jazz Tales from Jazz Legends” zeigt Monk Rowe, was man aus diesen Interviews so alles lernen kann. Er filtert konkrete Themen heraus, für die er dann die verschiedenen Erfahrungen der Interviewten gegenüberstellt. Das Anfangskapitel widmet sich Joe Williams, dann folgt ein Abschnitt über das Schicksal der Sidemen bei Duke Ellington, Count Basie, Benny Goodman und in anderen Bigbands. Clark Terry erzählt etwa, wie der Duke ihn bei Basie abwarb, erinnert außerdem, was er bei beiden Bandleadern lernte, und Benny Powell weiß zu berichten, dass Basie ihm in den zwölf Jahren in der Band nie förmlich bestätigt habe, dass er engagiert sei. Im Kapitel “Road Travails” erzählen Eddie Bert von seiner Zeit bei Benny Goodman, Sonnie Igoe von einer Tournee mit Woody Herman, Bucky Pizzarelli vom Reisen mit dem Vaugn Monroe Orchestra, Jay McShann vom Problem mit schlechten Klavieren “on the road”, Jimmy Lewis von einem angst-machenden Flug mit der Basie-Band, Kenny Davern vom Stress, die 60 One-Nighters in 90 Tagen erzeugen können, Lanny Morgan darüber, dass die Gage oft von Hotel- und Reisekosten aufgefressen wurde, die die Musiker aus eigener Tasche zahlen mussten. “Arranging the Notes” heißt ein weiteres Kapitel, das sich mit den Ansprüchen an die Arrangeure der Bands befasst. Dick Hyman, Mike Abene, Bill Holman, Derrick Gardner, Ray Conniff, Manny Albam erzählen darin von der Arbeit eines Bandarrangeurs genauso wie von den Anforderungen an andere Arten von Musik, etwa für Hollywood; Lew Soloff erinnert sich an die Arrangements für Blood Sweat & Tears, und Dave Rivello und Maria Schneider geben einen Ausblick darauf, wie die Arbeit eines Arrangeurs im 21sten Jahrhundert funktioniert.

“Inside the Studio” ist ein Kapitel über Aufnahmeerfahrungen überschrieben, in dem sich Doc Cheatham an seine erste Platte mit Ma Raney erinnert, Richard Wyands einen typischen Aufnahmegig aus dem Jahr 1959 beschreibt, Orrin Keepnews erzählt, was Musikern für Aufnahmesitzungen üblicherweise bezahlt wurde, und Dick Hyman und Derek Smith verraten, dass sie sich natürlich auch mit Musik für Fernsehwerbung über Wasser halten mussten. Man müsse nicht alles mögen, was da im Studio produziert werde, erklärt Hyman, man müsse sich aber anstrengen, das, was von einem gefordert werde, möglichst gut zu spielen. Rassismus war für viele der interviewten Musiker ein täglich erlebtes Thema, und im Kapitel “The Color of Jazz” kommt auch dies zur Sprache. Clark Terry und Joe Williams haben genügend eigene Erlebnisse; Sonny Igoe erzählt, wie er auf einer Tournee durch den Süden, bei der er im Bus mit dem Art Tatum Trio mitreiste, als “White Trash” angepöbelt und aufgefordert wurde, er solle den Bus gefälligst verlassen. Louie Bellson und Red Rodney haben ähnliche Erinnerungen, und Frank Foster fasst zusammen, dass der Jazz zwar aus der schwarzen Erfahrung heraus geboren worden sei, dass der Melting Pot Amerika ihn aber schon seit langem zu einer amerikanischen, wenn nicht gar globalen Musik gemacht habe.

Im Kapitel “Thoughts on Improvisation” geben Marian McPartland, Clark Terry, Bill Charlap, Charles McPherson und andere Tipps, wie man sich der Improvisation nähern könne. Ken Peplowski fasst zusammen: “Lern es, dann vergiss es wieder!”, und Randy Sandke reflektiert, was während eines Solos so alles durch seinen Kopf ginge. Schließlich äußern sich Gary Smulyan, Ralph Lalama und Jan Weber über die Möglichkeit und die Chancen “falscher Töne” im Jazz. “Motivation and Inspiration” ist ein Kapitel überschrieben, das Erinnerungen an persönliche Einflüsse beinhaltet. Keter Betts etwas erzählt, dass er als Schlagzeuger begonnen habe und durch Milt Hinton (und reichlich Zufall) zum Bass gekommen sei. John Pizzarelli kam über die Beatles zur Gitarre, Kenny Davern übers Radio bei einer der Pflegefamilien, bei denen er aufwuchs, bis er sechs Jahre alt war, und auch Junior Mance war von Earl Hines begeistert, dem er spätabends heimlich im Radio lauschte. Jon Hendricks berichtet, wie er dazu kam, improvisierte Instrumentalsoli zu textieren. Und Eiji Kitamura erinnert sich, wie eine Platte von Benny Goodman in der Sammlung seines Vaters ihn zur Klarinette brachte. Schließlich gibt es im Schlusskapitel noch ein paar Haltungen zum Phänomen des Swing und zum Missverständnis des Free Jazz sowie Erinnerungen an unglücklich gelaufene Engagements und über die Arbeit mit Legenden.

“Jazz Tales from Jazz Legends” ist also ein vielfältiges Buch, das jede Menge unterschiedlicher Erfahrungen zusammenbringt. Zu Beginn der Lektüre wünscht man sich, die einzelnen Interviews im Zusammenhang zu lesen, aber das ist ja tatsächlich möglich, über die Website des Fillius Jazz Archive am Hamilton College. Und so sollte man Monk Rowes thematische Zusammenstellung als das sehen, was sie ist: ein exzellentes Beispiel, wie sich aus den gesammelten Interviews am Hamilton College Narrative zu den unterschiedlichsten Themengebieten der Jazzgeschichte exzerpieren lassen. Dann lässt sich umso interessanter verfolgen, wie die Interviews sich gegenseitig ergänzen und die unabhängig voneinander Befragten dabei fast miteinander ins Gespräch zu kommen scheinen.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Swingin’ On Central Avenue. African American Jazz in Los Angeles
von Peter Vacher
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
331 Seiten, 55 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8832-6

2015vacherJazzgeschichtsschreibung funktioniert normalerweise so: Louis Armstrong – Charlie Parker – Miles Davis – John Coltrane. Oder so: New Orleans – Chicago – Kansas City – New York. Oder so: Dixieland – Swing – Bebop – Cool Jazz – Hard Bop – Free Jazz – Fusion. Personen, Orte, Epochen… eine Geschichte der großen Männer (!), der lebendigen urbanen Szenen, der alles umwälzenden stilistischen Innovationen. Tatsächlich aber ist dieser Blick auf die Größen, die Zentren, die Stilbegriffe enorm einengend, wenn nicht gar: einfach nur falsch. Neben den großen Stilisten gibt es immer auch diejenigen, deren Kreativität entweder nicht den großen populären Erfolg hatte oder aber nicht lange genug anhielt, oder die sich einfach weniger gut “verkaufen” konnten. Neben den jazzgeschichtsmäßig bekannten Zentren gab es Städte und Landstriche, die musikalisch enorm lebendig waren, viele Musiker hervorbrachten, aber von der Geschichtsschreibung höchstens als potentielle Spielorte, nicht als Brutstätten dieser Musik dargestellt wurden. Und neben den etablierten Stilen gibt es unendlich viele Zwischenstufen, da kaum ein Musiker sich eines Stils “in Reinkultur” bediente”. Ganz davon zu schweigen, dass sich die meisten Jazzgeschichten, ja selbst die meisten Biographien an Aufnahmen entlanghangeln und dabei gern den performativen Aspekt des Jazz vergessen, die Tatsache also, dass die veröffentlichte Platte nur eine Momentaufnahme des kreativen Prozesses ist.

Peter Vacher füllt mit seinem Buch also eine Lücke. Er widmet es einer Szene, die nie so ganz im Mittelpunkt des Jazz stand (Los Angeles), und er fokussiert dabei auf Musiker, die höchstens regionale Stars blieben und kaum nationalen oder gar internationalen Erfolg einfuhren. Vacher ist Außenseiter (Brite); er kam im Laufe des Trad-Jazz-Booms der 1950er Jahre zum Jazz. In den 1980er Jahren arbeitete er mit dem Klarinettisten Joe Darensbourg an dessen Autobiographie, verbrachte währenddessen einige Zeit in Los Angeles und lernte damals Veteranen der schwarzen Musikszene der Westküstenmetropole kennen. Die Interviews, die er mit den sechzehn in diesem Buch dokumentierten Musikern führte, hatten ursprünglich nicht das Ziel einer Buchveröffentlichung, sondern dienten einzig seinem privaten Interesse an ihrer Geschichte. Wenige konnte er ein zweites Mal interviewen, bei anderen fühlte er sich im Nachhinein schlecht vorbereitet. Dennoch geben die Geschichten, die er anhand dieser 16 Musiker erzählt, einen Einblick in eine so ganz andere Musikszene als die an der Ostküste. Die Westküstenmusiker waren flexibel; sie spielten Jazz genauso wie R&B oder Dixieland. Viele von ihnen verdienten sich ihren Lebensunterhalt in den Studios Hollywoods, und viele zog es vielleicht mal für eine Tournee, selten aber für immer fort aus Kalifornien. Und wenn auch diese Szene Jazzgrößen wie Dexter Gordon, Wardell Gray, Teddy Edwards und Charles Mingus hervorbrachte, wenn auch Legenden wie Benny Carter, Red Callender und Buddy Collette von hier aus agierten, so blieb Los Angeles doch ein weitgehend ungeschriebenes Kapitel der US-amerikanischen Jazzgeschichte.

Die von Peter Vacher interviewten Musikern stammen aus der älteren Generation, und dokumentieren die Szene vor allem der 1930er bis 1950er Jahre. Noch weiter zurück geht es in den Erzählungen des Trompeters Andy Blakeney , der von seinen ersten musikalischen Erfahrungen im Chicago der 1920er Jahre berichtet, von seinem Umzug an die Westküste im Jahr 1925, von Reb Spikes, der ein Musikgeschäft in L.A. besaß und außerdem eine gut beschäftigte Band. Er erinnert an viele der Musiker in der Stadt und an Partys bei Orson Welles. Er erzählt aber auch von der Rassentrennung in der Stadt, und von den legendären Gigs, die Louis Armstrong und Duke Ellington Anfang der 1930er Jahre in Sebastian’s Cotton Club hatten, von Tagesjobs in einer Schiffswerft, von Gigs mit Kid Ory und Barney Bigard, und von verschiedenen Comebacks in den 1970er und 1980er Jahren. Beim Pianisten Gid Honoré musste Vacher erst Street Credibility beweisen (dadurch, dass er den Schlagzeuger Wallace Bishop kannte), bevor der sich zu einem Interview bereitfand. Honoré kam 1921 aus New Orleans nach Chicago und erzählt von den vielen Ensembles, mit denen er in den 1920er bis 1940er Jahren dort spielte – oft Bands alter Freunde aus New Orleans. 1948 zog er an die Westküste, wo er mit Kid Ory und Teddy Buckner spielte – seine Erinnerungen an die Szene in L.A. nehmen dabei gerade einmal ein Fünftel seines Kapitels ein. Der Trompeter George Orendorff hatte in den 1920er Jahren King Olivers Creole Jazz Band mit Louis Armstrong in Chicago gehört, kurz bevor er nach L.A. zog. Er erzählt vom Engagement in der Band von Les Hite, in der als Schlagzeuger Lionel Hampton mitwirkte, oder von einem Abend, an dem Fats Waller Bach und Beethoven spielte. 1946 war er im Billy Berg’s Club, als Dizzy Gillespie dort mit Charlie Parker spielte. Orendorff arbeitete schließlich 30 Jahre lang als Postbeamter und trat nur noch selten auf. Jeder in Los Angeles kannte den Schlagzeuger Monk Fay, den Vacher aber erst nach intensiver Suche in einem Seniorenheim fand. Der erzählt von seiner Popularität in Hawaii, von einer Gefängnisstrafe wegen Dealens mit Marihuana und von Gigs in Los Angeles in den 1940er und 1950er Jahren. Der Saxophonist Floyd Turnham erinnert sich an Britt Woodman und an Aufnahmen mit Johnny Otis; die Sängerin Betty Hall Jones weiß noch, wie Nellie Lutcher ihr einen Vertrag bei Capitol Records verschaffte. Der Trompeter Red Mack Morris war in Les Hites Band, als diese Louis Armstrong begleitete und führte später eine Weile einen eigenen Club, in dem er schwarz Alkohol ausschenkte. Der Klarinettist Caughey Roberts erzählt von seinen Lehrern und davon, wie er schließlich selbst unterrichtete, daneben aber auch von einer Reise nach China mit Buck Clayton, über seine Arbeit mit Count Basie und Fats Waller in den 1930er Jahren und über seine Dixieland-Aufnahmen in den 1950ern. Der Pianist Chester Lane war ein großer Fan von Earl Hines, arbeitete lange Zeit um St. Louis, und zog 1957 an die Westküste. Der Trompeter Monte Easter erinnert sich, wie er und Art Farmer Ende der 1940er Jahre in Jay McShanns Band saßen, berichtet über die Probleme der afro-amerikanischen Gewerkschaften und über seinen Broterwerb als Postbediensteter. Der Bassist Billy Hadnott erzählt ausführlich von seinen musikalischen Erlebnissen in Kansas City und hat seine eigene Erinnerung daran, wie Charlie Parker ins Sanatorium von Camarillo kam. Der Trompeter Norm Bowden weiß einiges über Reb Spikes und den Schlagzeuger “Boots” Douglas zu berichten, aber auch über den Club Alabam im berühmten Dunbar Hotel auf der Central Avenue. Der Posaunist John ‘Streamline’ Ewing hatte anfangs gut bezahlte Nebenjobs in den Hollywoodstudios, ging dann auf Anregung eines Musikerkollegen nach Chicago, tourte mit Bands wie denen von Horace Henderson und Earl Hines und spielte ab den 1950er Jahren mit Teddy Buckner in Disneyland. Der Saxophonist Chuck Thomas spielte vor allem in der Küstenregion (bis Las Vegas) und zuletzt ebenfalls mit Teddy Buckner. Der Schlagzeuger Jesse Sailes erinnert sich, wie all die großen Swingbands in den Theatern von Los Angeles auftraten und wie er später Platten mit Percy Mayfield, Ray Charles und B.B. King aufnahm. Der Schlagzeuger Minor Robinson spielte mit Buddy Collette und kannte Charles Mingus, als dieser vielleicht 15, 16 Jahre alt war.

Es sind persönliche Geschichten, von Sidemen-Karrieren und außermusikalischen Lebensentscheidungen. Die Namen wiederholen sich; aus den Erzählungen schält sich dabei eine Szene heraus, die zusammenhielt, auch wenn einzelne der Musiker die Stadt für kürzer oder für länger verließen. Peter Vacher beschreibt zu Beginn eines jeden der Kapitel, wie er den Musikern auf die Spur kam und erklärt einzelne der von den Interviewten mitgeteilten Anekdoten. Nebenbei erzählen diese von der Mobilität des Musikerberufs, von Karrieren, die in New Orleans oder Chicago begannen oder in Kansas City und New York Station machten, deren Protagonisten aber, nachdem sie kalifornische Luft geschnuppert hatten, von dieser nicht mehr loskamen. Es gibt schöne Geschichten über das Zusammentreffen des West-Coast-Größen mit durchreisenden Stars der großen Swingbands; es gibt Insiderberichte über alle möglichen Aspekte des Showbusiness’; es gibt immer wieder den Anruf aus der Ferne, der ihnen einen Job in einer der “name bands” anbietet, den sie entweder für kurze Zeit annehmen oder aber ablehnen. Es gibt Geschichten über Familienplanung und solche über Tagesjobs, mit denen man die Familie ernähren konnte. Central Avenue spielt eine bedeutende Rolle, jene Straße, die in Teilen zu einem kulturellen Zentrum der afro-amerikanischen Community der Stadt wurde.

Peter Vacher hat die Gespräche laufen lassen; sein ursprüngliches Interesse galt der Lebensgeschichte der Musiker, weniger dem Treiben in Los Angeles. Und so nehmen die Erinnerungen an Chicago oder Kansas City oft mehr Raum ein als die aktuelle Lebenswirklichkeit des Ortes, an dem die interviewten Musiker schließlich landeten. Doch wird eine Szene eben nicht nur durch das geprägt, was Musiker in ihr kreieren, sondern auch durch alles, was sie aus ihrer Vergangenheit mitbringen. Von daher ist Vachers Ansatz völlig richtig, die Geschichte der Central Avenue durch die Einflüsse zu erzählen, die hier zusammenkamen.

Beim Lesen wünschte man sich stellenweise entweder einen knappen biographischen Abriss vor oder nach den Kapiteln oder aber das Einstreuen von Jahreszahlen, um die Erinnerungen der Musiker besser einordnen zu können. Wer bei Los Angeles an die Westcoast-Szene denkt, sei gewarnt: alle der von Vacher interviewten Musiker sind vor allem der Swingära zuzuordnen; sie erzählen zum Teil von den jüngeren Musikern, die sie kannten, waren aber nie selbst Mitglied dieser Szene. In seinem Vorwort heb Vacher vor allem drei Interviews hervor, die besonders gut gelungen seien: jene mit Andy Blakeney, Billy Hadnott und Norman Bowden, mit Musikern also, mit denen er mehrfach sprechen und dabei mehr über ihr Leben und musikalisches Wirken lernen konnte. Tatsächlich aber sind auch jene Gespräche lesenswert, die etwas langsamer “auf den Punkt” kommen. “Swingin’ On Central Avenue” gelingt es dabei, Erhebliches zur Kulturgeschichte des afro-amerikanischen Jazz im Los Angeles der 1930er bis 1950er Jahre beizutragen. Das Buch erzählt von künstlerischen Idealen und von der Realität des alltäglichen Musikgeschäfts. Die Entscheidung, die Vacher – sicher mehr der Not gehorchend – getroffen hatte, war genau richtig: Seine Protagonisten sind eben nicht die großen Stars, weil die Szene, die er im Fokus hat, sich in keiner der stilbildenden Städte befand, weil die Community, die er in den Kapiteln seines Buchs abbildet, sich aus vielen sehr disparaten Erfahrungen zusammensetzte. Sein Buch ist auf jeden Fall eine Fundgrube für Jazzhistoriker mit vielen Anekdoten und Erinnerungen, die dieser Rezensent hier zum ersten Mal gelesen hat; zugleich ist es eine abwechslungsreiche Zeitzeugensammlung einer Szene, die bislang nur mäßig dokumentiert ist.

Wolfram Knauer (Juli 2016)


Invitation to Openness. The Jazz & Soul Photography of Les McCann, 1960-1980
herausgegeben von Pat Thomas & Alan Abrahams
Seattle 2015 (Fantagraphics Books)
200 Seiten, 39,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-60699-786-4

2015mccannMusikerfotos – es gibt eine ganze Reihe an Jazzmusikern, deren Hobby auf Tournee das Fotografieren war. Milt Hinton ist der wohl namhafteste unter ihnen, doch jetzt zeigt ein neues Buch, dass auch Les McCann nicht nur gute Ohren, sondern auch ein exzellentes Auge hat. Das nämlich gehört dazu, auf dass das Buch eines fotografierenden Musikers nicht einzig wegen der Vorteile interessant ist, die sich daraus ergeben, dass der Mann hinter der Kamera zugleich auf der Bühne sitzt und von den Objekten seiner Begierde, also anderen Musikern, nicht als Störenfried, sondern als einer der ihren anerkannt wird.

Im Vorwort von “Invitation to Openness” erzählt A. Scott Galloway kurz die biographischen Stationen Les McCanns: geboren in Lexington, Kentucky, über Tuba und Snare-Drum zum Klavier gelangt, zusammen mit Eddie Harris mit “Compared to What” über Nacht einen Welthit geschaffen, der eine Solokarriere bedingte, die bis in jüngste Zeit anhielt. Pat Thomas erzählt die Genese des Buchprojekts: Er hatte gerade eine CD-Wiederveröffentlichung des McCann-Klassikers “Invitation to Openness” organisiert und McCann zu Hause besucht, als er in einer Ecke einen Stapel zerkratzter Abzüge von Fotos entdeckte, die der Pianist in den 1960er und 1970er Jahren gemacht, aber nie veröffentlicht hatte. Im Interview mit Thomas erzählt McCann, dass es in seiner Familie immer Fotoapparate gegeben habe. Er selbst habe sich eine Nikon gekauft und begonnen, auf der Bühne und daneben Menschen abzulichten. Als er sich ein Haus in Hollywood leisten konnte, richtete er sich eine Dunkelkammer ein und begann seine Aufnahmen selbst zu entwickeln.

Das Bemerkenswerteste an den Bildern ist vielleicht die Perspektive. Gerade die Bühnenaufnahmen sind eben nicht von vorn gemacht, aus dem Bühnengraben oder der ersten Reihe, sondern oft von der Seite oder leicht von hinten. Viele Bilder zeigen die Musiker backstage, in Vorbereitung fürs Konzert, in Freizeitklamotten beim Soundcheck. Das entspannte Lächeln Count Basies zeigt die entspannte Vertrautheit. Andere eindrucksvolle Motive sind etwa: Stanley Clarke mit abwartend-konzentrierter Miene (und einer denkwürdigen Frisur); Ben Webster am Flügel; Dexter Gordon und Joe Zawinul vor einem Motel; die junge Tina Turner; das Publikum aus Gefangenen im Cook County Jail; Cannonball Addlerley, der an einer Zigarette zieht, sein Gesicht halb in Rauch gehüllt. Neben Musikern gibt es Bilder von Schauspielern (Jack Lemmon, Bill Cosby, Jerry Lewis), Politikern (Jimmy Carter, Jesse Jackson, Stokely Carmichael, Dr. Martin Luther King), Sportlern (Muhamad Ali, Pelé), sowie einige wenige Bilder, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Doch auch diese Aufnahmen, etwa das eines alten Mannes mit Fahrrad, hätten das Potential zu Plattencovers.

Les McCann gibt zu einzelnen der Bilder Kommentare ab, in denen er Kolleginnen oder Kollegen erinnert. Auch die Identifizierung der Motive basiert auf McCanns Erinnerung, wobei es Motive gibt, zu denen er nicht wirklich mehr weiß, wo oder wann sie gemacht wurden, und zumindest eine falsche Zuschreibung (nein: das ist NICHT Eberhard Weber auf den beiden Fotos mit Sarah Vaughan, sondern Bob Magnusson!). Beim Durchblättern des Bandes kommt einem immer wieder in den Sinn, dass das Leben eines Jazzmusikers eben aus mehr besteht als der Bühnenwirklichkeit. Les McCanns “Invitation to Openness” bietet damit einen lohnenswerten und allemal mit Soul gefüllten Blick hinter die Kulissen sowohl der Musiker, die er darin dokumentiert, als auch seiner eigenen Konzertarbeit.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Bitches Brew
von George Grella Jr.
New York 2015 (Bloomsbury Academic, 33 1/3)
128 Seiten, 14,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-6289-2943-0

D2015grellaie Buchreihe 33 1/3 des Bloomsbury-Verlags behandelt eigentlich Rockgeschichte. Jeder Band ist einem separaten Album gewidmet und wird historisch kontextualisiert. Miles Davis wurde jetzt die Ehre zuteil, als erster Jazzer in die Reihe aufgenommen zu werden, die immerhin schon mehr als 100 Bände umfasst. Sein Album “Bitches Brew” von 1969 schrieb eben nicht nur Jazz-, sondern genauso auch Popgeschichte.

In seinem ersten Kapitel betont George Grella, wie schwer es ist, “Bitches Brew” klar einem Genre zuzuordnen. Miles wollte weder ein klares Jazz- noch ein dezidiertes Rockalbum machen. “Bitches Brew”, meint Grella, sollte man daher am ehesten als experimentelle Musik hören, als Versuch, den überkommenen Normen von sowohl Jazz wie auch von Rock zu entkommen.

Im zweiten Kapitel erklärt Grella die seltsame Sektenhaltung, die Jazzrezeption manchmal annehmen kann und gegen die sich Miles Davis von früh an wehrte. Geht nicht gibt’s nicht, sei sein Motto gewesen, und Popsongs nahm er bereits lange vor “Time After Time” auf. Miles, fasst Grella zusammen, spielte Pop nicht um Popstar zu sein, sondern um Musik zu machen. Er erzählt von der Zeit des Trompeters mit Charlie Parker, vom Capitol-Nonet, das irgendwie die Geburtsstunde des Third Stream wurde, sowie von “Kind of Blue” und “Sketches of Spain”.

In Kapitel 3 erklärt Grella, welch völlig anderen Ansatz Miles an die Produktion eines Albums hatte, bei dem er sich ab 1968, ab dem Album “Circle in the Round”, vorbehielt, die musikalischen Versatzstücke nach Belieben zusammenzuschneiden.

In den Kapiteln 4 und 5 schließlich steht “Bitches Brew” selbst im Mittelpunkt, wenn Grella über Titel und Covergestaltung geflektiert und die einzelnen Titel beschreibt. Das liest sich stellenweise wie eine Sportreportage: wer, wann, was, Tonart, Einsatz, Intensität. Grella verweist auf die oft nicht wahrnehmbare Editiertechnik Teo Maceros und darauf, wie dies nur deshalb möglich war, weil alle Musiker immer deutlich aufeinander hörten. In “Pharoah’s Dance” benennt er eine “hippe Blueslinie bei 4:46” oder eine Coda, die “fast Beethoven’schen Charakter” habe. Im Titeltrack zeigt er auf viele der Nahtstellen, und dann verweist auf die Unterschiede der beiden Platten des Doppelalbums: “eine, um dich wegzublasen, die andere, um deinen Kopf wieder geradezurücken”.

Im letzten Kapitel widmet Grella sich den Nachwirkungen des Albums, in der Kritik genauso wie im Jazz. Mit Verweis auf Wynton Marsalis erklärt er, dass da zwei recht unterschiedliche Sichtweisen der Zukunftfähigkeit von Musik aufeinandergeprallt seien, um dann Miles’ Konzept auf dem kleinsten Nenner zusammenzufassen: “Indem er Rhythmus, Puls und Harmonien – und auf Tonband eingespielte Kompositionen – verwandte, die absichtlich nicht zu einer Auflösung fanden, organisierte Miles Zeit: und sowohl Form wie auch Zeit finden damit in der Musik zusammen”.

Eine kommentierte Diskographie beschließt das Büchlein, das sich wie ein sehr ausführlicher Plattentext mit vielen zusätzliche Informationen liest. Ja, Grella gelingt die Kontextualisierung, und doch kommt er der Musik selbst nur bedingt nahe, auch weil seine analytischen Anmerkungen etwas zu oberflächlich bleiben, weil er quasi nur parallel zur Musik beschreibt, was man eh hört, anstatt zusammenzufassen, was das alles “bedeutet”. Trotz dieser Einschränkung aber ist Grellas Büchlein ein lohnenswerter Begleiter zur nächsten abendlichen Abhörsession dieses Miles Davis-Klassikers.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Jazz Basel. Vier Jahrzehnte Stars und Szene
herausgegeben von Offbeat = Urs Ramseyer & Ruedi Ankli & Peewee Windmüller & Urs Blindenbacher
Basel 2015 (Christoph Merian Verlag)
180 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-85616-695-5

2015offbeatDie Geschichte regionaler Jazzszenen kann man auf unterschiedliche Weise erzählen. Man kann nostalgisch und sehnsuchtsvoll zurückblicken und von alten Zeiten schwärmen. Oder man kann auch Zurückliegendes vor allem aus dem Wissen um die Gegenwart verstehen.

Die Macher des offbeat-Festivals gehen in ihrem Buch über “Jazz Basel” den zweiten Weg. Das opulent bebilderte Buch widmet einzig sein Eingangskapitel (von Bruno Spoerri) den Anfängen des Jazz in Basel von den 1920er bis in die 1970er Jahre. 1974 gründete sich der Verein und die Konzertreihe jazz in basel, 1990 schließlich das Festival offbeat. Das Buch blickt auf die Musiker, die seither auf dem Festival spielten, aus skandinavische Gäste oder gesamtdeutsche Schwerpunkte, auf Jazz aus dem Mittelmeerraum und einen lateinamerikanischen Fokus, auf US-amerikanische Bands und die Schweizer Musiker, die hier auch immer zu hören waren. Es gibt Anekdoten aus dem Alltag von Festivalorganisatoren und Berichte von Backstage. Die Auswirkungen des Festivals in Stadt und Region werden thematisiert, Schulprojekte etwa oder die Präsenz im örtlichen Rundfunk. Und schließlich wird mit Stolz auf die Zusammenarbeit des offbeat Festivals mit dem Jazzcampus Basel und dem Club The Bird’s Eye berichtet.

Das alles ist kurzweilig geschrieben, vordergründig wohl vor allem für regionale Leser interessant, daneben aber genauso ein Bericht über die Verankerung einer regionalen wie internationalen Szene, aus dem auch Veranstalter anderswo etwas lernen können. Und schließlich sind da noch die 86 schwarz-weißen Abbildungen, Fotos von Bernhard Ley, Peewee Windmüller und Röné Bringold, die die Erinnerungen an die Geschichte von offbeat ungemein lebendig werden lassen.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher
von Detlef Siegfried
Göttingen 2015 (Wallstein)
455 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1673-7

2015siegfriedErnest Borneman war eine Mehrfachbegabung, so sehr, dass es genügend Menschen gaben, die dachten, es handele sich wahrscheinlich um mehrere Personen, die nur zufällig denselben Namen hätten. In den 1970er und 1980er Jahren war Borneman ein regelmäßiger Gast in deutschen Talkshows, wann immer es um das Thema Sexualität ging, hatte daneben eine Sex-Beratungskolumne in der Neuen Revue. Als Soziologe hatte er sich mit seinem Buch Das Patriarchat 1975 einen Namen gemacht. Vor seiner Beschäftigung mit Frauenbewegung und Feminismus hatte Borneman eine Karriere im Filmgeschäft gemacht, arbeitete für das National Film Board of Canada, für die UNESCO in Paris und war Programmdirektor des Freien Fernsehens, der ersten privaten Fernsehanstalt, die nach ihrem Verbot durch die Adenauer-Regierung quasi durch das ZDF abgelöst wurde. Und noch früher war Borneman nicht nur Jazzliebhaber und -experte, sondern einer der ersten Jazzforscher, ein Kenner des Jazz, der diese Musik zeitlebens als transkulturelle künstlerische Aussage verstand und 1944 mit seinem Artikelreihe “The Anthroprologist Looks at Jazz” eine der ersten übers Anekdotische hinausreichenden Kulturgeschichten des Jazz verfasste.

Borneman schied im Juni 1995 aus dem Leben. Sein Archiv ist in der Berliner Akademie der Künste untergekommen; jetzt hat der Historiker Detlef Siegfried die Biographie des vielfältigen Forschers vorgelegt. Diese hat er klar nach den verschiedenen Feldern gegliedert, in denen Borneman tätig war, überschrieben “Hören. Die Ethnologie des Jazz”, “Sehen. Das Leben auf der Leinwand” und “Berühren. Sex und Gesellschaft”.

Der 1915 in Berlin geborene Ernst Bornemann – wie er bis zu seiner Emigration 1933 hieß – hatte bereits 1930 Bertolt Brecht kennengelernt, als Mitglieder von Berliner Schulchören zu Proben des Lehrstücks Der Jasager geladen worden waren. Er und Brecht freundeten sich an, Brecht half ihm bei der Abfassung seines ersten Theaterstücks und Borneman Brecht bei einer Neuübersetzung des Dreigroschenromans ins Englische. Siegfried, der zu Beginn seines Buchs anschaulich erklärt, wie er sich durch Bornemans eigene “Autofiktionen”, wie er sie nennt arbeiten musste, durch falsche Fährten also, die Borneman aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten seiner Karriere legte, beschreibt Bornemans Exil als “nicht nur Flucht-, sondern auch Möglichkeitsraum”.

In London war Borneman regelmäßig bei Jazzkonzerten anzutreffen, verkehrte außerdem in einem Kreis linker und schwarzer Intellektueller. Bereits Mitte der 1930er Jahre hatte er einen Kriminalroman geschrieben, arbeitete bald auch an einem Drehbuch für einen möglichen eigenen Film, in dem auch der Jazz eine Rolle spielen sollte. Im Sommer 1940 wurde er als “feindlicher Ausländer” interniert, doch bereits zuvor produzierte er seine erste Rundfunksendung. Nach seiner Internierung wurde er nach Kanada deportiert, wo er nach seiner Entlassung beim National Film Board Arbeit fand.

Er knüpfte Kontakt zu Sammlern und Jazzkennern in den USA und sammelte Material für eine mögliche musikwissenschaftliche Dissertation und ein Buch zum Thema “American Negro Folk Music”, das von zwei Verlagen zur Publikation angenommen, dann aber wegen kriegsbedingten Papiermangels nicht gedruckt wurde. In seinen Jazzarbeiten, für die Borneman sich bei dem bekannten Musikethnologen Melville J. Herskovits um ein Stipendium bemühte, ging es, wie Siegfried zusammenfasst, “um zwei Themen: erstens um die Verbindungen von afroamerikanischer Volksmusik und moderner Tanzmusik der Gegenwart, und zweitens um die Verschränkungen von sozialen Verhältnissen und Populärkultur”. 1944 begann Borneman seine achtteilige Artikelserie “The Anthropologist Looks at Jazz”, die in der Zeitschrift The Record Changer erschien, der er bald auch als Mitherausgeber angehörte. Er schlug sich in der Debatte um den Bebop zwar auf die Seite des “authentischen” Jazz, konnte aber der romantischen Rückwärtsgewandtheit vieler der Traditionalisten wenig abgewinnen und versuchte daher immer wieder zwischen den Lagern zu vermitteln.

Mitte der 1940er Jahre lebte er in Paris, interviewte Louis Armstrongs Band anlässlich des ersten Jazzfestivals in Nizza im Jahr 1948, und freundete sich mit amerikanischen Expatriates und französischen Musikern wie Claude Bolling oder Boris Vian an. Er schrieb für den britischen Melody Maker und produzierte 1953 mit Betty Slow Drag einen experimentellen Kurzfilm, der seine beiden großen Interessen Jazz und Film miteinander verbinden sollte. Für den Melody Maker berichtete Borneman auch über den Jazz in Westdeutschland, konnte aber, selbst als Joachim Ernst Berendt versuchte ihn mit zeitgenössischen Musikrichtungen der 1960er Jahre anzufreunden, indem er ihn in ein Konzert John Coltranes mitnahm, mit dem modernen Jazz wenig anfangen.

Siegfried widmet Bornemans langer Auseinandersetzung mit den karibischen Wurzeln des Jazz ein eigenes Unterkapitel und berichtet davon, wie der spätere Beat Club von Radio Bremen auf Bornemans Ideen zurückzuführen gewesen sei. Er zeigt, dass Borneman in seinen Schriften einige Debatten angestoßen hatte, die in der Jazzkritik erst in den 1960er Jahren wirklich ausgetragen wurden, als er selbst an dieser Diskussion nicht mehr selbst teilnahm. Letzen Endes mag Borneman nicht mit allen seiner Thesen Recht gehabt haben, ohne Zweifel aber sei er ein Wegbereiter der internationalen Jazzforschung gewesen.

Der Jazz spielt auch in den weiteren Lebens- und Arbeitsphasen für Borneman eine wichtige Rolle, und Bornemans kritischer Geist, den Siegfried am Beispiel des Jazz ausgiebig beschrieben hat, lässt sich auch in diesen Bereichen zeigen. Detlef Siegfrieds Buch ist dabei ein faktenreicher Band, der biographische Stationen und Diskurse, an denen Borneman beteiligt war, laufend miteinander verschränkt. Ganz sicher war Borneman einer der schillerndsten Vordenker des Jazz; Siegfrieds Schilderung sowohl seines Lebens als auch der Diskussionen, an denen sich Borneman sein Leben lang beteiligte, zeigt ihn aber darüber hinaus als einen vielseitig gebildeten, einfachen Erklärungen zutiefst skeptisch gegenüberstehenden, zur Offenheit des Denkens neigenden Forscher.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Teddy Wilson. 19 Selected Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2015 (Blue Black Jazz)
44,95 Euro

Boogie Woogie, Volume 2. 17 Original Boogie Woogie and Blues Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2014 (Blue Black Jazz)
46,85 Euro
Zu beziehen über www.blueblackjazz.com

Paul Marcorelles hat bereits eine ganze Reihe an Transkriptionen von Pianisten des frühen Jazz vorgelegt, vorzugsweise von Musikern, die im Stride- oder Boogie-Woogie-Stil spielten. Seine jüngsten Veröffentlichungen widmen sich dem Swing-Stil Teddy Wilsons auf der einen und dem Repertoire einiger der Boogie-Woogie-Größen der frühen 1940er Jahre auf der anderen Seite.

2015marcorelles_wilsonFür Teddy Wilson hat Marcorelles sich Soli zwischen 1934 und 1946 ausgesucht, schnelle virtuose Titel wie “Rosetta”, den “Tiger Rag” oder “When You and I Were Young, Maggie” sowie Balladen wie “Don’t Blame Me”, “Out of Nowhere” oder “Body and Soul”. Seine Transkriptionen sind exakt, gut lesbar, reine Notationen ohne weitere Spielanweisungen oder analysierende Harmoniesymbole. Sie sind zum Nachspielen gedacht, brauchen allerdings Pianisten, die zum einen keine Probleme mit den bei Wilson so beliebten Dezimengängen der linken Hand haben und zum zweiten technisch fortgeschritten sind, um die virtuosen Arpeggien und die die Rhythmik aufbrechenden Läufe tatsächlich zum Swingen zu bringen. Wilsons linke Hand allein kann jedem Pianisten helfen, die antreibende Kraft des Swingens zu begreifen. Auch das Studium seiner Voicings lohnt, deren Alterationen den Akkorden zusätzliche Schwebungen verleihen. Wie immer bei Transkriptionen von eigentlich improvisierten Jazzsoli ist es mehr als hilfreich, sich die Soli auf Platte (oder über Streamingdienste) anzuhören.

2015marcorelles_boogieIm zweiten der beiden jüngst veröffentlichten Bände versammelt Marcorelles Transkriptionen von Hersal Thomas (“Hersal’s Blues”), Clarence ‘Pinetop’ Smith (“Pinetop’s Boogie Woogie”), Jimmy Yancey (etwa den “Five O’Clock Blues”), Pete Ammons (z.B. “Rock It Boogie”), Meade Lux Lewis (“Chicago Flyer” und “Glendale Glide”), Albert Ammons (etwa seinen “Swanee River Boogie”), Sammy Price (133rd Street Boogie”) und Pat Flowers (“Eight Mile Boogie”). Die rhythmischen Verschiebungen zwischen Bassfiguren und rechter Hand im Boogie Woogie sind dabei noch weit schwerer zu “lesen” und bedürfen noch stärker des Höreindrucks, um sie danach vom Papier in die Tasten zu übertragen und erlauben im Idealfall – und das wäre es ja eigentlich immer im Jazz – irgendwann das Loslassen und das eigene Erfinden melodischer und rhythmischer Muster, die eigene Improvisation.

Marcorelles’ neue Bände seien jedenfalls jedem interessierten Pianisten empfohlen als Übe- genauso wie Studienmaterial. Marcorelles bietet auf seiner Website übrigens alle insgesamt 202 Transkriptionen dieser wie früher erschienener Bände auch einzeln zum Download als PDF-Datei an

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Hot Music, Ragmentation, and the Bluing of American Literature
von Steven C. Tracy
Tuscaloosa 2015 (The University of Alabama Press)
537 Seiten, 64,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8173-1865-9

2015tracySteven C. Tracy ist Literaturwissenschaftler, Professor für Afro-American Studies, aber auch ein Blues-Harp-Spieler, der bereits in Vorgruppen für B.B. King, Muddy Waters und andere Stars der Szene auftrat. In seinem umfangreichen Buch stellt er die afro-amerikanische Musik der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, also Jazz und Blues, als Referenzpunkt dar, der helfen könne, die amerikanische Literaturgeschichte jener Zeit besser zu verstehen. Es geht ihm dabei nicht einzig um Romane oder Dichtung, die sich konkret und thematisch mit Musik beschäftigen, sondern auch um den Einfluss von Klanglichkeit, von Virtuosität, von improvisatorischer Haltung auf die amerikanische Literatur der Jahre bis 1930. Er greift hierfür immer wieder zurück auf konkrete Aufnahmen, um etwa Beispiele der afro-amerikanischer Stimme, des afro-amerikanischen Rhythmus, der Griot-Funktion des Bluessängers, der Bedeutung von Wiederholungen, der tiefen Doppeldeutigkeit, der politischen Untertöne herauszustreichen, die eben keine rein afro-amerikanischen Untertöne seien, sondern Befunde für den Zustand der gesamten amerikanischen Gesellschaft. Tracy verbindet die Genres, folkloristischen Blues, modernistischen Jazz, um aus dem Mix der Aufnahmen heraus, auf die er sich bezieht, neue Argumente zu entwickeln, die abseits der üblichen Beschreibung von Jazz-, Blues- oder Kulturgeschichte liegen. Er untersucht daneben auch Film- oder klassische Musikgeschichte nach Einflüssen von oder Analogien zu afro-amerikanischer Musik und findet den nachhaltigsten Widerhall außerhalb der Musik schließlich in der Literatur, bei T.S. Eliot, William Carlos Williams, Hart Crane, Gertrude Stein, Ezra Pount, und bei Abbe Niles, Langston Hughes, Countee Cullen, Zora Neale Hurston und anderen Dichtern und Schriftstellern der Harlem Renaissance.

Tracys schnelle Wechsel zwischen den Diskursen sind dabei sowohl inspirierend wie auch, da sie ein häufiges Vor- und Zurückblättern erfordern, zeitweise ermüdend. Sein intertextueller Ansatz ist auf jeden Fall ein Beispiel, wie sich aus dem Studium afro-amerikanischer Musik Aussagen über weit mehr als diese treffen lassen, wie stark tatsächlich diese Musik bereits in den ersten 30 Jahren des 20sten Jahrhunderts ihren Niederschlag im Denken, Handeln und Schreiben gefunden hat.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Friedel Keim
Das große Buch der Trompete (3)
Diskografie, Fotografien, Statistik, Nachträge
Fortsetzung des Trompeter-Lexikons, Band 3
Mainz 2015 [Eigenverlag
554 Seiten, 33,90 Euro
nur direkt zu beziehen über
Friedel Keim, e-mail: ruf.keim@t-online.de

2015keimDer Ur-Maizer Trompeter Friedel Keim hat nach den ersten beiden Auflagen von 2005 und 2009 nun den dritten Band seiner Trompeterbibel vorgelegt, ein sorgfältig recherchiertes Kompendium, das die verschiedensten Seiten des Instruments und seiner Musiker beleuchtet und dessen Spektrum von Klassik über Jazz bis zur volkstümlichen Musik reicht.

Keim kennt dabei keine Berührungsängste. Er versteht es genauso, sich über die Kunst der Barocktrompete auszulassen wie über die Probleme, die viele Jazzer mit der Ästhetik eines Wynton Marsalis haben. Und neben den großen Stars finden auch die Satzbläser wieder Erwähnung oder Musiker der aktuellen Szene.

Der lexikalische Teil von Band 3 enthält biographische Artikel von A wie “Abbott, Goivinda” bis Z wie “Zonshine, Michael”. Neben diesen teils ausführlichen Portraits gibt es Anmerkungen zur Interpretation von Werken aus Klassik, Marschmusik und anderen Genres, darunter auch analytische Anmerkungen und Notenbeispiele aus dem Jazzbereich, etwa eine Transkription des “West End Blues” in der Version von Louis Armstrong und seiner Hot Five von 1928, Dizzy Gillespies “Night in Tunisia”, oder Maynard Fergusons Version von “Body and Soul”. Korrekturen und Ergänzungen zu den beiden ersten Bänden erhalten ein eigenes Kapitel, und wieder gibt es den Block “Wissenswertes rund um die Trompete”, der etwa Informationen über das “Gansch-Horn” gibt oder über das flexibrass-Mundstück, über die Vuvuzela oder über die Trompete auf historischen Briefmarken, über den Trompetenbaum oder diverse Filme, in denen die Trompete im Mittelpunkt steht. Schließlich findet sich noch ein umfassendes Kapitel zu Horst Fischer, jenem legendären deutschen Trompeter, dessen Prolog zu einer Autobiographie Keim abdruckt, außerdem eine alphabetische Auflistung aller ihm bekannter Fischer-Aufnahmen.

Wie bereits in den vorherigen Bänden findet sich auch in Band 3 vieles, was sonst kaum irgendwo erierbar wäre. Friedel Keim weiß um Geburts- und Sterbedaten, berichtet über die Stars, aber eben genauso über die “kleinen” Vertretern des Instruments, über Satzspieler oder junge Musiker, die durchaus auch zwischen den stilistischen Welten leben und arbeiten, über Dixieland- und Swingtrompeter, die eher der Amateur- als der Profiszene angehören, aber dennoch gute Musiker sind, über Musiker von denen man noch nie gehört hat oder aber auch Musiker, die man persönlich kennt, aber nie in einem Lexikon vermutet hätte, weil ihr Arbeitsschwerpunkt doch eher regional begrenzt ist. Keim hat sich ihnen allen angenommen mit einem Vollständigkeitsanspruch, der jede Kritik an der Auswahl im Keim ersticken ließe (man entschuldige das Wortspiel). Und gerade in den Einträgen zu den kleinen Vertretern der Trompete erkennt man einmal mehr die “labor of love” dieses Buches, das zu alledem noch exzellent lesbar ist. Kein kritisches Buch vielleicht, dafür ein verlässliches Nachschlagewerk für jeden, der sich für die Trompete interessiert: eine Trompeterbibel fürwahr!

(Wolfram Knauer, Februar 2016)


 

Mein Onkel Pö
von Holger Jass
Hamburg 2015 (Offline-Verlag)
137 Seiten, 25,55 Euro
ISBN: 978-3-00-051272-8

2015jassEinen ersten Hinweis auf den Inhalt dieses Buchs gibt bereits der Preis: 25,55 Euro, entsprechend einem Cent pro Nacht im legendären Club, wie Holger Jass in der Presseankündigung zum Buch erklärt. Holger Jass hatte das Onkel Pö (Onkel Pö’s Carnegie Hall, wie es damals offiziell hieß) Anfang 1979 vom Vorbesitzer Peter Marxen übernommen, der ihn bei der Übergabe warnte: “Ich muss dich warnen. Pö-Jahre sind wie Hundejahre. Die zählen siebenfach.” Jass hielt es bis Anfang 1986 aus, führte das “Pö” im Sinne seines Kultstatus’ weiter und hat jetzt ein kurzweilig-amüsantes Buch über seine Erlebnisse mit Musikern, Medienmenschen, Kollegen und dem Publikum geschrieben, das ihm die ganzen Jahre über treu blieb, aus dessen Reihen sich aber partout kein Interessent für eine Nachfolge finden ließ.

“Jetzt macht Jass den Jazz im Onkel Pö” titelte das Hamburger Abendblatt, als Jass 1979 übernahm. Sein Buch handelt natürlich auch von Jazz. Er beschreibt, wie Michael Naura, damals Jazzredakteur des NDR viele der Jazzabende mitschnitt, die sich das Pö ansonsten kaum hätte leisten können. Den Flügel im Club hatte kein geringerer als Joachim Kühn ausgesucht und eingeweiht. Ansonsten bevölkern Jazzer wie Freddie Hubbard, Elvin Jones, Pat Metheny, Dexter Gordon die Seiten, aber auch Tom Waits, Charlie Watts, Joe Cocker, Hannes Wader, Truck Stop und natürlich Udo Lindenberg, der dem “Pö” in einem seiner Hits ein Denkmal setzte.

“Bei Onkel Pö spielt ‘ne Rentnerband”, hieß es da, “seit 20 Jahren Dixieland” – aber mit Dixieland ließ sich so ein Schuppen nicht finanzieren, bilanziert Jass trocken … obwohl man das Wort “trocken” selbst bei einer Rezension dieses Buchs nicht in den Mund nehmen sollte, denn trocken ging es ganz sicher nicht zu im Pö. Auch davon handelt das Buch, von den skurrilen Erlebnissen mit den Musikern, vom gesteigerten Alkoholkonsum, vom Pflegen einer Szene und davon, dass man, um Wirt zu sein, ein dickes Fell und viel Humor benötigt. Pineau ist das Zauberwort, jene süßliche Mischung aus Traubenmost und Cognac, die Jass als Allheilmittel vieler Probleme genauso beschreibt wie als Ursache anderer. Seine Anekdoten machen klar, dass man als Wirt und täglicher Konzertveranstalter selbst nicht ganz ohne solche “Medizin” auskommt: ein divenhafter Auftritt Freddie Hubbards etwa oder jener Abend mit Dexter Gordon, den Jass allerdings erst aus drogenbedingtem Tiefschlaf im Hotel um die Ecke wecken musste, den er für seine 57 Jahre als “bös klöterich” beschreibt, der dann aber nach einem dreifachen Whiskey ein denkwürdiges Konzert gegeben habe.

Sehr viel tiefer geht es sicher nicht in seinen Erinnerungen, die er mit viel Augenzwinkern und der humorvollen Abgeklärtheit der zeitlichen Distanz schreibt, und bei denen man schon mal über die eine oder andere schlüpfrige Anekdote hinweglesen muss. Bei all denen, die dabei waren in diesem zwischen Alternativszene und Hochkultur angesiedelten Zauberort in Eppendorf, wird er warme Erinnerungen wecken. Man meint den Fusel wieder zu schmecken und die dicke Luft wieder zu riechen, vor allem aber erinnert man sich an die musikalischen Hochgenüsse, die das Onkel Pö so oft und so viel vermittelte. Für diejenigen, die nicht dabei waren, gibt Jass ein launiges Portrait, einschließlich etlicher Fotos, ein Portrait, das stellenweise einer Filmdokumentation über verwunschene Zeiten ähnelt, bei denen man eigentlich gern dabei gewesen wäre.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Rhythm Is My Beat. Jazz Guitar Great Freddie Green and the Count Basie Sound
von Alfred Green
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
325 Seiten, 75 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4246-3

2015greenCount Basies All American Rhythm Section gilt als die swingendste Rhythmusgruppe des Jazz. Die Art, wie Pianist Basie, Gitarrist Freddie Green, Bassist Walter Page und Schlagzeuger Jo Jones rhythmisch und harmonisch ineinandergriffen, um den vorwärtstreibenden Schwung zu schaffen, der zu ihrem Markenzeichen wurde, besaß so viel an Energie, dass Rhythmusgruppen überall auf der Welt sie zum Vorbild nahmen. Den wichtigsten Anteil an dieser Energie hatte, wie Basie selbst, aber auch zahllose andere Musiker bezeugen, Freddie Green, der dem Count Basie Orchester von 1937 bis zu Basies Tod im Jahr 1983 und der Band noch ein paar Jahre danach bis zu seinem eigenen Tod 1987 angehörte. Von Nichtmusikern wurde Green schon mal dafür bemitleidet, ein ganzes Leben lang nie ein wirkliches Solo gespielt, dafür immer nur “schrumm schrumm” gemacht zu haben, vier Schläge pro Takt, durchgehend vom ersten Akkord bis zum letzten; und doch ist ihm jemand kaum in der Kunst des Rhythmus nahegekommen, den dieser Vierschlag erzeugen konnte.

Jetzt hat Alfred Green, der Sohn des Gitarristen, eine Biographie vorgelegt, die weit mehr ist als die persönliche Erinnerung eines Verwandten. Greens Buch schafft den Spagat zwischen Insiderwissen, persönlicher Betroffenheit und nüchterner Beschreibung der Lebens- und Arbeitswirklichkeit eines Musikers der Bigbandära.

Die Geschichte beginnt in Charleston, South Carolina, wo Freddie Green 1911 geboren wurde, in einer Stadt mit einer überaus lebendigen schwarzen Musikszene. Nachdem er die erste Ukulele gegen ein viersaitiges Banjo ausgetauscht hatte, sammelte er erste musikalische Erfahrungen mit Freunden aus dem Jenkins Orphanage, einem berühmten Waisenhaus in Charleston, aus dem etliche spätere Musiker hervorgingen. Mit einer dieser Bands reiste er die Küste hoch bis nach Maine, wechselte irgendwann vom Banjo zur Gitarre und spielte mit dem Saxophonisten Lonnie Simmons und dem Stride-Pianisten Willie Gant. Als der Impresario John Hammond ihn hörte, empfahl er seinem Schützling Count Basie, sich den Gitarristen für sein Orchester zu sichern. Im Januar 1937 kam es zum Vorspiel erst in kleinem Kreis, dann mit der Bigband, und am 1. Februar begann sein mehr als 45-jähriges Engagement als Motor des Count Basie Orchestra.

Alfred Green erzählt nicht nur die Lebens- und Arbeitsstationen Greens, sondern nähert sich auch seinem Stil, fragt nach Einflüssen, erklärt die Besonderheit des Green’schen Sounds. Der Autor wurde im Februar 1938 geboren, im selben Jahr beendete seine Mutter ihre Beziehung zu seinem Vater, sicher auch, weil der inzwischen eine Romanze mit Billie Holiday begonnen hatte, die für kurze Zeit mit Basie reiste.

Green beschreibt die verschiedenen Besetzungen der Basie-Band der 1930er und 1940er, die Schwierigkeiten des Musikerlebens, und die zunehmenden Probleme der Musikindustrie, die schließlich dazu führten, dass Basie sein Orchester auflöste und kurze Zeit mit einem Sextett – ohne Gitarre – auftrat. Sein Vater nahm die Entscheidung nicht hin und tauchte einfach beim nächsten Gig des Sextetts mit seiner Gitarre auf. “Was machst du denn hier?”, fragte Basie, und Green antwortete, “Was glaubst du wohl? Du hast hier einen Gig, richtig? Ich habe dir die besten Jahre meines Lebens gegeben und du glaubst, mich einfach beiseiteschieben zu können? Keine Chance!”

Während die 1930er- und 1940er-Jahre-Band insbesondere ein Solistenorchester war, wurde der Sound der 1950er Jahre-Band durch ihre Arrangeure geprägt. Alfred Green berichtet, wie Green seinen Platz in den Arrangements fand, wie er sich zu den Schlagzeugern positionierte, und wie er seine Aufgabe immer als die eines Unterstützers der anderen gesehen habe.

Neben den Einsichten in Greens Karriere sind es vor allem die technischeren Kapitel, die im Buch faszinieren. Alfred Green beschreibt etwa die Spannung der Saiten, die besondere Haltung, die Green benutzte, bei der sein Instrument fast auf seinem Schoß lag, spricht über die Tatsache, dass Green kaum je mit nicht-akkordischen Soli zu hören war, über seine wenigen Aufnahmen unter eigenem Namen, über Gigs für andere Bandleader und anderes mehr.

Einem dicken Block mit seltenen Fotos folgen schließlich noch Analysen von Michael Petterson, M.D. Allen und Trevor de Clerq sowie Zitate anderer Gitarristen über Green, schließlich eine ausführliche Diskographie aller seiner Aufnahmen.

Es gibt eine Reihe an Büchern über das Count Basie Orchester, darunter natürlich auch Basies eigene Autobiographie, verfasst mit Hilfe Albert Murrays. Keines dieser Bücher aber bietet einen so persönlichen Einblick in die Band wie das Buch Alfred Greens über seinen Vater. Der Gitarrist Freddie Green war wahrscheinlich der wichtigste Musiker des Basie Orchesters, der nicht nur für den durchgehenden Swing und eine rhythmische Verlässlichkeit stand, sondern der Band auch, was oft übersehen wird, ihren ganz spezifischen Sound verlieh, der sie aus der Menge ihrer Konkurrenten auf dem großen Bigbandmarkt hervorhob. Greens Buch gelingt in diesem Umfeld gleich dreierlei: Er schreibt eine Biographie des Gitarristen Freddie Green, er erzählt Details aus der Bandgeschichte Count Basies (und damit aus dem Alltag der Swingära), und er teilt sehr persönliche Erinnerungen an seinen Vater mit dem Leser.

Ihm gelingt dabei der schwierige Spagat, Beobachter und Sohn zur selben Zeit zu bleiben. Zu Beginn liest sich das alles wie eine interessante, aber eher distanzierte Lebensdarstellung, bis Green aus einem Gespräch zitiert, das er mit seiner Mutter geführt hatte, und bei dem einen schlagartig klar wird, dass der Autor ja Sohn des Objekts seines Berichts ist, dass er mit dem Wissen eines Familienglieds, sicher auch mit eigener Betroffenheit schreibt. Solche Perspektivwechsel gelingen ihm hervorragend, wie man in etlichen bewegenden Passagen erkennen kann. Green verschweigt macht aus seinem Vater nirgends einen Heiligen, sondern stellt ihn als Menschen dar, der nach dem Besten strebte, aber durchaus fehlbar war.

“Rhythm Is My Beat” ist ein sehr empfehlenswertes Buch, über Freddie Green, über Count Basie, über die Swingära und vieles mehr. Alfred Greens Buch gibt einen tieferen Einblick als vieles, was man sonst so liest zu diesem Thema und ist eine spannende Lektüre für Fans, genauso wie für Musiker oder Forscher über diese Musik.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Keith Jarrett. Eine Biographie
von Wolfgang Sandner
Berlin 2015 (rowohlt)
362 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-780-1

2015sandner“Mit freundlichen Künstlern ist die Welt nicht gesegnet”, beginnt Wolfgang Sandner sein Buch, das er mit Wohlwollen des Pianisten angegangen war, bis er mit diesem nach einem Konzert aneinandergerieten sei, weil es Jarrett nicht gefallen habe, dass Sandner sein “Köln Concert” als einen seiner größten Erfolge bezeichnete. “Das Ende eines Dialogs eröffnet jedoch auch eine Chance”, befindet Sandner. In der Folge nämlich habe er sich noch stärker auf die Musik konzentrieren müssen. Das Ergebnis ist ein Buch, das der Musik Jarretts als eines Künstlers gerecht wird, der seine Kraft aus der Improvisation des Jazz zieht, dessen Wirkung aber weit über dieses Genre hinausreicht.

Keith Jarrett wurde am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren, und Sandner sieht diesen Tag, Kriegsende, als symbolträchtig für die Jahrhundertkarriere des Pianisten. Ohne Europa, das durch den Krieg noch mehr für die Qualitäten des Jazz sensibilisiert war, erklärt Sandner, wäre Jarretts Karriere einerseits so nicht möglich gewesen, auf der anderen Seite habe Jarrett immer tief in den Traditionen der amerikanischen Avantgardeästhetik gestanden, in der Tradition auch eigenbrötlerischer Künstler wie Lou Harrison und Alan Hovhaness, deren Werke er Anfang der 1980er Jahre in Europa uraufführte.

Sandner zeichnet die Kindheit Jarretts in Allentown nach, die Erkenntnis seines Talents, das Trauma der Trennung seiner Eltern, dem er mit dem Rückzug in die Musik begegnete, und die musikalischen Bemühungen seiner Brüder. Jarrett spielte mit lokalen Bands, besuchte Workshops, gewann ein Stipendium fürs Berklee College, mit dessen die Musik eher regulierenden als zur Kreativität ermutigendem Lehrplan er allerdings wenig anzufangen wusste. Da war die Schule von Art Blakeys Jazz Messengers schon eine andere, in denen Jarrett ab Herbst 1965 für vier Monate mitwirkte. Von Blakey wechselte er in die Band des Saxophonisten Charles Lloyd, dem er durch dessen Schlagzeuger Jack DeJohnette empfohlen worden war. Lloyds Quartett war “die erste Supergroup des Rockjazz”, und Sandner hört sich sowohl dessen Studio- wie auch die Liveaufnahmen an. 1967 gründete Jarrett sein erstes Trio mit Charlie Haden und Paul Motian, und als ihm Miles Davis 1969 zum wiederholten Mal anbot, in seiner Band mitzuwirken, sagte Jarrett zu, obwohl Miles mit Herbie Hancock und Chick Corea bereits zwei Pianisten in der Band hatte. Bei Miles musste er elektronische Keyboards und Orgel spielen, Instrumente, die ihm eigentlich zuwider waren. Zugleich setzte er sich noch mehr mit Klang auseinander, mit dem Sound der Instrumente, die er zu bedienen hatte genauso wie den Soundmöglichkeiten der Band, die für Miles im Mittelpunkt seiner “musikalischen Großräume, Klangkunstwerke” standen.

Ein eigenes Kapitel widmet Sandner der Partnerschaft zwischen Keith Jarrett und Manfred Eicher, der weit mehr war als ein Labelgründer und Plattenproduzent. Jarrett stand Anfang der 1970er Jahre eigentlich bei ABC unter Vertrag, ihm wurde aber erlaubt, Produktionen mit “ernster Musik” und ähnliche Aufnahmen ohne Gegenleistung anderswo einzuspielen, das könne sein Ansehen schließlich nur steigern. Dass Jarretts Aufnahmen für Eichers Edition of Contemporary Music zum Zugpferd für das Label ECM werden sollten, hatte niemand vorhergesehen. Im November 1971 also ging Jarrett erstmals in Oslo ins Studio und produzierte mit “Facing You” die erste von bis heute 28 Solo-Produktionen für Eicher, ein Album, das sowohl Jarretts Ruf als Solopianist begründete als auch Eichers Ruf als einer der offenohrigsten Produzenten des Jazz. Sandner erklärt, was die Partnerschaft und das Vertrauen der beiden zueinander begründe, die Tatsache etwa, dass Eicher selbst Musiker sei oder dass sein Interesse neben dem Jazz auch anderen Formen von Musik (oder Literatur oder Kunst oder Film) gelte. Eicher, schlussfolgert Sandner auch nach dem Gespräch mit anderen ECM-Künstlern, sei bei vielen seiner Produktionen der “dritte Mann”, auch wenn man ihn weder sehe noch höre.

Es gäbe etliche Musiker und Musikliebhaber, warnt Sandner schon im Vorwort seines Buchs, die meinen, über Musik solle man nicht so viel schreiben, da diese das Wesentliche doch eh in sich berge. Und dann tut er genau das, kongenial, so nämlich, dass seine Zeilen die Musik zwar heraufbeschwört, aber nirgends zu ersetzen trachtet. Über Jarretts Klavierspiel etwa schreibt er, man könne vielleicht die verschiedenen Techniken benennen, die seinen Personalstil ausmachten, komme dabei aber vor allem an einem Charakteristikum nicht vorbei, das Sandner die “Konzentration aufs Wesentliche” nennt und das er in Jarretts musikalischem Ansatz genauso findet wie in seiner Wahl der Mitmusiker oder in der klaren Gliederung seines Repertoires in Standards, eigene Kompositionen und freie Solo-Improvisationen.

An anderer Stelle verfolgt er Jarretts Vervollkommnung der authentisch-eigenen Stimme. Er betrachtet die Aufnahmen seines amerikanischen Quartetts mit Dewey Redman und seines europäischen Quartetts mit Jan Garbarek, beschreibt, was an diesen Aufnahmen so besonders sei, obwohl sie doch weder einen unerhörten Klang hervorbrächten noch eine neue Form oder eine außergewöhnliche ästhetische Haltung. Er nennt Jarrett einen “Solist ohne Grenzen”, verfolgt die unterschiedlichen pianistischen Ansätze, die der Künstler über die Jahre entwickelte. Und Sandner ist wie wenige deutsche Autoren ein Meister darin, Musik mit Worten näher zu kommen. Ein Beispiel: Über Jarretts Album “Staircase” schreibt er: “Alles, was Jarrett in den elf Stücken erklingen lässt, besitzt Körperlichkeit. Es gibt keine flachen Töne, nur runde, eckige, kubusartige, voller Tiefenschärfe. Wenn ein Ton verklingt, wird er nicht nur leiser, er verschwindet wie in einem Tunnel, verliert nicht nur sein Volumen, sondern wird augenscheinlich kleiner.” Er benennt die Beziehungen zwischen Jarretts Aufnahmen an der Barockorgel in Ottobeuren und seiner Suche nach Klangfarben einerseits und ähnlichen Suchen europäischer oder amerikanischer Komponisten andererseits, nicht aber, um daraus Einflüsse abzuleiten, sondern um zu zeigen, dass Jarrett sich da inmitten eines breiten Diskurses befindet, in dem seine eine gewichtige Stimme ist.

Zwischen ausführliche Beschreibungen der diversen Plattenprojekte streut Sandner aber auch Informationen über die Selbstzweifel des Künstlers, über persönliche und geschäftliche Krisen, über Rückenschmerzen und das chronische Erschöpfungssyndrom, dass Jarrett für einige Jahre aus dem Verkehr zog. Er beschreibt, wie all diese außermusikalischen Ereignisse ihren Widerhall in Jarretts Musik fanden. Nach seiner Genesung, fasst Sandner zusammen, sei Jarrett ” praktisch nicht mehr in ein Aufnahmestudio zurückgekehrt. Mit Ausnahme einer Duo-Aufnahme mit Charlie Haden und einer Einspielung von Bach-Sonaten für Violine und Klavier sind alle Aufnahmen danach bei Live-Auftritten entstanden.”

Natürlich nimmt das “Köln Concert” ein wichtiges Kapitel seines Buchs ein. Sandner beschreibt die bekannt widrigen Umstände des Konzerts, Rückenschmerzen, ein schlecht intoniertes Instrument, ein Stutzflügel, den die Bühnenarbeiter statt des eigentlich geplanten Bösendorfer Imperial auf die Bühne gestellt hatten, und er erzählt, wie Jarrett aus all diesen Widrigkeiten über sich herauswuchs, die Beschränkungen des Instruments zu Stärken seiner Aufnahme machte. Das “Köln Concert” wurde zu einem Riesenerfolg bei Kritik und Publikum gleichermaßen, und selbst der Perfektionist Jarrett musste später zugeben, dass die Ideen, “diese Klangfarben und diese Stimmführungen”, die auf der Aufnahme zu hören sind, schon einzigartig waren.

In weiteren Kapiteln seziert Sandner die Herangehensweise Jarretts an die Standards des American Popular Song, die er zusammen mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette ab 1983 einspielte und bald auch bei Konzerten spielte, seine Einspielungen klassischer Musik von Bach bis Lou Harrison, sowie Jarretts eigene Kompositionstätigkeit, die sich keinesfalls in der Komposition von Themen für eigene Improvisationen erschöpfte.

Sandners letztes Kapitel heiß “Einspruch” und ist unter all den lesenswerten Kapiteln dieses Buchs vielleicht das lesenswerteste. Sandner beginnt mit einer Eloge auf den kreativen Schöpfer, auf das Genie Keith Jarrett, um dann die Reaktion hervorzuheben, mit der Jarrett so oft, auf so vieles, reagiert, seine “Manie, etwas abzulehnen”. Der wichtigste Einspruch Jarretts gelte dabei musikalischen Trends, kurzlebigen Moden oder selbsternannten Kanonikern. Sandner findet diese Veto-Haltung auch im Klavierspiel des Meisters selbst, das “allen Regeln der traditionellen Klavierkunst widerspricht und wirkt, als sei das Instrument weniger ein Partner, vielmehr ein Gegner, den man bezwingen müsse, bisweilen mit List und Tücke, bisweilen mit tänzerischem Ablenkungsmanöver, manchmal mit brachialer Gewalt, nicht selten aber, indem man sich den Flügel einverleibt, mit ihm verschmilzt.” Es ist dieses Eins-Sein mit seiner Musik, das Jarrett auch außerhalb der Jazzanhängerschaft Wirkung verschafft hat. Henry Miller schrieb ihm einen Brief, nachdem er das “Köln Concert” gehört hatte, Sergiu Celibidache und Marcel Reich-Ranicki zeigten sich begeistert. Sandner argumentiert aber auch, dass diese Verweigerungshaltung neben seinen künstlerischen Entscheidungen auch Jarretts problematisches Bühnenverhalten beeinflusst habe, seine gelegentlichen Publikumsbeschimpfungen, die, wie Sandner schreibt, fast schon zum Ritual geworden seien, das Voyeure unter den Hörern erwarten oder gar herausfordern.

Wolfgang Sandners Buch gelingt es, der Musik Keith Jarretts nahe zu kommen, gerade, weil er sich, wie er im Vorwort erklärt, mit dem Künstler entzweit hat. Sandner besitzt den Überblick nicht nur über Jarretts Schaffen und nicht nur über die Jazzgeschichte, aus der heraus Jarretts Kunst kommt, sondern über die gesamte Kulturgeschichte, in die hinein Jarretts Musik wirkt. Es gelingt ihm, die verschiedenen Positionen zu definieren, die sich in der Musik und ihrer Rezeption widerspiegeln: die musikalische, ästhetische und wirtschaftliche Position Jarretts zu verschiedenen Zeiten, die Position der Labels, der Agenten, der Produzenten, die Position Manfred Eichers, die Position der Kritiker und des Publikums, und nicht zuletzt auch seine eigene Position, die Position Wolfgang Sandners. Dass er aus eigener Begeisterung heraus schreibt, lässt er nicht unerwähnt. Er bezeichnet Jarrett wiederholt als “Genie”, nennt ihn den größten Musiker, der je aus Allentown kam. Doch dient diese eigene Positionsbestimmung letztlich auch dem Vertrauen, das wir als Leser in Sandners Wertung der Musik haben können. Er lässt uns klar wissen, wo er als Autor steht, und so können wir viel leichter unsere eigene Position beziehen, überdenken, revidieren. Wolfgang Sandner ordnet Jarretts Aufnahmen dabei nicht nur in Jazz-, Musik- und Kulturgeschichte ein, er verleitet zum neuen, zum tieferen Hören, und er ermöglicht ein Verständnis – im besten Sinne des Wortes – über die Grenzen des emotionalen Hörens hinaus

Wolfram Knauer (Dezember 2015)

Nachtrag Februar 2021:

Keith Jarrett. A Biography
by Wolfgang Sandner, translated by Chris Jarrett
Sheffield 2020 (Equinox)
215 Seiten. 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-800500129

Sandners Jarrett-Biographie ist inzwischen auf Englisch erschienen, übersetzt von keinem Geringerem als Jarretts Bruder, dem in Deutschland lebenden Pianisten Chris Jarrett. Für die englische Ausgabe hat Sandner seinen früheren Text erweitert und aktualisiert, hat neuere Aufnahmen und neue Veröffentlichungen aus früheren Jahren berücksichtigt und neue Erkenntnisse über Jarretts familiären Background geteilt. Mit dem Abschied Jarretts von der Bühne im vergangenen Oktober scheint auch seine Karriere abgeschlossen. Sandners Buch vertieft das Wissen und ermuntert zum Nachhören – jetzt vielleicht etwas wehmütiger als bei der ersten (deutschen) Lektüre vor sechs Jahren.


 

Als der Jazz nach Kassel kam. Streifzüge durch die Szene der ersten Nachkriegsjahre
von Ulrich Riedler
Berlin 2015 (B&S Siebenhaar Verlag)
104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN: 978-3-943132-39-7

2015riedlerDie großen Jazzmetropolen – Berlin, Hamburg, Köln, München – sind weitgehend dokumentiert. Auch für kleinere Städte haben sich Historiker und Hobbyhistoriker der Aufbereitung der Jazzgeschichte angenommen. Das kann schon mal seltsam wirken, wenn Provinzzentren wie der Mittelpunkt der Welt erscheinen, wo sie doch meist nur Durchgangsstationen für aufstrebende spätere oder etablierte, sich auf Tournee befindende Jazzstars waren. Tatsächlich aber sind regionalen Szenen bis heute wichtige Brutstätten künstlerischer Ideen, auch wenn viele der Musiker, die hier ihre Anfänge nehmen, irgendwann in die großen Zentren abwandern, in Städte mit bedeutenden Hochschulen etwa oder in solche mit einer lebendigen, großen Jazzszene.

Das nordhessische Kassel, in der Mitte der Republik, und doch kulturell vor allem durch die Brüder Grimm und die documenta bekannt, besitzt bis heute eine lebendige Szene, verschiedene Spielorte für Jazz und improvisierte Musik, und ein langjähriges Festival. Die alle fünf Jahre stattfindende documenta bringt es mit sich, dass die Bürger der Stadt sich sehr bewusst mit ästhetischen Diskursen der Avantgarde auseinandersetzen.

Der Journalist und Jazzfan Ulrich Riedler hat sich in seinem Buch auf die Suche nach den Anfängen des Jazz in der nordhessischen Stadt gemacht und diese im Frühjahr 1940 entdeckt, als sich junge Jazzfreunde im Gasthaus “Ledderhose” trafen, wo sie gemeinsam die neuesten Platten hörten. Irgendwann rückte die Gestapo ihnen auf den Leib, nahm die Jungs mitsamt ihrer Schellackschätze mit und unterzog sie einer gründlichen Befragung. Die Jazzfans wurden bald wieder entlassen, und einer von ihnen kann Riedler nicht nur von damals berichten, sondern ihm sogar noch die kurzfristig konfiszierten Platten zeigen. Die “Ledderhose” blieb auch nach dem Krieg ein Jazztreffpunkt, in dem die Mitglieder zu Platten tanzten, ab und zu aber auch selbst zum Instrument griffen.

Die 1950er Jahre dokumentiert ein Gespräch mit dem späteren Spiegel-Redakteur Alfred Nemeczek, von dem Riedler außerdem einen Bericht über das Jazzkontor Kassel aus dem Jahr 1959 andruckt, den Versuch, in Nordhessen einen Liveclub nach Vorbild des Frankfurter Jazzkellers zu etablieren. In den 1950er Jahren begannen die ersten amerikanischen Stars Deutschland zu erobern. Kassel erlebte Konzerte von Duke Ellington, Louis Armstrong, Lionel Hampton oder der Jam-Session-Truppe Jazz at the Philharmonic mit Ella Fitzgerald und vielen anderen.

Einer der Stammgäste der Kasseler Jazzszene war damals der Trompeter Manfred Schoof, der zwei Jahre an der Kasseler Musikakademie studierte, bevor er nach Köln weiterzog. Riedler spricht mit ihm über die Jazzszene jener Zeit, über Musiker und Musikerlegenden der Region, unter anderem den Tenorsaxophonisten Werner Apel, den, wie man sich erzählt, sogar Duke Ellington verpflichten wollte, weil er ihn bei einer Jam Session so beeindruckt habe, und natürlich auch über die GI-Clubs, in denen Schoof die amerikanische Kultur erst richtig kennenlernte.

Die Amerikaner waren im Stadtteil Rothwesten in Fuldatal stationiert und engagierten über die Special Service Agencies jede Menge deutscher Musiker für die Unterhaltung in den verschiedenen Clubs. Riedler blickt auf Orte, aufs Repertoire, auf das Jazzprogramm des örtlichen Amerika-Hauses, beschreibt aber auch andere Veranstaltungsorte der Stadt, deren Programm großteils von Vereinen organisiert, zum Teil auch von der Stadt unterstützt wurde. Er erzählt, wie Arnold Bode, der Vater der documenta, von der Band des Vibraphonisten und Gitarristen Fritz Bönsel so angetan war, dass er im Landesmuseum ein Konzert veranstaltete, das den Jazz endgültig in der Stadt etablierte.

Die Jazzszene jener Jahre beinhaltete traditionelle genauso wie moderne Stile, und so beschreibt auf der einen Seite die Dixieland-Szene der 1950er und 1960er Jahre mit ihren Riverboatshuffles und dem musikalischen Versuch, dem Original so nah wie möglich zu kommen, auf der anderen Seite aber auch, wie andere Musiker, Schoof und Gunter Hampel unter ihnen, dem modernen Jazz in Kassel zu Gehör verhalfen. Und schließlich spricht er mit dem Pianisten Joe Pentzlin, dessen Trio quasi die Hausband des Jazzclubs in der Orangerie gewesen war.

In einem abschließenden Kapitel schlägt Riedler einen knappen Bogen in die Regenwart, zu Musikern wie Matthias Schubert und Ernst Bier, die entweder aus Kassel stammen oder aber hier über längere Zeit Station machten und die Szene der Stadt mitprägten.

Riedlers Buch ist nicht als historische Dokumentation gedacht, denn vielmehr als eine flüssig zu lesende Erinnerung an die 1940er bis 1960er Jahre, ein liebevoll bebildeter Band über die Jazzszene in der deutschen Provinz, die – ähnlich wie die Szenen vieler anderer Städte mittlerer Größe – überaus lebendig war. Die Lektüre macht dem Leser deutlich, dass der Diskurs über den Jazz als aktuelle Kunstform nicht nur in den Metropolen stattfindet.

Wolfram Knauer (November 2015)


 

Music Wars 1937-1945. Propaganda, Götterfunken, Swing. Musik im Zweiten Weltkrieg
von Patrick Bade
Hamburg 2015 (Laika Verlag)
511 Seiten, 34 Euro
ISBN: 978-3-944233-41-3

Sounds of War. Music in the United States during World War II
von Annegret Fauser
New York 2013 (Oxford University Press)
366 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-994803-1

Victory Through Harmony. The BBC and Popular Music in World War II
von Christina L. Baade
New York 2012 (Oxford University Press)
275 Seiten, 31,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-537201-4

2013fauser Musik war immer schon kriegswichtig. Ob zum Anfeuern der Truppen im Marschrhythmus, ob zum Mobilmachen der Bevölkerung durch patriotische Hymnen, ob als Beruhigung und Selbstbestätigung, ob als Instrument der psychologischen Kriegsführung oder sogar als Foltermethode: Krieg ist ohne Musik – so seltsam diese Idee auch scheinen mag – kaum vorstellbar.

Drei kürzlich erschienene Bücher untersuchen die Rolle der Musik im Zweiten Weltkrieg. Der britische Historiker Patrick Bade berichtet über die verschiedenen musikalischen Strategien und Funktionen direkt vor Ort, in den Gebieten, in denen der Krieg tobte oder die am Krieg beteiligt waren, Frankreich, Deutschland, den USA, Russland, Großbritannien, dem nördlichen Afrika und dem Mittleren Osten. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Annegret Fauser beschränkt sich in ihrem Buch auf die klassische Musikszene in den Vereinigten Staaten. Die britische Musikhistorikerin Christina Baade schließlich untersucht, wie der BBC in den Kriegsjahren auf Jazz, Tanz- und Popmusik gesetzt habe, um die Moral der gesamten britischen Öffentlichkeit in den Kriegstagen zu stärken. Baades Studie gibt dabei einen Einblick in Programmentscheidungen eines öffentlichen Rundfunksenders und thematisiert, inwieweit die Öffnung des Senders für Jazz und amerikanische Popmusik auf Widerstände gestoßen sei. Fausers Fokus liegt auf der “concert music”, also der klassischen Musik, und im Umschlagtext heißt es, dass Dinah Shore, Duke Ellington und die Andrews Sisters vielleicht die Zivilisten zuhause und die Soldaten in Übersee unterhalten hätten, es tatsächlich aber vor allem die klassische Musik gewesen sei, die die Menschen für die Kriegsanstrengungen mobilisiert habe. Patrick Bade schließlich wagt den Rundumschlag, lässt also auch die sogenannte leichte Muse, Swing und Jazz, nicht aus. Während er dabei neben dem klassischen Repertoire und dem Swing auch einen Blick auf die Funktion von Radio, Film und Plattenindustrie wirft, außerdem in einem langen Kapitel Kriegslieder aus unterschiedlichen Ländern ins Visier nimmt, finden man in Fausers Buch Informationen über Musiker in der Armee, Auftragskompositionen für den Kriegseinsatz, ein Kapitel über Musik als Beruhigung der Bevölkerung und als Therapie für traumatisierte Soldaten sowie eines über die vielen Exilkomponisten, die durch den Krieg in den USA strandeten. Christina Baade schließlich diskutiert in ihrem Buch auch das Thema von Tanzmusik und Maskulinität, die Sorge um den Erfolg der amerikanische Popmusik und die Verdrängung eigener Traditionen, und die Bedeutung von Rundfunkprogrammen, in denen afro-amerikanische Musik in den Mittelpunkt gestellt wurden, für schwarze britische Musiker. Bei allen drei Autor/innen finden sich Diskussionen der Zuschreibung moralischer Qualitäten zur Musik, der Grundlage letzten Endes dessen, was in den USA später zur “cultural diplomacy”, zur Kulturdiplomatie werden sollte.

2012baadeFür Christina Baades Argumentationslinie spielt der Jazz eine zentrale Rolle; ihr Buch erlaubt dabei Rückschlüsse auf Entwicklungen des Nachkriegsjazz in Großbritannien, einschließlich der Hinwendung vieler junger Musiker insbesondere zu traditionellen Jazzstilen. Patrick Bade hat neben einem Kapitel über Jazz und Swing im Dritten Reich, in dem er auch auf das Phänomen der Propagandaband Charlie and His Orchestra eingeht, ein eigenes Kapitel über Musik im Feldlager, im Gefangenenlager und im Konzentrationslager. Fauser wiederum diskutiert in ihrem Buch ausführlich musikalischen Ausdruck von Nationalismus, etwa in Werken von Aaron Copland und Roy Harris.

Patrick Bade gibt am Schluss seines Buchs einen Ausblick auf die Nachwirkungen, erzählt etwa, dass Wagner im Bayreuther Festspielhaus kurzzeitig Cole Porter weichen musste, berichtet, wie Sänger/innen und Musiker/innen nach dem Krieg mit ihrer Karriere im Dritten Reich konfrontiert wurden oder diese sehr bewusst aus ihrer Biographie ausblendeten. Er endet mit dem kurzen Hinweis auf Werke, die sich bis ins 21ste Jahrhundert hinein mit den Gräueltaten des Kriegs auseinandersetzen. Christina Baades Buch endet mit der Ankunft der amerikanischen Truppen im August 1944 und der Entscheidungen des BBC, die auch die amerikanischen GIs mit ihrem Programm unterhalten wollte. In der Folge kam es zu einer Diskussion der Vermischung musikalischer Werte in der populären und Tanzmusik, über “Britishness” oder “Pseudo-American”. Ihr Buch verweist zwischen den Zeilen immer wieder, etwa Kapiteln über das vom Rundfunk mitgeprägte Bild der Frau oder im Versuch, die Ausstrahlung von Musik männlicher übersentimentaler Schlagersänger im Rundfunk zu unterbinden, auf Diskurse, die auch nach dem Krieg weitergingen und auf die letzten Endes BBC-Programmentscheidungen großen Einfluss hatten. Bei Fauser geht der Blick in die Nachkriegszeit über John Cage, dessen experimentelle Ideen sie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren verortet. Sie verweist darauf, dass Cage und seine Zeitgenossen ihre Lehren aus den Erfahrungen des Kriegs gezogen hätten, sich nach Ende des Kriegs von ihren nationalistischen Kompositionen distanziert oder aber diese in neue Werke integriert hätten.

2015badeZusammengefasst bietet Patrick Bade im breiteren Ansatz seines Buchs eine Art Rundumschlag über das Thema. Christina Baade wirft Licht auf die Verflechtungen zwischen Musik, Musikindustrie, öffentlicher Meinung und Publikumsgeschmack. Fausers Studie schließlich hätte von einer Erweiterung ihres Schwerpunkts vielleicht profitiert. Fauser begründet ihren eingeschränkten Blick im Vorwort damit, dass die Jazz- und Popmusikszene jener Jahre ja schon ausgiebig genug untersucht worden sei, während Forschungen zur klassischen Musik im Krieg weitgehend fehlten, vergibt sich damit aber die Chance einer differenzierten Darstellung, was vielleicht – nehmen wir einmal an, dass der Einband-Text vom Verlag und nicht von ihr stammte –, eine wertende Aussage wie die, dass Jazz und Popmusik die Bürger zuhause und die GIs in Übersee vielleicht unterhalten hätten, es aber die klassische Musik gewesen sei, die den wirklichen Unterschied gemacht habe, verhindert hätte.

Von solchen Anmerkungen abgesehen, haben alle drei Bücher ihre Meriten. Sie helfen bei der Kontextualisierung von Musikgeschichte in der späten ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, die letzten Endes Auswirkungen auch darauf hatte, wie Musik heute klingt und wie wir sie wahrnehmen.

Wolfram Knauer (Oktober 2015)


 

 

Giving Birth to Sound. Women in Creative Music
herausgegeben von Renate Da Rin & William Parker
Köln 2015 (Buddy’s Knife)
294 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-00-049279-2

2015darinVielleicht müsste am Anfang dieser Rezension erklärt werden, welchen Weg die Bücher durchlaufen, die im Jazzinstitut Darmstadt anlangen. Bevor wir uns die Bücher aussuchen, die wir rezensieren wollen, erfassen wir sie in unserem Jazz Index, einer computergestützten bibliographischen Datenbank, die von Forschern und Journalisten (und Fans) aus aller Welt genutzt wird. Das heißt, wir gehen das Buch von vorn bis hinten durch, ordnen jedes einzelne Kapitel einem Stichwort oder einem Musikernamen zu, tragen biographische Notizen wie etwa Geburtstag oder Geburtsort, nach, sofern sie in unserer Datenbank noch fehlen. Erst dann machen wir uns ans Lesen.

Aber schon bei diesem ersten Schritt des Erfassens fiel einiges auf beim Buch “Giving Birth to Sound”. Etliche der darin befragten Musikerinnen waren nämlich noch gar nicht in unserer Datenbank erfasst oder aber nur mit relativ kurzen bibliographischen Listen. Über sie wurde in der Jazzpresse bislang also nur wenig berichtet. Nun ja, mag man meinen, das hat sicher auch damit zu tun, dass Frauen ja so richtig erst in den letzten Jahren ins Rampenlicht des Jazz getreten sind. Weit gefehlt aber, und das war die zweite Überraschung: Viele Musikerinnen, die im Buch zu Worte kommen, gehören nämlich gar nicht der jungen (sagen wir: unter 40-jährigen) Generation an, sondern sind weit länger auf der Szene unterwegs. Die Gründe für ihre Unsichtbarkeit in der Jazzpresse mögen also doch woanders liegen.

Eine dritte Erkenntnis, die sich beim Durchblättern schnell ergibt, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Jede der Musikerinnen hat einen völlig anderen Zugang zum Thema. Mal analytisch, mal diskursiv, mal ausweichend, mal ablehnend, mal nüchtern gefasst, mal poetisch überhöht, mal kämpferisch, mal verteidigend. Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich schon in den Überschriften der Kapitel, die Renata Da Rin und William Parker aus der Frage “Was bedeutet Musik für Dich” abgeleitet hat. “Jeder Sound und jede Stille”, antwortet Renée Baker; “die Gründe für mein Leben”, sagt Amy Fraser; “ein abstrakter Ort, um das Leben zu teilen und zu fühlen”, meint Marilyn Mazur; “ein Lager der Erinnerungen”, findet Shelley Hirsch, “Leben, Magie, Geist”, beschreibt Maggie Nicols, oder aber, so Erika Stucky, “serious fun – a ‘Schnaps'”.

Oder aber die Einleitung: Nach dem Vorwort von Amina Claudine Myers haben die Herausgeber eine Anzahl von Reaktionen auf den Buchtitel zusammengefasst. “Giving Birth to Sound”? Schrecklicher Titel: Frauen wurden schließlich immer wieder aufs Gebären reduziert, meint eine der Gesprächspartnerinnen, während eine andere findet, der Titel passe, sei auch angenehm mehrdeutig. Naja, und bei allen Bedenken spräche der Titel ja auch vom Schaffen von etwas Neuem. Blödsinn, widerspricht eine weitere Stimme, Gebären sei doch eine passive, rein physische Tätigkeit, jede Kuh könne das. Musik zu erschaffen sei dagegen ein aktiver intellektueller Prozess und damit das exakte Gegenteil.

Das Konzept des Buchs: Ohne weitere Vorgaben schickten die Herausgeber den 48 Musikerinnen 20 Fragen, die vom Faktischen zum Nachdenken über den Prozess des Kreativen gehen, sich dabei immer wieder danach erkundigen, inwieweit das eigene Geschlecht bei musikalischen, ästhetischen oder beruflichen Entscheidungen eine Rolle gespielt habe. Tatsächlich sind nur sechs der Fragen konkret aufs Frau-Sein der Musikerinnen abgezielt: Wie hast Du deine Kreativität als kleines Mädchen ausgelebt? Wie hat die Tatsache, dass Du eine Frau bist, die Entwicklung Deiner musikalischen Karriere behindert? Wie siehst Du Deine Position als Frau in der Musikszene? Hat diese Position Dein Verhältnis zum Sound beeinflusst? Siehst oder spürst Du einen Unterschied im weiblichen und im männlichen Ansatz an Kreativität? Was würdest Du anderen / jungen Frauen empfehlen, die sich bemühen ein kreatives Leben zu führen?

Die Antworten auf diese und allgemeiner gehaltene Fragen fallen so unterschiedlich aus wie die Lebenswege der 48 Interviewten. Es macht nun mal einen Unterschied, ob man Ende der 1970er Jahre in Dänemark zum Jazz kommt wie Lotte Anker oder 1941 in Oklahoma wie Jay Clayton. Haben Männer und Frauen einen anderen kreativen Approach?, fragen die Herausgeber. “NEIN!” ruft Jay Clayton, in Großbuchstaben, keine weitere Diskussion duldend, während Marilyn Mazur einwirft, Frauen würden vielleicht weniger in Wettstreit treten, mehr ans Ganze und Kollektive denken. “Nein, ich sehe da keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen”, findet wiederum Amy X. Neuberg, um gleich anzuschließen, “das heißt aber nicht, dass es keine gäbe.” Klar gibt es einen Unterschied”, erklärt Kali Z. Fasteau, etwa, dass Männer in hierarchischen Systemen besser funktionierten als Frauen. Andererseits, urteilt Nicole Johänntgen, sei diese Frage ziemlich schwer zu beantworten, weil es nun mal so sehr viel mehr Männer als Frauen auf der Szene gäbe.

Nicole Mitchell beantwortet ihre Fragen in poetischen Erinnerungen und Reflexionen über schwarze Musik, den langen Atem der Bürgerrechtsbewegung und ihren eigenen Weg. Maggie Nicols auf der anderen Seite streicht heraus, dass ihre Musik immer sowohl politische wie auch spirituelle Untertöne besessen habe. Ob sie einen Preis bezahlt habe dafür, dass sie Musik mache, fragen die Herausgeber, und Angelika Niescier findet: Im Gegenteil, sie habe daraus sehr viel für sich gewonnen. Musikerin zu werden, sei nun mal eine Lebensentscheidung, finden auch viele ihrer Kolleginnen, niemand zwinge einen schließlich diesen Weg einzuschlagen.

Die weibliche Kreativität erlaube mehr “Raum”, meint Fay Victor, und zwar “sowohl mehr Raum im Sinn von Zeit und Raum wie auch mehr Raum für die Akzeptanz von Fehlern und Intuition”. Klar habe die Tatsache, dass sie eine Frau sei, ihr Verhältnis zum Sound beeinflusst, erklärt Joëlle Léandre. Frauen seien nun mal anders, sie hätten die Fähigkeit zur Distanz, die in diesem Geschäft wichtig sei, außerdem könne man mit ihnen viel besser lachen.

Sie sehen in dieser springend-vergleichenden Zusammenfassung einzelner Antworten bereits, wie ungemein gewinnbringend sich dieses Buch lesen lässt, wenn man blättert, Themen identifiziert, die die Herausgeber durch ihre Fragen ja nicht festgeklopft, sondern nur angestoßen haben, um dann zu sehen, welchen Kontext die verschiedenen Antworten beleuchten. Man erlebt die ja unabhängig voneinander befragten Musikerinnen bald wie in einer respekt- und kraftvollen Diskussion neugieriger, andere Meinungen (meistens) zulassender, vor allem aber ungemein selbstbewusster Musikerinnen.

Das Fazit des Buchs wusste man vielleicht schon vor der Lektüre: Eine einzelne Antwort auf die Frage nach dem kreativen Unterschied nämlich gibt es nicht. Der künstlerische Ansatz zwischen Männern und Frauen ist genauso unterschiedlich wie jener zwischen Männern und Männern oder zwischen Frauen und Frauen. Es gibt jedoch, und das wird in diesem Buch sehr deutlich, ein anderes Diskursverhalten, eine klare Selbstwahrnehmung der Rolle, in die man gesellschaftlich gedrängt wurde.

Unbedingt lesenswert also, ob von Buchdeckel zu Buchdeckel oder im laufenden Vor- und Zurückblättern. “Giving Birth to Sound” erklärt dem interessierten Leser nämlich in der persönlichen Selbstbefragung der Protagonistinnen und oft auch zwischen den Zeilen weit mehr über die Thematik, als man es etwa von wissenschaftlichen Studien erwarten dürfte.

[Naja, wir empfehlen dennoch den Besuch unseres Darmstädter Jazzforums zum Thema “Gender and Identity in Jazz” vom 1.-3. Oktober 2015 oder die spätere Lektüre unserer Beiträge zur Jazzforschung mit den referaten dieser Konferenz. Aber das ist natürlich nur Eigenwerbung…]

Wolfram Knauer (September 2015)


 

Beyond Jazz. Plink, Plonk & Scratch. The Golden Age of Free Music in London 1966-1972
von Trevor Barre
London 2015 (Compass Publishing)
330 Seiten, 12,99 Britische Pfund
ISBN 978-1-907308-84-0
Zu bestellen über trevorbarre@aol.com

Ekkehard Jost hat die Jahre zwischen 1960 und 1980 als eine Zeit beschrieben, in der Europas Jazz zu sich selbst fand, in der Musiker sich von ihren amerikanischen Vorbildern lösten und eigene Wege gingen. Einige dieser Wege führten fort vom, gingen also “beyond jazz”, und diese Entwicklung will Trevor Barre in seinem Buch mit demselben Titel nachzeichnen. Der Gitarrist Derek Bailey forderte eine Improvisation, die sich aus den idiomatischen Bezügen befreien, und auch andere Musiker begannen statt des Begriffs “Free Jazz” von “improvised music” zu sprechen. Barre interessiert, wie es überhaupt dazu kam, dass eine solch sperrige und alles andere als publikumsfreundliche Musik entstehen konnte und warum sie nicht angesichts ihres kommerziellen Misserfolgs einfach nach ein paar Jahren ausstarb. In seinem Fokus steht dabei die erste Generation der freien Improvisatoren, also Musiker wie Evan Parker, Derek Bailey, John Stevens, Kenny Wheeler, Barry Guy, Dave Holland, Trevor Watts, Tony Oxley, Paul Rutherford, Howard Riley, Eddie Prévost, Keith Rowe, Gavin Bryars und Cornelius Cardew.

Barre beginnt mit einer Definition seines Themas: Wo die meisten Jazzbücher den Jazz durch seine improvisatorischen Parameter beschreiben würden, sei Free Music, schreibt er, einzig durch den improvisatorischen Gehalt definiert. Er stellt unterschiedliche Formen freier Improvisation vor, solche, die näher am Jazz bleiben und solche, die eher der europäischen Avantgardetradition verpflichtet scheinen. Die beiden Hauptensembles seines Buchs sind das Spontaneous Music Ensemble und die Gruppe AMM. Barre ordnet deren Auftritte in die Jugend- und Protestkultur der 1960er Jahre ein und schildert, wie die globalen Entwicklungen von Pop, Rock und Folk jungen Musikern ein völlig neues Vokabularium an die Hand gab, sie auch zu neuen Herangehensweisen zwischen tiefer Ernsthaftigkeit und unbändigem Humor bewegten. Er beschreibt auch, welchen Platz sie in die Bandbreite des britischen Jazz jener Jahre zwischen Dixieland und Free Jazz hatten.

Barre zeichnet den Weg einzelner Protagonisten zur freien Improvisation nach, schildert insbesondere die Bedeutung des Little Theatre Club, in dem die jungen Musiker mit Kollegen auch aus dem europäischen Ausland experimentieren konnten. Er beschreibt, wie sie nach und nach merkten, dass es außer dem afro-amerikanischen Jazz auch anderes gab, dass beispielsweise südafrikanische Musiker um Chris McGregor dieser Musik eine neue Farbe geben konnten und dass sich Freiheit, wie sie der Free Jazz implizierte, auch ganz mit anderen Mitteln umsetzen ließ. Er diskutiert wichtige Aufnahmen der Zeit, wobei ihn vor allem die interaktiven Prozesse interessieren, die ästhetischen Diskurse, die sich aus der Improvisation der Aufnahmen ergaben. Das alles beleuchtet er anhand von zeitgenössischen genauso wie selbst geführten Interviews mit beteiligten Musikern. Das Spontaneous Music Ensemble und AMM nehmen zwei der umfangreichsten Kapitel ein, in denen Barre neben dein Einflüssen und den ästhetischen Diskussionen auch über Nachwirkungen schreibt, bewusste oder unbewusste Reaktionen auf die Klangexperimente in weit jüngerer Musik, der 1980er, 1990er Jahre und danach. Er betrachtet den Einfluss der Technologie, schaut auch auf die Bedeutung der visuellen Covergestaltung oder der Plattentexte. Das Label Incus nimmt ein eigenes Kapitel ein, wie FMP in Deutschland oder ICP in Holland ein von Musikern gegründetes Label, das Musik seiner Mitglieder nicht so sehr vermarkten als vielmehr dokumentieren wollte. Improvisation ist schließlich weit mehr als komponierte Musik auf das Medium der Tonaufzeichnung angewiesen – sonst verklingt sie.

In seinem Schlusskapitel betrachtet Barre kurz die “zweite Generation” der Free Music in London um das London Musicians’ Collective sowie eine “dritte Generation” um John Edwards, John Butcher und andere und setzt beide Entwicklungen mit jenem von ihm als “erste Generation” betrachteten Grundthema seines Buchs in Beziehung. Im Nachwort schließlich verfolgt er die Aktivitäten seiner Protagonisten bis in die Gegenwart.

Trevor Barres Buch ordnet die Entwicklung der Free Music der späten 1960er, frühen 1970er Jahre in die kulturelle Szene des “Swinging London” ein. Ihm gelingt dabei vor allem der Blick auf sich wandelnde ästhetische Ideale und eine Begründung derselben aus gesellschaftlichen und politischen Diskussionen heraus. Der Musik selbst kommt er vor allem in Interviews mit den beteiligten Musikern nahe. Die inhaltliche wie organisatorische Unabhängigkeit der britischen Improvisationsszene jener Jahre hat Auswirkungen bis heute. Initiativen wir F-Ire Collective wären ohne das Vordenken und Vormachen der hier beschriebenen Musiker und Gruppen nicht möglich gewesen. Von daher füllt Barres Buch eine Lücke. Dass er bestimmte Themen weitgehend außer Acht lässt – die Auseinandersetzung dieser Szene mit ihrem Publikum beispielsweise oder mit den Mainstream-Medien, der tatsächliche Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Szenen oder die Reaktion amerikanischer Musiker, zeigt nur, wie viele Perspektiven das Thema tatsächlich hat, die bislang kaum beleuchtet wurden. Barre jedenfalls stößt mit “Beyond Jazz” die Tür zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der musikalischen Freiheitsbewegung jener Zeit weit auf.

Wolfram Knauer (August 2015)


 

Little Satchmo. Living in the Shadow of my Father, Louis Daniel Armstrong
von Sharon Preston-Folta (mit Denene Millner)
Charleston/SC 2015 (self published)
112 Seiten, 12 US-Dollar
ISBN: 978-1-481227-23-7
Zu beziehen über www.littlesatchmo.com

2015prestonfoltaDie offizielle Version lautet: Louis Armstrong hatte nie Kinder. Er hätte immer gern welche gehabt, sagte seine letzte Frau und Witwe, Lucille Armstrong, aber er sei zeugungsunfähig gewesen. Nun kommt, 34 Jahre nach Satchmos Tod, Sharon Preston-Folta mit einem Buch heraus, in dem sie kundtut, sie sei die Tochter Louis Armstrongs aus einer außerehelichen Beziehung, die Satchmo in den 1950er Jahren hatte.

Ihr Leben lang habe sie diese Wahrheit herunterschlucken müssen. Sie wolle kein Geld, keinen Ruhm, aber immer selbst auf das öffentliche Wissen um ihren Vater verzichten zu müssen, sei einfach zu viel. In ihren Recherchen habe sie nur einen einzigen schriftlichen Hinweis auf Satchmos Vaterschaft gefunden, einen Brief des Trompeter an seinen Manager, Joe Glaser, aus dem Jahr 1955, in dem er diesen bat, vor der Ankunft seiner Frau Lucille in Las Vegas ein paar Geschäftsdinge zu klären, darunter Zahlungen an eine Freundin, von der er glaubt, dass sie ein Kind von ihm habe. Ihre Mutter habe sie immer beschworen, ihren Vater geheim zu halten, und so habe sie letzten Endes gehorcht und damit auch keine Ansprüche geltend gemacht auf sein physisches, historisches und finanzielles Erbe. Wenn sie etwas gekränkt habe bei ihren Recherchen, sei es, dass Louis Armstrong in seinen Briefen so offen über alles geredet habe, seine Musik, seine Kindheit, seine Liebe zum Essen und zu den Frauen, über Sex, sogar über seine Darmtätigkeit, dass er über seine Tochter aber sein Leben lang geschwiegen habe.

Warum er ihre Existenz verleugnet habe? Nun, erklärt Preston-Folta, Louis Armstrong sei ein gefeierter Künstler seiner Zeit gewesen und habe sich in der besten (weißen) Gesellschaft aufgehalten. Es habe einfach nicht gepasst, in dieser Zeit, wenn Nachrichten über ein uneheliches Kind mit einer Geliebten in die Schlagzeilen gekommen wären.

Prestons Mutter wurde 1921 in New York geboren und arbeitete bereits als 16-Jährige als Chorus Girl in diversen Shows. 1941 heiratete sie einen Tänzerkollegen; 1946 arbeiteten die beiden als Tanzpaar “Slim & Sweets” als Vorgruppen für große Swingorchester, unter ihnen auch Louis Armstrong, der sich mit ihnen anfreundete und in einen launigen Briefwechsel einstieg. 1950 starb Slim, und bei der Trauerfeier war auch Louis Armstrong dabei, der Lucille Preston in den Arm nahm und versprach: “Ich werde mich um dich kümmern.” In den nächsten vier Jahren reiste sie Pops hinterher und tauchte auf, wann immer Armstrongs in New York spielte. 1954 wurde Preston schwanger, und im November schrieb Satchmo ihr einen Brief, in dem er erklärt, wie sehr er sich auf das Kind freue und sogar vorschlägt, sie zu heiraten, sollte seine Frau (mit gleichem Namen Lucille) sich von ihm scheiden lassen. Armstrong war dann aber nicht dabei, als Sharon Louise (nach Louis) Preston am 24. Juni 1955 das Licht der Welt erblickte. Armstrongs rechtmäßige Ehefrau war “not amused” und habe ihm nach der Geburt der Tochter sogar vorgeschlagen, diese zu adoptieren, was ihre leibliche Mutter aber vehement ablehnte. Lucille (die Ehefrau) habe sogar die Alimente überwiesen, bis sie diese Aufgabe irgendwann Joe Glaser übertrug.

In ihrem Buch berichtet Sharon von den viel zu seltenen, sorgfältig geplanten und sehnsuchtsvoll erwarteten Treffen. Sie und ihre Mutter lebten eine Weile bei ihrem Onkel Kenny, der nach außen schon mal als Lucilles Ehemann auftrat und immer wieder auf seine Schwester eindrang, bei Satchmo mehr einzufordern: mehr Geld, mehr Fürsorge, am besten seinen Namen. Bei einzelnen Sommertourneen durfte Sharon mitreisen. Ansonsten aber war Satchmo vor allem durch die monatlichen Unterhaltszahlungen präsent, durch Broadway-Tickets, 1962 durch den Kauf eines Hauses in Mount Vernon, New York. In Harlem hatte sich niemand wirklich darum gekümmert, wie ihre Familienverhältnisse aussahen, erzählt Preston-Folta, in Mount Vernon aber begann eine Zeit der Lügen. Die Liaison dauerte ja bereits 12 Jahre, aber nach wie vor war nicht in Sicht, dass Armstrong auch öffentlich zu seiner Familie stehen würde. Mit zehn Jahren begriff Sharon erstmals, dass ihr Vater eine “andere Lucille” hatte, ein anderes Leben, das mit ihrem aber auch gar nichts zu tun hatte.

Etwas später seien sie gemeinsam in Atlantic City zu einem Auftritt Marvin Gayes gegangen, es habe einen Streit zwischen den Erwachsenen gegeben, bei dem ihre Mutter Satchmo fragte, wann er sie nun endlich zu heiraten gedachte, worauf er laut wurde: “Ich werde dich niemals heiraten” und mit Fingerzeig auf die Tochter fragte: “Sag mir einfach, was es kostet, für sie zu sorgen!” Das war das Ende der Beziehung.

Kaum war Armstrong gestorben, kamen auch die monatlichen Schecks nicht mehr. Ein paar im Voraus geleistete Zahlungen für Sharons Erziehung hielten sie und ihre Mutter über Wasser, mussten bald auch den Zuwachs zur Familie finanzieren, denn Sharon wurde mit 16 selbst Mutter. Sharon erzählt, wie ihr Leben weiterging, immer gezeichnet durch die Narben, die der fehlende Vater hinterlassen hatte. Irgendwann rebellierte sie gegen die eigene Bitterkeit und versuchte, das emotionale Band, das sie mit der verlorenen, nie gehabten Vergangenheit hatte, zu zerschneiden.

Sharon Preston-Foltas Buch endet mit einem Besuch im Armstrong House in Queens. Ein Anwalt hatte ihr empfohlen, einen Blick in Satchmos Testament zu werfen, das eine eidesstattliche Erklärung von Lucille, Armstrongs Frau, enthielt, Armstrong habe nie Kinder gehabt. Als Sharon diese Zeilen las, von Lucille eigenhändig korrigiert von “Der Verstorbene und ich hatten keine Kinder” in “Der Verstorbene hatte keine Kinder”, entschied sie sich, jetzt ihr Geschichte zu erzählen. Ihre Mutter, die sie immer zur Geheimhaltung gedrängt hatte, willigte endlich ein: “Mach, was Du meinst, dass du tun musst.”

Sharon Preston-Foltas Buch ist als eine Liebeserklärung an die von ihr immer vermisste Vaterfigur Louis Armstrong geschrieben, aber es ist eben auch eine leicht verbitterte Liebeserklärung geworden. An genügend Stellen legt man es zur Seite, unterschiedlich berührt von den Schuldzuweisungen, mit denen Preston-Folta ihre eigenen Lebensentscheidungen aus ihrer vaterlosen Kindheit und Jugend ableitet. Ein bedrückendes Schicksal, denkt man, und fragt sich zugleich, warum sie, die immer wieder von der DNA ihres Vaters schreibt, die in ihr fortlebe, nicht irgendwann, spätestens vor der Veröffentlichung dieses Buchs, auf einem DNA-Test bestanden habe. Doch ist es einem Kind, das sein Leben lang sicher ist, seine Eltern zu kennen, überhaupt zuzumuten, von einem auf den anderen Tag an der Tatsache der Vaterschaft zu zweifeln? Auch als skeptischer Leser sollte man jedenfalls für die Zeit der Lektüre erst einmal die Grundbehauptung der Vaterschaft Louis Armstrongs akzeptieren, sonst hat man wenig Spaß am Buch. Armstrong selbst schließlich scheint bis zu seinem Tod überzeugt davon gewesen zu sein, in Sharon eine Tochter gehabt zu haben.

Allen Fragen und sicher auch allen möglichen Zweifeln zum Trotz, die einem bei der überraschenden Enthüllung Sharon Preston-Foltas kommen mögen, lernt man einiges bei der Lektüre, und wenn nur, dass Scheinwerferlicht auch Schatten wirft, dass Stars wie Louis Armstrong das Leben vieler Menschen zum Teil viel direkter berührten, als man es wahrhaben mag, und nicht zuletzt, dass die Persönlichkeit großer Stars aus ihren emotionalen Stärken genauso besteht wie aus ihren emotionalen Unzulänglichkeiten. Am Glorienschein des großen Meisters mag das alles ein wenig kratzen; der Kraft seiner Musik tut es keinen Abbruch.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Theatrical Jazz. Performance, Àṣẹ, and the Power of the Present Moment
von Omi Osun Joni L. Jones
Columbus/OH 2015 (The Ohio State University Press)
270 Seiten, 99,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8142-1282-0

2015jonesDer Blick über den Tellerrand kann das Wesentliche erhellen, der Blick von außen Dinge erkennen lassen, die man im internen Diskurs oft nicht mehr sieht. Das ist einer der Hintergründe für die sogenannten “new jazz studies”, ein Konzept in der jüngeren Jazzforschung, das sich der untersuchten Materie neben der musikwissenschaftlichen Betrachtung interdisziplinär nähert. Die Feministin Omi Osun Joni L. Jones versucht in ihrem Buch eine Verbindung zwischen Jazzästhetik , theatralischer Performance und auf Yoruba basierender afrikanischer Theologie. Dabei beschreibt sie als eine der zentralen Prinzipien der Jazzästhetik die Fähigkeit, die eigenen intuitiven Kräfte freizusetzen. In ihrer Beschäftigung mit afrikanischer Spiritualität habe sie gelernt, dass auch in wissenschaftlichen Büchern die Auseinandersetzung mit spirituellen Impulsen nicht zu kurz kommen dürfte, ganz ähnlich wie dies auch Jazzgrößen wie John und Alice Coltrane immer gesehen hätten. Sie will mit ihrem Buch den Jazz gegen den Strich bürsten, seine Begriffe, Handlungen, Ausformungen kritisch hinterfragen, und zwar aus der Perspektive aller seiner unterschiedlichen Bedeutungen in musikalischer Ästhetik, Performance, gesellschaftlichem Spiegel, ethnischer Identität oder politischer Haltung. Es gäbe Kollegen, schreibt sie in ihrer Einleitung, die den Jazz als eine polyglotte Form ansähen und damit Gefahr liefen seine Wurzeln in der afro-amerikanischen Kultur zu leugnen. Tatsächlich aber sei die spirituelle Kraft nicht an irgendwelche Identitätsregeln gebunden. Die spirituelle Transzendenz des Jazz brauche keine Abwesenheit ethnischer Identität (“race”), sondern höchstens Abwesenheit solch einer ethnischen Identität (“race”) als Restriktion oder als Prognose.

Tatsächlich handelt ihr Buch allerdings zentral gar nicht von Musik, sondern vom Theater, und hier insbesondere von den drei Theaterautoren Laurie Carlos, Daniel Alexander Jones und Sharon Bridgforth. Jones bedient sich in ihrer Herangehensweisen an das Thema der feministischen und queeren Theorie, erklärt Wirkungen der Theaterperformance aus der Haltung des Jazz heraus und zugleich aus ihrer Interpretation von Yoruba-Traditionen. Als übergeordneten Approach versucht sie ihrem wissenschaftlichen Buch darüber hinaus aber auch improvisatorische Strukturen zu geben, indem sie Bilder, Fotos, Zeichnungen, Zitate einfließen lässt, die wie kurze solistische Kommentare neben ihrem Text stehen.

In ihrer Einleitung zitiert Jones einige Beispiele direkter Bezugnahme von Jazzmusikern wie Dizzy Gillespie und John Coltrane auf Yoruba-Beschwörungen, erinnert außerdem an die lebendige Avantgarde-Theaterszene von Austin, Texas, in der in den 190er Jahren die Verbindungen von Theater und Jazz besonders entwickelt wurden. Im ersten Kapitel betrachtet sie, wie biographische Erfahrungen die drei von ihr untersuchten Autoren prägten, Carlos’ Jugend im New Yorker East Village, Jones’ Aufwachsen im Arbeiterklasse-Milieu von Springfield, Massachusetts, Bridgforths Bustrips durch die verschiedenen Viertel von Los Angeles. Sie analysiert die dem Jazz nahestehenden Praktiken von Lehrer und Schüler im Theater, deren Lernprozesse dabei immer gegenseitig sind. Das zweite Kapitel untersucht Performance-Methoden, Ansätze an Regie, Probenphasen, das Beziehung-Herstellen zum Publikum, die Auswahl der Schauspieler, aber auch das Zulassen spiritueller Erfahrung im Verlauf der Performance. Im dritten Kapitel schließlich fragt sie danach, was die Performance beim Publikum (sie spricht gern von “witnesses” = Zeugen) auslöst, wie sie zu einer Perspektivverschiebung führen kann, einer aktiven Partizipation des Publikums, die das eigentliche Ziel aller Beteiligten sei.

Wenn ich Jones zu Beginn dieser Rezension in die Nähe der “new jazz studies” gestellt habe, so muss ich diese Aussage zumindest zum Teil revidieren. In den New Jazz Studies werden Aspekte des Jazz möglichst von vielen Seiten (und mit unterschiedlichen Methoden) betrachtet. Jones geht den entgegengesetzten Weg: Sie nutzt, was sie vom Jazz gelernt hat, um ihr eigentliches Thema, die Performance im Theater genauer zu definieren. Sie erkennt im Jazz Kommunikations- und Tradierungsmodelle, die so beispielhaft sind, dass sie ein anderes Genre besser verstehen lassen, vielleicht sogar Modell stehen können für neue, weitreichendere Regie- oder Performance-Ansätze. Ihr Buch ist darin so weitsichtig wie der Versuch früherer Literaturwissenschaftler wie Houston Baker, insbesondere den Bereich der afro-amerikanischen Literatur (aber durchaus darüber hinaus) durch die schon von Ralph Ellison oder Albert Murray identifizierte Blues Aesthetic zu beschreiben. Beide nahmen dabei sehr bewusst auf westafrikanische kulturelle Traditionen, Praktiken und Symbole Bezug, für den ungeübten Leser einerseits manchmal etwas schwer nachvollziehbar, gerade dadurch aber die Argumentation auch angenehm schnell aufbrechend und Rückschlüsse erlaubend.

Wenn nämlich die Praxis des Jazz als Erklärungsmodell für andere künstlerische Praktiken taugt, dann wirft das ein ganz anderes Licht auch auf den Stellenwert von Jazz und Improvisation.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


The Long Shadow of the Little Giant. The Life, Work and Legacy of Tubby Hayes
von Simon Spillett
Sheffield 2015 (Equinox)
377 Seiten, 19,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78179-173-8

2015spillettWie Hans Koller oder Lars Gullin war der britische saxophonist Tubby Hayes eine der europäischen Jazzgrößen, die ihren Kollegen genauso wie ihrem Publikum klar machten, dass der Jazz zwar eine afro-amerikanische Musik war, dass aber Europäer das Idiom durchaus beherrschten und ihre eigenen Beiträge zur Tradition des Jazz leisten konnten. Hayes kam aus der Swing-Mainstream-Tradition des Jazz, nahm erst Bebop, Hardbop, schließlich Einflüsse des Spiels John Coltranes in seinen Stil auf und starb 1973, gerademal 38 Jahre alt, in Folge einer Herz-Operation.

Dem Autor und Saxophonisten Simon Spillett gelingt es in seinem Buch “The Long Shadow of the Little Giant” mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews und Material aus Hayes’ persönlichem Archiv das Leben und die musikalische Karriere des Saxophonisten in den Jahren vom bombenerschütterten London der Nachkriegszeit über die jazzigen 1950er Jahre und die Swinging Sixties bis hin zur großen Krise des Jazz Anfang der 1970er Jahre nachzuzeichnen.

Hayes wurde in eine musikalische Familie geboren – sein Vater leitete in den 1930er Jahren verschiedene Tanzorchester, seine Mutter war Revuesängerin und -tänzerin. Schon früh war er vom Saxophon fasziniert, begann aber im Alter von acht Jahren erst einmal mit Geigenunterricht, und bekam schließlich zum elften Geburtstag das langersehnte Saxophon, das er größtenteils autodidaktisch meisterte. Er hatte ein gutes Gehör, und der Geigenunterricht hatte ihn zu einem exzellenten Notisten gemacht. Er hörte Charlie-Parker-Platten und bewegte sich in Kreisen Gleichgesinnter, spielte bald mit Ronnie Scott, Alan Skidmore und Kenny Baker, mit dem er im Juli 1951 auch seine ersten Aufnahmen machte.

Die Baker Band hatte jede Menge Fans, und die Presse wurde schnell auf Hayes aufmerksam, der bald als “boy wonder tenorist” vermarktet wurde und, noch nicht einmal 20 Jahre alt, mit den Modernisten der britischen Jazzszene spielte. Mit 18 heiratete er zum ersten Mal, hatte schon zuvor alle möglichen Drogen ausprobiert. Er spielte in den populären Bands von Vic Lewis, Jack Parnell, Tony Hall und hatte schließlich auch mit seiner eigenen Band einen vollen Terminkalender.

Spillett beschreibt, wie britische Musiker in jenen Jahren das US-amerikanische Idiom des Hardbop gemeistert hatten, die Musik von Art Blakey und Horace Silver, und wie Kollegen wie Sonny Rollins oder Hank Mobley ihre stilistischen Spuren in Hayes’ Spiel hinterließen. 1958 traten Hayes’ Jazz Couriers neben dem Dave Brubeck Quartet bei einer Tournee durch sechzehn Städte des Vereinigten Königreichs auf; 1959 wurde Hayes vom Melody Maker zum besten Tenorsaxphonisten gewählt.

Andere Musiker hatten die Entwicklung des amerikanischen Jazz genauso interessiert mit verfolgt; und um 1960 kamen erste Versuche “freier Form” auch in England an. Joe Harriott war einer der ersten, die sich an freieren Spielweisen versuchten; Hayes aber blieb skeptisch. Die Eröffnung von Ronnie Scott’s, bis heute einem der wichtigsten Clubs des Königreichs, war sowohl für die Präsenz des amerikanischen Jazz in England wichtig als auch für das Selbstbewusstsein der eigenen Szene. Der BBC schnitt Konzerte mit, und Plattenfirmen widmeten dem heimischen Jazz eigene Alben. 1961 trat Hayes erstmals in New York auf, wo ihn die Größen des amerikanischen Jazz hörten, unter ihnen Zoot Sims, Al Cohn und Miles Davis. Zurück in England erhielt er einerseits eine eigene Fernsehshow, “Tubby Plays Hayes”, hörte er andererseits erstmals John Coltrane, der sein Bild von den Möglichkeiten im Jazz genau wie das vieler anderer Kollegen völlig veränderte.

Als Duke Ellington 1964 in England auftrat, jammte Hayes mit Bandmitgliedern und wurde vom Duke gebeten für Paul Gonsalves einzuspringen, als dieser unpässlich war. In den nächsten Jahren war Hayes international unterwegs, trat im New Yorker Half Note genauso auf wie beim NDR Jazz Workshop in Hamburg. Er arbeitete wie besessen, hatte zugleich gesundheitliche Rückschläge, darunter eine Thrombose, die auch seine Lungenfunktion herabgesetzt hatte.

Ende der 1960er Jahre hatte der britische Jazz zwei Probleme: die Macht der Rockmusik auf der einen Seite und das Verlangen des Publikums nach amerikanischen Künstlern auf der anderen Seite. Hayes erlitt auch persönliche Rückschläge, etwa als seine Freundin starb und er daraufhin noch stärker zu Drogen griff. Er musste wegen Herzproblemen immer häufiger in ärztliche Behandlung, begann aber trotz aller gesundheitlichen Probleme ein musikalisches Comeback. Er spielte mit Musikern der britischen Avantgarde, John Stevens, Trevor Watts, Kenny Wheeler, beteiligte sich bei einem Benefizkonzert für Alan Skidmore, der nach einem Autounfall im Krankenhaus lag, starb aber schließlich nach einer Operation, bei der eine Herzklappe ausgetauscht werden sollte.

“The Long Shadow” heißt das Buch, und so widmet Spillett sein letztes Kapitel der kritischen Aufbereitung seiner musikalischen Bedeutung nach seinem Tod sowie dem Nachwirken Hayes’ auf der britischen Szene. Er schließt mit einer Diskographie die Aufnahmen des Saxophonisten zwischen 1951 bis 1973 verzeichnet.

Simon Spillett hat viel Sorgfalt in seine Recherchen gesteckt. Nebenbei wirft er immer wieder aufschlussreiche Blicke auf die Musik selbst, auf die Aufnahmen, die Hayes’ musikalische Entwicklung dokumentieren. Wenn überhaupt, so mangelt es dem Buch insbesondere in diesem Segment an Tiefe, etwa an Erklärungen, wo sich Einflüsse, ästhetische Umbrüche und anderes konkret festmachen lassen. Eingehend aber beschreibt er den Lebensweg, die persönlichen Probleme, die musikalischen und ästhetischen Entscheidungen und zieht die Verbindungen zu den allgemeinen Entwicklungen des Jazz in Großbritannien, in Europa und in den Vereinigten Staaten. Spillett konnte mit Zeitzeugen sprechen und hatte Zugriff auf Hayes’ persönliche Papiere. Sein Buch ist eine definitive Biographie, die viele Fragen beantwortet und dabei im umfassenden Apparat all die Dokumente benennt, die für eine solche Arbeit notwendig sind.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Musiktraumzimmer Jazzcampus
herausgegeben von Peter Rüedi & Steff Rohrbach
Basel 2015 (Jazzcampus / Echtzeit Verlag)
212 Seiten, 32 Euro
ISBN: 978-3-905800-78-4

B2015rueediasels Jazzschule ist zum Jazzcampus geworden, zu einer Hochschule für improvisierte Musik, in der, wie der Titel dieses Buchs suggeriert, jede Menge an Träumen und Visionen wahrgeworden sind. Da ist zuallererst die Vision des Gründers und Gitarristen Bernhard Ley, der erzählt, wie er die Schule in den Räumen eines Jugendkulturzentrums gründete und wie er es dann durch pädagogisches wie politisches Geschick, aber auch durch das Talent der Vernetzung, das die Schule zum Teil des Basler Kulturlebens werden ließ, erreichte, sie zu einem Kompetenzzentrum zu machen, in dem der musikalische Gehalt, die Arbeit von Lehrenden und Schüler/innen, sich auch in der architektonischen Umsetzung spiegelt.

Davon nämlich handelt dieses Buch, vom glücklichen Unterfangen, auf den Grundrissen einer ehemaligen Maschinenfabrik eine Musikschule zu bauen mit all der für eine solche notwendigen Infrastruktur, Club, Konzertsaal, Tonstudio, Probenräume etc. Ein Musiktraumzimmer sei das ganze geworden, eine Raumrealisation also, die dem Thema “Jazz” angemessen sei. Mitgeholfen hätten alle, die Architekten Lukas Buol und Marco Zünd, der Bauherr Georg Hasler von der Stiftung Levedo sowie Bernhard Ley, der als Studiengangsleiter den zukünftig alltäglichen Gebrauch im Blick behielt. Das Gespräch mit diesen vieren erklärt Fragen der Akustik, Diskussionen im Planungsverlauf, die Außenwirkung genauso wie den inneren Glanz (sprich: Farben, Bodenbeläde, Beleuchtung).

Solch eine theoretische Diskussion lässt sich nur durch Fotos und Raumpläne in Buchform einfangen. Eigentlich gehört Musik dazu, noch wichtiger wäre der tatsächliche Raumeindruck, der aber in der Architektur immer noch einzig durch einen Besuch ermöglicht wird.

Um die tatsächliche musikalische und pädagogische Nutzung der Räume geht es im zweiten, noch umfassenderen Teil des Buchs: um Konzepte der Jazzpädagogik, persönliche Herangehensweisen an Musik, ästhetische Vorstellungen, die Rückwirkung von Unterricht auf die eigene Kunst der unterrichtenden Musiker.

Wolfgang Muthspiel etwa betont, wie wichtig es neben einem festen Lehrerstamm sei, großartige internationale Kollegen als Gastdozenten an die Schule zu holen. Andy Scherrer erzählt, wie er zum Unterrichten wie die Jungfrau zum Kind gekommen sei, und wie er trotz vieler Schüler immer eine gesunde Skepsis gegenüber des Unterrichtens beibehalten habe. Malcolm Braff erklärt, dass er nicht so sehr das Klavier denn vielmehr sich selbst als das wirkliche Instrument empfinde und wie er in den letzten Jahren eine rhythmische Theorie entwickelt habe, die auch Grundlage seines Unterrichts an der Hochschule sei. Lisette Spinnler versteht die Stimme als Instrument und Texte als Ausgangspunkt für musikalische Erkundungen. Adrian Mears plädiert auch beim Lernen für Spielpraxis, egal mit was für Besetzungen. Bänz Oester vertraut auf die Motivation zukünftiger Musiker/innen, auf die Verantwortung für das Selbst, das Eigene. Domenic Landolf mag sich weder verbiegen noch sonderlich in den Vordergrund spielen. Jorge Rossy spricht über die Standards als Basis und über seine Arbeit mit Carla Bley und Steve Swallow. Matthieu Michel überlegt, wie man als junger Musiker neben der Technik vor allem zu einer eigenen Stimme gelangt. Hans Feigenwinter sieht seine analytischen Fähigkeiten als eine Grundlage seines Musikmachens, zugleich aber die Musik auch als laufenden Ansporn, sie analytisch zu begreifen. Gregor Hilbe berichtet über die Bedeutung des Schlagzeugers in einer rhythmischen Kultur, und zugleich über die Idee des Producing / Performance-Studiengangs am Jazzcampus Basel. Daniel Dettmeister hatte die Chance, als Tonmeister selbst Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung des Aufnahmesaals der Hochschule. Mit Martin Lachmann kommt zum Schluss auch noch der Akustiker selbst zu Wort, der die Räume eingerichtet hat.

Eine bunte Abfolge von Interviews, Reflexionen und Fotos also, die sehr umfassend das Konzept klarmachen, dass hinter dem Jazzcampus Basel steckt: Freiräume schaffen und beste akustische Möglichkeiten. “Musiktraumzimmer Jazzcampus” ist damit zwar vordergründig eine in Buchform gepresste Imagebroschüre der Hochschule, zugleich aber erheblich mehr: ein Manifest für eine Jazzausbildung, in der Kunst und Wirklichkeit, Klang und Akustik, Pädagogik und Freiheit sinnvoll miteinander in Beziehung stehen.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Résume. Eine deutsche Jazz-Geschichte
von Eberhard Weber
Stuttgart 2015 (sagas.edition)
252 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-944660-04-2

2015weberDer Autor kommt gleich zur Sache: Der Leser wisse ja bereits, dass er, Eberhard Weber, gut 40 Jahre lang als Jazzbassist aktiv war, vielleicht auch, dass er seine aktive Karriere nach einem Schlaganfall 2007 beenden musste. Der Leser wisse wahrscheinlich etliches über seine Karriere, wahrscheinlich auch über den Jazz – was könne er dazu noch beitragen…? Nun, wenn überhaupt, dann könne er aus seinen eigenen Erinnerungen erzählen, sehr persönliche Geschichten, die sich um die Musik drehen, die aber auch sein ästhetisches Weltbild und vieles darüber hinaus berühren. Webers Buch wird so zu seinem “Resumé”. Und es mag vielleicht nicht “die” deutsche Jazzgeschichte sein, aber es ist auf jeden Fall, wie der Untertitel verspricht, “eine deutsche Jazz-Geschichte”, ein Beispiel dafür, wieso ein junger Mann zu dieser Musik kommt, was ihn über all die Jahrzehnte an ihr faszinierte und wie er lernte, in ihr sich selbst auszudrücken.

Eberhard Weber, dem musikalischen Geschichtenerzähler, gelingt der narrative Bogen auch in Worten. Bereits das Eingangskapitel, das vom “Schlag” handelt, der ihn kurz vor einem Konzert mit Jan Garbarek in der Berliner Philharmonie traf, von der Unsicherheit über seinen Gesundheitszustand, von der Hoffnung, wieder spielen zu können, zeigt seine erzählerischen, auch zur Selbstironie fähigen schriftstellerischen Qualitäten.

Im zweiten Kapitel widmet sich Weber seiner eigenen Vorstellung von Jazz. “Jazz”, schreibt er ironisch, doch nicht ganz falsch, “ist, wenn es der Komponist, der Arrangeur oder der ausführende Musiker dem Hörer so schwer wie möglich macht, der Musik zu folgen – und trotzdem alle Spaß daran haben. Das unterscheidet ihn von der vermeintlich ‘Neuen Musik’.” Doch neben dem Jazz als großer Kunst will Weber in diesem Kapitel auch seiner eigenen Ästhetik auf die Schliche kommen. Wiederholungen, erkennt er, langweilen ihn in der Regel; die Schlüsse von Stücken, findet er, misslingen meist. Er weiß, dass Solisten auch mal ohne Inspiration sein können und weiterspielen müssen. Er weiß auch um seine eigenen Schwächen als Bassist und beschreibt, wie man nur, wenn man um die technischen Probleme des eigenen Spiels oder des eigenen Instruments weiß, diese überkommen und kreativ mit ihnen umgehen könne.

Weber selbst wurde die Musik in die Wiege gelegt. Sein Vater, erzählt er, hatte als Cellist klassische Musik gemacht, daneben aber auch Cello und Banjo im Tanzorchester von Bernard Etté gespielt. Weber kam mitten im Krieg in Esslingen zur Welt. Seine Mutter sang, und “im häuslichen Weber’schen Freundeskreis”, erinnert er sich, “triumphierte Gesang über Instrumentales”– vielleicht eine Vorbereitung auf seine eigene sangliche Haltung beim Instrumentalspiel? Gehörbildung fand im Kinderzimmer statt, wenn seine Schwester und er Automarken am Klang unterschieden und dabei lernten zuzuhören und zu differenzieren. Ein Vetter quartierte sich nach der Kriegsgefangenschaft bei ihnen ein und begann Flöte zu lernen. Man diskutierte über Wagner und spielte Kammermusik. Weber bekam Cellounterricht, dann entdeckte er den Jazz und mit ihm wechselte er zum Kontrabass.

Im Jazz brachte er sich das meiste selbst bei, berichtet von ersten Bühnenerfahrungen, von Stuttgarter Jazzern wie Horst Fischer und Ernst Mosch, vom ersten Einsatz in Erwin Lehns Orchester als Vertretung für dessen regulären Bassisten. Seine musikalische Leidenschaft führte dazu, dass Weber durchs Abitur rasselte, eine Lehre als Fotograf begann und Kameraassistent bei einer Fernsehfirma wurde. Nebenbei spielte er mit gleichaltrigen Musikern, lernte Anfang der 1960er Wolfgang Dauner kennen und wurde bald Mitglied in dessen Trio. Er erzählt von den unterschiedlichsten Auftrittsorten zwischen Nachtclub, Café, Tanz und Ami-Kaserne, von Einflüssen auf sein Bassspiel, davon, wie das Dauner-Trio seinen eigenen Stil fand. Zwischendurch gibt es reichlich Anekdoten, aber auch Einblicke in die technischen Seiten seiner Kunst: Instrumentenwahl, Akustik, Pickups, Verstärker, elektronische Spielereien.

Ende der 1960er Jahre wandten Dauner und Weber sich freieren Spielweisen zu. Weber weiß um seine Beobachtungsgabe, weiß auch, dass er sich gern mal zur Polemik hinreißen lässt. Doch er besitzt eben auch die Erfahrung, Beobachtetes, insbesondere, wenn es um Musik geht, passend einordnen zu können. Und so mag man mit mancher polemischen Äußerung, die seinem eigenen musikalischen Geschmack zuzuschreiben ist, nicht übereinstimmen, wird aber an richtiger Stelle durch ein Augenzwinkern darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor zwar eine feste Meinung hat, sich selbst aber auch nicht immer ganz so ernst nimmt.

Weber stand in seiner Karriere bei zwei Plattenfirmen unter Vertrag, die Weltgeltung besaßen, Hans-Georg Brunner Schwers MPS und Manfred Eichers ECM. Er beschreibt die Arbeiten zu “The Colours of Chloë” und den folgenden internationalen Erfolg. Er erzählt vom Zusammenspiel mit Gary Burton, von den Unterschieden zwischen amerikanischen und europäischen Gepflogenheiten in der Jazzszene, von Tourneen mit seiner eigenen Band Colours, durch Deutschland – Ost und West –, die USA und Australien. Er berichtet von seiner Zusammenarbeit mit Jan Garbarek, mit dem er auch offizielle Empfänge spielte, bei denen Politiker, Botschafter, Bundespräsidenten, gekrönte Häupter begeistert waren, “endlich mal kein Streichquartett hören zu müssen”.

Eberhard Weber ist ein vielgereister Musiker. Seine Berichte von Zollformalitäten, Einreisebestimmungen, fasst verpassten Flügen und sonstigen Widrigkeiten sind amüsante Anekdoten, die vor Augen führen, dass das Musikerdasein nicht nur der aus musikalischer Kreativität besteht, die das Publikum erwartet und zumeist auch bekommt. Eine Professur für Musik hatte er nie annehmen wollen. Seine Begründung, die wie ein Tenor seine ungemein flüssige und lesenswerte Autobiographie beendet: “Ich kann nicht Bass spielen. Aber ich weiß, wie’s geht.”

Wolfram Knauer (Juni 2015)


Coltrane sur le Vif
von Luc Bouquet
Nantes 2015 (Lenka Lente)
146 Seiten, 13 Euro
ISBN: 978-2-9545845-8-4

2015bouquetDie Großen des Jazz waren zumeist auch die Meistaufgenommenen, und neben den offiziellen Einspielungen im Studio gehörten über die Jahre Bootlegs dazu, Schwarzpressungen von legalen oder illegalen Mitschnitten, die in mal besserer, mal schlechterer Qualität auf den Markt kamen. Solche Bootlegs haben naturgemäß keine Studioqualität; zum Teil sogar einen unsäglich schlechten Sound. Aber sie sind nicht nur für den Fan, sondern auch für den Experten ein immens wichtiger Teil der Aufnahmegeschichte dieser Musiker. Sie dokumentieren nicht die perfekte Abmischung, sondern den Alltag des Konzerts, in dem das Solo völlig anders klingen kann, in dem die Künstler mit dem Material oder auch mit sich selbst zu kämpfen haben, in dem mal bessere, mal schlechtere Fassungen der großen Titel erklingen, vergleichen mit den auf den im Studio gefertigten Referenzaufnahmen.

Luc Bouquet hatte im französischen Magazin Improjazz eine Reihe über die Liveaufnahmen John Coltranes veröffentlicht und diese jetzt in die zwölf Kapitel des vorliegenden Buchs einfließen lassen. Ein erstes Kapitel beschreibt Coltranes erste Aufnahmen aus dem Jahr 1946 sowie zwei Sessions mit Dizzy Gillespie bzw. Johnny Hodges. Kapitel 2 widmet sich den Jahren 1955-57 und Livemitschnitten mit Miles Davis, Kapitel 3 der Zeit von 1957-58 und den erst jüngst entdeckten und doch schon legendären Aufnahmen Coltranes mit dem Thelonious Monk Quartet. Zwei weitere Miles Davis-Kapitel schließen sich an, 1958-59 in den USA sowie 1960 in Europa, dann beginnt mit Kapitel 6 die Aufnahmegeschichte von Coltranes eigenen Bands: sein klassisches Quartett, Trane und Dolphy, die diversen Besetzungen von 1962, 1963, 1964-65 bis hin zu seiner letzten Liveaufnahme, dem “Olatunji”-Konzert vom April 1967. Jede der Platten wird mit Besetzungs- und Inhaltsangaben gelistet, dazu kommt eine kurze Beschreibung dessen, was auf ihr zu hören ist. Allzu tief versteigt sich Bouquet dabei weder in die Musik noch in die Begleitumstände der Aufnahmen – so wäre etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Entdeckungsgeschichte der Bänder von Tranes Carnegie-Hall-Konzerts mit Thelonious Monk durchaus berichtenswert gewesen.

Bouquets Buch ist als eine Art annotierte Diskographie der Liveaufnahmen John Coltranes ein nützliches Handbuch sowohl beim Hören wie auch bei der Entscheidungsfindung, was man sich vielleicht noch zulegen könnte.

Wolfram Knauer, April 2015[:en][:de][:de]Rencontres du jazz et de la musique contemporaine
herausgegeben von Jean-Michel Court & Ludovic Florin
Toulouse 2015 (Presses Universitaires du Midi)
184 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-2-8107-0374-6

Das vorliegende Buch ist die Dokumentation einer Tagung, die im Oktober 2013 in Toulouse stattfand und sich mit aktuellen Beziehungen zwischen Jazz und Zeitgenössischer (sogenannter “Neuer”) Musik beschäftigte. Im Vorwort stecken die beiden Herausgeber das Feld ab, das irgendwo zwischen Anthony Braxton und IRCAM-Experimenten angesiedelt ist und bei dem oft die Genrebezeichnung, ob “Jazz” oder “Neue Musik”, im Weg steht, da die Musik selbst solche Grenzen inzwischen gern und oft überschreitet.

Die Beiträge selbst sind theoretisch-musikwissenschaftlicher Natur. Im ersten Teil findet Vincenzo Caporaletti, dass die jüngere Entwicklung im Kunstmusikbereich neue wissenschaftliche Ansätze benötigt und stellt sein “principe autiotactile” vor, durch das sich sowohl für komponierte wie auch für improvisierte Musik die performativen Prozesse genauso analysieren ließen wie die ästhetischen Prozesse, die durch die Musik wie auch durch äußere, etwa mediale Einwirkungen mitbestimmt werden. Alexandre Pierrepont nähert sich der Frage, inwieweit die genre-spezifische Einordnung und Wertung von Musik aus den Bereichen europäischer klassischer Musik und des afro-amerikanischen Jazz nicht auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser zu Missverständnissen führt, wenn die Querverbindungen, die ja zwischen den Genres bestehen, oft und gern mit kulturellen Konnotationen versehen werden. Pierre Sauvanet betrachtet, wie das Moment der “Tradition” von Musikern im Jazz, der Neuen Musik und in tatsächlich “traditionellen” Musikrichtungen unterschiedlich behandelt wird.

Im zweiten Teil des Buchs geht es an konkrete Analysen. Pierre Fargeton befasst sich mit Franz Koglmanns langjähriger Auseinandersetzung mit dem Third Stream, der Neuen Musik und anderen Kunstrichtungen. Konkret untersucht er Koglmanns “Join!” eine “Oper” aus dem Jahr 2013 auf diverse Bezüge (1.) zum Jazz und (2.) zur Zeitgenössischen Musik. Martin Guerpin analysiert die Komposition “Unisono” des israelischen Komponisten Ofer Pelz und identifiziert darin insbesondere die Jazzverweise. Wataru Miyakawa untersucht das Werk des japanischen Komponisten Toru Takemitsu, in dem ihn vor allem der Einfluss des Lyrian Chromatic Concept von George Russell interessiert.

Im dritten Teil des Bandes berichtet der Gitarrist Frédéric Maurin darüber, wie er Methoden der Spektralmusik, die in den 1970er Jahren im Kreis der IRCAM in Paris entwickelt wurde, etwa für seine Band Ping Machine nutzbar macht. Cécile Auzolle untersucht das “Wintermärchen” des belgischen Komponisten Philippe Boesmans von 1999 und hat dabei Einflüsse aus dem jazz sowie improvisatorische Passagen im Fokus, die in der Oper vom Ensemble Aka Moon ausgeführt wurden. Henri Fourès hinterfragt die Begriffe Jazz, Zeitgenössische Musik, Komposition, Notation und Improvisation auf ihre Wertigkeit in der Hochschullehre. Zum Schluss berichten die Bassistin Joëlle Léandre, der Saxophonist Douglas Ewart und der Trompeter Mike Mantler über ihre eigenen Erfahrungen im Feld zwischen den Welten von Jazz und Neuer Musik.

“Rencontres du jazz et de la musique contemporaine” wirft ein Schlaglicht auf eine offenbar immer noch wichtige Diskussion in den beiden darin angesprochenen Welten. Der einleitende Überblick listet frühere Beschäftigungen mit dem Thema auf (hier fehlt allerdings der Band “Jazz und Komposition”, der das 2. Darmstädter Jazzforum von 1991 dokumentiert und in dem dieses Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet wurde). Sowohl in den allgemein theoretischen wie auch den konkreter praktischen Kapiteln fehlt ein wenig – aber das ist bei einer Tagung, die das nicht ausdrücklich zum Thema machte, vielleicht auch kaum zu leisten – die grundlegende Diskussion einer anders als aus dem europäischem Wissenschaftsdiskurs entstandenen Reflexion über Musik, eine Perspektive also, die sowohl Jazz wie auch die in europäischer Tradition stehende Neue Musik etwa aus dem Blickwinkel von Community, von Macht, von Geschlechterungleichheit oder ähnlichem betrachtet, sich dabei nicht auf die bestehenden meist europäisch gefärbten und genormten Diskurstraditionen einlässt, sondern mutig nach neuen sucht. Das von George Lewis und Benjamin Piekut 2016 herausgegebene Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies geht da einen anderen Weg, braucht, um das Thema abzudecken allerdings auch über 1000 Seiten.

Wolfram Knauer (März 2018)


Bunk Monk & Funk – and other attractions
von Anders Stefansen (& Jan Søttrup)
Kopenhagen 2012 (People’s Press)
248 Seiten, 249 Dänische Kronen
ISBN: 978-8771-37035-5

Anders Stefansen ist ein bisschen der Fritz Rau Dänemarks: ein Konzertveranstalter, der eher zufällig ins Geschäft kam, in den frühen 1960er Jahren für Norman Granz dessen Skandinavien-Tourneen organisierte (so wie dies Lippmann + Rau in Deutschland taten), später auch populärere Acts betreute, von den Beatles bis zu den Rolling Stones. In seiner Autobiographie erinnert sich Stefansen an die vielen Freundschaften zu Musikern, die er in seinem Berufsleben schließen konnte, an das Tourleben, an Probleme und ihre jeweilige Lösung, und an Begegnungen wie die mit John Coltrane, Andrés Segovia, Count Basie, Duke Ellington, Ben Webster, Cecil Taylor und vielen anderen. Er beleuchtet die Realitäten des Business, schwelgt aber vor allem in Erinnerungen. Wenn es dabei auch mehr um die Menschen geht als um die Musik, so ist die Lektüre seines Buchs dennoch erhellend nicht nur für diejenigen, die von seiner Arbeit als Konzertveranstalter profitierten, etwa weil sie selbst im Publikum saßen. Seine Anekdoten beleuchtet zugleich eine ungewöhnliche Karriere zwischen Musik und guter Küche (Stefansen eröffnete eines der ersten French Cuisine Restaurants in Dänemark). Und seine Anekdoten über Henry Miller, den er traf, als er den Film “Ruhige Tage in Clichy” produzierte, sind besondere Zugaben der Lektüre.

Wolfram Knauer (Januar 2018)


Fashion and Jazz. Dress, Identity and Subcultural Improvisation
von Alphonso D. McClendon
London 2015 (Bloomsbury Academic)
194 Seiten, 24,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-85785-127-7

Von den Banduniformen der Swingorchester über die Gardenie im Haar von Billie Holiday bis zu Wynton Marsalis’ in Brooks Brothers-Anzüge gekleidetes Lincoln Center Jazz Orchestra: Jazzmusiker waren immer auch Mode-Ikonen. Miles Davis mag diese Facette seines Bühnenlebens am stärksten ausgelebt haben, doch findet sich das Bewusstsein für die Bühnengarderobe durch die Jazzgeschichte. Als Art Blakey seiner Band in den 1970er Jahren für eine Weile erlaubte, in Straßenklamotten aufzutreten, war das eine Ausnahme. Er wie andere Musiker wussten, dass sie als afro-amerikanische Künstler Vorbildfunktion hatten.

Alphonso D. McClendon ist Modeforscher und hat sich in seinem Buch “Fashion and Jazz” dem Subtext der Musikergarderobe durch die Jazzgeschichte angenommen. Ihm ist wichtig, auf die gegenseitigen Einflüsse zwischen Jazz und Mode hinzuweisen, wie er gleich im ersten Kapitel deutlich macht, in dem er Parallelen und Einflusswege nennt, dass nämlich sowohl Mode wie auch Jazz auf ihre jeweilige Art und Weise vom Freiheit des Ausdrucks handeln. Es habe im Jazz durchaus eine “Sprache der Kleidung” gegeben, sagt er – will heißen: die Bühnenpräsentation hatte immer auch etwas zu bedeuten, und Kleidung habe zur visuellen Ästhetik von Jazzmusikern beigetragen, ob in der Performance auf der Bühne oder in Abbildungen.

Im zweiten Kapitel geht McClendon das Thema dann chronologisch an. Er beschreibt die Mode der Ragtime-Ära und der Bluesmusiker, die Bühnenkostüme von Swing-Musikern und die Selbstdarstellung der Bebopper, die zugleich “die Konstruktion eines subkulturellen Stils” gewesen sei, und stellt schließlich fest, das sowohl Mode wie auch Jazz ähnliche Perioden von Konformität (1900-1920), populärem Einfluss (1920-1940) und Widerstand (1940-1960) durchgemacht hätten.

Kapitel 3 diskutiert Momente “der Moderne” bzw. “des Modernen” und die Kommunikation beider durch Mode und Spielpraktiken im Jazz. Im vierten Kapitel beschreibt McClendon Strategien der Distinktion durch Jazz und Mode, um sich im fünften Kapitel etwa auf die Darstellung von Frauen und Männern in frühen Sheet-Music-Covers zu konzentrieren. Kapitel 6 diskutiert subversive Konnotationen, die sich etwa in Texten von Bluessängerinnen finden oder im Eingang von Jazzthemen in die Literatur oder den Film. Kapitel 7 ist überschrieben “Narcotics and Jazz: A Fashionable Addiction” und beschreibt unter anderem, wie elegante Kleidung auch helfen konnte ein Leben im Schatten der Drogensucht zu verschleiern. Kapitel 8 fokussiert auf Billie Holiday als Musik- wie Mode-Ikone; Kapitel 9 beschreibt Duke Ellington und Benny Carter als “traditionellen Dandy” sowie Dizzy Gillespie und Gerry Mulligan als “modernen Dandy” und blickt kurz darauf, wie amerikanische Präsidenten wie Bill Clinton und Barack Obama ihre Nähe zum Jazz als Imagefaktor ausnutzten.

McClendons Buch reicht leider nur bis ins Jahr 1960 und verpasst damit die politische Garderobe von Dashikis, schwarzen Lederjacken oder soul-beeinflusster Hipstermode der 1960er und 1970er Jahre, thematisiert also auch nicht die Rückkehr zur ordentlichen Garderobe mit Aufkommen der Young Lions der 1980er Jahre. Er thematisiert damit weder die modetechnische Annäherung zwischen den Genres, etwa in Richtung Rock oder auch Neue Musik, noch die Unterschiede etwa in im Modeverhalten amerikanischer und europäischer Musiker. Doch gelingt ihm in diesem eigentlich auf der Hand liegenden und doch so ganz anderen Blick auf Jazzgeschichte eine Perspektive, die Aufschluss über Imagebildung, Selbstverständnis der Künstler und die gegenseitige Beeinflussung von Image und künstlerischem Anspruch erlaubt. Etliche Bilder, eine ausführliche Bibliographie und ein Namensindex schließen das Buch ab.

Wolfram Knauer (August 2017)


Sales Rectangles. Daunik Lazro. Vieux Carré
von Guillaume Belhomme
Nantes 2015 (Lenka Lente)
44 Seiten, 1 Mini-CD, 9 Euro
ISBN: 978-2-9545845-9-1

Am 21. Mai 2011 spielte der Saxophonist Daunik Lazro ein inspiriertes unbegleitetes Solokonzert in einen Buchladen in Rouen. Guillaume Belhomme versucht die Stimmung des Konzerts einzufangen, indem er eines der Stücke Lazros, eine lange Improvisation über Joe McPhees “Vieux Carré” mit kurzen Blicken in die Bücher, die um ihn herum stehen und liegen, verbindet. Seine knappen, aus jeweils nicht mehr als einem Satz bestehenden Kommentare lassen sich den diesen Büchern allerdings erst zuweisen, wenn man sie anhand der im Büchlein abgedruckten Barcodes (bzw. die diesen beigefügten ISBN-Nummern) sucht. Und tatsächlich gelingt es Belhomme dabei ein wenig, jene Stimmung eines Konzerts im Buchladen einzufangen, bei dem die Konzentration auf die Musik von den Blicken zu und in die Bücher, von der Wahrnehmung der Atmosphäre, von kurzen Reflektionen darüber, was man da aufblättert, während man zugleich zuhört, unterbrochen, aber durchaus auch bereichert wird. Ein ungewöhnliches, durchaus inspirierendes Experiment, das den Leser / Hörer quasi subkutan auf die Komplexität der Wahrnehmung von Musik aufmerksam macht.

Wolfram Knauer (März 2017)


Spirits Rejoice! Jazz and American Religion
von Jason C. Bivins
New York 2015 (Oxford University Press)
369 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-023091-3

Jazz und Spiritualität sind für viele Musiker eine zusammenhängende Einheit. Duke Ellington, John Coltrane, Albert Ayler, Rahsaan Roland Kirk, Yusef Lateef, Anthony Braxton – die Liste der Musiker, für die ihre musikalische immer auch eine spirituelle Suche war, ist lang. Der Religionswissenschaftler und Jazzgitarrist Jason Bivins beleuchtet in seinem Buch dieses Verhältnis zwischen Religion und Musik anhand zahlreicher Beispiele und legt, gerade weil er seine Studien aus der Perspektive eines Religionsforschers und mit dem Wissen eines Jazzers macht, ein wichtiges Buch vor, in dem das Thema weit fundierter angegangen wird als in vielen Biographien der bereits genannten Musiker.

In seinen “ersten Meditationen” zum Thema stellt Bivins fest, dass Jazz genauso wie Religion in ihrer jeweiligen Individualität der Wahrnehmung schwer fassbare Gebilde seien. Er weiß um die ganz unterschiedlichen Ausprägungen des Religiösen oder Spirituellen gerade in der Musik, die irgendwo zwischen Ritual und Weltforschung liegt. Er fragt, wie sich das spirituelle Umfeld, aus dem Musik heraus initiiert oder rezipiert wird, auf die Musik selbst auswirkt. Er befasst sich mit konkreten Traditionen, auf die Jazz sich immer wieder bezog. Er betrachtet Beispiele, in denen mit Jazz amerikanische Geschichte genauso wie religiöse Aspekte derselben dargestellt werden. Er befasst sich mit Jazz in religiös-musikalischer Praxis. Er hinterfragt das Klischee von Jazz als rituelle oder heilende Praxis. Er diskutiert Verweise im Jazz auf Mystizismus, Selbstlosigkeit, die klangliche Verbindung zu einem höheren Wesen. Es untersucht Kosmologien und metaphysische Theorien im Jazz. Er will damit nicht nur Aspekte der Jazzgeschichte durch ihre Verankerung in religiösen Praktiken erklären helfen, sondern zugleich die Religionsgeschichte in den USA seit den 1920er Jahren mithilfe ihres Widerhalls im Jazz beleuchten.

Bivins geht dabei weder chronologisch vor noch versucht er seine Thesen an zentralen Figuren festzumachen, wenn es auch an konkreten Beispielen nicht mangelt in seinem Buch. Natürlich spielt der Einfluss der schwarzen Kirche auf viele afro-amerikanischen Musiker eine wichtige Rolle. Er beschreibt das Zeugnis ablegende (“testifyin'”) Tenorsaxophonspiel Albert Aylers. Er findet Spiritualität in Charles Gayles Bühnen- genauso wie Straßenmusikauftritten. Er fragt nach den Gründen von Jazzmusikern zum Islam, zum Buddhismus, zum Bahá’í, zur Scientology zu konvertieren und ihre Reflektion über die jeweilige religiöse Praxis und ihre Auswirkung auf ihre Musik. Er befasst sich mit den Ausprägungen des “Radical Jewish jazz” und mit der Idee einer imaginären Folklore in den Vereinigten Staaten.

Er beschäftigt sich mit Beispielen, in denen Jazzmusiker bzw. ihre Werke religiöse Geschichte erzählen und verwebt dabei eng religiöse und politische Aussagen, etwa in den Aufnahmen von Charles Mingus, Archie Shepp, Max Roach und Abbey Lincoln. Auch der Saxophonist Fred Ho und sein Einsatz für einen Asian American Jazz kommen zur Sprache sowie Sun Ras Verweise auf weltumspannende Verbindungen, die weit über den Planeten Erde hinausreichen. Er geht auf Ellingtons “Sacred Concerts” ein und widmet eine längere Passage John Carters Komposition “Roots and Folklore”, die, wie er findet, ein würdiger Träger des Pulitzer Preises gewesen wäre, den Wynton Marsalis später für sein Oratorium “Blood On the Fields” erhielt.

Er entdeckt im Bemühen von Musikern seit den 1950er Jahren sich zu organisieren neben den politischen auch spirituelle Gründe, wie er etwa am Beispiel der AACM und der Black Artists Group zeigt. Die von Horace Tapscott gegründete Underground Musicians Association, die Saint John Coltrane African Orthodox Church und Alice Coltranes Ashram sind für ihn konkrete Beispiele, wie Jazz als spirituell-religiöses Ritual gelebt und zelebriert werden kann.

Im zweiten Teil seines Buchs beschäftigt sich Bivins mit den engen Verbindungen zwischen Ritual und Improvisation, nennt Beispiele aus dem Schaffen von Duke Ellington, Mary Lou Williams, Milford Graves, Cecil Taylor, bezieht sich aber auch auf das Feld des afro-kubanischen Jazz, auf Steve Colemans Studien zur Yoruba-Kultur und auf die Musik des Art Ensembles of Chicago.

Ein eigenes Kapitel befasst sich mit Meditation und Mystizismus und verweist dabei auf Musiker wie Steve Lacy, Arthur Blythe, William Parker und Davis S. Ware. Ornette Colemans Harmolodics und George Russells Lydian Chromatic Concept werden von Bivins nicht allein als musiktheoretische Abhandlungen verstanden, sondern als Beispiel für kosmologische und metaphysische Versuche Jazz, Improvisation, ja Musik ganz allgemein zu fassen. In dieses Kapitel gehören auch Anthony Braxtons Tri-Axium-System und Wadada Leo Smith’ Ankhrasmation.

In seinem Schlusskapitel stellt Bivins dann noch einmal klar, dass die Auseinandersetzung mit Jazz oder mit Religion notwendigerweise eine fragmentarische sein muss, dass beide Praktiken ein Versuch sind, sich der Komplexität der Welt zu nähern, unsere eigene Sicht aber immer durch das geprägt ist, was wir bereits “wissen”. Für einige sei Musik wie Religion, weiß er, das aber beinhalte weit mehr als die pure Hingabe. Wie die Religion in amerikanische (und weltweiter) Geschichte, habe auch die Musik subversive Funktionen gehabt, habe Einfluss auf die Wahrnehmung der Realität genommen und diese damit ändern können.

Bivins’ Entscheidung, keine klar strukturierte Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Jazz und verschiedenen Ausprägungen von Spiritualität zu wählen, sondern stattdessen Themen zu identifizieren und von verschiedenen Seiten zu beleuchten, führt dazu, dass man auch als Leser die Vorstellung von Religion, Spiritualität, Ritual weiter fasst. Wo man zu Beginn der Lektüre von der sehr offenen Fassung der Begriffe noch ein wenig irritiert sein mag, da ist man dem Autor am Ende genau dafür dankbar, da er es schafft, auch beim Lesen die schnellen Analogien zu vermeiden. Bivins gelingt es, diesen offenen Geist in seine Leser zu übertragen – für den europäischen Leser dann auch in Richtung all der Themen, die sich hierzulande in die verschieden Kapitel einflechten ließen.

Wolfram Knauer (März 2017)


Omniverse Sun Ra
von Hartmut Geerken & Chris Trent
Wartaweil 2015 (Waitawhile Books / Art Yard)
304 Seiten, 69 Euro
ISBN: 978-0-9933514-0-2

Von 1994 stammt das damals im LP-Schallplattenformat veröffentlichte, von Hartmut Geerken und Bernhard Hefele herausgegebene Buch “Omniverse Sun Ra”. Jetzt erschien eine Neuauflage dieses Werks, das das Universum des Meisters aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben versucht.

Geerken war in den 1960er bis 1980er Jahren Institutsleiter verschiedener Goethe-Institute. Als Perkussionist hat er daneben mit zahlreichen Musikern vor allem aus dem Bereich der improvisierten Musik zusammengearbeitet. In Jazzkreisen ist er dabei insbesondere als Kenner des Oeuvres Sun Ras bekannt und war für Konzerte des Arkestra verantwortlich, etwa 1971 in Kairo, wo er seinerzeit fürs Goethe-Institut wirkte. Sein Buch von 1994 war eine kleine Sensation für die Aufarbeitung des Ra’schen Oeuvres; die Neuauflage ist nicht weniger willkommen.

Was übernommen wurde: Amiri Baraka beginnt das coffeetable-große Buch mit einem einleitenden, sehr persönlichen Text über den Meister. Robert Campbell erzählt die irdische Biographie Herman Blounts von seiner Geburt in Birmingham, Alabama, im Jahr 1914 bis zu seinem Tod im Mai 1993 und ordnet zugleich die verschiedenen Besetzungen und musikalischen Phasen seines Schaffens zu. Sigrid Hauff untersucht die mythologische und spirituelle Welt, die Sun Ra musikalisch genauso wie in Texten oder Interviews heraufzubeschwören versuchte. Chris Cutler ordnet sein musikalisches Schaffen in den größeren Kontext von Jazz und afro-amerikanischer Musikgeschichte ein. Robert Lax versammelt mehr oder weniger unzusammenhängende Gesprächsfetzen, Bonmots und Aphorismen des Pianisten, Komponisten, Bandleaders und spirituellen Philosophen. Salah Ragab berichtet über Konzerte des Arkestra in Ägypten in den Jahren 1983 und 1984. Karlheinz Kessler hinterfragt die Verwendung von Ritualen in den Performances der Band. Gabi Geist schreibt ein Horoskop für jemanden, der immer sagte, dass sein Geburtstag und -ort höchstens irdisch seien, tatsächlich aber seiner Herkunft nicht gerecht würden. Hartmut Geerken schließlich erinnert sich an den Besuch des Arkestra in Ägypten im Dezember 1971. Zwischendrin finden sich zahlreiche Fotos, viele davon von der britischen Fotografin Val Wilmer.

Was neu ist: Ein Text Bernhard Helefes entfällt in der Neuauflage. Den ausführlichen diskographischen Teil des Buchs hat Chris Trent neu geordnet. Wieder gibt es einen umfangreichen Bildteil, der die Plattencovers zeigt.

“Omniverse Sun Ra” war schon in der ersten Ausgabe von 1994 eine labor of love. Die neue Ausgabe hat einen Hardcover-Einband, ein etwas handlicheres Format, einen Block mit Farbfotos der Band, die im früheren Buch nicht enthalten waren. Es verzichtet auf die Tapeologogy, also die Auflistung oft privater Konzertmitschnitte, sowie auf die ausführliche Bibliographie der früheren Ausgabe.

“Omniverse Sun Ra” bleibt bei alledem ein großartiges Buch, das in Wort, Bild und Tonträgerverweisen als hervorragendes Nachschlagewerk über die Welt und Weltsicht Sun Ras genauso zu nutzen ist wie als eine Dokumentation, in der auch “Nachgeborenen” die Bühnenperformance des Arkestra vor Augen geführt wird.

Wolfram Knauer (März 2017)


A City Called Heaven. Chicago and the Birth of Gospel Music
von Robert M. Marovich
Urbana/IL 2015 (University of Illinois Press)
488Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08069-2

Gospelmusik, erklärt Robert Marovich, Rundfunkmoderator, Herausgeber des Journal of Gospel Music und Musikhistoriker, sei die künstlerische Antwort auf die Great Migration gewesen, in der tausende und abertausende Afro-Amerikaner zu Beginn des 20sten Jahrhunderts aus den Südstaaten in den Norden zogen und insbesondere in Städten wie Chicago ein neues Zuhause fanden. Blues, sagte Mahalia Jackson einmal, seien Lieder der Verzweiflung gewesen, Gospel dagegen Lieder der Hoffnung. Das Genre, erklärt Makovich in seinem Buch, das sich auf die Verankerung der Musik im Chicago des 20sten Jahrhunderts fokussiert, sei wie eine soziale Organisation organisiert gewesen, die jeden, egal wie gut er oder sie singen konnte, willkommen geheißen hätte.

In seinem Buch beschreibt Marovich die Entwicklung der Gospelmusik von frühen Hymnen und Camp Meetings über die beschriebene Great Migration und die lebendige Gospelszene von Chicago bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sounds, Rhythmen und der Enthusiasmus dieser Musik Eingang in die Popmusik fanden und schließlich zur Begleitmusik der Bürgerrechtsbewegung wurden. Er greift auf Interviews und selten ausgewertete historische Quellen zurück, um die Einbettung der Musik in die Community zu beschreiben; er entdeckt die Bedeutung von Predigern, deren eindringliche Sermons ab den 1920er Jahren ja sogar auf Schallplatte veröffentlicht wurden; er berichtet von frühen Aufnahmen für das noch junge Radio genauso wie für die aufstrebende Plattenindustrie. Er geht auf weithin bekannte Gospel-Künstler ein, Thomas A. Dorsey etwa oder Mahalia Jackson, genauso aber auch auf weniger, oft nur lokal bekannte Musikerinnen und Musiker. Er weiß um die Hintergründe der Gospeltourneen, die in den 1930er Jahren große Erfolge feierten, und er beschreibt die Entwicklung des Gospelquartetts über die Jahre.

Die Zuwanderung nach Chicago aus dem Süden hielt bis in die 1940er Jahre an und vermittelte der Gospelmusik damit über lange Jahre jene wichtige Funktion des Haltgebens in der Fremde. Radio- und frühe Fernsehshows nahmen sich des Genres an, und immer mehr wurde Gospel auch zu einem kommerziellen Produkt. In seiner Übersicht über die verschiedenen Stränge des Genres kennt Marovich alle Solisten, Bands, Quartette und Chöre und beschreibt sowohl ihre Einbindung in die örtliche kirchliche Gemeinschaft wie auch ihr sehr unterschiedliches Verhältnis zur Plattenindustrie. Mitte der 1950er Jahre fiel der Gospelmusik schließlich eine neue Rolle zu, als Mahalia Jackson zu einer glühenden Vertreterin des Civil Rights Movement und einer engen Verbündeten Dr. Martin Luther Kings wurde.

Die große Zeit des Gospel war mit dem Tode Mahalia Jacksons und Roberta Martins vorbei; und hier endet auch Marovichs Buch, mit einem nur kurzen Ausblick auf die Gegenwart. “A City Called Heaven” ist ungemein detailreich, dadurch stellenweise etwas mühsam zu lesen, aber durch einen umfangreich aufgeschlüsselten Index ein gutes Nachschlagewerk zum Thema. Marovich zeigt anhand der Gospelmusik in Chicago, wie sich sich Genre- und Stadtgeschichtsschreibung miteinander verbinden lassen, weil die Nöte und Zwänge des Lebens in der Großstadt letztlich die Entwicklung einer Musik als spirituelles Gegengewicht befördert haben.

Wolfram Knauer (Januar 2017)


La Nuée. L’AACM: un jeu de société musicale
von Alexandre Pierrepont
Marseille 2015 (Éditions Parenthèses)
443 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-2-86364-669-4

2008 veröffentlichte George E. Lewis sein Buch “A Power Stronger Than Itself. The AACM and American Experimental Music”, das die musikalische und ästhetische Welt der Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago seit den 1960er Jahren aus der Ecke einer “nur” afro-amerikanischen Avantgarde holte und zeigte, wie sehr die darin Aktiven Teil eines generellen und weit über Amerika hinausreichenden künstlerischen Diskurses waren und sind.

Im Vorwort seines Buchs über die AACM schildert Alexandre Pierrepont, wie es dazu kam, dass er sich als Anthropologe entschied, eine Studie zur AACM zu schreiben, wie er mittendrin von Lewis’ Arbeit erfuhr und sofort bereit war, mit seinem eigenen Projekt zurückzustecken. Lewis aber habe ihn zum Weitermachen ermutigt: Sein Buch sei eine Innenansicht, so Lewis, ein so komplexes Thema aber brauche immer mehrere Perspektiven, und Pierreponts Arbeit könne vielleicht eine sinnvolle Außenansicht bieten. Und so ist mit “La Nuée” (“Der Schwarm”) jetzt ein zweites umfangreiches Buch auf dem Markt, das die AACM von den 1960er Jahren bis heute als einen künstlerische Ansatz beschreibt, der weit über die erklingende oder auf Tonträgern dokumentierte Musik hinausreicht, vor allem nämlich in den daran beteiligten Akteuren ein Selbstbewusstsein geschaffen hat, das sie weit über den Kreis des Jazz, der afro-amerikanischen oder sogar der amerikanischen Musik hinaus einordnen lässt.

Pierrepont präsentiert im ersten Kapitel 25 Gründe warum, und Erklärungen wie Afro-Amerikaner in den USA ausgegrenzt oder marginalisiert wurden. Er zeigt, dass Musik gerade in diesem Zusammenhang wichtige soziale Funktionen übernahm. Er schildert die Situation in Chicago und erklärt, wie sich hier ab den 1950er Jahren eine aktive experimentelle Musikszene herausbildete. Im zweiten Kapitel beschreibt er die Idee hinter der AACM, die unterschiedlichen Ensembles und Projekte, die aus dem Kreis der Musiker entstanden, die europäische Erfahrung von Mitgliedern etwa des Art Ensemble of Chicago zwischen den Jahren 1969 und 1974, die Verbindungen zwischen der Chicagoer und der New Yorker Avantgarde-Szene ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre (die viel damit zu tun hatte, dass etliche Chicagoer Musiker inzwischen an die Ostküste umgezogen waren), sowie den Einfluss der AACM und ihres Konzepts auf europäische Improvisations-Kollektive.

Im dritten Kapitel untersucht Pierrepont die AACM als Kooperative und Verein, als Geheimbund und Brüderschaft, als sozio-musikalische Bewegung und Weltschule, beschreibt ihre formale Organisation, aber auch die “respectful anarchy”, die sich aus ihren Verbindungen etwa zum Black Arts Movement und anderen auch politisch aktiven Organisationen ergaben. Dabei sei sie bis heute eine Vereinigung afro-amerikanischer Musiker geblieben. Egal ob in Tongebung, Improvisation oder Komposition sei eines der verbindenden Merkmale der aus der AACM entstandenen Musik zum einen die Betonung von Individualität, zum zweiten aber auch das Einbringen des Subjekts in kollektive Prozesse. Pierrepont beschreibt pädagogische Konzepte, die sich aus den Schulprojekten der Association ergaben, und umreißt musikalische als soziale Verbindungen und die daraus resultierenden Gruppenzugehörigkeits-Prozesse. Im vierten Kapitel beschreibt er die Offenheit der AACM-Mitglieder gegenüber Genre, kompositorischen und improvisatorischen Experimenten, der Verwendung und Aneignung im Jazz bislang eher unüblicher Instrumente, der Weiterentwicklung elektronischer Klang- (und musikalischer Reaktions)möglichkeiten, sowie der Arbeit im Solo- und großorchestralen Kontext. Das Art Ensemble of Chicago warb mit dem Slogan “Ancient to the Future”, und in dieser Haltung, dass die Formung jedweder (künstlerischen) Zukunft sich auf die eigene Interpretation der Vergangenheit beziehe, sieht Pierrepont eines der Geheimnisse hinter der Langlebigkeit der AACM als Organisation. “Ich ziehe die Mythokratie der Demokratie vor”, zitiert er Sun Ra. “Noch vor der Geschichte. Alles vor der Geschichte sind Mythen… Das ist der Ort, an dem die Schwarzen sind. Realität ist gleich Tod, weil alles, was real ist, einen Anfang und ein Ende hat. Die Mythen sprechen vom Unmöglichen, von Unsterblichkeit. Und da alles Mögliche bereits versucht wurde, müssen wir eben das Unmögliche versuchen.”

Alexandre Pierreponts Studie zur AACM bietet eine gelungene Interpretation dessen, wofür die Association for the Advancement of Creative Musicians stand und steht, eine Einordnung ästhetischer wie gesellschaftlicher Vorstellungen und Aktivitäten aus der Gruppe, und den Versuch, das alles in Verbindung zu bringen mit ästhetischen, kritischen, philosophischen und spirituellen Aspekten, die weit über die Arbeit der AACM-Mitglieder hinausgehen. Ihm ist dabei, in Gesprächen mit Musikern, in den Beschreibungen von Konzert- und Aktionssituationen, in der historischen genauso wie der anthropologischen Einordnung all dessen ein kluges Buch gelungen, das die Rolle der AACM im Jazz genauso zu verorten in der Lage ist wie in der aktuellen Musik des 20sten (und letzten Endes auch 21.) Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Jazz Tales from Jazz Legends. Oral Histories from the Fillius Jazz Archive at Hamilton College
Von Monk Rowe (& Romy Britell)
Rochester 2015 (Richard W. Couper Press)
209 Seiten, 20 US-Dollar
ISBN: 978-1-937370-17-6

Das Hamilton College ist eine relativ kleine Hochschule in Clinton, New York. Einer ihrer Absolventen, Milt Fillius Jr., zog nach seinem Diplom ans andere Ende des Landes, nach San Diego, hielt aber Kontakt zu seiner Alma Mater. Er liebte Jazz und er war ein guter Freund des Sängers Joe Williams, der 1988 die erste Ehrendoktorwürde des Hamilton College erhielt. Im Gespräch mit Williams und dem Bassisten Milt Hinton wurde Fillius bewusst, wie viel an Wissen über den Jazz tatsächlich nur in der Erinnerung der Musiker bewahrt und wie wichtig Oral History gerade in diesem Bereich ist. Er etablierte also ein umfassendes Interview-Projekt, für das mittlerweile weit über 300 Künstler/innen in Ton und Bild festgehalten wurden. Die Interviews, von denen viele der Hamilton-Archivar Monk Rowe selbst durchführte, dokumentieren die Welt des Swing genauso wie die des modernen Jazz. Die meisten dieser Erinnerungen sind auf der Website des Hamilton College nachzulesen; eine für die Jazzforschung ungemein hilfreiche Sammlung. Es handelt sich bei den Interviewten nicht unbedingt um die großen Stars der Jazzgeschichte, obwohl etwa mit Lionel Hampton, Nat Adderley, Herbie Hancock, James Moody, Oscar Peterson, Ruth Brown und anderen auch solche vertreten sind. Viele der Musikererinnerungen stammen stattdessen von Sidemen, die über ihre Zeit in den großen Bands berichten, über das Leben “on the road”, über die alltäglichen Probleme eines reisenden Musikers, über Rassismus und vieles mehr

In “Jazz Tales from Jazz Legends” zeigt Monk Rowe, was man aus diesen Interviews so alles lernen kann. Er filtert konkrete Themen heraus, für die er dann die verschiedenen Erfahrungen der Interviewten gegenüberstellt. Das Anfangskapitel widmet sich Joe Williams, dann folgt ein Abschnitt über das Schicksal der Sidemen bei Duke Ellington, Count Basie, Benny Goodman und in anderen Bigbands. Clark Terry erzählt etwa, wie der Duke ihn bei Basie abwarb, erinnert außerdem, was er bei beiden Bandleadern lernte, und Benny Powell weiß zu berichten, dass Basie ihm in den zwölf Jahren in der Band nie förmlich bestätigt habe, dass er engagiert sei. Im Kapitel “Road Travails” erzählen Eddie Bert von seiner Zeit bei Benny Goodman, Sonnie Igoe von einer Tournee mit Woody Herman, Bucky Pizzarelli vom Reisen mit dem Vaugn Monroe Orchestra, Jay McShann vom Problem mit schlechten Klavieren “on the road”, Jimmy Lewis von einem angst-machenden Flug mit der Basie-Band, Kenny Davern vom Stress, die 60 One-Nighters in 90 Tagen erzeugen können, Lanny Morgan darüber, dass die Gage oft von Hotel- und Reisekosten aufgefressen wurde, die die Musiker aus eigener Tasche zahlen mussten. “Arranging the Notes” heißt ein weiteres Kapitel, das sich mit den Ansprüchen an die Arrangeure der Bands befasst. Dick Hyman, Mike Abene, Bill Holman, Derrick Gardner, Ray Conniff, Manny Albam erzählen darin von der Arbeit eines Bandarrangeurs genauso wie von den Anforderungen an andere Arten von Musik, etwa für Hollywood; Lew Soloff erinnert sich an die Arrangements für Blood Sweat & Tears, und Dave Rivello und Maria Schneider geben einen Ausblick darauf, wie die Arbeit eines Arrangeurs im 21sten Jahrhundert funktioniert.

“Inside the Studio” ist ein Kapitel über Aufnahmeerfahrungen überschrieben, in dem sich Doc Cheatham an seine erste Platte mit Ma Raney erinnert, Richard Wyands einen typischen Aufnahmegig aus dem Jahr 1959 beschreibt, Orrin Keepnews erzählt, was Musikern für Aufnahmesitzungen üblicherweise bezahlt wurde, und Dick Hyman und Derek Smith verraten, dass sie sich natürlich auch mit Musik für Fernsehwerbung über Wasser halten mussten. Man müsse nicht alles mögen, was da im Studio produziert werde, erklärt Hyman, man müsse sich aber anstrengen, das, was von einem gefordert werde, möglichst gut zu spielen. Rassismus war für viele der interviewten Musiker ein täglich erlebtes Thema, und im Kapitel “The Color of Jazz” kommt auch dies zur Sprache. Clark Terry und Joe Williams haben genügend eigene Erlebnisse; Sonny Igoe erzählt, wie er auf einer Tournee durch den Süden, bei der er im Bus mit dem Art Tatum Trio mitreiste, als “White Trash” angepöbelt und aufgefordert wurde, er solle den Bus gefälligst verlassen. Louie Bellson und Red Rodney haben ähnliche Erinnerungen, und Frank Foster fasst zusammen, dass der Jazz zwar aus der schwarzen Erfahrung heraus geboren worden sei, dass der Melting Pot Amerika ihn aber schon seit langem zu einer amerikanischen, wenn nicht gar globalen Musik gemacht habe.

Im Kapitel “Thoughts on Improvisation” geben Marian McPartland, Clark Terry, Bill Charlap, Charles McPherson und andere Tipps, wie man sich der Improvisation nähern könne. Ken Peplowski fasst zusammen: “Lern es, dann vergiss es wieder!”, und Randy Sandke reflektiert, was während eines Solos so alles durch seinen Kopf ginge. Schließlich äußern sich Gary Smulyan, Ralph Lalama und Jan Weber über die Möglichkeit und die Chancen “falscher Töne” im Jazz. “Motivation and Inspiration” ist ein Kapitel überschrieben, das Erinnerungen an persönliche Einflüsse beinhaltet. Keter Betts etwas erzählt, dass er als Schlagzeuger begonnen habe und durch Milt Hinton (und reichlich Zufall) zum Bass gekommen sei. John Pizzarelli kam über die Beatles zur Gitarre, Kenny Davern übers Radio bei einer der Pflegefamilien, bei denen er aufwuchs, bis er sechs Jahre alt war, und auch Junior Mance war von Earl Hines begeistert, dem er spätabends heimlich im Radio lauschte. Jon Hendricks berichtet, wie er dazu kam, improvisierte Instrumentalsoli zu textieren. Und Eiji Kitamura erinnert sich, wie eine Platte von Benny Goodman in der Sammlung seines Vaters ihn zur Klarinette brachte. Schließlich gibt es im Schlusskapitel noch ein paar Haltungen zum Phänomen des Swing und zum Missverständnis des Free Jazz sowie Erinnerungen an unglücklich gelaufene Engagements und über die Arbeit mit Legenden.

“Jazz Tales from Jazz Legends” ist also ein vielfältiges Buch, das jede Menge unterschiedlicher Erfahrungen zusammenbringt. Zu Beginn der Lektüre wünscht man sich, die einzelnen Interviews im Zusammenhang zu lesen, aber das ist ja tatsächlich möglich, über die Website des Fillius Jazz Archive am Hamilton College. Und so sollte man Monk Rowes thematische Zusammenstellung als das sehen, was sie ist: ein exzellentes Beispiel, wie sich aus den gesammelten Interviews am Hamilton College Narrative zu den unterschiedlichsten Themengebieten der Jazzgeschichte exzerpieren lassen. Dann lässt sich umso interessanter verfolgen, wie die Interviews sich gegenseitig ergänzen und die unabhängig voneinander Befragten dabei fast miteinander ins Gespräch zu kommen scheinen.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Swingin’ On Central Avenue. African American Jazz in Los Angeles
von Peter Vacher
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
331 Seiten, 55 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8832-6

2015vacherJazzgeschichtsschreibung funktioniert normalerweise so: Louis Armstrong – Charlie Parker – Miles Davis – John Coltrane. Oder so: New Orleans – Chicago – Kansas City – New York. Oder so: Dixieland – Swing – Bebop – Cool Jazz – Hard Bop – Free Jazz – Fusion. Personen, Orte, Epochen… eine Geschichte der großen Männer (!), der lebendigen urbanen Szenen, der alles umwälzenden stilistischen Innovationen. Tatsächlich aber ist dieser Blick auf die Größen, die Zentren, die Stilbegriffe enorm einengend, wenn nicht gar: einfach nur falsch. Neben den großen Stilisten gibt es immer auch diejenigen, deren Kreativität entweder nicht den großen populären Erfolg hatte oder aber nicht lange genug anhielt, oder die sich einfach weniger gut “verkaufen” konnten. Neben den jazzgeschichtsmäßig bekannten Zentren gab es Städte und Landstriche, die musikalisch enorm lebendig waren, viele Musiker hervorbrachten, aber von der Geschichtsschreibung höchstens als potentielle Spielorte, nicht als Brutstätten dieser Musik dargestellt wurden. Und neben den etablierten Stilen gibt es unendlich viele Zwischenstufen, da kaum ein Musiker sich eines Stils “in Reinkultur” bediente”. Ganz davon zu schweigen, dass sich die meisten Jazzgeschichten, ja selbst die meisten Biographien an Aufnahmen entlanghangeln und dabei gern den performativen Aspekt des Jazz vergessen, die Tatsache also, dass die veröffentlichte Platte nur eine Momentaufnahme des kreativen Prozesses ist.

Peter Vacher füllt mit seinem Buch also eine Lücke. Er widmet es einer Szene, die nie so ganz im Mittelpunkt des Jazz stand (Los Angeles), und er fokussiert dabei auf Musiker, die höchstens regionale Stars blieben und kaum nationalen oder gar internationalen Erfolg einfuhren. Vacher ist Außenseiter (Brite); er kam im Laufe des Trad-Jazz-Booms der 1950er Jahre zum Jazz. In den 1980er Jahren arbeitete er mit dem Klarinettisten Joe Darensbourg an dessen Autobiographie, verbrachte währenddessen einige Zeit in Los Angeles und lernte damals Veteranen der schwarzen Musikszene der Westküstenmetropole kennen. Die Interviews, die er mit den sechzehn in diesem Buch dokumentierten Musikern führte, hatten ursprünglich nicht das Ziel einer Buchveröffentlichung, sondern dienten einzig seinem privaten Interesse an ihrer Geschichte. Wenige konnte er ein zweites Mal interviewen, bei anderen fühlte er sich im Nachhinein schlecht vorbereitet. Dennoch geben die Geschichten, die er anhand dieser 16 Musiker erzählt, einen Einblick in eine so ganz andere Musikszene als die an der Ostküste. Die Westküstenmusiker waren flexibel; sie spielten Jazz genauso wie R&B oder Dixieland. Viele von ihnen verdienten sich ihren Lebensunterhalt in den Studios Hollywoods, und viele zog es vielleicht mal für eine Tournee, selten aber für immer fort aus Kalifornien. Und wenn auch diese Szene Jazzgrößen wie Dexter Gordon, Wardell Gray, Teddy Edwards und Charles Mingus hervorbrachte, wenn auch Legenden wie Benny Carter, Red Callender und Buddy Collette von hier aus agierten, so blieb Los Angeles doch ein weitgehend ungeschriebenes Kapitel der US-amerikanischen Jazzgeschichte.

Die von Peter Vacher interviewten Musikern stammen aus der älteren Generation, und dokumentieren die Szene vor allem der 1930er bis 1950er Jahre. Noch weiter zurück geht es in den Erzählungen des Trompeters Andy Blakeney , der von seinen ersten musikalischen Erfahrungen im Chicago der 1920er Jahre berichtet, von seinem Umzug an die Westküste im Jahr 1925, von Reb Spikes, der ein Musikgeschäft in L.A. besaß und außerdem eine gut beschäftigte Band. Er erinnert an viele der Musiker in der Stadt und an Partys bei Orson Welles. Er erzählt aber auch von der Rassentrennung in der Stadt, und von den legendären Gigs, die Louis Armstrong und Duke Ellington Anfang der 1930er Jahre in Sebastian’s Cotton Club hatten, von Tagesjobs in einer Schiffswerft, von Gigs mit Kid Ory und Barney Bigard, und von verschiedenen Comebacks in den 1970er und 1980er Jahren. Beim Pianisten Gid Honoré musste Vacher erst Street Credibility beweisen (dadurch, dass er den Schlagzeuger Wallace Bishop kannte), bevor der sich zu einem Interview bereitfand. Honoré kam 1921 aus New Orleans nach Chicago und erzählt von den vielen Ensembles, mit denen er in den 1920er bis 1940er Jahren dort spielte – oft Bands alter Freunde aus New Orleans. 1948 zog er an die Westküste, wo er mit Kid Ory und Teddy Buckner spielte – seine Erinnerungen an die Szene in L.A. nehmen dabei gerade einmal ein Fünftel seines Kapitels ein. Der Trompeter George Orendorff hatte in den 1920er Jahren King Olivers Creole Jazz Band mit Louis Armstrong in Chicago gehört, kurz bevor er nach L.A. zog. Er erzählt vom Engagement in der Band von Les Hite, in der als Schlagzeuger Lionel Hampton mitwirkte, oder von einem Abend, an dem Fats Waller Bach und Beethoven spielte. 1946 war er im Billy Berg’s Club, als Dizzy Gillespie dort mit Charlie Parker spielte. Orendorff arbeitete schließlich 30 Jahre lang als Postbeamter und trat nur noch selten auf. Jeder in Los Angeles kannte den Schlagzeuger Monk Fay, den Vacher aber erst nach intensiver Suche in einem Seniorenheim fand. Der erzählt von seiner Popularität in Hawaii, von einer Gefängnisstrafe wegen Dealens mit Marihuana und von Gigs in Los Angeles in den 1940er und 1950er Jahren. Der Saxophonist Floyd Turnham erinnert sich an Britt Woodman und an Aufnahmen mit Johnny Otis; die Sängerin Betty Hall Jones weiß noch, wie Nellie Lutcher ihr einen Vertrag bei Capitol Records verschaffte. Der Trompeter Red Mack Morris war in Les Hites Band, als diese Louis Armstrong begleitete und führte später eine Weile einen eigenen Club, in dem er schwarz Alkohol ausschenkte. Der Klarinettist Caughey Roberts erzählt von seinen Lehrern und davon, wie er schließlich selbst unterrichtete, daneben aber auch von einer Reise nach China mit Buck Clayton, über seine Arbeit mit Count Basie und Fats Waller in den 1930er Jahren und über seine Dixieland-Aufnahmen in den 1950ern. Der Pianist Chester Lane war ein großer Fan von Earl Hines, arbeitete lange Zeit um St. Louis, und zog 1957 an die Westküste. Der Trompeter Monte Easter erinnert sich, wie er und Art Farmer Ende der 1940er Jahre in Jay McShanns Band saßen, berichtet über die Probleme der afro-amerikanischen Gewerkschaften und über seinen Broterwerb als Postbediensteter. Der Bassist Billy Hadnott erzählt ausführlich von seinen musikalischen Erlebnissen in Kansas City und hat seine eigene Erinnerung daran, wie Charlie Parker ins Sanatorium von Camarillo kam. Der Trompeter Norm Bowden weiß einiges über Reb Spikes und den Schlagzeuger “Boots” Douglas zu berichten, aber auch über den Club Alabam im berühmten Dunbar Hotel auf der Central Avenue. Der Posaunist John ‘Streamline’ Ewing hatte anfangs gut bezahlte Nebenjobs in den Hollywoodstudios, ging dann auf Anregung eines Musikerkollegen nach Chicago, tourte mit Bands wie denen von Horace Henderson und Earl Hines und spielte ab den 1950er Jahren mit Teddy Buckner in Disneyland. Der Saxophonist Chuck Thomas spielte vor allem in der Küstenregion (bis Las Vegas) und zuletzt ebenfalls mit Teddy Buckner. Der Schlagzeuger Jesse Sailes erinnert sich, wie all die großen Swingbands in den Theatern von Los Angeles auftraten und wie er später Platten mit Percy Mayfield, Ray Charles und B.B. King aufnahm. Der Schlagzeuger Minor Robinson spielte mit Buddy Collette und kannte Charles Mingus, als dieser vielleicht 15, 16 Jahre alt war.

Es sind persönliche Geschichten, von Sidemen-Karrieren und außermusikalischen Lebensentscheidungen. Die Namen wiederholen sich; aus den Erzählungen schält sich dabei eine Szene heraus, die zusammenhielt, auch wenn einzelne der Musiker die Stadt für kürzer oder für länger verließen. Peter Vacher beschreibt zu Beginn eines jeden der Kapitel, wie er den Musikern auf die Spur kam und erklärt einzelne der von den Interviewten mitgeteilten Anekdoten. Nebenbei erzählen diese von der Mobilität des Musikerberufs, von Karrieren, die in New Orleans oder Chicago begannen oder in Kansas City und New York Station machten, deren Protagonisten aber, nachdem sie kalifornische Luft geschnuppert hatten, von dieser nicht mehr loskamen. Es gibt schöne Geschichten über das Zusammentreffen des West-Coast-Größen mit durchreisenden Stars der großen Swingbands; es gibt Insiderberichte über alle möglichen Aspekte des Showbusiness’; es gibt immer wieder den Anruf aus der Ferne, der ihnen einen Job in einer der “name bands” anbietet, den sie entweder für kurze Zeit annehmen oder aber ablehnen. Es gibt Geschichten über Familienplanung und solche über Tagesjobs, mit denen man die Familie ernähren konnte. Central Avenue spielt eine bedeutende Rolle, jene Straße, die in Teilen zu einem kulturellen Zentrum der afro-amerikanischen Community der Stadt wurde.

Peter Vacher hat die Gespräche laufen lassen; sein ursprüngliches Interesse galt der Lebensgeschichte der Musiker, weniger dem Treiben in Los Angeles. Und so nehmen die Erinnerungen an Chicago oder Kansas City oft mehr Raum ein als die aktuelle Lebenswirklichkeit des Ortes, an dem die interviewten Musiker schließlich landeten. Doch wird eine Szene eben nicht nur durch das geprägt, was Musiker in ihr kreieren, sondern auch durch alles, was sie aus ihrer Vergangenheit mitbringen. Von daher ist Vachers Ansatz völlig richtig, die Geschichte der Central Avenue durch die Einflüsse zu erzählen, die hier zusammenkamen.

Beim Lesen wünschte man sich stellenweise entweder einen knappen biographischen Abriss vor oder nach den Kapiteln oder aber das Einstreuen von Jahreszahlen, um die Erinnerungen der Musiker besser einordnen zu können. Wer bei Los Angeles an die Westcoast-Szene denkt, sei gewarnt: alle der von Vacher interviewten Musiker sind vor allem der Swingära zuzuordnen; sie erzählen zum Teil von den jüngeren Musikern, die sie kannten, waren aber nie selbst Mitglied dieser Szene. In seinem Vorwort heb Vacher vor allem drei Interviews hervor, die besonders gut gelungen seien: jene mit Andy Blakeney, Billy Hadnott und Norman Bowden, mit Musikern also, mit denen er mehrfach sprechen und dabei mehr über ihr Leben und musikalisches Wirken lernen konnte. Tatsächlich aber sind auch jene Gespräche lesenswert, die etwas langsamer “auf den Punkt” kommen. “Swingin’ On Central Avenue” gelingt es dabei, Erhebliches zur Kulturgeschichte des afro-amerikanischen Jazz im Los Angeles der 1930er bis 1950er Jahre beizutragen. Das Buch erzählt von künstlerischen Idealen und von der Realität des alltäglichen Musikgeschäfts. Die Entscheidung, die Vacher – sicher mehr der Not gehorchend – getroffen hatte, war genau richtig: Seine Protagonisten sind eben nicht die großen Stars, weil die Szene, die er im Fokus hat, sich in keiner der stilbildenden Städte befand, weil die Community, die er in den Kapiteln seines Buchs abbildet, sich aus vielen sehr disparaten Erfahrungen zusammensetzte. Sein Buch ist auf jeden Fall eine Fundgrube für Jazzhistoriker mit vielen Anekdoten und Erinnerungen, die dieser Rezensent hier zum ersten Mal gelesen hat; zugleich ist es eine abwechslungsreiche Zeitzeugensammlung einer Szene, die bislang nur mäßig dokumentiert ist.

Wolfram Knauer (Juli 2016)


Invitation to Openness. The Jazz & Soul Photography of Les McCann, 1960-1980
herausgegeben von Pat Thomas & Alan Abrahams
Seattle 2015 (Fantagraphics Books)
200 Seiten, 39,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-60699-786-4

2015mccannMusikerfotos – es gibt eine ganze Reihe an Jazzmusikern, deren Hobby auf Tournee das Fotografieren war. Milt Hinton ist der wohl namhafteste unter ihnen, doch jetzt zeigt ein neues Buch, dass auch Les McCann nicht nur gute Ohren, sondern auch ein exzellentes Auge hat. Das nämlich gehört dazu, auf dass das Buch eines fotografierenden Musikers nicht einzig wegen der Vorteile interessant ist, die sich daraus ergeben, dass der Mann hinter der Kamera zugleich auf der Bühne sitzt und von den Objekten seiner Begierde, also anderen Musikern, nicht als Störenfried, sondern als einer der ihren anerkannt wird.

Im Vorwort von “Invitation to Openness” erzählt A. Scott Galloway kurz die biographischen Stationen Les McCanns: geboren in Lexington, Kentucky, über Tuba und Snare-Drum zum Klavier gelangt, zusammen mit Eddie Harris mit “Compared to What” über Nacht einen Welthit geschaffen, der eine Solokarriere bedingte, die bis in jüngste Zeit anhielt. Pat Thomas erzählt die Genese des Buchprojekts: Er hatte gerade eine CD-Wiederveröffentlichung des McCann-Klassikers “Invitation to Openness” organisiert und McCann zu Hause besucht, als er in einer Ecke einen Stapel zerkratzter Abzüge von Fotos entdeckte, die der Pianist in den 1960er und 1970er Jahren gemacht, aber nie veröffentlicht hatte. Im Interview mit Thomas erzählt McCann, dass es in seiner Familie immer Fotoapparate gegeben habe. Er selbst habe sich eine Nikon gekauft und begonnen, auf der Bühne und daneben Menschen abzulichten. Als er sich ein Haus in Hollywood leisten konnte, richtete er sich eine Dunkelkammer ein und begann seine Aufnahmen selbst zu entwickeln.

Das Bemerkenswerteste an den Bildern ist vielleicht die Perspektive. Gerade die Bühnenaufnahmen sind eben nicht von vorn gemacht, aus dem Bühnengraben oder der ersten Reihe, sondern oft von der Seite oder leicht von hinten. Viele Bilder zeigen die Musiker backstage, in Vorbereitung fürs Konzert, in Freizeitklamotten beim Soundcheck. Das entspannte Lächeln Count Basies zeigt die entspannte Vertrautheit. Andere eindrucksvolle Motive sind etwa: Stanley Clarke mit abwartend-konzentrierter Miene (und einer denkwürdigen Frisur); Ben Webster am Flügel; Dexter Gordon und Joe Zawinul vor einem Motel; die junge Tina Turner; das Publikum aus Gefangenen im Cook County Jail; Cannonball Addlerley, der an einer Zigarette zieht, sein Gesicht halb in Rauch gehüllt. Neben Musikern gibt es Bilder von Schauspielern (Jack Lemmon, Bill Cosby, Jerry Lewis), Politikern (Jimmy Carter, Jesse Jackson, Stokely Carmichael, Dr. Martin Luther King), Sportlern (Muhamad Ali, Pelé), sowie einige wenige Bilder, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Doch auch diese Aufnahmen, etwa das eines alten Mannes mit Fahrrad, hätten das Potential zu Plattencovers.

Les McCann gibt zu einzelnen der Bilder Kommentare ab, in denen er Kolleginnen oder Kollegen erinnert. Auch die Identifizierung der Motive basiert auf McCanns Erinnerung, wobei es Motive gibt, zu denen er nicht wirklich mehr weiß, wo oder wann sie gemacht wurden, und zumindest eine falsche Zuschreibung (nein: das ist NICHT Eberhard Weber auf den beiden Fotos mit Sarah Vaughan, sondern Bob Magnusson!). Beim Durchblättern des Bandes kommt einem immer wieder in den Sinn, dass das Leben eines Jazzmusikers eben aus mehr besteht als der Bühnenwirklichkeit. Les McCanns “Invitation to Openness” bietet damit einen lohnenswerten und allemal mit Soul gefüllten Blick hinter die Kulissen sowohl der Musiker, die er darin dokumentiert, als auch seiner eigenen Konzertarbeit.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Bitches Brew
von George Grella Jr.
New York 2015 (Bloomsbury Academic, 33 1/3)
128 Seiten, 14,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-6289-2943-0

D2015grellaie Buchreihe 33 1/3 des Bloomsbury-Verlags behandelt eigentlich Rockgeschichte. Jeder Band ist einem separaten Album gewidmet und wird historisch kontextualisiert. Miles Davis wurde jetzt die Ehre zuteil, als erster Jazzer in die Reihe aufgenommen zu werden, die immerhin schon mehr als 100 Bände umfasst. Sein Album “Bitches Brew” von 1969 schrieb eben nicht nur Jazz-, sondern genauso auch Popgeschichte.

In seinem ersten Kapitel betont George Grella, wie schwer es ist, “Bitches Brew” klar einem Genre zuzuordnen. Miles wollte weder ein klares Jazz- noch ein dezidiertes Rockalbum machen. “Bitches Brew”, meint Grella, sollte man daher am ehesten als experimentelle Musik hören, als Versuch, den überkommenen Normen von sowohl Jazz wie auch von Rock zu entkommen.

Im zweiten Kapitel erklärt Grella die seltsame Sektenhaltung, die Jazzrezeption manchmal annehmen kann und gegen die sich Miles Davis von früh an wehrte. Geht nicht gibt’s nicht, sei sein Motto gewesen, und Popsongs nahm er bereits lange vor “Time After Time” auf. Miles, fasst Grella zusammen, spielte Pop nicht um Popstar zu sein, sondern um Musik zu machen. Er erzählt von der Zeit des Trompeters mit Charlie Parker, vom Capitol-Nonet, das irgendwie die Geburtsstunde des Third Stream wurde, sowie von “Kind of Blue” und “Sketches of Spain”.

In Kapitel 3 erklärt Grella, welch völlig anderen Ansatz Miles an die Produktion eines Albums hatte, bei dem er sich ab 1968, ab dem Album “Circle in the Round”, vorbehielt, die musikalischen Versatzstücke nach Belieben zusammenzuschneiden.

In den Kapiteln 4 und 5 schließlich steht “Bitches Brew” selbst im Mittelpunkt, wenn Grella über Titel und Covergestaltung geflektiert und die einzelnen Titel beschreibt. Das liest sich stellenweise wie eine Sportreportage: wer, wann, was, Tonart, Einsatz, Intensität. Grella verweist auf die oft nicht wahrnehmbare Editiertechnik Teo Maceros und darauf, wie dies nur deshalb möglich war, weil alle Musiker immer deutlich aufeinander hörten. In “Pharoah’s Dance” benennt er eine “hippe Blueslinie bei 4:46” oder eine Coda, die “fast Beethoven’schen Charakter” habe. Im Titeltrack zeigt er auf viele der Nahtstellen, und dann verweist auf die Unterschiede der beiden Platten des Doppelalbums: “eine, um dich wegzublasen, die andere, um deinen Kopf wieder geradezurücken”.

Im letzten Kapitel widmet Grella sich den Nachwirkungen des Albums, in der Kritik genauso wie im Jazz. Mit Verweis auf Wynton Marsalis erklärt er, dass da zwei recht unterschiedliche Sichtweisen der Zukunftfähigkeit von Musik aufeinandergeprallt seien, um dann Miles’ Konzept auf dem kleinsten Nenner zusammenzufassen: “Indem er Rhythmus, Puls und Harmonien – und auf Tonband eingespielte Kompositionen – verwandte, die absichtlich nicht zu einer Auflösung fanden, organisierte Miles Zeit: und sowohl Form wie auch Zeit finden damit in der Musik zusammen”.

Eine kommentierte Diskographie beschließt das Büchlein, das sich wie ein sehr ausführlicher Plattentext mit vielen zusätzliche Informationen liest. Ja, Grella gelingt die Kontextualisierung, und doch kommt er der Musik selbst nur bedingt nahe, auch weil seine analytischen Anmerkungen etwas zu oberflächlich bleiben, weil er quasi nur parallel zur Musik beschreibt, was man eh hört, anstatt zusammenzufassen, was das alles “bedeutet”. Trotz dieser Einschränkung aber ist Grellas Büchlein ein lohnenswerter Begleiter zur nächsten abendlichen Abhörsession dieses Miles Davis-Klassikers.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Jazz Basel. Vier Jahrzehnte Stars und Szene
herausgegeben von Offbeat = Urs Ramseyer & Ruedi Ankli & Peewee Windmüller & Urs Blindenbacher
Basel 2015 (Christoph Merian Verlag)
180 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-85616-695-5

2015offbeatDie Geschichte regionaler Jazzszenen kann man auf unterschiedliche Weise erzählen. Man kann nostalgisch und sehnsuchtsvoll zurückblicken und von alten Zeiten schwärmen. Oder man kann auch Zurückliegendes vor allem aus dem Wissen um die Gegenwart verstehen.

Die Macher des offbeat-Festivals gehen in ihrem Buch über “Jazz Basel” den zweiten Weg. Das opulent bebilderte Buch widmet einzig sein Eingangskapitel (von Bruno Spoerri) den Anfängen des Jazz in Basel von den 1920er bis in die 1970er Jahre. 1974 gründete sich der Verein und die Konzertreihe jazz in basel, 1990 schließlich das Festival offbeat. Das Buch blickt auf die Musiker, die seither auf dem Festival spielten, aus skandinavische Gäste oder gesamtdeutsche Schwerpunkte, auf Jazz aus dem Mittelmeerraum und einen lateinamerikanischen Fokus, auf US-amerikanische Bands und die Schweizer Musiker, die hier auch immer zu hören waren. Es gibt Anekdoten aus dem Alltag von Festivalorganisatoren und Berichte von Backstage. Die Auswirkungen des Festivals in Stadt und Region werden thematisiert, Schulprojekte etwa oder die Präsenz im örtlichen Rundfunk. Und schließlich wird mit Stolz auf die Zusammenarbeit des offbeat Festivals mit dem Jazzcampus Basel und dem Club The Bird’s Eye berichtet.

Das alles ist kurzweilig geschrieben, vordergründig wohl vor allem für regionale Leser interessant, daneben aber genauso ein Bericht über die Verankerung einer regionalen wie internationalen Szene, aus dem auch Veranstalter anderswo etwas lernen können. Und schließlich sind da noch die 86 schwarz-weißen Abbildungen, Fotos von Bernhard Ley, Peewee Windmüller und Röné Bringold, die die Erinnerungen an die Geschichte von offbeat ungemein lebendig werden lassen.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher
von Detlef Siegfried
Göttingen 2015 (Wallstein)
455 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1673-7

2015siegfriedErnest Borneman war eine Mehrfachbegabung, so sehr, dass es genügend Menschen gaben, die dachten, es handele sich wahrscheinlich um mehrere Personen, die nur zufällig denselben Namen hätten. In den 1970er und 1980er Jahren war Borneman ein regelmäßiger Gast in deutschen Talkshows, wann immer es um das Thema Sexualität ging, hatte daneben eine Sex-Beratungskolumne in der Neuen Revue. Als Soziologe hatte er sich mit seinem Buch Das Patriarchat 1975 einen Namen gemacht. Vor seiner Beschäftigung mit Frauenbewegung und Feminismus hatte Borneman eine Karriere im Filmgeschäft gemacht, arbeitete für das National Film Board of Canada, für die UNESCO in Paris und war Programmdirektor des Freien Fernsehens, der ersten privaten Fernsehanstalt, die nach ihrem Verbot durch die Adenauer-Regierung quasi durch das ZDF abgelöst wurde. Und noch früher war Borneman nicht nur Jazzliebhaber und -experte, sondern einer der ersten Jazzforscher, ein Kenner des Jazz, der diese Musik zeitlebens als transkulturelle künstlerische Aussage verstand und 1944 mit seinem Artikelreihe “The Anthroprologist Looks at Jazz” eine der ersten übers Anekdotische hinausreichenden Kulturgeschichten des Jazz verfasste.

Borneman schied im Juni 1995 aus dem Leben. Sein Archiv ist in der Berliner Akademie der Künste untergekommen; jetzt hat der Historiker Detlef Siegfried die Biographie des vielfältigen Forschers vorgelegt. Diese hat er klar nach den verschiedenen Feldern gegliedert, in denen Borneman tätig war, überschrieben “Hören. Die Ethnologie des Jazz”, “Sehen. Das Leben auf der Leinwand” und “Berühren. Sex und Gesellschaft”.

Der 1915 in Berlin geborene Ernst Bornemann – wie er bis zu seiner Emigration 1933 hieß – hatte bereits 1930 Bertolt Brecht kennengelernt, als Mitglieder von Berliner Schulchören zu Proben des Lehrstücks Der Jasager geladen worden waren. Er und Brecht freundeten sich an, Brecht half ihm bei der Abfassung seines ersten Theaterstücks und Borneman Brecht bei einer Neuübersetzung des Dreigroschenromans ins Englische. Siegfried, der zu Beginn seines Buchs anschaulich erklärt, wie er sich durch Bornemans eigene “Autofiktionen”, wie er sie nennt arbeiten musste, durch falsche Fährten also, die Borneman aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten seiner Karriere legte, beschreibt Bornemans Exil als “nicht nur Flucht-, sondern auch Möglichkeitsraum”.

In London war Borneman regelmäßig bei Jazzkonzerten anzutreffen, verkehrte außerdem in einem Kreis linker und schwarzer Intellektueller. Bereits Mitte der 1930er Jahre hatte er einen Kriminalroman geschrieben, arbeitete bald auch an einem Drehbuch für einen möglichen eigenen Film, in dem auch der Jazz eine Rolle spielen sollte. Im Sommer 1940 wurde er als “feindlicher Ausländer” interniert, doch bereits zuvor produzierte er seine erste Rundfunksendung. Nach seiner Internierung wurde er nach Kanada deportiert, wo er nach seiner Entlassung beim National Film Board Arbeit fand.

Er knüpfte Kontakt zu Sammlern und Jazzkennern in den USA und sammelte Material für eine mögliche musikwissenschaftliche Dissertation und ein Buch zum Thema “American Negro Folk Music”, das von zwei Verlagen zur Publikation angenommen, dann aber wegen kriegsbedingten Papiermangels nicht gedruckt wurde. In seinen Jazzarbeiten, für die Borneman sich bei dem bekannten Musikethnologen Melville J. Herskovits um ein Stipendium bemühte, ging es, wie Siegfried zusammenfasst, “um zwei Themen: erstens um die Verbindungen von afroamerikanischer Volksmusik und moderner Tanzmusik der Gegenwart, und zweitens um die Verschränkungen von sozialen Verhältnissen und Populärkultur”. 1944 begann Borneman seine achtteilige Artikelserie “The Anthropologist Looks at Jazz”, die in der Zeitschrift The Record Changer erschien, der er bald auch als Mitherausgeber angehörte. Er schlug sich in der Debatte um den Bebop zwar auf die Seite des “authentischen” Jazz, konnte aber der romantischen Rückwärtsgewandtheit vieler der Traditionalisten wenig abgewinnen und versuchte daher immer wieder zwischen den Lagern zu vermitteln.

Mitte der 1940er Jahre lebte er in Paris, interviewte Louis Armstrongs Band anlässlich des ersten Jazzfestivals in Nizza im Jahr 1948, und freundete sich mit amerikanischen Expatriates und französischen Musikern wie Claude Bolling oder Boris Vian an. Er schrieb für den britischen Melody Maker und produzierte 1953 mit Betty Slow Drag einen experimentellen Kurzfilm, der seine beiden großen Interessen Jazz und Film miteinander verbinden sollte. Für den Melody Maker berichtete Borneman auch über den Jazz in Westdeutschland, konnte aber, selbst als Joachim Ernst Berendt versuchte ihn mit zeitgenössischen Musikrichtungen der 1960er Jahre anzufreunden, indem er ihn in ein Konzert John Coltranes mitnahm, mit dem modernen Jazz wenig anfangen.

Siegfried widmet Bornemans langer Auseinandersetzung mit den karibischen Wurzeln des Jazz ein eigenes Unterkapitel und berichtet davon, wie der spätere Beat Club von Radio Bremen auf Bornemans Ideen zurückzuführen gewesen sei. Er zeigt, dass Borneman in seinen Schriften einige Debatten angestoßen hatte, die in der Jazzkritik erst in den 1960er Jahren wirklich ausgetragen wurden, als er selbst an dieser Diskussion nicht mehr selbst teilnahm. Letzen Endes mag Borneman nicht mit allen seiner Thesen Recht gehabt haben, ohne Zweifel aber sei er ein Wegbereiter der internationalen Jazzforschung gewesen.

Der Jazz spielt auch in den weiteren Lebens- und Arbeitsphasen für Borneman eine wichtige Rolle, und Bornemans kritischer Geist, den Siegfried am Beispiel des Jazz ausgiebig beschrieben hat, lässt sich auch in diesen Bereichen zeigen. Detlef Siegfrieds Buch ist dabei ein faktenreicher Band, der biographische Stationen und Diskurse, an denen Borneman beteiligt war, laufend miteinander verschränkt. Ganz sicher war Borneman einer der schillerndsten Vordenker des Jazz; Siegfrieds Schilderung sowohl seines Lebens als auch der Diskussionen, an denen sich Borneman sein Leben lang beteiligte, zeigt ihn aber darüber hinaus als einen vielseitig gebildeten, einfachen Erklärungen zutiefst skeptisch gegenüberstehenden, zur Offenheit des Denkens neigenden Forscher.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Teddy Wilson. 19 Selected Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2015 (Blue Black Jazz)
44,95 Euro

Boogie Woogie, Volume 2. 17 Original Boogie Woogie and Blues Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2014 (Blue Black Jazz)
46,85 Euro
Zu beziehen über www.blueblackjazz.com

Paul Marcorelles hat bereits eine ganze Reihe an Transkriptionen von Pianisten des frühen Jazz vorgelegt, vorzugsweise von Musikern, die im Stride- oder Boogie-Woogie-Stil spielten. Seine jüngsten Veröffentlichungen widmen sich dem Swing-Stil Teddy Wilsons auf der einen und dem Repertoire einiger der Boogie-Woogie-Größen der frühen 1940er Jahre auf der anderen Seite.

2015marcorelles_wilsonFür Teddy Wilson hat Marcorelles sich Soli zwischen 1934 und 1946 ausgesucht, schnelle virtuose Titel wie “Rosetta”, den “Tiger Rag” oder “When You and I Were Young, Maggie” sowie Balladen wie “Don’t Blame Me”, “Out of Nowhere” oder “Body and Soul”. Seine Transkriptionen sind exakt, gut lesbar, reine Notationen ohne weitere Spielanweisungen oder analysierende Harmoniesymbole. Sie sind zum Nachspielen gedacht, brauchen allerdings Pianisten, die zum einen keine Probleme mit den bei Wilson so beliebten Dezimengängen der linken Hand haben und zum zweiten technisch fortgeschritten sind, um die virtuosen Arpeggien und die die Rhythmik aufbrechenden Läufe tatsächlich zum Swingen zu bringen. Wilsons linke Hand allein kann jedem Pianisten helfen, die antreibende Kraft des Swingens zu begreifen. Auch das Studium seiner Voicings lohnt, deren Alterationen den Akkorden zusätzliche Schwebungen verleihen. Wie immer bei Transkriptionen von eigentlich improvisierten Jazzsoli ist es mehr als hilfreich, sich die Soli auf Platte (oder über Streamingdienste) anzuhören.

2015marcorelles_boogieIm zweiten der beiden jüngst veröffentlichten Bände versammelt Marcorelles Transkriptionen von Hersal Thomas (“Hersal’s Blues”), Clarence ‘Pinetop’ Smith (“Pinetop’s Boogie Woogie”), Jimmy Yancey (etwa den “Five O’Clock Blues”), Pete Ammons (z.B. “Rock It Boogie”), Meade Lux Lewis (“Chicago Flyer” und “Glendale Glide”), Albert Ammons (etwa seinen “Swanee River Boogie”), Sammy Price (133rd Street Boogie”) und Pat Flowers (“Eight Mile Boogie”). Die rhythmischen Verschiebungen zwischen Bassfiguren und rechter Hand im Boogie Woogie sind dabei noch weit schwerer zu “lesen” und bedürfen noch stärker des Höreindrucks, um sie danach vom Papier in die Tasten zu übertragen und erlauben im Idealfall – und das wäre es ja eigentlich immer im Jazz – irgendwann das Loslassen und das eigene Erfinden melodischer und rhythmischer Muster, die eigene Improvisation.

Marcorelles’ neue Bände seien jedenfalls jedem interessierten Pianisten empfohlen als Übe- genauso wie Studienmaterial. Marcorelles bietet auf seiner Website übrigens alle insgesamt 202 Transkriptionen dieser wie früher erschienener Bände auch einzeln zum Download als PDF-Datei an

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Hot Music, Ragmentation, and the Bluing of American Literature
von Steven C. Tracy
Tuscaloosa 2015 (The University of Alabama Press)
537 Seiten, 64,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8173-1865-9

2015tracySteven C. Tracy ist Literaturwissenschaftler, Professor für Afro-American Studies, aber auch ein Blues-Harp-Spieler, der bereits in Vorgruppen für B.B. King, Muddy Waters und andere Stars der Szene auftrat. In seinem umfangreichen Buch stellt er die afro-amerikanische Musik der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, also Jazz und Blues, als Referenzpunkt dar, der helfen könne, die amerikanische Literaturgeschichte jener Zeit besser zu verstehen. Es geht ihm dabei nicht einzig um Romane oder Dichtung, die sich konkret und thematisch mit Musik beschäftigen, sondern auch um den Einfluss von Klanglichkeit, von Virtuosität, von improvisatorischer Haltung auf die amerikanische Literatur der Jahre bis 1930. Er greift hierfür immer wieder zurück auf konkrete Aufnahmen, um etwa Beispiele der afro-amerikanischer Stimme, des afro-amerikanischen Rhythmus, der Griot-Funktion des Bluessängers, der Bedeutung von Wiederholungen, der tiefen Doppeldeutigkeit, der politischen Untertöne herauszustreichen, die eben keine rein afro-amerikanischen Untertöne seien, sondern Befunde für den Zustand der gesamten amerikanischen Gesellschaft. Tracy verbindet die Genres, folkloristischen Blues, modernistischen Jazz, um aus dem Mix der Aufnahmen heraus, auf die er sich bezieht, neue Argumente zu entwickeln, die abseits der üblichen Beschreibung von Jazz-, Blues- oder Kulturgeschichte liegen. Er untersucht daneben auch Film- oder klassische Musikgeschichte nach Einflüssen von oder Analogien zu afro-amerikanischer Musik und findet den nachhaltigsten Widerhall außerhalb der Musik schließlich in der Literatur, bei T.S. Eliot, William Carlos Williams, Hart Crane, Gertrude Stein, Ezra Pount, und bei Abbe Niles, Langston Hughes, Countee Cullen, Zora Neale Hurston und anderen Dichtern und Schriftstellern der Harlem Renaissance.

Tracys schnelle Wechsel zwischen den Diskursen sind dabei sowohl inspirierend wie auch, da sie ein häufiges Vor- und Zurückblättern erfordern, zeitweise ermüdend. Sein intertextueller Ansatz ist auf jeden Fall ein Beispiel, wie sich aus dem Studium afro-amerikanischer Musik Aussagen über weit mehr als diese treffen lassen, wie stark tatsächlich diese Musik bereits in den ersten 30 Jahren des 20sten Jahrhunderts ihren Niederschlag im Denken, Handeln und Schreiben gefunden hat.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Friedel Keim
Das große Buch der Trompete (3)
Diskografie, Fotografien, Statistik, Nachträge
Fortsetzung des Trompeter-Lexikons, Band 3
Mainz 2015 [Eigenverlag
554 Seiten, 33,90 Euro
nur direkt zu beziehen über
Friedel Keim, e-mail: ruf.keim@t-online.de

2015keimDer Ur-Maizer Trompeter Friedel Keim hat nach den ersten beiden Auflagen von 2005 und 2009 nun den dritten Band seiner Trompeterbibel vorgelegt, ein sorgfältig recherchiertes Kompendium, das die verschiedensten Seiten des Instruments und seiner Musiker beleuchtet und dessen Spektrum von Klassik über Jazz bis zur volkstümlichen Musik reicht.

Keim kennt dabei keine Berührungsängste. Er versteht es genauso, sich über die Kunst der Barocktrompete auszulassen wie über die Probleme, die viele Jazzer mit der Ästhetik eines Wynton Marsalis haben. Und neben den großen Stars finden auch die Satzbläser wieder Erwähnung oder Musiker der aktuellen Szene.

Der lexikalische Teil von Band 3 enthält biographische Artikel von A wie “Abbott, Goivinda” bis Z wie “Zonshine, Michael”. Neben diesen teils ausführlichen Portraits gibt es Anmerkungen zur Interpretation von Werken aus Klassik, Marschmusik und anderen Genres, darunter auch analytische Anmerkungen und Notenbeispiele aus dem Jazzbereich, etwa eine Transkription des “West End Blues” in der Version von Louis Armstrong und seiner Hot Five von 1928, Dizzy Gillespies “Night in Tunisia”, oder Maynard Fergusons Version von “Body and Soul”. Korrekturen und Ergänzungen zu den beiden ersten Bänden erhalten ein eigenes Kapitel, und wieder gibt es den Block “Wissenswertes rund um die Trompete”, der etwa Informationen über das “Gansch-Horn” gibt oder über das flexibrass-Mundstück, über die Vuvuzela oder über die Trompete auf historischen Briefmarken, über den Trompetenbaum oder diverse Filme, in denen die Trompete im Mittelpunkt steht. Schließlich findet sich noch ein umfassendes Kapitel zu Horst Fischer, jenem legendären deutschen Trompeter, dessen Prolog zu einer Autobiographie Keim abdruckt, außerdem eine alphabetische Auflistung aller ihm bekannter Fischer-Aufnahmen.

Wie bereits in den vorherigen Bänden findet sich auch in Band 3 vieles, was sonst kaum irgendwo erierbar wäre. Friedel Keim weiß um Geburts- und Sterbedaten, berichtet über die Stars, aber eben genauso über die “kleinen” Vertretern des Instruments, über Satzspieler oder junge Musiker, die durchaus auch zwischen den stilistischen Welten leben und arbeiten, über Dixieland- und Swingtrompeter, die eher der Amateur- als der Profiszene angehören, aber dennoch gute Musiker sind, über Musiker von denen man noch nie gehört hat oder aber auch Musiker, die man persönlich kennt, aber nie in einem Lexikon vermutet hätte, weil ihr Arbeitsschwerpunkt doch eher regional begrenzt ist. Keim hat sich ihnen allen angenommen mit einem Vollständigkeitsanspruch, der jede Kritik an der Auswahl im Keim ersticken ließe (man entschuldige das Wortspiel). Und gerade in den Einträgen zu den kleinen Vertretern der Trompete erkennt man einmal mehr die “labor of love” dieses Buches, das zu alledem noch exzellent lesbar ist. Kein kritisches Buch vielleicht, dafür ein verlässliches Nachschlagewerk für jeden, der sich für die Trompete interessiert: eine Trompeterbibel fürwahr!

(Wolfram Knauer, Februar 2016)


 

Mein Onkel Pö
von Holger Jass
Hamburg 2015 (Offline-Verlag)
137 Seiten, 25,55 Euro
ISBN: 978-3-00-051272-8

2015jassEinen ersten Hinweis auf den Inhalt dieses Buchs gibt bereits der Preis: 25,55 Euro, entsprechend einem Cent pro Nacht im legendären Club, wie Holger Jass in der Presseankündigung zum Buch erklärt. Holger Jass hatte das Onkel Pö (Onkel Pö’s Carnegie Hall, wie es damals offiziell hieß) Anfang 1979 vom Vorbesitzer Peter Marxen übernommen, der ihn bei der Übergabe warnte: “Ich muss dich warnen. Pö-Jahre sind wie Hundejahre. Die zählen siebenfach.” Jass hielt es bis Anfang 1986 aus, führte das “Pö” im Sinne seines Kultstatus’ weiter und hat jetzt ein kurzweilig-amüsantes Buch über seine Erlebnisse mit Musikern, Medienmenschen, Kollegen und dem Publikum geschrieben, das ihm die ganzen Jahre über treu blieb, aus dessen Reihen sich aber partout kein Interessent für eine Nachfolge finden ließ.

“Jetzt macht Jass den Jazz im Onkel Pö” titelte das Hamburger Abendblatt, als Jass 1979 übernahm. Sein Buch handelt natürlich auch von Jazz. Er beschreibt, wie Michael Naura, damals Jazzredakteur des NDR viele der Jazzabende mitschnitt, die sich das Pö ansonsten kaum hätte leisten können. Den Flügel im Club hatte kein geringerer als Joachim Kühn ausgesucht und eingeweiht. Ansonsten bevölkern Jazzer wie Freddie Hubbard, Elvin Jones, Pat Metheny, Dexter Gordon die Seiten, aber auch Tom Waits, Charlie Watts, Joe Cocker, Hannes Wader, Truck Stop und natürlich Udo Lindenberg, der dem “Pö” in einem seiner Hits ein Denkmal setzte.

“Bei Onkel Pö spielt ‘ne Rentnerband”, hieß es da, “seit 20 Jahren Dixieland” – aber mit Dixieland ließ sich so ein Schuppen nicht finanzieren, bilanziert Jass trocken … obwohl man das Wort “trocken” selbst bei einer Rezension dieses Buchs nicht in den Mund nehmen sollte, denn trocken ging es ganz sicher nicht zu im Pö. Auch davon handelt das Buch, von den skurrilen Erlebnissen mit den Musikern, vom gesteigerten Alkoholkonsum, vom Pflegen einer Szene und davon, dass man, um Wirt zu sein, ein dickes Fell und viel Humor benötigt. Pineau ist das Zauberwort, jene süßliche Mischung aus Traubenmost und Cognac, die Jass als Allheilmittel vieler Probleme genauso beschreibt wie als Ursache anderer. Seine Anekdoten machen klar, dass man als Wirt und täglicher Konzertveranstalter selbst nicht ganz ohne solche “Medizin” auskommt: ein divenhafter Auftritt Freddie Hubbards etwa oder jener Abend mit Dexter Gordon, den Jass allerdings erst aus drogenbedingtem Tiefschlaf im Hotel um die Ecke wecken musste, den er für seine 57 Jahre als “bös klöterich” beschreibt, der dann aber nach einem dreifachen Whiskey ein denkwürdiges Konzert gegeben habe.

Sehr viel tiefer geht es sicher nicht in seinen Erinnerungen, die er mit viel Augenzwinkern und der humorvollen Abgeklärtheit der zeitlichen Distanz schreibt, und bei denen man schon mal über die eine oder andere schlüpfrige Anekdote hinweglesen muss. Bei all denen, die dabei waren in diesem zwischen Alternativszene und Hochkultur angesiedelten Zauberort in Eppendorf, wird er warme Erinnerungen wecken. Man meint den Fusel wieder zu schmecken und die dicke Luft wieder zu riechen, vor allem aber erinnert man sich an die musikalischen Hochgenüsse, die das Onkel Pö so oft und so viel vermittelte. Für diejenigen, die nicht dabei waren, gibt Jass ein launiges Portrait, einschließlich etlicher Fotos, ein Portrait, das stellenweise einer Filmdokumentation über verwunschene Zeiten ähnelt, bei denen man eigentlich gern dabei gewesen wäre.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Rhythm Is My Beat. Jazz Guitar Great Freddie Green and the Count Basie Sound
von Alfred Green
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
325 Seiten, 75 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4246-3

2015greenCount Basies All American Rhythm Section gilt als die swingendste Rhythmusgruppe des Jazz. Die Art, wie Pianist Basie, Gitarrist Freddie Green, Bassist Walter Page und Schlagzeuger Jo Jones rhythmisch und harmonisch ineinandergriffen, um den vorwärtstreibenden Schwung zu schaffen, der zu ihrem Markenzeichen wurde, besaß so viel an Energie, dass Rhythmusgruppen überall auf der Welt sie zum Vorbild nahmen. Den wichtigsten Anteil an dieser Energie hatte, wie Basie selbst, aber auch zahllose andere Musiker bezeugen, Freddie Green, der dem Count Basie Orchester von 1937 bis zu Basies Tod im Jahr 1983 und der Band noch ein paar Jahre danach bis zu seinem eigenen Tod 1987 angehörte. Von Nichtmusikern wurde Green schon mal dafür bemitleidet, ein ganzes Leben lang nie ein wirkliches Solo gespielt, dafür immer nur “schrumm schrumm” gemacht zu haben, vier Schläge pro Takt, durchgehend vom ersten Akkord bis zum letzten; und doch ist ihm jemand kaum in der Kunst des Rhythmus nahegekommen, den dieser Vierschlag erzeugen konnte.

Jetzt hat Alfred Green, der Sohn des Gitarristen, eine Biographie vorgelegt, die weit mehr ist als die persönliche Erinnerung eines Verwandten. Greens Buch schafft den Spagat zwischen Insiderwissen, persönlicher Betroffenheit und nüchterner Beschreibung der Lebens- und Arbeitswirklichkeit eines Musikers der Bigbandära.

Die Geschichte beginnt in Charleston, South Carolina, wo Freddie Green 1911 geboren wurde, in einer Stadt mit einer überaus lebendigen schwarzen Musikszene. Nachdem er die erste Ukulele gegen ein viersaitiges Banjo ausgetauscht hatte, sammelte er erste musikalische Erfahrungen mit Freunden aus dem Jenkins Orphanage, einem berühmten Waisenhaus in Charleston, aus dem etliche spätere Musiker hervorgingen. Mit einer dieser Bands reiste er die Küste hoch bis nach Maine, wechselte irgendwann vom Banjo zur Gitarre und spielte mit dem Saxophonisten Lonnie Simmons und dem Stride-Pianisten Willie Gant. Als der Impresario John Hammond ihn hörte, empfahl er seinem Schützling Count Basie, sich den Gitarristen für sein Orchester zu sichern. Im Januar 1937 kam es zum Vorspiel erst in kleinem Kreis, dann mit der Bigband, und am 1. Februar begann sein mehr als 45-jähriges Engagement als Motor des Count Basie Orchestra.

Alfred Green erzählt nicht nur die Lebens- und Arbeitsstationen Greens, sondern nähert sich auch seinem Stil, fragt nach Einflüssen, erklärt die Besonderheit des Green’schen Sounds. Der Autor wurde im Februar 1938 geboren, im selben Jahr beendete seine Mutter ihre Beziehung zu seinem Vater, sicher auch, weil der inzwischen eine Romanze mit Billie Holiday begonnen hatte, die für kurze Zeit mit Basie reiste.

Green beschreibt die verschiedenen Besetzungen der Basie-Band der 1930er und 1940er, die Schwierigkeiten des Musikerlebens, und die zunehmenden Probleme der Musikindustrie, die schließlich dazu führten, dass Basie sein Orchester auflöste und kurze Zeit mit einem Sextett – ohne Gitarre – auftrat. Sein Vater nahm die Entscheidung nicht hin und tauchte einfach beim nächsten Gig des Sextetts mit seiner Gitarre auf. “Was machst du denn hier?”, fragte Basie, und Green antwortete, “Was glaubst du wohl? Du hast hier einen Gig, richtig? Ich habe dir die besten Jahre meines Lebens gegeben und du glaubst, mich einfach beiseiteschieben zu können? Keine Chance!”

Während die 1930er- und 1940er-Jahre-Band insbesondere ein Solistenorchester war, wurde der Sound der 1950er Jahre-Band durch ihre Arrangeure geprägt. Alfred Green berichtet, wie Green seinen Platz in den Arrangements fand, wie er sich zu den Schlagzeugern positionierte, und wie er seine Aufgabe immer als die eines Unterstützers der anderen gesehen habe.

Neben den Einsichten in Greens Karriere sind es vor allem die technischeren Kapitel, die im Buch faszinieren. Alfred Green beschreibt etwa die Spannung der Saiten, die besondere Haltung, die Green benutzte, bei der sein Instrument fast auf seinem Schoß lag, spricht über die Tatsache, dass Green kaum je mit nicht-akkordischen Soli zu hören war, über seine wenigen Aufnahmen unter eigenem Namen, über Gigs für andere Bandleader und anderes mehr.

Einem dicken Block mit seltenen Fotos folgen schließlich noch Analysen von Michael Petterson, M.D. Allen und Trevor de Clerq sowie Zitate anderer Gitarristen über Green, schließlich eine ausführliche Diskographie aller seiner Aufnahmen.

Es gibt eine Reihe an Büchern über das Count Basie Orchester, darunter natürlich auch Basies eigene Autobiographie, verfasst mit Hilfe Albert Murrays. Keines dieser Bücher aber bietet einen so persönlichen Einblick in die Band wie das Buch Alfred Greens über seinen Vater. Der Gitarrist Freddie Green war wahrscheinlich der wichtigste Musiker des Basie Orchesters, der nicht nur für den durchgehenden Swing und eine rhythmische Verlässlichkeit stand, sondern der Band auch, was oft übersehen wird, ihren ganz spezifischen Sound verlieh, der sie aus der Menge ihrer Konkurrenten auf dem großen Bigbandmarkt hervorhob. Greens Buch gelingt in diesem Umfeld gleich dreierlei: Er schreibt eine Biographie des Gitarristen Freddie Green, er erzählt Details aus der Bandgeschichte Count Basies (und damit aus dem Alltag der Swingära), und er teilt sehr persönliche Erinnerungen an seinen Vater mit dem Leser.

Ihm gelingt dabei der schwierige Spagat, Beobachter und Sohn zur selben Zeit zu bleiben. Zu Beginn liest sich das alles wie eine interessante, aber eher distanzierte Lebensdarstellung, bis Green aus einem Gespräch zitiert, das er mit seiner Mutter geführt hatte, und bei dem einen schlagartig klar wird, dass der Autor ja Sohn des Objekts seines Berichts ist, dass er mit dem Wissen eines Familienglieds, sicher auch mit eigener Betroffenheit schreibt. Solche Perspektivwechsel gelingen ihm hervorragend, wie man in etlichen bewegenden Passagen erkennen kann. Green verschweigt macht aus seinem Vater nirgends einen Heiligen, sondern stellt ihn als Menschen dar, der nach dem Besten strebte, aber durchaus fehlbar war.

“Rhythm Is My Beat” ist ein sehr empfehlenswertes Buch, über Freddie Green, über Count Basie, über die Swingära und vieles mehr. Alfred Greens Buch gibt einen tieferen Einblick als vieles, was man sonst so liest zu diesem Thema und ist eine spannende Lektüre für Fans, genauso wie für Musiker oder Forscher über diese Musik.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Keith Jarrett. Eine Biographie
von Wolfgang Sandner
Berlin 2015 (rowohlt)
362 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-780-1

2015sandner“Mit freundlichen Künstlern ist die Welt nicht gesegnet”, beginnt Wolfgang Sandner sein Buch, das er mit Wohlwollen des Pianisten angegangen war, bis er mit diesem nach einem Konzert aneinandergerieten sei, weil es Jarrett nicht gefallen habe, dass Sandner sein “Köln Concert” als einen seiner größten Erfolge bezeichnete. “Das Ende eines Dialogs eröffnet jedoch auch eine Chance”, befindet Sandner. In der Folge nämlich habe er sich noch stärker auf die Musik konzentrieren müssen. Das Ergebnis ist ein Buch, das der Musik Jarretts als eines Künstlers gerecht wird, der seine Kraft aus der Improvisation des Jazz zieht, dessen Wirkung aber weit über dieses Genre hinausreicht.

Keith Jarrett wurde am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren, und Sandner sieht diesen Tag, Kriegsende, als symbolträchtig für die Jahrhundertkarriere des Pianisten. Ohne Europa, das durch den Krieg noch mehr für die Qualitäten des Jazz sensibilisiert war, erklärt Sandner, wäre Jarretts Karriere einerseits so nicht möglich gewesen, auf der anderen Seite habe Jarrett immer tief in den Traditionen der amerikanischen Avantgardeästhetik gestanden, in der Tradition auch eigenbrötlerischer Künstler wie Lou Harrison und Alan Hovhaness, deren Werke er Anfang der 1980er Jahre in Europa uraufführte.

Sandner zeichnet die Kindheit Jarretts in Allentown nach, die Erkenntnis seines Talents, das Trauma der Trennung seiner Eltern, dem er mit dem Rückzug in die Musik begegnete, und die musikalischen Bemühungen seiner Brüder. Jarrett spielte mit lokalen Bands, besuchte Workshops, gewann ein Stipendium fürs Berklee College, mit dessen die Musik eher regulierenden als zur Kreativität ermutigendem Lehrplan er allerdings wenig anzufangen wusste. Da war die Schule von Art Blakeys Jazz Messengers schon eine andere, in denen Jarrett ab Herbst 1965 für vier Monate mitwirkte. Von Blakey wechselte er in die Band des Saxophonisten Charles Lloyd, dem er durch dessen Schlagzeuger Jack DeJohnette empfohlen worden war. Lloyds Quartett war “die erste Supergroup des Rockjazz”, und Sandner hört sich sowohl dessen Studio- wie auch die Liveaufnahmen an. 1967 gründete Jarrett sein erstes Trio mit Charlie Haden und Paul Motian, und als ihm Miles Davis 1969 zum wiederholten Mal anbot, in seiner Band mitzuwirken, sagte Jarrett zu, obwohl Miles mit Herbie Hancock und Chick Corea bereits zwei Pianisten in der Band hatte. Bei Miles musste er elektronische Keyboards und Orgel spielen, Instrumente, die ihm eigentlich zuwider waren. Zugleich setzte er sich noch mehr mit Klang auseinander, mit dem Sound der Instrumente, die er zu bedienen hatte genauso wie den Soundmöglichkeiten der Band, die für Miles im Mittelpunkt seiner “musikalischen Großräume, Klangkunstwerke” standen.

Ein eigenes Kapitel widmet Sandner der Partnerschaft zwischen Keith Jarrett und Manfred Eicher, der weit mehr war als ein Labelgründer und Plattenproduzent. Jarrett stand Anfang der 1970er Jahre eigentlich bei ABC unter Vertrag, ihm wurde aber erlaubt, Produktionen mit “ernster Musik” und ähnliche Aufnahmen ohne Gegenleistung anderswo einzuspielen, das könne sein Ansehen schließlich nur steigern. Dass Jarretts Aufnahmen für Eichers Edition of Contemporary Music zum Zugpferd für das Label ECM werden sollten, hatte niemand vorhergesehen. Im November 1971 also ging Jarrett erstmals in Oslo ins Studio und produzierte mit “Facing You” die erste von bis heute 28 Solo-Produktionen für Eicher, ein Album, das sowohl Jarretts Ruf als Solopianist begründete als auch Eichers Ruf als einer der offenohrigsten Produzenten des Jazz. Sandner erklärt, was die Partnerschaft und das Vertrauen der beiden zueinander begründe, die Tatsache etwa, dass Eicher selbst Musiker sei oder dass sein Interesse neben dem Jazz auch anderen Formen von Musik (oder Literatur oder Kunst oder Film) gelte. Eicher, schlussfolgert Sandner auch nach dem Gespräch mit anderen ECM-Künstlern, sei bei vielen seiner Produktionen der “dritte Mann”, auch wenn man ihn weder sehe noch höre.

Es gäbe etliche Musiker und Musikliebhaber, warnt Sandner schon im Vorwort seines Buchs, die meinen, über Musik solle man nicht so viel schreiben, da diese das Wesentliche doch eh in sich berge. Und dann tut er genau das, kongenial, so nämlich, dass seine Zeilen die Musik zwar heraufbeschwört, aber nirgends zu ersetzen trachtet. Über Jarretts Klavierspiel etwa schreibt er, man könne vielleicht die verschiedenen Techniken benennen, die seinen Personalstil ausmachten, komme dabei aber vor allem an einem Charakteristikum nicht vorbei, das Sandner die “Konzentration aufs Wesentliche” nennt und das er in Jarretts musikalischem Ansatz genauso findet wie in seiner Wahl der Mitmusiker oder in der klaren Gliederung seines Repertoires in Standards, eigene Kompositionen und freie Solo-Improvisationen.

An anderer Stelle verfolgt er Jarretts Vervollkommnung der authentisch-eigenen Stimme. Er betrachtet die Aufnahmen seines amerikanischen Quartetts mit Dewey Redman und seines europäischen Quartetts mit Jan Garbarek, beschreibt, was an diesen Aufnahmen so besonders sei, obwohl sie doch weder einen unerhörten Klang hervorbrächten noch eine neue Form oder eine außergewöhnliche ästhetische Haltung. Er nennt Jarrett einen “Solist ohne Grenzen”, verfolgt die unterschiedlichen pianistischen Ansätze, die der Künstler über die Jahre entwickelte. Und Sandner ist wie wenige deutsche Autoren ein Meister darin, Musik mit Worten näher zu kommen. Ein Beispiel: Über Jarretts Album “Staircase” schreibt er: “Alles, was Jarrett in den elf Stücken erklingen lässt, besitzt Körperlichkeit. Es gibt keine flachen Töne, nur runde, eckige, kubusartige, voller Tiefenschärfe. Wenn ein Ton verklingt, wird er nicht nur leiser, er verschwindet wie in einem Tunnel, verliert nicht nur sein Volumen, sondern wird augenscheinlich kleiner.” Er benennt die Beziehungen zwischen Jarretts Aufnahmen an der Barockorgel in Ottobeuren und seiner Suche nach Klangfarben einerseits und ähnlichen Suchen europäischer oder amerikanischer Komponisten andererseits, nicht aber, um daraus Einflüsse abzuleiten, sondern um zu zeigen, dass Jarrett sich da inmitten eines breiten Diskurses befindet, in dem seine eine gewichtige Stimme ist.

Zwischen ausführliche Beschreibungen der diversen Plattenprojekte streut Sandner aber auch Informationen über die Selbstzweifel des Künstlers, über persönliche und geschäftliche Krisen, über Rückenschmerzen und das chronische Erschöpfungssyndrom, dass Jarrett für einige Jahre aus dem Verkehr zog. Er beschreibt, wie all diese außermusikalischen Ereignisse ihren Widerhall in Jarretts Musik fanden. Nach seiner Genesung, fasst Sandner zusammen, sei Jarrett ” praktisch nicht mehr in ein Aufnahmestudio zurückgekehrt. Mit Ausnahme einer Duo-Aufnahme mit Charlie Haden und einer Einspielung von Bach-Sonaten für Violine und Klavier sind alle Aufnahmen danach bei Live-Auftritten entstanden.”

Natürlich nimmt das “Köln Concert” ein wichtiges Kapitel seines Buchs ein. Sandner beschreibt die bekannt widrigen Umstände des Konzerts, Rückenschmerzen, ein schlecht intoniertes Instrument, ein Stutzflügel, den die Bühnenarbeiter statt des eigentlich geplanten Bösendorfer Imperial auf die Bühne gestellt hatten, und er erzählt, wie Jarrett aus all diesen Widrigkeiten über sich herauswuchs, die Beschränkungen des Instruments zu Stärken seiner Aufnahme machte. Das “Köln Concert” wurde zu einem Riesenerfolg bei Kritik und Publikum gleichermaßen, und selbst der Perfektionist Jarrett musste später zugeben, dass die Ideen, “diese Klangfarben und diese Stimmführungen”, die auf der Aufnahme zu hören sind, schon einzigartig waren.

In weiteren Kapiteln seziert Sandner die Herangehensweise Jarretts an die Standards des American Popular Song, die er zusammen mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette ab 1983 einspielte und bald auch bei Konzerten spielte, seine Einspielungen klassischer Musik von Bach bis Lou Harrison, sowie Jarretts eigene Kompositionstätigkeit, die sich keinesfalls in der Komposition von Themen für eigene Improvisationen erschöpfte.

Sandners letztes Kapitel heiß “Einspruch” und ist unter all den lesenswerten Kapiteln dieses Buchs vielleicht das lesenswerteste. Sandner beginnt mit einer Eloge auf den kreativen Schöpfer, auf das Genie Keith Jarrett, um dann die Reaktion hervorzuheben, mit der Jarrett so oft, auf so vieles, reagiert, seine “Manie, etwas abzulehnen”. Der wichtigste Einspruch Jarretts gelte dabei musikalischen Trends, kurzlebigen Moden oder selbsternannten Kanonikern. Sandner findet diese Veto-Haltung auch im Klavierspiel des Meisters selbst, das “allen Regeln der traditionellen Klavierkunst widerspricht und wirkt, als sei das Instrument weniger ein Partner, vielmehr ein Gegner, den man bezwingen müsse, bisweilen mit List und Tücke, bisweilen mit tänzerischem Ablenkungsmanöver, manchmal mit brachialer Gewalt, nicht selten aber, indem man sich den Flügel einverleibt, mit ihm verschmilzt.” Es ist dieses Eins-Sein mit seiner Musik, das Jarrett auch außerhalb der Jazzanhängerschaft Wirkung verschafft hat. Henry Miller schrieb ihm einen Brief, nachdem er das “Köln Concert” gehört hatte, Sergiu Celibidache und Marcel Reich-Ranicki zeigten sich begeistert. Sandner argumentiert aber auch, dass diese Verweigerungshaltung neben seinen künstlerischen Entscheidungen auch Jarretts problematisches Bühnenverhalten beeinflusst habe, seine gelegentlichen Publikumsbeschimpfungen, die, wie Sandner schreibt, fast schon zum Ritual geworden seien, das Voyeure unter den Hörern erwarten oder gar herausfordern.

Wolfgang Sandners Buch gelingt es, der Musik Keith Jarretts nahe zu kommen, gerade, weil er sich, wie er im Vorwort erklärt, mit dem Künstler entzweit hat. Sandner besitzt den Überblick nicht nur über Jarretts Schaffen und nicht nur über die Jazzgeschichte, aus der heraus Jarretts Kunst kommt, sondern über die gesamte Kulturgeschichte, in die hinein Jarretts Musik wirkt. Es gelingt ihm, die verschiedenen Positionen zu definieren, die sich in der Musik und ihrer Rezeption widerspiegeln: die musikalische, ästhetische und wirtschaftliche Position Jarretts zu verschiedenen Zeiten, die Position der Labels, der Agenten, der Produzenten, die Position Manfred Eichers, die Position der Kritiker und des Publikums, und nicht zuletzt auch seine eigene Position, die Position Wolfgang Sandners. Dass er aus eigener Begeisterung heraus schreibt, lässt er nicht unerwähnt. Er bezeichnet Jarrett wiederholt als “Genie”, nennt ihn den größten Musiker, der je aus Allentown kam. Doch dient diese eigene Positionsbestimmung letztlich auch dem Vertrauen, das wir als Leser in Sandners Wertung der Musik haben können. Er lässt uns klar wissen, wo er als Autor steht, und so können wir viel leichter unsere eigene Position beziehen, überdenken, revidieren. Wolfgang Sandner ordnet Jarretts Aufnahmen dabei nicht nur in Jazz-, Musik- und Kulturgeschichte ein, er verleitet zum neuen, zum tieferen Hören, und er ermöglicht ein Verständnis – im besten Sinne des Wortes – über die Grenzen des emotionalen Hörens hinaus

Wolfram Knauer (Dezember 2015)

Nachtrag Februar 2021:

Keith Jarrett. A Biography
by Wolfgang Sandner, translated by Chris Jarrett
Sheffield 2020 (Equinox)
215 Seiten. 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-800500129

Sandners Jarrett-Biographie ist inzwischen auf Englisch erschienen, übersetzt von keinem Geringerem als Jarretts Bruder, dem in Deutschland lebenden Pianisten Chris Jarrett. Für die englische Ausgabe hat Sandner seinen früheren Text erweitert und aktualisiert, hat neuere Aufnahmen und neue Veröffentlichungen aus früheren Jahren berücksichtigt und neue Erkenntnisse über Jarretts familiären Background geteilt. Mit dem Abschied Jarretts von der Bühne im vergangenen Oktober scheint auch seine Karriere abgeschlossen. Sandners Buch vertieft das Wissen und ermuntert zum Nachhören – jetzt vielleicht etwas wehmütiger als bei der ersten (deutschen) Lektüre vor sechs Jahren.


 

Als der Jazz nach Kassel kam. Streifzüge durch die Szene der ersten Nachkriegsjahre
von Ulrich Riedler
Berlin 2015 (B&S Siebenhaar Verlag)
104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN: 978-3-943132-39-7

2015riedlerDie großen Jazzmetropolen – Berlin, Hamburg, Köln, München – sind weitgehend dokumentiert. Auch für kleinere Städte haben sich Historiker und Hobbyhistoriker der Aufbereitung der Jazzgeschichte angenommen. Das kann schon mal seltsam wirken, wenn Provinzzentren wie der Mittelpunkt der Welt erscheinen, wo sie doch meist nur Durchgangsstationen für aufstrebende spätere oder etablierte, sich auf Tournee befindende Jazzstars waren. Tatsächlich aber sind regionalen Szenen bis heute wichtige Brutstätten künstlerischer Ideen, auch wenn viele der Musiker, die hier ihre Anfänge nehmen, irgendwann in die großen Zentren abwandern, in Städte mit bedeutenden Hochschulen etwa oder in solche mit einer lebendigen, großen Jazzszene.

Das nordhessische Kassel, in der Mitte der Republik, und doch kulturell vor allem durch die Brüder Grimm und die documenta bekannt, besitzt bis heute eine lebendige Szene, verschiedene Spielorte für Jazz und improvisierte Musik, und ein langjähriges Festival. Die alle fünf Jahre stattfindende documenta bringt es mit sich, dass die Bürger der Stadt sich sehr bewusst mit ästhetischen Diskursen der Avantgarde auseinandersetzen.

Der Journalist und Jazzfan Ulrich Riedler hat sich in seinem Buch auf die Suche nach den Anfängen des Jazz in der nordhessischen Stadt gemacht und diese im Frühjahr 1940 entdeckt, als sich junge Jazzfreunde im Gasthaus “Ledderhose” trafen, wo sie gemeinsam die neuesten Platten hörten. Irgendwann rückte die Gestapo ihnen auf den Leib, nahm die Jungs mitsamt ihrer Schellackschätze mit und unterzog sie einer gründlichen Befragung. Die Jazzfans wurden bald wieder entlassen, und einer von ihnen kann Riedler nicht nur von damals berichten, sondern ihm sogar noch die kurzfristig konfiszierten Platten zeigen. Die “Ledderhose” blieb auch nach dem Krieg ein Jazztreffpunkt, in dem die Mitglieder zu Platten tanzten, ab und zu aber auch selbst zum Instrument griffen.

Die 1950er Jahre dokumentiert ein Gespräch mit dem späteren Spiegel-Redakteur Alfred Nemeczek, von dem Riedler außerdem einen Bericht über das Jazzkontor Kassel aus dem Jahr 1959 andruckt, den Versuch, in Nordhessen einen Liveclub nach Vorbild des Frankfurter Jazzkellers zu etablieren. In den 1950er Jahren begannen die ersten amerikanischen Stars Deutschland zu erobern. Kassel erlebte Konzerte von Duke Ellington, Louis Armstrong, Lionel Hampton oder der Jam-Session-Truppe Jazz at the Philharmonic mit Ella Fitzgerald und vielen anderen.

Einer der Stammgäste der Kasseler Jazzszene war damals der Trompeter Manfred Schoof, der zwei Jahre an der Kasseler Musikakademie studierte, bevor er nach Köln weiterzog. Riedler spricht mit ihm über die Jazzszene jener Zeit, über Musiker und Musikerlegenden der Region, unter anderem den Tenorsaxophonisten Werner Apel, den, wie man sich erzählt, sogar Duke Ellington verpflichten wollte, weil er ihn bei einer Jam Session so beeindruckt habe, und natürlich auch über die GI-Clubs, in denen Schoof die amerikanische Kultur erst richtig kennenlernte.

Die Amerikaner waren im Stadtteil Rothwesten in Fuldatal stationiert und engagierten über die Special Service Agencies jede Menge deutscher Musiker für die Unterhaltung in den verschiedenen Clubs. Riedler blickt auf Orte, aufs Repertoire, auf das Jazzprogramm des örtlichen Amerika-Hauses, beschreibt aber auch andere Veranstaltungsorte der Stadt, deren Programm großteils von Vereinen organisiert, zum Teil auch von der Stadt unterstützt wurde. Er erzählt, wie Arnold Bode, der Vater der documenta, von der Band des Vibraphonisten und Gitarristen Fritz Bönsel so angetan war, dass er im Landesmuseum ein Konzert veranstaltete, das den Jazz endgültig in der Stadt etablierte.

Die Jazzszene jener Jahre beinhaltete traditionelle genauso wie moderne Stile, und so beschreibt auf der einen Seite die Dixieland-Szene der 1950er und 1960er Jahre mit ihren Riverboatshuffles und dem musikalischen Versuch, dem Original so nah wie möglich zu kommen, auf der anderen Seite aber auch, wie andere Musiker, Schoof und Gunter Hampel unter ihnen, dem modernen Jazz in Kassel zu Gehör verhalfen. Und schließlich spricht er mit dem Pianisten Joe Pentzlin, dessen Trio quasi die Hausband des Jazzclubs in der Orangerie gewesen war.

In einem abschließenden Kapitel schlägt Riedler einen knappen Bogen in die Regenwart, zu Musikern wie Matthias Schubert und Ernst Bier, die entweder aus Kassel stammen oder aber hier über längere Zeit Station machten und die Szene der Stadt mitprägten.

Riedlers Buch ist nicht als historische Dokumentation gedacht, denn vielmehr als eine flüssig zu lesende Erinnerung an die 1940er bis 1960er Jahre, ein liebevoll bebildeter Band über die Jazzszene in der deutschen Provinz, die – ähnlich wie die Szenen vieler anderer Städte mittlerer Größe – überaus lebendig war. Die Lektüre macht dem Leser deutlich, dass der Diskurs über den Jazz als aktuelle Kunstform nicht nur in den Metropolen stattfindet.

Wolfram Knauer (November 2015)


 

Music Wars 1937-1945. Propaganda, Götterfunken, Swing. Musik im Zweiten Weltkrieg
von Patrick Bade
Hamburg 2015 (Laika Verlag)
511 Seiten, 34 Euro
ISBN: 978-3-944233-41-3

Sounds of War. Music in the United States during World War II
von Annegret Fauser
New York 2013 (Oxford University Press)
366 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-994803-1

Victory Through Harmony. The BBC and Popular Music in World War II
von Christina L. Baade
New York 2012 (Oxford University Press)
275 Seiten, 31,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-537201-4

2013fauser Musik war immer schon kriegswichtig. Ob zum Anfeuern der Truppen im Marschrhythmus, ob zum Mobilmachen der Bevölkerung durch patriotische Hymnen, ob als Beruhigung und Selbstbestätigung, ob als Instrument der psychologischen Kriegsführung oder sogar als Foltermethode: Krieg ist ohne Musik – so seltsam diese Idee auch scheinen mag – kaum vorstellbar.

Drei kürzlich erschienene Bücher untersuchen die Rolle der Musik im Zweiten Weltkrieg. Der britische Historiker Patrick Bade berichtet über die verschiedenen musikalischen Strategien und Funktionen direkt vor Ort, in den Gebieten, in denen der Krieg tobte oder die am Krieg beteiligt waren, Frankreich, Deutschland, den USA, Russland, Großbritannien, dem nördlichen Afrika und dem Mittleren Osten. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Annegret Fauser beschränkt sich in ihrem Buch auf die klassische Musikszene in den Vereinigten Staaten. Die britische Musikhistorikerin Christina Baade schließlich untersucht, wie der BBC in den Kriegsjahren auf Jazz, Tanz- und Popmusik gesetzt habe, um die Moral der gesamten britischen Öffentlichkeit in den Kriegstagen zu stärken. Baades Studie gibt dabei einen Einblick in Programmentscheidungen eines öffentlichen Rundfunksenders und thematisiert, inwieweit die Öffnung des Senders für Jazz und amerikanische Popmusik auf Widerstände gestoßen sei. Fausers Fokus liegt auf der “concert music”, also der klassischen Musik, und im Umschlagtext heißt es, dass Dinah Shore, Duke Ellington und die Andrews Sisters vielleicht die Zivilisten zuhause und die Soldaten in Übersee unterhalten hätten, es tatsächlich aber vor allem die klassische Musik gewesen sei, die die Menschen für die Kriegsanstrengungen mobilisiert habe. Patrick Bade schließlich wagt den Rundumschlag, lässt also auch die sogenannte leichte Muse, Swing und Jazz, nicht aus. Während er dabei neben dem klassischen Repertoire und dem Swing auch einen Blick auf die Funktion von Radio, Film und Plattenindustrie wirft, außerdem in einem langen Kapitel Kriegslieder aus unterschiedlichen Ländern ins Visier nimmt, finden man in Fausers Buch Informationen über Musiker in der Armee, Auftragskompositionen für den Kriegseinsatz, ein Kapitel über Musik als Beruhigung der Bevölkerung und als Therapie für traumatisierte Soldaten sowie eines über die vielen Exilkomponisten, die durch den Krieg in den USA strandeten. Christina Baade schließlich diskutiert in ihrem Buch auch das Thema von Tanzmusik und Maskulinität, die Sorge um den Erfolg der amerikanische Popmusik und die Verdrängung eigener Traditionen, und die Bedeutung von Rundfunkprogrammen, in denen afro-amerikanische Musik in den Mittelpunkt gestellt wurden, für schwarze britische Musiker. Bei allen drei Autor/innen finden sich Diskussionen der Zuschreibung moralischer Qualitäten zur Musik, der Grundlage letzten Endes dessen, was in den USA später zur “cultural diplomacy”, zur Kulturdiplomatie werden sollte.

2012baadeFür Christina Baades Argumentationslinie spielt der Jazz eine zentrale Rolle; ihr Buch erlaubt dabei Rückschlüsse auf Entwicklungen des Nachkriegsjazz in Großbritannien, einschließlich der Hinwendung vieler junger Musiker insbesondere zu traditionellen Jazzstilen. Patrick Bade hat neben einem Kapitel über Jazz und Swing im Dritten Reich, in dem er auch auf das Phänomen der Propagandaband Charlie and His Orchestra eingeht, ein eigenes Kapitel über Musik im Feldlager, im Gefangenenlager und im Konzentrationslager. Fauser wiederum diskutiert in ihrem Buch ausführlich musikalischen Ausdruck von Nationalismus, etwa in Werken von Aaron Copland und Roy Harris.

Patrick Bade gibt am Schluss seines Buchs einen Ausblick auf die Nachwirkungen, erzählt etwa, dass Wagner im Bayreuther Festspielhaus kurzzeitig Cole Porter weichen musste, berichtet, wie Sänger/innen und Musiker/innen nach dem Krieg mit ihrer Karriere im Dritten Reich konfrontiert wurden oder diese sehr bewusst aus ihrer Biographie ausblendeten. Er endet mit dem kurzen Hinweis auf Werke, die sich bis ins 21ste Jahrhundert hinein mit den Gräueltaten des Kriegs auseinandersetzen. Christina Baades Buch endet mit der Ankunft der amerikanischen Truppen im August 1944 und der Entscheidungen des BBC, die auch die amerikanischen GIs mit ihrem Programm unterhalten wollte. In der Folge kam es zu einer Diskussion der Vermischung musikalischer Werte in der populären und Tanzmusik, über “Britishness” oder “Pseudo-American”. Ihr Buch verweist zwischen den Zeilen immer wieder, etwa Kapiteln über das vom Rundfunk mitgeprägte Bild der Frau oder im Versuch, die Ausstrahlung von Musik männlicher übersentimentaler Schlagersänger im Rundfunk zu unterbinden, auf Diskurse, die auch nach dem Krieg weitergingen und auf die letzten Endes BBC-Programmentscheidungen großen Einfluss hatten. Bei Fauser geht der Blick in die Nachkriegszeit über John Cage, dessen experimentelle Ideen sie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren verortet. Sie verweist darauf, dass Cage und seine Zeitgenossen ihre Lehren aus den Erfahrungen des Kriegs gezogen hätten, sich nach Ende des Kriegs von ihren nationalistischen Kompositionen distanziert oder aber diese in neue Werke integriert hätten.

2015badeZusammengefasst bietet Patrick Bade im breiteren Ansatz seines Buchs eine Art Rundumschlag über das Thema. Christina Baade wirft Licht auf die Verflechtungen zwischen Musik, Musikindustrie, öffentlicher Meinung und Publikumsgeschmack. Fausers Studie schließlich hätte von einer Erweiterung ihres Schwerpunkts vielleicht profitiert. Fauser begründet ihren eingeschränkten Blick im Vorwort damit, dass die Jazz- und Popmusikszene jener Jahre ja schon ausgiebig genug untersucht worden sei, während Forschungen zur klassischen Musik im Krieg weitgehend fehlten, vergibt sich damit aber die Chance einer differenzierten Darstellung, was vielleicht – nehmen wir einmal an, dass der Einband-Text vom Verlag und nicht von ihr stammte –, eine wertende Aussage wie die, dass Jazz und Popmusik die Bürger zuhause und die GIs in Übersee vielleicht unterhalten hätten, es aber die klassische Musik gewesen sei, die den wirklichen Unterschied gemacht habe, verhindert hätte.

Von solchen Anmerkungen abgesehen, haben alle drei Bücher ihre Meriten. Sie helfen bei der Kontextualisierung von Musikgeschichte in der späten ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, die letzten Endes Auswirkungen auch darauf hatte, wie Musik heute klingt und wie wir sie wahrnehmen.

Wolfram Knauer (Oktober 2015)


 

 

Giving Birth to Sound. Women in Creative Music
herausgegeben von Renate Da Rin & William Parker
Köln 2015 (Buddy’s Knife)
294 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-00-049279-2

2015darinVielleicht müsste am Anfang dieser Rezension erklärt werden, welchen Weg die Bücher durchlaufen, die im Jazzinstitut Darmstadt anlangen. Bevor wir uns die Bücher aussuchen, die wir rezensieren wollen, erfassen wir sie in unserem Jazz Index, einer computergestützten bibliographischen Datenbank, die von Forschern und Journalisten (und Fans) aus aller Welt genutzt wird. Das heißt, wir gehen das Buch von vorn bis hinten durch, ordnen jedes einzelne Kapitel einem Stichwort oder einem Musikernamen zu, tragen biographische Notizen wie etwa Geburtstag oder Geburtsort, nach, sofern sie in unserer Datenbank noch fehlen. Erst dann machen wir uns ans Lesen.

Aber schon bei diesem ersten Schritt des Erfassens fiel einiges auf beim Buch “Giving Birth to Sound”. Etliche der darin befragten Musikerinnen waren nämlich noch gar nicht in unserer Datenbank erfasst oder aber nur mit relativ kurzen bibliographischen Listen. Über sie wurde in der Jazzpresse bislang also nur wenig berichtet. Nun ja, mag man meinen, das hat sicher auch damit zu tun, dass Frauen ja so richtig erst in den letzten Jahren ins Rampenlicht des Jazz getreten sind. Weit gefehlt aber, und das war die zweite Überraschung: Viele Musikerinnen, die im Buch zu Worte kommen, gehören nämlich gar nicht der jungen (sagen wir: unter 40-jährigen) Generation an, sondern sind weit länger auf der Szene unterwegs. Die Gründe für ihre Unsichtbarkeit in der Jazzpresse mögen also doch woanders liegen.

Eine dritte Erkenntnis, die sich beim Durchblättern schnell ergibt, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Jede der Musikerinnen hat einen völlig anderen Zugang zum Thema. Mal analytisch, mal diskursiv, mal ausweichend, mal ablehnend, mal nüchtern gefasst, mal poetisch überhöht, mal kämpferisch, mal verteidigend. Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich schon in den Überschriften der Kapitel, die Renata Da Rin und William Parker aus der Frage “Was bedeutet Musik für Dich” abgeleitet hat. “Jeder Sound und jede Stille”, antwortet Renée Baker; “die Gründe für mein Leben”, sagt Amy Fraser; “ein abstrakter Ort, um das Leben zu teilen und zu fühlen”, meint Marilyn Mazur; “ein Lager der Erinnerungen”, findet Shelley Hirsch, “Leben, Magie, Geist”, beschreibt Maggie Nicols, oder aber, so Erika Stucky, “serious fun – a ‘Schnaps'”.

Oder aber die Einleitung: Nach dem Vorwort von Amina Claudine Myers haben die Herausgeber eine Anzahl von Reaktionen auf den Buchtitel zusammengefasst. “Giving Birth to Sound”? Schrecklicher Titel: Frauen wurden schließlich immer wieder aufs Gebären reduziert, meint eine der Gesprächspartnerinnen, während eine andere findet, der Titel passe, sei auch angenehm mehrdeutig. Naja, und bei allen Bedenken spräche der Titel ja auch vom Schaffen von etwas Neuem. Blödsinn, widerspricht eine weitere Stimme, Gebären sei doch eine passive, rein physische Tätigkeit, jede Kuh könne das. Musik zu erschaffen sei dagegen ein aktiver intellektueller Prozess und damit das exakte Gegenteil.

Das Konzept des Buchs: Ohne weitere Vorgaben schickten die Herausgeber den 48 Musikerinnen 20 Fragen, die vom Faktischen zum Nachdenken über den Prozess des Kreativen gehen, sich dabei immer wieder danach erkundigen, inwieweit das eigene Geschlecht bei musikalischen, ästhetischen oder beruflichen Entscheidungen eine Rolle gespielt habe. Tatsächlich sind nur sechs der Fragen konkret aufs Frau-Sein der Musikerinnen abgezielt: Wie hast Du deine Kreativität als kleines Mädchen ausgelebt? Wie hat die Tatsache, dass Du eine Frau bist, die Entwicklung Deiner musikalischen Karriere behindert? Wie siehst Du Deine Position als Frau in der Musikszene? Hat diese Position Dein Verhältnis zum Sound beeinflusst? Siehst oder spürst Du einen Unterschied im weiblichen und im männlichen Ansatz an Kreativität? Was würdest Du anderen / jungen Frauen empfehlen, die sich bemühen ein kreatives Leben zu führen?

Die Antworten auf diese und allgemeiner gehaltene Fragen fallen so unterschiedlich aus wie die Lebenswege der 48 Interviewten. Es macht nun mal einen Unterschied, ob man Ende der 1970er Jahre in Dänemark zum Jazz kommt wie Lotte Anker oder 1941 in Oklahoma wie Jay Clayton. Haben Männer und Frauen einen anderen kreativen Approach?, fragen die Herausgeber. “NEIN!” ruft Jay Clayton, in Großbuchstaben, keine weitere Diskussion duldend, während Marilyn Mazur einwirft, Frauen würden vielleicht weniger in Wettstreit treten, mehr ans Ganze und Kollektive denken. “Nein, ich sehe da keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen”, findet wiederum Amy X. Neuberg, um gleich anzuschließen, “das heißt aber nicht, dass es keine gäbe.” Klar gibt es einen Unterschied”, erklärt Kali Z. Fasteau, etwa, dass Männer in hierarchischen Systemen besser funktionierten als Frauen. Andererseits, urteilt Nicole Johänntgen, sei diese Frage ziemlich schwer zu beantworten, weil es nun mal so sehr viel mehr Männer als Frauen auf der Szene gäbe.

Nicole Mitchell beantwortet ihre Fragen in poetischen Erinnerungen und Reflexionen über schwarze Musik, den langen Atem der Bürgerrechtsbewegung und ihren eigenen Weg. Maggie Nicols auf der anderen Seite streicht heraus, dass ihre Musik immer sowohl politische wie auch spirituelle Untertöne besessen habe. Ob sie einen Preis bezahlt habe dafür, dass sie Musik mache, fragen die Herausgeber, und Angelika Niescier findet: Im Gegenteil, sie habe daraus sehr viel für sich gewonnen. Musikerin zu werden, sei nun mal eine Lebensentscheidung, finden auch viele ihrer Kolleginnen, niemand zwinge einen schließlich diesen Weg einzuschlagen.

Die weibliche Kreativität erlaube mehr “Raum”, meint Fay Victor, und zwar “sowohl mehr Raum im Sinn von Zeit und Raum wie auch mehr Raum für die Akzeptanz von Fehlern und Intuition”. Klar habe die Tatsache, dass sie eine Frau sei, ihr Verhältnis zum Sound beeinflusst, erklärt Joëlle Léandre. Frauen seien nun mal anders, sie hätten die Fähigkeit zur Distanz, die in diesem Geschäft wichtig sei, außerdem könne man mit ihnen viel besser lachen.

Sie sehen in dieser springend-vergleichenden Zusammenfassung einzelner Antworten bereits, wie ungemein gewinnbringend sich dieses Buch lesen lässt, wenn man blättert, Themen identifiziert, die die Herausgeber durch ihre Fragen ja nicht festgeklopft, sondern nur angestoßen haben, um dann zu sehen, welchen Kontext die verschiedenen Antworten beleuchten. Man erlebt die ja unabhängig voneinander befragten Musikerinnen bald wie in einer respekt- und kraftvollen Diskussion neugieriger, andere Meinungen (meistens) zulassender, vor allem aber ungemein selbstbewusster Musikerinnen.

Das Fazit des Buchs wusste man vielleicht schon vor der Lektüre: Eine einzelne Antwort auf die Frage nach dem kreativen Unterschied nämlich gibt es nicht. Der künstlerische Ansatz zwischen Männern und Frauen ist genauso unterschiedlich wie jener zwischen Männern und Männern oder zwischen Frauen und Frauen. Es gibt jedoch, und das wird in diesem Buch sehr deutlich, ein anderes Diskursverhalten, eine klare Selbstwahrnehmung der Rolle, in die man gesellschaftlich gedrängt wurde.

Unbedingt lesenswert also, ob von Buchdeckel zu Buchdeckel oder im laufenden Vor- und Zurückblättern. “Giving Birth to Sound” erklärt dem interessierten Leser nämlich in der persönlichen Selbstbefragung der Protagonistinnen und oft auch zwischen den Zeilen weit mehr über die Thematik, als man es etwa von wissenschaftlichen Studien erwarten dürfte.

[Naja, wir empfehlen dennoch den Besuch unseres Darmstädter Jazzforums zum Thema “Gender and Identity in Jazz” vom 1.-3. Oktober 2015 oder die spätere Lektüre unserer Beiträge zur Jazzforschung mit den referaten dieser Konferenz. Aber das ist natürlich nur Eigenwerbung…]

Wolfram Knauer (September 2015)


 

Beyond Jazz. Plink, Plonk & Scratch. The Golden Age of Free Music in London 1966-1972
von Trevor Barre
London 2015 (Compass Publishing)
330 Seiten, 12,99 Britische Pfund
ISBN 978-1-907308-84-0
Zu bestellen über trevorbarre@aol.com

Ekkehard Jost hat die Jahre zwischen 1960 und 1980 als eine Zeit beschrieben, in der Europas Jazz zu sich selbst fand, in der Musiker sich von ihren amerikanischen Vorbildern lösten und eigene Wege gingen. Einige dieser Wege führten fort vom, gingen also “beyond jazz”, und diese Entwicklung will Trevor Barre in seinem Buch mit demselben Titel nachzeichnen. Der Gitarrist Derek Bailey forderte eine Improvisation, die sich aus den idiomatischen Bezügen befreien, und auch andere Musiker begannen statt des Begriffs “Free Jazz” von “improvised music” zu sprechen. Barre interessiert, wie es überhaupt dazu kam, dass eine solch sperrige und alles andere als publikumsfreundliche Musik entstehen konnte und warum sie nicht angesichts ihres kommerziellen Misserfolgs einfach nach ein paar Jahren ausstarb. In seinem Fokus steht dabei die erste Generation der freien Improvisatoren, also Musiker wie Evan Parker, Derek Bailey, John Stevens, Kenny Wheeler, Barry Guy, Dave Holland, Trevor Watts, Tony Oxley, Paul Rutherford, Howard Riley, Eddie Prévost, Keith Rowe, Gavin Bryars und Cornelius Cardew.

Barre beginnt mit einer Definition seines Themas: Wo die meisten Jazzbücher den Jazz durch seine improvisatorischen Parameter beschreiben würden, sei Free Music, schreibt er, einzig durch den improvisatorischen Gehalt definiert. Er stellt unterschiedliche Formen freier Improvisation vor, solche, die näher am Jazz bleiben und solche, die eher der europäischen Avantgardetradition verpflichtet scheinen. Die beiden Hauptensembles seines Buchs sind das Spontaneous Music Ensemble und die Gruppe AMM. Barre ordnet deren Auftritte in die Jugend- und Protestkultur der 1960er Jahre ein und schildert, wie die globalen Entwicklungen von Pop, Rock und Folk jungen Musikern ein völlig neues Vokabularium an die Hand gab, sie auch zu neuen Herangehensweisen zwischen tiefer Ernsthaftigkeit und unbändigem Humor bewegten. Er beschreibt auch, welchen Platz sie in die Bandbreite des britischen Jazz jener Jahre zwischen Dixieland und Free Jazz hatten.

Barre zeichnet den Weg einzelner Protagonisten zur freien Improvisation nach, schildert insbesondere die Bedeutung des Little Theatre Club, in dem die jungen Musiker mit Kollegen auch aus dem europäischen Ausland experimentieren konnten. Er beschreibt, wie sie nach und nach merkten, dass es außer dem afro-amerikanischen Jazz auch anderes gab, dass beispielsweise südafrikanische Musiker um Chris McGregor dieser Musik eine neue Farbe geben konnten und dass sich Freiheit, wie sie der Free Jazz implizierte, auch ganz mit anderen Mitteln umsetzen ließ. Er diskutiert wichtige Aufnahmen der Zeit, wobei ihn vor allem die interaktiven Prozesse interessieren, die ästhetischen Diskurse, die sich aus der Improvisation der Aufnahmen ergaben. Das alles beleuchtet er anhand von zeitgenössischen genauso wie selbst geführten Interviews mit beteiligten Musikern. Das Spontaneous Music Ensemble und AMM nehmen zwei der umfangreichsten Kapitel ein, in denen Barre neben dein Einflüssen und den ästhetischen Diskussionen auch über Nachwirkungen schreibt, bewusste oder unbewusste Reaktionen auf die Klangexperimente in weit jüngerer Musik, der 1980er, 1990er Jahre und danach. Er betrachtet den Einfluss der Technologie, schaut auch auf die Bedeutung der visuellen Covergestaltung oder der Plattentexte. Das Label Incus nimmt ein eigenes Kapitel ein, wie FMP in Deutschland oder ICP in Holland ein von Musikern gegründetes Label, das Musik seiner Mitglieder nicht so sehr vermarkten als vielmehr dokumentieren wollte. Improvisation ist schließlich weit mehr als komponierte Musik auf das Medium der Tonaufzeichnung angewiesen – sonst verklingt sie.

In seinem Schlusskapitel betrachtet Barre kurz die “zweite Generation” der Free Music in London um das London Musicians’ Collective sowie eine “dritte Generation” um John Edwards, John Butcher und andere und setzt beide Entwicklungen mit jenem von ihm als “erste Generation” betrachteten Grundthema seines Buchs in Beziehung. Im Nachwort schließlich verfolgt er die Aktivitäten seiner Protagonisten bis in die Gegenwart.

Trevor Barres Buch ordnet die Entwicklung der Free Music der späten 1960er, frühen 1970er Jahre in die kulturelle Szene des “Swinging London” ein. Ihm gelingt dabei vor allem der Blick auf sich wandelnde ästhetische Ideale und eine Begründung derselben aus gesellschaftlichen und politischen Diskussionen heraus. Der Musik selbst kommt er vor allem in Interviews mit den beteiligten Musikern nahe. Die inhaltliche wie organisatorische Unabhängigkeit der britischen Improvisationsszene jener Jahre hat Auswirkungen bis heute. Initiativen wir F-Ire Collective wären ohne das Vordenken und Vormachen der hier beschriebenen Musiker und Gruppen nicht möglich gewesen. Von daher füllt Barres Buch eine Lücke. Dass er bestimmte Themen weitgehend außer Acht lässt – die Auseinandersetzung dieser Szene mit ihrem Publikum beispielsweise oder mit den Mainstream-Medien, der tatsächliche Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Szenen oder die Reaktion amerikanischer Musiker, zeigt nur, wie viele Perspektiven das Thema tatsächlich hat, die bislang kaum beleuchtet wurden. Barre jedenfalls stößt mit “Beyond Jazz” die Tür zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der musikalischen Freiheitsbewegung jener Zeit weit auf.

Wolfram Knauer (August 2015)


 

Little Satchmo. Living in the Shadow of my Father, Louis Daniel Armstrong
von Sharon Preston-Folta (mit Denene Millner)
Charleston/SC 2015 (self published)
112 Seiten, 12 US-Dollar
ISBN: 978-1-481227-23-7
Zu beziehen über www.littlesatchmo.com

2015prestonfoltaDie offizielle Version lautet: Louis Armstrong hatte nie Kinder. Er hätte immer gern welche gehabt, sagte seine letzte Frau und Witwe, Lucille Armstrong, aber er sei zeugungsunfähig gewesen. Nun kommt, 34 Jahre nach Satchmos Tod, Sharon Preston-Folta mit einem Buch heraus, in dem sie kundtut, sie sei die Tochter Louis Armstrongs aus einer außerehelichen Beziehung, die Satchmo in den 1950er Jahren hatte.

Ihr Leben lang habe sie diese Wahrheit herunterschlucken müssen. Sie wolle kein Geld, keinen Ruhm, aber immer selbst auf das öffentliche Wissen um ihren Vater verzichten zu müssen, sei einfach zu viel. In ihren Recherchen habe sie nur einen einzigen schriftlichen Hinweis auf Satchmos Vaterschaft gefunden, einen Brief des Trompeter an seinen Manager, Joe Glaser, aus dem Jahr 1955, in dem er diesen bat, vor der Ankunft seiner Frau Lucille in Las Vegas ein paar Geschäftsdinge zu klären, darunter Zahlungen an eine Freundin, von der er glaubt, dass sie ein Kind von ihm habe. Ihre Mutter habe sie immer beschworen, ihren Vater geheim zu halten, und so habe sie letzten Endes gehorcht und damit auch keine Ansprüche geltend gemacht auf sein physisches, historisches und finanzielles Erbe. Wenn sie etwas gekränkt habe bei ihren Recherchen, sei es, dass Louis Armstrong in seinen Briefen so offen über alles geredet habe, seine Musik, seine Kindheit, seine Liebe zum Essen und zu den Frauen, über Sex, sogar über seine Darmtätigkeit, dass er über seine Tochter aber sein Leben lang geschwiegen habe.

Warum er ihre Existenz verleugnet habe? Nun, erklärt Preston-Folta, Louis Armstrong sei ein gefeierter Künstler seiner Zeit gewesen und habe sich in der besten (weißen) Gesellschaft aufgehalten. Es habe einfach nicht gepasst, in dieser Zeit, wenn Nachrichten über ein uneheliches Kind mit einer Geliebten in die Schlagzeilen gekommen wären.

Prestons Mutter wurde 1921 in New York geboren und arbeitete bereits als 16-Jährige als Chorus Girl in diversen Shows. 1941 heiratete sie einen Tänzerkollegen; 1946 arbeiteten die beiden als Tanzpaar “Slim & Sweets” als Vorgruppen für große Swingorchester, unter ihnen auch Louis Armstrong, der sich mit ihnen anfreundete und in einen launigen Briefwechsel einstieg. 1950 starb Slim, und bei der Trauerfeier war auch Louis Armstrong dabei, der Lucille Preston in den Arm nahm und versprach: “Ich werde mich um dich kümmern.” In den nächsten vier Jahren reiste sie Pops hinterher und tauchte auf, wann immer Armstrongs in New York spielte. 1954 wurde Preston schwanger, und im November schrieb Satchmo ihr einen Brief, in dem er erklärt, wie sehr er sich auf das Kind freue und sogar vorschlägt, sie zu heiraten, sollte seine Frau (mit gleichem Namen Lucille) sich von ihm scheiden lassen. Armstrong war dann aber nicht dabei, als Sharon Louise (nach Louis) Preston am 24. Juni 1955 das Licht der Welt erblickte. Armstrongs rechtmäßige Ehefrau war “not amused” und habe ihm nach der Geburt der Tochter sogar vorgeschlagen, diese zu adoptieren, was ihre leibliche Mutter aber vehement ablehnte. Lucille (die Ehefrau) habe sogar die Alimente überwiesen, bis sie diese Aufgabe irgendwann Joe Glaser übertrug.

In ihrem Buch berichtet Sharon von den viel zu seltenen, sorgfältig geplanten und sehnsuchtsvoll erwarteten Treffen. Sie und ihre Mutter lebten eine Weile bei ihrem Onkel Kenny, der nach außen schon mal als Lucilles Ehemann auftrat und immer wieder auf seine Schwester eindrang, bei Satchmo mehr einzufordern: mehr Geld, mehr Fürsorge, am besten seinen Namen. Bei einzelnen Sommertourneen durfte Sharon mitreisen. Ansonsten aber war Satchmo vor allem durch die monatlichen Unterhaltszahlungen präsent, durch Broadway-Tickets, 1962 durch den Kauf eines Hauses in Mount Vernon, New York. In Harlem hatte sich niemand wirklich darum gekümmert, wie ihre Familienverhältnisse aussahen, erzählt Preston-Folta, in Mount Vernon aber begann eine Zeit der Lügen. Die Liaison dauerte ja bereits 12 Jahre, aber nach wie vor war nicht in Sicht, dass Armstrong auch öffentlich zu seiner Familie stehen würde. Mit zehn Jahren begriff Sharon erstmals, dass ihr Vater eine “andere Lucille” hatte, ein anderes Leben, das mit ihrem aber auch gar nichts zu tun hatte.

Etwas später seien sie gemeinsam in Atlantic City zu einem Auftritt Marvin Gayes gegangen, es habe einen Streit zwischen den Erwachsenen gegeben, bei dem ihre Mutter Satchmo fragte, wann er sie nun endlich zu heiraten gedachte, worauf er laut wurde: “Ich werde dich niemals heiraten” und mit Fingerzeig auf die Tochter fragte: “Sag mir einfach, was es kostet, für sie zu sorgen!” Das war das Ende der Beziehung.

Kaum war Armstrong gestorben, kamen auch die monatlichen Schecks nicht mehr. Ein paar im Voraus geleistete Zahlungen für Sharons Erziehung hielten sie und ihre Mutter über Wasser, mussten bald auch den Zuwachs zur Familie finanzieren, denn Sharon wurde mit 16 selbst Mutter. Sharon erzählt, wie ihr Leben weiterging, immer gezeichnet durch die Narben, die der fehlende Vater hinterlassen hatte. Irgendwann rebellierte sie gegen die eigene Bitterkeit und versuchte, das emotionale Band, das sie mit der verlorenen, nie gehabten Vergangenheit hatte, zu zerschneiden.

Sharon Preston-Foltas Buch endet mit einem Besuch im Armstrong House in Queens. Ein Anwalt hatte ihr empfohlen, einen Blick in Satchmos Testament zu werfen, das eine eidesstattliche Erklärung von Lucille, Armstrongs Frau, enthielt, Armstrong habe nie Kinder gehabt. Als Sharon diese Zeilen las, von Lucille eigenhändig korrigiert von “Der Verstorbene und ich hatten keine Kinder” in “Der Verstorbene hatte keine Kinder”, entschied sie sich, jetzt ihr Geschichte zu erzählen. Ihre Mutter, die sie immer zur Geheimhaltung gedrängt hatte, willigte endlich ein: “Mach, was Du meinst, dass du tun musst.”

Sharon Preston-Foltas Buch ist als eine Liebeserklärung an die von ihr immer vermisste Vaterfigur Louis Armstrong geschrieben, aber es ist eben auch eine leicht verbitterte Liebeserklärung geworden. An genügend Stellen legt man es zur Seite, unterschiedlich berührt von den Schuldzuweisungen, mit denen Preston-Folta ihre eigenen Lebensentscheidungen aus ihrer vaterlosen Kindheit und Jugend ableitet. Ein bedrückendes Schicksal, denkt man, und fragt sich zugleich, warum sie, die immer wieder von der DNA ihres Vaters schreibt, die in ihr fortlebe, nicht irgendwann, spätestens vor der Veröffentlichung dieses Buchs, auf einem DNA-Test bestanden habe. Doch ist es einem Kind, das sein Leben lang sicher ist, seine Eltern zu kennen, überhaupt zuzumuten, von einem auf den anderen Tag an der Tatsache der Vaterschaft zu zweifeln? Auch als skeptischer Leser sollte man jedenfalls für die Zeit der Lektüre erst einmal die Grundbehauptung der Vaterschaft Louis Armstrongs akzeptieren, sonst hat man wenig Spaß am Buch. Armstrong selbst schließlich scheint bis zu seinem Tod überzeugt davon gewesen zu sein, in Sharon eine Tochter gehabt zu haben.

Allen Fragen und sicher auch allen möglichen Zweifeln zum Trotz, die einem bei der überraschenden Enthüllung Sharon Preston-Foltas kommen mögen, lernt man einiges bei der Lektüre, und wenn nur, dass Scheinwerferlicht auch Schatten wirft, dass Stars wie Louis Armstrong das Leben vieler Menschen zum Teil viel direkter berührten, als man es wahrhaben mag, und nicht zuletzt, dass die Persönlichkeit großer Stars aus ihren emotionalen Stärken genauso besteht wie aus ihren emotionalen Unzulänglichkeiten. Am Glorienschein des großen Meisters mag das alles ein wenig kratzen; der Kraft seiner Musik tut es keinen Abbruch.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Theatrical Jazz. Performance, Àṣẹ, and the Power of the Present Moment
von Omi Osun Joni L. Jones
Columbus/OH 2015 (The Ohio State University Press)
270 Seiten, 99,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8142-1282-0

2015jonesDer Blick über den Tellerrand kann das Wesentliche erhellen, der Blick von außen Dinge erkennen lassen, die man im internen Diskurs oft nicht mehr sieht. Das ist einer der Hintergründe für die sogenannten “new jazz studies”, ein Konzept in der jüngeren Jazzforschung, das sich der untersuchten Materie neben der musikwissenschaftlichen Betrachtung interdisziplinär nähert. Die Feministin Omi Osun Joni L. Jones versucht in ihrem Buch eine Verbindung zwischen Jazzästhetik , theatralischer Performance und auf Yoruba basierender afrikanischer Theologie. Dabei beschreibt sie als eine der zentralen Prinzipien der Jazzästhetik die Fähigkeit, die eigenen intuitiven Kräfte freizusetzen. In ihrer Beschäftigung mit afrikanischer Spiritualität habe sie gelernt, dass auch in wissenschaftlichen Büchern die Auseinandersetzung mit spirituellen Impulsen nicht zu kurz kommen dürfte, ganz ähnlich wie dies auch Jazzgrößen wie John und Alice Coltrane immer gesehen hätten. Sie will mit ihrem Buch den Jazz gegen den Strich bürsten, seine Begriffe, Handlungen, Ausformungen kritisch hinterfragen, und zwar aus der Perspektive aller seiner unterschiedlichen Bedeutungen in musikalischer Ästhetik, Performance, gesellschaftlichem Spiegel, ethnischer Identität oder politischer Haltung. Es gäbe Kollegen, schreibt sie in ihrer Einleitung, die den Jazz als eine polyglotte Form ansähen und damit Gefahr liefen seine Wurzeln in der afro-amerikanischen Kultur zu leugnen. Tatsächlich aber sei die spirituelle Kraft nicht an irgendwelche Identitätsregeln gebunden. Die spirituelle Transzendenz des Jazz brauche keine Abwesenheit ethnischer Identität (“race”), sondern höchstens Abwesenheit solch einer ethnischen Identität (“race”) als Restriktion oder als Prognose.

Tatsächlich handelt ihr Buch allerdings zentral gar nicht von Musik, sondern vom Theater, und hier insbesondere von den drei Theaterautoren Laurie Carlos, Daniel Alexander Jones und Sharon Bridgforth. Jones bedient sich in ihrer Herangehensweisen an das Thema der feministischen und queeren Theorie, erklärt Wirkungen der Theaterperformance aus der Haltung des Jazz heraus und zugleich aus ihrer Interpretation von Yoruba-Traditionen. Als übergeordneten Approach versucht sie ihrem wissenschaftlichen Buch darüber hinaus aber auch improvisatorische Strukturen zu geben, indem sie Bilder, Fotos, Zeichnungen, Zitate einfließen lässt, die wie kurze solistische Kommentare neben ihrem Text stehen.

In ihrer Einleitung zitiert Jones einige Beispiele direkter Bezugnahme von Jazzmusikern wie Dizzy Gillespie und John Coltrane auf Yoruba-Beschwörungen, erinnert außerdem an die lebendige Avantgarde-Theaterszene von Austin, Texas, in der in den 190er Jahren die Verbindungen von Theater und Jazz besonders entwickelt wurden. Im ersten Kapitel betrachtet sie, wie biographische Erfahrungen die drei von ihr untersuchten Autoren prägten, Carlos’ Jugend im New Yorker East Village, Jones’ Aufwachsen im Arbeiterklasse-Milieu von Springfield, Massachusetts, Bridgforths Bustrips durch die verschiedenen Viertel von Los Angeles. Sie analysiert die dem Jazz nahestehenden Praktiken von Lehrer und Schüler im Theater, deren Lernprozesse dabei immer gegenseitig sind. Das zweite Kapitel untersucht Performance-Methoden, Ansätze an Regie, Probenphasen, das Beziehung-Herstellen zum Publikum, die Auswahl der Schauspieler, aber auch das Zulassen spiritueller Erfahrung im Verlauf der Performance. Im dritten Kapitel schließlich fragt sie danach, was die Performance beim Publikum (sie spricht gern von “witnesses” = Zeugen) auslöst, wie sie zu einer Perspektivverschiebung führen kann, einer aktiven Partizipation des Publikums, die das eigentliche Ziel aller Beteiligten sei.

Wenn ich Jones zu Beginn dieser Rezension in die Nähe der “new jazz studies” gestellt habe, so muss ich diese Aussage zumindest zum Teil revidieren. In den New Jazz Studies werden Aspekte des Jazz möglichst von vielen Seiten (und mit unterschiedlichen Methoden) betrachtet. Jones geht den entgegengesetzten Weg: Sie nutzt, was sie vom Jazz gelernt hat, um ihr eigentliches Thema, die Performance im Theater genauer zu definieren. Sie erkennt im Jazz Kommunikations- und Tradierungsmodelle, die so beispielhaft sind, dass sie ein anderes Genre besser verstehen lassen, vielleicht sogar Modell stehen können für neue, weitreichendere Regie- oder Performance-Ansätze. Ihr Buch ist darin so weitsichtig wie der Versuch früherer Literaturwissenschaftler wie Houston Baker, insbesondere den Bereich der afro-amerikanischen Literatur (aber durchaus darüber hinaus) durch die schon von Ralph Ellison oder Albert Murray identifizierte Blues Aesthetic zu beschreiben. Beide nahmen dabei sehr bewusst auf westafrikanische kulturelle Traditionen, Praktiken und Symbole Bezug, für den ungeübten Leser einerseits manchmal etwas schwer nachvollziehbar, gerade dadurch aber die Argumentation auch angenehm schnell aufbrechend und Rückschlüsse erlaubend.

Wenn nämlich die Praxis des Jazz als Erklärungsmodell für andere künstlerische Praktiken taugt, dann wirft das ein ganz anderes Licht auch auf den Stellenwert von Jazz und Improvisation.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


The Long Shadow of the Little Giant. The Life, Work and Legacy of Tubby Hayes
von Simon Spillett
Sheffield 2015 (Equinox)
377 Seiten, 19,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78179-173-8

2015spillettWie Hans Koller oder Lars Gullin war der britische saxophonist Tubby Hayes eine der europäischen Jazzgrößen, die ihren Kollegen genauso wie ihrem Publikum klar machten, dass der Jazz zwar eine afro-amerikanische Musik war, dass aber Europäer das Idiom durchaus beherrschten und ihre eigenen Beiträge zur Tradition des Jazz leisten konnten. Hayes kam aus der Swing-Mainstream-Tradition des Jazz, nahm erst Bebop, Hardbop, schließlich Einflüsse des Spiels John Coltranes in seinen Stil auf und starb 1973, gerademal 38 Jahre alt, in Folge einer Herz-Operation.

Dem Autor und Saxophonisten Simon Spillett gelingt es in seinem Buch “The Long Shadow of the Little Giant” mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews und Material aus Hayes’ persönlichem Archiv das Leben und die musikalische Karriere des Saxophonisten in den Jahren vom bombenerschütterten London der Nachkriegszeit über die jazzigen 1950er Jahre und die Swinging Sixties bis hin zur großen Krise des Jazz Anfang der 1970er Jahre nachzuzeichnen.

Hayes wurde in eine musikalische Familie geboren – sein Vater leitete in den 1930er Jahren verschiedene Tanzorchester, seine Mutter war Revuesängerin und -tänzerin. Schon früh war er vom Saxophon fasziniert, begann aber im Alter von acht Jahren erst einmal mit Geigenunterricht, und bekam schließlich zum elften Geburtstag das langersehnte Saxophon, das er größtenteils autodidaktisch meisterte. Er hatte ein gutes Gehör, und der Geigenunterricht hatte ihn zu einem exzellenten Notisten gemacht. Er hörte Charlie-Parker-Platten und bewegte sich in Kreisen Gleichgesinnter, spielte bald mit Ronnie Scott, Alan Skidmore und Kenny Baker, mit dem er im Juli 1951 auch seine ersten Aufnahmen machte.

Die Baker Band hatte jede Menge Fans, und die Presse wurde schnell auf Hayes aufmerksam, der bald als “boy wonder tenorist” vermarktet wurde und, noch nicht einmal 20 Jahre alt, mit den Modernisten der britischen Jazzszene spielte. Mit 18 heiratete er zum ersten Mal, hatte schon zuvor alle möglichen Drogen ausprobiert. Er spielte in den populären Bands von Vic Lewis, Jack Parnell, Tony Hall und hatte schließlich auch mit seiner eigenen Band einen vollen Terminkalender.

Spillett beschreibt, wie britische Musiker in jenen Jahren das US-amerikanische Idiom des Hardbop gemeistert hatten, die Musik von Art Blakey und Horace Silver, und wie Kollegen wie Sonny Rollins oder Hank Mobley ihre stilistischen Spuren in Hayes’ Spiel hinterließen. 1958 traten Hayes’ Jazz Couriers neben dem Dave Brubeck Quartet bei einer Tournee durch sechzehn Städte des Vereinigten Königreichs auf; 1959 wurde Hayes vom Melody Maker zum besten Tenorsaxphonisten gewählt.

Andere Musiker hatten die Entwicklung des amerikanischen Jazz genauso interessiert mit verfolgt; und um 1960 kamen erste Versuche “freier Form” auch in England an. Joe Harriott war einer der ersten, die sich an freieren Spielweisen versuchten; Hayes aber blieb skeptisch. Die Eröffnung von Ronnie Scott’s, bis heute einem der wichtigsten Clubs des Königreichs, war sowohl für die Präsenz des amerikanischen Jazz in England wichtig als auch für das Selbstbewusstsein der eigenen Szene. Der BBC schnitt Konzerte mit, und Plattenfirmen widmeten dem heimischen Jazz eigene Alben. 1961 trat Hayes erstmals in New York auf, wo ihn die Größen des amerikanischen Jazz hörten, unter ihnen Zoot Sims, Al Cohn und Miles Davis. Zurück in England erhielt er einerseits eine eigene Fernsehshow, “Tubby Plays Hayes”, hörte er andererseits erstmals John Coltrane, der sein Bild von den Möglichkeiten im Jazz genau wie das vieler anderer Kollegen völlig veränderte.

Als Duke Ellington 1964 in England auftrat, jammte Hayes mit Bandmitgliedern und wurde vom Duke gebeten für Paul Gonsalves einzuspringen, als dieser unpässlich war. In den nächsten Jahren war Hayes international unterwegs, trat im New Yorker Half Note genauso auf wie beim NDR Jazz Workshop in Hamburg. Er arbeitete wie besessen, hatte zugleich gesundheitliche Rückschläge, darunter eine Thrombose, die auch seine Lungenfunktion herabgesetzt hatte.

Ende der 1960er Jahre hatte der britische Jazz zwei Probleme: die Macht der Rockmusik auf der einen Seite und das Verlangen des Publikums nach amerikanischen Künstlern auf der anderen Seite. Hayes erlitt auch persönliche Rückschläge, etwa als seine Freundin starb und er daraufhin noch stärker zu Drogen griff. Er musste wegen Herzproblemen immer häufiger in ärztliche Behandlung, begann aber trotz aller gesundheitlichen Probleme ein musikalisches Comeback. Er spielte mit Musikern der britischen Avantgarde, John Stevens, Trevor Watts, Kenny Wheeler, beteiligte sich bei einem Benefizkonzert für Alan Skidmore, der nach einem Autounfall im Krankenhaus lag, starb aber schließlich nach einer Operation, bei der eine Herzklappe ausgetauscht werden sollte.

“The Long Shadow” heißt das Buch, und so widmet Spillett sein letztes Kapitel der kritischen Aufbereitung seiner musikalischen Bedeutung nach seinem Tod sowie dem Nachwirken Hayes’ auf der britischen Szene. Er schließt mit einer Diskographie die Aufnahmen des Saxophonisten zwischen 1951 bis 1973 verzeichnet.

Simon Spillett hat viel Sorgfalt in seine Recherchen gesteckt. Nebenbei wirft er immer wieder aufschlussreiche Blicke auf die Musik selbst, auf die Aufnahmen, die Hayes’ musikalische Entwicklung dokumentieren. Wenn überhaupt, so mangelt es dem Buch insbesondere in diesem Segment an Tiefe, etwa an Erklärungen, wo sich Einflüsse, ästhetische Umbrüche und anderes konkret festmachen lassen. Eingehend aber beschreibt er den Lebensweg, die persönlichen Probleme, die musikalischen und ästhetischen Entscheidungen und zieht die Verbindungen zu den allgemeinen Entwicklungen des Jazz in Großbritannien, in Europa und in den Vereinigten Staaten. Spillett konnte mit Zeitzeugen sprechen und hatte Zugriff auf Hayes’ persönliche Papiere. Sein Buch ist eine definitive Biographie, die viele Fragen beantwortet und dabei im umfassenden Apparat all die Dokumente benennt, die für eine solche Arbeit notwendig sind.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Musiktraumzimmer Jazzcampus
herausgegeben von Peter Rüedi & Steff Rohrbach
Basel 2015 (Jazzcampus / Echtzeit Verlag)
212 Seiten, 32 Euro
ISBN: 978-3-905800-78-4

B2015rueediasels Jazzschule ist zum Jazzcampus geworden, zu einer Hochschule für improvisierte Musik, in der, wie der Titel dieses Buchs suggeriert, jede Menge an Träumen und Visionen wahrgeworden sind. Da ist zuallererst die Vision des Gründers und Gitarristen Bernhard Ley, der erzählt, wie er die Schule in den Räumen eines Jugendkulturzentrums gründete und wie er es dann durch pädagogisches wie politisches Geschick, aber auch durch das Talent der Vernetzung, das die Schule zum Teil des Basler Kulturlebens werden ließ, erreichte, sie zu einem Kompetenzzentrum zu machen, in dem der musikalische Gehalt, die Arbeit von Lehrenden und Schüler/innen, sich auch in der architektonischen Umsetzung spiegelt.

Davon nämlich handelt dieses Buch, vom glücklichen Unterfangen, auf den Grundrissen einer ehemaligen Maschinenfabrik eine Musikschule zu bauen mit all der für eine solche notwendigen Infrastruktur, Club, Konzertsaal, Tonstudio, Probenräume etc. Ein Musiktraumzimmer sei das ganze geworden, eine Raumrealisation also, die dem Thema “Jazz” angemessen sei. Mitgeholfen hätten alle, die Architekten Lukas Buol und Marco Zünd, der Bauherr Georg Hasler von der Stiftung Levedo sowie Bernhard Ley, der als Studiengangsleiter den zukünftig alltäglichen Gebrauch im Blick behielt. Das Gespräch mit diesen vieren erklärt Fragen der Akustik, Diskussionen im Planungsverlauf, die Außenwirkung genauso wie den inneren Glanz (sprich: Farben, Bodenbeläde, Beleuchtung).

Solch eine theoretische Diskussion lässt sich nur durch Fotos und Raumpläne in Buchform einfangen. Eigentlich gehört Musik dazu, noch wichtiger wäre der tatsächliche Raumeindruck, der aber in der Architektur immer noch einzig durch einen Besuch ermöglicht wird.

Um die tatsächliche musikalische und pädagogische Nutzung der Räume geht es im zweiten, noch umfassenderen Teil des Buchs: um Konzepte der Jazzpädagogik, persönliche Herangehensweisen an Musik, ästhetische Vorstellungen, die Rückwirkung von Unterricht auf die eigene Kunst der unterrichtenden Musiker.

Wolfgang Muthspiel etwa betont, wie wichtig es neben einem festen Lehrerstamm sei, großartige internationale Kollegen als Gastdozenten an die Schule zu holen. Andy Scherrer erzählt, wie er zum Unterrichten wie die Jungfrau zum Kind gekommen sei, und wie er trotz vieler Schüler immer eine gesunde Skepsis gegenüber des Unterrichtens beibehalten habe. Malcolm Braff erklärt, dass er nicht so sehr das Klavier denn vielmehr sich selbst als das wirkliche Instrument empfinde und wie er in den letzten Jahren eine rhythmische Theorie entwickelt habe, die auch Grundlage seines Unterrichts an der Hochschule sei. Lisette Spinnler versteht die Stimme als Instrument und Texte als Ausgangspunkt für musikalische Erkundungen. Adrian Mears plädiert auch beim Lernen für Spielpraxis, egal mit was für Besetzungen. Bänz Oester vertraut auf die Motivation zukünftiger Musiker/innen, auf die Verantwortung für das Selbst, das Eigene. Domenic Landolf mag sich weder verbiegen noch sonderlich in den Vordergrund spielen. Jorge Rossy spricht über die Standards als Basis und über seine Arbeit mit Carla Bley und Steve Swallow. Matthieu Michel überlegt, wie man als junger Musiker neben der Technik vor allem zu einer eigenen Stimme gelangt. Hans Feigenwinter sieht seine analytischen Fähigkeiten als eine Grundlage seines Musikmachens, zugleich aber die Musik auch als laufenden Ansporn, sie analytisch zu begreifen. Gregor Hilbe berichtet über die Bedeutung des Schlagzeugers in einer rhythmischen Kultur, und zugleich über die Idee des Producing / Performance-Studiengangs am Jazzcampus Basel. Daniel Dettmeister hatte die Chance, als Tonmeister selbst Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung des Aufnahmesaals der Hochschule. Mit Martin Lachmann kommt zum Schluss auch noch der Akustiker selbst zu Wort, der die Räume eingerichtet hat.

Eine bunte Abfolge von Interviews, Reflexionen und Fotos also, die sehr umfassend das Konzept klarmachen, dass hinter dem Jazzcampus Basel steckt: Freiräume schaffen und beste akustische Möglichkeiten. “Musiktraumzimmer Jazzcampus” ist damit zwar vordergründig eine in Buchform gepresste Imagebroschüre der Hochschule, zugleich aber erheblich mehr: ein Manifest für eine Jazzausbildung, in der Kunst und Wirklichkeit, Klang und Akustik, Pädagogik und Freiheit sinnvoll miteinander in Beziehung stehen.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Résume. Eine deutsche Jazz-Geschichte
von Eberhard Weber
Stuttgart 2015 (sagas.edition)
252 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-944660-04-2

2015weberDer Autor kommt gleich zur Sache: Der Leser wisse ja bereits, dass er, Eberhard Weber, gut 40 Jahre lang als Jazzbassist aktiv war, vielleicht auch, dass er seine aktive Karriere nach einem Schlaganfall 2007 beenden musste. Der Leser wisse wahrscheinlich etliches über seine Karriere, wahrscheinlich auch über den Jazz – was könne er dazu noch beitragen…? Nun, wenn überhaupt, dann könne er aus seinen eigenen Erinnerungen erzählen, sehr persönliche Geschichten, die sich um die Musik drehen, die aber auch sein ästhetisches Weltbild und vieles darüber hinaus berühren. Webers Buch wird so zu seinem “Resumé”. Und es mag vielleicht nicht “die” deutsche Jazzgeschichte sein, aber es ist auf jeden Fall, wie der Untertitel verspricht, “eine deutsche Jazz-Geschichte”, ein Beispiel dafür, wieso ein junger Mann zu dieser Musik kommt, was ihn über all die Jahrzehnte an ihr faszinierte und wie er lernte, in ihr sich selbst auszudrücken.

Eberhard Weber, dem musikalischen Geschichtenerzähler, gelingt der narrative Bogen auch in Worten. Bereits das Eingangskapitel, das vom “Schlag” handelt, der ihn kurz vor einem Konzert mit Jan Garbarek in der Berliner Philharmonie traf, von der Unsicherheit über seinen Gesundheitszustand, von der Hoffnung, wieder spielen zu können, zeigt seine erzählerischen, auch zur Selbstironie fähigen schriftstellerischen Qualitäten.

Im zweiten Kapitel widmet sich Weber seiner eigenen Vorstellung von Jazz. “Jazz”, schreibt er ironisch, doch nicht ganz falsch, “ist, wenn es der Komponist, der Arrangeur oder der ausführende Musiker dem Hörer so schwer wie möglich macht, der Musik zu folgen – und trotzdem alle Spaß daran haben. Das unterscheidet ihn von der vermeintlich ‘Neuen Musik’.” Doch neben dem Jazz als großer Kunst will Weber in diesem Kapitel auch seiner eigenen Ästhetik auf die Schliche kommen. Wiederholungen, erkennt er, langweilen ihn in der Regel; die Schlüsse von Stücken, findet er, misslingen meist. Er weiß, dass Solisten auch mal ohne Inspiration sein können und weiterspielen müssen. Er weiß auch um seine eigenen Schwächen als Bassist und beschreibt, wie man nur, wenn man um die technischen Probleme des eigenen Spiels oder des eigenen Instruments weiß, diese überkommen und kreativ mit ihnen umgehen könne.

Weber selbst wurde die Musik in die Wiege gelegt. Sein Vater, erzählt er, hatte als Cellist klassische Musik gemacht, daneben aber auch Cello und Banjo im Tanzorchester von Bernard Etté gespielt. Weber kam mitten im Krieg in Esslingen zur Welt. Seine Mutter sang, und “im häuslichen Weber’schen Freundeskreis”, erinnert er sich, “triumphierte Gesang über Instrumentales”– vielleicht eine Vorbereitung auf seine eigene sangliche Haltung beim Instrumentalspiel? Gehörbildung fand im Kinderzimmer statt, wenn seine Schwester und er Automarken am Klang unterschieden und dabei lernten zuzuhören und zu differenzieren. Ein Vetter quartierte sich nach der Kriegsgefangenschaft bei ihnen ein und begann Flöte zu lernen. Man diskutierte über Wagner und spielte Kammermusik. Weber bekam Cellounterricht, dann entdeckte er den Jazz und mit ihm wechselte er zum Kontrabass.

Im Jazz brachte er sich das meiste selbst bei, berichtet von ersten Bühnenerfahrungen, von Stuttgarter Jazzern wie Horst Fischer und Ernst Mosch, vom ersten Einsatz in Erwin Lehns Orchester als Vertretung für dessen regulären Bassisten. Seine musikalische Leidenschaft führte dazu, dass Weber durchs Abitur rasselte, eine Lehre als Fotograf begann und Kameraassistent bei einer Fernsehfirma wurde. Nebenbei spielte er mit gleichaltrigen Musikern, lernte Anfang der 1960er Wolfgang Dauner kennen und wurde bald Mitglied in dessen Trio. Er erzählt von den unterschiedlichsten Auftrittsorten zwischen Nachtclub, Café, Tanz und Ami-Kaserne, von Einflüssen auf sein Bassspiel, davon, wie das Dauner-Trio seinen eigenen Stil fand. Zwischendurch gibt es reichlich Anekdoten, aber auch Einblicke in die technischen Seiten seiner Kunst: Instrumentenwahl, Akustik, Pickups, Verstärker, elektronische Spielereien.

Ende der 1960er Jahre wandten Dauner und Weber sich freieren Spielweisen zu. Weber weiß um seine Beobachtungsgabe, weiß auch, dass er sich gern mal zur Polemik hinreißen lässt. Doch er besitzt eben auch die Erfahrung, Beobachtetes, insbesondere, wenn es um Musik geht, passend einordnen zu können. Und so mag man mit mancher polemischen Äußerung, die seinem eigenen musikalischen Geschmack zuzuschreiben ist, nicht übereinstimmen, wird aber an richtiger Stelle durch ein Augenzwinkern darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor zwar eine feste Meinung hat, sich selbst aber auch nicht immer ganz so ernst nimmt.

Weber stand in seiner Karriere bei zwei Plattenfirmen unter Vertrag, die Weltgeltung besaßen, Hans-Georg Brunner Schwers MPS und Manfred Eichers ECM. Er beschreibt die Arbeiten zu “The Colours of Chloë” und den folgenden internationalen Erfolg. Er erzählt vom Zusammenspiel mit Gary Burton, von den Unterschieden zwischen amerikanischen und europäischen Gepflogenheiten in der Jazzszene, von Tourneen mit seiner eigenen Band Colours, durch Deutschland – Ost und West –, die USA und Australien. Er berichtet von seiner Zusammenarbeit mit Jan Garbarek, mit dem er auch offizielle Empfänge spielte, bei denen Politiker, Botschafter, Bundespräsidenten, gekrönte Häupter begeistert waren, “endlich mal kein Streichquartett hören zu müssen”.

Eberhard Weber ist ein vielgereister Musiker. Seine Berichte von Zollformalitäten, Einreisebestimmungen, fasst verpassten Flügen und sonstigen Widrigkeiten sind amüsante Anekdoten, die vor Augen führen, dass das Musikerdasein nicht nur der aus musikalischer Kreativität besteht, die das Publikum erwartet und zumeist auch bekommt. Eine Professur für Musik hatte er nie annehmen wollen. Seine Begründung, die wie ein Tenor seine ungemein flüssige und lesenswerte Autobiographie beendet: “Ich kann nicht Bass spielen. Aber ich weiß, wie’s geht.”

Wolfram Knauer (Juni 2015)


Coltrane sur le Vif
von Luc Bouquet
Nantes 2015 (Lenka Lente)
146 Seiten, 13 Euro
ISBN: 978-2-9545845-8-4

2015bouquetDie Großen des Jazz waren zumeist auch die Meistaufgenommenen, und neben den offiziellen Einspielungen im Studio gehörten über die Jahre Bootlegs dazu, Schwarzpressungen von legalen oder illegalen Mitschnitten, die in mal besserer, mal schlechterer Qualität auf den Markt kamen. Solche Bootlegs haben naturgemäß keine Studioqualität; zum Teil sogar einen unsäglich schlechten Sound. Aber sie sind nicht nur für den Fan, sondern auch für den Experten ein immens wichtiger Teil der Aufnahmegeschichte dieser Musiker. Sie dokumentieren nicht die perfekte Abmischung, sondern den Alltag des Konzerts, in dem das Solo völlig anders klingen kann, in dem die Künstler mit dem Material oder auch mit sich selbst zu kämpfen haben, in dem mal bessere, mal schlechtere Fassungen der großen Titel erklingen, vergleichen mit den auf den im Studio gefertigten Referenzaufnahmen.

Luc Bouquet hatte im französischen Magazin Improjazz eine Reihe über die Liveaufnahmen John Coltranes veröffentlicht und diese jetzt in die zwölf Kapitel des vorliegenden Buchs einfließen lassen. Ein erstes Kapitel beschreibt Coltranes erste Aufnahmen aus dem Jahr 1946 sowie zwei Sessions mit Dizzy Gillespie bzw. Johnny Hodges. Kapitel 2 widmet sich den Jahren 1955-57 und Livemitschnitten mit Miles Davis, Kapitel 3 der Zeit von 1957-58 und den erst jüngst entdeckten und doch schon legendären Aufnahmen Coltranes mit dem Thelonious Monk Quartet. Zwei weitere Miles Davis-Kapitel schließen sich an, 1958-59 in den USA sowie 1960 in Europa, dann beginnt mit Kapitel 6 die Aufnahmegeschichte von Coltranes eigenen Bands: sein klassisches Quartett, Trane und Dolphy, die diversen Besetzungen von 1962, 1963, 1964-65 bis hin zu seiner letzten Liveaufnahme, dem “Olatunji”-Konzert vom April 1967. Jede der Platten wird mit Besetzungs- und Inhaltsangaben gelistet, dazu kommt eine kurze Beschreibung dessen, was auf ihr zu hören ist. Allzu tief versteigt sich Bouquet dabei weder in die Musik noch in die Begleitumstände der Aufnahmen – so wäre etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Entdeckungsgeschichte der Bänder von Tranes Carnegie-Hall-Konzerts mit Thelonious Monk durchaus berichtenswert gewesen.

Bouquets Buch ist als eine Art annotierte Diskographie der Liveaufnahmen John Coltranes ein nützliches Handbuch sowohl beim Hören wie auch bei der Entscheidungsfindung, was man sich vielleicht noch zulegen könnte.

Wolfram Knauer, April 2015[:en]Rencontres du jazz et de la musique contemporaine
herausgegeben von Jean-Michel Court & Ludovic Florin
Toulouse 2015 (Presses Universitaires du Midi)
184 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-2-8107-0374-6

Das vorliegende Buch ist die Dokumentation einer Tagung, die im Oktober 2013 in Toulouse stattfand und sich mit aktuellen Beziehungen zwischen Jazz und Zeitgenössischer (sogenannter “Neuer”) Musik beschäftigte. Im Vorwort stecken die beiden Herausgeber das Feld ab, das irgendwo zwischen Anthony Braxton und IRCAM-Experimenten angesiedelt ist und bei dem oft die Genrebezeichnung, ob “Jazz” oder “Neue Musik”, im Weg steht, da die Musik selbst solche Grenzen inzwischen gern und oft überschreitet.

Die Beiträge selbst sind theoretisch-musikwissenschaftlicher Natur. Im ersten Teil findet Vincenzo Caporaletti, dass die jüngere Entwicklung im Kunstmusikbereich neue wissenschaftliche Ansätze benötigt und stellt sein “principe autiotactile” vor, durch das sich sowohl für komponierte wie auch für improvisierte Musik die performativen Prozesse genauso analysieren ließen wie die ästhetischen Prozesse, die durch die Musik wie auch durch äußere, etwa mediale Einwirkungen mitbestimmt werden. Alexandre Pierrepont nähert sich der Frage, inwieweit die genre-spezifische Einordnung und Wertung von Musik aus den Bereichen europäischer klassischer Musik und des afro-amerikanischen Jazz nicht auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser zu Missverständnissen führt, wenn die Querverbindungen, die ja zwischen den Genres bestehen, oft und gern mit kulturellen Konnotationen versehen werden. Pierre Sauvanet betrachtet, wie das Moment der “Tradition” von Musikern im Jazz, der Neuen Musik und in tatsächlich “traditionellen” Musikrichtungen unterschiedlich behandelt wird.

Im zweiten Teil des Buchs geht es an konkrete Analysen. Pierre Fargeton befasst sich mit Franz Koglmanns langjähriger Auseinandersetzung mit dem Third Stream, der Neuen Musik und anderen Kunstrichtungen. Konkret untersucht er Koglmanns “Join!” eine “Oper” aus dem Jahr 2013 auf diverse Bezüge (1.) zum Jazz und (2.) zur Zeitgenössischen Musik. Martin Guerpin analysiert die Komposition “Unisono” des israelischen Komponisten Ofer Pelz und identifiziert darin insbesondere die Jazzverweise. Wataru Miyakawa untersucht das Werk des japanischen Komponisten Toru Takemitsu, in dem ihn vor allem der Einfluss des Lyrian Chromatic Concept von George Russell interessiert.

Im dritten Teil des Bandes berichtet der Gitarrist Frédéric Maurin darüber, wie er Methoden der Spektralmusik, die in den 1970er Jahren im Kreis der IRCAM in Paris entwickelt wurde, etwa für seine Band Ping Machine nutzbar macht. Cécile Auzolle untersucht das “Wintermärchen” des belgischen Komponisten Philippe Boesmans von 1999 und hat dabei Einflüsse aus dem jazz sowie improvisatorische Passagen im Fokus, die in der Oper vom Ensemble Aka Moon ausgeführt wurden. Henri Fourès hinterfragt die Begriffe Jazz, Zeitgenössische Musik, Komposition, Notation und Improvisation auf ihre Wertigkeit in der Hochschullehre. Zum Schluss berichten die Bassistin Joëlle Léandre, der Saxophonist Douglas Ewart und der Trompeter Mike Mantler über ihre eigenen Erfahrungen im Feld zwischen den Welten von Jazz und Neuer Musik.

“Rencontres du jazz et de la musique contemporaine” wirft ein Schlaglicht auf eine offenbar immer noch wichtige Diskussion in den beiden darin angesprochenen Welten. Der einleitende Überblick listet frühere Beschäftigungen mit dem Thema auf (hier fehlt allerdings der Band “Jazz und Komposition”, der das 2. Darmstädter Jazzforum von 1991 dokumentiert und in dem dieses Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet wurde). Sowohl in den allgemein theoretischen wie auch den konkreter praktischen Kapiteln fehlt ein wenig – aber das ist bei einer Tagung, die das nicht ausdrücklich zum Thema machte, vielleicht auch kaum zu leisten – die grundlegende Diskussion einer anders als aus dem europäischem Wissenschaftsdiskurs entstandenen Reflexion über Musik, eine Perspektive also, die sowohl Jazz wie auch die in europäischer Tradition stehende Neue Musik etwa aus dem Blickwinkel von Community, von Macht, von Geschlechterungleichheit oder ähnlichem betrachtet, sich dabei nicht auf die bestehenden meist europäisch gefärbten und genormten Diskurstraditionen einlässt, sondern mutig nach neuen sucht. Das von George Lewis und Benjamin Piekut 2016 herausgegebene Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies geht da einen anderen Weg, braucht, um das Thema abzudecken allerdings auch über 1000 Seiten.

Wolfram Knauer (März 2018)


Bunk Monk & Funk – and other attractions
von Anders Stefansen (& Jan Søttrup)
Kopenhagen 2012 (People’s Press)
248 Seiten, 249 Dänische Kronen
ISBN: 978-8771-37035-5

Anders Stefansen ist ein bisschen der Fritz Rau Dänemarks: ein Konzertveranstalter, der eher zufällig ins Geschäft kam, in den frühen 1960er Jahren für Norman Granz dessen Skandinavien-Tourneen organisierte (so wie dies Lippmann + Rau in Deutschland taten), später auch populärere Acts betreute, von den Beatles bis zu den Rolling Stones. In seiner Autobiographie erinnert sich Stefansen an die vielen Freundschaften zu Musikern, die er in seinem Berufsleben schließen konnte, an das Tourleben, an Probleme und ihre jeweilige Lösung, und an Begegnungen wie die mit John Coltrane, Andrés Segovia, Count Basie, Duke Ellington, Ben Webster, Cecil Taylor und vielen anderen. Er beleuchtet die Realitäten des Business, schwelgt aber vor allem in Erinnerungen. Wenn es dabei auch mehr um die Menschen geht als um die Musik, so ist die Lektüre seines Buchs dennoch erhellend nicht nur für diejenigen, die von seiner Arbeit als Konzertveranstalter profitierten, etwa weil sie selbst im Publikum saßen. Seine Anekdoten beleuchtet zugleich eine ungewöhnliche Karriere zwischen Musik und guter Küche (Stefansen eröffnete eines der ersten French Cuisine Restaurants in Dänemark). Und seine Anekdoten über Henry Miller, den er traf, als er den Film “Ruhige Tage in Clichy” produzierte, sind besondere Zugaben der Lektüre.

Wolfram Knauer (Januar 2018)


Fashion and Jazz. Dress, Identity and Subcultural Improvisation
von Alphonso D. McClendon
London 2015 (Bloomsbury Academic)
194 Seiten, 24,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-85785-127-7

Von den Banduniformen der Swingorchester über die Gardenie im Haar von Billie Holiday bis zu Wynton Marsalis’ in Brooks Brothers-Anzüge gekleidetes Lincoln Center Jazz Orchestra: Jazzmusiker waren immer auch Mode-Ikonen. Miles Davis mag diese Facette seines Bühnenlebens am stärksten ausgelebt haben, doch findet sich das Bewusstsein für die Bühnengarderobe durch die Jazzgeschichte. Als Art Blakey seiner Band in den 1970er Jahren für eine Weile erlaubte, in Straßenklamotten aufzutreten, war das eine Ausnahme. Er wie andere Musiker wussten, dass sie als afro-amerikanische Künstler Vorbildfunktion hatten.

Alphonso D. McClendon ist Modeforscher und hat sich in seinem Buch “Fashion and Jazz” dem Subtext der Musikergarderobe durch die Jazzgeschichte angenommen. Ihm ist wichtig, auf die gegenseitigen Einflüsse zwischen Jazz und Mode hinzuweisen, wie er gleich im ersten Kapitel deutlich macht, in dem er Parallelen und Einflusswege nennt, dass nämlich sowohl Mode wie auch Jazz auf ihre jeweilige Art und Weise vom Freiheit des Ausdrucks handeln. Es habe im Jazz durchaus eine “Sprache der Kleidung” gegeben, sagt er – will heißen: die Bühnenpräsentation hatte immer auch etwas zu bedeuten, und Kleidung habe zur visuellen Ästhetik von Jazzmusikern beigetragen, ob in der Performance auf der Bühne oder in Abbildungen.

Im zweiten Kapitel geht McClendon das Thema dann chronologisch an. Er beschreibt die Mode der Ragtime-Ära und der Bluesmusiker, die Bühnenkostüme von Swing-Musikern und die Selbstdarstellung der Bebopper, die zugleich “die Konstruktion eines subkulturellen Stils” gewesen sei, und stellt schließlich fest, das sowohl Mode wie auch Jazz ähnliche Perioden von Konformität (1900-1920), populärem Einfluss (1920-1940) und Widerstand (1940-1960) durchgemacht hätten.

Kapitel 3 diskutiert Momente “der Moderne” bzw. “des Modernen” und die Kommunikation beider durch Mode und Spielpraktiken im Jazz. Im vierten Kapitel beschreibt McClendon Strategien der Distinktion durch Jazz und Mode, um sich im fünften Kapitel etwa auf die Darstellung von Frauen und Männern in frühen Sheet-Music-Covers zu konzentrieren. Kapitel 6 diskutiert subversive Konnotationen, die sich etwa in Texten von Bluessängerinnen finden oder im Eingang von Jazzthemen in die Literatur oder den Film. Kapitel 7 ist überschrieben “Narcotics and Jazz: A Fashionable Addiction” und beschreibt unter anderem, wie elegante Kleidung auch helfen konnte ein Leben im Schatten der Drogensucht zu verschleiern. Kapitel 8 fokussiert auf Billie Holiday als Musik- wie Mode-Ikone; Kapitel 9 beschreibt Duke Ellington und Benny Carter als “traditionellen Dandy” sowie Dizzy Gillespie und Gerry Mulligan als “modernen Dandy” und blickt kurz darauf, wie amerikanische Präsidenten wie Bill Clinton und Barack Obama ihre Nähe zum Jazz als Imagefaktor ausnutzten.

McClendons Buch reicht leider nur bis ins Jahr 1960 und verpasst damit die politische Garderobe von Dashikis, schwarzen Lederjacken oder soul-beeinflusster Hipstermode der 1960er und 1970er Jahre, thematisiert also auch nicht die Rückkehr zur ordentlichen Garderobe mit Aufkommen der Young Lions der 1980er Jahre. Er thematisiert damit weder die modetechnische Annäherung zwischen den Genres, etwa in Richtung Rock oder auch Neue Musik, noch die Unterschiede etwa in im Modeverhalten amerikanischer und europäischer Musiker. Doch gelingt ihm in diesem eigentlich auf der Hand liegenden und doch so ganz anderen Blick auf Jazzgeschichte eine Perspektive, die Aufschluss über Imagebildung, Selbstverständnis der Künstler und die gegenseitige Beeinflussung von Image und künstlerischem Anspruch erlaubt. Etliche Bilder, eine ausführliche Bibliographie und ein Namensindex schließen das Buch ab.

Wolfram Knauer (August 2017)


Sales Rectangles. Daunik Lazro. Vieux Carré
von Guillaume Belhomme
Nantes 2015 (Lenka Lente)
44 Seiten, 1 Mini-CD, 9 Euro
ISBN: 978-2-9545845-9-1

Am 21. Mai 2011 spielte der Saxophonist Daunik Lazro ein inspiriertes unbegleitetes Solokonzert in einen Buchladen in Rouen. Guillaume Belhomme versucht die Stimmung des Konzerts einzufangen, indem er eines der Stücke Lazros, eine lange Improvisation über Joe McPhees “Vieux Carré” mit kurzen Blicken in die Bücher, die um ihn herum stehen und liegen, verbindet. Seine knappen, aus jeweils nicht mehr als einem Satz bestehenden Kommentare lassen sich den diesen Büchern allerdings erst zuweisen, wenn man sie anhand der im Büchlein abgedruckten Barcodes (bzw. die diesen beigefügten ISBN-Nummern) sucht. Und tatsächlich gelingt es Belhomme dabei ein wenig, jene Stimmung eines Konzerts im Buchladen einzufangen, bei dem die Konzentration auf die Musik von den Blicken zu und in die Bücher, von der Wahrnehmung der Atmosphäre, von kurzen Reflektionen darüber, was man da aufblättert, während man zugleich zuhört, unterbrochen, aber durchaus auch bereichert wird. Ein ungewöhnliches, durchaus inspirierendes Experiment, das den Leser / Hörer quasi subkutan auf die Komplexität der Wahrnehmung von Musik aufmerksam macht.

Wolfram Knauer (März 2017)


Spirits Rejoice! Jazz and American Religion
von Jason C. Bivins
New York 2015 (Oxford University Press)
369 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-023091-3

Jazz und Spiritualität sind für viele Musiker eine zusammenhängende Einheit. Duke Ellington, John Coltrane, Albert Ayler, Rahsaan Roland Kirk, Yusef Lateef, Anthony Braxton – die Liste der Musiker, für die ihre musikalische immer auch eine spirituelle Suche war, ist lang. Der Religionswissenschaftler und Jazzgitarrist Jason Bivins beleuchtet in seinem Buch dieses Verhältnis zwischen Religion und Musik anhand zahlreicher Beispiele und legt, gerade weil er seine Studien aus der Perspektive eines Religionsforschers und mit dem Wissen eines Jazzers macht, ein wichtiges Buch vor, in dem das Thema weit fundierter angegangen wird als in vielen Biographien der bereits genannten Musiker.

In seinen “ersten Meditationen” zum Thema stellt Bivins fest, dass Jazz genauso wie Religion in ihrer jeweiligen Individualität der Wahrnehmung schwer fassbare Gebilde seien. Er weiß um die ganz unterschiedlichen Ausprägungen des Religiösen oder Spirituellen gerade in der Musik, die irgendwo zwischen Ritual und Weltforschung liegt. Er fragt, wie sich das spirituelle Umfeld, aus dem Musik heraus initiiert oder rezipiert wird, auf die Musik selbst auswirkt. Er befasst sich mit konkreten Traditionen, auf die Jazz sich immer wieder bezog. Er betrachtet Beispiele, in denen mit Jazz amerikanische Geschichte genauso wie religiöse Aspekte derselben dargestellt werden. Er befasst sich mit Jazz in religiös-musikalischer Praxis. Er hinterfragt das Klischee von Jazz als rituelle oder heilende Praxis. Er diskutiert Verweise im Jazz auf Mystizismus, Selbstlosigkeit, die klangliche Verbindung zu einem höheren Wesen. Es untersucht Kosmologien und metaphysische Theorien im Jazz. Er will damit nicht nur Aspekte der Jazzgeschichte durch ihre Verankerung in religiösen Praktiken erklären helfen, sondern zugleich die Religionsgeschichte in den USA seit den 1920er Jahren mithilfe ihres Widerhalls im Jazz beleuchten.

Bivins geht dabei weder chronologisch vor noch versucht er seine Thesen an zentralen Figuren festzumachen, wenn es auch an konkreten Beispielen nicht mangelt in seinem Buch. Natürlich spielt der Einfluss der schwarzen Kirche auf viele afro-amerikanischen Musiker eine wichtige Rolle. Er beschreibt das Zeugnis ablegende (“testifyin'”) Tenorsaxophonspiel Albert Aylers. Er findet Spiritualität in Charles Gayles Bühnen- genauso wie Straßenmusikauftritten. Er fragt nach den Gründen von Jazzmusikern zum Islam, zum Buddhismus, zum Bahá’í, zur Scientology zu konvertieren und ihre Reflektion über die jeweilige religiöse Praxis und ihre Auswirkung auf ihre Musik. Er befasst sich mit den Ausprägungen des “Radical Jewish jazz” und mit der Idee einer imaginären Folklore in den Vereinigten Staaten.

Er beschäftigt sich mit Beispielen, in denen Jazzmusiker bzw. ihre Werke religiöse Geschichte erzählen und verwebt dabei eng religiöse und politische Aussagen, etwa in den Aufnahmen von Charles Mingus, Archie Shepp, Max Roach und Abbey Lincoln. Auch der Saxophonist Fred Ho und sein Einsatz für einen Asian American Jazz kommen zur Sprache sowie Sun Ras Verweise auf weltumspannende Verbindungen, die weit über den Planeten Erde hinausreichen. Er geht auf Ellingtons “Sacred Concerts” ein und widmet eine längere Passage John Carters Komposition “Roots and Folklore”, die, wie er findet, ein würdiger Träger des Pulitzer Preises gewesen wäre, den Wynton Marsalis später für sein Oratorium “Blood On the Fields” erhielt.

Er entdeckt im Bemühen von Musikern seit den 1950er Jahren sich zu organisieren neben den politischen auch spirituelle Gründe, wie er etwa am Beispiel der AACM und der Black Artists Group zeigt. Die von Horace Tapscott gegründete Underground Musicians Association, die Saint John Coltrane African Orthodox Church und Alice Coltranes Ashram sind für ihn konkrete Beispiele, wie Jazz als spirituell-religiöses Ritual gelebt und zelebriert werden kann.

Im zweiten Teil seines Buchs beschäftigt sich Bivins mit den engen Verbindungen zwischen Ritual und Improvisation, nennt Beispiele aus dem Schaffen von Duke Ellington, Mary Lou Williams, Milford Graves, Cecil Taylor, bezieht sich aber auch auf das Feld des afro-kubanischen Jazz, auf Steve Colemans Studien zur Yoruba-Kultur und auf die Musik des Art Ensembles of Chicago.

Ein eigenes Kapitel befasst sich mit Meditation und Mystizismus und verweist dabei auf Musiker wie Steve Lacy, Arthur Blythe, William Parker und Davis S. Ware. Ornette Colemans Harmolodics und George Russells Lydian Chromatic Concept werden von Bivins nicht allein als musiktheoretische Abhandlungen verstanden, sondern als Beispiel für kosmologische und metaphysische Versuche Jazz, Improvisation, ja Musik ganz allgemein zu fassen. In dieses Kapitel gehören auch Anthony Braxtons Tri-Axium-System und Wadada Leo Smith’ Ankhrasmation.

In seinem Schlusskapitel stellt Bivins dann noch einmal klar, dass die Auseinandersetzung mit Jazz oder mit Religion notwendigerweise eine fragmentarische sein muss, dass beide Praktiken ein Versuch sind, sich der Komplexität der Welt zu nähern, unsere eigene Sicht aber immer durch das geprägt ist, was wir bereits “wissen”. Für einige sei Musik wie Religion, weiß er, das aber beinhalte weit mehr als die pure Hingabe. Wie die Religion in amerikanische (und weltweiter) Geschichte, habe auch die Musik subversive Funktionen gehabt, habe Einfluss auf die Wahrnehmung der Realität genommen und diese damit ändern können.

Bivins’ Entscheidung, keine klar strukturierte Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Jazz und verschiedenen Ausprägungen von Spiritualität zu wählen, sondern stattdessen Themen zu identifizieren und von verschiedenen Seiten zu beleuchten, führt dazu, dass man auch als Leser die Vorstellung von Religion, Spiritualität, Ritual weiter fasst. Wo man zu Beginn der Lektüre von der sehr offenen Fassung der Begriffe noch ein wenig irritiert sein mag, da ist man dem Autor am Ende genau dafür dankbar, da er es schafft, auch beim Lesen die schnellen Analogien zu vermeiden. Bivins gelingt es, diesen offenen Geist in seine Leser zu übertragen – für den europäischen Leser dann auch in Richtung all der Themen, die sich hierzulande in die verschieden Kapitel einflechten ließen.

Wolfram Knauer (März 2017)


Omniverse Sun Ra
von Hartmut Geerken & Chris Trent
Wartaweil 2015 (Waitawhile Books / Art Yard)
304 Seiten, 69 Euro
ISBN: 978-0-9933514-0-2

Von 1994 stammt das damals im LP-Schallplattenformat veröffentlichte, von Hartmut Geerken und Bernhard Hefele herausgegebene Buch “Omniverse Sun Ra”. Jetzt erschien eine Neuauflage dieses Werks, das das Universum des Meisters aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben versucht.

Geerken war in den 1960er bis 1980er Jahren Institutsleiter verschiedener Goethe-Institute. Als Perkussionist hat er daneben mit zahlreichen Musikern vor allem aus dem Bereich der improvisierten Musik zusammengearbeitet. In Jazzkreisen ist er dabei insbesondere als Kenner des Oeuvres Sun Ras bekannt und war für Konzerte des Arkestra verantwortlich, etwa 1971 in Kairo, wo er seinerzeit fürs Goethe-Institut wirkte. Sein Buch von 1994 war eine kleine Sensation für die Aufarbeitung des Ra’schen Oeuvres; die Neuauflage ist nicht weniger willkommen.

Was übernommen wurde: Amiri Baraka beginnt das coffeetable-große Buch mit einem einleitenden, sehr persönlichen Text über den Meister. Robert Campbell erzählt die irdische Biographie Herman Blounts von seiner Geburt in Birmingham, Alabama, im Jahr 1914 bis zu seinem Tod im Mai 1993 und ordnet zugleich die verschiedenen Besetzungen und musikalischen Phasen seines Schaffens zu. Sigrid Hauff untersucht die mythologische und spirituelle Welt, die Sun Ra musikalisch genauso wie in Texten oder Interviews heraufzubeschwören versuchte. Chris Cutler ordnet sein musikalisches Schaffen in den größeren Kontext von Jazz und afro-amerikanischer Musikgeschichte ein. Robert Lax versammelt mehr oder weniger unzusammenhängende Gesprächsfetzen, Bonmots und Aphorismen des Pianisten, Komponisten, Bandleaders und spirituellen Philosophen. Salah Ragab berichtet über Konzerte des Arkestra in Ägypten in den Jahren 1983 und 1984. Karlheinz Kessler hinterfragt die Verwendung von Ritualen in den Performances der Band. Gabi Geist schreibt ein Horoskop für jemanden, der immer sagte, dass sein Geburtstag und -ort höchstens irdisch seien, tatsächlich aber seiner Herkunft nicht gerecht würden. Hartmut Geerken schließlich erinnert sich an den Besuch des Arkestra in Ägypten im Dezember 1971. Zwischendrin finden sich zahlreiche Fotos, viele davon von der britischen Fotografin Val Wilmer.

Was neu ist: Ein Text Bernhard Helefes entfällt in der Neuauflage. Den ausführlichen diskographischen Teil des Buchs hat Chris Trent neu geordnet. Wieder gibt es einen umfangreichen Bildteil, der die Plattencovers zeigt.

“Omniverse Sun Ra” war schon in der ersten Ausgabe von 1994 eine labor of love. Die neue Ausgabe hat einen Hardcover-Einband, ein etwas handlicheres Format, einen Block mit Farbfotos der Band, die im früheren Buch nicht enthalten waren. Es verzichtet auf die Tapeologogy, also die Auflistung oft privater Konzertmitschnitte, sowie auf die ausführliche Bibliographie der früheren Ausgabe.

“Omniverse Sun Ra” bleibt bei alledem ein großartiges Buch, das in Wort, Bild und Tonträgerverweisen als hervorragendes Nachschlagewerk über die Welt und Weltsicht Sun Ras genauso zu nutzen ist wie als eine Dokumentation, in der auch “Nachgeborenen” die Bühnenperformance des Arkestra vor Augen geführt wird.

Wolfram Knauer (März 2017)


A City Called Heaven. Chicago and the Birth of Gospel Music
von Robert M. Marovich
Urbana/IL 2015 (University of Illinois Press)
488Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08069-2

Gospelmusik, erklärt Robert Marovich, Rundfunkmoderator, Herausgeber des Journal of Gospel Music und Musikhistoriker, sei die künstlerische Antwort auf die Great Migration gewesen, in der tausende und abertausende Afro-Amerikaner zu Beginn des 20sten Jahrhunderts aus den Südstaaten in den Norden zogen und insbesondere in Städten wie Chicago ein neues Zuhause fanden. Blues, sagte Mahalia Jackson einmal, seien Lieder der Verzweiflung gewesen, Gospel dagegen Lieder der Hoffnung. Das Genre, erklärt Makovich in seinem Buch, das sich auf die Verankerung der Musik im Chicago des 20sten Jahrhunderts fokussiert, sei wie eine soziale Organisation organisiert gewesen, die jeden, egal wie gut er oder sie singen konnte, willkommen geheißen hätte.

In seinem Buch beschreibt Marovich die Entwicklung der Gospelmusik von frühen Hymnen und Camp Meetings über die beschriebene Great Migration und die lebendige Gospelszene von Chicago bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sounds, Rhythmen und der Enthusiasmus dieser Musik Eingang in die Popmusik fanden und schließlich zur Begleitmusik der Bürgerrechtsbewegung wurden. Er greift auf Interviews und selten ausgewertete historische Quellen zurück, um die Einbettung der Musik in die Community zu beschreiben; er entdeckt die Bedeutung von Predigern, deren eindringliche Sermons ab den 1920er Jahren ja sogar auf Schallplatte veröffentlicht wurden; er berichtet von frühen Aufnahmen für das noch junge Radio genauso wie für die aufstrebende Plattenindustrie. Er geht auf weithin bekannte Gospel-Künstler ein, Thomas A. Dorsey etwa oder Mahalia Jackson, genauso aber auch auf weniger, oft nur lokal bekannte Musikerinnen und Musiker. Er weiß um die Hintergründe der Gospeltourneen, die in den 1930er Jahren große Erfolge feierten, und er beschreibt die Entwicklung des Gospelquartetts über die Jahre.

Die Zuwanderung nach Chicago aus dem Süden hielt bis in die 1940er Jahre an und vermittelte der Gospelmusik damit über lange Jahre jene wichtige Funktion des Haltgebens in der Fremde. Radio- und frühe Fernsehshows nahmen sich des Genres an, und immer mehr wurde Gospel auch zu einem kommerziellen Produkt. In seiner Übersicht über die verschiedenen Stränge des Genres kennt Marovich alle Solisten, Bands, Quartette und Chöre und beschreibt sowohl ihre Einbindung in die örtliche kirchliche Gemeinschaft wie auch ihr sehr unterschiedliches Verhältnis zur Plattenindustrie. Mitte der 1950er Jahre fiel der Gospelmusik schließlich eine neue Rolle zu, als Mahalia Jackson zu einer glühenden Vertreterin des Civil Rights Movement und einer engen Verbündeten Dr. Martin Luther Kings wurde.

Die große Zeit des Gospel war mit dem Tode Mahalia Jacksons und Roberta Martins vorbei; und hier endet auch Marovichs Buch, mit einem nur kurzen Ausblick auf die Gegenwart. “A City Called Heaven” ist ungemein detailreich, dadurch stellenweise etwas mühsam zu lesen, aber durch einen umfangreich aufgeschlüsselten Index ein gutes Nachschlagewerk zum Thema. Marovich zeigt anhand der Gospelmusik in Chicago, wie sich sich Genre- und Stadtgeschichtsschreibung miteinander verbinden lassen, weil die Nöte und Zwänge des Lebens in der Großstadt letztlich die Entwicklung einer Musik als spirituelles Gegengewicht befördert haben.

Wolfram Knauer (Januar 2017)


La Nuée. L’AACM: un jeu de société musicale
von Alexandre Pierrepont
Marseille 2015 (Éditions Parenthèses)
443 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-2-86364-669-4

2008 veröffentlichte George E. Lewis sein Buch “A Power Stronger Than Itself. The AACM and American Experimental Music”, das die musikalische und ästhetische Welt der Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago seit den 1960er Jahren aus der Ecke einer “nur” afro-amerikanischen Avantgarde holte und zeigte, wie sehr die darin Aktiven Teil eines generellen und weit über Amerika hinausreichenden künstlerischen Diskurses waren und sind.

Im Vorwort seines Buchs über die AACM schildert Alexandre Pierrepont, wie es dazu kam, dass er sich als Anthropologe entschied, eine Studie zur AACM zu schreiben, wie er mittendrin von Lewis’ Arbeit erfuhr und sofort bereit war, mit seinem eigenen Projekt zurückzustecken. Lewis aber habe ihn zum Weitermachen ermutigt: Sein Buch sei eine Innenansicht, so Lewis, ein so komplexes Thema aber brauche immer mehrere Perspektiven, und Pierreponts Arbeit könne vielleicht eine sinnvolle Außenansicht bieten. Und so ist mit “La Nuée” (“Der Schwarm”) jetzt ein zweites umfangreiches Buch auf dem Markt, das die AACM von den 1960er Jahren bis heute als einen künstlerische Ansatz beschreibt, der weit über die erklingende oder auf Tonträgern dokumentierte Musik hinausreicht, vor allem nämlich in den daran beteiligten Akteuren ein Selbstbewusstsein geschaffen hat, das sie weit über den Kreis des Jazz, der afro-amerikanischen oder sogar der amerikanischen Musik hinaus einordnen lässt.

Pierrepont präsentiert im ersten Kapitel 25 Gründe warum, und Erklärungen wie Afro-Amerikaner in den USA ausgegrenzt oder marginalisiert wurden. Er zeigt, dass Musik gerade in diesem Zusammenhang wichtige soziale Funktionen übernahm. Er schildert die Situation in Chicago und erklärt, wie sich hier ab den 1950er Jahren eine aktive experimentelle Musikszene herausbildete. Im zweiten Kapitel beschreibt er die Idee hinter der AACM, die unterschiedlichen Ensembles und Projekte, die aus dem Kreis der Musiker entstanden, die europäische Erfahrung von Mitgliedern etwa des Art Ensemble of Chicago zwischen den Jahren 1969 und 1974, die Verbindungen zwischen der Chicagoer und der New Yorker Avantgarde-Szene ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre (die viel damit zu tun hatte, dass etliche Chicagoer Musiker inzwischen an die Ostküste umgezogen waren), sowie den Einfluss der AACM und ihres Konzepts auf europäische Improvisations-Kollektive.

Im dritten Kapitel untersucht Pierrepont die AACM als Kooperative und Verein, als Geheimbund und Brüderschaft, als sozio-musikalische Bewegung und Weltschule, beschreibt ihre formale Organisation, aber auch die “respectful anarchy”, die sich aus ihren Verbindungen etwa zum Black Arts Movement und anderen auch politisch aktiven Organisationen ergaben. Dabei sei sie bis heute eine Vereinigung afro-amerikanischer Musiker geblieben. Egal ob in Tongebung, Improvisation oder Komposition sei eines der verbindenden Merkmale der aus der AACM entstandenen Musik zum einen die Betonung von Individualität, zum zweiten aber auch das Einbringen des Subjekts in kollektive Prozesse. Pierrepont beschreibt pädagogische Konzepte, die sich aus den Schulprojekten der Association ergaben, und umreißt musikalische als soziale Verbindungen und die daraus resultierenden Gruppenzugehörigkeits-Prozesse. Im vierten Kapitel beschreibt er die Offenheit der AACM-Mitglieder gegenüber Genre, kompositorischen und improvisatorischen Experimenten, der Verwendung und Aneignung im Jazz bislang eher unüblicher Instrumente, der Weiterentwicklung elektronischer Klang- (und musikalischer Reaktions)möglichkeiten, sowie der Arbeit im Solo- und großorchestralen Kontext. Das Art Ensemble of Chicago warb mit dem Slogan “Ancient to the Future”, und in dieser Haltung, dass die Formung jedweder (künstlerischen) Zukunft sich auf die eigene Interpretation der Vergangenheit beziehe, sieht Pierrepont eines der Geheimnisse hinter der Langlebigkeit der AACM als Organisation. “Ich ziehe die Mythokratie der Demokratie vor”, zitiert er Sun Ra. “Noch vor der Geschichte. Alles vor der Geschichte sind Mythen… Das ist der Ort, an dem die Schwarzen sind. Realität ist gleich Tod, weil alles, was real ist, einen Anfang und ein Ende hat. Die Mythen sprechen vom Unmöglichen, von Unsterblichkeit. Und da alles Mögliche bereits versucht wurde, müssen wir eben das Unmögliche versuchen.”

Alexandre Pierreponts Studie zur AACM bietet eine gelungene Interpretation dessen, wofür die Association for the Advancement of Creative Musicians stand und steht, eine Einordnung ästhetischer wie gesellschaftlicher Vorstellungen und Aktivitäten aus der Gruppe, und den Versuch, das alles in Verbindung zu bringen mit ästhetischen, kritischen, philosophischen und spirituellen Aspekten, die weit über die Arbeit der AACM-Mitglieder hinausgehen. Ihm ist dabei, in Gesprächen mit Musikern, in den Beschreibungen von Konzert- und Aktionssituationen, in der historischen genauso wie der anthropologischen Einordnung all dessen ein kluges Buch gelungen, das die Rolle der AACM im Jazz genauso zu verorten in der Lage ist wie in der aktuellen Musik des 20sten (und letzten Endes auch 21.) Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Jazz Tales from Jazz Legends. Oral Histories from the Fillius Jazz Archive at Hamilton College
Von Monk Rowe (& Romy Britell)
Rochester 2015 (Richard W. Couper Press)
209 Seiten, 20 US-Dollar
ISBN: 978-1-937370-17-6

Das Hamilton College ist eine relativ kleine Hochschule in Clinton, New York. Einer ihrer Absolventen, Milt Fillius Jr., zog nach seinem Diplom ans andere Ende des Landes, nach San Diego, hielt aber Kontakt zu seiner Alma Mater. Er liebte Jazz und er war ein guter Freund des Sängers Joe Williams, der 1988 die erste Ehrendoktorwürde des Hamilton College erhielt. Im Gespräch mit Williams und dem Bassisten Milt Hinton wurde Fillius bewusst, wie viel an Wissen über den Jazz tatsächlich nur in der Erinnerung der Musiker bewahrt und wie wichtig Oral History gerade in diesem Bereich ist. Er etablierte also ein umfassendes Interview-Projekt, für das mittlerweile weit über 300 Künstler/innen in Ton und Bild festgehalten wurden. Die Interviews, von denen viele der Hamilton-Archivar Monk Rowe selbst durchführte, dokumentieren die Welt des Swing genauso wie die des modernen Jazz. Die meisten dieser Erinnerungen sind auf der Website des Hamilton College nachzulesen; eine für die Jazzforschung ungemein hilfreiche Sammlung. Es handelt sich bei den Interviewten nicht unbedingt um die großen Stars der Jazzgeschichte, obwohl etwa mit Lionel Hampton, Nat Adderley, Herbie Hancock, James Moody, Oscar Peterson, Ruth Brown und anderen auch solche vertreten sind. Viele der Musikererinnerungen stammen stattdessen von Sidemen, die über ihre Zeit in den großen Bands berichten, über das Leben “on the road”, über die alltäglichen Probleme eines reisenden Musikers, über Rassismus und vieles mehr

In “Jazz Tales from Jazz Legends” zeigt Monk Rowe, was man aus diesen Interviews so alles lernen kann. Er filtert konkrete Themen heraus, für die er dann die verschiedenen Erfahrungen der Interviewten gegenüberstellt. Das Anfangskapitel widmet sich Joe Williams, dann folgt ein Abschnitt über das Schicksal der Sidemen bei Duke Ellington, Count Basie, Benny Goodman und in anderen Bigbands. Clark Terry erzählt etwa, wie der Duke ihn bei Basie abwarb, erinnert außerdem, was er bei beiden Bandleadern lernte, und Benny Powell weiß zu berichten, dass Basie ihm in den zwölf Jahren in der Band nie förmlich bestätigt habe, dass er engagiert sei. Im Kapitel “Road Travails” erzählen Eddie Bert von seiner Zeit bei Benny Goodman, Sonnie Igoe von einer Tournee mit Woody Herman, Bucky Pizzarelli vom Reisen mit dem Vaugn Monroe Orchestra, Jay McShann vom Problem mit schlechten Klavieren “on the road”, Jimmy Lewis von einem angst-machenden Flug mit der Basie-Band, Kenny Davern vom Stress, die 60 One-Nighters in 90 Tagen erzeugen können, Lanny Morgan darüber, dass die Gage oft von Hotel- und Reisekosten aufgefressen wurde, die die Musiker aus eigener Tasche zahlen mussten. “Arranging the Notes” heißt ein weiteres Kapitel, das sich mit den Ansprüchen an die Arrangeure der Bands befasst. Dick Hyman, Mike Abene, Bill Holman, Derrick Gardner, Ray Conniff, Manny Albam erzählen darin von der Arbeit eines Bandarrangeurs genauso wie von den Anforderungen an andere Arten von Musik, etwa für Hollywood; Lew Soloff erinnert sich an die Arrangements für Blood Sweat & Tears, und Dave Rivello und Maria Schneider geben einen Ausblick darauf, wie die Arbeit eines Arrangeurs im 21sten Jahrhundert funktioniert.

“Inside the Studio” ist ein Kapitel über Aufnahmeerfahrungen überschrieben, in dem sich Doc Cheatham an seine erste Platte mit Ma Raney erinnert, Richard Wyands einen typischen Aufnahmegig aus dem Jahr 1959 beschreibt, Orrin Keepnews erzählt, was Musikern für Aufnahmesitzungen üblicherweise bezahlt wurde, und Dick Hyman und Derek Smith verraten, dass sie sich natürlich auch mit Musik für Fernsehwerbung über Wasser halten mussten. Man müsse nicht alles mögen, was da im Studio produziert werde, erklärt Hyman, man müsse sich aber anstrengen, das, was von einem gefordert werde, möglichst gut zu spielen. Rassismus war für viele der interviewten Musiker ein täglich erlebtes Thema, und im Kapitel “The Color of Jazz” kommt auch dies zur Sprache. Clark Terry und Joe Williams haben genügend eigene Erlebnisse; Sonny Igoe erzählt, wie er auf einer Tournee durch den Süden, bei der er im Bus mit dem Art Tatum Trio mitreiste, als “White Trash” angepöbelt und aufgefordert wurde, er solle den Bus gefälligst verlassen. Louie Bellson und Red Rodney haben ähnliche Erinnerungen, und Frank Foster fasst zusammen, dass der Jazz zwar aus der schwarzen Erfahrung heraus geboren worden sei, dass der Melting Pot Amerika ihn aber schon seit langem zu einer amerikanischen, wenn nicht gar globalen Musik gemacht habe.

Im Kapitel “Thoughts on Improvisation” geben Marian McPartland, Clark Terry, Bill Charlap, Charles McPherson und andere Tipps, wie man sich der Improvisation nähern könne. Ken Peplowski fasst zusammen: “Lern es, dann vergiss es wieder!”, und Randy Sandke reflektiert, was während eines Solos so alles durch seinen Kopf ginge. Schließlich äußern sich Gary Smulyan, Ralph Lalama und Jan Weber über die Möglichkeit und die Chancen “falscher Töne” im Jazz. “Motivation and Inspiration” ist ein Kapitel überschrieben, das Erinnerungen an persönliche Einflüsse beinhaltet. Keter Betts etwas erzählt, dass er als Schlagzeuger begonnen habe und durch Milt Hinton (und reichlich Zufall) zum Bass gekommen sei. John Pizzarelli kam über die Beatles zur Gitarre, Kenny Davern übers Radio bei einer der Pflegefamilien, bei denen er aufwuchs, bis er sechs Jahre alt war, und auch Junior Mance war von Earl Hines begeistert, dem er spätabends heimlich im Radio lauschte. Jon Hendricks berichtet, wie er dazu kam, improvisierte Instrumentalsoli zu textieren. Und Eiji Kitamura erinnert sich, wie eine Platte von Benny Goodman in der Sammlung seines Vaters ihn zur Klarinette brachte. Schließlich gibt es im Schlusskapitel noch ein paar Haltungen zum Phänomen des Swing und zum Missverständnis des Free Jazz sowie Erinnerungen an unglücklich gelaufene Engagements und über die Arbeit mit Legenden.

“Jazz Tales from Jazz Legends” ist also ein vielfältiges Buch, das jede Menge unterschiedlicher Erfahrungen zusammenbringt. Zu Beginn der Lektüre wünscht man sich, die einzelnen Interviews im Zusammenhang zu lesen, aber das ist ja tatsächlich möglich, über die Website des Fillius Jazz Archive am Hamilton College. Und so sollte man Monk Rowes thematische Zusammenstellung als das sehen, was sie ist: ein exzellentes Beispiel, wie sich aus den gesammelten Interviews am Hamilton College Narrative zu den unterschiedlichsten Themengebieten der Jazzgeschichte exzerpieren lassen. Dann lässt sich umso interessanter verfolgen, wie die Interviews sich gegenseitig ergänzen und die unabhängig voneinander Befragten dabei fast miteinander ins Gespräch zu kommen scheinen.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Swingin’ On Central Avenue. African American Jazz in Los Angeles
von Peter Vacher
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
331 Seiten, 55 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8832-6

2015vacherJazzgeschichtsschreibung funktioniert normalerweise so: Louis Armstrong – Charlie Parker – Miles Davis – John Coltrane. Oder so: New Orleans – Chicago – Kansas City – New York. Oder so: Dixieland – Swing – Bebop – Cool Jazz – Hard Bop – Free Jazz – Fusion. Personen, Orte, Epochen… eine Geschichte der großen Männer (!), der lebendigen urbanen Szenen, der alles umwälzenden stilistischen Innovationen. Tatsächlich aber ist dieser Blick auf die Größen, die Zentren, die Stilbegriffe enorm einengend, wenn nicht gar: einfach nur falsch. Neben den großen Stilisten gibt es immer auch diejenigen, deren Kreativität entweder nicht den großen populären Erfolg hatte oder aber nicht lange genug anhielt, oder die sich einfach weniger gut “verkaufen” konnten. Neben den jazzgeschichtsmäßig bekannten Zentren gab es Städte und Landstriche, die musikalisch enorm lebendig waren, viele Musiker hervorbrachten, aber von der Geschichtsschreibung höchstens als potentielle Spielorte, nicht als Brutstätten dieser Musik dargestellt wurden. Und neben den etablierten Stilen gibt es unendlich viele Zwischenstufen, da kaum ein Musiker sich eines Stils “in Reinkultur” bediente”. Ganz davon zu schweigen, dass sich die meisten Jazzgeschichten, ja selbst die meisten Biographien an Aufnahmen entlanghangeln und dabei gern den performativen Aspekt des Jazz vergessen, die Tatsache also, dass die veröffentlichte Platte nur eine Momentaufnahme des kreativen Prozesses ist.

Peter Vacher füllt mit seinem Buch also eine Lücke. Er widmet es einer Szene, die nie so ganz im Mittelpunkt des Jazz stand (Los Angeles), und er fokussiert dabei auf Musiker, die höchstens regionale Stars blieben und kaum nationalen oder gar internationalen Erfolg einfuhren. Vacher ist Außenseiter (Brite); er kam im Laufe des Trad-Jazz-Booms der 1950er Jahre zum Jazz. In den 1980er Jahren arbeitete er mit dem Klarinettisten Joe Darensbourg an dessen Autobiographie, verbrachte währenddessen einige Zeit in Los Angeles und lernte damals Veteranen der schwarzen Musikszene der Westküstenmetropole kennen. Die Interviews, die er mit den sechzehn in diesem Buch dokumentierten Musikern führte, hatten ursprünglich nicht das Ziel einer Buchveröffentlichung, sondern dienten einzig seinem privaten Interesse an ihrer Geschichte. Wenige konnte er ein zweites Mal interviewen, bei anderen fühlte er sich im Nachhinein schlecht vorbereitet. Dennoch geben die Geschichten, die er anhand dieser 16 Musiker erzählt, einen Einblick in eine so ganz andere Musikszene als die an der Ostküste. Die Westküstenmusiker waren flexibel; sie spielten Jazz genauso wie R&B oder Dixieland. Viele von ihnen verdienten sich ihren Lebensunterhalt in den Studios Hollywoods, und viele zog es vielleicht mal für eine Tournee, selten aber für immer fort aus Kalifornien. Und wenn auch diese Szene Jazzgrößen wie Dexter Gordon, Wardell Gray, Teddy Edwards und Charles Mingus hervorbrachte, wenn auch Legenden wie Benny Carter, Red Callender und Buddy Collette von hier aus agierten, so blieb Los Angeles doch ein weitgehend ungeschriebenes Kapitel der US-amerikanischen Jazzgeschichte.

Die von Peter Vacher interviewten Musikern stammen aus der älteren Generation, und dokumentieren die Szene vor allem der 1930er bis 1950er Jahre. Noch weiter zurück geht es in den Erzählungen des Trompeters Andy Blakeney , der von seinen ersten musikalischen Erfahrungen im Chicago der 1920er Jahre berichtet, von seinem Umzug an die Westküste im Jahr 1925, von Reb Spikes, der ein Musikgeschäft in L.A. besaß und außerdem eine gut beschäftigte Band. Er erinnert an viele der Musiker in der Stadt und an Partys bei Orson Welles. Er erzählt aber auch von der Rassentrennung in der Stadt, und von den legendären Gigs, die Louis Armstrong und Duke Ellington Anfang der 1930er Jahre in Sebastian’s Cotton Club hatten, von Tagesjobs in einer Schiffswerft, von Gigs mit Kid Ory und Barney Bigard, und von verschiedenen Comebacks in den 1970er und 1980er Jahren. Beim Pianisten Gid Honoré musste Vacher erst Street Credibility beweisen (dadurch, dass er den Schlagzeuger Wallace Bishop kannte), bevor der sich zu einem Interview bereitfand. Honoré kam 1921 aus New Orleans nach Chicago und erzählt von den vielen Ensembles, mit denen er in den 1920er bis 1940er Jahren dort spielte – oft Bands alter Freunde aus New Orleans. 1948 zog er an die Westküste, wo er mit Kid Ory und Teddy Buckner spielte – seine Erinnerungen an die Szene in L.A. nehmen dabei gerade einmal ein Fünftel seines Kapitels ein. Der Trompeter George Orendorff hatte in den 1920er Jahren King Olivers Creole Jazz Band mit Louis Armstrong in Chicago gehört, kurz bevor er nach L.A. zog. Er erzählt vom Engagement in der Band von Les Hite, in der als Schlagzeuger Lionel Hampton mitwirkte, oder von einem Abend, an dem Fats Waller Bach und Beethoven spielte. 1946 war er im Billy Berg’s Club, als Dizzy Gillespie dort mit Charlie Parker spielte. Orendorff arbeitete schließlich 30 Jahre lang als Postbeamter und trat nur noch selten auf. Jeder in Los Angeles kannte den Schlagzeuger Monk Fay, den Vacher aber erst nach intensiver Suche in einem Seniorenheim fand. Der erzählt von seiner Popularität in Hawaii, von einer Gefängnisstrafe wegen Dealens mit Marihuana und von Gigs in Los Angeles in den 1940er und 1950er Jahren. Der Saxophonist Floyd Turnham erinnert sich an Britt Woodman und an Aufnahmen mit Johnny Otis; die Sängerin Betty Hall Jones weiß noch, wie Nellie Lutcher ihr einen Vertrag bei Capitol Records verschaffte. Der Trompeter Red Mack Morris war in Les Hites Band, als diese Louis Armstrong begleitete und führte später eine Weile einen eigenen Club, in dem er schwarz Alkohol ausschenkte. Der Klarinettist Caughey Roberts erzählt von seinen Lehrern und davon, wie er schließlich selbst unterrichtete, daneben aber auch von einer Reise nach China mit Buck Clayton, über seine Arbeit mit Count Basie und Fats Waller in den 1930er Jahren und über seine Dixieland-Aufnahmen in den 1950ern. Der Pianist Chester Lane war ein großer Fan von Earl Hines, arbeitete lange Zeit um St. Louis, und zog 1957 an die Westküste. Der Trompeter Monte Easter erinnert sich, wie er und Art Farmer Ende der 1940er Jahre in Jay McShanns Band saßen, berichtet über die Probleme der afro-amerikanischen Gewerkschaften und über seinen Broterwerb als Postbediensteter. Der Bassist Billy Hadnott erzählt ausführlich von seinen musikalischen Erlebnissen in Kansas City und hat seine eigene Erinnerung daran, wie Charlie Parker ins Sanatorium von Camarillo kam. Der Trompeter Norm Bowden weiß einiges über Reb Spikes und den Schlagzeuger “Boots” Douglas zu berichten, aber auch über den Club Alabam im berühmten Dunbar Hotel auf der Central Avenue. Der Posaunist John ‘Streamline’ Ewing hatte anfangs gut bezahlte Nebenjobs in den Hollywoodstudios, ging dann auf Anregung eines Musikerkollegen nach Chicago, tourte mit Bands wie denen von Horace Henderson und Earl Hines und spielte ab den 1950er Jahren mit Teddy Buckner in Disneyland. Der Saxophonist Chuck Thomas spielte vor allem in der Küstenregion (bis Las Vegas) und zuletzt ebenfalls mit Teddy Buckner. Der Schlagzeuger Jesse Sailes erinnert sich, wie all die großen Swingbands in den Theatern von Los Angeles auftraten und wie er später Platten mit Percy Mayfield, Ray Charles und B.B. King aufnahm. Der Schlagzeuger Minor Robinson spielte mit Buddy Collette und kannte Charles Mingus, als dieser vielleicht 15, 16 Jahre alt war.

Es sind persönliche Geschichten, von Sidemen-Karrieren und außermusikalischen Lebensentscheidungen. Die Namen wiederholen sich; aus den Erzählungen schält sich dabei eine Szene heraus, die zusammenhielt, auch wenn einzelne der Musiker die Stadt für kürzer oder für länger verließen. Peter Vacher beschreibt zu Beginn eines jeden der Kapitel, wie er den Musikern auf die Spur kam und erklärt einzelne der von den Interviewten mitgeteilten Anekdoten. Nebenbei erzählen diese von der Mobilität des Musikerberufs, von Karrieren, die in New Orleans oder Chicago begannen oder in Kansas City und New York Station machten, deren Protagonisten aber, nachdem sie kalifornische Luft geschnuppert hatten, von dieser nicht mehr loskamen. Es gibt schöne Geschichten über das Zusammentreffen des West-Coast-Größen mit durchreisenden Stars der großen Swingbands; es gibt Insiderberichte über alle möglichen Aspekte des Showbusiness’; es gibt immer wieder den Anruf aus der Ferne, der ihnen einen Job in einer der “name bands” anbietet, den sie entweder für kurze Zeit annehmen oder aber ablehnen. Es gibt Geschichten über Familienplanung und solche über Tagesjobs, mit denen man die Familie ernähren konnte. Central Avenue spielt eine bedeutende Rolle, jene Straße, die in Teilen zu einem kulturellen Zentrum der afro-amerikanischen Community der Stadt wurde.

Peter Vacher hat die Gespräche laufen lassen; sein ursprüngliches Interesse galt der Lebensgeschichte der Musiker, weniger dem Treiben in Los Angeles. Und so nehmen die Erinnerungen an Chicago oder Kansas City oft mehr Raum ein als die aktuelle Lebenswirklichkeit des Ortes, an dem die interviewten Musiker schließlich landeten. Doch wird eine Szene eben nicht nur durch das geprägt, was Musiker in ihr kreieren, sondern auch durch alles, was sie aus ihrer Vergangenheit mitbringen. Von daher ist Vachers Ansatz völlig richtig, die Geschichte der Central Avenue durch die Einflüsse zu erzählen, die hier zusammenkamen.

Beim Lesen wünschte man sich stellenweise entweder einen knappen biographischen Abriss vor oder nach den Kapiteln oder aber das Einstreuen von Jahreszahlen, um die Erinnerungen der Musiker besser einordnen zu können. Wer bei Los Angeles an die Westcoast-Szene denkt, sei gewarnt: alle der von Vacher interviewten Musiker sind vor allem der Swingära zuzuordnen; sie erzählen zum Teil von den jüngeren Musikern, die sie kannten, waren aber nie selbst Mitglied dieser Szene. In seinem Vorwort heb Vacher vor allem drei Interviews hervor, die besonders gut gelungen seien: jene mit Andy Blakeney, Billy Hadnott und Norman Bowden, mit Musikern also, mit denen er mehrfach sprechen und dabei mehr über ihr Leben und musikalisches Wirken lernen konnte. Tatsächlich aber sind auch jene Gespräche lesenswert, die etwas langsamer “auf den Punkt” kommen. “Swingin’ On Central Avenue” gelingt es dabei, Erhebliches zur Kulturgeschichte des afro-amerikanischen Jazz im Los Angeles der 1930er bis 1950er Jahre beizutragen. Das Buch erzählt von künstlerischen Idealen und von der Realität des alltäglichen Musikgeschäfts. Die Entscheidung, die Vacher – sicher mehr der Not gehorchend – getroffen hatte, war genau richtig: Seine Protagonisten sind eben nicht die großen Stars, weil die Szene, die er im Fokus hat, sich in keiner der stilbildenden Städte befand, weil die Community, die er in den Kapiteln seines Buchs abbildet, sich aus vielen sehr disparaten Erfahrungen zusammensetzte. Sein Buch ist auf jeden Fall eine Fundgrube für Jazzhistoriker mit vielen Anekdoten und Erinnerungen, die dieser Rezensent hier zum ersten Mal gelesen hat; zugleich ist es eine abwechslungsreiche Zeitzeugensammlung einer Szene, die bislang nur mäßig dokumentiert ist.

Wolfram Knauer (Juli 2016)


Invitation to Openness. The Jazz & Soul Photography of Les McCann, 1960-1980
herausgegeben von Pat Thomas & Alan Abrahams
Seattle 2015 (Fantagraphics Books)
200 Seiten, 39,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-60699-786-4

2015mccannMusikerfotos – es gibt eine ganze Reihe an Jazzmusikern, deren Hobby auf Tournee das Fotografieren war. Milt Hinton ist der wohl namhafteste unter ihnen, doch jetzt zeigt ein neues Buch, dass auch Les McCann nicht nur gute Ohren, sondern auch ein exzellentes Auge hat. Das nämlich gehört dazu, auf dass das Buch eines fotografierenden Musikers nicht einzig wegen der Vorteile interessant ist, die sich daraus ergeben, dass der Mann hinter der Kamera zugleich auf der Bühne sitzt und von den Objekten seiner Begierde, also anderen Musikern, nicht als Störenfried, sondern als einer der ihren anerkannt wird.

Im Vorwort von “Invitation to Openness” erzählt A. Scott Galloway kurz die biographischen Stationen Les McCanns: geboren in Lexington, Kentucky, über Tuba und Snare-Drum zum Klavier gelangt, zusammen mit Eddie Harris mit “Compared to What” über Nacht einen Welthit geschaffen, der eine Solokarriere bedingte, die bis in jüngste Zeit anhielt. Pat Thomas erzählt die Genese des Buchprojekts: Er hatte gerade eine CD-Wiederveröffentlichung des McCann-Klassikers “Invitation to Openness” organisiert und McCann zu Hause besucht, als er in einer Ecke einen Stapel zerkratzter Abzüge von Fotos entdeckte, die der Pianist in den 1960er und 1970er Jahren gemacht, aber nie veröffentlicht hatte. Im Interview mit Thomas erzählt McCann, dass es in seiner Familie immer Fotoapparate gegeben habe. Er selbst habe sich eine Nikon gekauft und begonnen, auf der Bühne und daneben Menschen abzulichten. Als er sich ein Haus in Hollywood leisten konnte, richtete er sich eine Dunkelkammer ein und begann seine Aufnahmen selbst zu entwickeln.

Das Bemerkenswerteste an den Bildern ist vielleicht die Perspektive. Gerade die Bühnenaufnahmen sind eben nicht von vorn gemacht, aus dem Bühnengraben oder der ersten Reihe, sondern oft von der Seite oder leicht von hinten. Viele Bilder zeigen die Musiker backstage, in Vorbereitung fürs Konzert, in Freizeitklamotten beim Soundcheck. Das entspannte Lächeln Count Basies zeigt die entspannte Vertrautheit. Andere eindrucksvolle Motive sind etwa: Stanley Clarke mit abwartend-konzentrierter Miene (und einer denkwürdigen Frisur); Ben Webster am Flügel; Dexter Gordon und Joe Zawinul vor einem Motel; die junge Tina Turner; das Publikum aus Gefangenen im Cook County Jail; Cannonball Addlerley, der an einer Zigarette zieht, sein Gesicht halb in Rauch gehüllt. Neben Musikern gibt es Bilder von Schauspielern (Jack Lemmon, Bill Cosby, Jerry Lewis), Politikern (Jimmy Carter, Jesse Jackson, Stokely Carmichael, Dr. Martin Luther King), Sportlern (Muhamad Ali, Pelé), sowie einige wenige Bilder, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Doch auch diese Aufnahmen, etwa das eines alten Mannes mit Fahrrad, hätten das Potential zu Plattencovers.

Les McCann gibt zu einzelnen der Bilder Kommentare ab, in denen er Kolleginnen oder Kollegen erinnert. Auch die Identifizierung der Motive basiert auf McCanns Erinnerung, wobei es Motive gibt, zu denen er nicht wirklich mehr weiß, wo oder wann sie gemacht wurden, und zumindest eine falsche Zuschreibung (nein: das ist NICHT Eberhard Weber auf den beiden Fotos mit Sarah Vaughan, sondern Bob Magnusson!). Beim Durchblättern des Bandes kommt einem immer wieder in den Sinn, dass das Leben eines Jazzmusikers eben aus mehr besteht als der Bühnenwirklichkeit. Les McCanns “Invitation to Openness” bietet damit einen lohnenswerten und allemal mit Soul gefüllten Blick hinter die Kulissen sowohl der Musiker, die er darin dokumentiert, als auch seiner eigenen Konzertarbeit.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Bitches Brew
von George Grella Jr.
New York 2015 (Bloomsbury Academic, 33 1/3)
128 Seiten, 14,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-6289-2943-0

D2015grellaie Buchreihe 33 1/3 des Bloomsbury-Verlags behandelt eigentlich Rockgeschichte. Jeder Band ist einem separaten Album gewidmet und wird historisch kontextualisiert. Miles Davis wurde jetzt die Ehre zuteil, als erster Jazzer in die Reihe aufgenommen zu werden, die immerhin schon mehr als 100 Bände umfasst. Sein Album “Bitches Brew” von 1969 schrieb eben nicht nur Jazz-, sondern genauso auch Popgeschichte.

In seinem ersten Kapitel betont George Grella, wie schwer es ist, “Bitches Brew” klar einem Genre zuzuordnen. Miles wollte weder ein klares Jazz- noch ein dezidiertes Rockalbum machen. “Bitches Brew”, meint Grella, sollte man daher am ehesten als experimentelle Musik hören, als Versuch, den überkommenen Normen von sowohl Jazz wie auch von Rock zu entkommen.

Im zweiten Kapitel erklärt Grella die seltsame Sektenhaltung, die Jazzrezeption manchmal annehmen kann und gegen die sich Miles Davis von früh an wehrte. Geht nicht gibt’s nicht, sei sein Motto gewesen, und Popsongs nahm er bereits lange vor “Time After Time” auf. Miles, fasst Grella zusammen, spielte Pop nicht um Popstar zu sein, sondern um Musik zu machen. Er erzählt von der Zeit des Trompeters mit Charlie Parker, vom Capitol-Nonet, das irgendwie die Geburtsstunde des Third Stream wurde, sowie von “Kind of Blue” und “Sketches of Spain”.

In Kapitel 3 erklärt Grella, welch völlig anderen Ansatz Miles an die Produktion eines Albums hatte, bei dem er sich ab 1968, ab dem Album “Circle in the Round”, vorbehielt, die musikalischen Versatzstücke nach Belieben zusammenzuschneiden.

In den Kapiteln 4 und 5 schließlich steht “Bitches Brew” selbst im Mittelpunkt, wenn Grella über Titel und Covergestaltung geflektiert und die einzelnen Titel beschreibt. Das liest sich stellenweise wie eine Sportreportage: wer, wann, was, Tonart, Einsatz, Intensität. Grella verweist auf die oft nicht wahrnehmbare Editiertechnik Teo Maceros und darauf, wie dies nur deshalb möglich war, weil alle Musiker immer deutlich aufeinander hörten. In “Pharoah’s Dance” benennt er eine “hippe Blueslinie bei 4:46” oder eine Coda, die “fast Beethoven’schen Charakter” habe. Im Titeltrack zeigt er auf viele der Nahtstellen, und dann verweist auf die Unterschiede der beiden Platten des Doppelalbums: “eine, um dich wegzublasen, die andere, um deinen Kopf wieder geradezurücken”.

Im letzten Kapitel widmet Grella sich den Nachwirkungen des Albums, in der Kritik genauso wie im Jazz. Mit Verweis auf Wynton Marsalis erklärt er, dass da zwei recht unterschiedliche Sichtweisen der Zukunftfähigkeit von Musik aufeinandergeprallt seien, um dann Miles’ Konzept auf dem kleinsten Nenner zusammenzufassen: “Indem er Rhythmus, Puls und Harmonien – und auf Tonband eingespielte Kompositionen – verwandte, die absichtlich nicht zu einer Auflösung fanden, organisierte Miles Zeit: und sowohl Form wie auch Zeit finden damit in der Musik zusammen”.

Eine kommentierte Diskographie beschließt das Büchlein, das sich wie ein sehr ausführlicher Plattentext mit vielen zusätzliche Informationen liest. Ja, Grella gelingt die Kontextualisierung, und doch kommt er der Musik selbst nur bedingt nahe, auch weil seine analytischen Anmerkungen etwas zu oberflächlich bleiben, weil er quasi nur parallel zur Musik beschreibt, was man eh hört, anstatt zusammenzufassen, was das alles “bedeutet”. Trotz dieser Einschränkung aber ist Grellas Büchlein ein lohnenswerter Begleiter zur nächsten abendlichen Abhörsession dieses Miles Davis-Klassikers.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Jazz Basel. Vier Jahrzehnte Stars und Szene
herausgegeben von Offbeat = Urs Ramseyer & Ruedi Ankli & Peewee Windmüller & Urs Blindenbacher
Basel 2015 (Christoph Merian Verlag)
180 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-85616-695-5

2015offbeatDie Geschichte regionaler Jazzszenen kann man auf unterschiedliche Weise erzählen. Man kann nostalgisch und sehnsuchtsvoll zurückblicken und von alten Zeiten schwärmen. Oder man kann auch Zurückliegendes vor allem aus dem Wissen um die Gegenwart verstehen.

Die Macher des offbeat-Festivals gehen in ihrem Buch über “Jazz Basel” den zweiten Weg. Das opulent bebilderte Buch widmet einzig sein Eingangskapitel (von Bruno Spoerri) den Anfängen des Jazz in Basel von den 1920er bis in die 1970er Jahre. 1974 gründete sich der Verein und die Konzertreihe jazz in basel, 1990 schließlich das Festival offbeat. Das Buch blickt auf die Musiker, die seither auf dem Festival spielten, aus skandinavische Gäste oder gesamtdeutsche Schwerpunkte, auf Jazz aus dem Mittelmeerraum und einen lateinamerikanischen Fokus, auf US-amerikanische Bands und die Schweizer Musiker, die hier auch immer zu hören waren. Es gibt Anekdoten aus dem Alltag von Festivalorganisatoren und Berichte von Backstage. Die Auswirkungen des Festivals in Stadt und Region werden thematisiert, Schulprojekte etwa oder die Präsenz im örtlichen Rundfunk. Und schließlich wird mit Stolz auf die Zusammenarbeit des offbeat Festivals mit dem Jazzcampus Basel und dem Club The Bird’s Eye berichtet.

Das alles ist kurzweilig geschrieben, vordergründig wohl vor allem für regionale Leser interessant, daneben aber genauso ein Bericht über die Verankerung einer regionalen wie internationalen Szene, aus dem auch Veranstalter anderswo etwas lernen können. Und schließlich sind da noch die 86 schwarz-weißen Abbildungen, Fotos von Bernhard Ley, Peewee Windmüller und Röné Bringold, die die Erinnerungen an die Geschichte von offbeat ungemein lebendig werden lassen.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher
von Detlef Siegfried
Göttingen 2015 (Wallstein)
455 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1673-7

2015siegfriedErnest Borneman war eine Mehrfachbegabung, so sehr, dass es genügend Menschen gaben, die dachten, es handele sich wahrscheinlich um mehrere Personen, die nur zufällig denselben Namen hätten. In den 1970er und 1980er Jahren war Borneman ein regelmäßiger Gast in deutschen Talkshows, wann immer es um das Thema Sexualität ging, hatte daneben eine Sex-Beratungskolumne in der Neuen Revue. Als Soziologe hatte er sich mit seinem Buch Das Patriarchat 1975 einen Namen gemacht. Vor seiner Beschäftigung mit Frauenbewegung und Feminismus hatte Borneman eine Karriere im Filmgeschäft gemacht, arbeitete für das National Film Board of Canada, für die UNESCO in Paris und war Programmdirektor des Freien Fernsehens, der ersten privaten Fernsehanstalt, die nach ihrem Verbot durch die Adenauer-Regierung quasi durch das ZDF abgelöst wurde. Und noch früher war Borneman nicht nur Jazzliebhaber und -experte, sondern einer der ersten Jazzforscher, ein Kenner des Jazz, der diese Musik zeitlebens als transkulturelle künstlerische Aussage verstand und 1944 mit seinem Artikelreihe “The Anthroprologist Looks at Jazz” eine der ersten übers Anekdotische hinausreichenden Kulturgeschichten des Jazz verfasste.

Borneman schied im Juni 1995 aus dem Leben. Sein Archiv ist in der Berliner Akademie der Künste untergekommen; jetzt hat der Historiker Detlef Siegfried die Biographie des vielfältigen Forschers vorgelegt. Diese hat er klar nach den verschiedenen Feldern gegliedert, in denen Borneman tätig war, überschrieben “Hören. Die Ethnologie des Jazz”, “Sehen. Das Leben auf der Leinwand” und “Berühren. Sex und Gesellschaft”.

Der 1915 in Berlin geborene Ernst Bornemann – wie er bis zu seiner Emigration 1933 hieß – hatte bereits 1930 Bertolt Brecht kennengelernt, als Mitglieder von Berliner Schulchören zu Proben des Lehrstücks Der Jasager geladen worden waren. Er und Brecht freundeten sich an, Brecht half ihm bei der Abfassung seines ersten Theaterstücks und Borneman Brecht bei einer Neuübersetzung des Dreigroschenromans ins Englische. Siegfried, der zu Beginn seines Buchs anschaulich erklärt, wie er sich durch Bornemans eigene “Autofiktionen”, wie er sie nennt arbeiten musste, durch falsche Fährten also, die Borneman aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten seiner Karriere legte, beschreibt Bornemans Exil als “nicht nur Flucht-, sondern auch Möglichkeitsraum”.

In London war Borneman regelmäßig bei Jazzkonzerten anzutreffen, verkehrte außerdem in einem Kreis linker und schwarzer Intellektueller. Bereits Mitte der 1930er Jahre hatte er einen Kriminalroman geschrieben, arbeitete bald auch an einem Drehbuch für einen möglichen eigenen Film, in dem auch der Jazz eine Rolle spielen sollte. Im Sommer 1940 wurde er als “feindlicher Ausländer” interniert, doch bereits zuvor produzierte er seine erste Rundfunksendung. Nach seiner Internierung wurde er nach Kanada deportiert, wo er nach seiner Entlassung beim National Film Board Arbeit fand.

Er knüpfte Kontakt zu Sammlern und Jazzkennern in den USA und sammelte Material für eine mögliche musikwissenschaftliche Dissertation und ein Buch zum Thema “American Negro Folk Music”, das von zwei Verlagen zur Publikation angenommen, dann aber wegen kriegsbedingten Papiermangels nicht gedruckt wurde. In seinen Jazzarbeiten, für die Borneman sich bei dem bekannten Musikethnologen Melville J. Herskovits um ein Stipendium bemühte, ging es, wie Siegfried zusammenfasst, “um zwei Themen: erstens um die Verbindungen von afroamerikanischer Volksmusik und moderner Tanzmusik der Gegenwart, und zweitens um die Verschränkungen von sozialen Verhältnissen und Populärkultur”. 1944 begann Borneman seine achtteilige Artikelserie “The Anthropologist Looks at Jazz”, die in der Zeitschrift The Record Changer erschien, der er bald auch als Mitherausgeber angehörte. Er schlug sich in der Debatte um den Bebop zwar auf die Seite des “authentischen” Jazz, konnte aber der romantischen Rückwärtsgewandtheit vieler der Traditionalisten wenig abgewinnen und versuchte daher immer wieder zwischen den Lagern zu vermitteln.

Mitte der 1940er Jahre lebte er in Paris, interviewte Louis Armstrongs Band anlässlich des ersten Jazzfestivals in Nizza im Jahr 1948, und freundete sich mit amerikanischen Expatriates und französischen Musikern wie Claude Bolling oder Boris Vian an. Er schrieb für den britischen Melody Maker und produzierte 1953 mit Betty Slow Drag einen experimentellen Kurzfilm, der seine beiden großen Interessen Jazz und Film miteinander verbinden sollte. Für den Melody Maker berichtete Borneman auch über den Jazz in Westdeutschland, konnte aber, selbst als Joachim Ernst Berendt versuchte ihn mit zeitgenössischen Musikrichtungen der 1960er Jahre anzufreunden, indem er ihn in ein Konzert John Coltranes mitnahm, mit dem modernen Jazz wenig anfangen.

Siegfried widmet Bornemans langer Auseinandersetzung mit den karibischen Wurzeln des Jazz ein eigenes Unterkapitel und berichtet davon, wie der spätere Beat Club von Radio Bremen auf Bornemans Ideen zurückzuführen gewesen sei. Er zeigt, dass Borneman in seinen Schriften einige Debatten angestoßen hatte, die in der Jazzkritik erst in den 1960er Jahren wirklich ausgetragen wurden, als er selbst an dieser Diskussion nicht mehr selbst teilnahm. Letzen Endes mag Borneman nicht mit allen seiner Thesen Recht gehabt haben, ohne Zweifel aber sei er ein Wegbereiter der internationalen Jazzforschung gewesen.

Der Jazz spielt auch in den weiteren Lebens- und Arbeitsphasen für Borneman eine wichtige Rolle, und Bornemans kritischer Geist, den Siegfried am Beispiel des Jazz ausgiebig beschrieben hat, lässt sich auch in diesen Bereichen zeigen. Detlef Siegfrieds Buch ist dabei ein faktenreicher Band, der biographische Stationen und Diskurse, an denen Borneman beteiligt war, laufend miteinander verschränkt. Ganz sicher war Borneman einer der schillerndsten Vordenker des Jazz; Siegfrieds Schilderung sowohl seines Lebens als auch der Diskussionen, an denen sich Borneman sein Leben lang beteiligte, zeigt ihn aber darüber hinaus als einen vielseitig gebildeten, einfachen Erklärungen zutiefst skeptisch gegenüberstehenden, zur Offenheit des Denkens neigenden Forscher.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Teddy Wilson. 19 Selected Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2015 (Blue Black Jazz)
44,95 Euro

Boogie Woogie, Volume 2. 17 Original Boogie Woogie and Blues Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2014 (Blue Black Jazz)
46,85 Euro
Zu beziehen über www.blueblackjazz.com

Paul Marcorelles hat bereits eine ganze Reihe an Transkriptionen von Pianisten des frühen Jazz vorgelegt, vorzugsweise von Musikern, die im Stride- oder Boogie-Woogie-Stil spielten. Seine jüngsten Veröffentlichungen widmen sich dem Swing-Stil Teddy Wilsons auf der einen und dem Repertoire einiger der Boogie-Woogie-Größen der frühen 1940er Jahre auf der anderen Seite.

2015marcorelles_wilsonFür Teddy Wilson hat Marcorelles sich Soli zwischen 1934 und 1946 ausgesucht, schnelle virtuose Titel wie “Rosetta”, den “Tiger Rag” oder “When You and I Were Young, Maggie” sowie Balladen wie “Don’t Blame Me”, “Out of Nowhere” oder “Body and Soul”. Seine Transkriptionen sind exakt, gut lesbar, reine Notationen ohne weitere Spielanweisungen oder analysierende Harmoniesymbole. Sie sind zum Nachspielen gedacht, brauchen allerdings Pianisten, die zum einen keine Probleme mit den bei Wilson so beliebten Dezimengängen der linken Hand haben und zum zweiten technisch fortgeschritten sind, um die virtuosen Arpeggien und die die Rhythmik aufbrechenden Läufe tatsächlich zum Swingen zu bringen. Wilsons linke Hand allein kann jedem Pianisten helfen, die antreibende Kraft des Swingens zu begreifen. Auch das Studium seiner Voicings lohnt, deren Alterationen den Akkorden zusätzliche Schwebungen verleihen. Wie immer bei Transkriptionen von eigentlich improvisierten Jazzsoli ist es mehr als hilfreich, sich die Soli auf Platte (oder über Streamingdienste) anzuhören.

2015marcorelles_boogieIm zweiten der beiden jüngst veröffentlichten Bände versammelt Marcorelles Transkriptionen von Hersal Thomas (“Hersal’s Blues”), Clarence ‘Pinetop’ Smith (“Pinetop’s Boogie Woogie”), Jimmy Yancey (etwa den “Five O’Clock Blues”), Pete Ammons (z.B. “Rock It Boogie”), Meade Lux Lewis (“Chicago Flyer” und “Glendale Glide”), Albert Ammons (etwa seinen “Swanee River Boogie”), Sammy Price (133rd Street Boogie”) und Pat Flowers (“Eight Mile Boogie”). Die rhythmischen Verschiebungen zwischen Bassfiguren und rechter Hand im Boogie Woogie sind dabei noch weit schwerer zu “lesen” und bedürfen noch stärker des Höreindrucks, um sie danach vom Papier in die Tasten zu übertragen und erlauben im Idealfall – und das wäre es ja eigentlich immer im Jazz – irgendwann das Loslassen und das eigene Erfinden melodischer und rhythmischer Muster, die eigene Improvisation.

Marcorelles’ neue Bände seien jedenfalls jedem interessierten Pianisten empfohlen als Übe- genauso wie Studienmaterial. Marcorelles bietet auf seiner Website übrigens alle insgesamt 202 Transkriptionen dieser wie früher erschienener Bände auch einzeln zum Download als PDF-Datei an

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Hot Music, Ragmentation, and the Bluing of American Literature
von Steven C. Tracy
Tuscaloosa 2015 (The University of Alabama Press)
537 Seiten, 64,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8173-1865-9

2015tracySteven C. Tracy ist Literaturwissenschaftler, Professor für Afro-American Studies, aber auch ein Blues-Harp-Spieler, der bereits in Vorgruppen für B.B. King, Muddy Waters und andere Stars der Szene auftrat. In seinem umfangreichen Buch stellt er die afro-amerikanische Musik der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, also Jazz und Blues, als Referenzpunkt dar, der helfen könne, die amerikanische Literaturgeschichte jener Zeit besser zu verstehen. Es geht ihm dabei nicht einzig um Romane oder Dichtung, die sich konkret und thematisch mit Musik beschäftigen, sondern auch um den Einfluss von Klanglichkeit, von Virtuosität, von improvisatorischer Haltung auf die amerikanische Literatur der Jahre bis 1930. Er greift hierfür immer wieder zurück auf konkrete Aufnahmen, um etwa Beispiele der afro-amerikanischer Stimme, des afro-amerikanischen Rhythmus, der Griot-Funktion des Bluessängers, der Bedeutung von Wiederholungen, der tiefen Doppeldeutigkeit, der politischen Untertöne herauszustreichen, die eben keine rein afro-amerikanischen Untertöne seien, sondern Befunde für den Zustand der gesamten amerikanischen Gesellschaft. Tracy verbindet die Genres, folkloristischen Blues, modernistischen Jazz, um aus dem Mix der Aufnahmen heraus, auf die er sich bezieht, neue Argumente zu entwickeln, die abseits der üblichen Beschreibung von Jazz-, Blues- oder Kulturgeschichte liegen. Er untersucht daneben auch Film- oder klassische Musikgeschichte nach Einflüssen von oder Analogien zu afro-amerikanischer Musik und findet den nachhaltigsten Widerhall außerhalb der Musik schließlich in der Literatur, bei T.S. Eliot, William Carlos Williams, Hart Crane, Gertrude Stein, Ezra Pount, und bei Abbe Niles, Langston Hughes, Countee Cullen, Zora Neale Hurston und anderen Dichtern und Schriftstellern der Harlem Renaissance.

Tracys schnelle Wechsel zwischen den Diskursen sind dabei sowohl inspirierend wie auch, da sie ein häufiges Vor- und Zurückblättern erfordern, zeitweise ermüdend. Sein intertextueller Ansatz ist auf jeden Fall ein Beispiel, wie sich aus dem Studium afro-amerikanischer Musik Aussagen über weit mehr als diese treffen lassen, wie stark tatsächlich diese Musik bereits in den ersten 30 Jahren des 20sten Jahrhunderts ihren Niederschlag im Denken, Handeln und Schreiben gefunden hat.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Friedel Keim
Das große Buch der Trompete (3)
Diskografie, Fotografien, Statistik, Nachträge
Fortsetzung des Trompeter-Lexikons, Band 3
Mainz 2015 [Eigenverlag
554 Seiten, 33,90 Euro
nur direkt zu beziehen über
Friedel Keim, e-mail: ruf.keim@t-online.de

2015keimDer Ur-Maizer Trompeter Friedel Keim hat nach den ersten beiden Auflagen von 2005 und 2009 nun den dritten Band seiner Trompeterbibel vorgelegt, ein sorgfältig recherchiertes Kompendium, das die verschiedensten Seiten des Instruments und seiner Musiker beleuchtet und dessen Spektrum von Klassik über Jazz bis zur volkstümlichen Musik reicht.

Keim kennt dabei keine Berührungsängste. Er versteht es genauso, sich über die Kunst der Barocktrompete auszulassen wie über die Probleme, die viele Jazzer mit der Ästhetik eines Wynton Marsalis haben. Und neben den großen Stars finden auch die Satzbläser wieder Erwähnung oder Musiker der aktuellen Szene.

Der lexikalische Teil von Band 3 enthält biographische Artikel von A wie “Abbott, Goivinda” bis Z wie “Zonshine, Michael”. Neben diesen teils ausführlichen Portraits gibt es Anmerkungen zur Interpretation von Werken aus Klassik, Marschmusik und anderen Genres, darunter auch analytische Anmerkungen und Notenbeispiele aus dem Jazzbereich, etwa eine Transkription des “West End Blues” in der Version von Louis Armstrong und seiner Hot Five von 1928, Dizzy Gillespies “Night in Tunisia”, oder Maynard Fergusons Version von “Body and Soul”. Korrekturen und Ergänzungen zu den beiden ersten Bänden erhalten ein eigenes Kapitel, und wieder gibt es den Block “Wissenswertes rund um die Trompete”, der etwa Informationen über das “Gansch-Horn” gibt oder über das flexibrass-Mundstück, über die Vuvuzela oder über die Trompete auf historischen Briefmarken, über den Trompetenbaum oder diverse Filme, in denen die Trompete im Mittelpunkt steht. Schließlich findet sich noch ein umfassendes Kapitel zu Horst Fischer, jenem legendären deutschen Trompeter, dessen Prolog zu einer Autobiographie Keim abdruckt, außerdem eine alphabetische Auflistung aller ihm bekannter Fischer-Aufnahmen.

Wie bereits in den vorherigen Bänden findet sich auch in Band 3 vieles, was sonst kaum irgendwo erierbar wäre. Friedel Keim weiß um Geburts- und Sterbedaten, berichtet über die Stars, aber eben genauso über die “kleinen” Vertretern des Instruments, über Satzspieler oder junge Musiker, die durchaus auch zwischen den stilistischen Welten leben und arbeiten, über Dixieland- und Swingtrompeter, die eher der Amateur- als der Profiszene angehören, aber dennoch gute Musiker sind, über Musiker von denen man noch nie gehört hat oder aber auch Musiker, die man persönlich kennt, aber nie in einem Lexikon vermutet hätte, weil ihr Arbeitsschwerpunkt doch eher regional begrenzt ist. Keim hat sich ihnen allen angenommen mit einem Vollständigkeitsanspruch, der jede Kritik an der Auswahl im Keim ersticken ließe (man entschuldige das Wortspiel). Und gerade in den Einträgen zu den kleinen Vertretern der Trompete erkennt man einmal mehr die “labor of love” dieses Buches, das zu alledem noch exzellent lesbar ist. Kein kritisches Buch vielleicht, dafür ein verlässliches Nachschlagewerk für jeden, der sich für die Trompete interessiert: eine Trompeterbibel fürwahr!

(Wolfram Knauer, Februar 2016)


 

Mein Onkel Pö
von Holger Jass
Hamburg 2015 (Offline-Verlag)
137 Seiten, 25,55 Euro
ISBN: 978-3-00-051272-8

2015jassEinen ersten Hinweis auf den Inhalt dieses Buchs gibt bereits der Preis: 25,55 Euro, entsprechend einem Cent pro Nacht im legendären Club, wie Holger Jass in der Presseankündigung zum Buch erklärt. Holger Jass hatte das Onkel Pö (Onkel Pö’s Carnegie Hall, wie es damals offiziell hieß) Anfang 1979 vom Vorbesitzer Peter Marxen übernommen, der ihn bei der Übergabe warnte: “Ich muss dich warnen. Pö-Jahre sind wie Hundejahre. Die zählen siebenfach.” Jass hielt es bis Anfang 1986 aus, führte das “Pö” im Sinne seines Kultstatus’ weiter und hat jetzt ein kurzweilig-amüsantes Buch über seine Erlebnisse mit Musikern, Medienmenschen, Kollegen und dem Publikum geschrieben, das ihm die ganzen Jahre über treu blieb, aus dessen Reihen sich aber partout kein Interessent für eine Nachfolge finden ließ.

“Jetzt macht Jass den Jazz im Onkel Pö” titelte das Hamburger Abendblatt, als Jass 1979 übernahm. Sein Buch handelt natürlich auch von Jazz. Er beschreibt, wie Michael Naura, damals Jazzredakteur des NDR viele der Jazzabende mitschnitt, die sich das Pö ansonsten kaum hätte leisten können. Den Flügel im Club hatte kein geringerer als Joachim Kühn ausgesucht und eingeweiht. Ansonsten bevölkern Jazzer wie Freddie Hubbard, Elvin Jones, Pat Metheny, Dexter Gordon die Seiten, aber auch Tom Waits, Charlie Watts, Joe Cocker, Hannes Wader, Truck Stop und natürlich Udo Lindenberg, der dem “Pö” in einem seiner Hits ein Denkmal setzte.

“Bei Onkel Pö spielt ‘ne Rentnerband”, hieß es da, “seit 20 Jahren Dixieland” – aber mit Dixieland ließ sich so ein Schuppen nicht finanzieren, bilanziert Jass trocken … obwohl man das Wort “trocken” selbst bei einer Rezension dieses Buchs nicht in den Mund nehmen sollte, denn trocken ging es ganz sicher nicht zu im Pö. Auch davon handelt das Buch, von den skurrilen Erlebnissen mit den Musikern, vom gesteigerten Alkoholkonsum, vom Pflegen einer Szene und davon, dass man, um Wirt zu sein, ein dickes Fell und viel Humor benötigt. Pineau ist das Zauberwort, jene süßliche Mischung aus Traubenmost und Cognac, die Jass als Allheilmittel vieler Probleme genauso beschreibt wie als Ursache anderer. Seine Anekdoten machen klar, dass man als Wirt und täglicher Konzertveranstalter selbst nicht ganz ohne solche “Medizin” auskommt: ein divenhafter Auftritt Freddie Hubbards etwa oder jener Abend mit Dexter Gordon, den Jass allerdings erst aus drogenbedingtem Tiefschlaf im Hotel um die Ecke wecken musste, den er für seine 57 Jahre als “bös klöterich” beschreibt, der dann aber nach einem dreifachen Whiskey ein denkwürdiges Konzert gegeben habe.

Sehr viel tiefer geht es sicher nicht in seinen Erinnerungen, die er mit viel Augenzwinkern und der humorvollen Abgeklärtheit der zeitlichen Distanz schreibt, und bei denen man schon mal über die eine oder andere schlüpfrige Anekdote hinweglesen muss. Bei all denen, die dabei waren in diesem zwischen Alternativszene und Hochkultur angesiedelten Zauberort in Eppendorf, wird er warme Erinnerungen wecken. Man meint den Fusel wieder zu schmecken und die dicke Luft wieder zu riechen, vor allem aber erinnert man sich an die musikalischen Hochgenüsse, die das Onkel Pö so oft und so viel vermittelte. Für diejenigen, die nicht dabei waren, gibt Jass ein launiges Portrait, einschließlich etlicher Fotos, ein Portrait, das stellenweise einer Filmdokumentation über verwunschene Zeiten ähnelt, bei denen man eigentlich gern dabei gewesen wäre.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Rhythm Is My Beat. Jazz Guitar Great Freddie Green and the Count Basie Sound
von Alfred Green
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
325 Seiten, 75 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4246-3

2015greenCount Basies All American Rhythm Section gilt als die swingendste Rhythmusgruppe des Jazz. Die Art, wie Pianist Basie, Gitarrist Freddie Green, Bassist Walter Page und Schlagzeuger Jo Jones rhythmisch und harmonisch ineinandergriffen, um den vorwärtstreibenden Schwung zu schaffen, der zu ihrem Markenzeichen wurde, besaß so viel an Energie, dass Rhythmusgruppen überall auf der Welt sie zum Vorbild nahmen. Den wichtigsten Anteil an dieser Energie hatte, wie Basie selbst, aber auch zahllose andere Musiker bezeugen, Freddie Green, der dem Count Basie Orchester von 1937 bis zu Basies Tod im Jahr 1983 und der Band noch ein paar Jahre danach bis zu seinem eigenen Tod 1987 angehörte. Von Nichtmusikern wurde Green schon mal dafür bemitleidet, ein ganzes Leben lang nie ein wirkliches Solo gespielt, dafür immer nur “schrumm schrumm” gemacht zu haben, vier Schläge pro Takt, durchgehend vom ersten Akkord bis zum letzten; und doch ist ihm jemand kaum in der Kunst des Rhythmus nahegekommen, den dieser Vierschlag erzeugen konnte.

Jetzt hat Alfred Green, der Sohn des Gitarristen, eine Biographie vorgelegt, die weit mehr ist als die persönliche Erinnerung eines Verwandten. Greens Buch schafft den Spagat zwischen Insiderwissen, persönlicher Betroffenheit und nüchterner Beschreibung der Lebens- und Arbeitswirklichkeit eines Musikers der Bigbandära.

Die Geschichte beginnt in Charleston, South Carolina, wo Freddie Green 1911 geboren wurde, in einer Stadt mit einer überaus lebendigen schwarzen Musikszene. Nachdem er die erste Ukulele gegen ein viersaitiges Banjo ausgetauscht hatte, sammelte er erste musikalische Erfahrungen mit Freunden aus dem Jenkins Orphanage, einem berühmten Waisenhaus in Charleston, aus dem etliche spätere Musiker hervorgingen. Mit einer dieser Bands reiste er die Küste hoch bis nach Maine, wechselte irgendwann vom Banjo zur Gitarre und spielte mit dem Saxophonisten Lonnie Simmons und dem Stride-Pianisten Willie Gant. Als der Impresario John Hammond ihn hörte, empfahl er seinem Schützling Count Basie, sich den Gitarristen für sein Orchester zu sichern. Im Januar 1937 kam es zum Vorspiel erst in kleinem Kreis, dann mit der Bigband, und am 1. Februar begann sein mehr als 45-jähriges Engagement als Motor des Count Basie Orchestra.

Alfred Green erzählt nicht nur die Lebens- und Arbeitsstationen Greens, sondern nähert sich auch seinem Stil, fragt nach Einflüssen, erklärt die Besonderheit des Green’schen Sounds. Der Autor wurde im Februar 1938 geboren, im selben Jahr beendete seine Mutter ihre Beziehung zu seinem Vater, sicher auch, weil der inzwischen eine Romanze mit Billie Holiday begonnen hatte, die für kurze Zeit mit Basie reiste.

Green beschreibt die verschiedenen Besetzungen der Basie-Band der 1930er und 1940er, die Schwierigkeiten des Musikerlebens, und die zunehmenden Probleme der Musikindustrie, die schließlich dazu führten, dass Basie sein Orchester auflöste und kurze Zeit mit einem Sextett – ohne Gitarre – auftrat. Sein Vater nahm die Entscheidung nicht hin und tauchte einfach beim nächsten Gig des Sextetts mit seiner Gitarre auf. “Was machst du denn hier?”, fragte Basie, und Green antwortete, “Was glaubst du wohl? Du hast hier einen Gig, richtig? Ich habe dir die besten Jahre meines Lebens gegeben und du glaubst, mich einfach beiseiteschieben zu können? Keine Chance!”

Während die 1930er- und 1940er-Jahre-Band insbesondere ein Solistenorchester war, wurde der Sound der 1950er Jahre-Band durch ihre Arrangeure geprägt. Alfred Green berichtet, wie Green seinen Platz in den Arrangements fand, wie er sich zu den Schlagzeugern positionierte, und wie er seine Aufgabe immer als die eines Unterstützers der anderen gesehen habe.

Neben den Einsichten in Greens Karriere sind es vor allem die technischeren Kapitel, die im Buch faszinieren. Alfred Green beschreibt etwa die Spannung der Saiten, die besondere Haltung, die Green benutzte, bei der sein Instrument fast auf seinem Schoß lag, spricht über die Tatsache, dass Green kaum je mit nicht-akkordischen Soli zu hören war, über seine wenigen Aufnahmen unter eigenem Namen, über Gigs für andere Bandleader und anderes mehr.

Einem dicken Block mit seltenen Fotos folgen schließlich noch Analysen von Michael Petterson, M.D. Allen und Trevor de Clerq sowie Zitate anderer Gitarristen über Green, schließlich eine ausführliche Diskographie aller seiner Aufnahmen.

Es gibt eine Reihe an Büchern über das Count Basie Orchester, darunter natürlich auch Basies eigene Autobiographie, verfasst mit Hilfe Albert Murrays. Keines dieser Bücher aber bietet einen so persönlichen Einblick in die Band wie das Buch Alfred Greens über seinen Vater. Der Gitarrist Freddie Green war wahrscheinlich der wichtigste Musiker des Basie Orchesters, der nicht nur für den durchgehenden Swing und eine rhythmische Verlässlichkeit stand, sondern der Band auch, was oft übersehen wird, ihren ganz spezifischen Sound verlieh, der sie aus der Menge ihrer Konkurrenten auf dem großen Bigbandmarkt hervorhob. Greens Buch gelingt in diesem Umfeld gleich dreierlei: Er schreibt eine Biographie des Gitarristen Freddie Green, er erzählt Details aus der Bandgeschichte Count Basies (und damit aus dem Alltag der Swingära), und er teilt sehr persönliche Erinnerungen an seinen Vater mit dem Leser.

Ihm gelingt dabei der schwierige Spagat, Beobachter und Sohn zur selben Zeit zu bleiben. Zu Beginn liest sich das alles wie eine interessante, aber eher distanzierte Lebensdarstellung, bis Green aus einem Gespräch zitiert, das er mit seiner Mutter geführt hatte, und bei dem einen schlagartig klar wird, dass der Autor ja Sohn des Objekts seines Berichts ist, dass er mit dem Wissen eines Familienglieds, sicher auch mit eigener Betroffenheit schreibt. Solche Perspektivwechsel gelingen ihm hervorragend, wie man in etlichen bewegenden Passagen erkennen kann. Green verschweigt macht aus seinem Vater nirgends einen Heiligen, sondern stellt ihn als Menschen dar, der nach dem Besten strebte, aber durchaus fehlbar war.

“Rhythm Is My Beat” ist ein sehr empfehlenswertes Buch, über Freddie Green, über Count Basie, über die Swingära und vieles mehr. Alfred Greens Buch gibt einen tieferen Einblick als vieles, was man sonst so liest zu diesem Thema und ist eine spannende Lektüre für Fans, genauso wie für Musiker oder Forscher über diese Musik.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Keith Jarrett. Eine Biographie
von Wolfgang Sandner
Berlin 2015 (rowohlt)
362 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-780-1

2015sandner“Mit freundlichen Künstlern ist die Welt nicht gesegnet”, beginnt Wolfgang Sandner sein Buch, das er mit Wohlwollen des Pianisten angegangen war, bis er mit diesem nach einem Konzert aneinandergerieten sei, weil es Jarrett nicht gefallen habe, dass Sandner sein “Köln Concert” als einen seiner größten Erfolge bezeichnete. “Das Ende eines Dialogs eröffnet jedoch auch eine Chance”, befindet Sandner. In der Folge nämlich habe er sich noch stärker auf die Musik konzentrieren müssen. Das Ergebnis ist ein Buch, das der Musik Jarretts als eines Künstlers gerecht wird, der seine Kraft aus der Improvisation des Jazz zieht, dessen Wirkung aber weit über dieses Genre hinausreicht.

Keith Jarrett wurde am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren, und Sandner sieht diesen Tag, Kriegsende, als symbolträchtig für die Jahrhundertkarriere des Pianisten. Ohne Europa, das durch den Krieg noch mehr für die Qualitäten des Jazz sensibilisiert war, erklärt Sandner, wäre Jarretts Karriere einerseits so nicht möglich gewesen, auf der anderen Seite habe Jarrett immer tief in den Traditionen der amerikanischen Avantgardeästhetik gestanden, in der Tradition auch eigenbrötlerischer Künstler wie Lou Harrison und Alan Hovhaness, deren Werke er Anfang der 1980er Jahre in Europa uraufführte.

Sandner zeichnet die Kindheit Jarretts in Allentown nach, die Erkenntnis seines Talents, das Trauma der Trennung seiner Eltern, dem er mit dem Rückzug in die Musik begegnete, und die musikalischen Bemühungen seiner Brüder. Jarrett spielte mit lokalen Bands, besuchte Workshops, gewann ein Stipendium fürs Berklee College, mit dessen die Musik eher regulierenden als zur Kreativität ermutigendem Lehrplan er allerdings wenig anzufangen wusste. Da war die Schule von Art Blakeys Jazz Messengers schon eine andere, in denen Jarrett ab Herbst 1965 für vier Monate mitwirkte. Von Blakey wechselte er in die Band des Saxophonisten Charles Lloyd, dem er durch dessen Schlagzeuger Jack DeJohnette empfohlen worden war. Lloyds Quartett war “die erste Supergroup des Rockjazz”, und Sandner hört sich sowohl dessen Studio- wie auch die Liveaufnahmen an. 1967 gründete Jarrett sein erstes Trio mit Charlie Haden und Paul Motian, und als ihm Miles Davis 1969 zum wiederholten Mal anbot, in seiner Band mitzuwirken, sagte Jarrett zu, obwohl Miles mit Herbie Hancock und Chick Corea bereits zwei Pianisten in der Band hatte. Bei Miles musste er elektronische Keyboards und Orgel spielen, Instrumente, die ihm eigentlich zuwider waren. Zugleich setzte er sich noch mehr mit Klang auseinander, mit dem Sound der Instrumente, die er zu bedienen hatte genauso wie den Soundmöglichkeiten der Band, die für Miles im Mittelpunkt seiner “musikalischen Großräume, Klangkunstwerke” standen.

Ein eigenes Kapitel widmet Sandner der Partnerschaft zwischen Keith Jarrett und Manfred Eicher, der weit mehr war als ein Labelgründer und Plattenproduzent. Jarrett stand Anfang der 1970er Jahre eigentlich bei ABC unter Vertrag, ihm wurde aber erlaubt, Produktionen mit “ernster Musik” und ähnliche Aufnahmen ohne Gegenleistung anderswo einzuspielen, das könne sein Ansehen schließlich nur steigern. Dass Jarretts Aufnahmen für Eichers Edition of Contemporary Music zum Zugpferd für das Label ECM werden sollten, hatte niemand vorhergesehen. Im November 1971 also ging Jarrett erstmals in Oslo ins Studio und produzierte mit “Facing You” die erste von bis heute 28 Solo-Produktionen für Eicher, ein Album, das sowohl Jarretts Ruf als Solopianist begründete als auch Eichers Ruf als einer der offenohrigsten Produzenten des Jazz. Sandner erklärt, was die Partnerschaft und das Vertrauen der beiden zueinander begründe, die Tatsache etwa, dass Eicher selbst Musiker sei oder dass sein Interesse neben dem Jazz auch anderen Formen von Musik (oder Literatur oder Kunst oder Film) gelte. Eicher, schlussfolgert Sandner auch nach dem Gespräch mit anderen ECM-Künstlern, sei bei vielen seiner Produktionen der “dritte Mann”, auch wenn man ihn weder sehe noch höre.

Es gäbe etliche Musiker und Musikliebhaber, warnt Sandner schon im Vorwort seines Buchs, die meinen, über Musik solle man nicht so viel schreiben, da diese das Wesentliche doch eh in sich berge. Und dann tut er genau das, kongenial, so nämlich, dass seine Zeilen die Musik zwar heraufbeschwört, aber nirgends zu ersetzen trachtet. Über Jarretts Klavierspiel etwa schreibt er, man könne vielleicht die verschiedenen Techniken benennen, die seinen Personalstil ausmachten, komme dabei aber vor allem an einem Charakteristikum nicht vorbei, das Sandner die “Konzentration aufs Wesentliche” nennt und das er in Jarretts musikalischem Ansatz genauso findet wie in seiner Wahl der Mitmusiker oder in der klaren Gliederung seines Repertoires in Standards, eigene Kompositionen und freie Solo-Improvisationen.

An anderer Stelle verfolgt er Jarretts Vervollkommnung der authentisch-eigenen Stimme. Er betrachtet die Aufnahmen seines amerikanischen Quartetts mit Dewey Redman und seines europäischen Quartetts mit Jan Garbarek, beschreibt, was an diesen Aufnahmen so besonders sei, obwohl sie doch weder einen unerhörten Klang hervorbrächten noch eine neue Form oder eine außergewöhnliche ästhetische Haltung. Er nennt Jarrett einen “Solist ohne Grenzen”, verfolgt die unterschiedlichen pianistischen Ansätze, die der Künstler über die Jahre entwickelte. Und Sandner ist wie wenige deutsche Autoren ein Meister darin, Musik mit Worten näher zu kommen. Ein Beispiel: Über Jarretts Album “Staircase” schreibt er: “Alles, was Jarrett in den elf Stücken erklingen lässt, besitzt Körperlichkeit. Es gibt keine flachen Töne, nur runde, eckige, kubusartige, voller Tiefenschärfe. Wenn ein Ton verklingt, wird er nicht nur leiser, er verschwindet wie in einem Tunnel, verliert nicht nur sein Volumen, sondern wird augenscheinlich kleiner.” Er benennt die Beziehungen zwischen Jarretts Aufnahmen an der Barockorgel in Ottobeuren und seiner Suche nach Klangfarben einerseits und ähnlichen Suchen europäischer oder amerikanischer Komponisten andererseits, nicht aber, um daraus Einflüsse abzuleiten, sondern um zu zeigen, dass Jarrett sich da inmitten eines breiten Diskurses befindet, in dem seine eine gewichtige Stimme ist.

Zwischen ausführliche Beschreibungen der diversen Plattenprojekte streut Sandner aber auch Informationen über die Selbstzweifel des Künstlers, über persönliche und geschäftliche Krisen, über Rückenschmerzen und das chronische Erschöpfungssyndrom, dass Jarrett für einige Jahre aus dem Verkehr zog. Er beschreibt, wie all diese außermusikalischen Ereignisse ihren Widerhall in Jarretts Musik fanden. Nach seiner Genesung, fasst Sandner zusammen, sei Jarrett ” praktisch nicht mehr in ein Aufnahmestudio zurückgekehrt. Mit Ausnahme einer Duo-Aufnahme mit Charlie Haden und einer Einspielung von Bach-Sonaten für Violine und Klavier sind alle Aufnahmen danach bei Live-Auftritten entstanden.”

Natürlich nimmt das “Köln Concert” ein wichtiges Kapitel seines Buchs ein. Sandner beschreibt die bekannt widrigen Umstände des Konzerts, Rückenschmerzen, ein schlecht intoniertes Instrument, ein Stutzflügel, den die Bühnenarbeiter statt des eigentlich geplanten Bösendorfer Imperial auf die Bühne gestellt hatten, und er erzählt, wie Jarrett aus all diesen Widrigkeiten über sich herauswuchs, die Beschränkungen des Instruments zu Stärken seiner Aufnahme machte. Das “Köln Concert” wurde zu einem Riesenerfolg bei Kritik und Publikum gleichermaßen, und selbst der Perfektionist Jarrett musste später zugeben, dass die Ideen, “diese Klangfarben und diese Stimmführungen”, die auf der Aufnahme zu hören sind, schon einzigartig waren.

In weiteren Kapiteln seziert Sandner die Herangehensweise Jarretts an die Standards des American Popular Song, die er zusammen mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette ab 1983 einspielte und bald auch bei Konzerten spielte, seine Einspielungen klassischer Musik von Bach bis Lou Harrison, sowie Jarretts eigene Kompositionstätigkeit, die sich keinesfalls in der Komposition von Themen für eigene Improvisationen erschöpfte.

Sandners letztes Kapitel heiß “Einspruch” und ist unter all den lesenswerten Kapiteln dieses Buchs vielleicht das lesenswerteste. Sandner beginnt mit einer Eloge auf den kreativen Schöpfer, auf das Genie Keith Jarrett, um dann die Reaktion hervorzuheben, mit der Jarrett so oft, auf so vieles, reagiert, seine “Manie, etwas abzulehnen”. Der wichtigste Einspruch Jarretts gelte dabei musikalischen Trends, kurzlebigen Moden oder selbsternannten Kanonikern. Sandner findet diese Veto-Haltung auch im Klavierspiel des Meisters selbst, das “allen Regeln der traditionellen Klavierkunst widerspricht und wirkt, als sei das Instrument weniger ein Partner, vielmehr ein Gegner, den man bezwingen müsse, bisweilen mit List und Tücke, bisweilen mit tänzerischem Ablenkungsmanöver, manchmal mit brachialer Gewalt, nicht selten aber, indem man sich den Flügel einverleibt, mit ihm verschmilzt.” Es ist dieses Eins-Sein mit seiner Musik, das Jarrett auch außerhalb der Jazzanhängerschaft Wirkung verschafft hat. Henry Miller schrieb ihm einen Brief, nachdem er das “Köln Concert” gehört hatte, Sergiu Celibidache und Marcel Reich-Ranicki zeigten sich begeistert. Sandner argumentiert aber auch, dass diese Verweigerungshaltung neben seinen künstlerischen Entscheidungen auch Jarretts problematisches Bühnenverhalten beeinflusst habe, seine gelegentlichen Publikumsbeschimpfungen, die, wie Sandner schreibt, fast schon zum Ritual geworden seien, das Voyeure unter den Hörern erwarten oder gar herausfordern.

Wolfgang Sandners Buch gelingt es, der Musik Keith Jarretts nahe zu kommen, gerade, weil er sich, wie er im Vorwort erklärt, mit dem Künstler entzweit hat. Sandner besitzt den Überblick nicht nur über Jarretts Schaffen und nicht nur über die Jazzgeschichte, aus der heraus Jarretts Kunst kommt, sondern über die gesamte Kulturgeschichte, in die hinein Jarretts Musik wirkt. Es gelingt ihm, die verschiedenen Positionen zu definieren, die sich in der Musik und ihrer Rezeption widerspiegeln: die musikalische, ästhetische und wirtschaftliche Position Jarretts zu verschiedenen Zeiten, die Position der Labels, der Agenten, der Produzenten, die Position Manfred Eichers, die Position der Kritiker und des Publikums, und nicht zuletzt auch seine eigene Position, die Position Wolfgang Sandners. Dass er aus eigener Begeisterung heraus schreibt, lässt er nicht unerwähnt. Er bezeichnet Jarrett wiederholt als “Genie”, nennt ihn den größten Musiker, der je aus Allentown kam. Doch dient diese eigene Positionsbestimmung letztlich auch dem Vertrauen, das wir als Leser in Sandners Wertung der Musik haben können. Er lässt uns klar wissen, wo er als Autor steht, und so können wir viel leichter unsere eigene Position beziehen, überdenken, revidieren. Wolfgang Sandner ordnet Jarretts Aufnahmen dabei nicht nur in Jazz-, Musik- und Kulturgeschichte ein, er verleitet zum neuen, zum tieferen Hören, und er ermöglicht ein Verständnis – im besten Sinne des Wortes – über die Grenzen des emotionalen Hörens hinaus.

Wolfram Knauer (Dezember 2015)

Nachtrag Februar 2021:

Keith Jarrett. A Biography
by Wolfgang Sandner, translated by Chris Jarrett
Sheffield 2020 (Equinox)
215 Seiten. 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-800500129

Sandners Jarrett-Biographie ist inzwischen auf Englisch erschienen, übersetzt von keinem Geringerem als Jarretts Bruder, dem in Deutschland lebenden Pianisten Chris Jarrett. Für die englische Ausgabe hat Sandner seinen früheren Text erweitert und aktualisiert, hat neuere Aufnahmen und neue Veröffentlichungen aus früheren Jahren berücksichtigt und neue Erkenntnisse über Jarretts familiären Background geteilt. Mit dem Abschied Jarretts von der Bühne im vergangenen Oktober scheint auch seine Karriere abgeschlossen. Sandners Buch vertieft das Wissen und ermuntert zum Nachhören – jetzt vielleicht etwas wehmütiger als bei der ersten (deutschen) Lektüre vor sechs Jahren.


 

Als der Jazz nach Kassel kam. Streifzüge durch die Szene der ersten Nachkriegsjahre
von Ulrich Riedler
Berlin 2015 (B&S Siebenhaar Verlag)
104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN: 978-3-943132-39-7

2015riedlerDie großen Jazzmetropolen – Berlin, Hamburg, Köln, München – sind weitgehend dokumentiert. Auch für kleinere Städte haben sich Historiker und Hobbyhistoriker der Aufbereitung der Jazzgeschichte angenommen. Das kann schon mal seltsam wirken, wenn Provinzzentren wie der Mittelpunkt der Welt erscheinen, wo sie doch meist nur Durchgangsstationen für aufstrebende spätere oder etablierte, sich auf Tournee befindende Jazzstars waren. Tatsächlich aber sind regionalen Szenen bis heute wichtige Brutstätten künstlerischer Ideen, auch wenn viele der Musiker, die hier ihre Anfänge nehmen, irgendwann in die großen Zentren abwandern, in Städte mit bedeutenden Hochschulen etwa oder in solche mit einer lebendigen, großen Jazzszene.

Das nordhessische Kassel, in der Mitte der Republik, und doch kulturell vor allem durch die Brüder Grimm und die documenta bekannt, besitzt bis heute eine lebendige Szene, verschiedene Spielorte für Jazz und improvisierte Musik, und ein langjähriges Festival. Die alle fünf Jahre stattfindende documenta bringt es mit sich, dass die Bürger der Stadt sich sehr bewusst mit ästhetischen Diskursen der Avantgarde auseinandersetzen.

Der Journalist und Jazzfan Ulrich Riedler hat sich in seinem Buch auf die Suche nach den Anfängen des Jazz in der nordhessischen Stadt gemacht und diese im Frühjahr 1940 entdeckt, als sich junge Jazzfreunde im Gasthaus “Ledderhose” trafen, wo sie gemeinsam die neuesten Platten hörten. Irgendwann rückte die Gestapo ihnen auf den Leib, nahm die Jungs mitsamt ihrer Schellackschätze mit und unterzog sie einer gründlichen Befragung. Die Jazzfans wurden bald wieder entlassen, und einer von ihnen kann Riedler nicht nur von damals berichten, sondern ihm sogar noch die kurzfristig konfiszierten Platten zeigen. Die “Ledderhose” blieb auch nach dem Krieg ein Jazztreffpunkt, in dem die Mitglieder zu Platten tanzten, ab und zu aber auch selbst zum Instrument griffen.

Die 1950er Jahre dokumentiert ein Gespräch mit dem späteren Spiegel-Redakteur Alfred Nemeczek, von dem Riedler außerdem einen Bericht über das Jazzkontor Kassel aus dem Jahr 1959 andruckt, den Versuch, in Nordhessen einen Liveclub nach Vorbild des Frankfurter Jazzkellers zu etablieren. In den 1950er Jahren begannen die ersten amerikanischen Stars Deutschland zu erobern. Kassel erlebte Konzerte von Duke Ellington, Louis Armstrong, Lionel Hampton oder der Jam-Session-Truppe Jazz at the Philharmonic mit Ella Fitzgerald und vielen anderen.

Einer der Stammgäste der Kasseler Jazzszene war damals der Trompeter Manfred Schoof, der zwei Jahre an der Kasseler Musikakademie studierte, bevor er nach Köln weiterzog. Riedler spricht mit ihm über die Jazzszene jener Zeit, über Musiker und Musikerlegenden der Region, unter anderem den Tenorsaxophonisten Werner Apel, den, wie man sich erzählt, sogar Duke Ellington verpflichten wollte, weil er ihn bei einer Jam Session so beeindruckt habe, und natürlich auch über die GI-Clubs, in denen Schoof die amerikanische Kultur erst richtig kennenlernte.

Die Amerikaner waren im Stadtteil Rothwesten in Fuldatal stationiert und engagierten über die Special Service Agencies jede Menge deutscher Musiker für die Unterhaltung in den verschiedenen Clubs. Riedler blickt auf Orte, aufs Repertoire, auf das Jazzprogramm des örtlichen Amerika-Hauses, beschreibt aber auch andere Veranstaltungsorte der Stadt, deren Programm großteils von Vereinen organisiert, zum Teil auch von der Stadt unterstützt wurde. Er erzählt, wie Arnold Bode, der Vater der documenta, von der Band des Vibraphonisten und Gitarristen Fritz Bönsel so angetan war, dass er im Landesmuseum ein Konzert veranstaltete, das den Jazz endgültig in der Stadt etablierte.

Die Jazzszene jener Jahre beinhaltete traditionelle genauso wie moderne Stile, und so beschreibt auf der einen Seite die Dixieland-Szene der 1950er und 1960er Jahre mit ihren Riverboatshuffles und dem musikalischen Versuch, dem Original so nah wie möglich zu kommen, auf der anderen Seite aber auch, wie andere Musiker, Schoof und Gunter Hampel unter ihnen, dem modernen Jazz in Kassel zu Gehör verhalfen. Und schließlich spricht er mit dem Pianisten Joe Pentzlin, dessen Trio quasi die Hausband des Jazzclubs in der Orangerie gewesen war.

In einem abschließenden Kapitel schlägt Riedler einen knappen Bogen in die Regenwart, zu Musikern wie Matthias Schubert und Ernst Bier, die entweder aus Kassel stammen oder aber hier über längere Zeit Station machten und die Szene der Stadt mitprägten.

Riedlers Buch ist nicht als historische Dokumentation gedacht, denn vielmehr als eine flüssig zu lesende Erinnerung an die 1940er bis 1960er Jahre, ein liebevoll bebildeter Band über die Jazzszene in der deutschen Provinz, die – ähnlich wie die Szenen vieler anderer Städte mittlerer Größe – überaus lebendig war. Die Lektüre macht dem Leser deutlich, dass der Diskurs über den Jazz als aktuelle Kunstform nicht nur in den Metropolen stattfindet.

Wolfram Knauer (November 2015)


 

Music Wars 1937-1945. Propaganda, Götterfunken, Swing. Musik im Zweiten Weltkrieg
von Patrick Bade
Hamburg 2015 (Laika Verlag)
511 Seiten, 34 Euro
ISBN: 978-3-944233-41-3

Sounds of War. Music in the United States during World War II
von Annegret Fauser
New York 2013 (Oxford University Press)
366 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-994803-1

Victory Through Harmony. The BBC and Popular Music in World War II
von Christina L. Baade
New York 2012 (Oxford University Press)
275 Seiten, 31,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-537201-4

2013fauser Musik war immer schon kriegswichtig. Ob zum Anfeuern der Truppen im Marschrhythmus, ob zum Mobilmachen der Bevölkerung durch patriotische Hymnen, ob als Beruhigung und Selbstbestätigung, ob als Instrument der psychologischen Kriegsführung oder sogar als Foltermethode: Krieg ist ohne Musik – so seltsam diese Idee auch scheinen mag – kaum vorstellbar.

Drei kürzlich erschienene Bücher untersuchen die Rolle der Musik im Zweiten Weltkrieg. Der britische Historiker Patrick Bade berichtet über die verschiedenen musikalischen Strategien und Funktionen direkt vor Ort, in den Gebieten, in denen der Krieg tobte oder die am Krieg beteiligt waren, Frankreich, Deutschland, den USA, Russland, Großbritannien, dem nördlichen Afrika und dem Mittleren Osten. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Annegret Fauser beschränkt sich in ihrem Buch auf die klassische Musikszene in den Vereinigten Staaten. Die britische Musikhistorikerin Christina Baade schließlich untersucht, wie der BBC in den Kriegsjahren auf Jazz, Tanz- und Popmusik gesetzt habe, um die Moral der gesamten britischen Öffentlichkeit in den Kriegstagen zu stärken. Baades Studie gibt dabei einen Einblick in Programmentscheidungen eines öffentlichen Rundfunksenders und thematisiert, inwieweit die Öffnung des Senders für Jazz und amerikanische Popmusik auf Widerstände gestoßen sei. Fausers Fokus liegt auf der “concert music”, also der klassischen Musik, und im Umschlagtext heißt es, dass Dinah Shore, Duke Ellington und die Andrews Sisters vielleicht die Zivilisten zuhause und die Soldaten in Übersee unterhalten hätten, es tatsächlich aber vor allem die klassische Musik gewesen sei, die die Menschen für die Kriegsanstrengungen mobilisiert habe. Patrick Bade schließlich wagt den Rundumschlag, lässt also auch die sogenannte leichte Muse, Swing und Jazz, nicht aus. Während er dabei neben dem klassischen Repertoire und dem Swing auch einen Blick auf die Funktion von Radio, Film und Plattenindustrie wirft, außerdem in einem langen Kapitel Kriegslieder aus unterschiedlichen Ländern ins Visier nimmt, finden man in Fausers Buch Informationen über Musiker in der Armee, Auftragskompositionen für den Kriegseinsatz, ein Kapitel über Musik als Beruhigung der Bevölkerung und als Therapie für traumatisierte Soldaten sowie eines über die vielen Exilkomponisten, die durch den Krieg in den USA strandeten. Christina Baade schließlich diskutiert in ihrem Buch auch das Thema von Tanzmusik und Maskulinität, die Sorge um den Erfolg der amerikanische Popmusik und die Verdrängung eigener Traditionen, und die Bedeutung von Rundfunkprogrammen, in denen afro-amerikanische Musik in den Mittelpunkt gestellt wurden, für schwarze britische Musiker. Bei allen drei Autor/innen finden sich Diskussionen der Zuschreibung moralischer Qualitäten zur Musik, der Grundlage letzten Endes dessen, was in den USA später zur “cultural diplomacy”, zur Kulturdiplomatie werden sollte.

2012baadeFür Christina Baades Argumentationslinie spielt der Jazz eine zentrale Rolle; ihr Buch erlaubt dabei Rückschlüsse auf Entwicklungen des Nachkriegsjazz in Großbritannien, einschließlich der Hinwendung vieler junger Musiker insbesondere zu traditionellen Jazzstilen. Patrick Bade hat neben einem Kapitel über Jazz und Swing im Dritten Reich, in dem er auch auf das Phänomen der Propagandaband Charlie and His Orchestra eingeht, ein eigenes Kapitel über Musik im Feldlager, im Gefangenenlager und im Konzentrationslager. Fauser wiederum diskutiert in ihrem Buch ausführlich musikalischen Ausdruck von Nationalismus, etwa in Werken von Aaron Copland und Roy Harris.

Patrick Bade gibt am Schluss seines Buchs einen Ausblick auf die Nachwirkungen, erzählt etwa, dass Wagner im Bayreuther Festspielhaus kurzzeitig Cole Porter weichen musste, berichtet, wie Sänger/innen und Musiker/innen nach dem Krieg mit ihrer Karriere im Dritten Reich konfrontiert wurden oder diese sehr bewusst aus ihrer Biographie ausblendeten. Er endet mit dem kurzen Hinweis auf Werke, die sich bis ins 21ste Jahrhundert hinein mit den Gräueltaten des Kriegs auseinandersetzen. Christina Baades Buch endet mit der Ankunft der amerikanischen Truppen im August 1944 und der Entscheidungen des BBC, die auch die amerikanischen GIs mit ihrem Programm unterhalten wollte. In der Folge kam es zu einer Diskussion der Vermischung musikalischer Werte in der populären und Tanzmusik, über “Britishness” oder “Pseudo-American”. Ihr Buch verweist zwischen den Zeilen immer wieder, etwa Kapiteln über das vom Rundfunk mitgeprägte Bild der Frau oder im Versuch, die Ausstrahlung von Musik männlicher übersentimentaler Schlagersänger im Rundfunk zu unterbinden, auf Diskurse, die auch nach dem Krieg weitergingen und auf die letzten Endes BBC-Programmentscheidungen großen Einfluss hatten. Bei Fauser geht der Blick in die Nachkriegszeit über John Cage, dessen experimentelle Ideen sie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren verortet. Sie verweist darauf, dass Cage und seine Zeitgenossen ihre Lehren aus den Erfahrungen des Kriegs gezogen hätten, sich nach Ende des Kriegs von ihren nationalistischen Kompositionen distanziert oder aber diese in neue Werke integriert hätten.

2015badeZusammengefasst bietet Patrick Bade im breiteren Ansatz seines Buchs eine Art Rundumschlag über das Thema. Christina Baade wirft Licht auf die Verflechtungen zwischen Musik, Musikindustrie, öffentlicher Meinung und Publikumsgeschmack. Fausers Studie schließlich hätte von einer Erweiterung ihres Schwerpunkts vielleicht profitiert. Fauser begründet ihren eingeschränkten Blick im Vorwort damit, dass die Jazz- und Popmusikszene jener Jahre ja schon ausgiebig genug untersucht worden sei, während Forschungen zur klassischen Musik im Krieg weitgehend fehlten, vergibt sich damit aber die Chance einer differenzierten Darstellung, was vielleicht – nehmen wir einmal an, dass der Einband-Text vom Verlag und nicht von ihr stammte –, eine wertende Aussage wie die, dass Jazz und Popmusik die Bürger zuhause und die GIs in Übersee vielleicht unterhalten hätten, es aber die klassische Musik gewesen sei, die den wirklichen Unterschied gemacht habe, verhindert hätte.

Von solchen Anmerkungen abgesehen, haben alle drei Bücher ihre Meriten. Sie helfen bei der Kontextualisierung von Musikgeschichte in der späten ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, die letzten Endes Auswirkungen auch darauf hatte, wie Musik heute klingt und wie wir sie wahrnehmen.

Wolfram Knauer (Oktober 2015)


 

 

Giving Birth to Sound. Women in Creative Music
herausgegeben von Renate Da Rin & William Parker
Köln 2015 (Buddy’s Knife)
294 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-00-049279-2

2015darinVielleicht müsste am Anfang dieser Rezension erklärt werden, welchen Weg die Bücher durchlaufen, die im Jazzinstitut Darmstadt anlangen. Bevor wir uns die Bücher aussuchen, die wir rezensieren wollen, erfassen wir sie in unserem Jazz Index, einer computergestützten bibliographischen Datenbank, die von Forschern und Journalisten (und Fans) aus aller Welt genutzt wird. Das heißt, wir gehen das Buch von vorn bis hinten durch, ordnen jedes einzelne Kapitel einem Stichwort oder einem Musikernamen zu, tragen biographische Notizen wie etwa Geburtstag oder Geburtsort, nach, sofern sie in unserer Datenbank noch fehlen. Erst dann machen wir uns ans Lesen.

Aber schon bei diesem ersten Schritt des Erfassens fiel einiges auf beim Buch “Giving Birth to Sound”. Etliche der darin befragten Musikerinnen waren nämlich noch gar nicht in unserer Datenbank erfasst oder aber nur mit relativ kurzen bibliographischen Listen. Über sie wurde in der Jazzpresse bislang also nur wenig berichtet. Nun ja, mag man meinen, das hat sicher auch damit zu tun, dass Frauen ja so richtig erst in den letzten Jahren ins Rampenlicht des Jazz getreten sind. Weit gefehlt aber, und das war die zweite Überraschung: Viele Musikerinnen, die im Buch zu Worte kommen, gehören nämlich gar nicht der jungen (sagen wir: unter 40-jährigen) Generation an, sondern sind weit länger auf der Szene unterwegs. Die Gründe für ihre Unsichtbarkeit in der Jazzpresse mögen also doch woanders liegen.

Eine dritte Erkenntnis, die sich beim Durchblättern schnell ergibt, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Jede der Musikerinnen hat einen völlig anderen Zugang zum Thema. Mal analytisch, mal diskursiv, mal ausweichend, mal ablehnend, mal nüchtern gefasst, mal poetisch überhöht, mal kämpferisch, mal verteidigend. Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich schon in den Überschriften der Kapitel, die Renata Da Rin und William Parker aus der Frage “Was bedeutet Musik für Dich” abgeleitet hat. “Jeder Sound und jede Stille”, antwortet Renée Baker; “die Gründe für mein Leben”, sagt Amy Fraser; “ein abstrakter Ort, um das Leben zu teilen und zu fühlen”, meint Marilyn Mazur; “ein Lager der Erinnerungen”, findet Shelley Hirsch, “Leben, Magie, Geist”, beschreibt Maggie Nicols, oder aber, so Erika Stucky, “serious fun – a ‘Schnaps'”.

Oder aber die Einleitung: Nach dem Vorwort von Amina Claudine Myers haben die Herausgeber eine Anzahl von Reaktionen auf den Buchtitel zusammengefasst. “Giving Birth to Sound”? Schrecklicher Titel: Frauen wurden schließlich immer wieder aufs Gebären reduziert, meint eine der Gesprächspartnerinnen, während eine andere findet, der Titel passe, sei auch angenehm mehrdeutig. Naja, und bei allen Bedenken spräche der Titel ja auch vom Schaffen von etwas Neuem. Blödsinn, widerspricht eine weitere Stimme, Gebären sei doch eine passive, rein physische Tätigkeit, jede Kuh könne das. Musik zu erschaffen sei dagegen ein aktiver intellektueller Prozess und damit das exakte Gegenteil.

Das Konzept des Buchs: Ohne weitere Vorgaben schickten die Herausgeber den 48 Musikerinnen 20 Fragen, die vom Faktischen zum Nachdenken über den Prozess des Kreativen gehen, sich dabei immer wieder danach erkundigen, inwieweit das eigene Geschlecht bei musikalischen, ästhetischen oder beruflichen Entscheidungen eine Rolle gespielt habe. Tatsächlich sind nur sechs der Fragen konkret aufs Frau-Sein der Musikerinnen abgezielt: Wie hast Du deine Kreativität als kleines Mädchen ausgelebt? Wie hat die Tatsache, dass Du eine Frau bist, die Entwicklung Deiner musikalischen Karriere behindert? Wie siehst Du Deine Position als Frau in der Musikszene? Hat diese Position Dein Verhältnis zum Sound beeinflusst? Siehst oder spürst Du einen Unterschied im weiblichen und im männlichen Ansatz an Kreativität? Was würdest Du anderen / jungen Frauen empfehlen, die sich bemühen ein kreatives Leben zu führen?

Die Antworten auf diese und allgemeiner gehaltene Fragen fallen so unterschiedlich aus wie die Lebenswege der 48 Interviewten. Es macht nun mal einen Unterschied, ob man Ende der 1970er Jahre in Dänemark zum Jazz kommt wie Lotte Anker oder 1941 in Oklahoma wie Jay Clayton. Haben Männer und Frauen einen anderen kreativen Approach?, fragen die Herausgeber. “NEIN!” ruft Jay Clayton, in Großbuchstaben, keine weitere Diskussion duldend, während Marilyn Mazur einwirft, Frauen würden vielleicht weniger in Wettstreit treten, mehr ans Ganze und Kollektive denken. “Nein, ich sehe da keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen”, findet wiederum Amy X. Neuberg, um gleich anzuschließen, “das heißt aber nicht, dass es keine gäbe.” Klar gibt es einen Unterschied”, erklärt Kali Z. Fasteau, etwa, dass Männer in hierarchischen Systemen besser funktionierten als Frauen. Andererseits, urteilt Nicole Johänntgen, sei diese Frage ziemlich schwer zu beantworten, weil es nun mal so sehr viel mehr Männer als Frauen auf der Szene gäbe.

Nicole Mitchell beantwortet ihre Fragen in poetischen Erinnerungen und Reflexionen über schwarze Musik, den langen Atem der Bürgerrechtsbewegung und ihren eigenen Weg. Maggie Nicols auf der anderen Seite streicht heraus, dass ihre Musik immer sowohl politische wie auch spirituelle Untertöne besessen habe. Ob sie einen Preis bezahlt habe dafür, dass sie Musik mache, fragen die Herausgeber, und Angelika Niescier findet: Im Gegenteil, sie habe daraus sehr viel für sich gewonnen. Musikerin zu werden, sei nun mal eine Lebensentscheidung, finden auch viele ihrer Kolleginnen, niemand zwinge einen schließlich diesen Weg einzuschlagen.

Die weibliche Kreativität erlaube mehr “Raum”, meint Fay Victor, und zwar “sowohl mehr Raum im Sinn von Zeit und Raum wie auch mehr Raum für die Akzeptanz von Fehlern und Intuition”. Klar habe die Tatsache, dass sie eine Frau sei, ihr Verhältnis zum Sound beeinflusst, erklärt Joëlle Léandre. Frauen seien nun mal anders, sie hätten die Fähigkeit zur Distanz, die in diesem Geschäft wichtig sei, außerdem könne man mit ihnen viel besser lachen.

Sie sehen in dieser springend-vergleichenden Zusammenfassung einzelner Antworten bereits, wie ungemein gewinnbringend sich dieses Buch lesen lässt, wenn man blättert, Themen identifiziert, die die Herausgeber durch ihre Fragen ja nicht festgeklopft, sondern nur angestoßen haben, um dann zu sehen, welchen Kontext die verschiedenen Antworten beleuchten. Man erlebt die ja unabhängig voneinander befragten Musikerinnen bald wie in einer respekt- und kraftvollen Diskussion neugieriger, andere Meinungen (meistens) zulassender, vor allem aber ungemein selbstbewusster Musikerinnen.

Das Fazit des Buchs wusste man vielleicht schon vor der Lektüre: Eine einzelne Antwort auf die Frage nach dem kreativen Unterschied nämlich gibt es nicht. Der künstlerische Ansatz zwischen Männern und Frauen ist genauso unterschiedlich wie jener zwischen Männern und Männern oder zwischen Frauen und Frauen. Es gibt jedoch, und das wird in diesem Buch sehr deutlich, ein anderes Diskursverhalten, eine klare Selbstwahrnehmung der Rolle, in die man gesellschaftlich gedrängt wurde.

Unbedingt lesenswert also, ob von Buchdeckel zu Buchdeckel oder im laufenden Vor- und Zurückblättern. “Giving Birth to Sound” erklärt dem interessierten Leser nämlich in der persönlichen Selbstbefragung der Protagonistinnen und oft auch zwischen den Zeilen weit mehr über die Thematik, als man es etwa von wissenschaftlichen Studien erwarten dürfte.

[Naja, wir empfehlen dennoch den Besuch unseres Darmstädter Jazzforums zum Thema “Gender and Identity in Jazz” vom 1.-3. Oktober 2015 oder die spätere Lektüre unserer Beiträge zur Jazzforschung mit den referaten dieser Konferenz. Aber das ist natürlich nur Eigenwerbung…]

Wolfram Knauer (September 2015)


 

Beyond Jazz. Plink, Plonk & Scratch. The Golden Age of Free Music in London 1966-1972
von Trevor Barre
London 2015 (Compass Publishing)
330 Seiten, 12,99 Britische Pfund
ISBN 978-1-907308-84-0
Zu bestellen über trevorbarre@aol.com

Ekkehard Jost hat die Jahre zwischen 1960 und 1980 als eine Zeit beschrieben, in der Europas Jazz zu sich selbst fand, in der Musiker sich von ihren amerikanischen Vorbildern lösten und eigene Wege gingen. Einige dieser Wege führten fort vom, gingen also “beyond jazz”, und diese Entwicklung will Trevor Barre in seinem Buch mit demselben Titel nachzeichnen. Der Gitarrist Derek Bailey forderte eine Improvisation, die sich aus den idiomatischen Bezügen befreien, und auch andere Musiker begannen statt des Begriffs “Free Jazz” von “improvised music” zu sprechen. Barre interessiert, wie es überhaupt dazu kam, dass eine solch sperrige und alles andere als publikumsfreundliche Musik entstehen konnte und warum sie nicht angesichts ihres kommerziellen Misserfolgs einfach nach ein paar Jahren ausstarb. In seinem Fokus steht dabei die erste Generation der freien Improvisatoren, also Musiker wie Evan Parker, Derek Bailey, John Stevens, Kenny Wheeler, Barry Guy, Dave Holland, Trevor Watts, Tony Oxley, Paul Rutherford, Howard Riley, Eddie Prévost, Keith Rowe, Gavin Bryars und Cornelius Cardew.

Barre beginnt mit einer Definition seines Themas: Wo die meisten Jazzbücher den Jazz durch seine improvisatorischen Parameter beschreiben würden, sei Free Music, schreibt er, einzig durch den improvisatorischen Gehalt definiert. Er stellt unterschiedliche Formen freier Improvisation vor, solche, die näher am Jazz bleiben und solche, die eher der europäischen Avantgardetradition verpflichtet scheinen. Die beiden Hauptensembles seines Buchs sind das Spontaneous Music Ensemble und die Gruppe AMM. Barre ordnet deren Auftritte in die Jugend- und Protestkultur der 1960er Jahre ein und schildert, wie die globalen Entwicklungen von Pop, Rock und Folk jungen Musikern ein völlig neues Vokabularium an die Hand gab, sie auch zu neuen Herangehensweisen zwischen tiefer Ernsthaftigkeit und unbändigem Humor bewegten. Er beschreibt auch, welchen Platz sie in die Bandbreite des britischen Jazz jener Jahre zwischen Dixieland und Free Jazz hatten.

Barre zeichnet den Weg einzelner Protagonisten zur freien Improvisation nach, schildert insbesondere die Bedeutung des Little Theatre Club, in dem die jungen Musiker mit Kollegen auch aus dem europäischen Ausland experimentieren konnten. Er beschreibt, wie sie nach und nach merkten, dass es außer dem afro-amerikanischen Jazz auch anderes gab, dass beispielsweise südafrikanische Musiker um Chris McGregor dieser Musik eine neue Farbe geben konnten und dass sich Freiheit, wie sie der Free Jazz implizierte, auch ganz mit anderen Mitteln umsetzen ließ. Er diskutiert wichtige Aufnahmen der Zeit, wobei ihn vor allem die interaktiven Prozesse interessieren, die ästhetischen Diskurse, die sich aus der Improvisation der Aufnahmen ergaben. Das alles beleuchtet er anhand von zeitgenössischen genauso wie selbst geführten Interviews mit beteiligten Musikern. Das Spontaneous Music Ensemble und AMM nehmen zwei der umfangreichsten Kapitel ein, in denen Barre neben dein Einflüssen und den ästhetischen Diskussionen auch über Nachwirkungen schreibt, bewusste oder unbewusste Reaktionen auf die Klangexperimente in weit jüngerer Musik, der 1980er, 1990er Jahre und danach. Er betrachtet den Einfluss der Technologie, schaut auch auf die Bedeutung der visuellen Covergestaltung oder der Plattentexte. Das Label Incus nimmt ein eigenes Kapitel ein, wie FMP in Deutschland oder ICP in Holland ein von Musikern gegründetes Label, das Musik seiner Mitglieder nicht so sehr vermarkten als vielmehr dokumentieren wollte. Improvisation ist schließlich weit mehr als komponierte Musik auf das Medium der Tonaufzeichnung angewiesen – sonst verklingt sie.

In seinem Schlusskapitel betrachtet Barre kurz die “zweite Generation” der Free Music in London um das London Musicians’ Collective sowie eine “dritte Generation” um John Edwards, John Butcher und andere und setzt beide Entwicklungen mit jenem von ihm als “erste Generation” betrachteten Grundthema seines Buchs in Beziehung. Im Nachwort schließlich verfolgt er die Aktivitäten seiner Protagonisten bis in die Gegenwart.

Trevor Barres Buch ordnet die Entwicklung der Free Music der späten 1960er, frühen 1970er Jahre in die kulturelle Szene des “Swinging London” ein. Ihm gelingt dabei vor allem der Blick auf sich wandelnde ästhetische Ideale und eine Begründung derselben aus gesellschaftlichen und politischen Diskussionen heraus. Der Musik selbst kommt er vor allem in Interviews mit den beteiligten Musikern nahe. Die inhaltliche wie organisatorische Unabhängigkeit der britischen Improvisationsszene jener Jahre hat Auswirkungen bis heute. Initiativen wir F-Ire Collective wären ohne das Vordenken und Vormachen der hier beschriebenen Musiker und Gruppen nicht möglich gewesen. Von daher füllt Barres Buch eine Lücke. Dass er bestimmte Themen weitgehend außer Acht lässt – die Auseinandersetzung dieser Szene mit ihrem Publikum beispielsweise oder mit den Mainstream-Medien, der tatsächliche Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Szenen oder die Reaktion amerikanischer Musiker, zeigt nur, wie viele Perspektiven das Thema tatsächlich hat, die bislang kaum beleuchtet wurden. Barre jedenfalls stößt mit “Beyond Jazz” die Tür zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der musikalischen Freiheitsbewegung jener Zeit weit auf.

Wolfram Knauer (August 2015)


 

Little Satchmo. Living in the Shadow of my Father, Louis Daniel Armstrong
von Sharon Preston-Folta (mit Denene Millner)
Charleston/SC 2015 (self published)
112 Seiten, 12 US-Dollar
ISBN: 978-1-481227-23-7
Zu beziehen über www.littlesatchmo.com

2015prestonfoltaDie offizielle Version lautet: Louis Armstrong hatte nie Kinder. Er hätte immer gern welche gehabt, sagte seine letzte Frau und Witwe, Lucille Armstrong, aber er sei zeugungsunfähig gewesen. Nun kommt, 34 Jahre nach Satchmos Tod, Sharon Preston-Folta mit einem Buch heraus, in dem sie kundtut, sie sei die Tochter Louis Armstrongs aus einer außerehelichen Beziehung, die Satchmo in den 1950er Jahren hatte.

Ihr Leben lang habe sie diese Wahrheit herunterschlucken müssen. Sie wolle kein Geld, keinen Ruhm, aber immer selbst auf das öffentliche Wissen um ihren Vater verzichten zu müssen, sei einfach zu viel. In ihren Recherchen habe sie nur einen einzigen schriftlichen Hinweis auf Satchmos Vaterschaft gefunden, einen Brief des Trompeter an seinen Manager, Joe Glaser, aus dem Jahr 1955, in dem er diesen bat, vor der Ankunft seiner Frau Lucille in Las Vegas ein paar Geschäftsdinge zu klären, darunter Zahlungen an eine Freundin, von der er glaubt, dass sie ein Kind von ihm habe. Ihre Mutter habe sie immer beschworen, ihren Vater geheim zu halten, und so habe sie letzten Endes gehorcht und damit auch keine Ansprüche geltend gemacht auf sein physisches, historisches und finanzielles Erbe. Wenn sie etwas gekränkt habe bei ihren Recherchen, sei es, dass Louis Armstrong in seinen Briefen so offen über alles geredet habe, seine Musik, seine Kindheit, seine Liebe zum Essen und zu den Frauen, über Sex, sogar über seine Darmtätigkeit, dass er über seine Tochter aber sein Leben lang geschwiegen habe.

Warum er ihre Existenz verleugnet habe? Nun, erklärt Preston-Folta, Louis Armstrong sei ein gefeierter Künstler seiner Zeit gewesen und habe sich in der besten (weißen) Gesellschaft aufgehalten. Es habe einfach nicht gepasst, in dieser Zeit, wenn Nachrichten über ein uneheliches Kind mit einer Geliebten in die Schlagzeilen gekommen wären.

Prestons Mutter wurde 1921 in New York geboren und arbeitete bereits als 16-Jährige als Chorus Girl in diversen Shows. 1941 heiratete sie einen Tänzerkollegen; 1946 arbeiteten die beiden als Tanzpaar “Slim & Sweets” als Vorgruppen für große Swingorchester, unter ihnen auch Louis Armstrong, der sich mit ihnen anfreundete und in einen launigen Briefwechsel einstieg. 1950 starb Slim, und bei der Trauerfeier war auch Louis Armstrong dabei, der Lucille Preston in den Arm nahm und versprach: “Ich werde mich um dich kümmern.” In den nächsten vier Jahren reiste sie Pops hinterher und tauchte auf, wann immer Armstrongs in New York spielte. 1954 wurde Preston schwanger, und im November schrieb Satchmo ihr einen Brief, in dem er erklärt, wie sehr er sich auf das Kind freue und sogar vorschlägt, sie zu heiraten, sollte seine Frau (mit gleichem Namen Lucille) sich von ihm scheiden lassen. Armstrong war dann aber nicht dabei, als Sharon Louise (nach Louis) Preston am 24. Juni 1955 das Licht der Welt erblickte. Armstrongs rechtmäßige Ehefrau war “not amused” und habe ihm nach der Geburt der Tochter sogar vorgeschlagen, diese zu adoptieren, was ihre leibliche Mutter aber vehement ablehnte. Lucille (die Ehefrau) habe sogar die Alimente überwiesen, bis sie diese Aufgabe irgendwann Joe Glaser übertrug.

In ihrem Buch berichtet Sharon von den viel zu seltenen, sorgfältig geplanten und sehnsuchtsvoll erwarteten Treffen. Sie und ihre Mutter lebten eine Weile bei ihrem Onkel Kenny, der nach außen schon mal als Lucilles Ehemann auftrat und immer wieder auf seine Schwester eindrang, bei Satchmo mehr einzufordern: mehr Geld, mehr Fürsorge, am besten seinen Namen. Bei einzelnen Sommertourneen durfte Sharon mitreisen. Ansonsten aber war Satchmo vor allem durch die monatlichen Unterhaltszahlungen präsent, durch Broadway-Tickets, 1962 durch den Kauf eines Hauses in Mount Vernon, New York. In Harlem hatte sich niemand wirklich darum gekümmert, wie ihre Familienverhältnisse aussahen, erzählt Preston-Folta, in Mount Vernon aber begann eine Zeit der Lügen. Die Liaison dauerte ja bereits 12 Jahre, aber nach wie vor war nicht in Sicht, dass Armstrong auch öffentlich zu seiner Familie stehen würde. Mit zehn Jahren begriff Sharon erstmals, dass ihr Vater eine “andere Lucille” hatte, ein anderes Leben, das mit ihrem aber auch gar nichts zu tun hatte.

Etwas später seien sie gemeinsam in Atlantic City zu einem Auftritt Marvin Gayes gegangen, es habe einen Streit zwischen den Erwachsenen gegeben, bei dem ihre Mutter Satchmo fragte, wann er sie nun endlich zu heiraten gedachte, worauf er laut wurde: “Ich werde dich niemals heiraten” und mit Fingerzeig auf die Tochter fragte: “Sag mir einfach, was es kostet, für sie zu sorgen!” Das war das Ende der Beziehung.

Kaum war Armstrong gestorben, kamen auch die monatlichen Schecks nicht mehr. Ein paar im Voraus geleistete Zahlungen für Sharons Erziehung hielten sie und ihre Mutter über Wasser, mussten bald auch den Zuwachs zur Familie finanzieren, denn Sharon wurde mit 16 selbst Mutter. Sharon erzählt, wie ihr Leben weiterging, immer gezeichnet durch die Narben, die der fehlende Vater hinterlassen hatte. Irgendwann rebellierte sie gegen die eigene Bitterkeit und versuchte, das emotionale Band, das sie mit der verlorenen, nie gehabten Vergangenheit hatte, zu zerschneiden.

Sharon Preston-Foltas Buch endet mit einem Besuch im Armstrong House in Queens. Ein Anwalt hatte ihr empfohlen, einen Blick in Satchmos Testament zu werfen, das eine eidesstattliche Erklärung von Lucille, Armstrongs Frau, enthielt, Armstrong habe nie Kinder gehabt. Als Sharon diese Zeilen las, von Lucille eigenhändig korrigiert von “Der Verstorbene und ich hatten keine Kinder” in “Der Verstorbene hatte keine Kinder”, entschied sie sich, jetzt ihr Geschichte zu erzählen. Ihre Mutter, die sie immer zur Geheimhaltung gedrängt hatte, willigte endlich ein: “Mach, was Du meinst, dass du tun musst.”

Sharon Preston-Foltas Buch ist als eine Liebeserklärung an die von ihr immer vermisste Vaterfigur Louis Armstrong geschrieben, aber es ist eben auch eine leicht verbitterte Liebeserklärung geworden. An genügend Stellen legt man es zur Seite, unterschiedlich berührt von den Schuldzuweisungen, mit denen Preston-Folta ihre eigenen Lebensentscheidungen aus ihrer vaterlosen Kindheit und Jugend ableitet. Ein bedrückendes Schicksal, denkt man, und fragt sich zugleich, warum sie, die immer wieder von der DNA ihres Vaters schreibt, die in ihr fortlebe, nicht irgendwann, spätestens vor der Veröffentlichung dieses Buchs, auf einem DNA-Test bestanden habe. Doch ist es einem Kind, das sein Leben lang sicher ist, seine Eltern zu kennen, überhaupt zuzumuten, von einem auf den anderen Tag an der Tatsache der Vaterschaft zu zweifeln? Auch als skeptischer Leser sollte man jedenfalls für die Zeit der Lektüre erst einmal die Grundbehauptung der Vaterschaft Louis Armstrongs akzeptieren, sonst hat man wenig Spaß am Buch. Armstrong selbst schließlich scheint bis zu seinem Tod überzeugt davon gewesen zu sein, in Sharon eine Tochter gehabt zu haben.

Allen Fragen und sicher auch allen möglichen Zweifeln zum Trotz, die einem bei der überraschenden Enthüllung Sharon Preston-Foltas kommen mögen, lernt man einiges bei der Lektüre, und wenn nur, dass Scheinwerferlicht auch Schatten wirft, dass Stars wie Louis Armstrong das Leben vieler Menschen zum Teil viel direkter berührten, als man es wahrhaben mag, und nicht zuletzt, dass die Persönlichkeit großer Stars aus ihren emotionalen Stärken genauso besteht wie aus ihren emotionalen Unzulänglichkeiten. Am Glorienschein des großen Meisters mag das alles ein wenig kratzen; der Kraft seiner Musik tut es keinen Abbruch.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Theatrical Jazz. Performance, Àṣẹ, and the Power of the Present Moment
von Omi Osun Joni L. Jones
Columbus/OH 2015 (The Ohio State University Press)
270 Seiten, 99,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8142-1282-0

2015jonesDer Blick über den Tellerrand kann das Wesentliche erhellen, der Blick von außen Dinge erkennen lassen, die man im internen Diskurs oft nicht mehr sieht. Das ist einer der Hintergründe für die sogenannten “new jazz studies”, ein Konzept in der jüngeren Jazzforschung, das sich der untersuchten Materie neben der musikwissenschaftlichen Betrachtung interdisziplinär nähert. Die Feministin Omi Osun Joni L. Jones versucht in ihrem Buch eine Verbindung zwischen Jazzästhetik , theatralischer Performance und auf Yoruba basierender afrikanischer Theologie. Dabei beschreibt sie als eine der zentralen Prinzipien der Jazzästhetik die Fähigkeit, die eigenen intuitiven Kräfte freizusetzen. In ihrer Beschäftigung mit afrikanischer Spiritualität habe sie gelernt, dass auch in wissenschaftlichen Büchern die Auseinandersetzung mit spirituellen Impulsen nicht zu kurz kommen dürfte, ganz ähnlich wie dies auch Jazzgrößen wie John und Alice Coltrane immer gesehen hätten. Sie will mit ihrem Buch den Jazz gegen den Strich bürsten, seine Begriffe, Handlungen, Ausformungen kritisch hinterfragen, und zwar aus der Perspektive aller seiner unterschiedlichen Bedeutungen in musikalischer Ästhetik, Performance, gesellschaftlichem Spiegel, ethnischer Identität oder politischer Haltung. Es gäbe Kollegen, schreibt sie in ihrer Einleitung, die den Jazz als eine polyglotte Form ansähen und damit Gefahr liefen seine Wurzeln in der afro-amerikanischen Kultur zu leugnen. Tatsächlich aber sei die spirituelle Kraft nicht an irgendwelche Identitätsregeln gebunden. Die spirituelle Transzendenz des Jazz brauche keine Abwesenheit ethnischer Identität (“race”), sondern höchstens Abwesenheit solch einer ethnischen Identität (“race”) als Restriktion oder als Prognose.

Tatsächlich handelt ihr Buch allerdings zentral gar nicht von Musik, sondern vom Theater, und hier insbesondere von den drei Theaterautoren Laurie Carlos, Daniel Alexander Jones und Sharon Bridgforth. Jones bedient sich in ihrer Herangehensweisen an das Thema der feministischen und queeren Theorie, erklärt Wirkungen der Theaterperformance aus der Haltung des Jazz heraus und zugleich aus ihrer Interpretation von Yoruba-Traditionen. Als übergeordneten Approach versucht sie ihrem wissenschaftlichen Buch darüber hinaus aber auch improvisatorische Strukturen zu geben, indem sie Bilder, Fotos, Zeichnungen, Zitate einfließen lässt, die wie kurze solistische Kommentare neben ihrem Text stehen.

In ihrer Einleitung zitiert Jones einige Beispiele direkter Bezugnahme von Jazzmusikern wie Dizzy Gillespie und John Coltrane auf Yoruba-Beschwörungen, erinnert außerdem an die lebendige Avantgarde-Theaterszene von Austin, Texas, in der in den 190er Jahren die Verbindungen von Theater und Jazz besonders entwickelt wurden. Im ersten Kapitel betrachtet sie, wie biographische Erfahrungen die drei von ihr untersuchten Autoren prägten, Carlos’ Jugend im New Yorker East Village, Jones’ Aufwachsen im Arbeiterklasse-Milieu von Springfield, Massachusetts, Bridgforths Bustrips durch die verschiedenen Viertel von Los Angeles. Sie analysiert die dem Jazz nahestehenden Praktiken von Lehrer und Schüler im Theater, deren Lernprozesse dabei immer gegenseitig sind. Das zweite Kapitel untersucht Performance-Methoden, Ansätze an Regie, Probenphasen, das Beziehung-Herstellen zum Publikum, die Auswahl der Schauspieler, aber auch das Zulassen spiritueller Erfahrung im Verlauf der Performance. Im dritten Kapitel schließlich fragt sie danach, was die Performance beim Publikum (sie spricht gern von “witnesses” = Zeugen) auslöst, wie sie zu einer Perspektivverschiebung führen kann, einer aktiven Partizipation des Publikums, die das eigentliche Ziel aller Beteiligten sei.

Wenn ich Jones zu Beginn dieser Rezension in die Nähe der “new jazz studies” gestellt habe, so muss ich diese Aussage zumindest zum Teil revidieren. In den New Jazz Studies werden Aspekte des Jazz möglichst von vielen Seiten (und mit unterschiedlichen Methoden) betrachtet. Jones geht den entgegengesetzten Weg: Sie nutzt, was sie vom Jazz gelernt hat, um ihr eigentliches Thema, die Performance im Theater genauer zu definieren. Sie erkennt im Jazz Kommunikations- und Tradierungsmodelle, die so beispielhaft sind, dass sie ein anderes Genre besser verstehen lassen, vielleicht sogar Modell stehen können für neue, weitreichendere Regie- oder Performance-Ansätze. Ihr Buch ist darin so weitsichtig wie der Versuch früherer Literaturwissenschaftler wie Houston Baker, insbesondere den Bereich der afro-amerikanischen Literatur (aber durchaus darüber hinaus) durch die schon von Ralph Ellison oder Albert Murray identifizierte Blues Aesthetic zu beschreiben. Beide nahmen dabei sehr bewusst auf westafrikanische kulturelle Traditionen, Praktiken und Symbole Bezug, für den ungeübten Leser einerseits manchmal etwas schwer nachvollziehbar, gerade dadurch aber die Argumentation auch angenehm schnell aufbrechend und Rückschlüsse erlaubend.

Wenn nämlich die Praxis des Jazz als Erklärungsmodell für andere künstlerische Praktiken taugt, dann wirft das ein ganz anderes Licht auch auf den Stellenwert von Jazz und Improvisation.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


The Long Shadow of the Little Giant. The Life, Work and Legacy of Tubby Hayes
von Simon Spillett
Sheffield 2015 (Equinox)
377 Seiten, 19,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78179-173-8

2015spillettWie Hans Koller oder Lars Gullin war der britische saxophonist Tubby Hayes eine der europäischen Jazzgrößen, die ihren Kollegen genauso wie ihrem Publikum klar machten, dass der Jazz zwar eine afro-amerikanische Musik war, dass aber Europäer das Idiom durchaus beherrschten und ihre eigenen Beiträge zur Tradition des Jazz leisten konnten. Hayes kam aus der Swing-Mainstream-Tradition des Jazz, nahm erst Bebop, Hardbop, schließlich Einflüsse des Spiels John Coltranes in seinen Stil auf und starb 1973, gerademal 38 Jahre alt, in Folge einer Herz-Operation.

Dem Autor und Saxophonisten Simon Spillett gelingt es in seinem Buch “The Long Shadow of the Little Giant” mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews und Material aus Hayes’ persönlichem Archiv das Leben und die musikalische Karriere des Saxophonisten in den Jahren vom bombenerschütterten London der Nachkriegszeit über die jazzigen 1950er Jahre und die Swinging Sixties bis hin zur großen Krise des Jazz Anfang der 1970er Jahre nachzuzeichnen.

Hayes wurde in eine musikalische Familie geboren – sein Vater leitete in den 1930er Jahren verschiedene Tanzorchester, seine Mutter war Revuesängerin und -tänzerin. Schon früh war er vom Saxophon fasziniert, begann aber im Alter von acht Jahren erst einmal mit Geigenunterricht, und bekam schließlich zum elften Geburtstag das langersehnte Saxophon, das er größtenteils autodidaktisch meisterte. Er hatte ein gutes Gehör, und der Geigenunterricht hatte ihn zu einem exzellenten Notisten gemacht. Er hörte Charlie-Parker-Platten und bewegte sich in Kreisen Gleichgesinnter, spielte bald mit Ronnie Scott, Alan Skidmore und Kenny Baker, mit dem er im Juli 1951 auch seine ersten Aufnahmen machte.

Die Baker Band hatte jede Menge Fans, und die Presse wurde schnell auf Hayes aufmerksam, der bald als “boy wonder tenorist” vermarktet wurde und, noch nicht einmal 20 Jahre alt, mit den Modernisten der britischen Jazzszene spielte. Mit 18 heiratete er zum ersten Mal, hatte schon zuvor alle möglichen Drogen ausprobiert. Er spielte in den populären Bands von Vic Lewis, Jack Parnell, Tony Hall und hatte schließlich auch mit seiner eigenen Band einen vollen Terminkalender.

Spillett beschreibt, wie britische Musiker in jenen Jahren das US-amerikanische Idiom des Hardbop gemeistert hatten, die Musik von Art Blakey und Horace Silver, und wie Kollegen wie Sonny Rollins oder Hank Mobley ihre stilistischen Spuren in Hayes’ Spiel hinterließen. 1958 traten Hayes’ Jazz Couriers neben dem Dave Brubeck Quartet bei einer Tournee durch sechzehn Städte des Vereinigten Königreichs auf; 1959 wurde Hayes vom Melody Maker zum besten Tenorsaxphonisten gewählt.

Andere Musiker hatten die Entwicklung des amerikanischen Jazz genauso interessiert mit verfolgt; und um 1960 kamen erste Versuche “freier Form” auch in England an. Joe Harriott war einer der ersten, die sich an freieren Spielweisen versuchten; Hayes aber blieb skeptisch. Die Eröffnung von Ronnie Scott’s, bis heute einem der wichtigsten Clubs des Königreichs, war sowohl für die Präsenz des amerikanischen Jazz in England wichtig als auch für das Selbstbewusstsein der eigenen Szene. Der BBC schnitt Konzerte mit, und Plattenfirmen widmeten dem heimischen Jazz eigene Alben. 1961 trat Hayes erstmals in New York auf, wo ihn die Größen des amerikanischen Jazz hörten, unter ihnen Zoot Sims, Al Cohn und Miles Davis. Zurück in England erhielt er einerseits eine eigene Fernsehshow, “Tubby Plays Hayes”, hörte er andererseits erstmals John Coltrane, der sein Bild von den Möglichkeiten im Jazz genau wie das vieler anderer Kollegen völlig veränderte.

Als Duke Ellington 1964 in England auftrat, jammte Hayes mit Bandmitgliedern und wurde vom Duke gebeten für Paul Gonsalves einzuspringen, als dieser unpässlich war. In den nächsten Jahren war Hayes international unterwegs, trat im New Yorker Half Note genauso auf wie beim NDR Jazz Workshop in Hamburg. Er arbeitete wie besessen, hatte zugleich gesundheitliche Rückschläge, darunter eine Thrombose, die auch seine Lungenfunktion herabgesetzt hatte.

Ende der 1960er Jahre hatte der britische Jazz zwei Probleme: die Macht der Rockmusik auf der einen Seite und das Verlangen des Publikums nach amerikanischen Künstlern auf der anderen Seite. Hayes erlitt auch persönliche Rückschläge, etwa als seine Freundin starb und er daraufhin noch stärker zu Drogen griff. Er musste wegen Herzproblemen immer häufiger in ärztliche Behandlung, begann aber trotz aller gesundheitlichen Probleme ein musikalisches Comeback. Er spielte mit Musikern der britischen Avantgarde, John Stevens, Trevor Watts, Kenny Wheeler, beteiligte sich bei einem Benefizkonzert für Alan Skidmore, der nach einem Autounfall im Krankenhaus lag, starb aber schließlich nach einer Operation, bei der eine Herzklappe ausgetauscht werden sollte.

“The Long Shadow” heißt das Buch, und so widmet Spillett sein letztes Kapitel der kritischen Aufbereitung seiner musikalischen Bedeutung nach seinem Tod sowie dem Nachwirken Hayes’ auf der britischen Szene. Er schließt mit einer Diskographie die Aufnahmen des Saxophonisten zwischen 1951 bis 1973 verzeichnet.

Simon Spillett hat viel Sorgfalt in seine Recherchen gesteckt. Nebenbei wirft er immer wieder aufschlussreiche Blicke auf die Musik selbst, auf die Aufnahmen, die Hayes’ musikalische Entwicklung dokumentieren. Wenn überhaupt, so mangelt es dem Buch insbesondere in diesem Segment an Tiefe, etwa an Erklärungen, wo sich Einflüsse, ästhetische Umbrüche und anderes konkret festmachen lassen. Eingehend aber beschreibt er den Lebensweg, die persönlichen Probleme, die musikalischen und ästhetischen Entscheidungen und zieht die Verbindungen zu den allgemeinen Entwicklungen des Jazz in Großbritannien, in Europa und in den Vereinigten Staaten. Spillett konnte mit Zeitzeugen sprechen und hatte Zugriff auf Hayes’ persönliche Papiere. Sein Buch ist eine definitive Biographie, die viele Fragen beantwortet und dabei im umfassenden Apparat all die Dokumente benennt, die für eine solche Arbeit notwendig sind.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Musiktraumzimmer Jazzcampus
herausgegeben von Peter Rüedi & Steff Rohrbach
Basel 2015 (Jazzcampus / Echtzeit Verlag)
212 Seiten, 32 Euro
ISBN: 978-3-905800-78-4

B2015rueediasels Jazzschule ist zum Jazzcampus geworden, zu einer Hochschule für improvisierte Musik, in der, wie der Titel dieses Buchs suggeriert, jede Menge an Träumen und Visionen wahrgeworden sind. Da ist zuallererst die Vision des Gründers und Gitarristen Bernhard Ley, der erzählt, wie er die Schule in den Räumen eines Jugendkulturzentrums gründete und wie er es dann durch pädagogisches wie politisches Geschick, aber auch durch das Talent der Vernetzung, das die Schule zum Teil des Basler Kulturlebens werden ließ, erreichte, sie zu einem Kompetenzzentrum zu machen, in dem der musikalische Gehalt, die Arbeit von Lehrenden und Schüler/innen, sich auch in der architektonischen Umsetzung spiegelt.

Davon nämlich handelt dieses Buch, vom glücklichen Unterfangen, auf den Grundrissen einer ehemaligen Maschinenfabrik eine Musikschule zu bauen mit all der für eine solche notwendigen Infrastruktur, Club, Konzertsaal, Tonstudio, Probenräume etc. Ein Musiktraumzimmer sei das ganze geworden, eine Raumrealisation also, die dem Thema “Jazz” angemessen sei. Mitgeholfen hätten alle, die Architekten Lukas Buol und Marco Zünd, der Bauherr Georg Hasler von der Stiftung Levedo sowie Bernhard Ley, der als Studiengangsleiter den zukünftig alltäglichen Gebrauch im Blick behielt. Das Gespräch mit diesen vieren erklärt Fragen der Akustik, Diskussionen im Planungsverlauf, die Außenwirkung genauso wie den inneren Glanz (sprich: Farben, Bodenbeläde, Beleuchtung).

Solch eine theoretische Diskussion lässt sich nur durch Fotos und Raumpläne in Buchform einfangen. Eigentlich gehört Musik dazu, noch wichtiger wäre der tatsächliche Raumeindruck, der aber in der Architektur immer noch einzig durch einen Besuch ermöglicht wird.

Um die tatsächliche musikalische und pädagogische Nutzung der Räume geht es im zweiten, noch umfassenderen Teil des Buchs: um Konzepte der Jazzpädagogik, persönliche Herangehensweisen an Musik, ästhetische Vorstellungen, die Rückwirkung von Unterricht auf die eigene Kunst der unterrichtenden Musiker.

Wolfgang Muthspiel etwa betont, wie wichtig es neben einem festen Lehrerstamm sei, großartige internationale Kollegen als Gastdozenten an die Schule zu holen. Andy Scherrer erzählt, wie er zum Unterrichten wie die Jungfrau zum Kind gekommen sei, und wie er trotz vieler Schüler immer eine gesunde Skepsis gegenüber des Unterrichtens beibehalten habe. Malcolm Braff erklärt, dass er nicht so sehr das Klavier denn vielmehr sich selbst als das wirkliche Instrument empfinde und wie er in den letzten Jahren eine rhythmische Theorie entwickelt habe, die auch Grundlage seines Unterrichts an der Hochschule sei. Lisette Spinnler versteht die Stimme als Instrument und Texte als Ausgangspunkt für musikalische Erkundungen. Adrian Mears plädiert auch beim Lernen für Spielpraxis, egal mit was für Besetzungen. Bänz Oester vertraut auf die Motivation zukünftiger Musiker/innen, auf die Verantwortung für das Selbst, das Eigene. Domenic Landolf mag sich weder verbiegen noch sonderlich in den Vordergrund spielen. Jorge Rossy spricht über die Standards als Basis und über seine Arbeit mit Carla Bley und Steve Swallow. Matthieu Michel überlegt, wie man als junger Musiker neben der Technik vor allem zu einer eigenen Stimme gelangt. Hans Feigenwinter sieht seine analytischen Fähigkeiten als eine Grundlage seines Musikmachens, zugleich aber die Musik auch als laufenden Ansporn, sie analytisch zu begreifen. Gregor Hilbe berichtet über die Bedeutung des Schlagzeugers in einer rhythmischen Kultur, und zugleich über die Idee des Producing / Performance-Studiengangs am Jazzcampus Basel. Daniel Dettmeister hatte die Chance, als Tonmeister selbst Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung des Aufnahmesaals der Hochschule. Mit Martin Lachmann kommt zum Schluss auch noch der Akustiker selbst zu Wort, der die Räume eingerichtet hat.

Eine bunte Abfolge von Interviews, Reflexionen und Fotos also, die sehr umfassend das Konzept klarmachen, dass hinter dem Jazzcampus Basel steckt: Freiräume schaffen und beste akustische Möglichkeiten. “Musiktraumzimmer Jazzcampus” ist damit zwar vordergründig eine in Buchform gepresste Imagebroschüre der Hochschule, zugleich aber erheblich mehr: ein Manifest für eine Jazzausbildung, in der Kunst und Wirklichkeit, Klang und Akustik, Pädagogik und Freiheit sinnvoll miteinander in Beziehung stehen.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Résume. Eine deutsche Jazz-Geschichte
von Eberhard Weber
Stuttgart 2015 (sagas.edition)
252 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-944660-04-2

2015weberDer Autor kommt gleich zur Sache: Der Leser wisse ja bereits, dass er, Eberhard Weber, gut 40 Jahre lang als Jazzbassist aktiv war, vielleicht auch, dass er seine aktive Karriere nach einem Schlaganfall 2007 beenden musste. Der Leser wisse wahrscheinlich etliches über seine Karriere, wahrscheinlich auch über den Jazz – was könne er dazu noch beitragen…? Nun, wenn überhaupt, dann könne er aus seinen eigenen Erinnerungen erzählen, sehr persönliche Geschichten, die sich um die Musik drehen, die aber auch sein ästhetisches Weltbild und vieles darüber hinaus berühren. Webers Buch wird so zu seinem “Resumé”. Und es mag vielleicht nicht “die” deutsche Jazzgeschichte sein, aber es ist auf jeden Fall, wie der Untertitel verspricht, “eine deutsche Jazz-Geschichte”, ein Beispiel dafür, wieso ein junger Mann zu dieser Musik kommt, was ihn über all die Jahrzehnte an ihr faszinierte und wie er lernte, in ihr sich selbst auszudrücken.

Eberhard Weber, dem musikalischen Geschichtenerzähler, gelingt der narrative Bogen auch in Worten. Bereits das Eingangskapitel, das vom “Schlag” handelt, der ihn kurz vor einem Konzert mit Jan Garbarek in der Berliner Philharmonie traf, von der Unsicherheit über seinen Gesundheitszustand, von der Hoffnung, wieder spielen zu können, zeigt seine erzählerischen, auch zur Selbstironie fähigen schriftstellerischen Qualitäten.

Im zweiten Kapitel widmet sich Weber seiner eigenen Vorstellung von Jazz. “Jazz”, schreibt er ironisch, doch nicht ganz falsch, “ist, wenn es der Komponist, der Arrangeur oder der ausführende Musiker dem Hörer so schwer wie möglich macht, der Musik zu folgen – und trotzdem alle Spaß daran haben. Das unterscheidet ihn von der vermeintlich ‘Neuen Musik’.” Doch neben dem Jazz als großer Kunst will Weber in diesem Kapitel auch seiner eigenen Ästhetik auf die Schliche kommen. Wiederholungen, erkennt er, langweilen ihn in der Regel; die Schlüsse von Stücken, findet er, misslingen meist. Er weiß, dass Solisten auch mal ohne Inspiration sein können und weiterspielen müssen. Er weiß auch um seine eigenen Schwächen als Bassist und beschreibt, wie man nur, wenn man um die technischen Probleme des eigenen Spiels oder des eigenen Instruments weiß, diese überkommen und kreativ mit ihnen umgehen könne.

Weber selbst wurde die Musik in die Wiege gelegt. Sein Vater, erzählt er, hatte als Cellist klassische Musik gemacht, daneben aber auch Cello und Banjo im Tanzorchester von Bernard Etté gespielt. Weber kam mitten im Krieg in Esslingen zur Welt. Seine Mutter sang, und “im häuslichen Weber’schen Freundeskreis”, erinnert er sich, “triumphierte Gesang über Instrumentales”– vielleicht eine Vorbereitung auf seine eigene sangliche Haltung beim Instrumentalspiel? Gehörbildung fand im Kinderzimmer statt, wenn seine Schwester und er Automarken am Klang unterschieden und dabei lernten zuzuhören und zu differenzieren. Ein Vetter quartierte sich nach der Kriegsgefangenschaft bei ihnen ein und begann Flöte zu lernen. Man diskutierte über Wagner und spielte Kammermusik. Weber bekam Cellounterricht, dann entdeckte er den Jazz und mit ihm wechselte er zum Kontrabass.

Im Jazz brachte er sich das meiste selbst bei, berichtet von ersten Bühnenerfahrungen, von Stuttgarter Jazzern wie Horst Fischer und Ernst Mosch, vom ersten Einsatz in Erwin Lehns Orchester als Vertretung für dessen regulären Bassisten. Seine musikalische Leidenschaft führte dazu, dass Weber durchs Abitur rasselte, eine Lehre als Fotograf begann und Kameraassistent bei einer Fernsehfirma wurde. Nebenbei spielte er mit gleichaltrigen Musikern, lernte Anfang der 1960er Wolfgang Dauner kennen und wurde bald Mitglied in dessen Trio. Er erzählt von den unterschiedlichsten Auftrittsorten zwischen Nachtclub, Café, Tanz und Ami-Kaserne, von Einflüssen auf sein Bassspiel, davon, wie das Dauner-Trio seinen eigenen Stil fand. Zwischendurch gibt es reichlich Anekdoten, aber auch Einblicke in die technischen Seiten seiner Kunst: Instrumentenwahl, Akustik, Pickups, Verstärker, elektronische Spielereien.

Ende der 1960er Jahre wandten Dauner und Weber sich freieren Spielweisen zu. Weber weiß um seine Beobachtungsgabe, weiß auch, dass er sich gern mal zur Polemik hinreißen lässt. Doch er besitzt eben auch die Erfahrung, Beobachtetes, insbesondere, wenn es um Musik geht, passend einordnen zu können. Und so mag man mit mancher polemischen Äußerung, die seinem eigenen musikalischen Geschmack zuzuschreiben ist, nicht übereinstimmen, wird aber an richtiger Stelle durch ein Augenzwinkern darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor zwar eine feste Meinung hat, sich selbst aber auch nicht immer ganz so ernst nimmt.

Weber stand in seiner Karriere bei zwei Plattenfirmen unter Vertrag, die Weltgeltung besaßen, Hans-Georg Brunner Schwers MPS und Manfred Eichers ECM. Er beschreibt die Arbeiten zu “The Colours of Chloë” und den folgenden internationalen Erfolg. Er erzählt vom Zusammenspiel mit Gary Burton, von den Unterschieden zwischen amerikanischen und europäischen Gepflogenheiten in der Jazzszene, von Tourneen mit seiner eigenen Band Colours, durch Deutschland – Ost und West –, die USA und Australien. Er berichtet von seiner Zusammenarbeit mit Jan Garbarek, mit dem er auch offizielle Empfänge spielte, bei denen Politiker, Botschafter, Bundespräsidenten, gekrönte Häupter begeistert waren, “endlich mal kein Streichquartett hören zu müssen”.

Eberhard Weber ist ein vielgereister Musiker. Seine Berichte von Zollformalitäten, Einreisebestimmungen, fasst verpassten Flügen und sonstigen Widrigkeiten sind amüsante Anekdoten, die vor Augen führen, dass das Musikerdasein nicht nur der aus musikalischer Kreativität besteht, die das Publikum erwartet und zumeist auch bekommt. Eine Professur für Musik hatte er nie annehmen wollen. Seine Begründung, die wie ein Tenor seine ungemein flüssige und lesenswerte Autobiographie beendet: “Ich kann nicht Bass spielen. Aber ich weiß, wie’s geht.”

Wolfram Knauer (Juni 2015)


Coltrane sur le Vif
von Luc Bouquet
Nantes 2015 (Lenka Lente)
146 Seiten, 13 Euro
ISBN: 978-2-9545845-8-4

2015bouquetDie Großen des Jazz waren zumeist auch die Meistaufgenommenen, und neben den offiziellen Einspielungen im Studio gehörten über die Jahre Bootlegs dazu, Schwarzpressungen von legalen oder illegalen Mitschnitten, die in mal besserer, mal schlechterer Qualität auf den Markt kamen. Solche Bootlegs haben naturgemäß keine Studioqualität; zum Teil sogar einen unsäglich schlechten Sound. Aber sie sind nicht nur für den Fan, sondern auch für den Experten ein immens wichtiger Teil der Aufnahmegeschichte dieser Musiker. Sie dokumentieren nicht die perfekte Abmischung, sondern den Alltag des Konzerts, in dem das Solo völlig anders klingen kann, in dem die Künstler mit dem Material oder auch mit sich selbst zu kämpfen haben, in dem mal bessere, mal schlechtere Fassungen der großen Titel erklingen, vergleichen mit den auf den im Studio gefertigten Referenzaufnahmen.

Luc Bouquet hatte im französischen Magazin Improjazz eine Reihe über die Liveaufnahmen John Coltranes veröffentlicht und diese jetzt in die zwölf Kapitel des vorliegenden Buchs einfließen lassen. Ein erstes Kapitel beschreibt Coltranes erste Aufnahmen aus dem Jahr 1946 sowie zwei Sessions mit Dizzy Gillespie bzw. Johnny Hodges. Kapitel 2 widmet sich den Jahren 1955-57 und Livemitschnitten mit Miles Davis, Kapitel 3 der Zeit von 1957-58 und den erst jüngst entdeckten und doch schon legendären Aufnahmen Coltranes mit dem Thelonious Monk Quartet. Zwei weitere Miles Davis-Kapitel schließen sich an, 1958-59 in den USA sowie 1960 in Europa, dann beginnt mit Kapitel 6 die Aufnahmegeschichte von Coltranes eigenen Bands: sein klassisches Quartett, Trane und Dolphy, die diversen Besetzungen von 1962, 1963, 1964-65 bis hin zu seiner letzten Liveaufnahme, dem “Olatunji”-Konzert vom April 1967. Jede der Platten wird mit Besetzungs- und Inhaltsangaben gelistet, dazu kommt eine kurze Beschreibung dessen, was auf ihr zu hören ist. Allzu tief versteigt sich Bouquet dabei weder in die Musik noch in die Begleitumstände der Aufnahmen – so wäre etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Entdeckungsgeschichte der Bänder von Tranes Carnegie-Hall-Konzerts mit Thelonious Monk durchaus berichtenswert gewesen.

Bouquets Buch ist als eine Art annotierte Diskographie der Liveaufnahmen John Coltranes ein nützliches Handbuch sowohl beim Hören wie auch bei der Entscheidungsfindung, was man sich vielleicht noch zulegen könnte.

Wolfram Knauer, April 2015Rencontres du jazz et de la musique contemporaine
herausgegeben von Jean-Michel Court & Ludovic Florin
Toulouse 2015 (Presses Universitaires du Midi)
184 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-2-8107-0374-6

Das vorliegende Buch ist die Dokumentation einer Tagung, die im Oktober 2013 in Toulouse stattfand und sich mit aktuellen Beziehungen zwischen Jazz und Zeitgenössischer (sogenannter “Neuer”) Musik beschäftigte. Im Vorwort stecken die beiden Herausgeber das Feld ab, das irgendwo zwischen Anthony Braxton und IRCAM-Experimenten angesiedelt ist und bei dem oft die Genrebezeichnung, ob “Jazz” oder “Neue Musik”, im Weg steht, da die Musik selbst solche Grenzen inzwischen gern und oft überschreitet.

Die Beiträge selbst sind theoretisch-musikwissenschaftlicher Natur. Im ersten Teil findet Vincenzo Caporaletti, dass die jüngere Entwicklung im Kunstmusikbereich neue wissenschaftliche Ansätze benötigt und stellt sein “principe autiotactile” vor, durch das sich sowohl für komponierte wie auch für improvisierte Musik die performativen Prozesse genauso analysieren ließen wie die ästhetischen Prozesse, die durch die Musik wie auch durch äußere, etwa mediale Einwirkungen mitbestimmt werden. Alexandre Pierrepont nähert sich der Frage, inwieweit die genre-spezifische Einordnung und Wertung von Musik aus den Bereichen europäischer klassischer Musik und des afro-amerikanischen Jazz nicht auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser zu Missverständnissen führt, wenn die Querverbindungen, die ja zwischen den Genres bestehen, oft und gern mit kulturellen Konnotationen versehen werden. Pierre Sauvanet betrachtet, wie das Moment der “Tradition” von Musikern im Jazz, der Neuen Musik und in tatsächlich “traditionellen” Musikrichtungen unterschiedlich behandelt wird.

Im zweiten Teil des Buchs geht es an konkrete Analysen. Pierre Fargeton befasst sich mit Franz Koglmanns langjähriger Auseinandersetzung mit dem Third Stream, der Neuen Musik und anderen Kunstrichtungen. Konkret untersucht er Koglmanns “Join!” eine “Oper” aus dem Jahr 2013 auf diverse Bezüge (1.) zum Jazz und (2.) zur Zeitgenössischen Musik. Martin Guerpin analysiert die Komposition “Unisono” des israelischen Komponisten Ofer Pelz und identifiziert darin insbesondere die Jazzverweise. Wataru Miyakawa untersucht das Werk des japanischen Komponisten Toru Takemitsu, in dem ihn vor allem der Einfluss des Lyrian Chromatic Concept von George Russell interessiert.

Im dritten Teil des Bandes berichtet der Gitarrist Frédéric Maurin darüber, wie er Methoden der Spektralmusik, die in den 1970er Jahren im Kreis der IRCAM in Paris entwickelt wurde, etwa für seine Band Ping Machine nutzbar macht. Cécile Auzolle untersucht das “Wintermärchen” des belgischen Komponisten Philippe Boesmans von 1999 und hat dabei Einflüsse aus dem jazz sowie improvisatorische Passagen im Fokus, die in der Oper vom Ensemble Aka Moon ausgeführt wurden. Henri Fourès hinterfragt die Begriffe Jazz, Zeitgenössische Musik, Komposition, Notation und Improvisation auf ihre Wertigkeit in der Hochschullehre. Zum Schluss berichten die Bassistin Joëlle Léandre, der Saxophonist Douglas Ewart und der Trompeter Mike Mantler über ihre eigenen Erfahrungen im Feld zwischen den Welten von Jazz und Neuer Musik.

“Rencontres du jazz et de la musique contemporaine” wirft ein Schlaglicht auf eine offenbar immer noch wichtige Diskussion in den beiden darin angesprochenen Welten. Der einleitende Überblick listet frühere Beschäftigungen mit dem Thema auf (hier fehlt allerdings der Band “Jazz und Komposition”, der das 2. Darmstädter Jazzforum von 1991 dokumentiert und in dem dieses Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet wurde). Sowohl in den allgemein theoretischen wie auch den konkreter praktischen Kapiteln fehlt ein wenig – aber das ist bei einer Tagung, die das nicht ausdrücklich zum Thema machte, vielleicht auch kaum zu leisten – die grundlegende Diskussion einer anders als aus dem europäischem Wissenschaftsdiskurs entstandenen Reflexion über Musik, eine Perspektive also, die sowohl Jazz wie auch die in europäischer Tradition stehende Neue Musik etwa aus dem Blickwinkel von Community, von Macht, von Geschlechterungleichheit oder ähnlichem betrachtet, sich dabei nicht auf die bestehenden meist europäisch gefärbten und genormten Diskurstraditionen einlässt, sondern mutig nach neuen sucht. Das von George Lewis und Benjamin Piekut 2016 herausgegebene Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies geht da einen anderen Weg, braucht, um das Thema abzudecken allerdings auch über 1000 Seiten.

Wolfram Knauer (März 2018)


Bunk Monk & Funk – and other attractions
von Anders Stefansen (& Jan Søttrup)
Kopenhagen 2012 (People’s Press)
248 Seiten, 249 Dänische Kronen
ISBN: 978-8771-37035-5

Anders Stefansen ist ein bisschen der Fritz Rau Dänemarks: ein Konzertveranstalter, der eher zufällig ins Geschäft kam, in den frühen 1960er Jahren für Norman Granz dessen Skandinavien-Tourneen organisierte (so wie dies Lippmann + Rau in Deutschland taten), später auch populärere Acts betreute, von den Beatles bis zu den Rolling Stones. In seiner Autobiographie erinnert sich Stefansen an die vielen Freundschaften zu Musikern, die er in seinem Berufsleben schließen konnte, an das Tourleben, an Probleme und ihre jeweilige Lösung, und an Begegnungen wie die mit John Coltrane, Andrés Segovia, Count Basie, Duke Ellington, Ben Webster, Cecil Taylor und vielen anderen. Er beleuchtet die Realitäten des Business, schwelgt aber vor allem in Erinnerungen. Wenn es dabei auch mehr um die Menschen geht als um die Musik, so ist die Lektüre seines Buchs dennoch erhellend nicht nur für diejenigen, die von seiner Arbeit als Konzertveranstalter profitierten, etwa weil sie selbst im Publikum saßen. Seine Anekdoten beleuchtet zugleich eine ungewöhnliche Karriere zwischen Musik und guter Küche (Stefansen eröffnete eines der ersten French Cuisine Restaurants in Dänemark). Und seine Anekdoten über Henry Miller, den er traf, als er den Film “Ruhige Tage in Clichy” produzierte, sind besondere Zugaben der Lektüre.

Wolfram Knauer (Januar 2018)


Fashion and Jazz. Dress, Identity and Subcultural Improvisation
von Alphonso D. McClendon
London 2015 (Bloomsbury Academic)
194 Seiten, 24,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-85785-127-7

Von den Banduniformen der Swingorchester über die Gardenie im Haar von Billie Holiday bis zu Wynton Marsalis’ in Brooks Brothers-Anzüge gekleidetes Lincoln Center Jazz Orchestra: Jazzmusiker waren immer auch Mode-Ikonen. Miles Davis mag diese Facette seines Bühnenlebens am stärksten ausgelebt haben, doch findet sich das Bewusstsein für die Bühnengarderobe durch die Jazzgeschichte. Als Art Blakey seiner Band in den 1970er Jahren für eine Weile erlaubte, in Straßenklamotten aufzutreten, war das eine Ausnahme. Er wie andere Musiker wussten, dass sie als afro-amerikanische Künstler Vorbildfunktion hatten.

Alphonso D. McClendon ist Modeforscher und hat sich in seinem Buch “Fashion and Jazz” dem Subtext der Musikergarderobe durch die Jazzgeschichte angenommen. Ihm ist wichtig, auf die gegenseitigen Einflüsse zwischen Jazz und Mode hinzuweisen, wie er gleich im ersten Kapitel deutlich macht, in dem er Parallelen und Einflusswege nennt, dass nämlich sowohl Mode wie auch Jazz auf ihre jeweilige Art und Weise vom Freiheit des Ausdrucks handeln. Es habe im Jazz durchaus eine “Sprache der Kleidung” gegeben, sagt er – will heißen: die Bühnenpräsentation hatte immer auch etwas zu bedeuten, und Kleidung habe zur visuellen Ästhetik von Jazzmusikern beigetragen, ob in der Performance auf der Bühne oder in Abbildungen.

Im zweiten Kapitel geht McClendon das Thema dann chronologisch an. Er beschreibt die Mode der Ragtime-Ära und der Bluesmusiker, die Bühnenkostüme von Swing-Musikern und die Selbstdarstellung der Bebopper, die zugleich “die Konstruktion eines subkulturellen Stils” gewesen sei, und stellt schließlich fest, das sowohl Mode wie auch Jazz ähnliche Perioden von Konformität (1900-1920), populärem Einfluss (1920-1940) und Widerstand (1940-1960) durchgemacht hätten.

Kapitel 3 diskutiert Momente “der Moderne” bzw. “des Modernen” und die Kommunikation beider durch Mode und Spielpraktiken im Jazz. Im vierten Kapitel beschreibt McClendon Strategien der Distinktion durch Jazz und Mode, um sich im fünften Kapitel etwa auf die Darstellung von Frauen und Männern in frühen Sheet-Music-Covers zu konzentrieren. Kapitel 6 diskutiert subversive Konnotationen, die sich etwa in Texten von Bluessängerinnen finden oder im Eingang von Jazzthemen in die Literatur oder den Film. Kapitel 7 ist überschrieben “Narcotics and Jazz: A Fashionable Addiction” und beschreibt unter anderem, wie elegante Kleidung auch helfen konnte ein Leben im Schatten der Drogensucht zu verschleiern. Kapitel 8 fokussiert auf Billie Holiday als Musik- wie Mode-Ikone; Kapitel 9 beschreibt Duke Ellington und Benny Carter als “traditionellen Dandy” sowie Dizzy Gillespie und Gerry Mulligan als “modernen Dandy” und blickt kurz darauf, wie amerikanische Präsidenten wie Bill Clinton und Barack Obama ihre Nähe zum Jazz als Imagefaktor ausnutzten.

McClendons Buch reicht leider nur bis ins Jahr 1960 und verpasst damit die politische Garderobe von Dashikis, schwarzen Lederjacken oder soul-beeinflusster Hipstermode der 1960er und 1970er Jahre, thematisiert also auch nicht die Rückkehr zur ordentlichen Garderobe mit Aufkommen der Young Lions der 1980er Jahre. Er thematisiert damit weder die modetechnische Annäherung zwischen den Genres, etwa in Richtung Rock oder auch Neue Musik, noch die Unterschiede etwa in im Modeverhalten amerikanischer und europäischer Musiker. Doch gelingt ihm in diesem eigentlich auf der Hand liegenden und doch so ganz anderen Blick auf Jazzgeschichte eine Perspektive, die Aufschluss über Imagebildung, Selbstverständnis der Künstler und die gegenseitige Beeinflussung von Image und künstlerischem Anspruch erlaubt. Etliche Bilder, eine ausführliche Bibliographie und ein Namensindex schließen das Buch ab.

Wolfram Knauer (August 2017)


Sales Rectangles. Daunik Lazro. Vieux Carré
von Guillaume Belhomme
Nantes 2015 (Lenka Lente)
44 Seiten, 1 Mini-CD, 9 Euro
ISBN: 978-2-9545845-9-1

Am 21. Mai 2011 spielte der Saxophonist Daunik Lazro ein inspiriertes unbegleitetes Solokonzert in einen Buchladen in Rouen. Guillaume Belhomme versucht die Stimmung des Konzerts einzufangen, indem er eines der Stücke Lazros, eine lange Improvisation über Joe McPhees “Vieux Carré” mit kurzen Blicken in die Bücher, die um ihn herum stehen und liegen, verbindet. Seine knappen, aus jeweils nicht mehr als einem Satz bestehenden Kommentare lassen sich den diesen Büchern allerdings erst zuweisen, wenn man sie anhand der im Büchlein abgedruckten Barcodes (bzw. die diesen beigefügten ISBN-Nummern) sucht. Und tatsächlich gelingt es Belhomme dabei ein wenig, jene Stimmung eines Konzerts im Buchladen einzufangen, bei dem die Konzentration auf die Musik von den Blicken zu und in die Bücher, von der Wahrnehmung der Atmosphäre, von kurzen Reflektionen darüber, was man da aufblättert, während man zugleich zuhört, unterbrochen, aber durchaus auch bereichert wird. Ein ungewöhnliches, durchaus inspirierendes Experiment, das den Leser / Hörer quasi subkutan auf die Komplexität der Wahrnehmung von Musik aufmerksam macht.

Wolfram Knauer (März 2017)


Spirits Rejoice! Jazz and American Religion
von Jason C. Bivins
New York 2015 (Oxford University Press)
369 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-023091-3

Jazz und Spiritualität sind für viele Musiker eine zusammenhängende Einheit. Duke Ellington, John Coltrane, Albert Ayler, Rahsaan Roland Kirk, Yusef Lateef, Anthony Braxton – die Liste der Musiker, für die ihre musikalische immer auch eine spirituelle Suche war, ist lang. Der Religionswissenschaftler und Jazzgitarrist Jason Bivins beleuchtet in seinem Buch dieses Verhältnis zwischen Religion und Musik anhand zahlreicher Beispiele und legt, gerade weil er seine Studien aus der Perspektive eines Religionsforschers und mit dem Wissen eines Jazzers macht, ein wichtiges Buch vor, in dem das Thema weit fundierter angegangen wird als in vielen Biographien der bereits genannten Musiker.

In seinen “ersten Meditationen” zum Thema stellt Bivins fest, dass Jazz genauso wie Religion in ihrer jeweiligen Individualität der Wahrnehmung schwer fassbare Gebilde seien. Er weiß um die ganz unterschiedlichen Ausprägungen des Religiösen oder Spirituellen gerade in der Musik, die irgendwo zwischen Ritual und Weltforschung liegt. Er fragt, wie sich das spirituelle Umfeld, aus dem Musik heraus initiiert oder rezipiert wird, auf die Musik selbst auswirkt. Er befasst sich mit konkreten Traditionen, auf die Jazz sich immer wieder bezog. Er betrachtet Beispiele, in denen mit Jazz amerikanische Geschichte genauso wie religiöse Aspekte derselben dargestellt werden. Er befasst sich mit Jazz in religiös-musikalischer Praxis. Er hinterfragt das Klischee von Jazz als rituelle oder heilende Praxis. Er diskutiert Verweise im Jazz auf Mystizismus, Selbstlosigkeit, die klangliche Verbindung zu einem höheren Wesen. Es untersucht Kosmologien und metaphysische Theorien im Jazz. Er will damit nicht nur Aspekte der Jazzgeschichte durch ihre Verankerung in religiösen Praktiken erklären helfen, sondern zugleich die Religionsgeschichte in den USA seit den 1920er Jahren mithilfe ihres Widerhalls im Jazz beleuchten.

Bivins geht dabei weder chronologisch vor noch versucht er seine Thesen an zentralen Figuren festzumachen, wenn es auch an konkreten Beispielen nicht mangelt in seinem Buch. Natürlich spielt der Einfluss der schwarzen Kirche auf viele afro-amerikanischen Musiker eine wichtige Rolle. Er beschreibt das Zeugnis ablegende (“testifyin'”) Tenorsaxophonspiel Albert Aylers. Er findet Spiritualität in Charles Gayles Bühnen- genauso wie Straßenmusikauftritten. Er fragt nach den Gründen von Jazzmusikern zum Islam, zum Buddhismus, zum Bahá’í, zur Scientology zu konvertieren und ihre Reflektion über die jeweilige religiöse Praxis und ihre Auswirkung auf ihre Musik. Er befasst sich mit den Ausprägungen des “Radical Jewish jazz” und mit der Idee einer imaginären Folklore in den Vereinigten Staaten.

Er beschäftigt sich mit Beispielen, in denen Jazzmusiker bzw. ihre Werke religiöse Geschichte erzählen und verwebt dabei eng religiöse und politische Aussagen, etwa in den Aufnahmen von Charles Mingus, Archie Shepp, Max Roach und Abbey Lincoln. Auch der Saxophonist Fred Ho und sein Einsatz für einen Asian American Jazz kommen zur Sprache sowie Sun Ras Verweise auf weltumspannende Verbindungen, die weit über den Planeten Erde hinausreichen. Er geht auf Ellingtons “Sacred Concerts” ein und widmet eine längere Passage John Carters Komposition “Roots and Folklore”, die, wie er findet, ein würdiger Träger des Pulitzer Preises gewesen wäre, den Wynton Marsalis später für sein Oratorium “Blood On the Fields” erhielt.

Er entdeckt im Bemühen von Musikern seit den 1950er Jahren sich zu organisieren neben den politischen auch spirituelle Gründe, wie er etwa am Beispiel der AACM und der Black Artists Group zeigt. Die von Horace Tapscott gegründete Underground Musicians Association, die Saint John Coltrane African Orthodox Church und Alice Coltranes Ashram sind für ihn konkrete Beispiele, wie Jazz als spirituell-religiöses Ritual gelebt und zelebriert werden kann.

Im zweiten Teil seines Buchs beschäftigt sich Bivins mit den engen Verbindungen zwischen Ritual und Improvisation, nennt Beispiele aus dem Schaffen von Duke Ellington, Mary Lou Williams, Milford Graves, Cecil Taylor, bezieht sich aber auch auf das Feld des afro-kubanischen Jazz, auf Steve Colemans Studien zur Yoruba-Kultur und auf die Musik des Art Ensembles of Chicago.

Ein eigenes Kapitel befasst sich mit Meditation und Mystizismus und verweist dabei auf Musiker wie Steve Lacy, Arthur Blythe, William Parker und Davis S. Ware. Ornette Colemans Harmolodics und George Russells Lydian Chromatic Concept werden von Bivins nicht allein als musiktheoretische Abhandlungen verstanden, sondern als Beispiel für kosmologische und metaphysische Versuche Jazz, Improvisation, ja Musik ganz allgemein zu fassen. In dieses Kapitel gehören auch Anthony Braxtons Tri-Axium-System und Wadada Leo Smith’ Ankhrasmation.

In seinem Schlusskapitel stellt Bivins dann noch einmal klar, dass die Auseinandersetzung mit Jazz oder mit Religion notwendigerweise eine fragmentarische sein muss, dass beide Praktiken ein Versuch sind, sich der Komplexität der Welt zu nähern, unsere eigene Sicht aber immer durch das geprägt ist, was wir bereits “wissen”. Für einige sei Musik wie Religion, weiß er, das aber beinhalte weit mehr als die pure Hingabe. Wie die Religion in amerikanische (und weltweiter) Geschichte, habe auch die Musik subversive Funktionen gehabt, habe Einfluss auf die Wahrnehmung der Realität genommen und diese damit ändern können.

Bivins’ Entscheidung, keine klar strukturierte Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Jazz und verschiedenen Ausprägungen von Spiritualität zu wählen, sondern stattdessen Themen zu identifizieren und von verschiedenen Seiten zu beleuchten, führt dazu, dass man auch als Leser die Vorstellung von Religion, Spiritualität, Ritual weiter fasst. Wo man zu Beginn der Lektüre von der sehr offenen Fassung der Begriffe noch ein wenig irritiert sein mag, da ist man dem Autor am Ende genau dafür dankbar, da er es schafft, auch beim Lesen die schnellen Analogien zu vermeiden. Bivins gelingt es, diesen offenen Geist in seine Leser zu übertragen – für den europäischen Leser dann auch in Richtung all der Themen, die sich hierzulande in die verschieden Kapitel einflechten ließen.

Wolfram Knauer (März 2017)


Omniverse Sun Ra
von Hartmut Geerken & Chris Trent
Wartaweil 2015 (Waitawhile Books / Art Yard)
304 Seiten, 69 Euro
ISBN: 978-0-9933514-0-2

Von 1994 stammt das damals im LP-Schallplattenformat veröffentlichte, von Hartmut Geerken und Bernhard Hefele herausgegebene Buch “Omniverse Sun Ra”. Jetzt erschien eine Neuauflage dieses Werks, das das Universum des Meisters aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben versucht.

Geerken war in den 1960er bis 1980er Jahren Institutsleiter verschiedener Goethe-Institute. Als Perkussionist hat er daneben mit zahlreichen Musikern vor allem aus dem Bereich der improvisierten Musik zusammengearbeitet. In Jazzkreisen ist er dabei insbesondere als Kenner des Oeuvres Sun Ras bekannt und war für Konzerte des Arkestra verantwortlich, etwa 1971 in Kairo, wo er seinerzeit fürs Goethe-Institut wirkte. Sein Buch von 1994 war eine kleine Sensation für die Aufarbeitung des Ra’schen Oeuvres; die Neuauflage ist nicht weniger willkommen.

Was übernommen wurde: Amiri Baraka beginnt das coffeetable-große Buch mit einem einleitenden, sehr persönlichen Text über den Meister. Robert Campbell erzählt die irdische Biographie Herman Blounts von seiner Geburt in Birmingham, Alabama, im Jahr 1914 bis zu seinem Tod im Mai 1993 und ordnet zugleich die verschiedenen Besetzungen und musikalischen Phasen seines Schaffens zu. Sigrid Hauff untersucht die mythologische und spirituelle Welt, die Sun Ra musikalisch genauso wie in Texten oder Interviews heraufzubeschwören versuchte. Chris Cutler ordnet sein musikalisches Schaffen in den größeren Kontext von Jazz und afro-amerikanischer Musikgeschichte ein. Robert Lax versammelt mehr oder weniger unzusammenhängende Gesprächsfetzen, Bonmots und Aphorismen des Pianisten, Komponisten, Bandleaders und spirituellen Philosophen. Salah Ragab berichtet über Konzerte des Arkestra in Ägypten in den Jahren 1983 und 1984. Karlheinz Kessler hinterfragt die Verwendung von Ritualen in den Performances der Band. Gabi Geist schreibt ein Horoskop für jemanden, der immer sagte, dass sein Geburtstag und -ort höchstens irdisch seien, tatsächlich aber seiner Herkunft nicht gerecht würden. Hartmut Geerken schließlich erinnert sich an den Besuch des Arkestra in Ägypten im Dezember 1971. Zwischendrin finden sich zahlreiche Fotos, viele davon von der britischen Fotografin Val Wilmer.

Was neu ist: Ein Text Bernhard Helefes entfällt in der Neuauflage. Den ausführlichen diskographischen Teil des Buchs hat Chris Trent neu geordnet. Wieder gibt es einen umfangreichen Bildteil, der die Plattencovers zeigt.

“Omniverse Sun Ra” war schon in der ersten Ausgabe von 1994 eine labor of love. Die neue Ausgabe hat einen Hardcover-Einband, ein etwas handlicheres Format, einen Block mit Farbfotos der Band, die im früheren Buch nicht enthalten waren. Es verzichtet auf die Tapeologogy, also die Auflistung oft privater Konzertmitschnitte, sowie auf die ausführliche Bibliographie der früheren Ausgabe.

“Omniverse Sun Ra” bleibt bei alledem ein großartiges Buch, das in Wort, Bild und Tonträgerverweisen als hervorragendes Nachschlagewerk über die Welt und Weltsicht Sun Ras genauso zu nutzen ist wie als eine Dokumentation, in der auch “Nachgeborenen” die Bühnenperformance des Arkestra vor Augen geführt wird.

Wolfram Knauer (März 2017)


A City Called Heaven. Chicago and the Birth of Gospel Music
von Robert M. Marovich
Urbana/IL 2015 (University of Illinois Press)
488Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08069-2

Gospelmusik, erklärt Robert Marovich, Rundfunkmoderator, Herausgeber des Journal of Gospel Music und Musikhistoriker, sei die künstlerische Antwort auf die Great Migration gewesen, in der tausende und abertausende Afro-Amerikaner zu Beginn des 20sten Jahrhunderts aus den Südstaaten in den Norden zogen und insbesondere in Städten wie Chicago ein neues Zuhause fanden. Blues, sagte Mahalia Jackson einmal, seien Lieder der Verzweiflung gewesen, Gospel dagegen Lieder der Hoffnung. Das Genre, erklärt Makovich in seinem Buch, das sich auf die Verankerung der Musik im Chicago des 20sten Jahrhunderts fokussiert, sei wie eine soziale Organisation organisiert gewesen, die jeden, egal wie gut er oder sie singen konnte, willkommen geheißen hätte.

In seinem Buch beschreibt Marovich die Entwicklung der Gospelmusik von frühen Hymnen und Camp Meetings über die beschriebene Great Migration und die lebendige Gospelszene von Chicago bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sounds, Rhythmen und der Enthusiasmus dieser Musik Eingang in die Popmusik fanden und schließlich zur Begleitmusik der Bürgerrechtsbewegung wurden. Er greift auf Interviews und selten ausgewertete historische Quellen zurück, um die Einbettung der Musik in die Community zu beschreiben; er entdeckt die Bedeutung von Predigern, deren eindringliche Sermons ab den 1920er Jahren ja sogar auf Schallplatte veröffentlicht wurden; er berichtet von frühen Aufnahmen für das noch junge Radio genauso wie für die aufstrebende Plattenindustrie. Er geht auf weithin bekannte Gospel-Künstler ein, Thomas A. Dorsey etwa oder Mahalia Jackson, genauso aber auch auf weniger, oft nur lokal bekannte Musikerinnen und Musiker. Er weiß um die Hintergründe der Gospeltourneen, die in den 1930er Jahren große Erfolge feierten, und er beschreibt die Entwicklung des Gospelquartetts über die Jahre.

Die Zuwanderung nach Chicago aus dem Süden hielt bis in die 1940er Jahre an und vermittelte der Gospelmusik damit über lange Jahre jene wichtige Funktion des Haltgebens in der Fremde. Radio- und frühe Fernsehshows nahmen sich des Genres an, und immer mehr wurde Gospel auch zu einem kommerziellen Produkt. In seiner Übersicht über die verschiedenen Stränge des Genres kennt Marovich alle Solisten, Bands, Quartette und Chöre und beschreibt sowohl ihre Einbindung in die örtliche kirchliche Gemeinschaft wie auch ihr sehr unterschiedliches Verhältnis zur Plattenindustrie. Mitte der 1950er Jahre fiel der Gospelmusik schließlich eine neue Rolle zu, als Mahalia Jackson zu einer glühenden Vertreterin des Civil Rights Movement und einer engen Verbündeten Dr. Martin Luther Kings wurde.

Die große Zeit des Gospel war mit dem Tode Mahalia Jacksons und Roberta Martins vorbei; und hier endet auch Marovichs Buch, mit einem nur kurzen Ausblick auf die Gegenwart. “A City Called Heaven” ist ungemein detailreich, dadurch stellenweise etwas mühsam zu lesen, aber durch einen umfangreich aufgeschlüsselten Index ein gutes Nachschlagewerk zum Thema. Marovich zeigt anhand der Gospelmusik in Chicago, wie sich sich Genre- und Stadtgeschichtsschreibung miteinander verbinden lassen, weil die Nöte und Zwänge des Lebens in der Großstadt letztlich die Entwicklung einer Musik als spirituelles Gegengewicht befördert haben.

Wolfram Knauer (Januar 2017)


La Nuée. L’AACM: un jeu de société musicale
von Alexandre Pierrepont
Marseille 2015 (Éditions Parenthèses)
443 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-2-86364-669-4

2008 veröffentlichte George E. Lewis sein Buch “A Power Stronger Than Itself. The AACM and American Experimental Music”, das die musikalische und ästhetische Welt der Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago seit den 1960er Jahren aus der Ecke einer “nur” afro-amerikanischen Avantgarde holte und zeigte, wie sehr die darin Aktiven Teil eines generellen und weit über Amerika hinausreichenden künstlerischen Diskurses waren und sind.

Im Vorwort seines Buchs über die AACM schildert Alexandre Pierrepont, wie es dazu kam, dass er sich als Anthropologe entschied, eine Studie zur AACM zu schreiben, wie er mittendrin von Lewis’ Arbeit erfuhr und sofort bereit war, mit seinem eigenen Projekt zurückzustecken. Lewis aber habe ihn zum Weitermachen ermutigt: Sein Buch sei eine Innenansicht, so Lewis, ein so komplexes Thema aber brauche immer mehrere Perspektiven, und Pierreponts Arbeit könne vielleicht eine sinnvolle Außenansicht bieten. Und so ist mit “La Nuée” (“Der Schwarm”) jetzt ein zweites umfangreiches Buch auf dem Markt, das die AACM von den 1960er Jahren bis heute als einen künstlerische Ansatz beschreibt, der weit über die erklingende oder auf Tonträgern dokumentierte Musik hinausreicht, vor allem nämlich in den daran beteiligten Akteuren ein Selbstbewusstsein geschaffen hat, das sie weit über den Kreis des Jazz, der afro-amerikanischen oder sogar der amerikanischen Musik hinaus einordnen lässt.

Pierrepont präsentiert im ersten Kapitel 25 Gründe warum, und Erklärungen wie Afro-Amerikaner in den USA ausgegrenzt oder marginalisiert wurden. Er zeigt, dass Musik gerade in diesem Zusammenhang wichtige soziale Funktionen übernahm. Er schildert die Situation in Chicago und erklärt, wie sich hier ab den 1950er Jahren eine aktive experimentelle Musikszene herausbildete. Im zweiten Kapitel beschreibt er die Idee hinter der AACM, die unterschiedlichen Ensembles und Projekte, die aus dem Kreis der Musiker entstanden, die europäische Erfahrung von Mitgliedern etwa des Art Ensemble of Chicago zwischen den Jahren 1969 und 1974, die Verbindungen zwischen der Chicagoer und der New Yorker Avantgarde-Szene ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre (die viel damit zu tun hatte, dass etliche Chicagoer Musiker inzwischen an die Ostküste umgezogen waren), sowie den Einfluss der AACM und ihres Konzepts auf europäische Improvisations-Kollektive.

Im dritten Kapitel untersucht Pierrepont die AACM als Kooperative und Verein, als Geheimbund und Brüderschaft, als sozio-musikalische Bewegung und Weltschule, beschreibt ihre formale Organisation, aber auch die “respectful anarchy”, die sich aus ihren Verbindungen etwa zum Black Arts Movement und anderen auch politisch aktiven Organisationen ergaben. Dabei sei sie bis heute eine Vereinigung afro-amerikanischer Musiker geblieben. Egal ob in Tongebung, Improvisation oder Komposition sei eines der verbindenden Merkmale der aus der AACM entstandenen Musik zum einen die Betonung von Individualität, zum zweiten aber auch das Einbringen des Subjekts in kollektive Prozesse. Pierrepont beschreibt pädagogische Konzepte, die sich aus den Schulprojekten der Association ergaben, und umreißt musikalische als soziale Verbindungen und die daraus resultierenden Gruppenzugehörigkeits-Prozesse. Im vierten Kapitel beschreibt er die Offenheit der AACM-Mitglieder gegenüber Genre, kompositorischen und improvisatorischen Experimenten, der Verwendung und Aneignung im Jazz bislang eher unüblicher Instrumente, der Weiterentwicklung elektronischer Klang- (und musikalischer Reaktions)möglichkeiten, sowie der Arbeit im Solo- und großorchestralen Kontext. Das Art Ensemble of Chicago warb mit dem Slogan “Ancient to the Future”, und in dieser Haltung, dass die Formung jedweder (künstlerischen) Zukunft sich auf die eigene Interpretation der Vergangenheit beziehe, sieht Pierrepont eines der Geheimnisse hinter der Langlebigkeit der AACM als Organisation. “Ich ziehe die Mythokratie der Demokratie vor”, zitiert er Sun Ra. “Noch vor der Geschichte. Alles vor der Geschichte sind Mythen… Das ist der Ort, an dem die Schwarzen sind. Realität ist gleich Tod, weil alles, was real ist, einen Anfang und ein Ende hat. Die Mythen sprechen vom Unmöglichen, von Unsterblichkeit. Und da alles Mögliche bereits versucht wurde, müssen wir eben das Unmögliche versuchen.”

Alexandre Pierreponts Studie zur AACM bietet eine gelungene Interpretation dessen, wofür die Association for the Advancement of Creative Musicians stand und steht, eine Einordnung ästhetischer wie gesellschaftlicher Vorstellungen und Aktivitäten aus der Gruppe, und den Versuch, das alles in Verbindung zu bringen mit ästhetischen, kritischen, philosophischen und spirituellen Aspekten, die weit über die Arbeit der AACM-Mitglieder hinausgehen. Ihm ist dabei, in Gesprächen mit Musikern, in den Beschreibungen von Konzert- und Aktionssituationen, in der historischen genauso wie der anthropologischen Einordnung all dessen ein kluges Buch gelungen, das die Rolle der AACM im Jazz genauso zu verorten in der Lage ist wie in der aktuellen Musik des 20sten (und letzten Endes auch 21.) Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Jazz Tales from Jazz Legends. Oral Histories from the Fillius Jazz Archive at Hamilton College
Von Monk Rowe (& Romy Britell)
Rochester 2015 (Richard W. Couper Press)
209 Seiten, 20 US-Dollar
ISBN: 978-1-937370-17-6

Das Hamilton College ist eine relativ kleine Hochschule in Clinton, New York. Einer ihrer Absolventen, Milt Fillius Jr., zog nach seinem Diplom ans andere Ende des Landes, nach San Diego, hielt aber Kontakt zu seiner Alma Mater. Er liebte Jazz und er war ein guter Freund des Sängers Joe Williams, der 1988 die erste Ehrendoktorwürde des Hamilton College erhielt. Im Gespräch mit Williams und dem Bassisten Milt Hinton wurde Fillius bewusst, wie viel an Wissen über den Jazz tatsächlich nur in der Erinnerung der Musiker bewahrt und wie wichtig Oral History gerade in diesem Bereich ist. Er etablierte also ein umfassendes Interview-Projekt, für das mittlerweile weit über 300 Künstler/innen in Ton und Bild festgehalten wurden. Die Interviews, von denen viele der Hamilton-Archivar Monk Rowe selbst durchführte, dokumentieren die Welt des Swing genauso wie die des modernen Jazz. Die meisten dieser Erinnerungen sind auf der Website des Hamilton College nachzulesen; eine für die Jazzforschung ungemein hilfreiche Sammlung. Es handelt sich bei den Interviewten nicht unbedingt um die großen Stars der Jazzgeschichte, obwohl etwa mit Lionel Hampton, Nat Adderley, Herbie Hancock, James Moody, Oscar Peterson, Ruth Brown und anderen auch solche vertreten sind. Viele der Musikererinnerungen stammen stattdessen von Sidemen, die über ihre Zeit in den großen Bands berichten, über das Leben “on the road”, über die alltäglichen Probleme eines reisenden Musikers, über Rassismus und vieles mehr

In “Jazz Tales from Jazz Legends” zeigt Monk Rowe, was man aus diesen Interviews so alles lernen kann. Er filtert konkrete Themen heraus, für die er dann die verschiedenen Erfahrungen der Interviewten gegenüberstellt. Das Anfangskapitel widmet sich Joe Williams, dann folgt ein Abschnitt über das Schicksal der Sidemen bei Duke Ellington, Count Basie, Benny Goodman und in anderen Bigbands. Clark Terry erzählt etwa, wie der Duke ihn bei Basie abwarb, erinnert außerdem, was er bei beiden Bandleadern lernte, und Benny Powell weiß zu berichten, dass Basie ihm in den zwölf Jahren in der Band nie förmlich bestätigt habe, dass er engagiert sei. Im Kapitel “Road Travails” erzählen Eddie Bert von seiner Zeit bei Benny Goodman, Sonnie Igoe von einer Tournee mit Woody Herman, Bucky Pizzarelli vom Reisen mit dem Vaugn Monroe Orchestra, Jay McShann vom Problem mit schlechten Klavieren “on the road”, Jimmy Lewis von einem angst-machenden Flug mit der Basie-Band, Kenny Davern vom Stress, die 60 One-Nighters in 90 Tagen erzeugen können, Lanny Morgan darüber, dass die Gage oft von Hotel- und Reisekosten aufgefressen wurde, die die Musiker aus eigener Tasche zahlen mussten. “Arranging the Notes” heißt ein weiteres Kapitel, das sich mit den Ansprüchen an die Arrangeure der Bands befasst. Dick Hyman, Mike Abene, Bill Holman, Derrick Gardner, Ray Conniff, Manny Albam erzählen darin von der Arbeit eines Bandarrangeurs genauso wie von den Anforderungen an andere Arten von Musik, etwa für Hollywood; Lew Soloff erinnert sich an die Arrangements für Blood Sweat & Tears, und Dave Rivello und Maria Schneider geben einen Ausblick darauf, wie die Arbeit eines Arrangeurs im 21sten Jahrhundert funktioniert.

“Inside the Studio” ist ein Kapitel über Aufnahmeerfahrungen überschrieben, in dem sich Doc Cheatham an seine erste Platte mit Ma Raney erinnert, Richard Wyands einen typischen Aufnahmegig aus dem Jahr 1959 beschreibt, Orrin Keepnews erzählt, was Musikern für Aufnahmesitzungen üblicherweise bezahlt wurde, und Dick Hyman und Derek Smith verraten, dass sie sich natürlich auch mit Musik für Fernsehwerbung über Wasser halten mussten. Man müsse nicht alles mögen, was da im Studio produziert werde, erklärt Hyman, man müsse sich aber anstrengen, das, was von einem gefordert werde, möglichst gut zu spielen. Rassismus war für viele der interviewten Musiker ein täglich erlebtes Thema, und im Kapitel “The Color of Jazz” kommt auch dies zur Sprache. Clark Terry und Joe Williams haben genügend eigene Erlebnisse; Sonny Igoe erzählt, wie er auf einer Tournee durch den Süden, bei der er im Bus mit dem Art Tatum Trio mitreiste, als “White Trash” angepöbelt und aufgefordert wurde, er solle den Bus gefälligst verlassen. Louie Bellson und Red Rodney haben ähnliche Erinnerungen, und Frank Foster fasst zusammen, dass der Jazz zwar aus der schwarzen Erfahrung heraus geboren worden sei, dass der Melting Pot Amerika ihn aber schon seit langem zu einer amerikanischen, wenn nicht gar globalen Musik gemacht habe.

Im Kapitel “Thoughts on Improvisation” geben Marian McPartland, Clark Terry, Bill Charlap, Charles McPherson und andere Tipps, wie man sich der Improvisation nähern könne. Ken Peplowski fasst zusammen: “Lern es, dann vergiss es wieder!”, und Randy Sandke reflektiert, was während eines Solos so alles durch seinen Kopf ginge. Schließlich äußern sich Gary Smulyan, Ralph Lalama und Jan Weber über die Möglichkeit und die Chancen “falscher Töne” im Jazz. “Motivation and Inspiration” ist ein Kapitel überschrieben, das Erinnerungen an persönliche Einflüsse beinhaltet. Keter Betts etwas erzählt, dass er als Schlagzeuger begonnen habe und durch Milt Hinton (und reichlich Zufall) zum Bass gekommen sei. John Pizzarelli kam über die Beatles zur Gitarre, Kenny Davern übers Radio bei einer der Pflegefamilien, bei denen er aufwuchs, bis er sechs Jahre alt war, und auch Junior Mance war von Earl Hines begeistert, dem er spätabends heimlich im Radio lauschte. Jon Hendricks berichtet, wie er dazu kam, improvisierte Instrumentalsoli zu textieren. Und Eiji Kitamura erinnert sich, wie eine Platte von Benny Goodman in der Sammlung seines Vaters ihn zur Klarinette brachte. Schließlich gibt es im Schlusskapitel noch ein paar Haltungen zum Phänomen des Swing und zum Missverständnis des Free Jazz sowie Erinnerungen an unglücklich gelaufene Engagements und über die Arbeit mit Legenden.

“Jazz Tales from Jazz Legends” ist also ein vielfältiges Buch, das jede Menge unterschiedlicher Erfahrungen zusammenbringt. Zu Beginn der Lektüre wünscht man sich, die einzelnen Interviews im Zusammenhang zu lesen, aber das ist ja tatsächlich möglich, über die Website des Fillius Jazz Archive am Hamilton College. Und so sollte man Monk Rowes thematische Zusammenstellung als das sehen, was sie ist: ein exzellentes Beispiel, wie sich aus den gesammelten Interviews am Hamilton College Narrative zu den unterschiedlichsten Themengebieten der Jazzgeschichte exzerpieren lassen. Dann lässt sich umso interessanter verfolgen, wie die Interviews sich gegenseitig ergänzen und die unabhängig voneinander Befragten dabei fast miteinander ins Gespräch zu kommen scheinen.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Swingin’ On Central Avenue. African American Jazz in Los Angeles
von Peter Vacher
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
331 Seiten, 55 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8832-6

2015vacherJazzgeschichtsschreibung funktioniert normalerweise so: Louis Armstrong – Charlie Parker – Miles Davis – John Coltrane. Oder so: New Orleans – Chicago – Kansas City – New York. Oder so: Dixieland – Swing – Bebop – Cool Jazz – Hard Bop – Free Jazz – Fusion. Personen, Orte, Epochen… eine Geschichte der großen Männer (!), der lebendigen urbanen Szenen, der alles umwälzenden stilistischen Innovationen. Tatsächlich aber ist dieser Blick auf die Größen, die Zentren, die Stilbegriffe enorm einengend, wenn nicht gar: einfach nur falsch. Neben den großen Stilisten gibt es immer auch diejenigen, deren Kreativität entweder nicht den großen populären Erfolg hatte oder aber nicht lange genug anhielt, oder die sich einfach weniger gut “verkaufen” konnten. Neben den jazzgeschichtsmäßig bekannten Zentren gab es Städte und Landstriche, die musikalisch enorm lebendig waren, viele Musiker hervorbrachten, aber von der Geschichtsschreibung höchstens als potentielle Spielorte, nicht als Brutstätten dieser Musik dargestellt wurden. Und neben den etablierten Stilen gibt es unendlich viele Zwischenstufen, da kaum ein Musiker sich eines Stils “in Reinkultur” bediente”. Ganz davon zu schweigen, dass sich die meisten Jazzgeschichten, ja selbst die meisten Biographien an Aufnahmen entlanghangeln und dabei gern den performativen Aspekt des Jazz vergessen, die Tatsache also, dass die veröffentlichte Platte nur eine Momentaufnahme des kreativen Prozesses ist.

Peter Vacher füllt mit seinem Buch also eine Lücke. Er widmet es einer Szene, die nie so ganz im Mittelpunkt des Jazz stand (Los Angeles), und er fokussiert dabei auf Musiker, die höchstens regionale Stars blieben und kaum nationalen oder gar internationalen Erfolg einfuhren. Vacher ist Außenseiter (Brite); er kam im Laufe des Trad-Jazz-Booms der 1950er Jahre zum Jazz. In den 1980er Jahren arbeitete er mit dem Klarinettisten Joe Darensbourg an dessen Autobiographie, verbrachte währenddessen einige Zeit in Los Angeles und lernte damals Veteranen der schwarzen Musikszene der Westküstenmetropole kennen. Die Interviews, die er mit den sechzehn in diesem Buch dokumentierten Musikern führte, hatten ursprünglich nicht das Ziel einer Buchveröffentlichung, sondern dienten einzig seinem privaten Interesse an ihrer Geschichte. Wenige konnte er ein zweites Mal interviewen, bei anderen fühlte er sich im Nachhinein schlecht vorbereitet. Dennoch geben die Geschichten, die er anhand dieser 16 Musiker erzählt, einen Einblick in eine so ganz andere Musikszene als die an der Ostküste. Die Westküstenmusiker waren flexibel; sie spielten Jazz genauso wie R&B oder Dixieland. Viele von ihnen verdienten sich ihren Lebensunterhalt in den Studios Hollywoods, und viele zog es vielleicht mal für eine Tournee, selten aber für immer fort aus Kalifornien. Und wenn auch diese Szene Jazzgrößen wie Dexter Gordon, Wardell Gray, Teddy Edwards und Charles Mingus hervorbrachte, wenn auch Legenden wie Benny Carter, Red Callender und Buddy Collette von hier aus agierten, so blieb Los Angeles doch ein weitgehend ungeschriebenes Kapitel der US-amerikanischen Jazzgeschichte.

Die von Peter Vacher interviewten Musikern stammen aus der älteren Generation, und dokumentieren die Szene vor allem der 1930er bis 1950er Jahre. Noch weiter zurück geht es in den Erzählungen des Trompeters Andy Blakeney , der von seinen ersten musikalischen Erfahrungen im Chicago der 1920er Jahre berichtet, von seinem Umzug an die Westküste im Jahr 1925, von Reb Spikes, der ein Musikgeschäft in L.A. besaß und außerdem eine gut beschäftigte Band. Er erinnert an viele der Musiker in der Stadt und an Partys bei Orson Welles. Er erzählt aber auch von der Rassentrennung in der Stadt, und von den legendären Gigs, die Louis Armstrong und Duke Ellington Anfang der 1930er Jahre in Sebastian’s Cotton Club hatten, von Tagesjobs in einer Schiffswerft, von Gigs mit Kid Ory und Barney Bigard, und von verschiedenen Comebacks in den 1970er und 1980er Jahren. Beim Pianisten Gid Honoré musste Vacher erst Street Credibility beweisen (dadurch, dass er den Schlagzeuger Wallace Bishop kannte), bevor der sich zu einem Interview bereitfand. Honoré kam 1921 aus New Orleans nach Chicago und erzählt von den vielen Ensembles, mit denen er in den 1920er bis 1940er Jahren dort spielte – oft Bands alter Freunde aus New Orleans. 1948 zog er an die Westküste, wo er mit Kid Ory und Teddy Buckner spielte – seine Erinnerungen an die Szene in L.A. nehmen dabei gerade einmal ein Fünftel seines Kapitels ein. Der Trompeter George Orendorff hatte in den 1920er Jahren King Olivers Creole Jazz Band mit Louis Armstrong in Chicago gehört, kurz bevor er nach L.A. zog. Er erzählt vom Engagement in der Band von Les Hite, in der als Schlagzeuger Lionel Hampton mitwirkte, oder von einem Abend, an dem Fats Waller Bach und Beethoven spielte. 1946 war er im Billy Berg’s Club, als Dizzy Gillespie dort mit Charlie Parker spielte. Orendorff arbeitete schließlich 30 Jahre lang als Postbeamter und trat nur noch selten auf. Jeder in Los Angeles kannte den Schlagzeuger Monk Fay, den Vacher aber erst nach intensiver Suche in einem Seniorenheim fand. Der erzählt von seiner Popularität in Hawaii, von einer Gefängnisstrafe wegen Dealens mit Marihuana und von Gigs in Los Angeles in den 1940er und 1950er Jahren. Der Saxophonist Floyd Turnham erinnert sich an Britt Woodman und an Aufnahmen mit Johnny Otis; die Sängerin Betty Hall Jones weiß noch, wie Nellie Lutcher ihr einen Vertrag bei Capitol Records verschaffte. Der Trompeter Red Mack Morris war in Les Hites Band, als diese Louis Armstrong begleitete und führte später eine Weile einen eigenen Club, in dem er schwarz Alkohol ausschenkte. Der Klarinettist Caughey Roberts erzählt von seinen Lehrern und davon, wie er schließlich selbst unterrichtete, daneben aber auch von einer Reise nach China mit Buck Clayton, über seine Arbeit mit Count Basie und Fats Waller in den 1930er Jahren und über seine Dixieland-Aufnahmen in den 1950ern. Der Pianist Chester Lane war ein großer Fan von Earl Hines, arbeitete lange Zeit um St. Louis, und zog 1957 an die Westküste. Der Trompeter Monte Easter erinnert sich, wie er und Art Farmer Ende der 1940er Jahre in Jay McShanns Band saßen, berichtet über die Probleme der afro-amerikanischen Gewerkschaften und über seinen Broterwerb als Postbediensteter. Der Bassist Billy Hadnott erzählt ausführlich von seinen musikalischen Erlebnissen in Kansas City und hat seine eigene Erinnerung daran, wie Charlie Parker ins Sanatorium von Camarillo kam. Der Trompeter Norm Bowden weiß einiges über Reb Spikes und den Schlagzeuger “Boots” Douglas zu berichten, aber auch über den Club Alabam im berühmten Dunbar Hotel auf der Central Avenue. Der Posaunist John ‘Streamline’ Ewing hatte anfangs gut bezahlte Nebenjobs in den Hollywoodstudios, ging dann auf Anregung eines Musikerkollegen nach Chicago, tourte mit Bands wie denen von Horace Henderson und Earl Hines und spielte ab den 1950er Jahren mit Teddy Buckner in Disneyland. Der Saxophonist Chuck Thomas spielte vor allem in der Küstenregion (bis Las Vegas) und zuletzt ebenfalls mit Teddy Buckner. Der Schlagzeuger Jesse Sailes erinnert sich, wie all die großen Swingbands in den Theatern von Los Angeles auftraten und wie er später Platten mit Percy Mayfield, Ray Charles und B.B. King aufnahm. Der Schlagzeuger Minor Robinson spielte mit Buddy Collette und kannte Charles Mingus, als dieser vielleicht 15, 16 Jahre alt war.

Es sind persönliche Geschichten, von Sidemen-Karrieren und außermusikalischen Lebensentscheidungen. Die Namen wiederholen sich; aus den Erzählungen schält sich dabei eine Szene heraus, die zusammenhielt, auch wenn einzelne der Musiker die Stadt für kürzer oder für länger verließen. Peter Vacher beschreibt zu Beginn eines jeden der Kapitel, wie er den Musikern auf die Spur kam und erklärt einzelne der von den Interviewten mitgeteilten Anekdoten. Nebenbei erzählen diese von der Mobilität des Musikerberufs, von Karrieren, die in New Orleans oder Chicago begannen oder in Kansas City und New York Station machten, deren Protagonisten aber, nachdem sie kalifornische Luft geschnuppert hatten, von dieser nicht mehr loskamen. Es gibt schöne Geschichten über das Zusammentreffen des West-Coast-Größen mit durchreisenden Stars der großen Swingbands; es gibt Insiderberichte über alle möglichen Aspekte des Showbusiness’; es gibt immer wieder den Anruf aus der Ferne, der ihnen einen Job in einer der “name bands” anbietet, den sie entweder für kurze Zeit annehmen oder aber ablehnen. Es gibt Geschichten über Familienplanung und solche über Tagesjobs, mit denen man die Familie ernähren konnte. Central Avenue spielt eine bedeutende Rolle, jene Straße, die in Teilen zu einem kulturellen Zentrum der afro-amerikanischen Community der Stadt wurde.

Peter Vacher hat die Gespräche laufen lassen; sein ursprüngliches Interesse galt der Lebensgeschichte der Musiker, weniger dem Treiben in Los Angeles. Und so nehmen die Erinnerungen an Chicago oder Kansas City oft mehr Raum ein als die aktuelle Lebenswirklichkeit des Ortes, an dem die interviewten Musiker schließlich landeten. Doch wird eine Szene eben nicht nur durch das geprägt, was Musiker in ihr kreieren, sondern auch durch alles, was sie aus ihrer Vergangenheit mitbringen. Von daher ist Vachers Ansatz völlig richtig, die Geschichte der Central Avenue durch die Einflüsse zu erzählen, die hier zusammenkamen.

Beim Lesen wünschte man sich stellenweise entweder einen knappen biographischen Abriss vor oder nach den Kapiteln oder aber das Einstreuen von Jahreszahlen, um die Erinnerungen der Musiker besser einordnen zu können. Wer bei Los Angeles an die Westcoast-Szene denkt, sei gewarnt: alle der von Vacher interviewten Musiker sind vor allem der Swingära zuzuordnen; sie erzählen zum Teil von den jüngeren Musikern, die sie kannten, waren aber nie selbst Mitglied dieser Szene. In seinem Vorwort heb Vacher vor allem drei Interviews hervor, die besonders gut gelungen seien: jene mit Andy Blakeney, Billy Hadnott und Norman Bowden, mit Musikern also, mit denen er mehrfach sprechen und dabei mehr über ihr Leben und musikalisches Wirken lernen konnte. Tatsächlich aber sind auch jene Gespräche lesenswert, die etwas langsamer “auf den Punkt” kommen. “Swingin’ On Central Avenue” gelingt es dabei, Erhebliches zur Kulturgeschichte des afro-amerikanischen Jazz im Los Angeles der 1930er bis 1950er Jahre beizutragen. Das Buch erzählt von künstlerischen Idealen und von der Realität des alltäglichen Musikgeschäfts. Die Entscheidung, die Vacher – sicher mehr der Not gehorchend – getroffen hatte, war genau richtig: Seine Protagonisten sind eben nicht die großen Stars, weil die Szene, die er im Fokus hat, sich in keiner der stilbildenden Städte befand, weil die Community, die er in den Kapiteln seines Buchs abbildet, sich aus vielen sehr disparaten Erfahrungen zusammensetzte. Sein Buch ist auf jeden Fall eine Fundgrube für Jazzhistoriker mit vielen Anekdoten und Erinnerungen, die dieser Rezensent hier zum ersten Mal gelesen hat; zugleich ist es eine abwechslungsreiche Zeitzeugensammlung einer Szene, die bislang nur mäßig dokumentiert ist.

Wolfram Knauer (Juli 2016)


Invitation to Openness. The Jazz & Soul Photography of Les McCann, 1960-1980
herausgegeben von Pat Thomas & Alan Abrahams
Seattle 2015 (Fantagraphics Books)
200 Seiten, 39,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-60699-786-4

2015mccannMusikerfotos – es gibt eine ganze Reihe an Jazzmusikern, deren Hobby auf Tournee das Fotografieren war. Milt Hinton ist der wohl namhafteste unter ihnen, doch jetzt zeigt ein neues Buch, dass auch Les McCann nicht nur gute Ohren, sondern auch ein exzellentes Auge hat. Das nämlich gehört dazu, auf dass das Buch eines fotografierenden Musikers nicht einzig wegen der Vorteile interessant ist, die sich daraus ergeben, dass der Mann hinter der Kamera zugleich auf der Bühne sitzt und von den Objekten seiner Begierde, also anderen Musikern, nicht als Störenfried, sondern als einer der ihren anerkannt wird.

Im Vorwort von “Invitation to Openness” erzählt A. Scott Galloway kurz die biographischen Stationen Les McCanns: geboren in Lexington, Kentucky, über Tuba und Snare-Drum zum Klavier gelangt, zusammen mit Eddie Harris mit “Compared to What” über Nacht einen Welthit geschaffen, der eine Solokarriere bedingte, die bis in jüngste Zeit anhielt. Pat Thomas erzählt die Genese des Buchprojekts: Er hatte gerade eine CD-Wiederveröffentlichung des McCann-Klassikers “Invitation to Openness” organisiert und McCann zu Hause besucht, als er in einer Ecke einen Stapel zerkratzter Abzüge von Fotos entdeckte, die der Pianist in den 1960er und 1970er Jahren gemacht, aber nie veröffentlicht hatte. Im Interview mit Thomas erzählt McCann, dass es in seiner Familie immer Fotoapparate gegeben habe. Er selbst habe sich eine Nikon gekauft und begonnen, auf der Bühne und daneben Menschen abzulichten. Als er sich ein Haus in Hollywood leisten konnte, richtete er sich eine Dunkelkammer ein und begann seine Aufnahmen selbst zu entwickeln.

Das Bemerkenswerteste an den Bildern ist vielleicht die Perspektive. Gerade die Bühnenaufnahmen sind eben nicht von vorn gemacht, aus dem Bühnengraben oder der ersten Reihe, sondern oft von der Seite oder leicht von hinten. Viele Bilder zeigen die Musiker backstage, in Vorbereitung fürs Konzert, in Freizeitklamotten beim Soundcheck. Das entspannte Lächeln Count Basies zeigt die entspannte Vertrautheit. Andere eindrucksvolle Motive sind etwa: Stanley Clarke mit abwartend-konzentrierter Miene (und einer denkwürdigen Frisur); Ben Webster am Flügel; Dexter Gordon und Joe Zawinul vor einem Motel; die junge Tina Turner; das Publikum aus Gefangenen im Cook County Jail; Cannonball Addlerley, der an einer Zigarette zieht, sein Gesicht halb in Rauch gehüllt. Neben Musikern gibt es Bilder von Schauspielern (Jack Lemmon, Bill Cosby, Jerry Lewis), Politikern (Jimmy Carter, Jesse Jackson, Stokely Carmichael, Dr. Martin Luther King), Sportlern (Muhamad Ali, Pelé), sowie einige wenige Bilder, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Doch auch diese Aufnahmen, etwa das eines alten Mannes mit Fahrrad, hätten das Potential zu Plattencovers.

Les McCann gibt zu einzelnen der Bilder Kommentare ab, in denen er Kolleginnen oder Kollegen erinnert. Auch die Identifizierung der Motive basiert auf McCanns Erinnerung, wobei es Motive gibt, zu denen er nicht wirklich mehr weiß, wo oder wann sie gemacht wurden, und zumindest eine falsche Zuschreibung (nein: das ist NICHT Eberhard Weber auf den beiden Fotos mit Sarah Vaughan, sondern Bob Magnusson!). Beim Durchblättern des Bandes kommt einem immer wieder in den Sinn, dass das Leben eines Jazzmusikers eben aus mehr besteht als der Bühnenwirklichkeit. Les McCanns “Invitation to Openness” bietet damit einen lohnenswerten und allemal mit Soul gefüllten Blick hinter die Kulissen sowohl der Musiker, die er darin dokumentiert, als auch seiner eigenen Konzertarbeit.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Bitches Brew
von George Grella Jr.
New York 2015 (Bloomsbury Academic, 33 1/3)
128 Seiten, 14,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-6289-2943-0

D2015grellaie Buchreihe 33 1/3 des Bloomsbury-Verlags behandelt eigentlich Rockgeschichte. Jeder Band ist einem separaten Album gewidmet und wird historisch kontextualisiert. Miles Davis wurde jetzt die Ehre zuteil, als erster Jazzer in die Reihe aufgenommen zu werden, die immerhin schon mehr als 100 Bände umfasst. Sein Album “Bitches Brew” von 1969 schrieb eben nicht nur Jazz-, sondern genauso auch Popgeschichte.

In seinem ersten Kapitel betont George Grella, wie schwer es ist, “Bitches Brew” klar einem Genre zuzuordnen. Miles wollte weder ein klares Jazz- noch ein dezidiertes Rockalbum machen. “Bitches Brew”, meint Grella, sollte man daher am ehesten als experimentelle Musik hören, als Versuch, den überkommenen Normen von sowohl Jazz wie auch von Rock zu entkommen.

Im zweiten Kapitel erklärt Grella die seltsame Sektenhaltung, die Jazzrezeption manchmal annehmen kann und gegen die sich Miles Davis von früh an wehrte. Geht nicht gibt’s nicht, sei sein Motto gewesen, und Popsongs nahm er bereits lange vor “Time After Time” auf. Miles, fasst Grella zusammen, spielte Pop nicht um Popstar zu sein, sondern um Musik zu machen. Er erzählt von der Zeit des Trompeters mit Charlie Parker, vom Capitol-Nonet, das irgendwie die Geburtsstunde des Third Stream wurde, sowie von “Kind of Blue” und “Sketches of Spain”.

In Kapitel 3 erklärt Grella, welch völlig anderen Ansatz Miles an die Produktion eines Albums hatte, bei dem er sich ab 1968, ab dem Album “Circle in the Round”, vorbehielt, die musikalischen Versatzstücke nach Belieben zusammenzuschneiden.

In den Kapiteln 4 und 5 schließlich steht “Bitches Brew” selbst im Mittelpunkt, wenn Grella über Titel und Covergestaltung geflektiert und die einzelnen Titel beschreibt. Das liest sich stellenweise wie eine Sportreportage: wer, wann, was, Tonart, Einsatz, Intensität. Grella verweist auf die oft nicht wahrnehmbare Editiertechnik Teo Maceros und darauf, wie dies nur deshalb möglich war, weil alle Musiker immer deutlich aufeinander hörten. In “Pharoah’s Dance” benennt er eine “hippe Blueslinie bei 4:46” oder eine Coda, die “fast Beethoven’schen Charakter” habe. Im Titeltrack zeigt er auf viele der Nahtstellen, und dann verweist auf die Unterschiede der beiden Platten des Doppelalbums: “eine, um dich wegzublasen, die andere, um deinen Kopf wieder geradezurücken”.

Im letzten Kapitel widmet Grella sich den Nachwirkungen des Albums, in der Kritik genauso wie im Jazz. Mit Verweis auf Wynton Marsalis erklärt er, dass da zwei recht unterschiedliche Sichtweisen der Zukunftfähigkeit von Musik aufeinandergeprallt seien, um dann Miles’ Konzept auf dem kleinsten Nenner zusammenzufassen: “Indem er Rhythmus, Puls und Harmonien – und auf Tonband eingespielte Kompositionen – verwandte, die absichtlich nicht zu einer Auflösung fanden, organisierte Miles Zeit: und sowohl Form wie auch Zeit finden damit in der Musik zusammen”.

Eine kommentierte Diskographie beschließt das Büchlein, das sich wie ein sehr ausführlicher Plattentext mit vielen zusätzliche Informationen liest. Ja, Grella gelingt die Kontextualisierung, und doch kommt er der Musik selbst nur bedingt nahe, auch weil seine analytischen Anmerkungen etwas zu oberflächlich bleiben, weil er quasi nur parallel zur Musik beschreibt, was man eh hört, anstatt zusammenzufassen, was das alles “bedeutet”. Trotz dieser Einschränkung aber ist Grellas Büchlein ein lohnenswerter Begleiter zur nächsten abendlichen Abhörsession dieses Miles Davis-Klassikers.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Jazz Basel. Vier Jahrzehnte Stars und Szene
herausgegeben von Offbeat = Urs Ramseyer & Ruedi Ankli & Peewee Windmüller & Urs Blindenbacher
Basel 2015 (Christoph Merian Verlag)
180 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-85616-695-5

2015offbeatDie Geschichte regionaler Jazzszenen kann man auf unterschiedliche Weise erzählen. Man kann nostalgisch und sehnsuchtsvoll zurückblicken und von alten Zeiten schwärmen. Oder man kann auch Zurückliegendes vor allem aus dem Wissen um die Gegenwart verstehen.

Die Macher des offbeat-Festivals gehen in ihrem Buch über “Jazz Basel” den zweiten Weg. Das opulent bebilderte Buch widmet einzig sein Eingangskapitel (von Bruno Spoerri) den Anfängen des Jazz in Basel von den 1920er bis in die 1970er Jahre. 1974 gründete sich der Verein und die Konzertreihe jazz in basel, 1990 schließlich das Festival offbeat. Das Buch blickt auf die Musiker, die seither auf dem Festival spielten, aus skandinavische Gäste oder gesamtdeutsche Schwerpunkte, auf Jazz aus dem Mittelmeerraum und einen lateinamerikanischen Fokus, auf US-amerikanische Bands und die Schweizer Musiker, die hier auch immer zu hören waren. Es gibt Anekdoten aus dem Alltag von Festivalorganisatoren und Berichte von Backstage. Die Auswirkungen des Festivals in Stadt und Region werden thematisiert, Schulprojekte etwa oder die Präsenz im örtlichen Rundfunk. Und schließlich wird mit Stolz auf die Zusammenarbeit des offbeat Festivals mit dem Jazzcampus Basel und dem Club The Bird’s Eye berichtet.

Das alles ist kurzweilig geschrieben, vordergründig wohl vor allem für regionale Leser interessant, daneben aber genauso ein Bericht über die Verankerung einer regionalen wie internationalen Szene, aus dem auch Veranstalter anderswo etwas lernen können. Und schließlich sind da noch die 86 schwarz-weißen Abbildungen, Fotos von Bernhard Ley, Peewee Windmüller und Röné Bringold, die die Erinnerungen an die Geschichte von offbeat ungemein lebendig werden lassen.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher
von Detlef Siegfried
Göttingen 2015 (Wallstein)
455 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1673-7

2015siegfriedErnest Borneman war eine Mehrfachbegabung, so sehr, dass es genügend Menschen gaben, die dachten, es handele sich wahrscheinlich um mehrere Personen, die nur zufällig denselben Namen hätten. In den 1970er und 1980er Jahren war Borneman ein regelmäßiger Gast in deutschen Talkshows, wann immer es um das Thema Sexualität ging, hatte daneben eine Sex-Beratungskolumne in der Neuen Revue. Als Soziologe hatte er sich mit seinem Buch Das Patriarchat 1975 einen Namen gemacht. Vor seiner Beschäftigung mit Frauenbewegung und Feminismus hatte Borneman eine Karriere im Filmgeschäft gemacht, arbeitete für das National Film Board of Canada, für die UNESCO in Paris und war Programmdirektor des Freien Fernsehens, der ersten privaten Fernsehanstalt, die nach ihrem Verbot durch die Adenauer-Regierung quasi durch das ZDF abgelöst wurde. Und noch früher war Borneman nicht nur Jazzliebhaber und -experte, sondern einer der ersten Jazzforscher, ein Kenner des Jazz, der diese Musik zeitlebens als transkulturelle künstlerische Aussage verstand und 1944 mit seinem Artikelreihe “The Anthroprologist Looks at Jazz” eine der ersten übers Anekdotische hinausreichenden Kulturgeschichten des Jazz verfasste.

Borneman schied im Juni 1995 aus dem Leben. Sein Archiv ist in der Berliner Akademie der Künste untergekommen; jetzt hat der Historiker Detlef Siegfried die Biographie des vielfältigen Forschers vorgelegt. Diese hat er klar nach den verschiedenen Feldern gegliedert, in denen Borneman tätig war, überschrieben “Hören. Die Ethnologie des Jazz”, “Sehen. Das Leben auf der Leinwand” und “Berühren. Sex und Gesellschaft”.

Der 1915 in Berlin geborene Ernst Bornemann – wie er bis zu seiner Emigration 1933 hieß – hatte bereits 1930 Bertolt Brecht kennengelernt, als Mitglieder von Berliner Schulchören zu Proben des Lehrstücks Der Jasager geladen worden waren. Er und Brecht freundeten sich an, Brecht half ihm bei der Abfassung seines ersten Theaterstücks und Borneman Brecht bei einer Neuübersetzung des Dreigroschenromans ins Englische. Siegfried, der zu Beginn seines Buchs anschaulich erklärt, wie er sich durch Bornemans eigene “Autofiktionen”, wie er sie nennt arbeiten musste, durch falsche Fährten also, die Borneman aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten seiner Karriere legte, beschreibt Bornemans Exil als “nicht nur Flucht-, sondern auch Möglichkeitsraum”.

In London war Borneman regelmäßig bei Jazzkonzerten anzutreffen, verkehrte außerdem in einem Kreis linker und schwarzer Intellektueller. Bereits Mitte der 1930er Jahre hatte er einen Kriminalroman geschrieben, arbeitete bald auch an einem Drehbuch für einen möglichen eigenen Film, in dem auch der Jazz eine Rolle spielen sollte. Im Sommer 1940 wurde er als “feindlicher Ausländer” interniert, doch bereits zuvor produzierte er seine erste Rundfunksendung. Nach seiner Internierung wurde er nach Kanada deportiert, wo er nach seiner Entlassung beim National Film Board Arbeit fand.

Er knüpfte Kontakt zu Sammlern und Jazzkennern in den USA und sammelte Material für eine mögliche musikwissenschaftliche Dissertation und ein Buch zum Thema “American Negro Folk Music”, das von zwei Verlagen zur Publikation angenommen, dann aber wegen kriegsbedingten Papiermangels nicht gedruckt wurde. In seinen Jazzarbeiten, für die Borneman sich bei dem bekannten Musikethnologen Melville J. Herskovits um ein Stipendium bemühte, ging es, wie Siegfried zusammenfasst, “um zwei Themen: erstens um die Verbindungen von afroamerikanischer Volksmusik und moderner Tanzmusik der Gegenwart, und zweitens um die Verschränkungen von sozialen Verhältnissen und Populärkultur”. 1944 begann Borneman seine achtteilige Artikelserie “The Anthropologist Looks at Jazz”, die in der Zeitschrift The Record Changer erschien, der er bald auch als Mitherausgeber angehörte. Er schlug sich in der Debatte um den Bebop zwar auf die Seite des “authentischen” Jazz, konnte aber der romantischen Rückwärtsgewandtheit vieler der Traditionalisten wenig abgewinnen und versuchte daher immer wieder zwischen den Lagern zu vermitteln.

Mitte der 1940er Jahre lebte er in Paris, interviewte Louis Armstrongs Band anlässlich des ersten Jazzfestivals in Nizza im Jahr 1948, und freundete sich mit amerikanischen Expatriates und französischen Musikern wie Claude Bolling oder Boris Vian an. Er schrieb für den britischen Melody Maker und produzierte 1953 mit Betty Slow Drag einen experimentellen Kurzfilm, der seine beiden großen Interessen Jazz und Film miteinander verbinden sollte. Für den Melody Maker berichtete Borneman auch über den Jazz in Westdeutschland, konnte aber, selbst als Joachim Ernst Berendt versuchte ihn mit zeitgenössischen Musikrichtungen der 1960er Jahre anzufreunden, indem er ihn in ein Konzert John Coltranes mitnahm, mit dem modernen Jazz wenig anfangen.

Siegfried widmet Bornemans langer Auseinandersetzung mit den karibischen Wurzeln des Jazz ein eigenes Unterkapitel und berichtet davon, wie der spätere Beat Club von Radio Bremen auf Bornemans Ideen zurückzuführen gewesen sei. Er zeigt, dass Borneman in seinen Schriften einige Debatten angestoßen hatte, die in der Jazzkritik erst in den 1960er Jahren wirklich ausgetragen wurden, als er selbst an dieser Diskussion nicht mehr selbst teilnahm. Letzen Endes mag Borneman nicht mit allen seiner Thesen Recht gehabt haben, ohne Zweifel aber sei er ein Wegbereiter der internationalen Jazzforschung gewesen.

Der Jazz spielt auch in den weiteren Lebens- und Arbeitsphasen für Borneman eine wichtige Rolle, und Bornemans kritischer Geist, den Siegfried am Beispiel des Jazz ausgiebig beschrieben hat, lässt sich auch in diesen Bereichen zeigen. Detlef Siegfrieds Buch ist dabei ein faktenreicher Band, der biographische Stationen und Diskurse, an denen Borneman beteiligt war, laufend miteinander verschränkt. Ganz sicher war Borneman einer der schillerndsten Vordenker des Jazz; Siegfrieds Schilderung sowohl seines Lebens als auch der Diskussionen, an denen sich Borneman sein Leben lang beteiligte, zeigt ihn aber darüber hinaus als einen vielseitig gebildeten, einfachen Erklärungen zutiefst skeptisch gegenüberstehenden, zur Offenheit des Denkens neigenden Forscher.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Teddy Wilson. 19 Selected Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2015 (Blue Black Jazz)
44,95 Euro

Boogie Woogie, Volume 2. 17 Original Boogie Woogie and Blues Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2014 (Blue Black Jazz)
46,85 Euro
Zu beziehen über www.blueblackjazz.com

Paul Marcorelles hat bereits eine ganze Reihe an Transkriptionen von Pianisten des frühen Jazz vorgelegt, vorzugsweise von Musikern, die im Stride- oder Boogie-Woogie-Stil spielten. Seine jüngsten Veröffentlichungen widmen sich dem Swing-Stil Teddy Wilsons auf der einen und dem Repertoire einiger der Boogie-Woogie-Größen der frühen 1940er Jahre auf der anderen Seite.

2015marcorelles_wilsonFür Teddy Wilson hat Marcorelles sich Soli zwischen 1934 und 1946 ausgesucht, schnelle virtuose Titel wie “Rosetta”, den “Tiger Rag” oder “When You and I Were Young, Maggie” sowie Balladen wie “Don’t Blame Me”, “Out of Nowhere” oder “Body and Soul”. Seine Transkriptionen sind exakt, gut lesbar, reine Notationen ohne weitere Spielanweisungen oder analysierende Harmoniesymbole. Sie sind zum Nachspielen gedacht, brauchen allerdings Pianisten, die zum einen keine Probleme mit den bei Wilson so beliebten Dezimengängen der linken Hand haben und zum zweiten technisch fortgeschritten sind, um die virtuosen Arpeggien und die die Rhythmik aufbrechenden Läufe tatsächlich zum Swingen zu bringen. Wilsons linke Hand allein kann jedem Pianisten helfen, die antreibende Kraft des Swingens zu begreifen. Auch das Studium seiner Voicings lohnt, deren Alterationen den Akkorden zusätzliche Schwebungen verleihen. Wie immer bei Transkriptionen von eigentlich improvisierten Jazzsoli ist es mehr als hilfreich, sich die Soli auf Platte (oder über Streamingdienste) anzuhören.

2015marcorelles_boogieIm zweiten der beiden jüngst veröffentlichten Bände versammelt Marcorelles Transkriptionen von Hersal Thomas (“Hersal’s Blues”), Clarence ‘Pinetop’ Smith (“Pinetop’s Boogie Woogie”), Jimmy Yancey (etwa den “Five O’Clock Blues”), Pete Ammons (z.B. “Rock It Boogie”), Meade Lux Lewis (“Chicago Flyer” und “Glendale Glide”), Albert Ammons (etwa seinen “Swanee River Boogie”), Sammy Price (133rd Street Boogie”) und Pat Flowers (“Eight Mile Boogie”). Die rhythmischen Verschiebungen zwischen Bassfiguren und rechter Hand im Boogie Woogie sind dabei noch weit schwerer zu “lesen” und bedürfen noch stärker des Höreindrucks, um sie danach vom Papier in die Tasten zu übertragen und erlauben im Idealfall – und das wäre es ja eigentlich immer im Jazz – irgendwann das Loslassen und das eigene Erfinden melodischer und rhythmischer Muster, die eigene Improvisation.

Marcorelles’ neue Bände seien jedenfalls jedem interessierten Pianisten empfohlen als Übe- genauso wie Studienmaterial. Marcorelles bietet auf seiner Website übrigens alle insgesamt 202 Transkriptionen dieser wie früher erschienener Bände auch einzeln zum Download als PDF-Datei an

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Hot Music, Ragmentation, and the Bluing of American Literature
von Steven C. Tracy
Tuscaloosa 2015 (The University of Alabama Press)
537 Seiten, 64,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8173-1865-9

2015tracySteven C. Tracy ist Literaturwissenschaftler, Professor für Afro-American Studies, aber auch ein Blues-Harp-Spieler, der bereits in Vorgruppen für B.B. King, Muddy Waters und andere Stars der Szene auftrat. In seinem umfangreichen Buch stellt er die afro-amerikanische Musik der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, also Jazz und Blues, als Referenzpunkt dar, der helfen könne, die amerikanische Literaturgeschichte jener Zeit besser zu verstehen. Es geht ihm dabei nicht einzig um Romane oder Dichtung, die sich konkret und thematisch mit Musik beschäftigen, sondern auch um den Einfluss von Klanglichkeit, von Virtuosität, von improvisatorischer Haltung auf die amerikanische Literatur der Jahre bis 1930. Er greift hierfür immer wieder zurück auf konkrete Aufnahmen, um etwa Beispiele der afro-amerikanischer Stimme, des afro-amerikanischen Rhythmus, der Griot-Funktion des Bluessängers, der Bedeutung von Wiederholungen, der tiefen Doppeldeutigkeit, der politischen Untertöne herauszustreichen, die eben keine rein afro-amerikanischen Untertöne seien, sondern Befunde für den Zustand der gesamten amerikanischen Gesellschaft. Tracy verbindet die Genres, folkloristischen Blues, modernistischen Jazz, um aus dem Mix der Aufnahmen heraus, auf die er sich bezieht, neue Argumente zu entwickeln, die abseits der üblichen Beschreibung von Jazz-, Blues- oder Kulturgeschichte liegen. Er untersucht daneben auch Film- oder klassische Musikgeschichte nach Einflüssen von oder Analogien zu afro-amerikanischer Musik und findet den nachhaltigsten Widerhall außerhalb der Musik schließlich in der Literatur, bei T.S. Eliot, William Carlos Williams, Hart Crane, Gertrude Stein, Ezra Pount, und bei Abbe Niles, Langston Hughes, Countee Cullen, Zora Neale Hurston und anderen Dichtern und Schriftstellern der Harlem Renaissance.

Tracys schnelle Wechsel zwischen den Diskursen sind dabei sowohl inspirierend wie auch, da sie ein häufiges Vor- und Zurückblättern erfordern, zeitweise ermüdend. Sein intertextueller Ansatz ist auf jeden Fall ein Beispiel, wie sich aus dem Studium afro-amerikanischer Musik Aussagen über weit mehr als diese treffen lassen, wie stark tatsächlich diese Musik bereits in den ersten 30 Jahren des 20sten Jahrhunderts ihren Niederschlag im Denken, Handeln und Schreiben gefunden hat.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Friedel Keim
Das große Buch der Trompete (3)
Diskografie, Fotografien, Statistik, Nachträge
Fortsetzung des Trompeter-Lexikons, Band 3
Mainz 2015 [Eigenverlag
554 Seiten, 33,90 Euro
nur direkt zu beziehen über
Friedel Keim, e-mail: ruf.keim@t-online.de

2015keimDer Ur-Maizer Trompeter Friedel Keim hat nach den ersten beiden Auflagen von 2005 und 2009 nun den dritten Band seiner Trompeterbibel vorgelegt, ein sorgfältig recherchiertes Kompendium, das die verschiedensten Seiten des Instruments und seiner Musiker beleuchtet und dessen Spektrum von Klassik über Jazz bis zur volkstümlichen Musik reicht.

Keim kennt dabei keine Berührungsängste. Er versteht es genauso, sich über die Kunst der Barocktrompete auszulassen wie über die Probleme, die viele Jazzer mit der Ästhetik eines Wynton Marsalis haben. Und neben den großen Stars finden auch die Satzbläser wieder Erwähnung oder Musiker der aktuellen Szene.

Der lexikalische Teil von Band 3 enthält biographische Artikel von A wie “Abbott, Goivinda” bis Z wie “Zonshine, Michael”. Neben diesen teils ausführlichen Portraits gibt es Anmerkungen zur Interpretation von Werken aus Klassik, Marschmusik und anderen Genres, darunter auch analytische Anmerkungen und Notenbeispiele aus dem Jazzbereich, etwa eine Transkription des “West End Blues” in der Version von Louis Armstrong und seiner Hot Five von 1928, Dizzy Gillespies “Night in Tunisia”, oder Maynard Fergusons Version von “Body and Soul”. Korrekturen und Ergänzungen zu den beiden ersten Bänden erhalten ein eigenes Kapitel, und wieder gibt es den Block “Wissenswertes rund um die Trompete”, der etwa Informationen über das “Gansch-Horn” gibt oder über das flexibrass-Mundstück, über die Vuvuzela oder über die Trompete auf historischen Briefmarken, über den Trompetenbaum oder diverse Filme, in denen die Trompete im Mittelpunkt steht. Schließlich findet sich noch ein umfassendes Kapitel zu Horst Fischer, jenem legendären deutschen Trompeter, dessen Prolog zu einer Autobiographie Keim abdruckt, außerdem eine alphabetische Auflistung aller ihm bekannter Fischer-Aufnahmen.

Wie bereits in den vorherigen Bänden findet sich auch in Band 3 vieles, was sonst kaum irgendwo erierbar wäre. Friedel Keim weiß um Geburts- und Sterbedaten, berichtet über die Stars, aber eben genauso über die “kleinen” Vertretern des Instruments, über Satzspieler oder junge Musiker, die durchaus auch zwischen den stilistischen Welten leben und arbeiten, über Dixieland- und Swingtrompeter, die eher der Amateur- als der Profiszene angehören, aber dennoch gute Musiker sind, über Musiker von denen man noch nie gehört hat oder aber auch Musiker, die man persönlich kennt, aber nie in einem Lexikon vermutet hätte, weil ihr Arbeitsschwerpunkt doch eher regional begrenzt ist. Keim hat sich ihnen allen angenommen mit einem Vollständigkeitsanspruch, der jede Kritik an der Auswahl im Keim ersticken ließe (man entschuldige das Wortspiel). Und gerade in den Einträgen zu den kleinen Vertretern der Trompete erkennt man einmal mehr die “labor of love” dieses Buches, das zu alledem noch exzellent lesbar ist. Kein kritisches Buch vielleicht, dafür ein verlässliches Nachschlagewerk für jeden, der sich für die Trompete interessiert: eine Trompeterbibel fürwahr!

(Wolfram Knauer, Februar 2016)


 

Mein Onkel Pö
von Holger Jass
Hamburg 2015 (Offline-Verlag)
137 Seiten, 25,55 Euro
ISBN: 978-3-00-051272-8

2015jassEinen ersten Hinweis auf den Inhalt dieses Buchs gibt bereits der Preis: 25,55 Euro, entsprechend einem Cent pro Nacht im legendären Club, wie Holger Jass in der Presseankündigung zum Buch erklärt. Holger Jass hatte das Onkel Pö (Onkel Pö’s Carnegie Hall, wie es damals offiziell hieß) Anfang 1979 vom Vorbesitzer Peter Marxen übernommen, der ihn bei der Übergabe warnte: “Ich muss dich warnen. Pö-Jahre sind wie Hundejahre. Die zählen siebenfach.” Jass hielt es bis Anfang 1986 aus, führte das “Pö” im Sinne seines Kultstatus’ weiter und hat jetzt ein kurzweilig-amüsantes Buch über seine Erlebnisse mit Musikern, Medienmenschen, Kollegen und dem Publikum geschrieben, das ihm die ganzen Jahre über treu blieb, aus dessen Reihen sich aber partout kein Interessent für eine Nachfolge finden ließ.

“Jetzt macht Jass den Jazz im Onkel Pö” titelte das Hamburger Abendblatt, als Jass 1979 übernahm. Sein Buch handelt natürlich auch von Jazz. Er beschreibt, wie Michael Naura, damals Jazzredakteur des NDR viele der Jazzabende mitschnitt, die sich das Pö ansonsten kaum hätte leisten können. Den Flügel im Club hatte kein geringerer als Joachim Kühn ausgesucht und eingeweiht. Ansonsten bevölkern Jazzer wie Freddie Hubbard, Elvin Jones, Pat Metheny, Dexter Gordon die Seiten, aber auch Tom Waits, Charlie Watts, Joe Cocker, Hannes Wader, Truck Stop und natürlich Udo Lindenberg, der dem “Pö” in einem seiner Hits ein Denkmal setzte.

“Bei Onkel Pö spielt ‘ne Rentnerband”, hieß es da, “seit 20 Jahren Dixieland” – aber mit Dixieland ließ sich so ein Schuppen nicht finanzieren, bilanziert Jass trocken … obwohl man das Wort “trocken” selbst bei einer Rezension dieses Buchs nicht in den Mund nehmen sollte, denn trocken ging es ganz sicher nicht zu im Pö. Auch davon handelt das Buch, von den skurrilen Erlebnissen mit den Musikern, vom gesteigerten Alkoholkonsum, vom Pflegen einer Szene und davon, dass man, um Wirt zu sein, ein dickes Fell und viel Humor benötigt. Pineau ist das Zauberwort, jene süßliche Mischung aus Traubenmost und Cognac, die Jass als Allheilmittel vieler Probleme genauso beschreibt wie als Ursache anderer. Seine Anekdoten machen klar, dass man als Wirt und täglicher Konzertveranstalter selbst nicht ganz ohne solche “Medizin” auskommt: ein divenhafter Auftritt Freddie Hubbards etwa oder jener Abend mit Dexter Gordon, den Jass allerdings erst aus drogenbedingtem Tiefschlaf im Hotel um die Ecke wecken musste, den er für seine 57 Jahre als “bös klöterich” beschreibt, der dann aber nach einem dreifachen Whiskey ein denkwürdiges Konzert gegeben habe.

Sehr viel tiefer geht es sicher nicht in seinen Erinnerungen, die er mit viel Augenzwinkern und der humorvollen Abgeklärtheit der zeitlichen Distanz schreibt, und bei denen man schon mal über die eine oder andere schlüpfrige Anekdote hinweglesen muss. Bei all denen, die dabei waren in diesem zwischen Alternativszene und Hochkultur angesiedelten Zauberort in Eppendorf, wird er warme Erinnerungen wecken. Man meint den Fusel wieder zu schmecken und die dicke Luft wieder zu riechen, vor allem aber erinnert man sich an die musikalischen Hochgenüsse, die das Onkel Pö so oft und so viel vermittelte. Für diejenigen, die nicht dabei waren, gibt Jass ein launiges Portrait, einschließlich etlicher Fotos, ein Portrait, das stellenweise einer Filmdokumentation über verwunschene Zeiten ähnelt, bei denen man eigentlich gern dabei gewesen wäre.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Rhythm Is My Beat. Jazz Guitar Great Freddie Green and the Count Basie Sound
von Alfred Green
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
325 Seiten, 75 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4246-3

2015greenCount Basies All American Rhythm Section gilt als die swingendste Rhythmusgruppe des Jazz. Die Art, wie Pianist Basie, Gitarrist Freddie Green, Bassist Walter Page und Schlagzeuger Jo Jones rhythmisch und harmonisch ineinandergriffen, um den vorwärtstreibenden Schwung zu schaffen, der zu ihrem Markenzeichen wurde, besaß so viel an Energie, dass Rhythmusgruppen überall auf der Welt sie zum Vorbild nahmen. Den wichtigsten Anteil an dieser Energie hatte, wie Basie selbst, aber auch zahllose andere Musiker bezeugen, Freddie Green, der dem Count Basie Orchester von 1937 bis zu Basies Tod im Jahr 1983 und der Band noch ein paar Jahre danach bis zu seinem eigenen Tod 1987 angehörte. Von Nichtmusikern wurde Green schon mal dafür bemitleidet, ein ganzes Leben lang nie ein wirkliches Solo gespielt, dafür immer nur “schrumm schrumm” gemacht zu haben, vier Schläge pro Takt, durchgehend vom ersten Akkord bis zum letzten; und doch ist ihm jemand kaum in der Kunst des Rhythmus nahegekommen, den dieser Vierschlag erzeugen konnte.

Jetzt hat Alfred Green, der Sohn des Gitarristen, eine Biographie vorgelegt, die weit mehr ist als die persönliche Erinnerung eines Verwandten. Greens Buch schafft den Spagat zwischen Insiderwissen, persönlicher Betroffenheit und nüchterner Beschreibung der Lebens- und Arbeitswirklichkeit eines Musikers der Bigbandära.

Die Geschichte beginnt in Charleston, South Carolina, wo Freddie Green 1911 geboren wurde, in einer Stadt mit einer überaus lebendigen schwarzen Musikszene. Nachdem er die erste Ukulele gegen ein viersaitiges Banjo ausgetauscht hatte, sammelte er erste musikalische Erfahrungen mit Freunden aus dem Jenkins Orphanage, einem berühmten Waisenhaus in Charleston, aus dem etliche spätere Musiker hervorgingen. Mit einer dieser Bands reiste er die Küste hoch bis nach Maine, wechselte irgendwann vom Banjo zur Gitarre und spielte mit dem Saxophonisten Lonnie Simmons und dem Stride-Pianisten Willie Gant. Als der Impresario John Hammond ihn hörte, empfahl er seinem Schützling Count Basie, sich den Gitarristen für sein Orchester zu sichern. Im Januar 1937 kam es zum Vorspiel erst in kleinem Kreis, dann mit der Bigband, und am 1. Februar begann sein mehr als 45-jähriges Engagement als Motor des Count Basie Orchestra.

Alfred Green erzählt nicht nur die Lebens- und Arbeitsstationen Greens, sondern nähert sich auch seinem Stil, fragt nach Einflüssen, erklärt die Besonderheit des Green’schen Sounds. Der Autor wurde im Februar 1938 geboren, im selben Jahr beendete seine Mutter ihre Beziehung zu seinem Vater, sicher auch, weil der inzwischen eine Romanze mit Billie Holiday begonnen hatte, die für kurze Zeit mit Basie reiste.

Green beschreibt die verschiedenen Besetzungen der Basie-Band der 1930er und 1940er, die Schwierigkeiten des Musikerlebens, und die zunehmenden Probleme der Musikindustrie, die schließlich dazu führten, dass Basie sein Orchester auflöste und kurze Zeit mit einem Sextett – ohne Gitarre – auftrat. Sein Vater nahm die Entscheidung nicht hin und tauchte einfach beim nächsten Gig des Sextetts mit seiner Gitarre auf. “Was machst du denn hier?”, fragte Basie, und Green antwortete, “Was glaubst du wohl? Du hast hier einen Gig, richtig? Ich habe dir die besten Jahre meines Lebens gegeben und du glaubst, mich einfach beiseiteschieben zu können? Keine Chance!”

Während die 1930er- und 1940er-Jahre-Band insbesondere ein Solistenorchester war, wurde der Sound der 1950er Jahre-Band durch ihre Arrangeure geprägt. Alfred Green berichtet, wie Green seinen Platz in den Arrangements fand, wie er sich zu den Schlagzeugern positionierte, und wie er seine Aufgabe immer als die eines Unterstützers der anderen gesehen habe.

Neben den Einsichten in Greens Karriere sind es vor allem die technischeren Kapitel, die im Buch faszinieren. Alfred Green beschreibt etwa die Spannung der Saiten, die besondere Haltung, die Green benutzte, bei der sein Instrument fast auf seinem Schoß lag, spricht über die Tatsache, dass Green kaum je mit nicht-akkordischen Soli zu hören war, über seine wenigen Aufnahmen unter eigenem Namen, über Gigs für andere Bandleader und anderes mehr.

Einem dicken Block mit seltenen Fotos folgen schließlich noch Analysen von Michael Petterson, M.D. Allen und Trevor de Clerq sowie Zitate anderer Gitarristen über Green, schließlich eine ausführliche Diskographie aller seiner Aufnahmen.

Es gibt eine Reihe an Büchern über das Count Basie Orchester, darunter natürlich auch Basies eigene Autobiographie, verfasst mit Hilfe Albert Murrays. Keines dieser Bücher aber bietet einen so persönlichen Einblick in die Band wie das Buch Alfred Greens über seinen Vater. Der Gitarrist Freddie Green war wahrscheinlich der wichtigste Musiker des Basie Orchesters, der nicht nur für den durchgehenden Swing und eine rhythmische Verlässlichkeit stand, sondern der Band auch, was oft übersehen wird, ihren ganz spezifischen Sound verlieh, der sie aus der Menge ihrer Konkurrenten auf dem großen Bigbandmarkt hervorhob. Greens Buch gelingt in diesem Umfeld gleich dreierlei: Er schreibt eine Biographie des Gitarristen Freddie Green, er erzählt Details aus der Bandgeschichte Count Basies (und damit aus dem Alltag der Swingära), und er teilt sehr persönliche Erinnerungen an seinen Vater mit dem Leser.

Ihm gelingt dabei der schwierige Spagat, Beobachter und Sohn zur selben Zeit zu bleiben. Zu Beginn liest sich das alles wie eine interessante, aber eher distanzierte Lebensdarstellung, bis Green aus einem Gespräch zitiert, das er mit seiner Mutter geführt hatte, und bei dem einen schlagartig klar wird, dass der Autor ja Sohn des Objekts seines Berichts ist, dass er mit dem Wissen eines Familienglieds, sicher auch mit eigener Betroffenheit schreibt. Solche Perspektivwechsel gelingen ihm hervorragend, wie man in etlichen bewegenden Passagen erkennen kann. Green verschweigt macht aus seinem Vater nirgends einen Heiligen, sondern stellt ihn als Menschen dar, der nach dem Besten strebte, aber durchaus fehlbar war.

“Rhythm Is My Beat” ist ein sehr empfehlenswertes Buch, über Freddie Green, über Count Basie, über die Swingära und vieles mehr. Alfred Greens Buch gibt einen tieferen Einblick als vieles, was man sonst so liest zu diesem Thema und ist eine spannende Lektüre für Fans, genauso wie für Musiker oder Forscher über diese Musik.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Keith Jarrett. Eine Biographie
von Wolfgang Sandner
Berlin 2015 (rowohlt)
362 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-780-1

2015sandner“Mit freundlichen Künstlern ist die Welt nicht gesegnet”, beginnt Wolfgang Sandner sein Buch, das er mit Wohlwollen des Pianisten angegangen war, bis er mit diesem nach einem Konzert aneinandergerieten sei, weil es Jarrett nicht gefallen habe, dass Sandner sein “Köln Concert” als einen seiner größten Erfolge bezeichnete. “Das Ende eines Dialogs eröffnet jedoch auch eine Chance”, befindet Sandner. In der Folge nämlich habe er sich noch stärker auf die Musik konzentrieren müssen. Das Ergebnis ist ein Buch, das der Musik Jarretts als eines Künstlers gerecht wird, der seine Kraft aus der Improvisation des Jazz zieht, dessen Wirkung aber weit über dieses Genre hinausreicht.

Keith Jarrett wurde am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren, und Sandner sieht diesen Tag, Kriegsende, als symbolträchtig für die Jahrhundertkarriere des Pianisten. Ohne Europa, das durch den Krieg noch mehr für die Qualitäten des Jazz sensibilisiert war, erklärt Sandner, wäre Jarretts Karriere einerseits so nicht möglich gewesen, auf der anderen Seite habe Jarrett immer tief in den Traditionen der amerikanischen Avantgardeästhetik gestanden, in der Tradition auch eigenbrötlerischer Künstler wie Lou Harrison und Alan Hovhaness, deren Werke er Anfang der 1980er Jahre in Europa uraufführte.

Sandner zeichnet die Kindheit Jarretts in Allentown nach, die Erkenntnis seines Talents, das Trauma der Trennung seiner Eltern, dem er mit dem Rückzug in die Musik begegnete, und die musikalischen Bemühungen seiner Brüder. Jarrett spielte mit lokalen Bands, besuchte Workshops, gewann ein Stipendium fürs Berklee College, mit dessen die Musik eher regulierenden als zur Kreativität ermutigendem Lehrplan er allerdings wenig anzufangen wusste. Da war die Schule von Art Blakeys Jazz Messengers schon eine andere, in denen Jarrett ab Herbst 1965 für vier Monate mitwirkte. Von Blakey wechselte er in die Band des Saxophonisten Charles Lloyd, dem er durch dessen Schlagzeuger Jack DeJohnette empfohlen worden war. Lloyds Quartett war “die erste Supergroup des Rockjazz”, und Sandner hört sich sowohl dessen Studio- wie auch die Liveaufnahmen an. 1967 gründete Jarrett sein erstes Trio mit Charlie Haden und Paul Motian, und als ihm Miles Davis 1969 zum wiederholten Mal anbot, in seiner Band mitzuwirken, sagte Jarrett zu, obwohl Miles mit Herbie Hancock und Chick Corea bereits zwei Pianisten in der Band hatte. Bei Miles musste er elektronische Keyboards und Orgel spielen, Instrumente, die ihm eigentlich zuwider waren. Zugleich setzte er sich noch mehr mit Klang auseinander, mit dem Sound der Instrumente, die er zu bedienen hatte genauso wie den Soundmöglichkeiten der Band, die für Miles im Mittelpunkt seiner “musikalischen Großräume, Klangkunstwerke” standen.

Ein eigenes Kapitel widmet Sandner der Partnerschaft zwischen Keith Jarrett und Manfred Eicher, der weit mehr war als ein Labelgründer und Plattenproduzent. Jarrett stand Anfang der 1970er Jahre eigentlich bei ABC unter Vertrag, ihm wurde aber erlaubt, Produktionen mit “ernster Musik” und ähnliche Aufnahmen ohne Gegenleistung anderswo einzuspielen, das könne sein Ansehen schließlich nur steigern. Dass Jarretts Aufnahmen für Eichers Edition of Contemporary Music zum Zugpferd für das Label ECM werden sollten, hatte niemand vorhergesehen. Im November 1971 also ging Jarrett erstmals in Oslo ins Studio und produzierte mit “Facing You” die erste von bis heute 28 Solo-Produktionen für Eicher, ein Album, das sowohl Jarretts Ruf als Solopianist begründete als auch Eichers Ruf als einer der offenohrigsten Produzenten des Jazz. Sandner erklärt, was die Partnerschaft und das Vertrauen der beiden zueinander begründe, die Tatsache etwa, dass Eicher selbst Musiker sei oder dass sein Interesse neben dem Jazz auch anderen Formen von Musik (oder Literatur oder Kunst oder Film) gelte. Eicher, schlussfolgert Sandner auch nach dem Gespräch mit anderen ECM-Künstlern, sei bei vielen seiner Produktionen der “dritte Mann”, auch wenn man ihn weder sehe noch höre.

Es gäbe etliche Musiker und Musikliebhaber, warnt Sandner schon im Vorwort seines Buchs, die meinen, über Musik solle man nicht so viel schreiben, da diese das Wesentliche doch eh in sich berge. Und dann tut er genau das, kongenial, so nämlich, dass seine Zeilen die Musik zwar heraufbeschwört, aber nirgends zu ersetzen trachtet. Über Jarretts Klavierspiel etwa schreibt er, man könne vielleicht die verschiedenen Techniken benennen, die seinen Personalstil ausmachten, komme dabei aber vor allem an einem Charakteristikum nicht vorbei, das Sandner die “Konzentration aufs Wesentliche” nennt und das er in Jarretts musikalischem Ansatz genauso findet wie in seiner Wahl der Mitmusiker oder in der klaren Gliederung seines Repertoires in Standards, eigene Kompositionen und freie Solo-Improvisationen.

An anderer Stelle verfolgt er Jarretts Vervollkommnung der authentisch-eigenen Stimme. Er betrachtet die Aufnahmen seines amerikanischen Quartetts mit Dewey Redman und seines europäischen Quartetts mit Jan Garbarek, beschreibt, was an diesen Aufnahmen so besonders sei, obwohl sie doch weder einen unerhörten Klang hervorbrächten noch eine neue Form oder eine außergewöhnliche ästhetische Haltung. Er nennt Jarrett einen “Solist ohne Grenzen”, verfolgt die unterschiedlichen pianistischen Ansätze, die der Künstler über die Jahre entwickelte. Und Sandner ist wie wenige deutsche Autoren ein Meister darin, Musik mit Worten näher zu kommen. Ein Beispiel: Über Jarretts Album “Staircase” schreibt er: “Alles, was Jarrett in den elf Stücken erklingen lässt, besitzt Körperlichkeit. Es gibt keine flachen Töne, nur runde, eckige, kubusartige, voller Tiefenschärfe. Wenn ein Ton verklingt, wird er nicht nur leiser, er verschwindet wie in einem Tunnel, verliert nicht nur sein Volumen, sondern wird augenscheinlich kleiner.” Er benennt die Beziehungen zwischen Jarretts Aufnahmen an der Barockorgel in Ottobeuren und seiner Suche nach Klangfarben einerseits und ähnlichen Suchen europäischer oder amerikanischer Komponisten andererseits, nicht aber, um daraus Einflüsse abzuleiten, sondern um zu zeigen, dass Jarrett sich da inmitten eines breiten Diskurses befindet, in dem seine eine gewichtige Stimme ist.

Zwischen ausführliche Beschreibungen der diversen Plattenprojekte streut Sandner aber auch Informationen über die Selbstzweifel des Künstlers, über persönliche und geschäftliche Krisen, über Rückenschmerzen und das chronische Erschöpfungssyndrom, dass Jarrett für einige Jahre aus dem Verkehr zog. Er beschreibt, wie all diese außermusikalischen Ereignisse ihren Widerhall in Jarretts Musik fanden. Nach seiner Genesung, fasst Sandner zusammen, sei Jarrett ” praktisch nicht mehr in ein Aufnahmestudio zurückgekehrt. Mit Ausnahme einer Duo-Aufnahme mit Charlie Haden und einer Einspielung von Bach-Sonaten für Violine und Klavier sind alle Aufnahmen danach bei Live-Auftritten entstanden.”

Natürlich nimmt das “Köln Concert” ein wichtiges Kapitel seines Buchs ein. Sandner beschreibt die bekannt widrigen Umstände des Konzerts, Rückenschmerzen, ein schlecht intoniertes Instrument, ein Stutzflügel, den die Bühnenarbeiter statt des eigentlich geplanten Bösendorfer Imperial auf die Bühne gestellt hatten, und er erzählt, wie Jarrett aus all diesen Widrigkeiten über sich herauswuchs, die Beschränkungen des Instruments zu Stärken seiner Aufnahme machte. Das “Köln Concert” wurde zu einem Riesenerfolg bei Kritik und Publikum gleichermaßen, und selbst der Perfektionist Jarrett musste später zugeben, dass die Ideen, “diese Klangfarben und diese Stimmführungen”, die auf der Aufnahme zu hören sind, schon einzigartig waren.

In weiteren Kapiteln seziert Sandner die Herangehensweise Jarretts an die Standards des American Popular Song, die er zusammen mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette ab 1983 einspielte und bald auch bei Konzerten spielte, seine Einspielungen klassischer Musik von Bach bis Lou Harrison, sowie Jarretts eigene Kompositionstätigkeit, die sich keinesfalls in der Komposition von Themen für eigene Improvisationen erschöpfte.

Sandners letztes Kapitel heiß “Einspruch” und ist unter all den lesenswerten Kapiteln dieses Buchs vielleicht das lesenswerteste. Sandner beginnt mit einer Eloge auf den kreativen Schöpfer, auf das Genie Keith Jarrett, um dann die Reaktion hervorzuheben, mit der Jarrett so oft, auf so vieles, reagiert, seine “Manie, etwas abzulehnen”. Der wichtigste Einspruch Jarretts gelte dabei musikalischen Trends, kurzlebigen Moden oder selbsternannten Kanonikern. Sandner findet diese Veto-Haltung auch im Klavierspiel des Meisters selbst, das “allen Regeln der traditionellen Klavierkunst widerspricht und wirkt, als sei das Instrument weniger ein Partner, vielmehr ein Gegner, den man bezwingen müsse, bisweilen mit List und Tücke, bisweilen mit tänzerischem Ablenkungsmanöver, manchmal mit brachialer Gewalt, nicht selten aber, indem man sich den Flügel einverleibt, mit ihm verschmilzt.” Es ist dieses Eins-Sein mit seiner Musik, das Jarrett auch außerhalb der Jazzanhängerschaft Wirkung verschafft hat. Henry Miller schrieb ihm einen Brief, nachdem er das “Köln Concert” gehört hatte, Sergiu Celibidache und Marcel Reich-Ranicki zeigten sich begeistert. Sandner argumentiert aber auch, dass diese Verweigerungshaltung neben seinen künstlerischen Entscheidungen auch Jarretts problematisches Bühnenverhalten beeinflusst habe, seine gelegentlichen Publikumsbeschimpfungen, die, wie Sandner schreibt, fast schon zum Ritual geworden seien, das Voyeure unter den Hörern erwarten oder gar herausfordern.

Wolfgang Sandners Buch gelingt es, der Musik Keith Jarretts nahe zu kommen, gerade, weil er sich, wie er im Vorwort erklärt, mit dem Künstler entzweit hat. Sandner besitzt den Überblick nicht nur über Jarretts Schaffen und nicht nur über die Jazzgeschichte, aus der heraus Jarretts Kunst kommt, sondern über die gesamte Kulturgeschichte, in die hinein Jarretts Musik wirkt. Es gelingt ihm, die verschiedenen Positionen zu definieren, die sich in der Musik und ihrer Rezeption widerspiegeln: die musikalische, ästhetische und wirtschaftliche Position Jarretts zu verschiedenen Zeiten, die Position der Labels, der Agenten, der Produzenten, die Position Manfred Eichers, die Position der Kritiker und des Publikums, und nicht zuletzt auch seine eigene Position, die Position Wolfgang Sandners. Dass er aus eigener Begeisterung heraus schreibt, lässt er nicht unerwähnt. Er bezeichnet Jarrett wiederholt als “Genie”, nennt ihn den größten Musiker, der je aus Allentown kam. Doch dient diese eigene Positionsbestimmung letztlich auch dem Vertrauen, das wir als Leser in Sandners Wertung der Musik haben können. Er lässt uns klar wissen, wo er als Autor steht, und so können wir viel leichter unsere eigene Position beziehen, überdenken, revidieren. Wolfgang Sandner ordnet Jarretts Aufnahmen dabei nicht nur in Jazz-, Musik- und Kulturgeschichte ein, er verleitet zum neuen, zum tieferen Hören, und er ermöglicht ein Verständnis – im besten Sinne des Wortes – über die Grenzen des emotionalen Hörens hinaus.

Wolfram Knauer (Dezember 2015)

Nachtrag Februar 2021:

Keith Jarrett. A Biography
by Wolfgang Sandner, translated by Chris Jarrett
Sheffield 2020 (Equinox)
215 Seiten. 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-800500129

Sandners Jarrett-Biographie ist inzwischen auf Englisch erschienen, übersetzt von keinem Geringerem als Jarretts Bruder, dem in Deutschland lebenden Pianisten Chris Jarrett. Für die englische Ausgabe hat Sandner seinen früheren Text erweitert und aktualisiert, hat neuere Aufnahmen und neue Veröffentlichungen aus früheren Jahren berücksichtigt und neue Erkenntnisse über Jarretts familiären Background geteilt. Mit dem Abschied Jarretts von der Bühne im vergangenen Oktober scheint auch seine Karriere abgeschlossen. Sandners Buch vertieft das Wissen und ermuntert zum Nachhören – jetzt vielleicht etwas wehmütiger als bei der ersten (deutschen) Lektüre vor sechs Jahren.


 

Als der Jazz nach Kassel kam. Streifzüge durch die Szene der ersten Nachkriegsjahre
von Ulrich Riedler
Berlin 2015 (B&S Siebenhaar Verlag)
104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN: 978-3-943132-39-7

2015riedlerDie großen Jazzmetropolen – Berlin, Hamburg, Köln, München – sind weitgehend dokumentiert. Auch für kleinere Städte haben sich Historiker und Hobbyhistoriker der Aufbereitung der Jazzgeschichte angenommen. Das kann schon mal seltsam wirken, wenn Provinzzentren wie der Mittelpunkt der Welt erscheinen, wo sie doch meist nur Durchgangsstationen für aufstrebende spätere oder etablierte, sich auf Tournee befindende Jazzstars waren. Tatsächlich aber sind regionalen Szenen bis heute wichtige Brutstätten künstlerischer Ideen, auch wenn viele der Musiker, die hier ihre Anfänge nehmen, irgendwann in die großen Zentren abwandern, in Städte mit bedeutenden Hochschulen etwa oder in solche mit einer lebendigen, großen Jazzszene.

Das nordhessische Kassel, in der Mitte der Republik, und doch kulturell vor allem durch die Brüder Grimm und die documenta bekannt, besitzt bis heute eine lebendige Szene, verschiedene Spielorte für Jazz und improvisierte Musik, und ein langjähriges Festival. Die alle fünf Jahre stattfindende documenta bringt es mit sich, dass die Bürger der Stadt sich sehr bewusst mit ästhetischen Diskursen der Avantgarde auseinandersetzen.

Der Journalist und Jazzfan Ulrich Riedler hat sich in seinem Buch auf die Suche nach den Anfängen des Jazz in der nordhessischen Stadt gemacht und diese im Frühjahr 1940 entdeckt, als sich junge Jazzfreunde im Gasthaus “Ledderhose” trafen, wo sie gemeinsam die neuesten Platten hörten. Irgendwann rückte die Gestapo ihnen auf den Leib, nahm die Jungs mitsamt ihrer Schellackschätze mit und unterzog sie einer gründlichen Befragung. Die Jazzfans wurden bald wieder entlassen, und einer von ihnen kann Riedler nicht nur von damals berichten, sondern ihm sogar noch die kurzfristig konfiszierten Platten zeigen. Die “Ledderhose” blieb auch nach dem Krieg ein Jazztreffpunkt, in dem die Mitglieder zu Platten tanzten, ab und zu aber auch selbst zum Instrument griffen.

Die 1950er Jahre dokumentiert ein Gespräch mit dem späteren Spiegel-Redakteur Alfred Nemeczek, von dem Riedler außerdem einen Bericht über das Jazzkontor Kassel aus dem Jahr 1959 andruckt, den Versuch, in Nordhessen einen Liveclub nach Vorbild des Frankfurter Jazzkellers zu etablieren. In den 1950er Jahren begannen die ersten amerikanischen Stars Deutschland zu erobern. Kassel erlebte Konzerte von Duke Ellington, Louis Armstrong, Lionel Hampton oder der Jam-Session-Truppe Jazz at the Philharmonic mit Ella Fitzgerald und vielen anderen.

Einer der Stammgäste der Kasseler Jazzszene war damals der Trompeter Manfred Schoof, der zwei Jahre an der Kasseler Musikakademie studierte, bevor er nach Köln weiterzog. Riedler spricht mit ihm über die Jazzszene jener Zeit, über Musiker und Musikerlegenden der Region, unter anderem den Tenorsaxophonisten Werner Apel, den, wie man sich erzählt, sogar Duke Ellington verpflichten wollte, weil er ihn bei einer Jam Session so beeindruckt habe, und natürlich auch über die GI-Clubs, in denen Schoof die amerikanische Kultur erst richtig kennenlernte.

Die Amerikaner waren im Stadtteil Rothwesten in Fuldatal stationiert und engagierten über die Special Service Agencies jede Menge deutscher Musiker für die Unterhaltung in den verschiedenen Clubs. Riedler blickt auf Orte, aufs Repertoire, auf das Jazzprogramm des örtlichen Amerika-Hauses, beschreibt aber auch andere Veranstaltungsorte der Stadt, deren Programm großteils von Vereinen organisiert, zum Teil auch von der Stadt unterstützt wurde. Er erzählt, wie Arnold Bode, der Vater der documenta, von der Band des Vibraphonisten und Gitarristen Fritz Bönsel so angetan war, dass er im Landesmuseum ein Konzert veranstaltete, das den Jazz endgültig in der Stadt etablierte.

Die Jazzszene jener Jahre beinhaltete traditionelle genauso wie moderne Stile, und so beschreibt auf der einen Seite die Dixieland-Szene der 1950er und 1960er Jahre mit ihren Riverboatshuffles und dem musikalischen Versuch, dem Original so nah wie möglich zu kommen, auf der anderen Seite aber auch, wie andere Musiker, Schoof und Gunter Hampel unter ihnen, dem modernen Jazz in Kassel zu Gehör verhalfen. Und schließlich spricht er mit dem Pianisten Joe Pentzlin, dessen Trio quasi die Hausband des Jazzclubs in der Orangerie gewesen war.

In einem abschließenden Kapitel schlägt Riedler einen knappen Bogen in die Regenwart, zu Musikern wie Matthias Schubert und Ernst Bier, die entweder aus Kassel stammen oder aber hier über längere Zeit Station machten und die Szene der Stadt mitprägten.

Riedlers Buch ist nicht als historische Dokumentation gedacht, denn vielmehr als eine flüssig zu lesende Erinnerung an die 1940er bis 1960er Jahre, ein liebevoll bebildeter Band über die Jazzszene in der deutschen Provinz, die – ähnlich wie die Szenen vieler anderer Städte mittlerer Größe – überaus lebendig war. Die Lektüre macht dem Leser deutlich, dass der Diskurs über den Jazz als aktuelle Kunstform nicht nur in den Metropolen stattfindet.

Wolfram Knauer (November 2015)


 

Music Wars 1937-1945. Propaganda, Götterfunken, Swing. Musik im Zweiten Weltkrieg
von Patrick Bade
Hamburg 2015 (Laika Verlag)
511 Seiten, 34 Euro
ISBN: 978-3-944233-41-3

Sounds of War. Music in the United States during World War II
von Annegret Fauser
New York 2013 (Oxford University Press)
366 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-994803-1

Victory Through Harmony. The BBC and Popular Music in World War II
von Christina L. Baade
New York 2012 (Oxford University Press)
275 Seiten, 31,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-537201-4

2013fauser Musik war immer schon kriegswichtig. Ob zum Anfeuern der Truppen im Marschrhythmus, ob zum Mobilmachen der Bevölkerung durch patriotische Hymnen, ob als Beruhigung und Selbstbestätigung, ob als Instrument der psychologischen Kriegsführung oder sogar als Foltermethode: Krieg ist ohne Musik – so seltsam diese Idee auch scheinen mag – kaum vorstellbar.

Drei kürzlich erschienene Bücher untersuchen die Rolle der Musik im Zweiten Weltkrieg. Der britische Historiker Patrick Bade berichtet über die verschiedenen musikalischen Strategien und Funktionen direkt vor Ort, in den Gebieten, in denen der Krieg tobte oder die am Krieg beteiligt waren, Frankreich, Deutschland, den USA, Russland, Großbritannien, dem nördlichen Afrika und dem Mittleren Osten. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Annegret Fauser beschränkt sich in ihrem Buch auf die klassische Musikszene in den Vereinigten Staaten. Die britische Musikhistorikerin Christina Baade schließlich untersucht, wie der BBC in den Kriegsjahren auf Jazz, Tanz- und Popmusik gesetzt habe, um die Moral der gesamten britischen Öffentlichkeit in den Kriegstagen zu stärken. Baades Studie gibt dabei einen Einblick in Programmentscheidungen eines öffentlichen Rundfunksenders und thematisiert, inwieweit die Öffnung des Senders für Jazz und amerikanische Popmusik auf Widerstände gestoßen sei. Fausers Fokus liegt auf der “concert music”, also der klassischen Musik, und im Umschlagtext heißt es, dass Dinah Shore, Duke Ellington und die Andrews Sisters vielleicht die Zivilisten zuhause und die Soldaten in Übersee unterhalten hätten, es tatsächlich aber vor allem die klassische Musik gewesen sei, die die Menschen für die Kriegsanstrengungen mobilisiert habe. Patrick Bade schließlich wagt den Rundumschlag, lässt also auch die sogenannte leichte Muse, Swing und Jazz, nicht aus. Während er dabei neben dem klassischen Repertoire und dem Swing auch einen Blick auf die Funktion von Radio, Film und Plattenindustrie wirft, außerdem in einem langen Kapitel Kriegslieder aus unterschiedlichen Ländern ins Visier nimmt, finden man in Fausers Buch Informationen über Musiker in der Armee, Auftragskompositionen für den Kriegseinsatz, ein Kapitel über Musik als Beruhigung der Bevölkerung und als Therapie für traumatisierte Soldaten sowie eines über die vielen Exilkomponisten, die durch den Krieg in den USA strandeten. Christina Baade schließlich diskutiert in ihrem Buch auch das Thema von Tanzmusik und Maskulinität, die Sorge um den Erfolg der amerikanische Popmusik und die Verdrängung eigener Traditionen, und die Bedeutung von Rundfunkprogrammen, in denen afro-amerikanische Musik in den Mittelpunkt gestellt wurden, für schwarze britische Musiker. Bei allen drei Autor/innen finden sich Diskussionen der Zuschreibung moralischer Qualitäten zur Musik, der Grundlage letzten Endes dessen, was in den USA später zur “cultural diplomacy”, zur Kulturdiplomatie werden sollte.

2012baadeFür Christina Baades Argumentationslinie spielt der Jazz eine zentrale Rolle; ihr Buch erlaubt dabei Rückschlüsse auf Entwicklungen des Nachkriegsjazz in Großbritannien, einschließlich der Hinwendung vieler junger Musiker insbesondere zu traditionellen Jazzstilen. Patrick Bade hat neben einem Kapitel über Jazz und Swing im Dritten Reich, in dem er auch auf das Phänomen der Propagandaband Charlie and His Orchestra eingeht, ein eigenes Kapitel über Musik im Feldlager, im Gefangenenlager und im Konzentrationslager. Fauser wiederum diskutiert in ihrem Buch ausführlich musikalischen Ausdruck von Nationalismus, etwa in Werken von Aaron Copland und Roy Harris.

Patrick Bade gibt am Schluss seines Buchs einen Ausblick auf die Nachwirkungen, erzählt etwa, dass Wagner im Bayreuther Festspielhaus kurzzeitig Cole Porter weichen musste, berichtet, wie Sänger/innen und Musiker/innen nach dem Krieg mit ihrer Karriere im Dritten Reich konfrontiert wurden oder diese sehr bewusst aus ihrer Biographie ausblendeten. Er endet mit dem kurzen Hinweis auf Werke, die sich bis ins 21ste Jahrhundert hinein mit den Gräueltaten des Kriegs auseinandersetzen. Christina Baades Buch endet mit der Ankunft der amerikanischen Truppen im August 1944 und der Entscheidungen des BBC, die auch die amerikanischen GIs mit ihrem Programm unterhalten wollte. In der Folge kam es zu einer Diskussion der Vermischung musikalischer Werte in der populären und Tanzmusik, über “Britishness” oder “Pseudo-American”. Ihr Buch verweist zwischen den Zeilen immer wieder, etwa Kapiteln über das vom Rundfunk mitgeprägte Bild der Frau oder im Versuch, die Ausstrahlung von Musik männlicher übersentimentaler Schlagersänger im Rundfunk zu unterbinden, auf Diskurse, die auch nach dem Krieg weitergingen und auf die letzten Endes BBC-Programmentscheidungen großen Einfluss hatten. Bei Fauser geht der Blick in die Nachkriegszeit über John Cage, dessen experimentelle Ideen sie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren verortet. Sie verweist darauf, dass Cage und seine Zeitgenossen ihre Lehren aus den Erfahrungen des Kriegs gezogen hätten, sich nach Ende des Kriegs von ihren nationalistischen Kompositionen distanziert oder aber diese in neue Werke integriert hätten.

2015badeZusammengefasst bietet Patrick Bade im breiteren Ansatz seines Buchs eine Art Rundumschlag über das Thema. Christina Baade wirft Licht auf die Verflechtungen zwischen Musik, Musikindustrie, öffentlicher Meinung und Publikumsgeschmack. Fausers Studie schließlich hätte von einer Erweiterung ihres Schwerpunkts vielleicht profitiert. Fauser begründet ihren eingeschränkten Blick im Vorwort damit, dass die Jazz- und Popmusikszene jener Jahre ja schon ausgiebig genug untersucht worden sei, während Forschungen zur klassischen Musik im Krieg weitgehend fehlten, vergibt sich damit aber die Chance einer differenzierten Darstellung, was vielleicht – nehmen wir einmal an, dass der Einband-Text vom Verlag und nicht von ihr stammte –, eine wertende Aussage wie die, dass Jazz und Popmusik die Bürger zuhause und die GIs in Übersee vielleicht unterhalten hätten, es aber die klassische Musik gewesen sei, die den wirklichen Unterschied gemacht habe, verhindert hätte.

Von solchen Anmerkungen abgesehen, haben alle drei Bücher ihre Meriten. Sie helfen bei der Kontextualisierung von Musikgeschichte in der späten ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, die letzten Endes Auswirkungen auch darauf hatte, wie Musik heute klingt und wie wir sie wahrnehmen.

Wolfram Knauer (Oktober 2015)


 

 

Giving Birth to Sound. Women in Creative Music
herausgegeben von Renate Da Rin & William Parker
Köln 2015 (Buddy’s Knife)
294 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-00-049279-2

2015darinVielleicht müsste am Anfang dieser Rezension erklärt werden, welchen Weg die Bücher durchlaufen, die im Jazzinstitut Darmstadt anlangen. Bevor wir uns die Bücher aussuchen, die wir rezensieren wollen, erfassen wir sie in unserem Jazz Index, einer computergestützten bibliographischen Datenbank, die von Forschern und Journalisten (und Fans) aus aller Welt genutzt wird. Das heißt, wir gehen das Buch von vorn bis hinten durch, ordnen jedes einzelne Kapitel einem Stichwort oder einem Musikernamen zu, tragen biographische Notizen wie etwa Geburtstag oder Geburtsort, nach, sofern sie in unserer Datenbank noch fehlen. Erst dann machen wir uns ans Lesen.

Aber schon bei diesem ersten Schritt des Erfassens fiel einiges auf beim Buch “Giving Birth to Sound”. Etliche der darin befragten Musikerinnen waren nämlich noch gar nicht in unserer Datenbank erfasst oder aber nur mit relativ kurzen bibliographischen Listen. Über sie wurde in der Jazzpresse bislang also nur wenig berichtet. Nun ja, mag man meinen, das hat sicher auch damit zu tun, dass Frauen ja so richtig erst in den letzten Jahren ins Rampenlicht des Jazz getreten sind. Weit gefehlt aber, und das war die zweite Überraschung: Viele Musikerinnen, die im Buch zu Worte kommen, gehören nämlich gar nicht der jungen (sagen wir: unter 40-jährigen) Generation an, sondern sind weit länger auf der Szene unterwegs. Die Gründe für ihre Unsichtbarkeit in der Jazzpresse mögen also doch woanders liegen.

Eine dritte Erkenntnis, die sich beim Durchblättern schnell ergibt, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Jede der Musikerinnen hat einen völlig anderen Zugang zum Thema. Mal analytisch, mal diskursiv, mal ausweichend, mal ablehnend, mal nüchtern gefasst, mal poetisch überhöht, mal kämpferisch, mal verteidigend. Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich schon in den Überschriften der Kapitel, die Renata Da Rin und William Parker aus der Frage “Was bedeutet Musik für Dich” abgeleitet hat. “Jeder Sound und jede Stille”, antwortet Renée Baker; “die Gründe für mein Leben”, sagt Amy Fraser; “ein abstrakter Ort, um das Leben zu teilen und zu fühlen”, meint Marilyn Mazur; “ein Lager der Erinnerungen”, findet Shelley Hirsch, “Leben, Magie, Geist”, beschreibt Maggie Nicols, oder aber, so Erika Stucky, “serious fun – a ‘Schnaps'”.

Oder aber die Einleitung: Nach dem Vorwort von Amina Claudine Myers haben die Herausgeber eine Anzahl von Reaktionen auf den Buchtitel zusammengefasst. “Giving Birth to Sound”? Schrecklicher Titel: Frauen wurden schließlich immer wieder aufs Gebären reduziert, meint eine der Gesprächspartnerinnen, während eine andere findet, der Titel passe, sei auch angenehm mehrdeutig. Naja, und bei allen Bedenken spräche der Titel ja auch vom Schaffen von etwas Neuem. Blödsinn, widerspricht eine weitere Stimme, Gebären sei doch eine passive, rein physische Tätigkeit, jede Kuh könne das. Musik zu erschaffen sei dagegen ein aktiver intellektueller Prozess und damit das exakte Gegenteil.

Das Konzept des Buchs: Ohne weitere Vorgaben schickten die Herausgeber den 48 Musikerinnen 20 Fragen, die vom Faktischen zum Nachdenken über den Prozess des Kreativen gehen, sich dabei immer wieder danach erkundigen, inwieweit das eigene Geschlecht bei musikalischen, ästhetischen oder beruflichen Entscheidungen eine Rolle gespielt habe. Tatsächlich sind nur sechs der Fragen konkret aufs Frau-Sein der Musikerinnen abgezielt: Wie hast Du deine Kreativität als kleines Mädchen ausgelebt? Wie hat die Tatsache, dass Du eine Frau bist, die Entwicklung Deiner musikalischen Karriere behindert? Wie siehst Du Deine Position als Frau in der Musikszene? Hat diese Position Dein Verhältnis zum Sound beeinflusst? Siehst oder spürst Du einen Unterschied im weiblichen und im männlichen Ansatz an Kreativität? Was würdest Du anderen / jungen Frauen empfehlen, die sich bemühen ein kreatives Leben zu führen?

Die Antworten auf diese und allgemeiner gehaltene Fragen fallen so unterschiedlich aus wie die Lebenswege der 48 Interviewten. Es macht nun mal einen Unterschied, ob man Ende der 1970er Jahre in Dänemark zum Jazz kommt wie Lotte Anker oder 1941 in Oklahoma wie Jay Clayton. Haben Männer und Frauen einen anderen kreativen Approach?, fragen die Herausgeber. “NEIN!” ruft Jay Clayton, in Großbuchstaben, keine weitere Diskussion duldend, während Marilyn Mazur einwirft, Frauen würden vielleicht weniger in Wettstreit treten, mehr ans Ganze und Kollektive denken. “Nein, ich sehe da keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen”, findet wiederum Amy X. Neuberg, um gleich anzuschließen, “das heißt aber nicht, dass es keine gäbe.” Klar gibt es einen Unterschied”, erklärt Kali Z. Fasteau, etwa, dass Männer in hierarchischen Systemen besser funktionierten als Frauen. Andererseits, urteilt Nicole Johänntgen, sei diese Frage ziemlich schwer zu beantworten, weil es nun mal so sehr viel mehr Männer als Frauen auf der Szene gäbe.

Nicole Mitchell beantwortet ihre Fragen in poetischen Erinnerungen und Reflexionen über schwarze Musik, den langen Atem der Bürgerrechtsbewegung und ihren eigenen Weg. Maggie Nicols auf der anderen Seite streicht heraus, dass ihre Musik immer sowohl politische wie auch spirituelle Untertöne besessen habe. Ob sie einen Preis bezahlt habe dafür, dass sie Musik mache, fragen die Herausgeber, und Angelika Niescier findet: Im Gegenteil, sie habe daraus sehr viel für sich gewonnen. Musikerin zu werden, sei nun mal eine Lebensentscheidung, finden auch viele ihrer Kolleginnen, niemand zwinge einen schließlich diesen Weg einzuschlagen.

Die weibliche Kreativität erlaube mehr “Raum”, meint Fay Victor, und zwar “sowohl mehr Raum im Sinn von Zeit und Raum wie auch mehr Raum für die Akzeptanz von Fehlern und Intuition”. Klar habe die Tatsache, dass sie eine Frau sei, ihr Verhältnis zum Sound beeinflusst, erklärt Joëlle Léandre. Frauen seien nun mal anders, sie hätten die Fähigkeit zur Distanz, die in diesem Geschäft wichtig sei, außerdem könne man mit ihnen viel besser lachen.

Sie sehen in dieser springend-vergleichenden Zusammenfassung einzelner Antworten bereits, wie ungemein gewinnbringend sich dieses Buch lesen lässt, wenn man blättert, Themen identifiziert, die die Herausgeber durch ihre Fragen ja nicht festgeklopft, sondern nur angestoßen haben, um dann zu sehen, welchen Kontext die verschiedenen Antworten beleuchten. Man erlebt die ja unabhängig voneinander befragten Musikerinnen bald wie in einer respekt- und kraftvollen Diskussion neugieriger, andere Meinungen (meistens) zulassender, vor allem aber ungemein selbstbewusster Musikerinnen.

Das Fazit des Buchs wusste man vielleicht schon vor der Lektüre: Eine einzelne Antwort auf die Frage nach dem kreativen Unterschied nämlich gibt es nicht. Der künstlerische Ansatz zwischen Männern und Frauen ist genauso unterschiedlich wie jener zwischen Männern und Männern oder zwischen Frauen und Frauen. Es gibt jedoch, und das wird in diesem Buch sehr deutlich, ein anderes Diskursverhalten, eine klare Selbstwahrnehmung der Rolle, in die man gesellschaftlich gedrängt wurde.

Unbedingt lesenswert also, ob von Buchdeckel zu Buchdeckel oder im laufenden Vor- und Zurückblättern. “Giving Birth to Sound” erklärt dem interessierten Leser nämlich in der persönlichen Selbstbefragung der Protagonistinnen und oft auch zwischen den Zeilen weit mehr über die Thematik, als man es etwa von wissenschaftlichen Studien erwarten dürfte.

[Naja, wir empfehlen dennoch den Besuch unseres Darmstädter Jazzforums zum Thema “Gender and Identity in Jazz” vom 1.-3. Oktober 2015 oder die spätere Lektüre unserer Beiträge zur Jazzforschung mit den referaten dieser Konferenz. Aber das ist natürlich nur Eigenwerbung…]

Wolfram Knauer (September 2015)


 

Beyond Jazz. Plink, Plonk & Scratch. The Golden Age of Free Music in London 1966-1972
von Trevor Barre
London 2015 (Compass Publishing)
330 Seiten, 12,99 Britische Pfund
ISBN 978-1-907308-84-0
Zu bestellen über trevorbarre@aol.com

Ekkehard Jost hat die Jahre zwischen 1960 und 1980 als eine Zeit beschrieben, in der Europas Jazz zu sich selbst fand, in der Musiker sich von ihren amerikanischen Vorbildern lösten und eigene Wege gingen. Einige dieser Wege führten fort vom, gingen also “beyond jazz”, und diese Entwicklung will Trevor Barre in seinem Buch mit demselben Titel nachzeichnen. Der Gitarrist Derek Bailey forderte eine Improvisation, die sich aus den idiomatischen Bezügen befreien, und auch andere Musiker begannen statt des Begriffs “Free Jazz” von “improvised music” zu sprechen. Barre interessiert, wie es überhaupt dazu kam, dass eine solch sperrige und alles andere als publikumsfreundliche Musik entstehen konnte und warum sie nicht angesichts ihres kommerziellen Misserfolgs einfach nach ein paar Jahren ausstarb. In seinem Fokus steht dabei die erste Generation der freien Improvisatoren, also Musiker wie Evan Parker, Derek Bailey, John Stevens, Kenny Wheeler, Barry Guy, Dave Holland, Trevor Watts, Tony Oxley, Paul Rutherford, Howard Riley, Eddie Prévost, Keith Rowe, Gavin Bryars und Cornelius Cardew.

Barre beginnt mit einer Definition seines Themas: Wo die meisten Jazzbücher den Jazz durch seine improvisatorischen Parameter beschreiben würden, sei Free Music, schreibt er, einzig durch den improvisatorischen Gehalt definiert. Er stellt unterschiedliche Formen freier Improvisation vor, solche, die näher am Jazz bleiben und solche, die eher der europäischen Avantgardetradition verpflichtet scheinen. Die beiden Hauptensembles seines Buchs sind das Spontaneous Music Ensemble und die Gruppe AMM. Barre ordnet deren Auftritte in die Jugend- und Protestkultur der 1960er Jahre ein und schildert, wie die globalen Entwicklungen von Pop, Rock und Folk jungen Musikern ein völlig neues Vokabularium an die Hand gab, sie auch zu neuen Herangehensweisen zwischen tiefer Ernsthaftigkeit und unbändigem Humor bewegten. Er beschreibt auch, welchen Platz sie in die Bandbreite des britischen Jazz jener Jahre zwischen Dixieland und Free Jazz hatten.

Barre zeichnet den Weg einzelner Protagonisten zur freien Improvisation nach, schildert insbesondere die Bedeutung des Little Theatre Club, in dem die jungen Musiker mit Kollegen auch aus dem europäischen Ausland experimentieren konnten. Er beschreibt, wie sie nach und nach merkten, dass es außer dem afro-amerikanischen Jazz auch anderes gab, dass beispielsweise südafrikanische Musiker um Chris McGregor dieser Musik eine neue Farbe geben konnten und dass sich Freiheit, wie sie der Free Jazz implizierte, auch ganz mit anderen Mitteln umsetzen ließ. Er diskutiert wichtige Aufnahmen der Zeit, wobei ihn vor allem die interaktiven Prozesse interessieren, die ästhetischen Diskurse, die sich aus der Improvisation der Aufnahmen ergaben. Das alles beleuchtet er anhand von zeitgenössischen genauso wie selbst geführten Interviews mit beteiligten Musikern. Das Spontaneous Music Ensemble und AMM nehmen zwei der umfangreichsten Kapitel ein, in denen Barre neben dein Einflüssen und den ästhetischen Diskussionen auch über Nachwirkungen schreibt, bewusste oder unbewusste Reaktionen auf die Klangexperimente in weit jüngerer Musik, der 1980er, 1990er Jahre und danach. Er betrachtet den Einfluss der Technologie, schaut auch auf die Bedeutung der visuellen Covergestaltung oder der Plattentexte. Das Label Incus nimmt ein eigenes Kapitel ein, wie FMP in Deutschland oder ICP in Holland ein von Musikern gegründetes Label, das Musik seiner Mitglieder nicht so sehr vermarkten als vielmehr dokumentieren wollte. Improvisation ist schließlich weit mehr als komponierte Musik auf das Medium der Tonaufzeichnung angewiesen – sonst verklingt sie.

In seinem Schlusskapitel betrachtet Barre kurz die “zweite Generation” der Free Music in London um das London Musicians’ Collective sowie eine “dritte Generation” um John Edwards, John Butcher und andere und setzt beide Entwicklungen mit jenem von ihm als “erste Generation” betrachteten Grundthema seines Buchs in Beziehung. Im Nachwort schließlich verfolgt er die Aktivitäten seiner Protagonisten bis in die Gegenwart.

Trevor Barres Buch ordnet die Entwicklung der Free Music der späten 1960er, frühen 1970er Jahre in die kulturelle Szene des “Swinging London” ein. Ihm gelingt dabei vor allem der Blick auf sich wandelnde ästhetische Ideale und eine Begründung derselben aus gesellschaftlichen und politischen Diskussionen heraus. Der Musik selbst kommt er vor allem in Interviews mit den beteiligten Musikern nahe. Die inhaltliche wie organisatorische Unabhängigkeit der britischen Improvisationsszene jener Jahre hat Auswirkungen bis heute. Initiativen wir F-Ire Collective wären ohne das Vordenken und Vormachen der hier beschriebenen Musiker und Gruppen nicht möglich gewesen. Von daher füllt Barres Buch eine Lücke. Dass er bestimmte Themen weitgehend außer Acht lässt – die Auseinandersetzung dieser Szene mit ihrem Publikum beispielsweise oder mit den Mainstream-Medien, der tatsächliche Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Szenen oder die Reaktion amerikanischer Musiker, zeigt nur, wie viele Perspektiven das Thema tatsächlich hat, die bislang kaum beleuchtet wurden. Barre jedenfalls stößt mit “Beyond Jazz” die Tür zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der musikalischen Freiheitsbewegung jener Zeit weit auf.

Wolfram Knauer (August 2015)


 

Little Satchmo. Living in the Shadow of my Father, Louis Daniel Armstrong
von Sharon Preston-Folta (mit Denene Millner)
Charleston/SC 2015 (self published)
112 Seiten, 12 US-Dollar
ISBN: 978-1-481227-23-7
Zu beziehen über www.littlesatchmo.com

2015prestonfoltaDie offizielle Version lautet: Louis Armstrong hatte nie Kinder. Er hätte immer gern welche gehabt, sagte seine letzte Frau und Witwe, Lucille Armstrong, aber er sei zeugungsunfähig gewesen. Nun kommt, 34 Jahre nach Satchmos Tod, Sharon Preston-Folta mit einem Buch heraus, in dem sie kundtut, sie sei die Tochter Louis Armstrongs aus einer außerehelichen Beziehung, die Satchmo in den 1950er Jahren hatte.

Ihr Leben lang habe sie diese Wahrheit herunterschlucken müssen. Sie wolle kein Geld, keinen Ruhm, aber immer selbst auf das öffentliche Wissen um ihren Vater verzichten zu müssen, sei einfach zu viel. In ihren Recherchen habe sie nur einen einzigen schriftlichen Hinweis auf Satchmos Vaterschaft gefunden, einen Brief des Trompeter an seinen Manager, Joe Glaser, aus dem Jahr 1955, in dem er diesen bat, vor der Ankunft seiner Frau Lucille in Las Vegas ein paar Geschäftsdinge zu klären, darunter Zahlungen an eine Freundin, von der er glaubt, dass sie ein Kind von ihm habe. Ihre Mutter habe sie immer beschworen, ihren Vater geheim zu halten, und so habe sie letzten Endes gehorcht und damit auch keine Ansprüche geltend gemacht auf sein physisches, historisches und finanzielles Erbe. Wenn sie etwas gekränkt habe bei ihren Recherchen, sei es, dass Louis Armstrong in seinen Briefen so offen über alles geredet habe, seine Musik, seine Kindheit, seine Liebe zum Essen und zu den Frauen, über Sex, sogar über seine Darmtätigkeit, dass er über seine Tochter aber sein Leben lang geschwiegen habe.

Warum er ihre Existenz verleugnet habe? Nun, erklärt Preston-Folta, Louis Armstrong sei ein gefeierter Künstler seiner Zeit gewesen und habe sich in der besten (weißen) Gesellschaft aufgehalten. Es habe einfach nicht gepasst, in dieser Zeit, wenn Nachrichten über ein uneheliches Kind mit einer Geliebten in die Schlagzeilen gekommen wären.

Prestons Mutter wurde 1921 in New York geboren und arbeitete bereits als 16-Jährige als Chorus Girl in diversen Shows. 1941 heiratete sie einen Tänzerkollegen; 1946 arbeiteten die beiden als Tanzpaar “Slim & Sweets” als Vorgruppen für große Swingorchester, unter ihnen auch Louis Armstrong, der sich mit ihnen anfreundete und in einen launigen Briefwechsel einstieg. 1950 starb Slim, und bei der Trauerfeier war auch Louis Armstrong dabei, der Lucille Preston in den Arm nahm und versprach: “Ich werde mich um dich kümmern.” In den nächsten vier Jahren reiste sie Pops hinterher und tauchte auf, wann immer Armstrongs in New York spielte. 1954 wurde Preston schwanger, und im November schrieb Satchmo ihr einen Brief, in dem er erklärt, wie sehr er sich auf das Kind freue und sogar vorschlägt, sie zu heiraten, sollte seine Frau (mit gleichem Namen Lucille) sich von ihm scheiden lassen. Armstrong war dann aber nicht dabei, als Sharon Louise (nach Louis) Preston am 24. Juni 1955 das Licht der Welt erblickte. Armstrongs rechtmäßige Ehefrau war “not amused” und habe ihm nach der Geburt der Tochter sogar vorgeschlagen, diese zu adoptieren, was ihre leibliche Mutter aber vehement ablehnte. Lucille (die Ehefrau) habe sogar die Alimente überwiesen, bis sie diese Aufgabe irgendwann Joe Glaser übertrug.

In ihrem Buch berichtet Sharon von den viel zu seltenen, sorgfältig geplanten und sehnsuchtsvoll erwarteten Treffen. Sie und ihre Mutter lebten eine Weile bei ihrem Onkel Kenny, der nach außen schon mal als Lucilles Ehemann auftrat und immer wieder auf seine Schwester eindrang, bei Satchmo mehr einzufordern: mehr Geld, mehr Fürsorge, am besten seinen Namen. Bei einzelnen Sommertourneen durfte Sharon mitreisen. Ansonsten aber war Satchmo vor allem durch die monatlichen Unterhaltszahlungen präsent, durch Broadway-Tickets, 1962 durch den Kauf eines Hauses in Mount Vernon, New York. In Harlem hatte sich niemand wirklich darum gekümmert, wie ihre Familienverhältnisse aussahen, erzählt Preston-Folta, in Mount Vernon aber begann eine Zeit der Lügen. Die Liaison dauerte ja bereits 12 Jahre, aber nach wie vor war nicht in Sicht, dass Armstrong auch öffentlich zu seiner Familie stehen würde. Mit zehn Jahren begriff Sharon erstmals, dass ihr Vater eine “andere Lucille” hatte, ein anderes Leben, das mit ihrem aber auch gar nichts zu tun hatte.

Etwas später seien sie gemeinsam in Atlantic City zu einem Auftritt Marvin Gayes gegangen, es habe einen Streit zwischen den Erwachsenen gegeben, bei dem ihre Mutter Satchmo fragte, wann er sie nun endlich zu heiraten gedachte, worauf er laut wurde: “Ich werde dich niemals heiraten” und mit Fingerzeig auf die Tochter fragte: “Sag mir einfach, was es kostet, für sie zu sorgen!” Das war das Ende der Beziehung.

Kaum war Armstrong gestorben, kamen auch die monatlichen Schecks nicht mehr. Ein paar im Voraus geleistete Zahlungen für Sharons Erziehung hielten sie und ihre Mutter über Wasser, mussten bald auch den Zuwachs zur Familie finanzieren, denn Sharon wurde mit 16 selbst Mutter. Sharon erzählt, wie ihr Leben weiterging, immer gezeichnet durch die Narben, die der fehlende Vater hinterlassen hatte. Irgendwann rebellierte sie gegen die eigene Bitterkeit und versuchte, das emotionale Band, das sie mit der verlorenen, nie gehabten Vergangenheit hatte, zu zerschneiden.

Sharon Preston-Foltas Buch endet mit einem Besuch im Armstrong House in Queens. Ein Anwalt hatte ihr empfohlen, einen Blick in Satchmos Testament zu werfen, das eine eidesstattliche Erklärung von Lucille, Armstrongs Frau, enthielt, Armstrong habe nie Kinder gehabt. Als Sharon diese Zeilen las, von Lucille eigenhändig korrigiert von “Der Verstorbene und ich hatten keine Kinder” in “Der Verstorbene hatte keine Kinder”, entschied sie sich, jetzt ihr Geschichte zu erzählen. Ihre Mutter, die sie immer zur Geheimhaltung gedrängt hatte, willigte endlich ein: “Mach, was Du meinst, dass du tun musst.”

Sharon Preston-Foltas Buch ist als eine Liebeserklärung an die von ihr immer vermisste Vaterfigur Louis Armstrong geschrieben, aber es ist eben auch eine leicht verbitterte Liebeserklärung geworden. An genügend Stellen legt man es zur Seite, unterschiedlich berührt von den Schuldzuweisungen, mit denen Preston-Folta ihre eigenen Lebensentscheidungen aus ihrer vaterlosen Kindheit und Jugend ableitet. Ein bedrückendes Schicksal, denkt man, und fragt sich zugleich, warum sie, die immer wieder von der DNA ihres Vaters schreibt, die in ihr fortlebe, nicht irgendwann, spätestens vor der Veröffentlichung dieses Buchs, auf einem DNA-Test bestanden habe. Doch ist es einem Kind, das sein Leben lang sicher ist, seine Eltern zu kennen, überhaupt zuzumuten, von einem auf den anderen Tag an der Tatsache der Vaterschaft zu zweifeln? Auch als skeptischer Leser sollte man jedenfalls für die Zeit der Lektüre erst einmal die Grundbehauptung der Vaterschaft Louis Armstrongs akzeptieren, sonst hat man wenig Spaß am Buch. Armstrong selbst schließlich scheint bis zu seinem Tod überzeugt davon gewesen zu sein, in Sharon eine Tochter gehabt zu haben.

Allen Fragen und sicher auch allen möglichen Zweifeln zum Trotz, die einem bei der überraschenden Enthüllung Sharon Preston-Foltas kommen mögen, lernt man einiges bei der Lektüre, und wenn nur, dass Scheinwerferlicht auch Schatten wirft, dass Stars wie Louis Armstrong das Leben vieler Menschen zum Teil viel direkter berührten, als man es wahrhaben mag, und nicht zuletzt, dass die Persönlichkeit großer Stars aus ihren emotionalen Stärken genauso besteht wie aus ihren emotionalen Unzulänglichkeiten. Am Glorienschein des großen Meisters mag das alles ein wenig kratzen; der Kraft seiner Musik tut es keinen Abbruch.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Theatrical Jazz. Performance, Àṣẹ, and the Power of the Present Moment
von Omi Osun Joni L. Jones
Columbus/OH 2015 (The Ohio State University Press)
270 Seiten, 99,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8142-1282-0

2015jonesDer Blick über den Tellerrand kann das Wesentliche erhellen, der Blick von außen Dinge erkennen lassen, die man im internen Diskurs oft nicht mehr sieht. Das ist einer der Hintergründe für die sogenannten “new jazz studies”, ein Konzept in der jüngeren Jazzforschung, das sich der untersuchten Materie neben der musikwissenschaftlichen Betrachtung interdisziplinär nähert. Die Feministin Omi Osun Joni L. Jones versucht in ihrem Buch eine Verbindung zwischen Jazzästhetik , theatralischer Performance und auf Yoruba basierender afrikanischer Theologie. Dabei beschreibt sie als eine der zentralen Prinzipien der Jazzästhetik die Fähigkeit, die eigenen intuitiven Kräfte freizusetzen. In ihrer Beschäftigung mit afrikanischer Spiritualität habe sie gelernt, dass auch in wissenschaftlichen Büchern die Auseinandersetzung mit spirituellen Impulsen nicht zu kurz kommen dürfte, ganz ähnlich wie dies auch Jazzgrößen wie John und Alice Coltrane immer gesehen hätten. Sie will mit ihrem Buch den Jazz gegen den Strich bürsten, seine Begriffe, Handlungen, Ausformungen kritisch hinterfragen, und zwar aus der Perspektive aller seiner unterschiedlichen Bedeutungen in musikalischer Ästhetik, Performance, gesellschaftlichem Spiegel, ethnischer Identität oder politischer Haltung. Es gäbe Kollegen, schreibt sie in ihrer Einleitung, die den Jazz als eine polyglotte Form ansähen und damit Gefahr liefen seine Wurzeln in der afro-amerikanischen Kultur zu leugnen. Tatsächlich aber sei die spirituelle Kraft nicht an irgendwelche Identitätsregeln gebunden. Die spirituelle Transzendenz des Jazz brauche keine Abwesenheit ethnischer Identität (“race”), sondern höchstens Abwesenheit solch einer ethnischen Identität (“race”) als Restriktion oder als Prognose.

Tatsächlich handelt ihr Buch allerdings zentral gar nicht von Musik, sondern vom Theater, und hier insbesondere von den drei Theaterautoren Laurie Carlos, Daniel Alexander Jones und Sharon Bridgforth. Jones bedient sich in ihrer Herangehensweisen an das Thema der feministischen und queeren Theorie, erklärt Wirkungen der Theaterperformance aus der Haltung des Jazz heraus und zugleich aus ihrer Interpretation von Yoruba-Traditionen. Als übergeordneten Approach versucht sie ihrem wissenschaftlichen Buch darüber hinaus aber auch improvisatorische Strukturen zu geben, indem sie Bilder, Fotos, Zeichnungen, Zitate einfließen lässt, die wie kurze solistische Kommentare neben ihrem Text stehen.

In ihrer Einleitung zitiert Jones einige Beispiele direkter Bezugnahme von Jazzmusikern wie Dizzy Gillespie und John Coltrane auf Yoruba-Beschwörungen, erinnert außerdem an die lebendige Avantgarde-Theaterszene von Austin, Texas, in der in den 190er Jahren die Verbindungen von Theater und Jazz besonders entwickelt wurden. Im ersten Kapitel betrachtet sie, wie biographische Erfahrungen die drei von ihr untersuchten Autoren prägten, Carlos’ Jugend im New Yorker East Village, Jones’ Aufwachsen im Arbeiterklasse-Milieu von Springfield, Massachusetts, Bridgforths Bustrips durch die verschiedenen Viertel von Los Angeles. Sie analysiert die dem Jazz nahestehenden Praktiken von Lehrer und Schüler im Theater, deren Lernprozesse dabei immer gegenseitig sind. Das zweite Kapitel untersucht Performance-Methoden, Ansätze an Regie, Probenphasen, das Beziehung-Herstellen zum Publikum, die Auswahl der Schauspieler, aber auch das Zulassen spiritueller Erfahrung im Verlauf der Performance. Im dritten Kapitel schließlich fragt sie danach, was die Performance beim Publikum (sie spricht gern von “witnesses” = Zeugen) auslöst, wie sie zu einer Perspektivverschiebung führen kann, einer aktiven Partizipation des Publikums, die das eigentliche Ziel aller Beteiligten sei.

Wenn ich Jones zu Beginn dieser Rezension in die Nähe der “new jazz studies” gestellt habe, so muss ich diese Aussage zumindest zum Teil revidieren. In den New Jazz Studies werden Aspekte des Jazz möglichst von vielen Seiten (und mit unterschiedlichen Methoden) betrachtet. Jones geht den entgegengesetzten Weg: Sie nutzt, was sie vom Jazz gelernt hat, um ihr eigentliches Thema, die Performance im Theater genauer zu definieren. Sie erkennt im Jazz Kommunikations- und Tradierungsmodelle, die so beispielhaft sind, dass sie ein anderes Genre besser verstehen lassen, vielleicht sogar Modell stehen können für neue, weitreichendere Regie- oder Performance-Ansätze. Ihr Buch ist darin so weitsichtig wie der Versuch früherer Literaturwissenschaftler wie Houston Baker, insbesondere den Bereich der afro-amerikanischen Literatur (aber durchaus darüber hinaus) durch die schon von Ralph Ellison oder Albert Murray identifizierte Blues Aesthetic zu beschreiben. Beide nahmen dabei sehr bewusst auf westafrikanische kulturelle Traditionen, Praktiken und Symbole Bezug, für den ungeübten Leser einerseits manchmal etwas schwer nachvollziehbar, gerade dadurch aber die Argumentation auch angenehm schnell aufbrechend und Rückschlüsse erlaubend.

Wenn nämlich die Praxis des Jazz als Erklärungsmodell für andere künstlerische Praktiken taugt, dann wirft das ein ganz anderes Licht auch auf den Stellenwert von Jazz und Improvisation.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


The Long Shadow of the Little Giant. The Life, Work and Legacy of Tubby Hayes
von Simon Spillett
Sheffield 2015 (Equinox)
377 Seiten, 19,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78179-173-8

2015spillettWie Hans Koller oder Lars Gullin war der britische saxophonist Tubby Hayes eine der europäischen Jazzgrößen, die ihren Kollegen genauso wie ihrem Publikum klar machten, dass der Jazz zwar eine afro-amerikanische Musik war, dass aber Europäer das Idiom durchaus beherrschten und ihre eigenen Beiträge zur Tradition des Jazz leisten konnten. Hayes kam aus der Swing-Mainstream-Tradition des Jazz, nahm erst Bebop, Hardbop, schließlich Einflüsse des Spiels John Coltranes in seinen Stil auf und starb 1973, gerademal 38 Jahre alt, in Folge einer Herz-Operation.

Dem Autor und Saxophonisten Simon Spillett gelingt es in seinem Buch “The Long Shadow of the Little Giant” mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews und Material aus Hayes’ persönlichem Archiv das Leben und die musikalische Karriere des Saxophonisten in den Jahren vom bombenerschütterten London der Nachkriegszeit über die jazzigen 1950er Jahre und die Swinging Sixties bis hin zur großen Krise des Jazz Anfang der 1970er Jahre nachzuzeichnen.

Hayes wurde in eine musikalische Familie geboren – sein Vater leitete in den 1930er Jahren verschiedene Tanzorchester, seine Mutter war Revuesängerin und -tänzerin. Schon früh war er vom Saxophon fasziniert, begann aber im Alter von acht Jahren erst einmal mit Geigenunterricht, und bekam schließlich zum elften Geburtstag das langersehnte Saxophon, das er größtenteils autodidaktisch meisterte. Er hatte ein gutes Gehör, und der Geigenunterricht hatte ihn zu einem exzellenten Notisten gemacht. Er hörte Charlie-Parker-Platten und bewegte sich in Kreisen Gleichgesinnter, spielte bald mit Ronnie Scott, Alan Skidmore und Kenny Baker, mit dem er im Juli 1951 auch seine ersten Aufnahmen machte.

Die Baker Band hatte jede Menge Fans, und die Presse wurde schnell auf Hayes aufmerksam, der bald als “boy wonder tenorist” vermarktet wurde und, noch nicht einmal 20 Jahre alt, mit den Modernisten der britischen Jazzszene spielte. Mit 18 heiratete er zum ersten Mal, hatte schon zuvor alle möglichen Drogen ausprobiert. Er spielte in den populären Bands von Vic Lewis, Jack Parnell, Tony Hall und hatte schließlich auch mit seiner eigenen Band einen vollen Terminkalender.

Spillett beschreibt, wie britische Musiker in jenen Jahren das US-amerikanische Idiom des Hardbop gemeistert hatten, die Musik von Art Blakey und Horace Silver, und wie Kollegen wie Sonny Rollins oder Hank Mobley ihre stilistischen Spuren in Hayes’ Spiel hinterließen. 1958 traten Hayes’ Jazz Couriers neben dem Dave Brubeck Quartet bei einer Tournee durch sechzehn Städte des Vereinigten Königreichs auf; 1959 wurde Hayes vom Melody Maker zum besten Tenorsaxphonisten gewählt.

Andere Musiker hatten die Entwicklung des amerikanischen Jazz genauso interessiert mit verfolgt; und um 1960 kamen erste Versuche “freier Form” auch in England an. Joe Harriott war einer der ersten, die sich an freieren Spielweisen versuchten; Hayes aber blieb skeptisch. Die Eröffnung von Ronnie Scott’s, bis heute einem der wichtigsten Clubs des Königreichs, war sowohl für die Präsenz des amerikanischen Jazz in England wichtig als auch für das Selbstbewusstsein der eigenen Szene. Der BBC schnitt Konzerte mit, und Plattenfirmen widmeten dem heimischen Jazz eigene Alben. 1961 trat Hayes erstmals in New York auf, wo ihn die Größen des amerikanischen Jazz hörten, unter ihnen Zoot Sims, Al Cohn und Miles Davis. Zurück in England erhielt er einerseits eine eigene Fernsehshow, “Tubby Plays Hayes”, hörte er andererseits erstmals John Coltrane, der sein Bild von den Möglichkeiten im Jazz genau wie das vieler anderer Kollegen völlig veränderte.

Als Duke Ellington 1964 in England auftrat, jammte Hayes mit Bandmitgliedern und wurde vom Duke gebeten für Paul Gonsalves einzuspringen, als dieser unpässlich war. In den nächsten Jahren war Hayes international unterwegs, trat im New Yorker Half Note genauso auf wie beim NDR Jazz Workshop in Hamburg. Er arbeitete wie besessen, hatte zugleich gesundheitliche Rückschläge, darunter eine Thrombose, die auch seine Lungenfunktion herabgesetzt hatte.

Ende der 1960er Jahre hatte der britische Jazz zwei Probleme: die Macht der Rockmusik auf der einen Seite und das Verlangen des Publikums nach amerikanischen Künstlern auf der anderen Seite. Hayes erlitt auch persönliche Rückschläge, etwa als seine Freundin starb und er daraufhin noch stärker zu Drogen griff. Er musste wegen Herzproblemen immer häufiger in ärztliche Behandlung, begann aber trotz aller gesundheitlichen Probleme ein musikalisches Comeback. Er spielte mit Musikern der britischen Avantgarde, John Stevens, Trevor Watts, Kenny Wheeler, beteiligte sich bei einem Benefizkonzert für Alan Skidmore, der nach einem Autounfall im Krankenhaus lag, starb aber schließlich nach einer Operation, bei der eine Herzklappe ausgetauscht werden sollte.

“The Long Shadow” heißt das Buch, und so widmet Spillett sein letztes Kapitel der kritischen Aufbereitung seiner musikalischen Bedeutung nach seinem Tod sowie dem Nachwirken Hayes’ auf der britischen Szene. Er schließt mit einer Diskographie die Aufnahmen des Saxophonisten zwischen 1951 bis 1973 verzeichnet.

Simon Spillett hat viel Sorgfalt in seine Recherchen gesteckt. Nebenbei wirft er immer wieder aufschlussreiche Blicke auf die Musik selbst, auf die Aufnahmen, die Hayes’ musikalische Entwicklung dokumentieren. Wenn überhaupt, so mangelt es dem Buch insbesondere in diesem Segment an Tiefe, etwa an Erklärungen, wo sich Einflüsse, ästhetische Umbrüche und anderes konkret festmachen lassen. Eingehend aber beschreibt er den Lebensweg, die persönlichen Probleme, die musikalischen und ästhetischen Entscheidungen und zieht die Verbindungen zu den allgemeinen Entwicklungen des Jazz in Großbritannien, in Europa und in den Vereinigten Staaten. Spillett konnte mit Zeitzeugen sprechen und hatte Zugriff auf Hayes’ persönliche Papiere. Sein Buch ist eine definitive Biographie, die viele Fragen beantwortet und dabei im umfassenden Apparat all die Dokumente benennt, die für eine solche Arbeit notwendig sind.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Musiktraumzimmer Jazzcampus
herausgegeben von Peter Rüedi & Steff Rohrbach
Basel 2015 (Jazzcampus / Echtzeit Verlag)
212 Seiten, 32 Euro
ISBN: 978-3-905800-78-4

B2015rueediasels Jazzschule ist zum Jazzcampus geworden, zu einer Hochschule für improvisierte Musik, in der, wie der Titel dieses Buchs suggeriert, jede Menge an Träumen und Visionen wahrgeworden sind. Da ist zuallererst die Vision des Gründers und Gitarristen Bernhard Ley, der erzählt, wie er die Schule in den Räumen eines Jugendkulturzentrums gründete und wie er es dann durch pädagogisches wie politisches Geschick, aber auch durch das Talent der Vernetzung, das die Schule zum Teil des Basler Kulturlebens werden ließ, erreichte, sie zu einem Kompetenzzentrum zu machen, in dem der musikalische Gehalt, die Arbeit von Lehrenden und Schüler/innen, sich auch in der architektonischen Umsetzung spiegelt.

Davon nämlich handelt dieses Buch, vom glücklichen Unterfangen, auf den Grundrissen einer ehemaligen Maschinenfabrik eine Musikschule zu bauen mit all der für eine solche notwendigen Infrastruktur, Club, Konzertsaal, Tonstudio, Probenräume etc. Ein Musiktraumzimmer sei das ganze geworden, eine Raumrealisation also, die dem Thema “Jazz” angemessen sei. Mitgeholfen hätten alle, die Architekten Lukas Buol und Marco Zünd, der Bauherr Georg Hasler von der Stiftung Levedo sowie Bernhard Ley, der als Studiengangsleiter den zukünftig alltäglichen Gebrauch im Blick behielt. Das Gespräch mit diesen vieren erklärt Fragen der Akustik, Diskussionen im Planungsverlauf, die Außenwirkung genauso wie den inneren Glanz (sprich: Farben, Bodenbeläde, Beleuchtung).

Solch eine theoretische Diskussion lässt sich nur durch Fotos und Raumpläne in Buchform einfangen. Eigentlich gehört Musik dazu, noch wichtiger wäre der tatsächliche Raumeindruck, der aber in der Architektur immer noch einzig durch einen Besuch ermöglicht wird.

Um die tatsächliche musikalische und pädagogische Nutzung der Räume geht es im zweiten, noch umfassenderen Teil des Buchs: um Konzepte der Jazzpädagogik, persönliche Herangehensweisen an Musik, ästhetische Vorstellungen, die Rückwirkung von Unterricht auf die eigene Kunst der unterrichtenden Musiker.

Wolfgang Muthspiel etwa betont, wie wichtig es neben einem festen Lehrerstamm sei, großartige internationale Kollegen als Gastdozenten an die Schule zu holen. Andy Scherrer erzählt, wie er zum Unterrichten wie die Jungfrau zum Kind gekommen sei, und wie er trotz vieler Schüler immer eine gesunde Skepsis gegenüber des Unterrichtens beibehalten habe. Malcolm Braff erklärt, dass er nicht so sehr das Klavier denn vielmehr sich selbst als das wirkliche Instrument empfinde und wie er in den letzten Jahren eine rhythmische Theorie entwickelt habe, die auch Grundlage seines Unterrichts an der Hochschule sei. Lisette Spinnler versteht die Stimme als Instrument und Texte als Ausgangspunkt für musikalische Erkundungen. Adrian Mears plädiert auch beim Lernen für Spielpraxis, egal mit was für Besetzungen. Bänz Oester vertraut auf die Motivation zukünftiger Musiker/innen, auf die Verantwortung für das Selbst, das Eigene. Domenic Landolf mag sich weder verbiegen noch sonderlich in den Vordergrund spielen. Jorge Rossy spricht über die Standards als Basis und über seine Arbeit mit Carla Bley und Steve Swallow. Matthieu Michel überlegt, wie man als junger Musiker neben der Technik vor allem zu einer eigenen Stimme gelangt. Hans Feigenwinter sieht seine analytischen Fähigkeiten als eine Grundlage seines Musikmachens, zugleich aber die Musik auch als laufenden Ansporn, sie analytisch zu begreifen. Gregor Hilbe berichtet über die Bedeutung des Schlagzeugers in einer rhythmischen Kultur, und zugleich über die Idee des Producing / Performance-Studiengangs am Jazzcampus Basel. Daniel Dettmeister hatte die Chance, als Tonmeister selbst Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung des Aufnahmesaals der Hochschule. Mit Martin Lachmann kommt zum Schluss auch noch der Akustiker selbst zu Wort, der die Räume eingerichtet hat.

Eine bunte Abfolge von Interviews, Reflexionen und Fotos also, die sehr umfassend das Konzept klarmachen, dass hinter dem Jazzcampus Basel steckt: Freiräume schaffen und beste akustische Möglichkeiten. “Musiktraumzimmer Jazzcampus” ist damit zwar vordergründig eine in Buchform gepresste Imagebroschüre der Hochschule, zugleich aber erheblich mehr: ein Manifest für eine Jazzausbildung, in der Kunst und Wirklichkeit, Klang und Akustik, Pädagogik und Freiheit sinnvoll miteinander in Beziehung stehen.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Résume. Eine deutsche Jazz-Geschichte
von Eberhard Weber
Stuttgart 2015 (sagas.edition)
252 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-944660-04-2

2015weberDer Autor kommt gleich zur Sache: Der Leser wisse ja bereits, dass er, Eberhard Weber, gut 40 Jahre lang als Jazzbassist aktiv war, vielleicht auch, dass er seine aktive Karriere nach einem Schlaganfall 2007 beenden musste. Der Leser wisse wahrscheinlich etliches über seine Karriere, wahrscheinlich auch über den Jazz – was könne er dazu noch beitragen…? Nun, wenn überhaupt, dann könne er aus seinen eigenen Erinnerungen erzählen, sehr persönliche Geschichten, die sich um die Musik drehen, die aber auch sein ästhetisches Weltbild und vieles darüber hinaus berühren. Webers Buch wird so zu seinem “Resumé”. Und es mag vielleicht nicht “die” deutsche Jazzgeschichte sein, aber es ist auf jeden Fall, wie der Untertitel verspricht, “eine deutsche Jazz-Geschichte”, ein Beispiel dafür, wieso ein junger Mann zu dieser Musik kommt, was ihn über all die Jahrzehnte an ihr faszinierte und wie er lernte, in ihr sich selbst auszudrücken.

Eberhard Weber, dem musikalischen Geschichtenerzähler, gelingt der narrative Bogen auch in Worten. Bereits das Eingangskapitel, das vom “Schlag” handelt, der ihn kurz vor einem Konzert mit Jan Garbarek in der Berliner Philharmonie traf, von der Unsicherheit über seinen Gesundheitszustand, von der Hoffnung, wieder spielen zu können, zeigt seine erzählerischen, auch zur Selbstironie fähigen schriftstellerischen Qualitäten.

Im zweiten Kapitel widmet sich Weber seiner eigenen Vorstellung von Jazz. “Jazz”, schreibt er ironisch, doch nicht ganz falsch, “ist, wenn es der Komponist, der Arrangeur oder der ausführende Musiker dem Hörer so schwer wie möglich macht, der Musik zu folgen – und trotzdem alle Spaß daran haben. Das unterscheidet ihn von der vermeintlich ‘Neuen Musik’.” Doch neben dem Jazz als großer Kunst will Weber in diesem Kapitel auch seiner eigenen Ästhetik auf die Schliche kommen. Wiederholungen, erkennt er, langweilen ihn in der Regel; die Schlüsse von Stücken, findet er, misslingen meist. Er weiß, dass Solisten auch mal ohne Inspiration sein können und weiterspielen müssen. Er weiß auch um seine eigenen Schwächen als Bassist und beschreibt, wie man nur, wenn man um die technischen Probleme des eigenen Spiels oder des eigenen Instruments weiß, diese überkommen und kreativ mit ihnen umgehen könne.

Weber selbst wurde die Musik in die Wiege gelegt. Sein Vater, erzählt er, hatte als Cellist klassische Musik gemacht, daneben aber auch Cello und Banjo im Tanzorchester von Bernard Etté gespielt. Weber kam mitten im Krieg in Esslingen zur Welt. Seine Mutter sang, und “im häuslichen Weber’schen Freundeskreis”, erinnert er sich, “triumphierte Gesang über Instrumentales”– vielleicht eine Vorbereitung auf seine eigene sangliche Haltung beim Instrumentalspiel? Gehörbildung fand im Kinderzimmer statt, wenn seine Schwester und er Automarken am Klang unterschieden und dabei lernten zuzuhören und zu differenzieren. Ein Vetter quartierte sich nach der Kriegsgefangenschaft bei ihnen ein und begann Flöte zu lernen. Man diskutierte über Wagner und spielte Kammermusik. Weber bekam Cellounterricht, dann entdeckte er den Jazz und mit ihm wechselte er zum Kontrabass.

Im Jazz brachte er sich das meiste selbst bei, berichtet von ersten Bühnenerfahrungen, von Stuttgarter Jazzern wie Horst Fischer und Ernst Mosch, vom ersten Einsatz in Erwin Lehns Orchester als Vertretung für dessen regulären Bassisten. Seine musikalische Leidenschaft führte dazu, dass Weber durchs Abitur rasselte, eine Lehre als Fotograf begann und Kameraassistent bei einer Fernsehfirma wurde. Nebenbei spielte er mit gleichaltrigen Musikern, lernte Anfang der 1960er Wolfgang Dauner kennen und wurde bald Mitglied in dessen Trio. Er erzählt von den unterschiedlichsten Auftrittsorten zwischen Nachtclub, Café, Tanz und Ami-Kaserne, von Einflüssen auf sein Bassspiel, davon, wie das Dauner-Trio seinen eigenen Stil fand. Zwischendurch gibt es reichlich Anekdoten, aber auch Einblicke in die technischen Seiten seiner Kunst: Instrumentenwahl, Akustik, Pickups, Verstärker, elektronische Spielereien.

Ende der 1960er Jahre wandten Dauner und Weber sich freieren Spielweisen zu. Weber weiß um seine Beobachtungsgabe, weiß auch, dass er sich gern mal zur Polemik hinreißen lässt. Doch er besitzt eben auch die Erfahrung, Beobachtetes, insbesondere, wenn es um Musik geht, passend einordnen zu können. Und so mag man mit mancher polemischen Äußerung, die seinem eigenen musikalischen Geschmack zuzuschreiben ist, nicht übereinstimmen, wird aber an richtiger Stelle durch ein Augenzwinkern darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor zwar eine feste Meinung hat, sich selbst aber auch nicht immer ganz so ernst nimmt.

Weber stand in seiner Karriere bei zwei Plattenfirmen unter Vertrag, die Weltgeltung besaßen, Hans-Georg Brunner Schwers MPS und Manfred Eichers ECM. Er beschreibt die Arbeiten zu “The Colours of Chloë” und den folgenden internationalen Erfolg. Er erzählt vom Zusammenspiel mit Gary Burton, von den Unterschieden zwischen amerikanischen und europäischen Gepflogenheiten in der Jazzszene, von Tourneen mit seiner eigenen Band Colours, durch Deutschland – Ost und West –, die USA und Australien. Er berichtet von seiner Zusammenarbeit mit Jan Garbarek, mit dem er auch offizielle Empfänge spielte, bei denen Politiker, Botschafter, Bundespräsidenten, gekrönte Häupter begeistert waren, “endlich mal kein Streichquartett hören zu müssen”.

Eberhard Weber ist ein vielgereister Musiker. Seine Berichte von Zollformalitäten, Einreisebestimmungen, fasst verpassten Flügen und sonstigen Widrigkeiten sind amüsante Anekdoten, die vor Augen führen, dass das Musikerdasein nicht nur der aus musikalischer Kreativität besteht, die das Publikum erwartet und zumeist auch bekommt. Eine Professur für Musik hatte er nie annehmen wollen. Seine Begründung, die wie ein Tenor seine ungemein flüssige und lesenswerte Autobiographie beendet: “Ich kann nicht Bass spielen. Aber ich weiß, wie’s geht.”

Wolfram Knauer (Juni 2015)


Coltrane sur le Vif
von Luc Bouquet
Nantes 2015 (Lenka Lente)
146 Seiten, 13 Euro
ISBN: 978-2-9545845-8-4

2015bouquetDie Großen des Jazz waren zumeist auch die Meistaufgenommenen, und neben den offiziellen Einspielungen im Studio gehörten über die Jahre Bootlegs dazu, Schwarzpressungen von legalen oder illegalen Mitschnitten, die in mal besserer, mal schlechterer Qualität auf den Markt kamen. Solche Bootlegs haben naturgemäß keine Studioqualität; zum Teil sogar einen unsäglich schlechten Sound. Aber sie sind nicht nur für den Fan, sondern auch für den Experten ein immens wichtiger Teil der Aufnahmegeschichte dieser Musiker. Sie dokumentieren nicht die perfekte Abmischung, sondern den Alltag des Konzerts, in dem das Solo völlig anders klingen kann, in dem die Künstler mit dem Material oder auch mit sich selbst zu kämpfen haben, in dem mal bessere, mal schlechtere Fassungen der großen Titel erklingen, vergleichen mit den auf den im Studio gefertigten Referenzaufnahmen.

Luc Bouquet hatte im französischen Magazin Improjazz eine Reihe über die Liveaufnahmen John Coltranes veröffentlicht und diese jetzt in die zwölf Kapitel des vorliegenden Buchs einfließen lassen. Ein erstes Kapitel beschreibt Coltranes erste Aufnahmen aus dem Jahr 1946 sowie zwei Sessions mit Dizzy Gillespie bzw. Johnny Hodges. Kapitel 2 widmet sich den Jahren 1955-57 und Livemitschnitten mit Miles Davis, Kapitel 3 der Zeit von 1957-58 und den erst jüngst entdeckten und doch schon legendären Aufnahmen Coltranes mit dem Thelonious Monk Quartet. Zwei weitere Miles Davis-Kapitel schließen sich an, 1958-59 in den USA sowie 1960 in Europa, dann beginnt mit Kapitel 6 die Aufnahmegeschichte von Coltranes eigenen Bands: sein klassisches Quartett, Trane und Dolphy, die diversen Besetzungen von 1962, 1963, 1964-65 bis hin zu seiner letzten Liveaufnahme, dem “Olatunji”-Konzert vom April 1967. Jede der Platten wird mit Besetzungs- und Inhaltsangaben gelistet, dazu kommt eine kurze Beschreibung dessen, was auf ihr zu hören ist. Allzu tief versteigt sich Bouquet dabei weder in die Musik noch in die Begleitumstände der Aufnahmen – so wäre etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Entdeckungsgeschichte der Bänder von Tranes Carnegie-Hall-Konzerts mit Thelonious Monk durchaus berichtenswert gewesen.

Bouquets Buch ist als eine Art annotierte Diskographie der Liveaufnahmen John Coltranes ein nützliches Handbuch sowohl beim Hören wie auch bei der Entscheidungsfindung, was man sich vielleicht noch zulegen könnte.

Wolfram Knauer, April 2015Rencontres du jazz et de la musique contemporaine
herausgegeben von Jean-Michel Court & Ludovic Florin
Toulouse 2015 (Presses Universitaires du Midi)
184 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-2-8107-0374-6

Das vorliegende Buch ist die Dokumentation einer Tagung, die im Oktober 2013 in Toulouse stattfand und sich mit aktuellen Beziehungen zwischen Jazz und Zeitgenössischer (sogenannter “Neuer”) Musik beschäftigte. Im Vorwort stecken die beiden Herausgeber das Feld ab, das irgendwo zwischen Anthony Braxton und IRCAM-Experimenten angesiedelt ist und bei dem oft die Genrebezeichnung, ob “Jazz” oder “Neue Musik”, im Weg steht, da die Musik selbst solche Grenzen inzwischen gern und oft überschreitet.

Die Beiträge selbst sind theoretisch-musikwissenschaftlicher Natur. Im ersten Teil findet Vincenzo Caporaletti, dass die jüngere Entwicklung im Kunstmusikbereich neue wissenschaftliche Ansätze benötigt und stellt sein “principe autiotactile” vor, durch das sich sowohl für komponierte wie auch für improvisierte Musik die performativen Prozesse genauso analysieren ließen wie die ästhetischen Prozesse, die durch die Musik wie auch durch äußere, etwa mediale Einwirkungen mitbestimmt werden. Alexandre Pierrepont nähert sich der Frage, inwieweit die genre-spezifische Einordnung und Wertung von Musik aus den Bereichen europäischer klassischer Musik und des afro-amerikanischen Jazz nicht auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser zu Missverständnissen führt, wenn die Querverbindungen, die ja zwischen den Genres bestehen, oft und gern mit kulturellen Konnotationen versehen werden. Pierre Sauvanet betrachtet, wie das Moment der “Tradition” von Musikern im Jazz, der Neuen Musik und in tatsächlich “traditionellen” Musikrichtungen unterschiedlich behandelt wird.

Im zweiten Teil des Buchs geht es an konkrete Analysen. Pierre Fargeton befasst sich mit Franz Koglmanns langjähriger Auseinandersetzung mit dem Third Stream, der Neuen Musik und anderen Kunstrichtungen. Konkret untersucht er Koglmanns “Join!” eine “Oper” aus dem Jahr 2013 auf diverse Bezüge (1.) zum Jazz und (2.) zur Zeitgenössischen Musik. Martin Guerpin analysiert die Komposition “Unisono” des israelischen Komponisten Ofer Pelz und identifiziert darin insbesondere die Jazzverweise. Wataru Miyakawa untersucht das Werk des japanischen Komponisten Toru Takemitsu, in dem ihn vor allem der Einfluss des Lyrian Chromatic Concept von George Russell interessiert.

Im dritten Teil des Bandes berichtet der Gitarrist Frédéric Maurin darüber, wie er Methoden der Spektralmusik, die in den 1970er Jahren im Kreis der IRCAM in Paris entwickelt wurde, etwa für seine Band Ping Machine nutzbar macht. Cécile Auzolle untersucht das “Wintermärchen” des belgischen Komponisten Philippe Boesmans von 1999 und hat dabei Einflüsse aus dem jazz sowie improvisatorische Passagen im Fokus, die in der Oper vom Ensemble Aka Moon ausgeführt wurden. Henri Fourès hinterfragt die Begriffe Jazz, Zeitgenössische Musik, Komposition, Notation und Improvisation auf ihre Wertigkeit in der Hochschullehre. Zum Schluss berichten die Bassistin Joëlle Léandre, der Saxophonist Douglas Ewart und der Trompeter Mike Mantler über ihre eigenen Erfahrungen im Feld zwischen den Welten von Jazz und Neuer Musik.

“Rencontres du jazz et de la musique contemporaine” wirft ein Schlaglicht auf eine offenbar immer noch wichtige Diskussion in den beiden darin angesprochenen Welten. Der einleitende Überblick listet frühere Beschäftigungen mit dem Thema auf (hier fehlt allerdings der Band “Jazz und Komposition”, der das 2. Darmstädter Jazzforum von 1991 dokumentiert und in dem dieses Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet wurde). Sowohl in den allgemein theoretischen wie auch den konkreter praktischen Kapiteln fehlt ein wenig – aber das ist bei einer Tagung, die das nicht ausdrücklich zum Thema machte, vielleicht auch kaum zu leisten – die grundlegende Diskussion einer anders als aus dem europäischem Wissenschaftsdiskurs entstandenen Reflexion über Musik, eine Perspektive also, die sowohl Jazz wie auch die in europäischer Tradition stehende Neue Musik etwa aus dem Blickwinkel von Community, von Macht, von Geschlechterungleichheit oder ähnlichem betrachtet, sich dabei nicht auf die bestehenden meist europäisch gefärbten und genormten Diskurstraditionen einlässt, sondern mutig nach neuen sucht. Das von George Lewis und Benjamin Piekut 2016 herausgegebene Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies geht da einen anderen Weg, braucht, um das Thema abzudecken allerdings auch über 1000 Seiten.

Wolfram Knauer (März 2018)


Bunk Monk & Funk – and other attractions
von Anders Stefansen (& Jan Søttrup)
Kopenhagen 2012 (People’s Press)
248 Seiten, 249 Dänische Kronen
ISBN: 978-8771-37035-5

Anders Stefansen ist ein bisschen der Fritz Rau Dänemarks: ein Konzertveranstalter, der eher zufällig ins Geschäft kam, in den frühen 1960er Jahren für Norman Granz dessen Skandinavien-Tourneen organisierte (so wie dies Lippmann + Rau in Deutschland taten), später auch populärere Acts betreute, von den Beatles bis zu den Rolling Stones. In seiner Autobiographie erinnert sich Stefansen an die vielen Freundschaften zu Musikern, die er in seinem Berufsleben schließen konnte, an das Tourleben, an Probleme und ihre jeweilige Lösung, und an Begegnungen wie die mit John Coltrane, Andrés Segovia, Count Basie, Duke Ellington, Ben Webster, Cecil Taylor und vielen anderen. Er beleuchtet die Realitäten des Business, schwelgt aber vor allem in Erinnerungen. Wenn es dabei auch mehr um die Menschen geht als um die Musik, so ist die Lektüre seines Buchs dennoch erhellend nicht nur für diejenigen, die von seiner Arbeit als Konzertveranstalter profitierten, etwa weil sie selbst im Publikum saßen. Seine Anekdoten beleuchtet zugleich eine ungewöhnliche Karriere zwischen Musik und guter Küche (Stefansen eröffnete eines der ersten French Cuisine Restaurants in Dänemark). Und seine Anekdoten über Henry Miller, den er traf, als er den Film “Ruhige Tage in Clichy” produzierte, sind besondere Zugaben der Lektüre.

Wolfram Knauer (Januar 2018)


Fashion and Jazz. Dress, Identity and Subcultural Improvisation
von Alphonso D. McClendon
London 2015 (Bloomsbury Academic)
194 Seiten, 24,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-85785-127-7

Von den Banduniformen der Swingorchester über die Gardenie im Haar von Billie Holiday bis zu Wynton Marsalis’ in Brooks Brothers-Anzüge gekleidetes Lincoln Center Jazz Orchestra: Jazzmusiker waren immer auch Mode-Ikonen. Miles Davis mag diese Facette seines Bühnenlebens am stärksten ausgelebt haben, doch findet sich das Bewusstsein für die Bühnengarderobe durch die Jazzgeschichte. Als Art Blakey seiner Band in den 1970er Jahren für eine Weile erlaubte, in Straßenklamotten aufzutreten, war das eine Ausnahme. Er wie andere Musiker wussten, dass sie als afro-amerikanische Künstler Vorbildfunktion hatten.

Alphonso D. McClendon ist Modeforscher und hat sich in seinem Buch “Fashion and Jazz” dem Subtext der Musikergarderobe durch die Jazzgeschichte angenommen. Ihm ist wichtig, auf die gegenseitigen Einflüsse zwischen Jazz und Mode hinzuweisen, wie er gleich im ersten Kapitel deutlich macht, in dem er Parallelen und Einflusswege nennt, dass nämlich sowohl Mode wie auch Jazz auf ihre jeweilige Art und Weise vom Freiheit des Ausdrucks handeln. Es habe im Jazz durchaus eine “Sprache der Kleidung” gegeben, sagt er – will heißen: die Bühnenpräsentation hatte immer auch etwas zu bedeuten, und Kleidung habe zur visuellen Ästhetik von Jazzmusikern beigetragen, ob in der Performance auf der Bühne oder in Abbildungen.

Im zweiten Kapitel geht McClendon das Thema dann chronologisch an. Er beschreibt die Mode der Ragtime-Ära und der Bluesmusiker, die Bühnenkostüme von Swing-Musikern und die Selbstdarstellung der Bebopper, die zugleich “die Konstruktion eines subkulturellen Stils” gewesen sei, und stellt schließlich fest, das sowohl Mode wie auch Jazz ähnliche Perioden von Konformität (1900-1920), populärem Einfluss (1920-1940) und Widerstand (1940-1960) durchgemacht hätten.

Kapitel 3 diskutiert Momente “der Moderne” bzw. “des Modernen” und die Kommunikation beider durch Mode und Spielpraktiken im Jazz. Im vierten Kapitel beschreibt McClendon Strategien der Distinktion durch Jazz und Mode, um sich im fünften Kapitel etwa auf die Darstellung von Frauen und Männern in frühen Sheet-Music-Covers zu konzentrieren. Kapitel 6 diskutiert subversive Konnotationen, die sich etwa in Texten von Bluessängerinnen finden oder im Eingang von Jazzthemen in die Literatur oder den Film. Kapitel 7 ist überschrieben “Narcotics and Jazz: A Fashionable Addiction” und beschreibt unter anderem, wie elegante Kleidung auch helfen konnte ein Leben im Schatten der Drogensucht zu verschleiern. Kapitel 8 fokussiert auf Billie Holiday als Musik- wie Mode-Ikone; Kapitel 9 beschreibt Duke Ellington und Benny Carter als “traditionellen Dandy” sowie Dizzy Gillespie und Gerry Mulligan als “modernen Dandy” und blickt kurz darauf, wie amerikanische Präsidenten wie Bill Clinton und Barack Obama ihre Nähe zum Jazz als Imagefaktor ausnutzten.

McClendons Buch reicht leider nur bis ins Jahr 1960 und verpasst damit die politische Garderobe von Dashikis, schwarzen Lederjacken oder soul-beeinflusster Hipstermode der 1960er und 1970er Jahre, thematisiert also auch nicht die Rückkehr zur ordentlichen Garderobe mit Aufkommen der Young Lions der 1980er Jahre. Er thematisiert damit weder die modetechnische Annäherung zwischen den Genres, etwa in Richtung Rock oder auch Neue Musik, noch die Unterschiede etwa in im Modeverhalten amerikanischer und europäischer Musiker. Doch gelingt ihm in diesem eigentlich auf der Hand liegenden und doch so ganz anderen Blick auf Jazzgeschichte eine Perspektive, die Aufschluss über Imagebildung, Selbstverständnis der Künstler und die gegenseitige Beeinflussung von Image und künstlerischem Anspruch erlaubt. Etliche Bilder, eine ausführliche Bibliographie und ein Namensindex schließen das Buch ab.

Wolfram Knauer (August 2017)


Sales Rectangles. Daunik Lazro. Vieux Carré
von Guillaume Belhomme
Nantes 2015 (Lenka Lente)
44 Seiten, 1 Mini-CD, 9 Euro
ISBN: 978-2-9545845-9-1

Am 21. Mai 2011 spielte der Saxophonist Daunik Lazro ein inspiriertes unbegleitetes Solokonzert in einen Buchladen in Rouen. Guillaume Belhomme versucht die Stimmung des Konzerts einzufangen, indem er eines der Stücke Lazros, eine lange Improvisation über Joe McPhees “Vieux Carré” mit kurzen Blicken in die Bücher, die um ihn herum stehen und liegen, verbindet. Seine knappen, aus jeweils nicht mehr als einem Satz bestehenden Kommentare lassen sich den diesen Büchern allerdings erst zuweisen, wenn man sie anhand der im Büchlein abgedruckten Barcodes (bzw. die diesen beigefügten ISBN-Nummern) sucht. Und tatsächlich gelingt es Belhomme dabei ein wenig, jene Stimmung eines Konzerts im Buchladen einzufangen, bei dem die Konzentration auf die Musik von den Blicken zu und in die Bücher, von der Wahrnehmung der Atmosphäre, von kurzen Reflektionen darüber, was man da aufblättert, während man zugleich zuhört, unterbrochen, aber durchaus auch bereichert wird. Ein ungewöhnliches, durchaus inspirierendes Experiment, das den Leser / Hörer quasi subkutan auf die Komplexität der Wahrnehmung von Musik aufmerksam macht.

Wolfram Knauer (März 2017)


Spirits Rejoice! Jazz and American Religion
von Jason C. Bivins
New York 2015 (Oxford University Press)
369 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-023091-3

Jazz und Spiritualität sind für viele Musiker eine zusammenhängende Einheit. Duke Ellington, John Coltrane, Albert Ayler, Rahsaan Roland Kirk, Yusef Lateef, Anthony Braxton – die Liste der Musiker, für die ihre musikalische immer auch eine spirituelle Suche war, ist lang. Der Religionswissenschaftler und Jazzgitarrist Jason Bivins beleuchtet in seinem Buch dieses Verhältnis zwischen Religion und Musik anhand zahlreicher Beispiele und legt, gerade weil er seine Studien aus der Perspektive eines Religionsforschers und mit dem Wissen eines Jazzers macht, ein wichtiges Buch vor, in dem das Thema weit fundierter angegangen wird als in vielen Biographien der bereits genannten Musiker.

In seinen “ersten Meditationen” zum Thema stellt Bivins fest, dass Jazz genauso wie Religion in ihrer jeweiligen Individualität der Wahrnehmung schwer fassbare Gebilde seien. Er weiß um die ganz unterschiedlichen Ausprägungen des Religiösen oder Spirituellen gerade in der Musik, die irgendwo zwischen Ritual und Weltforschung liegt. Er fragt, wie sich das spirituelle Umfeld, aus dem Musik heraus initiiert oder rezipiert wird, auf die Musik selbst auswirkt. Er befasst sich mit konkreten Traditionen, auf die Jazz sich immer wieder bezog. Er betrachtet Beispiele, in denen mit Jazz amerikanische Geschichte genauso wie religiöse Aspekte derselben dargestellt werden. Er befasst sich mit Jazz in religiös-musikalischer Praxis. Er hinterfragt das Klischee von Jazz als rituelle oder heilende Praxis. Er diskutiert Verweise im Jazz auf Mystizismus, Selbstlosigkeit, die klangliche Verbindung zu einem höheren Wesen. Es untersucht Kosmologien und metaphysische Theorien im Jazz. Er will damit nicht nur Aspekte der Jazzgeschichte durch ihre Verankerung in religiösen Praktiken erklären helfen, sondern zugleich die Religionsgeschichte in den USA seit den 1920er Jahren mithilfe ihres Widerhalls im Jazz beleuchten.

Bivins geht dabei weder chronologisch vor noch versucht er seine Thesen an zentralen Figuren festzumachen, wenn es auch an konkreten Beispielen nicht mangelt in seinem Buch. Natürlich spielt der Einfluss der schwarzen Kirche auf viele afro-amerikanischen Musiker eine wichtige Rolle. Er beschreibt das Zeugnis ablegende (“testifyin'”) Tenorsaxophonspiel Albert Aylers. Er findet Spiritualität in Charles Gayles Bühnen- genauso wie Straßenmusikauftritten. Er fragt nach den Gründen von Jazzmusikern zum Islam, zum Buddhismus, zum Bahá’í, zur Scientology zu konvertieren und ihre Reflektion über die jeweilige religiöse Praxis und ihre Auswirkung auf ihre Musik. Er befasst sich mit den Ausprägungen des “Radical Jewish jazz” und mit der Idee einer imaginären Folklore in den Vereinigten Staaten.

Er beschäftigt sich mit Beispielen, in denen Jazzmusiker bzw. ihre Werke religiöse Geschichte erzählen und verwebt dabei eng religiöse und politische Aussagen, etwa in den Aufnahmen von Charles Mingus, Archie Shepp, Max Roach und Abbey Lincoln. Auch der Saxophonist Fred Ho und sein Einsatz für einen Asian American Jazz kommen zur Sprache sowie Sun Ras Verweise auf weltumspannende Verbindungen, die weit über den Planeten Erde hinausreichen. Er geht auf Ellingtons “Sacred Concerts” ein und widmet eine längere Passage John Carters Komposition “Roots and Folklore”, die, wie er findet, ein würdiger Träger des Pulitzer Preises gewesen wäre, den Wynton Marsalis später für sein Oratorium “Blood On the Fields” erhielt.

Er entdeckt im Bemühen von Musikern seit den 1950er Jahren sich zu organisieren neben den politischen auch spirituelle Gründe, wie er etwa am Beispiel der AACM und der Black Artists Group zeigt. Die von Horace Tapscott gegründete Underground Musicians Association, die Saint John Coltrane African Orthodox Church und Alice Coltranes Ashram sind für ihn konkrete Beispiele, wie Jazz als spirituell-religiöses Ritual gelebt und zelebriert werden kann.

Im zweiten Teil seines Buchs beschäftigt sich Bivins mit den engen Verbindungen zwischen Ritual und Improvisation, nennt Beispiele aus dem Schaffen von Duke Ellington, Mary Lou Williams, Milford Graves, Cecil Taylor, bezieht sich aber auch auf das Feld des afro-kubanischen Jazz, auf Steve Colemans Studien zur Yoruba-Kultur und auf die Musik des Art Ensembles of Chicago.

Ein eigenes Kapitel befasst sich mit Meditation und Mystizismus und verweist dabei auf Musiker wie Steve Lacy, Arthur Blythe, William Parker und Davis S. Ware. Ornette Colemans Harmolodics und George Russells Lydian Chromatic Concept werden von Bivins nicht allein als musiktheoretische Abhandlungen verstanden, sondern als Beispiel für kosmologische und metaphysische Versuche Jazz, Improvisation, ja Musik ganz allgemein zu fassen. In dieses Kapitel gehören auch Anthony Braxtons Tri-Axium-System und Wadada Leo Smith’ Ankhrasmation.

In seinem Schlusskapitel stellt Bivins dann noch einmal klar, dass die Auseinandersetzung mit Jazz oder mit Religion notwendigerweise eine fragmentarische sein muss, dass beide Praktiken ein Versuch sind, sich der Komplexität der Welt zu nähern, unsere eigene Sicht aber immer durch das geprägt ist, was wir bereits “wissen”. Für einige sei Musik wie Religion, weiß er, das aber beinhalte weit mehr als die pure Hingabe. Wie die Religion in amerikanische (und weltweiter) Geschichte, habe auch die Musik subversive Funktionen gehabt, habe Einfluss auf die Wahrnehmung der Realität genommen und diese damit ändern können.

Bivins’ Entscheidung, keine klar strukturierte Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Jazz und verschiedenen Ausprägungen von Spiritualität zu wählen, sondern stattdessen Themen zu identifizieren und von verschiedenen Seiten zu beleuchten, führt dazu, dass man auch als Leser die Vorstellung von Religion, Spiritualität, Ritual weiter fasst. Wo man zu Beginn der Lektüre von der sehr offenen Fassung der Begriffe noch ein wenig irritiert sein mag, da ist man dem Autor am Ende genau dafür dankbar, da er es schafft, auch beim Lesen die schnellen Analogien zu vermeiden. Bivins gelingt es, diesen offenen Geist in seine Leser zu übertragen – für den europäischen Leser dann auch in Richtung all der Themen, die sich hierzulande in die verschieden Kapitel einflechten ließen.

Wolfram Knauer (März 2017)


Omniverse Sun Ra
von Hartmut Geerken & Chris Trent
Wartaweil 2015 (Waitawhile Books / Art Yard)
304 Seiten, 69 Euro
ISBN: 978-0-9933514-0-2

Von 1994 stammt das damals im LP-Schallplattenformat veröffentlichte, von Hartmut Geerken und Bernhard Hefele herausgegebene Buch “Omniverse Sun Ra”. Jetzt erschien eine Neuauflage dieses Werks, das das Universum des Meisters aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben versucht.

Geerken war in den 1960er bis 1980er Jahren Institutsleiter verschiedener Goethe-Institute. Als Perkussionist hat er daneben mit zahlreichen Musikern vor allem aus dem Bereich der improvisierten Musik zusammengearbeitet. In Jazzkreisen ist er dabei insbesondere als Kenner des Oeuvres Sun Ras bekannt und war für Konzerte des Arkestra verantwortlich, etwa 1971 in Kairo, wo er seinerzeit fürs Goethe-Institut wirkte. Sein Buch von 1994 war eine kleine Sensation für die Aufarbeitung des Ra’schen Oeuvres; die Neuauflage ist nicht weniger willkommen.

Was übernommen wurde: Amiri Baraka beginnt das coffeetable-große Buch mit einem einleitenden, sehr persönlichen Text über den Meister. Robert Campbell erzählt die irdische Biographie Herman Blounts von seiner Geburt in Birmingham, Alabama, im Jahr 1914 bis zu seinem Tod im Mai 1993 und ordnet zugleich die verschiedenen Besetzungen und musikalischen Phasen seines Schaffens zu. Sigrid Hauff untersucht die mythologische und spirituelle Welt, die Sun Ra musikalisch genauso wie in Texten oder Interviews heraufzubeschwören versuchte. Chris Cutler ordnet sein musikalisches Schaffen in den größeren Kontext von Jazz und afro-amerikanischer Musikgeschichte ein. Robert Lax versammelt mehr oder weniger unzusammenhängende Gesprächsfetzen, Bonmots und Aphorismen des Pianisten, Komponisten, Bandleaders und spirituellen Philosophen. Salah Ragab berichtet über Konzerte des Arkestra in Ägypten in den Jahren 1983 und 1984. Karlheinz Kessler hinterfragt die Verwendung von Ritualen in den Performances der Band. Gabi Geist schreibt ein Horoskop für jemanden, der immer sagte, dass sein Geburtstag und -ort höchstens irdisch seien, tatsächlich aber seiner Herkunft nicht gerecht würden. Hartmut Geerken schließlich erinnert sich an den Besuch des Arkestra in Ägypten im Dezember 1971. Zwischendrin finden sich zahlreiche Fotos, viele davon von der britischen Fotografin Val Wilmer.

Was neu ist: Ein Text Bernhard Helefes entfällt in der Neuauflage. Den ausführlichen diskographischen Teil des Buchs hat Chris Trent neu geordnet. Wieder gibt es einen umfangreichen Bildteil, der die Plattencovers zeigt.

“Omniverse Sun Ra” war schon in der ersten Ausgabe von 1994 eine labor of love. Die neue Ausgabe hat einen Hardcover-Einband, ein etwas handlicheres Format, einen Block mit Farbfotos der Band, die im früheren Buch nicht enthalten waren. Es verzichtet auf die Tapeologogy, also die Auflistung oft privater Konzertmitschnitte, sowie auf die ausführliche Bibliographie der früheren Ausgabe.

“Omniverse Sun Ra” bleibt bei alledem ein großartiges Buch, das in Wort, Bild und Tonträgerverweisen als hervorragendes Nachschlagewerk über die Welt und Weltsicht Sun Ras genauso zu nutzen ist wie als eine Dokumentation, in der auch “Nachgeborenen” die Bühnenperformance des Arkestra vor Augen geführt wird.

Wolfram Knauer (März 2017)


A City Called Heaven. Chicago and the Birth of Gospel Music
von Robert M. Marovich
Urbana/IL 2015 (University of Illinois Press)
488Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08069-2

Gospelmusik, erklärt Robert Marovich, Rundfunkmoderator, Herausgeber des Journal of Gospel Music und Musikhistoriker, sei die künstlerische Antwort auf die Great Migration gewesen, in der tausende und abertausende Afro-Amerikaner zu Beginn des 20sten Jahrhunderts aus den Südstaaten in den Norden zogen und insbesondere in Städten wie Chicago ein neues Zuhause fanden. Blues, sagte Mahalia Jackson einmal, seien Lieder der Verzweiflung gewesen, Gospel dagegen Lieder der Hoffnung. Das Genre, erklärt Makovich in seinem Buch, das sich auf die Verankerung der Musik im Chicago des 20sten Jahrhunderts fokussiert, sei wie eine soziale Organisation organisiert gewesen, die jeden, egal wie gut er oder sie singen konnte, willkommen geheißen hätte.

In seinem Buch beschreibt Marovich die Entwicklung der Gospelmusik von frühen Hymnen und Camp Meetings über die beschriebene Great Migration und die lebendige Gospelszene von Chicago bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sounds, Rhythmen und der Enthusiasmus dieser Musik Eingang in die Popmusik fanden und schließlich zur Begleitmusik der Bürgerrechtsbewegung wurden. Er greift auf Interviews und selten ausgewertete historische Quellen zurück, um die Einbettung der Musik in die Community zu beschreiben; er entdeckt die Bedeutung von Predigern, deren eindringliche Sermons ab den 1920er Jahren ja sogar auf Schallplatte veröffentlicht wurden; er berichtet von frühen Aufnahmen für das noch junge Radio genauso wie für die aufstrebende Plattenindustrie. Er geht auf weithin bekannte Gospel-Künstler ein, Thomas A. Dorsey etwa oder Mahalia Jackson, genauso aber auch auf weniger, oft nur lokal bekannte Musikerinnen und Musiker. Er weiß um die Hintergründe der Gospeltourneen, die in den 1930er Jahren große Erfolge feierten, und er beschreibt die Entwicklung des Gospelquartetts über die Jahre.

Die Zuwanderung nach Chicago aus dem Süden hielt bis in die 1940er Jahre an und vermittelte der Gospelmusik damit über lange Jahre jene wichtige Funktion des Haltgebens in der Fremde. Radio- und frühe Fernsehshows nahmen sich des Genres an, und immer mehr wurde Gospel auch zu einem kommerziellen Produkt. In seiner Übersicht über die verschiedenen Stränge des Genres kennt Marovich alle Solisten, Bands, Quartette und Chöre und beschreibt sowohl ihre Einbindung in die örtliche kirchliche Gemeinschaft wie auch ihr sehr unterschiedliches Verhältnis zur Plattenindustrie. Mitte der 1950er Jahre fiel der Gospelmusik schließlich eine neue Rolle zu, als Mahalia Jackson zu einer glühenden Vertreterin des Civil Rights Movement und einer engen Verbündeten Dr. Martin Luther Kings wurde.

Die große Zeit des Gospel war mit dem Tode Mahalia Jacksons und Roberta Martins vorbei; und hier endet auch Marovichs Buch, mit einem nur kurzen Ausblick auf die Gegenwart. “A City Called Heaven” ist ungemein detailreich, dadurch stellenweise etwas mühsam zu lesen, aber durch einen umfangreich aufgeschlüsselten Index ein gutes Nachschlagewerk zum Thema. Marovich zeigt anhand der Gospelmusik in Chicago, wie sich sich Genre- und Stadtgeschichtsschreibung miteinander verbinden lassen, weil die Nöte und Zwänge des Lebens in der Großstadt letztlich die Entwicklung einer Musik als spirituelles Gegengewicht befördert haben.

Wolfram Knauer (Januar 2017)


La Nuée. L’AACM: un jeu de société musicale
von Alexandre Pierrepont
Marseille 2015 (Éditions Parenthèses)
443 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-2-86364-669-4

2008 veröffentlichte George E. Lewis sein Buch “A Power Stronger Than Itself. The AACM and American Experimental Music”, das die musikalische und ästhetische Welt der Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago seit den 1960er Jahren aus der Ecke einer “nur” afro-amerikanischen Avantgarde holte und zeigte, wie sehr die darin Aktiven Teil eines generellen und weit über Amerika hinausreichenden künstlerischen Diskurses waren und sind.

Im Vorwort seines Buchs über die AACM schildert Alexandre Pierrepont, wie es dazu kam, dass er sich als Anthropologe entschied, eine Studie zur AACM zu schreiben, wie er mittendrin von Lewis’ Arbeit erfuhr und sofort bereit war, mit seinem eigenen Projekt zurückzustecken. Lewis aber habe ihn zum Weitermachen ermutigt: Sein Buch sei eine Innenansicht, so Lewis, ein so komplexes Thema aber brauche immer mehrere Perspektiven, und Pierreponts Arbeit könne vielleicht eine sinnvolle Außenansicht bieten. Und so ist mit “La Nuée” (“Der Schwarm”) jetzt ein zweites umfangreiches Buch auf dem Markt, das die AACM von den 1960er Jahren bis heute als einen künstlerische Ansatz beschreibt, der weit über die erklingende oder auf Tonträgern dokumentierte Musik hinausreicht, vor allem nämlich in den daran beteiligten Akteuren ein Selbstbewusstsein geschaffen hat, das sie weit über den Kreis des Jazz, der afro-amerikanischen oder sogar der amerikanischen Musik hinaus einordnen lässt.

Pierrepont präsentiert im ersten Kapitel 25 Gründe warum, und Erklärungen wie Afro-Amerikaner in den USA ausgegrenzt oder marginalisiert wurden. Er zeigt, dass Musik gerade in diesem Zusammenhang wichtige soziale Funktionen übernahm. Er schildert die Situation in Chicago und erklärt, wie sich hier ab den 1950er Jahren eine aktive experimentelle Musikszene herausbildete. Im zweiten Kapitel beschreibt er die Idee hinter der AACM, die unterschiedlichen Ensembles und Projekte, die aus dem Kreis der Musiker entstanden, die europäische Erfahrung von Mitgliedern etwa des Art Ensemble of Chicago zwischen den Jahren 1969 und 1974, die Verbindungen zwischen der Chicagoer und der New Yorker Avantgarde-Szene ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre (die viel damit zu tun hatte, dass etliche Chicagoer Musiker inzwischen an die Ostküste umgezogen waren), sowie den Einfluss der AACM und ihres Konzepts auf europäische Improvisations-Kollektive.

Im dritten Kapitel untersucht Pierrepont die AACM als Kooperative und Verein, als Geheimbund und Brüderschaft, als sozio-musikalische Bewegung und Weltschule, beschreibt ihre formale Organisation, aber auch die “respectful anarchy”, die sich aus ihren Verbindungen etwa zum Black Arts Movement und anderen auch politisch aktiven Organisationen ergaben. Dabei sei sie bis heute eine Vereinigung afro-amerikanischer Musiker geblieben. Egal ob in Tongebung, Improvisation oder Komposition sei eines der verbindenden Merkmale der aus der AACM entstandenen Musik zum einen die Betonung von Individualität, zum zweiten aber auch das Einbringen des Subjekts in kollektive Prozesse. Pierrepont beschreibt pädagogische Konzepte, die sich aus den Schulprojekten der Association ergaben, und umreißt musikalische als soziale Verbindungen und die daraus resultierenden Gruppenzugehörigkeits-Prozesse. Im vierten Kapitel beschreibt er die Offenheit der AACM-Mitglieder gegenüber Genre, kompositorischen und improvisatorischen Experimenten, der Verwendung und Aneignung im Jazz bislang eher unüblicher Instrumente, der Weiterentwicklung elektronischer Klang- (und musikalischer Reaktions)möglichkeiten, sowie der Arbeit im Solo- und großorchestralen Kontext. Das Art Ensemble of Chicago warb mit dem Slogan “Ancient to the Future”, und in dieser Haltung, dass die Formung jedweder (künstlerischen) Zukunft sich auf die eigene Interpretation der Vergangenheit beziehe, sieht Pierrepont eines der Geheimnisse hinter der Langlebigkeit der AACM als Organisation. “Ich ziehe die Mythokratie der Demokratie vor”, zitiert er Sun Ra. “Noch vor der Geschichte. Alles vor der Geschichte sind Mythen… Das ist der Ort, an dem die Schwarzen sind. Realität ist gleich Tod, weil alles, was real ist, einen Anfang und ein Ende hat. Die Mythen sprechen vom Unmöglichen, von Unsterblichkeit. Und da alles Mögliche bereits versucht wurde, müssen wir eben das Unmögliche versuchen.”

Alexandre Pierreponts Studie zur AACM bietet eine gelungene Interpretation dessen, wofür die Association for the Advancement of Creative Musicians stand und steht, eine Einordnung ästhetischer wie gesellschaftlicher Vorstellungen und Aktivitäten aus der Gruppe, und den Versuch, das alles in Verbindung zu bringen mit ästhetischen, kritischen, philosophischen und spirituellen Aspekten, die weit über die Arbeit der AACM-Mitglieder hinausgehen. Ihm ist dabei, in Gesprächen mit Musikern, in den Beschreibungen von Konzert- und Aktionssituationen, in der historischen genauso wie der anthropologischen Einordnung all dessen ein kluges Buch gelungen, das die Rolle der AACM im Jazz genauso zu verorten in der Lage ist wie in der aktuellen Musik des 20sten (und letzten Endes auch 21.) Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Jazz Tales from Jazz Legends. Oral Histories from the Fillius Jazz Archive at Hamilton College
Von Monk Rowe (& Romy Britell)
Rochester 2015 (Richard W. Couper Press)
209 Seiten, 20 US-Dollar
ISBN: 978-1-937370-17-6

Das Hamilton College ist eine relativ kleine Hochschule in Clinton, New York. Einer ihrer Absolventen, Milt Fillius Jr., zog nach seinem Diplom ans andere Ende des Landes, nach San Diego, hielt aber Kontakt zu seiner Alma Mater. Er liebte Jazz und er war ein guter Freund des Sängers Joe Williams, der 1988 die erste Ehrendoktorwürde des Hamilton College erhielt. Im Gespräch mit Williams und dem Bassisten Milt Hinton wurde Fillius bewusst, wie viel an Wissen über den Jazz tatsächlich nur in der Erinnerung der Musiker bewahrt und wie wichtig Oral History gerade in diesem Bereich ist. Er etablierte also ein umfassendes Interview-Projekt, für das mittlerweile weit über 300 Künstler/innen in Ton und Bild festgehalten wurden. Die Interviews, von denen viele der Hamilton-Archivar Monk Rowe selbst durchführte, dokumentieren die Welt des Swing genauso wie die des modernen Jazz. Die meisten dieser Erinnerungen sind auf der Website des Hamilton College nachzulesen; eine für die Jazzforschung ungemein hilfreiche Sammlung. Es handelt sich bei den Interviewten nicht unbedingt um die großen Stars der Jazzgeschichte, obwohl etwa mit Lionel Hampton, Nat Adderley, Herbie Hancock, James Moody, Oscar Peterson, Ruth Brown und anderen auch solche vertreten sind. Viele der Musikererinnerungen stammen stattdessen von Sidemen, die über ihre Zeit in den großen Bands berichten, über das Leben “on the road”, über die alltäglichen Probleme eines reisenden Musikers, über Rassismus und vieles mehr

In “Jazz Tales from Jazz Legends” zeigt Monk Rowe, was man aus diesen Interviews so alles lernen kann. Er filtert konkrete Themen heraus, für die er dann die verschiedenen Erfahrungen der Interviewten gegenüberstellt. Das Anfangskapitel widmet sich Joe Williams, dann folgt ein Abschnitt über das Schicksal der Sidemen bei Duke Ellington, Count Basie, Benny Goodman und in anderen Bigbands. Clark Terry erzählt etwa, wie der Duke ihn bei Basie abwarb, erinnert außerdem, was er bei beiden Bandleadern lernte, und Benny Powell weiß zu berichten, dass Basie ihm in den zwölf Jahren in der Band nie förmlich bestätigt habe, dass er engagiert sei. Im Kapitel “Road Travails” erzählen Eddie Bert von seiner Zeit bei Benny Goodman, Sonnie Igoe von einer Tournee mit Woody Herman, Bucky Pizzarelli vom Reisen mit dem Vaugn Monroe Orchestra, Jay McShann vom Problem mit schlechten Klavieren “on the road”, Jimmy Lewis von einem angst-machenden Flug mit der Basie-Band, Kenny Davern vom Stress, die 60 One-Nighters in 90 Tagen erzeugen können, Lanny Morgan darüber, dass die Gage oft von Hotel- und Reisekosten aufgefressen wurde, die die Musiker aus eigener Tasche zahlen mussten. “Arranging the Notes” heißt ein weiteres Kapitel, das sich mit den Ansprüchen an die Arrangeure der Bands befasst. Dick Hyman, Mike Abene, Bill Holman, Derrick Gardner, Ray Conniff, Manny Albam erzählen darin von der Arbeit eines Bandarrangeurs genauso wie von den Anforderungen an andere Arten von Musik, etwa für Hollywood; Lew Soloff erinnert sich an die Arrangements für Blood Sweat & Tears, und Dave Rivello und Maria Schneider geben einen Ausblick darauf, wie die Arbeit eines Arrangeurs im 21sten Jahrhundert funktioniert.

“Inside the Studio” ist ein Kapitel über Aufnahmeerfahrungen überschrieben, in dem sich Doc Cheatham an seine erste Platte mit Ma Raney erinnert, Richard Wyands einen typischen Aufnahmegig aus dem Jahr 1959 beschreibt, Orrin Keepnews erzählt, was Musikern für Aufnahmesitzungen üblicherweise bezahlt wurde, und Dick Hyman und Derek Smith verraten, dass sie sich natürlich auch mit Musik für Fernsehwerbung über Wasser halten mussten. Man müsse nicht alles mögen, was da im Studio produziert werde, erklärt Hyman, man müsse sich aber anstrengen, das, was von einem gefordert werde, möglichst gut zu spielen. Rassismus war für viele der interviewten Musiker ein täglich erlebtes Thema, und im Kapitel “The Color of Jazz” kommt auch dies zur Sprache. Clark Terry und Joe Williams haben genügend eigene Erlebnisse; Sonny Igoe erzählt, wie er auf einer Tournee durch den Süden, bei der er im Bus mit dem Art Tatum Trio mitreiste, als “White Trash” angepöbelt und aufgefordert wurde, er solle den Bus gefälligst verlassen. Louie Bellson und Red Rodney haben ähnliche Erinnerungen, und Frank Foster fasst zusammen, dass der Jazz zwar aus der schwarzen Erfahrung heraus geboren worden sei, dass der Melting Pot Amerika ihn aber schon seit langem zu einer amerikanischen, wenn nicht gar globalen Musik gemacht habe.

Im Kapitel “Thoughts on Improvisation” geben Marian McPartland, Clark Terry, Bill Charlap, Charles McPherson und andere Tipps, wie man sich der Improvisation nähern könne. Ken Peplowski fasst zusammen: “Lern es, dann vergiss es wieder!”, und Randy Sandke reflektiert, was während eines Solos so alles durch seinen Kopf ginge. Schließlich äußern sich Gary Smulyan, Ralph Lalama und Jan Weber über die Möglichkeit und die Chancen “falscher Töne” im Jazz. “Motivation and Inspiration” ist ein Kapitel überschrieben, das Erinnerungen an persönliche Einflüsse beinhaltet. Keter Betts etwas erzählt, dass er als Schlagzeuger begonnen habe und durch Milt Hinton (und reichlich Zufall) zum Bass gekommen sei. John Pizzarelli kam über die Beatles zur Gitarre, Kenny Davern übers Radio bei einer der Pflegefamilien, bei denen er aufwuchs, bis er sechs Jahre alt war, und auch Junior Mance war von Earl Hines begeistert, dem er spätabends heimlich im Radio lauschte. Jon Hendricks berichtet, wie er dazu kam, improvisierte Instrumentalsoli zu textieren. Und Eiji Kitamura erinnert sich, wie eine Platte von Benny Goodman in der Sammlung seines Vaters ihn zur Klarinette brachte. Schließlich gibt es im Schlusskapitel noch ein paar Haltungen zum Phänomen des Swing und zum Missverständnis des Free Jazz sowie Erinnerungen an unglücklich gelaufene Engagements und über die Arbeit mit Legenden.

“Jazz Tales from Jazz Legends” ist also ein vielfältiges Buch, das jede Menge unterschiedlicher Erfahrungen zusammenbringt. Zu Beginn der Lektüre wünscht man sich, die einzelnen Interviews im Zusammenhang zu lesen, aber das ist ja tatsächlich möglich, über die Website des Fillius Jazz Archive am Hamilton College. Und so sollte man Monk Rowes thematische Zusammenstellung als das sehen, was sie ist: ein exzellentes Beispiel, wie sich aus den gesammelten Interviews am Hamilton College Narrative zu den unterschiedlichsten Themengebieten der Jazzgeschichte exzerpieren lassen. Dann lässt sich umso interessanter verfolgen, wie die Interviews sich gegenseitig ergänzen und die unabhängig voneinander Befragten dabei fast miteinander ins Gespräch zu kommen scheinen.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Swingin’ On Central Avenue. African American Jazz in Los Angeles
von Peter Vacher
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
331 Seiten, 55 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8832-6

2015vacherJazzgeschichtsschreibung funktioniert normalerweise so: Louis Armstrong – Charlie Parker – Miles Davis – John Coltrane. Oder so: New Orleans – Chicago – Kansas City – New York. Oder so: Dixieland – Swing – Bebop – Cool Jazz – Hard Bop – Free Jazz – Fusion. Personen, Orte, Epochen… eine Geschichte der großen Männer (!), der lebendigen urbanen Szenen, der alles umwälzenden stilistischen Innovationen. Tatsächlich aber ist dieser Blick auf die Größen, die Zentren, die Stilbegriffe enorm einengend, wenn nicht gar: einfach nur falsch. Neben den großen Stilisten gibt es immer auch diejenigen, deren Kreativität entweder nicht den großen populären Erfolg hatte oder aber nicht lange genug anhielt, oder die sich einfach weniger gut “verkaufen” konnten. Neben den jazzgeschichtsmäßig bekannten Zentren gab es Städte und Landstriche, die musikalisch enorm lebendig waren, viele Musiker hervorbrachten, aber von der Geschichtsschreibung höchstens als potentielle Spielorte, nicht als Brutstätten dieser Musik dargestellt wurden. Und neben den etablierten Stilen gibt es unendlich viele Zwischenstufen, da kaum ein Musiker sich eines Stils “in Reinkultur” bediente”. Ganz davon zu schweigen, dass sich die meisten Jazzgeschichten, ja selbst die meisten Biographien an Aufnahmen entlanghangeln und dabei gern den performativen Aspekt des Jazz vergessen, die Tatsache also, dass die veröffentlichte Platte nur eine Momentaufnahme des kreativen Prozesses ist.

Peter Vacher füllt mit seinem Buch also eine Lücke. Er widmet es einer Szene, die nie so ganz im Mittelpunkt des Jazz stand (Los Angeles), und er fokussiert dabei auf Musiker, die höchstens regionale Stars blieben und kaum nationalen oder gar internationalen Erfolg einfuhren. Vacher ist Außenseiter (Brite); er kam im Laufe des Trad-Jazz-Booms der 1950er Jahre zum Jazz. In den 1980er Jahren arbeitete er mit dem Klarinettisten Joe Darensbourg an dessen Autobiographie, verbrachte währenddessen einige Zeit in Los Angeles und lernte damals Veteranen der schwarzen Musikszene der Westküstenmetropole kennen. Die Interviews, die er mit den sechzehn in diesem Buch dokumentierten Musikern führte, hatten ursprünglich nicht das Ziel einer Buchveröffentlichung, sondern dienten einzig seinem privaten Interesse an ihrer Geschichte. Wenige konnte er ein zweites Mal interviewen, bei anderen fühlte er sich im Nachhinein schlecht vorbereitet. Dennoch geben die Geschichten, die er anhand dieser 16 Musiker erzählt, einen Einblick in eine so ganz andere Musikszene als die an der Ostküste. Die Westküstenmusiker waren flexibel; sie spielten Jazz genauso wie R&B oder Dixieland. Viele von ihnen verdienten sich ihren Lebensunterhalt in den Studios Hollywoods, und viele zog es vielleicht mal für eine Tournee, selten aber für immer fort aus Kalifornien. Und wenn auch diese Szene Jazzgrößen wie Dexter Gordon, Wardell Gray, Teddy Edwards und Charles Mingus hervorbrachte, wenn auch Legenden wie Benny Carter, Red Callender und Buddy Collette von hier aus agierten, so blieb Los Angeles doch ein weitgehend ungeschriebenes Kapitel der US-amerikanischen Jazzgeschichte.

Die von Peter Vacher interviewten Musikern stammen aus der älteren Generation, und dokumentieren die Szene vor allem der 1930er bis 1950er Jahre. Noch weiter zurück geht es in den Erzählungen des Trompeters Andy Blakeney , der von seinen ersten musikalischen Erfahrungen im Chicago der 1920er Jahre berichtet, von seinem Umzug an die Westküste im Jahr 1925, von Reb Spikes, der ein Musikgeschäft in L.A. besaß und außerdem eine gut beschäftigte Band. Er erinnert an viele der Musiker in der Stadt und an Partys bei Orson Welles. Er erzählt aber auch von der Rassentrennung in der Stadt, und von den legendären Gigs, die Louis Armstrong und Duke Ellington Anfang der 1930er Jahre in Sebastian’s Cotton Club hatten, von Tagesjobs in einer Schiffswerft, von Gigs mit Kid Ory und Barney Bigard, und von verschiedenen Comebacks in den 1970er und 1980er Jahren. Beim Pianisten Gid Honoré musste Vacher erst Street Credibility beweisen (dadurch, dass er den Schlagzeuger Wallace Bishop kannte), bevor der sich zu einem Interview bereitfand. Honoré kam 1921 aus New Orleans nach Chicago und erzählt von den vielen Ensembles, mit denen er in den 1920er bis 1940er Jahren dort spielte – oft Bands alter Freunde aus New Orleans. 1948 zog er an die Westküste, wo er mit Kid Ory und Teddy Buckner spielte – seine Erinnerungen an die Szene in L.A. nehmen dabei gerade einmal ein Fünftel seines Kapitels ein. Der Trompeter George Orendorff hatte in den 1920er Jahren King Olivers Creole Jazz Band mit Louis Armstrong in Chicago gehört, kurz bevor er nach L.A. zog. Er erzählt vom Engagement in der Band von Les Hite, in der als Schlagzeuger Lionel Hampton mitwirkte, oder von einem Abend, an dem Fats Waller Bach und Beethoven spielte. 1946 war er im Billy Berg’s Club, als Dizzy Gillespie dort mit Charlie Parker spielte. Orendorff arbeitete schließlich 30 Jahre lang als Postbeamter und trat nur noch selten auf. Jeder in Los Angeles kannte den Schlagzeuger Monk Fay, den Vacher aber erst nach intensiver Suche in einem Seniorenheim fand. Der erzählt von seiner Popularität in Hawaii, von einer Gefängnisstrafe wegen Dealens mit Marihuana und von Gigs in Los Angeles in den 1940er und 1950er Jahren. Der Saxophonist Floyd Turnham erinnert sich an Britt Woodman und an Aufnahmen mit Johnny Otis; die Sängerin Betty Hall Jones weiß noch, wie Nellie Lutcher ihr einen Vertrag bei Capitol Records verschaffte. Der Trompeter Red Mack Morris war in Les Hites Band, als diese Louis Armstrong begleitete und führte später eine Weile einen eigenen Club, in dem er schwarz Alkohol ausschenkte. Der Klarinettist Caughey Roberts erzählt von seinen Lehrern und davon, wie er schließlich selbst unterrichtete, daneben aber auch von einer Reise nach China mit Buck Clayton, über seine Arbeit mit Count Basie und Fats Waller in den 1930er Jahren und über seine Dixieland-Aufnahmen in den 1950ern. Der Pianist Chester Lane war ein großer Fan von Earl Hines, arbeitete lange Zeit um St. Louis, und zog 1957 an die Westküste. Der Trompeter Monte Easter erinnert sich, wie er und Art Farmer Ende der 1940er Jahre in Jay McShanns Band saßen, berichtet über die Probleme der afro-amerikanischen Gewerkschaften und über seinen Broterwerb als Postbediensteter. Der Bassist Billy Hadnott erzählt ausführlich von seinen musikalischen Erlebnissen in Kansas City und hat seine eigene Erinnerung daran, wie Charlie Parker ins Sanatorium von Camarillo kam. Der Trompeter Norm Bowden weiß einiges über Reb Spikes und den Schlagzeuger “Boots” Douglas zu berichten, aber auch über den Club Alabam im berühmten Dunbar Hotel auf der Central Avenue. Der Posaunist John ‘Streamline’ Ewing hatte anfangs gut bezahlte Nebenjobs in den Hollywoodstudios, ging dann auf Anregung eines Musikerkollegen nach Chicago, tourte mit Bands wie denen von Horace Henderson und Earl Hines und spielte ab den 1950er Jahren mit Teddy Buckner in Disneyland. Der Saxophonist Chuck Thomas spielte vor allem in der Küstenregion (bis Las Vegas) und zuletzt ebenfalls mit Teddy Buckner. Der Schlagzeuger Jesse Sailes erinnert sich, wie all die großen Swingbands in den Theatern von Los Angeles auftraten und wie er später Platten mit Percy Mayfield, Ray Charles und B.B. King aufnahm. Der Schlagzeuger Minor Robinson spielte mit Buddy Collette und kannte Charles Mingus, als dieser vielleicht 15, 16 Jahre alt war.

Es sind persönliche Geschichten, von Sidemen-Karrieren und außermusikalischen Lebensentscheidungen. Die Namen wiederholen sich; aus den Erzählungen schält sich dabei eine Szene heraus, die zusammenhielt, auch wenn einzelne der Musiker die Stadt für kürzer oder für länger verließen. Peter Vacher beschreibt zu Beginn eines jeden der Kapitel, wie er den Musikern auf die Spur kam und erklärt einzelne der von den Interviewten mitgeteilten Anekdoten. Nebenbei erzählen diese von der Mobilität des Musikerberufs, von Karrieren, die in New Orleans oder Chicago begannen oder in Kansas City und New York Station machten, deren Protagonisten aber, nachdem sie kalifornische Luft geschnuppert hatten, von dieser nicht mehr loskamen. Es gibt schöne Geschichten über das Zusammentreffen des West-Coast-Größen mit durchreisenden Stars der großen Swingbands; es gibt Insiderberichte über alle möglichen Aspekte des Showbusiness’; es gibt immer wieder den Anruf aus der Ferne, der ihnen einen Job in einer der “name bands” anbietet, den sie entweder für kurze Zeit annehmen oder aber ablehnen. Es gibt Geschichten über Familienplanung und solche über Tagesjobs, mit denen man die Familie ernähren konnte. Central Avenue spielt eine bedeutende Rolle, jene Straße, die in Teilen zu einem kulturellen Zentrum der afro-amerikanischen Community der Stadt wurde.

Peter Vacher hat die Gespräche laufen lassen; sein ursprüngliches Interesse galt der Lebensgeschichte der Musiker, weniger dem Treiben in Los Angeles. Und so nehmen die Erinnerungen an Chicago oder Kansas City oft mehr Raum ein als die aktuelle Lebenswirklichkeit des Ortes, an dem die interviewten Musiker schließlich landeten. Doch wird eine Szene eben nicht nur durch das geprägt, was Musiker in ihr kreieren, sondern auch durch alles, was sie aus ihrer Vergangenheit mitbringen. Von daher ist Vachers Ansatz völlig richtig, die Geschichte der Central Avenue durch die Einflüsse zu erzählen, die hier zusammenkamen.

Beim Lesen wünschte man sich stellenweise entweder einen knappen biographischen Abriss vor oder nach den Kapiteln oder aber das Einstreuen von Jahreszahlen, um die Erinnerungen der Musiker besser einordnen zu können. Wer bei Los Angeles an die Westcoast-Szene denkt, sei gewarnt: alle der von Vacher interviewten Musiker sind vor allem der Swingära zuzuordnen; sie erzählen zum Teil von den jüngeren Musikern, die sie kannten, waren aber nie selbst Mitglied dieser Szene. In seinem Vorwort heb Vacher vor allem drei Interviews hervor, die besonders gut gelungen seien: jene mit Andy Blakeney, Billy Hadnott und Norman Bowden, mit Musikern also, mit denen er mehrfach sprechen und dabei mehr über ihr Leben und musikalisches Wirken lernen konnte. Tatsächlich aber sind auch jene Gespräche lesenswert, die etwas langsamer “auf den Punkt” kommen. “Swingin’ On Central Avenue” gelingt es dabei, Erhebliches zur Kulturgeschichte des afro-amerikanischen Jazz im Los Angeles der 1930er bis 1950er Jahre beizutragen. Das Buch erzählt von künstlerischen Idealen und von der Realität des alltäglichen Musikgeschäfts. Die Entscheidung, die Vacher – sicher mehr der Not gehorchend – getroffen hatte, war genau richtig: Seine Protagonisten sind eben nicht die großen Stars, weil die Szene, die er im Fokus hat, sich in keiner der stilbildenden Städte befand, weil die Community, die er in den Kapiteln seines Buchs abbildet, sich aus vielen sehr disparaten Erfahrungen zusammensetzte. Sein Buch ist auf jeden Fall eine Fundgrube für Jazzhistoriker mit vielen Anekdoten und Erinnerungen, die dieser Rezensent hier zum ersten Mal gelesen hat; zugleich ist es eine abwechslungsreiche Zeitzeugensammlung einer Szene, die bislang nur mäßig dokumentiert ist.

Wolfram Knauer (Juli 2016)


Invitation to Openness. The Jazz & Soul Photography of Les McCann, 1960-1980
herausgegeben von Pat Thomas & Alan Abrahams
Seattle 2015 (Fantagraphics Books)
200 Seiten, 39,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-60699-786-4

2015mccannMusikerfotos – es gibt eine ganze Reihe an Jazzmusikern, deren Hobby auf Tournee das Fotografieren war. Milt Hinton ist der wohl namhafteste unter ihnen, doch jetzt zeigt ein neues Buch, dass auch Les McCann nicht nur gute Ohren, sondern auch ein exzellentes Auge hat. Das nämlich gehört dazu, auf dass das Buch eines fotografierenden Musikers nicht einzig wegen der Vorteile interessant ist, die sich daraus ergeben, dass der Mann hinter der Kamera zugleich auf der Bühne sitzt und von den Objekten seiner Begierde, also anderen Musikern, nicht als Störenfried, sondern als einer der ihren anerkannt wird.

Im Vorwort von “Invitation to Openness” erzählt A. Scott Galloway kurz die biographischen Stationen Les McCanns: geboren in Lexington, Kentucky, über Tuba und Snare-Drum zum Klavier gelangt, zusammen mit Eddie Harris mit “Compared to What” über Nacht einen Welthit geschaffen, der eine Solokarriere bedingte, die bis in jüngste Zeit anhielt. Pat Thomas erzählt die Genese des Buchprojekts: Er hatte gerade eine CD-Wiederveröffentlichung des McCann-Klassikers “Invitation to Openness” organisiert und McCann zu Hause besucht, als er in einer Ecke einen Stapel zerkratzter Abzüge von Fotos entdeckte, die der Pianist in den 1960er und 1970er Jahren gemacht, aber nie veröffentlicht hatte. Im Interview mit Thomas erzählt McCann, dass es in seiner Familie immer Fotoapparate gegeben habe. Er selbst habe sich eine Nikon gekauft und begonnen, auf der Bühne und daneben Menschen abzulichten. Als er sich ein Haus in Hollywood leisten konnte, richtete er sich eine Dunkelkammer ein und begann seine Aufnahmen selbst zu entwickeln.

Das Bemerkenswerteste an den Bildern ist vielleicht die Perspektive. Gerade die Bühnenaufnahmen sind eben nicht von vorn gemacht, aus dem Bühnengraben oder der ersten Reihe, sondern oft von der Seite oder leicht von hinten. Viele Bilder zeigen die Musiker backstage, in Vorbereitung fürs Konzert, in Freizeitklamotten beim Soundcheck. Das entspannte Lächeln Count Basies zeigt die entspannte Vertrautheit. Andere eindrucksvolle Motive sind etwa: Stanley Clarke mit abwartend-konzentrierter Miene (und einer denkwürdigen Frisur); Ben Webster am Flügel; Dexter Gordon und Joe Zawinul vor einem Motel; die junge Tina Turner; das Publikum aus Gefangenen im Cook County Jail; Cannonball Addlerley, der an einer Zigarette zieht, sein Gesicht halb in Rauch gehüllt. Neben Musikern gibt es Bilder von Schauspielern (Jack Lemmon, Bill Cosby, Jerry Lewis), Politikern (Jimmy Carter, Jesse Jackson, Stokely Carmichael, Dr. Martin Luther King), Sportlern (Muhamad Ali, Pelé), sowie einige wenige Bilder, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Doch auch diese Aufnahmen, etwa das eines alten Mannes mit Fahrrad, hätten das Potential zu Plattencovers.

Les McCann gibt zu einzelnen der Bilder Kommentare ab, in denen er Kolleginnen oder Kollegen erinnert. Auch die Identifizierung der Motive basiert auf McCanns Erinnerung, wobei es Motive gibt, zu denen er nicht wirklich mehr weiß, wo oder wann sie gemacht wurden, und zumindest eine falsche Zuschreibung (nein: das ist NICHT Eberhard Weber auf den beiden Fotos mit Sarah Vaughan, sondern Bob Magnusson!). Beim Durchblättern des Bandes kommt einem immer wieder in den Sinn, dass das Leben eines Jazzmusikers eben aus mehr besteht als der Bühnenwirklichkeit. Les McCanns “Invitation to Openness” bietet damit einen lohnenswerten und allemal mit Soul gefüllten Blick hinter die Kulissen sowohl der Musiker, die er darin dokumentiert, als auch seiner eigenen Konzertarbeit.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Bitches Brew
von George Grella Jr.
New York 2015 (Bloomsbury Academic, 33 1/3)
128 Seiten, 14,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-6289-2943-0

D2015grellaie Buchreihe 33 1/3 des Bloomsbury-Verlags behandelt eigentlich Rockgeschichte. Jeder Band ist einem separaten Album gewidmet und wird historisch kontextualisiert. Miles Davis wurde jetzt die Ehre zuteil, als erster Jazzer in die Reihe aufgenommen zu werden, die immerhin schon mehr als 100 Bände umfasst. Sein Album “Bitches Brew” von 1969 schrieb eben nicht nur Jazz-, sondern genauso auch Popgeschichte.

In seinem ersten Kapitel betont George Grella, wie schwer es ist, “Bitches Brew” klar einem Genre zuzuordnen. Miles wollte weder ein klares Jazz- noch ein dezidiertes Rockalbum machen. “Bitches Brew”, meint Grella, sollte man daher am ehesten als experimentelle Musik hören, als Versuch, den überkommenen Normen von sowohl Jazz wie auch von Rock zu entkommen.

Im zweiten Kapitel erklärt Grella die seltsame Sektenhaltung, die Jazzrezeption manchmal annehmen kann und gegen die sich Miles Davis von früh an wehrte. Geht nicht gibt’s nicht, sei sein Motto gewesen, und Popsongs nahm er bereits lange vor “Time After Time” auf. Miles, fasst Grella zusammen, spielte Pop nicht um Popstar zu sein, sondern um Musik zu machen. Er erzählt von der Zeit des Trompeters mit Charlie Parker, vom Capitol-Nonet, das irgendwie die Geburtsstunde des Third Stream wurde, sowie von “Kind of Blue” und “Sketches of Spain”.

In Kapitel 3 erklärt Grella, welch völlig anderen Ansatz Miles an die Produktion eines Albums hatte, bei dem er sich ab 1968, ab dem Album “Circle in the Round”, vorbehielt, die musikalischen Versatzstücke nach Belieben zusammenzuschneiden.

In den Kapiteln 4 und 5 schließlich steht “Bitches Brew” selbst im Mittelpunkt, wenn Grella über Titel und Covergestaltung geflektiert und die einzelnen Titel beschreibt. Das liest sich stellenweise wie eine Sportreportage: wer, wann, was, Tonart, Einsatz, Intensität. Grella verweist auf die oft nicht wahrnehmbare Editiertechnik Teo Maceros und darauf, wie dies nur deshalb möglich war, weil alle Musiker immer deutlich aufeinander hörten. In “Pharoah’s Dance” benennt er eine “hippe Blueslinie bei 4:46” oder eine Coda, die “fast Beethoven’schen Charakter” habe. Im Titeltrack zeigt er auf viele der Nahtstellen, und dann verweist auf die Unterschiede der beiden Platten des Doppelalbums: “eine, um dich wegzublasen, die andere, um deinen Kopf wieder geradezurücken”.

Im letzten Kapitel widmet Grella sich den Nachwirkungen des Albums, in der Kritik genauso wie im Jazz. Mit Verweis auf Wynton Marsalis erklärt er, dass da zwei recht unterschiedliche Sichtweisen der Zukunftfähigkeit von Musik aufeinandergeprallt seien, um dann Miles’ Konzept auf dem kleinsten Nenner zusammenzufassen: “Indem er Rhythmus, Puls und Harmonien – und auf Tonband eingespielte Kompositionen – verwandte, die absichtlich nicht zu einer Auflösung fanden, organisierte Miles Zeit: und sowohl Form wie auch Zeit finden damit in der Musik zusammen”.

Eine kommentierte Diskographie beschließt das Büchlein, das sich wie ein sehr ausführlicher Plattentext mit vielen zusätzliche Informationen liest. Ja, Grella gelingt die Kontextualisierung, und doch kommt er der Musik selbst nur bedingt nahe, auch weil seine analytischen Anmerkungen etwas zu oberflächlich bleiben, weil er quasi nur parallel zur Musik beschreibt, was man eh hört, anstatt zusammenzufassen, was das alles “bedeutet”. Trotz dieser Einschränkung aber ist Grellas Büchlein ein lohnenswerter Begleiter zur nächsten abendlichen Abhörsession dieses Miles Davis-Klassikers.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Jazz Basel. Vier Jahrzehnte Stars und Szene
herausgegeben von Offbeat = Urs Ramseyer & Ruedi Ankli & Peewee Windmüller & Urs Blindenbacher
Basel 2015 (Christoph Merian Verlag)
180 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-85616-695-5

2015offbeatDie Geschichte regionaler Jazzszenen kann man auf unterschiedliche Weise erzählen. Man kann nostalgisch und sehnsuchtsvoll zurückblicken und von alten Zeiten schwärmen. Oder man kann auch Zurückliegendes vor allem aus dem Wissen um die Gegenwart verstehen.

Die Macher des offbeat-Festivals gehen in ihrem Buch über “Jazz Basel” den zweiten Weg. Das opulent bebilderte Buch widmet einzig sein Eingangskapitel (von Bruno Spoerri) den Anfängen des Jazz in Basel von den 1920er bis in die 1970er Jahre. 1974 gründete sich der Verein und die Konzertreihe jazz in basel, 1990 schließlich das Festival offbeat. Das Buch blickt auf die Musiker, die seither auf dem Festival spielten, aus skandinavische Gäste oder gesamtdeutsche Schwerpunkte, auf Jazz aus dem Mittelmeerraum und einen lateinamerikanischen Fokus, auf US-amerikanische Bands und die Schweizer Musiker, die hier auch immer zu hören waren. Es gibt Anekdoten aus dem Alltag von Festivalorganisatoren und Berichte von Backstage. Die Auswirkungen des Festivals in Stadt und Region werden thematisiert, Schulprojekte etwa oder die Präsenz im örtlichen Rundfunk. Und schließlich wird mit Stolz auf die Zusammenarbeit des offbeat Festivals mit dem Jazzcampus Basel und dem Club The Bird’s Eye berichtet.

Das alles ist kurzweilig geschrieben, vordergründig wohl vor allem für regionale Leser interessant, daneben aber genauso ein Bericht über die Verankerung einer regionalen wie internationalen Szene, aus dem auch Veranstalter anderswo etwas lernen können. Und schließlich sind da noch die 86 schwarz-weißen Abbildungen, Fotos von Bernhard Ley, Peewee Windmüller und Röné Bringold, die die Erinnerungen an die Geschichte von offbeat ungemein lebendig werden lassen.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher
von Detlef Siegfried
Göttingen 2015 (Wallstein)
455 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1673-7

2015siegfriedErnest Borneman war eine Mehrfachbegabung, so sehr, dass es genügend Menschen gaben, die dachten, es handele sich wahrscheinlich um mehrere Personen, die nur zufällig denselben Namen hätten. In den 1970er und 1980er Jahren war Borneman ein regelmäßiger Gast in deutschen Talkshows, wann immer es um das Thema Sexualität ging, hatte daneben eine Sex-Beratungskolumne in der Neuen Revue. Als Soziologe hatte er sich mit seinem Buch Das Patriarchat 1975 einen Namen gemacht. Vor seiner Beschäftigung mit Frauenbewegung und Feminismus hatte Borneman eine Karriere im Filmgeschäft gemacht, arbeitete für das National Film Board of Canada, für die UNESCO in Paris und war Programmdirektor des Freien Fernsehens, der ersten privaten Fernsehanstalt, die nach ihrem Verbot durch die Adenauer-Regierung quasi durch das ZDF abgelöst wurde. Und noch früher war Borneman nicht nur Jazzliebhaber und -experte, sondern einer der ersten Jazzforscher, ein Kenner des Jazz, der diese Musik zeitlebens als transkulturelle künstlerische Aussage verstand und 1944 mit seinem Artikelreihe “The Anthroprologist Looks at Jazz” eine der ersten übers Anekdotische hinausreichenden Kulturgeschichten des Jazz verfasste.

Borneman schied im Juni 1995 aus dem Leben. Sein Archiv ist in der Berliner Akademie der Künste untergekommen; jetzt hat der Historiker Detlef Siegfried die Biographie des vielfältigen Forschers vorgelegt. Diese hat er klar nach den verschiedenen Feldern gegliedert, in denen Borneman tätig war, überschrieben “Hören. Die Ethnologie des Jazz”, “Sehen. Das Leben auf der Leinwand” und “Berühren. Sex und Gesellschaft”.

Der 1915 in Berlin geborene Ernst Bornemann – wie er bis zu seiner Emigration 1933 hieß – hatte bereits 1930 Bertolt Brecht kennengelernt, als Mitglieder von Berliner Schulchören zu Proben des Lehrstücks Der Jasager geladen worden waren. Er und Brecht freundeten sich an, Brecht half ihm bei der Abfassung seines ersten Theaterstücks und Borneman Brecht bei einer Neuübersetzung des Dreigroschenromans ins Englische. Siegfried, der zu Beginn seines Buchs anschaulich erklärt, wie er sich durch Bornemans eigene “Autofiktionen”, wie er sie nennt arbeiten musste, durch falsche Fährten also, die Borneman aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten seiner Karriere legte, beschreibt Bornemans Exil als “nicht nur Flucht-, sondern auch Möglichkeitsraum”.

In London war Borneman regelmäßig bei Jazzkonzerten anzutreffen, verkehrte außerdem in einem Kreis linker und schwarzer Intellektueller. Bereits Mitte der 1930er Jahre hatte er einen Kriminalroman geschrieben, arbeitete bald auch an einem Drehbuch für einen möglichen eigenen Film, in dem auch der Jazz eine Rolle spielen sollte. Im Sommer 1940 wurde er als “feindlicher Ausländer” interniert, doch bereits zuvor produzierte er seine erste Rundfunksendung. Nach seiner Internierung wurde er nach Kanada deportiert, wo er nach seiner Entlassung beim National Film Board Arbeit fand.

Er knüpfte Kontakt zu Sammlern und Jazzkennern in den USA und sammelte Material für eine mögliche musikwissenschaftliche Dissertation und ein Buch zum Thema “American Negro Folk Music”, das von zwei Verlagen zur Publikation angenommen, dann aber wegen kriegsbedingten Papiermangels nicht gedruckt wurde. In seinen Jazzarbeiten, für die Borneman sich bei dem bekannten Musikethnologen Melville J. Herskovits um ein Stipendium bemühte, ging es, wie Siegfried zusammenfasst, “um zwei Themen: erstens um die Verbindungen von afroamerikanischer Volksmusik und moderner Tanzmusik der Gegenwart, und zweitens um die Verschränkungen von sozialen Verhältnissen und Populärkultur”. 1944 begann Borneman seine achtteilige Artikelserie “The Anthropologist Looks at Jazz”, die in der Zeitschrift The Record Changer erschien, der er bald auch als Mitherausgeber angehörte. Er schlug sich in der Debatte um den Bebop zwar auf die Seite des “authentischen” Jazz, konnte aber der romantischen Rückwärtsgewandtheit vieler der Traditionalisten wenig abgewinnen und versuchte daher immer wieder zwischen den Lagern zu vermitteln.

Mitte der 1940er Jahre lebte er in Paris, interviewte Louis Armstrongs Band anlässlich des ersten Jazzfestivals in Nizza im Jahr 1948, und freundete sich mit amerikanischen Expatriates und französischen Musikern wie Claude Bolling oder Boris Vian an. Er schrieb für den britischen Melody Maker und produzierte 1953 mit Betty Slow Drag einen experimentellen Kurzfilm, der seine beiden großen Interessen Jazz und Film miteinander verbinden sollte. Für den Melody Maker berichtete Borneman auch über den Jazz in Westdeutschland, konnte aber, selbst als Joachim Ernst Berendt versuchte ihn mit zeitgenössischen Musikrichtungen der 1960er Jahre anzufreunden, indem er ihn in ein Konzert John Coltranes mitnahm, mit dem modernen Jazz wenig anfangen.

Siegfried widmet Bornemans langer Auseinandersetzung mit den karibischen Wurzeln des Jazz ein eigenes Unterkapitel und berichtet davon, wie der spätere Beat Club von Radio Bremen auf Bornemans Ideen zurückzuführen gewesen sei. Er zeigt, dass Borneman in seinen Schriften einige Debatten angestoßen hatte, die in der Jazzkritik erst in den 1960er Jahren wirklich ausgetragen wurden, als er selbst an dieser Diskussion nicht mehr selbst teilnahm. Letzen Endes mag Borneman nicht mit allen seiner Thesen Recht gehabt haben, ohne Zweifel aber sei er ein Wegbereiter der internationalen Jazzforschung gewesen.

Der Jazz spielt auch in den weiteren Lebens- und Arbeitsphasen für Borneman eine wichtige Rolle, und Bornemans kritischer Geist, den Siegfried am Beispiel des Jazz ausgiebig beschrieben hat, lässt sich auch in diesen Bereichen zeigen. Detlef Siegfrieds Buch ist dabei ein faktenreicher Band, der biographische Stationen und Diskurse, an denen Borneman beteiligt war, laufend miteinander verschränkt. Ganz sicher war Borneman einer der schillerndsten Vordenker des Jazz; Siegfrieds Schilderung sowohl seines Lebens als auch der Diskussionen, an denen sich Borneman sein Leben lang beteiligte, zeigt ihn aber darüber hinaus als einen vielseitig gebildeten, einfachen Erklärungen zutiefst skeptisch gegenüberstehenden, zur Offenheit des Denkens neigenden Forscher.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Teddy Wilson. 19 Selected Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2015 (Blue Black Jazz)
44,95 Euro

Boogie Woogie, Volume 2. 17 Original Boogie Woogie and Blues Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2014 (Blue Black Jazz)
46,85 Euro
Zu beziehen über www.blueblackjazz.com

Paul Marcorelles hat bereits eine ganze Reihe an Transkriptionen von Pianisten des frühen Jazz vorgelegt, vorzugsweise von Musikern, die im Stride- oder Boogie-Woogie-Stil spielten. Seine jüngsten Veröffentlichungen widmen sich dem Swing-Stil Teddy Wilsons auf der einen und dem Repertoire einiger der Boogie-Woogie-Größen der frühen 1940er Jahre auf der anderen Seite.

2015marcorelles_wilsonFür Teddy Wilson hat Marcorelles sich Soli zwischen 1934 und 1946 ausgesucht, schnelle virtuose Titel wie “Rosetta”, den “Tiger Rag” oder “When You and I Were Young, Maggie” sowie Balladen wie “Don’t Blame Me”, “Out of Nowhere” oder “Body and Soul”. Seine Transkriptionen sind exakt, gut lesbar, reine Notationen ohne weitere Spielanweisungen oder analysierende Harmoniesymbole. Sie sind zum Nachspielen gedacht, brauchen allerdings Pianisten, die zum einen keine Probleme mit den bei Wilson so beliebten Dezimengängen der linken Hand haben und zum zweiten technisch fortgeschritten sind, um die virtuosen Arpeggien und die die Rhythmik aufbrechenden Läufe tatsächlich zum Swingen zu bringen. Wilsons linke Hand allein kann jedem Pianisten helfen, die antreibende Kraft des Swingens zu begreifen. Auch das Studium seiner Voicings lohnt, deren Alterationen den Akkorden zusätzliche Schwebungen verleihen. Wie immer bei Transkriptionen von eigentlich improvisierten Jazzsoli ist es mehr als hilfreich, sich die Soli auf Platte (oder über Streamingdienste) anzuhören.

2015marcorelles_boogieIm zweiten der beiden jüngst veröffentlichten Bände versammelt Marcorelles Transkriptionen von Hersal Thomas (“Hersal’s Blues”), Clarence ‘Pinetop’ Smith (“Pinetop’s Boogie Woogie”), Jimmy Yancey (etwa den “Five O’Clock Blues”), Pete Ammons (z.B. “Rock It Boogie”), Meade Lux Lewis (“Chicago Flyer” und “Glendale Glide”), Albert Ammons (etwa seinen “Swanee River Boogie”), Sammy Price (133rd Street Boogie”) und Pat Flowers (“Eight Mile Boogie”). Die rhythmischen Verschiebungen zwischen Bassfiguren und rechter Hand im Boogie Woogie sind dabei noch weit schwerer zu “lesen” und bedürfen noch stärker des Höreindrucks, um sie danach vom Papier in die Tasten zu übertragen und erlauben im Idealfall – und das wäre es ja eigentlich immer im Jazz – irgendwann das Loslassen und das eigene Erfinden melodischer und rhythmischer Muster, die eigene Improvisation.

Marcorelles’ neue Bände seien jedenfalls jedem interessierten Pianisten empfohlen als Übe- genauso wie Studienmaterial. Marcorelles bietet auf seiner Website übrigens alle insgesamt 202 Transkriptionen dieser wie früher erschienener Bände auch einzeln zum Download als PDF-Datei an

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Hot Music, Ragmentation, and the Bluing of American Literature
von Steven C. Tracy
Tuscaloosa 2015 (The University of Alabama Press)
537 Seiten, 64,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8173-1865-9

2015tracySteven C. Tracy ist Literaturwissenschaftler, Professor für Afro-American Studies, aber auch ein Blues-Harp-Spieler, der bereits in Vorgruppen für B.B. King, Muddy Waters und andere Stars der Szene auftrat. In seinem umfangreichen Buch stellt er die afro-amerikanische Musik der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, also Jazz und Blues, als Referenzpunkt dar, der helfen könne, die amerikanische Literaturgeschichte jener Zeit besser zu verstehen. Es geht ihm dabei nicht einzig um Romane oder Dichtung, die sich konkret und thematisch mit Musik beschäftigen, sondern auch um den Einfluss von Klanglichkeit, von Virtuosität, von improvisatorischer Haltung auf die amerikanische Literatur der Jahre bis 1930. Er greift hierfür immer wieder zurück auf konkrete Aufnahmen, um etwa Beispiele der afro-amerikanischer Stimme, des afro-amerikanischen Rhythmus, der Griot-Funktion des Bluessängers, der Bedeutung von Wiederholungen, der tiefen Doppeldeutigkeit, der politischen Untertöne herauszustreichen, die eben keine rein afro-amerikanischen Untertöne seien, sondern Befunde für den Zustand der gesamten amerikanischen Gesellschaft. Tracy verbindet die Genres, folkloristischen Blues, modernistischen Jazz, um aus dem Mix der Aufnahmen heraus, auf die er sich bezieht, neue Argumente zu entwickeln, die abseits der üblichen Beschreibung von Jazz-, Blues- oder Kulturgeschichte liegen. Er untersucht daneben auch Film- oder klassische Musikgeschichte nach Einflüssen von oder Analogien zu afro-amerikanischer Musik und findet den nachhaltigsten Widerhall außerhalb der Musik schließlich in der Literatur, bei T.S. Eliot, William Carlos Williams, Hart Crane, Gertrude Stein, Ezra Pount, und bei Abbe Niles, Langston Hughes, Countee Cullen, Zora Neale Hurston und anderen Dichtern und Schriftstellern der Harlem Renaissance.

Tracys schnelle Wechsel zwischen den Diskursen sind dabei sowohl inspirierend wie auch, da sie ein häufiges Vor- und Zurückblättern erfordern, zeitweise ermüdend. Sein intertextueller Ansatz ist auf jeden Fall ein Beispiel, wie sich aus dem Studium afro-amerikanischer Musik Aussagen über weit mehr als diese treffen lassen, wie stark tatsächlich diese Musik bereits in den ersten 30 Jahren des 20sten Jahrhunderts ihren Niederschlag im Denken, Handeln und Schreiben gefunden hat.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Friedel Keim
Das große Buch der Trompete (3)
Diskografie, Fotografien, Statistik, Nachträge
Fortsetzung des Trompeter-Lexikons, Band 3
Mainz 2015 [Eigenverlag
554 Seiten, 33,90 Euro
nur direkt zu beziehen über
Friedel Keim, e-mail: ruf.keim@t-online.de

2015keimDer Ur-Maizer Trompeter Friedel Keim hat nach den ersten beiden Auflagen von 2005 und 2009 nun den dritten Band seiner Trompeterbibel vorgelegt, ein sorgfältig recherchiertes Kompendium, das die verschiedensten Seiten des Instruments und seiner Musiker beleuchtet und dessen Spektrum von Klassik über Jazz bis zur volkstümlichen Musik reicht.

Keim kennt dabei keine Berührungsängste. Er versteht es genauso, sich über die Kunst der Barocktrompete auszulassen wie über die Probleme, die viele Jazzer mit der Ästhetik eines Wynton Marsalis haben. Und neben den großen Stars finden auch die Satzbläser wieder Erwähnung oder Musiker der aktuellen Szene.

Der lexikalische Teil von Band 3 enthält biographische Artikel von A wie “Abbott, Goivinda” bis Z wie “Zonshine, Michael”. Neben diesen teils ausführlichen Portraits gibt es Anmerkungen zur Interpretation von Werken aus Klassik, Marschmusik und anderen Genres, darunter auch analytische Anmerkungen und Notenbeispiele aus dem Jazzbereich, etwa eine Transkription des “West End Blues” in der Version von Louis Armstrong und seiner Hot Five von 1928, Dizzy Gillespies “Night in Tunisia”, oder Maynard Fergusons Version von “Body and Soul”. Korrekturen und Ergänzungen zu den beiden ersten Bänden erhalten ein eigenes Kapitel, und wieder gibt es den Block “Wissenswertes rund um die Trompete”, der etwa Informationen über das “Gansch-Horn” gibt oder über das flexibrass-Mundstück, über die Vuvuzela oder über die Trompete auf historischen Briefmarken, über den Trompetenbaum oder diverse Filme, in denen die Trompete im Mittelpunkt steht. Schließlich findet sich noch ein umfassendes Kapitel zu Horst Fischer, jenem legendären deutschen Trompeter, dessen Prolog zu einer Autobiographie Keim abdruckt, außerdem eine alphabetische Auflistung aller ihm bekannter Fischer-Aufnahmen.

Wie bereits in den vorherigen Bänden findet sich auch in Band 3 vieles, was sonst kaum irgendwo erierbar wäre. Friedel Keim weiß um Geburts- und Sterbedaten, berichtet über die Stars, aber eben genauso über die “kleinen” Vertretern des Instruments, über Satzspieler oder junge Musiker, die durchaus auch zwischen den stilistischen Welten leben und arbeiten, über Dixieland- und Swingtrompeter, die eher der Amateur- als der Profiszene angehören, aber dennoch gute Musiker sind, über Musiker von denen man noch nie gehört hat oder aber auch Musiker, die man persönlich kennt, aber nie in einem Lexikon vermutet hätte, weil ihr Arbeitsschwerpunkt doch eher regional begrenzt ist. Keim hat sich ihnen allen angenommen mit einem Vollständigkeitsanspruch, der jede Kritik an der Auswahl im Keim ersticken ließe (man entschuldige das Wortspiel). Und gerade in den Einträgen zu den kleinen Vertretern der Trompete erkennt man einmal mehr die “labor of love” dieses Buches, das zu alledem noch exzellent lesbar ist. Kein kritisches Buch vielleicht, dafür ein verlässliches Nachschlagewerk für jeden, der sich für die Trompete interessiert: eine Trompeterbibel fürwahr!

(Wolfram Knauer, Februar 2016)


 

Mein Onkel Pö
von Holger Jass
Hamburg 2015 (Offline-Verlag)
137 Seiten, 25,55 Euro
ISBN: 978-3-00-051272-8

2015jassEinen ersten Hinweis auf den Inhalt dieses Buchs gibt bereits der Preis: 25,55 Euro, entsprechend einem Cent pro Nacht im legendären Club, wie Holger Jass in der Presseankündigung zum Buch erklärt. Holger Jass hatte das Onkel Pö (Onkel Pö’s Carnegie Hall, wie es damals offiziell hieß) Anfang 1979 vom Vorbesitzer Peter Marxen übernommen, der ihn bei der Übergabe warnte: “Ich muss dich warnen. Pö-Jahre sind wie Hundejahre. Die zählen siebenfach.” Jass hielt es bis Anfang 1986 aus, führte das “Pö” im Sinne seines Kultstatus’ weiter und hat jetzt ein kurzweilig-amüsantes Buch über seine Erlebnisse mit Musikern, Medienmenschen, Kollegen und dem Publikum geschrieben, das ihm die ganzen Jahre über treu blieb, aus dessen Reihen sich aber partout kein Interessent für eine Nachfolge finden ließ.

“Jetzt macht Jass den Jazz im Onkel Pö” titelte das Hamburger Abendblatt, als Jass 1979 übernahm. Sein Buch handelt natürlich auch von Jazz. Er beschreibt, wie Michael Naura, damals Jazzredakteur des NDR viele der Jazzabende mitschnitt, die sich das Pö ansonsten kaum hätte leisten können. Den Flügel im Club hatte kein geringerer als Joachim Kühn ausgesucht und eingeweiht. Ansonsten bevölkern Jazzer wie Freddie Hubbard, Elvin Jones, Pat Metheny, Dexter Gordon die Seiten, aber auch Tom Waits, Charlie Watts, Joe Cocker, Hannes Wader, Truck Stop und natürlich Udo Lindenberg, der dem “Pö” in einem seiner Hits ein Denkmal setzte.

“Bei Onkel Pö spielt ‘ne Rentnerband”, hieß es da, “seit 20 Jahren Dixieland” – aber mit Dixieland ließ sich so ein Schuppen nicht finanzieren, bilanziert Jass trocken … obwohl man das Wort “trocken” selbst bei einer Rezension dieses Buchs nicht in den Mund nehmen sollte, denn trocken ging es ganz sicher nicht zu im Pö. Auch davon handelt das Buch, von den skurrilen Erlebnissen mit den Musikern, vom gesteigerten Alkoholkonsum, vom Pflegen einer Szene und davon, dass man, um Wirt zu sein, ein dickes Fell und viel Humor benötigt. Pineau ist das Zauberwort, jene süßliche Mischung aus Traubenmost und Cognac, die Jass als Allheilmittel vieler Probleme genauso beschreibt wie als Ursache anderer. Seine Anekdoten machen klar, dass man als Wirt und täglicher Konzertveranstalter selbst nicht ganz ohne solche “Medizin” auskommt: ein divenhafter Auftritt Freddie Hubbards etwa oder jener Abend mit Dexter Gordon, den Jass allerdings erst aus drogenbedingtem Tiefschlaf im Hotel um die Ecke wecken musste, den er für seine 57 Jahre als “bös klöterich” beschreibt, der dann aber nach einem dreifachen Whiskey ein denkwürdiges Konzert gegeben habe.

Sehr viel tiefer geht es sicher nicht in seinen Erinnerungen, die er mit viel Augenzwinkern und der humorvollen Abgeklärtheit der zeitlichen Distanz schreibt, und bei denen man schon mal über die eine oder andere schlüpfrige Anekdote hinweglesen muss. Bei all denen, die dabei waren in diesem zwischen Alternativszene und Hochkultur angesiedelten Zauberort in Eppendorf, wird er warme Erinnerungen wecken. Man meint den Fusel wieder zu schmecken und die dicke Luft wieder zu riechen, vor allem aber erinnert man sich an die musikalischen Hochgenüsse, die das Onkel Pö so oft und so viel vermittelte. Für diejenigen, die nicht dabei waren, gibt Jass ein launiges Portrait, einschließlich etlicher Fotos, ein Portrait, das stellenweise einer Filmdokumentation über verwunschene Zeiten ähnelt, bei denen man eigentlich gern dabei gewesen wäre.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Rhythm Is My Beat. Jazz Guitar Great Freddie Green and the Count Basie Sound
von Alfred Green
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
325 Seiten, 75 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4246-3

2015greenCount Basies All American Rhythm Section gilt als die swingendste Rhythmusgruppe des Jazz. Die Art, wie Pianist Basie, Gitarrist Freddie Green, Bassist Walter Page und Schlagzeuger Jo Jones rhythmisch und harmonisch ineinandergriffen, um den vorwärtstreibenden Schwung zu schaffen, der zu ihrem Markenzeichen wurde, besaß so viel an Energie, dass Rhythmusgruppen überall auf der Welt sie zum Vorbild nahmen. Den wichtigsten Anteil an dieser Energie hatte, wie Basie selbst, aber auch zahllose andere Musiker bezeugen, Freddie Green, der dem Count Basie Orchester von 1937 bis zu Basies Tod im Jahr 1983 und der Band noch ein paar Jahre danach bis zu seinem eigenen Tod 1987 angehörte. Von Nichtmusikern wurde Green schon mal dafür bemitleidet, ein ganzes Leben lang nie ein wirkliches Solo gespielt, dafür immer nur “schrumm schrumm” gemacht zu haben, vier Schläge pro Takt, durchgehend vom ersten Akkord bis zum letzten; und doch ist ihm jemand kaum in der Kunst des Rhythmus nahegekommen, den dieser Vierschlag erzeugen konnte.

Jetzt hat Alfred Green, der Sohn des Gitarristen, eine Biographie vorgelegt, die weit mehr ist als die persönliche Erinnerung eines Verwandten. Greens Buch schafft den Spagat zwischen Insiderwissen, persönlicher Betroffenheit und nüchterner Beschreibung der Lebens- und Arbeitswirklichkeit eines Musikers der Bigbandära.

Die Geschichte beginnt in Charleston, South Carolina, wo Freddie Green 1911 geboren wurde, in einer Stadt mit einer überaus lebendigen schwarzen Musikszene. Nachdem er die erste Ukulele gegen ein viersaitiges Banjo ausgetauscht hatte, sammelte er erste musikalische Erfahrungen mit Freunden aus dem Jenkins Orphanage, einem berühmten Waisenhaus in Charleston, aus dem etliche spätere Musiker hervorgingen. Mit einer dieser Bands reiste er die Küste hoch bis nach Maine, wechselte irgendwann vom Banjo zur Gitarre und spielte mit dem Saxophonisten Lonnie Simmons und dem Stride-Pianisten Willie Gant. Als der Impresario John Hammond ihn hörte, empfahl er seinem Schützling Count Basie, sich den Gitarristen für sein Orchester zu sichern. Im Januar 1937 kam es zum Vorspiel erst in kleinem Kreis, dann mit der Bigband, und am 1. Februar begann sein mehr als 45-jähriges Engagement als Motor des Count Basie Orchestra.

Alfred Green erzählt nicht nur die Lebens- und Arbeitsstationen Greens, sondern nähert sich auch seinem Stil, fragt nach Einflüssen, erklärt die Besonderheit des Green’schen Sounds. Der Autor wurde im Februar 1938 geboren, im selben Jahr beendete seine Mutter ihre Beziehung zu seinem Vater, sicher auch, weil der inzwischen eine Romanze mit Billie Holiday begonnen hatte, die für kurze Zeit mit Basie reiste.

Green beschreibt die verschiedenen Besetzungen der Basie-Band der 1930er und 1940er, die Schwierigkeiten des Musikerlebens, und die zunehmenden Probleme der Musikindustrie, die schließlich dazu führten, dass Basie sein Orchester auflöste und kurze Zeit mit einem Sextett – ohne Gitarre – auftrat. Sein Vater nahm die Entscheidung nicht hin und tauchte einfach beim nächsten Gig des Sextetts mit seiner Gitarre auf. “Was machst du denn hier?”, fragte Basie, und Green antwortete, “Was glaubst du wohl? Du hast hier einen Gig, richtig? Ich habe dir die besten Jahre meines Lebens gegeben und du glaubst, mich einfach beiseiteschieben zu können? Keine Chance!”

Während die 1930er- und 1940er-Jahre-Band insbesondere ein Solistenorchester war, wurde der Sound der 1950er Jahre-Band durch ihre Arrangeure geprägt. Alfred Green berichtet, wie Green seinen Platz in den Arrangements fand, wie er sich zu den Schlagzeugern positionierte, und wie er seine Aufgabe immer als die eines Unterstützers der anderen gesehen habe.

Neben den Einsichten in Greens Karriere sind es vor allem die technischeren Kapitel, die im Buch faszinieren. Alfred Green beschreibt etwa die Spannung der Saiten, die besondere Haltung, die Green benutzte, bei der sein Instrument fast auf seinem Schoß lag, spricht über die Tatsache, dass Green kaum je mit nicht-akkordischen Soli zu hören war, über seine wenigen Aufnahmen unter eigenem Namen, über Gigs für andere Bandleader und anderes mehr.

Einem dicken Block mit seltenen Fotos folgen schließlich noch Analysen von Michael Petterson, M.D. Allen und Trevor de Clerq sowie Zitate anderer Gitarristen über Green, schließlich eine ausführliche Diskographie aller seiner Aufnahmen.

Es gibt eine Reihe an Büchern über das Count Basie Orchester, darunter natürlich auch Basies eigene Autobiographie, verfasst mit Hilfe Albert Murrays. Keines dieser Bücher aber bietet einen so persönlichen Einblick in die Band wie das Buch Alfred Greens über seinen Vater. Der Gitarrist Freddie Green war wahrscheinlich der wichtigste Musiker des Basie Orchesters, der nicht nur für den durchgehenden Swing und eine rhythmische Verlässlichkeit stand, sondern der Band auch, was oft übersehen wird, ihren ganz spezifischen Sound verlieh, der sie aus der Menge ihrer Konkurrenten auf dem großen Bigbandmarkt hervorhob. Greens Buch gelingt in diesem Umfeld gleich dreierlei: Er schreibt eine Biographie des Gitarristen Freddie Green, er erzählt Details aus der Bandgeschichte Count Basies (und damit aus dem Alltag der Swingära), und er teilt sehr persönliche Erinnerungen an seinen Vater mit dem Leser.

Ihm gelingt dabei der schwierige Spagat, Beobachter und Sohn zur selben Zeit zu bleiben. Zu Beginn liest sich das alles wie eine interessante, aber eher distanzierte Lebensdarstellung, bis Green aus einem Gespräch zitiert, das er mit seiner Mutter geführt hatte, und bei dem einen schlagartig klar wird, dass der Autor ja Sohn des Objekts seines Berichts ist, dass er mit dem Wissen eines Familienglieds, sicher auch mit eigener Betroffenheit schreibt. Solche Perspektivwechsel gelingen ihm hervorragend, wie man in etlichen bewegenden Passagen erkennen kann. Green verschweigt macht aus seinem Vater nirgends einen Heiligen, sondern stellt ihn als Menschen dar, der nach dem Besten strebte, aber durchaus fehlbar war.

“Rhythm Is My Beat” ist ein sehr empfehlenswertes Buch, über Freddie Green, über Count Basie, über die Swingära und vieles mehr. Alfred Greens Buch gibt einen tieferen Einblick als vieles, was man sonst so liest zu diesem Thema und ist eine spannende Lektüre für Fans, genauso wie für Musiker oder Forscher über diese Musik.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Keith Jarrett. Eine Biographie
von Wolfgang Sandner
Berlin 2015 (rowohlt)
362 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-780-1

2015sandner“Mit freundlichen Künstlern ist die Welt nicht gesegnet”, beginnt Wolfgang Sandner sein Buch, das er mit Wohlwollen des Pianisten angegangen war, bis er mit diesem nach einem Konzert aneinandergerieten sei, weil es Jarrett nicht gefallen habe, dass Sandner sein “Köln Concert” als einen seiner größten Erfolge bezeichnete. “Das Ende eines Dialogs eröffnet jedoch auch eine Chance”, befindet Sandner. In der Folge nämlich habe er sich noch stärker auf die Musik konzentrieren müssen. Das Ergebnis ist ein Buch, das der Musik Jarretts als eines Künstlers gerecht wird, der seine Kraft aus der Improvisation des Jazz zieht, dessen Wirkung aber weit über dieses Genre hinausreicht.

Keith Jarrett wurde am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren, und Sandner sieht diesen Tag, Kriegsende, als symbolträchtig für die Jahrhundertkarriere des Pianisten. Ohne Europa, das durch den Krieg noch mehr für die Qualitäten des Jazz sensibilisiert war, erklärt Sandner, wäre Jarretts Karriere einerseits so nicht möglich gewesen, auf der anderen Seite habe Jarrett immer tief in den Traditionen der amerikanischen Avantgardeästhetik gestanden, in der Tradition auch eigenbrötlerischer Künstler wie Lou Harrison und Alan Hovhaness, deren Werke er Anfang der 1980er Jahre in Europa uraufführte.

Sandner zeichnet die Kindheit Jarretts in Allentown nach, die Erkenntnis seines Talents, das Trauma der Trennung seiner Eltern, dem er mit dem Rückzug in die Musik begegnete, und die musikalischen Bemühungen seiner Brüder. Jarrett spielte mit lokalen Bands, besuchte Workshops, gewann ein Stipendium fürs Berklee College, mit dessen die Musik eher regulierenden als zur Kreativität ermutigendem Lehrplan er allerdings wenig anzufangen wusste. Da war die Schule von Art Blakeys Jazz Messengers schon eine andere, in denen Jarrett ab Herbst 1965 für vier Monate mitwirkte. Von Blakey wechselte er in die Band des Saxophonisten Charles Lloyd, dem er durch dessen Schlagzeuger Jack DeJohnette empfohlen worden war. Lloyds Quartett war “die erste Supergroup des Rockjazz”, und Sandner hört sich sowohl dessen Studio- wie auch die Liveaufnahmen an. 1967 gründete Jarrett sein erstes Trio mit Charlie Haden und Paul Motian, und als ihm Miles Davis 1969 zum wiederholten Mal anbot, in seiner Band mitzuwirken, sagte Jarrett zu, obwohl Miles mit Herbie Hancock und Chick Corea bereits zwei Pianisten in der Band hatte. Bei Miles musste er elektronische Keyboards und Orgel spielen, Instrumente, die ihm eigentlich zuwider waren. Zugleich setzte er sich noch mehr mit Klang auseinander, mit dem Sound der Instrumente, die er zu bedienen hatte genauso wie den Soundmöglichkeiten der Band, die für Miles im Mittelpunkt seiner “musikalischen Großräume, Klangkunstwerke” standen.

Ein eigenes Kapitel widmet Sandner der Partnerschaft zwischen Keith Jarrett und Manfred Eicher, der weit mehr war als ein Labelgründer und Plattenproduzent. Jarrett stand Anfang der 1970er Jahre eigentlich bei ABC unter Vertrag, ihm wurde aber erlaubt, Produktionen mit “ernster Musik” und ähnliche Aufnahmen ohne Gegenleistung anderswo einzuspielen, das könne sein Ansehen schließlich nur steigern. Dass Jarretts Aufnahmen für Eichers Edition of Contemporary Music zum Zugpferd für das Label ECM werden sollten, hatte niemand vorhergesehen. Im November 1971 also ging Jarrett erstmals in Oslo ins Studio und produzierte mit “Facing You” die erste von bis heute 28 Solo-Produktionen für Eicher, ein Album, das sowohl Jarretts Ruf als Solopianist begründete als auch Eichers Ruf als einer der offenohrigsten Produzenten des Jazz. Sandner erklärt, was die Partnerschaft und das Vertrauen der beiden zueinander begründe, die Tatsache etwa, dass Eicher selbst Musiker sei oder dass sein Interesse neben dem Jazz auch anderen Formen von Musik (oder Literatur oder Kunst oder Film) gelte. Eicher, schlussfolgert Sandner auch nach dem Gespräch mit anderen ECM-Künstlern, sei bei vielen seiner Produktionen der “dritte Mann”, auch wenn man ihn weder sehe noch höre.

Es gäbe etliche Musiker und Musikliebhaber, warnt Sandner schon im Vorwort seines Buchs, die meinen, über Musik solle man nicht so viel schreiben, da diese das Wesentliche doch eh in sich berge. Und dann tut er genau das, kongenial, so nämlich, dass seine Zeilen die Musik zwar heraufbeschwört, aber nirgends zu ersetzen trachtet. Über Jarretts Klavierspiel etwa schreibt er, man könne vielleicht die verschiedenen Techniken benennen, die seinen Personalstil ausmachten, komme dabei aber vor allem an einem Charakteristikum nicht vorbei, das Sandner die “Konzentration aufs Wesentliche” nennt und das er in Jarretts musikalischem Ansatz genauso findet wie in seiner Wahl der Mitmusiker oder in der klaren Gliederung seines Repertoires in Standards, eigene Kompositionen und freie Solo-Improvisationen.

An anderer Stelle verfolgt er Jarretts Vervollkommnung der authentisch-eigenen Stimme. Er betrachtet die Aufnahmen seines amerikanischen Quartetts mit Dewey Redman und seines europäischen Quartetts mit Jan Garbarek, beschreibt, was an diesen Aufnahmen so besonders sei, obwohl sie doch weder einen unerhörten Klang hervorbrächten noch eine neue Form oder eine außergewöhnliche ästhetische Haltung. Er nennt Jarrett einen “Solist ohne Grenzen”, verfolgt die unterschiedlichen pianistischen Ansätze, die der Künstler über die Jahre entwickelte. Und Sandner ist wie wenige deutsche Autoren ein Meister darin, Musik mit Worten näher zu kommen. Ein Beispiel: Über Jarretts Album “Staircase” schreibt er: “Alles, was Jarrett in den elf Stücken erklingen lässt, besitzt Körperlichkeit. Es gibt keine flachen Töne, nur runde, eckige, kubusartige, voller Tiefenschärfe. Wenn ein Ton verklingt, wird er nicht nur leiser, er verschwindet wie in einem Tunnel, verliert nicht nur sein Volumen, sondern wird augenscheinlich kleiner.” Er benennt die Beziehungen zwischen Jarretts Aufnahmen an der Barockorgel in Ottobeuren und seiner Suche nach Klangfarben einerseits und ähnlichen Suchen europäischer oder amerikanischer Komponisten andererseits, nicht aber, um daraus Einflüsse abzuleiten, sondern um zu zeigen, dass Jarrett sich da inmitten eines breiten Diskurses befindet, in dem seine eine gewichtige Stimme ist.

Zwischen ausführliche Beschreibungen der diversen Plattenprojekte streut Sandner aber auch Informationen über die Selbstzweifel des Künstlers, über persönliche und geschäftliche Krisen, über Rückenschmerzen und das chronische Erschöpfungssyndrom, dass Jarrett für einige Jahre aus dem Verkehr zog. Er beschreibt, wie all diese außermusikalischen Ereignisse ihren Widerhall in Jarretts Musik fanden. Nach seiner Genesung, fasst Sandner zusammen, sei Jarrett ” praktisch nicht mehr in ein Aufnahmestudio zurückgekehrt. Mit Ausnahme einer Duo-Aufnahme mit Charlie Haden und einer Einspielung von Bach-Sonaten für Violine und Klavier sind alle Aufnahmen danach bei Live-Auftritten entstanden.”

Natürlich nimmt das “Köln Concert” ein wichtiges Kapitel seines Buchs ein. Sandner beschreibt die bekannt widrigen Umstände des Konzerts, Rückenschmerzen, ein schlecht intoniertes Instrument, ein Stutzflügel, den die Bühnenarbeiter statt des eigentlich geplanten Bösendorfer Imperial auf die Bühne gestellt hatten, und er erzählt, wie Jarrett aus all diesen Widrigkeiten über sich herauswuchs, die Beschränkungen des Instruments zu Stärken seiner Aufnahme machte. Das “Köln Concert” wurde zu einem Riesenerfolg bei Kritik und Publikum gleichermaßen, und selbst der Perfektionist Jarrett musste später zugeben, dass die Ideen, “diese Klangfarben und diese Stimmführungen”, die auf der Aufnahme zu hören sind, schon einzigartig waren.

In weiteren Kapiteln seziert Sandner die Herangehensweise Jarretts an die Standards des American Popular Song, die er zusammen mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette ab 1983 einspielte und bald auch bei Konzerten spielte, seine Einspielungen klassischer Musik von Bach bis Lou Harrison, sowie Jarretts eigene Kompositionstätigkeit, die sich keinesfalls in der Komposition von Themen für eigene Improvisationen erschöpfte.

Sandners letztes Kapitel heiß “Einspruch” und ist unter all den lesenswerten Kapiteln dieses Buchs vielleicht das lesenswerteste. Sandner beginnt mit einer Eloge auf den kreativen Schöpfer, auf das Genie Keith Jarrett, um dann die Reaktion hervorzuheben, mit der Jarrett so oft, auf so vieles, reagiert, seine “Manie, etwas abzulehnen”. Der wichtigste Einspruch Jarretts gelte dabei musikalischen Trends, kurzlebigen Moden oder selbsternannten Kanonikern. Sandner findet diese Veto-Haltung auch im Klavierspiel des Meisters selbst, das “allen Regeln der traditionellen Klavierkunst widerspricht und wirkt, als sei das Instrument weniger ein Partner, vielmehr ein Gegner, den man bezwingen müsse, bisweilen mit List und Tücke, bisweilen mit tänzerischem Ablenkungsmanöver, manchmal mit brachialer Gewalt, nicht selten aber, indem man sich den Flügel einverleibt, mit ihm verschmilzt.” Es ist dieses Eins-Sein mit seiner Musik, das Jarrett auch außerhalb der Jazzanhängerschaft Wirkung verschafft hat. Henry Miller schrieb ihm einen Brief, nachdem er das “Köln Concert” gehört hatte, Sergiu Celibidache und Marcel Reich-Ranicki zeigten sich begeistert. Sandner argumentiert aber auch, dass diese Verweigerungshaltung neben seinen künstlerischen Entscheidungen auch Jarretts problematisches Bühnenverhalten beeinflusst habe, seine gelegentlichen Publikumsbeschimpfungen, die, wie Sandner schreibt, fast schon zum Ritual geworden seien, das Voyeure unter den Hörern erwarten oder gar herausfordern.

Wolfgang Sandners Buch gelingt es, der Musik Keith Jarretts nahe zu kommen, gerade, weil er sich, wie er im Vorwort erklärt, mit dem Künstler entzweit hat. Sandner besitzt den Überblick nicht nur über Jarretts Schaffen und nicht nur über die Jazzgeschichte, aus der heraus Jarretts Kunst kommt, sondern über die gesamte Kulturgeschichte, in die hinein Jarretts Musik wirkt. Es gelingt ihm, die verschiedenen Positionen zu definieren, die sich in der Musik und ihrer Rezeption widerspiegeln: die musikalische, ästhetische und wirtschaftliche Position Jarretts zu verschiedenen Zeiten, die Position der Labels, der Agenten, der Produzenten, die Position Manfred Eichers, die Position der Kritiker und des Publikums, und nicht zuletzt auch seine eigene Position, die Position Wolfgang Sandners. Dass er aus eigener Begeisterung heraus schreibt, lässt er nicht unerwähnt. Er bezeichnet Jarrett wiederholt als “Genie”, nennt ihn den größten Musiker, der je aus Allentown kam. Doch dient diese eigene Positionsbestimmung letztlich auch dem Vertrauen, das wir als Leser in Sandners Wertung der Musik haben können. Er lässt uns klar wissen, wo er als Autor steht, und so können wir viel leichter unsere eigene Position beziehen, überdenken, revidieren. Wolfgang Sandner ordnet Jarretts Aufnahmen dabei nicht nur in Jazz-, Musik- und Kulturgeschichte ein, er verleitet zum neuen, zum tieferen Hören, und er ermöglicht ein Verständnis – im besten Sinne des Wortes – über die Grenzen des emotionalen Hörens hinaus.

Wolfram Knauer (Dezember 2015)

Nachtrag Februar 2021:

Keith Jarrett. A Biography
by Wolfgang Sandner, translated by Chris Jarrett
Sheffield 2020 (Equinox)
215 Seiten. 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-800500129

Sandners Jarrett-Biographie ist inzwischen auf Englisch erschienen, übersetzt von keinem Geringerem als Jarretts Bruder, dem in Deutschland lebenden Pianisten Chris Jarrett. Für die englische Ausgabe hat Sandner seinen früheren Text erweitert und aktualisiert, hat neuere Aufnahmen und neue Veröffentlichungen aus früheren Jahren berücksichtigt und neue Erkenntnisse über Jarretts familiären Background geteilt. Mit dem Abschied Jarretts von der Bühne im vergangenen Oktober scheint auch seine Karriere abgeschlossen. Sandners Buch vertieft das Wissen und ermuntert zum Nachhören – jetzt vielleicht etwas wehmütiger als bei der ersten (deutschen) Lektüre vor sechs Jahren.


 

Als der Jazz nach Kassel kam. Streifzüge durch die Szene der ersten Nachkriegsjahre
von Ulrich Riedler
Berlin 2015 (B&S Siebenhaar Verlag)
104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN: 978-3-943132-39-7

2015riedlerDie großen Jazzmetropolen – Berlin, Hamburg, Köln, München – sind weitgehend dokumentiert. Auch für kleinere Städte haben sich Historiker und Hobbyhistoriker der Aufbereitung der Jazzgeschichte angenommen. Das kann schon mal seltsam wirken, wenn Provinzzentren wie der Mittelpunkt der Welt erscheinen, wo sie doch meist nur Durchgangsstationen für aufstrebende spätere oder etablierte, sich auf Tournee befindende Jazzstars waren. Tatsächlich aber sind regionalen Szenen bis heute wichtige Brutstätten künstlerischer Ideen, auch wenn viele der Musiker, die hier ihre Anfänge nehmen, irgendwann in die großen Zentren abwandern, in Städte mit bedeutenden Hochschulen etwa oder in solche mit einer lebendigen, großen Jazzszene.

Das nordhessische Kassel, in der Mitte der Republik, und doch kulturell vor allem durch die Brüder Grimm und die documenta bekannt, besitzt bis heute eine lebendige Szene, verschiedene Spielorte für Jazz und improvisierte Musik, und ein langjähriges Festival. Die alle fünf Jahre stattfindende documenta bringt es mit sich, dass die Bürger der Stadt sich sehr bewusst mit ästhetischen Diskursen der Avantgarde auseinandersetzen.

Der Journalist und Jazzfan Ulrich Riedler hat sich in seinem Buch auf die Suche nach den Anfängen des Jazz in der nordhessischen Stadt gemacht und diese im Frühjahr 1940 entdeckt, als sich junge Jazzfreunde im Gasthaus “Ledderhose” trafen, wo sie gemeinsam die neuesten Platten hörten. Irgendwann rückte die Gestapo ihnen auf den Leib, nahm die Jungs mitsamt ihrer Schellackschätze mit und unterzog sie einer gründlichen Befragung. Die Jazzfans wurden bald wieder entlassen, und einer von ihnen kann Riedler nicht nur von damals berichten, sondern ihm sogar noch die kurzfristig konfiszierten Platten zeigen. Die “Ledderhose” blieb auch nach dem Krieg ein Jazztreffpunkt, in dem die Mitglieder zu Platten tanzten, ab und zu aber auch selbst zum Instrument griffen.

Die 1950er Jahre dokumentiert ein Gespräch mit dem späteren Spiegel-Redakteur Alfred Nemeczek, von dem Riedler außerdem einen Bericht über das Jazzkontor Kassel aus dem Jahr 1959 andruckt, den Versuch, in Nordhessen einen Liveclub nach Vorbild des Frankfurter Jazzkellers zu etablieren. In den 1950er Jahren begannen die ersten amerikanischen Stars Deutschland zu erobern. Kassel erlebte Konzerte von Duke Ellington, Louis Armstrong, Lionel Hampton oder der Jam-Session-Truppe Jazz at the Philharmonic mit Ella Fitzgerald und vielen anderen.

Einer der Stammgäste der Kasseler Jazzszene war damals der Trompeter Manfred Schoof, der zwei Jahre an der Kasseler Musikakademie studierte, bevor er nach Köln weiterzog. Riedler spricht mit ihm über die Jazzszene jener Zeit, über Musiker und Musikerlegenden der Region, unter anderem den Tenorsaxophonisten Werner Apel, den, wie man sich erzählt, sogar Duke Ellington verpflichten wollte, weil er ihn bei einer Jam Session so beeindruckt habe, und natürlich auch über die GI-Clubs, in denen Schoof die amerikanische Kultur erst richtig kennenlernte.

Die Amerikaner waren im Stadtteil Rothwesten in Fuldatal stationiert und engagierten über die Special Service Agencies jede Menge deutscher Musiker für die Unterhaltung in den verschiedenen Clubs. Riedler blickt auf Orte, aufs Repertoire, auf das Jazzprogramm des örtlichen Amerika-Hauses, beschreibt aber auch andere Veranstaltungsorte der Stadt, deren Programm großteils von Vereinen organisiert, zum Teil auch von der Stadt unterstützt wurde. Er erzählt, wie Arnold Bode, der Vater der documenta, von der Band des Vibraphonisten und Gitarristen Fritz Bönsel so angetan war, dass er im Landesmuseum ein Konzert veranstaltete, das den Jazz endgültig in der Stadt etablierte.

Die Jazzszene jener Jahre beinhaltete traditionelle genauso wie moderne Stile, und so beschreibt auf der einen Seite die Dixieland-Szene der 1950er und 1960er Jahre mit ihren Riverboatshuffles und dem musikalischen Versuch, dem Original so nah wie möglich zu kommen, auf der anderen Seite aber auch, wie andere Musiker, Schoof und Gunter Hampel unter ihnen, dem modernen Jazz in Kassel zu Gehör verhalfen. Und schließlich spricht er mit dem Pianisten Joe Pentzlin, dessen Trio quasi die Hausband des Jazzclubs in der Orangerie gewesen war.

In einem abschließenden Kapitel schlägt Riedler einen knappen Bogen in die Regenwart, zu Musikern wie Matthias Schubert und Ernst Bier, die entweder aus Kassel stammen oder aber hier über längere Zeit Station machten und die Szene der Stadt mitprägten.

Riedlers Buch ist nicht als historische Dokumentation gedacht, denn vielmehr als eine flüssig zu lesende Erinnerung an die 1940er bis 1960er Jahre, ein liebevoll bebildeter Band über die Jazzszene in der deutschen Provinz, die – ähnlich wie die Szenen vieler anderer Städte mittlerer Größe – überaus lebendig war. Die Lektüre macht dem Leser deutlich, dass der Diskurs über den Jazz als aktuelle Kunstform nicht nur in den Metropolen stattfindet.

Wolfram Knauer (November 2015)


 

Music Wars 1937-1945. Propaganda, Götterfunken, Swing. Musik im Zweiten Weltkrieg
von Patrick Bade
Hamburg 2015 (Laika Verlag)
511 Seiten, 34 Euro
ISBN: 978-3-944233-41-3

Sounds of War. Music in the United States during World War II
von Annegret Fauser
New York 2013 (Oxford University Press)
366 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-994803-1

Victory Through Harmony. The BBC and Popular Music in World War II
von Christina L. Baade
New York 2012 (Oxford University Press)
275 Seiten, 31,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-537201-4

2013fauser Musik war immer schon kriegswichtig. Ob zum Anfeuern der Truppen im Marschrhythmus, ob zum Mobilmachen der Bevölkerung durch patriotische Hymnen, ob als Beruhigung und Selbstbestätigung, ob als Instrument der psychologischen Kriegsführung oder sogar als Foltermethode: Krieg ist ohne Musik – so seltsam diese Idee auch scheinen mag – kaum vorstellbar.

Drei kürzlich erschienene Bücher untersuchen die Rolle der Musik im Zweiten Weltkrieg. Der britische Historiker Patrick Bade berichtet über die verschiedenen musikalischen Strategien und Funktionen direkt vor Ort, in den Gebieten, in denen der Krieg tobte oder die am Krieg beteiligt waren, Frankreich, Deutschland, den USA, Russland, Großbritannien, dem nördlichen Afrika und dem Mittleren Osten. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Annegret Fauser beschränkt sich in ihrem Buch auf die klassische Musikszene in den Vereinigten Staaten. Die britische Musikhistorikerin Christina Baade schließlich untersucht, wie der BBC in den Kriegsjahren auf Jazz, Tanz- und Popmusik gesetzt habe, um die Moral der gesamten britischen Öffentlichkeit in den Kriegstagen zu stärken. Baades Studie gibt dabei einen Einblick in Programmentscheidungen eines öffentlichen Rundfunksenders und thematisiert, inwieweit die Öffnung des Senders für Jazz und amerikanische Popmusik auf Widerstände gestoßen sei. Fausers Fokus liegt auf der “concert music”, also der klassischen Musik, und im Umschlagtext heißt es, dass Dinah Shore, Duke Ellington und die Andrews Sisters vielleicht die Zivilisten zuhause und die Soldaten in Übersee unterhalten hätten, es tatsächlich aber vor allem die klassische Musik gewesen sei, die die Menschen für die Kriegsanstrengungen mobilisiert habe. Patrick Bade schließlich wagt den Rundumschlag, lässt also auch die sogenannte leichte Muse, Swing und Jazz, nicht aus. Während er dabei neben dem klassischen Repertoire und dem Swing auch einen Blick auf die Funktion von Radio, Film und Plattenindustrie wirft, außerdem in einem langen Kapitel Kriegslieder aus unterschiedlichen Ländern ins Visier nimmt, finden man in Fausers Buch Informationen über Musiker in der Armee, Auftragskompositionen für den Kriegseinsatz, ein Kapitel über Musik als Beruhigung der Bevölkerung und als Therapie für traumatisierte Soldaten sowie eines über die vielen Exilkomponisten, die durch den Krieg in den USA strandeten. Christina Baade schließlich diskutiert in ihrem Buch auch das Thema von Tanzmusik und Maskulinität, die Sorge um den Erfolg der amerikanische Popmusik und die Verdrängung eigener Traditionen, und die Bedeutung von Rundfunkprogrammen, in denen afro-amerikanische Musik in den Mittelpunkt gestellt wurden, für schwarze britische Musiker. Bei allen drei Autor/innen finden sich Diskussionen der Zuschreibung moralischer Qualitäten zur Musik, der Grundlage letzten Endes dessen, was in den USA später zur “cultural diplomacy”, zur Kulturdiplomatie werden sollte.

2012baadeFür Christina Baades Argumentationslinie spielt der Jazz eine zentrale Rolle; ihr Buch erlaubt dabei Rückschlüsse auf Entwicklungen des Nachkriegsjazz in Großbritannien, einschließlich der Hinwendung vieler junger Musiker insbesondere zu traditionellen Jazzstilen. Patrick Bade hat neben einem Kapitel über Jazz und Swing im Dritten Reich, in dem er auch auf das Phänomen der Propagandaband Charlie and His Orchestra eingeht, ein eigenes Kapitel über Musik im Feldlager, im Gefangenenlager und im Konzentrationslager. Fauser wiederum diskutiert in ihrem Buch ausführlich musikalischen Ausdruck von Nationalismus, etwa in Werken von Aaron Copland und Roy Harris.

Patrick Bade gibt am Schluss seines Buchs einen Ausblick auf die Nachwirkungen, erzählt etwa, dass Wagner im Bayreuther Festspielhaus kurzzeitig Cole Porter weichen musste, berichtet, wie Sänger/innen und Musiker/innen nach dem Krieg mit ihrer Karriere im Dritten Reich konfrontiert wurden oder diese sehr bewusst aus ihrer Biographie ausblendeten. Er endet mit dem kurzen Hinweis auf Werke, die sich bis ins 21ste Jahrhundert hinein mit den Gräueltaten des Kriegs auseinandersetzen. Christina Baades Buch endet mit der Ankunft der amerikanischen Truppen im August 1944 und der Entscheidungen des BBC, die auch die amerikanischen GIs mit ihrem Programm unterhalten wollte. In der Folge kam es zu einer Diskussion der Vermischung musikalischer Werte in der populären und Tanzmusik, über “Britishness” oder “Pseudo-American”. Ihr Buch verweist zwischen den Zeilen immer wieder, etwa Kapiteln über das vom Rundfunk mitgeprägte Bild der Frau oder im Versuch, die Ausstrahlung von Musik männlicher übersentimentaler Schlagersänger im Rundfunk zu unterbinden, auf Diskurse, die auch nach dem Krieg weitergingen und auf die letzten Endes BBC-Programmentscheidungen großen Einfluss hatten. Bei Fauser geht der Blick in die Nachkriegszeit über John Cage, dessen experimentelle Ideen sie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren verortet. Sie verweist darauf, dass Cage und seine Zeitgenossen ihre Lehren aus den Erfahrungen des Kriegs gezogen hätten, sich nach Ende des Kriegs von ihren nationalistischen Kompositionen distanziert oder aber diese in neue Werke integriert hätten.

2015badeZusammengefasst bietet Patrick Bade im breiteren Ansatz seines Buchs eine Art Rundumschlag über das Thema. Christina Baade wirft Licht auf die Verflechtungen zwischen Musik, Musikindustrie, öffentlicher Meinung und Publikumsgeschmack. Fausers Studie schließlich hätte von einer Erweiterung ihres Schwerpunkts vielleicht profitiert. Fauser begründet ihren eingeschränkten Blick im Vorwort damit, dass die Jazz- und Popmusikszene jener Jahre ja schon ausgiebig genug untersucht worden sei, während Forschungen zur klassischen Musik im Krieg weitgehend fehlten, vergibt sich damit aber die Chance einer differenzierten Darstellung, was vielleicht – nehmen wir einmal an, dass der Einband-Text vom Verlag und nicht von ihr stammte –, eine wertende Aussage wie die, dass Jazz und Popmusik die Bürger zuhause und die GIs in Übersee vielleicht unterhalten hätten, es aber die klassische Musik gewesen sei, die den wirklichen Unterschied gemacht habe, verhindert hätte.

Von solchen Anmerkungen abgesehen, haben alle drei Bücher ihre Meriten. Sie helfen bei der Kontextualisierung von Musikgeschichte in der späten ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, die letzten Endes Auswirkungen auch darauf hatte, wie Musik heute klingt und wie wir sie wahrnehmen.

Wolfram Knauer (Oktober 2015)


 

 

Giving Birth to Sound. Women in Creative Music
herausgegeben von Renate Da Rin & William Parker
Köln 2015 (Buddy’s Knife)
294 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-00-049279-2

2015darinVielleicht müsste am Anfang dieser Rezension erklärt werden, welchen Weg die Bücher durchlaufen, die im Jazzinstitut Darmstadt anlangen. Bevor wir uns die Bücher aussuchen, die wir rezensieren wollen, erfassen wir sie in unserem Jazz Index, einer computergestützten bibliographischen Datenbank, die von Forschern und Journalisten (und Fans) aus aller Welt genutzt wird. Das heißt, wir gehen das Buch von vorn bis hinten durch, ordnen jedes einzelne Kapitel einem Stichwort oder einem Musikernamen zu, tragen biographische Notizen wie etwa Geburtstag oder Geburtsort, nach, sofern sie in unserer Datenbank noch fehlen. Erst dann machen wir uns ans Lesen.

Aber schon bei diesem ersten Schritt des Erfassens fiel einiges auf beim Buch “Giving Birth to Sound”. Etliche der darin befragten Musikerinnen waren nämlich noch gar nicht in unserer Datenbank erfasst oder aber nur mit relativ kurzen bibliographischen Listen. Über sie wurde in der Jazzpresse bislang also nur wenig berichtet. Nun ja, mag man meinen, das hat sicher auch damit zu tun, dass Frauen ja so richtig erst in den letzten Jahren ins Rampenlicht des Jazz getreten sind. Weit gefehlt aber, und das war die zweite Überraschung: Viele Musikerinnen, die im Buch zu Worte kommen, gehören nämlich gar nicht der jungen (sagen wir: unter 40-jährigen) Generation an, sondern sind weit länger auf der Szene unterwegs. Die Gründe für ihre Unsichtbarkeit in der Jazzpresse mögen also doch woanders liegen.

Eine dritte Erkenntnis, die sich beim Durchblättern schnell ergibt, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Jede der Musikerinnen hat einen völlig anderen Zugang zum Thema. Mal analytisch, mal diskursiv, mal ausweichend, mal ablehnend, mal nüchtern gefasst, mal poetisch überhöht, mal kämpferisch, mal verteidigend. Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich schon in den Überschriften der Kapitel, die Renata Da Rin und William Parker aus der Frage “Was bedeutet Musik für Dich” abgeleitet hat. “Jeder Sound und jede Stille”, antwortet Renée Baker; “die Gründe für mein Leben”, sagt Amy Fraser; “ein abstrakter Ort, um das Leben zu teilen und zu fühlen”, meint Marilyn Mazur; “ein Lager der Erinnerungen”, findet Shelley Hirsch, “Leben, Magie, Geist”, beschreibt Maggie Nicols, oder aber, so Erika Stucky, “serious fun – a ‘Schnaps'”.

Oder aber die Einleitung: Nach dem Vorwort von Amina Claudine Myers haben die Herausgeber eine Anzahl von Reaktionen auf den Buchtitel zusammengefasst. “Giving Birth to Sound”? Schrecklicher Titel: Frauen wurden schließlich immer wieder aufs Gebären reduziert, meint eine der Gesprächspartnerinnen, während eine andere findet, der Titel passe, sei auch angenehm mehrdeutig. Naja, und bei allen Bedenken spräche der Titel ja auch vom Schaffen von etwas Neuem. Blödsinn, widerspricht eine weitere Stimme, Gebären sei doch eine passive, rein physische Tätigkeit, jede Kuh könne das. Musik zu erschaffen sei dagegen ein aktiver intellektueller Prozess und damit das exakte Gegenteil.

Das Konzept des Buchs: Ohne weitere Vorgaben schickten die Herausgeber den 48 Musikerinnen 20 Fragen, die vom Faktischen zum Nachdenken über den Prozess des Kreativen gehen, sich dabei immer wieder danach erkundigen, inwieweit das eigene Geschlecht bei musikalischen, ästhetischen oder beruflichen Entscheidungen eine Rolle gespielt habe. Tatsächlich sind nur sechs der Fragen konkret aufs Frau-Sein der Musikerinnen abgezielt: Wie hast Du deine Kreativität als kleines Mädchen ausgelebt? Wie hat die Tatsache, dass Du eine Frau bist, die Entwicklung Deiner musikalischen Karriere behindert? Wie siehst Du Deine Position als Frau in der Musikszene? Hat diese Position Dein Verhältnis zum Sound beeinflusst? Siehst oder spürst Du einen Unterschied im weiblichen und im männlichen Ansatz an Kreativität? Was würdest Du anderen / jungen Frauen empfehlen, die sich bemühen ein kreatives Leben zu führen?

Die Antworten auf diese und allgemeiner gehaltene Fragen fallen so unterschiedlich aus wie die Lebenswege der 48 Interviewten. Es macht nun mal einen Unterschied, ob man Ende der 1970er Jahre in Dänemark zum Jazz kommt wie Lotte Anker oder 1941 in Oklahoma wie Jay Clayton. Haben Männer und Frauen einen anderen kreativen Approach?, fragen die Herausgeber. “NEIN!” ruft Jay Clayton, in Großbuchstaben, keine weitere Diskussion duldend, während Marilyn Mazur einwirft, Frauen würden vielleicht weniger in Wettstreit treten, mehr ans Ganze und Kollektive denken. “Nein, ich sehe da keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen”, findet wiederum Amy X. Neuberg, um gleich anzuschließen, “das heißt aber nicht, dass es keine gäbe.” Klar gibt es einen Unterschied”, erklärt Kali Z. Fasteau, etwa, dass Männer in hierarchischen Systemen besser funktionierten als Frauen. Andererseits, urteilt Nicole Johänntgen, sei diese Frage ziemlich schwer zu beantworten, weil es nun mal so sehr viel mehr Männer als Frauen auf der Szene gäbe.

Nicole Mitchell beantwortet ihre Fragen in poetischen Erinnerungen und Reflexionen über schwarze Musik, den langen Atem der Bürgerrechtsbewegung und ihren eigenen Weg. Maggie Nicols auf der anderen Seite streicht heraus, dass ihre Musik immer sowohl politische wie auch spirituelle Untertöne besessen habe. Ob sie einen Preis bezahlt habe dafür, dass sie Musik mache, fragen die Herausgeber, und Angelika Niescier findet: Im Gegenteil, sie habe daraus sehr viel für sich gewonnen. Musikerin zu werden, sei nun mal eine Lebensentscheidung, finden auch viele ihrer Kolleginnen, niemand zwinge einen schließlich diesen Weg einzuschlagen.

Die weibliche Kreativität erlaube mehr “Raum”, meint Fay Victor, und zwar “sowohl mehr Raum im Sinn von Zeit und Raum wie auch mehr Raum für die Akzeptanz von Fehlern und Intuition”. Klar habe die Tatsache, dass sie eine Frau sei, ihr Verhältnis zum Sound beeinflusst, erklärt Joëlle Léandre. Frauen seien nun mal anders, sie hätten die Fähigkeit zur Distanz, die in diesem Geschäft wichtig sei, außerdem könne man mit ihnen viel besser lachen.

Sie sehen in dieser springend-vergleichenden Zusammenfassung einzelner Antworten bereits, wie ungemein gewinnbringend sich dieses Buch lesen lässt, wenn man blättert, Themen identifiziert, die die Herausgeber durch ihre Fragen ja nicht festgeklopft, sondern nur angestoßen haben, um dann zu sehen, welchen Kontext die verschiedenen Antworten beleuchten. Man erlebt die ja unabhängig voneinander befragten Musikerinnen bald wie in einer respekt- und kraftvollen Diskussion neugieriger, andere Meinungen (meistens) zulassender, vor allem aber ungemein selbstbewusster Musikerinnen.

Das Fazit des Buchs wusste man vielleicht schon vor der Lektüre: Eine einzelne Antwort auf die Frage nach dem kreativen Unterschied nämlich gibt es nicht. Der künstlerische Ansatz zwischen Männern und Frauen ist genauso unterschiedlich wie jener zwischen Männern und Männern oder zwischen Frauen und Frauen. Es gibt jedoch, und das wird in diesem Buch sehr deutlich, ein anderes Diskursverhalten, eine klare Selbstwahrnehmung der Rolle, in die man gesellschaftlich gedrängt wurde.

Unbedingt lesenswert also, ob von Buchdeckel zu Buchdeckel oder im laufenden Vor- und Zurückblättern. “Giving Birth to Sound” erklärt dem interessierten Leser nämlich in der persönlichen Selbstbefragung der Protagonistinnen und oft auch zwischen den Zeilen weit mehr über die Thematik, als man es etwa von wissenschaftlichen Studien erwarten dürfte.

[Naja, wir empfehlen dennoch den Besuch unseres Darmstädter Jazzforums zum Thema “Gender and Identity in Jazz” vom 1.-3. Oktober 2015 oder die spätere Lektüre unserer Beiträge zur Jazzforschung mit den referaten dieser Konferenz. Aber das ist natürlich nur Eigenwerbung…]

Wolfram Knauer (September 2015)


 

Beyond Jazz. Plink, Plonk & Scratch. The Golden Age of Free Music in London 1966-1972
von Trevor Barre
London 2015 (Compass Publishing)
330 Seiten, 12,99 Britische Pfund
ISBN 978-1-907308-84-0
Zu bestellen über trevorbarre@aol.com

Ekkehard Jost hat die Jahre zwischen 1960 und 1980 als eine Zeit beschrieben, in der Europas Jazz zu sich selbst fand, in der Musiker sich von ihren amerikanischen Vorbildern lösten und eigene Wege gingen. Einige dieser Wege führten fort vom, gingen also “beyond jazz”, und diese Entwicklung will Trevor Barre in seinem Buch mit demselben Titel nachzeichnen. Der Gitarrist Derek Bailey forderte eine Improvisation, die sich aus den idiomatischen Bezügen befreien, und auch andere Musiker begannen statt des Begriffs “Free Jazz” von “improvised music” zu sprechen. Barre interessiert, wie es überhaupt dazu kam, dass eine solch sperrige und alles andere als publikumsfreundliche Musik entstehen konnte und warum sie nicht angesichts ihres kommerziellen Misserfolgs einfach nach ein paar Jahren ausstarb. In seinem Fokus steht dabei die erste Generation der freien Improvisatoren, also Musiker wie Evan Parker, Derek Bailey, John Stevens, Kenny Wheeler, Barry Guy, Dave Holland, Trevor Watts, Tony Oxley, Paul Rutherford, Howard Riley, Eddie Prévost, Keith Rowe, Gavin Bryars und Cornelius Cardew.

Barre beginnt mit einer Definition seines Themas: Wo die meisten Jazzbücher den Jazz durch seine improvisatorischen Parameter beschreiben würden, sei Free Music, schreibt er, einzig durch den improvisatorischen Gehalt definiert. Er stellt unterschiedliche Formen freier Improvisation vor, solche, die näher am Jazz bleiben und solche, die eher der europäischen Avantgardetradition verpflichtet scheinen. Die beiden Hauptensembles seines Buchs sind das Spontaneous Music Ensemble und die Gruppe AMM. Barre ordnet deren Auftritte in die Jugend- und Protestkultur der 1960er Jahre ein und schildert, wie die globalen Entwicklungen von Pop, Rock und Folk jungen Musikern ein völlig neues Vokabularium an die Hand gab, sie auch zu neuen Herangehensweisen zwischen tiefer Ernsthaftigkeit und unbändigem Humor bewegten. Er beschreibt auch, welchen Platz sie in die Bandbreite des britischen Jazz jener Jahre zwischen Dixieland und Free Jazz hatten.

Barre zeichnet den Weg einzelner Protagonisten zur freien Improvisation nach, schildert insbesondere die Bedeutung des Little Theatre Club, in dem die jungen Musiker mit Kollegen auch aus dem europäischen Ausland experimentieren konnten. Er beschreibt, wie sie nach und nach merkten, dass es außer dem afro-amerikanischen Jazz auch anderes gab, dass beispielsweise südafrikanische Musiker um Chris McGregor dieser Musik eine neue Farbe geben konnten und dass sich Freiheit, wie sie der Free Jazz implizierte, auch ganz mit anderen Mitteln umsetzen ließ. Er diskutiert wichtige Aufnahmen der Zeit, wobei ihn vor allem die interaktiven Prozesse interessieren, die ästhetischen Diskurse, die sich aus der Improvisation der Aufnahmen ergaben. Das alles beleuchtet er anhand von zeitgenössischen genauso wie selbst geführten Interviews mit beteiligten Musikern. Das Spontaneous Music Ensemble und AMM nehmen zwei der umfangreichsten Kapitel ein, in denen Barre neben dein Einflüssen und den ästhetischen Diskussionen auch über Nachwirkungen schreibt, bewusste oder unbewusste Reaktionen auf die Klangexperimente in weit jüngerer Musik, der 1980er, 1990er Jahre und danach. Er betrachtet den Einfluss der Technologie, schaut auch auf die Bedeutung der visuellen Covergestaltung oder der Plattentexte. Das Label Incus nimmt ein eigenes Kapitel ein, wie FMP in Deutschland oder ICP in Holland ein von Musikern gegründetes Label, das Musik seiner Mitglieder nicht so sehr vermarkten als vielmehr dokumentieren wollte. Improvisation ist schließlich weit mehr als komponierte Musik auf das Medium der Tonaufzeichnung angewiesen – sonst verklingt sie.

In seinem Schlusskapitel betrachtet Barre kurz die “zweite Generation” der Free Music in London um das London Musicians’ Collective sowie eine “dritte Generation” um John Edwards, John Butcher und andere und setzt beide Entwicklungen mit jenem von ihm als “erste Generation” betrachteten Grundthema seines Buchs in Beziehung. Im Nachwort schließlich verfolgt er die Aktivitäten seiner Protagonisten bis in die Gegenwart.

Trevor Barres Buch ordnet die Entwicklung der Free Music der späten 1960er, frühen 1970er Jahre in die kulturelle Szene des “Swinging London” ein. Ihm gelingt dabei vor allem der Blick auf sich wandelnde ästhetische Ideale und eine Begründung derselben aus gesellschaftlichen und politischen Diskussionen heraus. Der Musik selbst kommt er vor allem in Interviews mit den beteiligten Musikern nahe. Die inhaltliche wie organisatorische Unabhängigkeit der britischen Improvisationsszene jener Jahre hat Auswirkungen bis heute. Initiativen wir F-Ire Collective wären ohne das Vordenken und Vormachen der hier beschriebenen Musiker und Gruppen nicht möglich gewesen. Von daher füllt Barres Buch eine Lücke. Dass er bestimmte Themen weitgehend außer Acht lässt – die Auseinandersetzung dieser Szene mit ihrem Publikum beispielsweise oder mit den Mainstream-Medien, der tatsächliche Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Szenen oder die Reaktion amerikanischer Musiker, zeigt nur, wie viele Perspektiven das Thema tatsächlich hat, die bislang kaum beleuchtet wurden. Barre jedenfalls stößt mit “Beyond Jazz” die Tür zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der musikalischen Freiheitsbewegung jener Zeit weit auf.

Wolfram Knauer (August 2015)


 

Little Satchmo. Living in the Shadow of my Father, Louis Daniel Armstrong
von Sharon Preston-Folta (mit Denene Millner)
Charleston/SC 2015 (self published)
112 Seiten, 12 US-Dollar
ISBN: 978-1-481227-23-7
Zu beziehen über www.littlesatchmo.com

2015prestonfoltaDie offizielle Version lautet: Louis Armstrong hatte nie Kinder. Er hätte immer gern welche gehabt, sagte seine letzte Frau und Witwe, Lucille Armstrong, aber er sei zeugungsunfähig gewesen. Nun kommt, 34 Jahre nach Satchmos Tod, Sharon Preston-Folta mit einem Buch heraus, in dem sie kundtut, sie sei die Tochter Louis Armstrongs aus einer außerehelichen Beziehung, die Satchmo in den 1950er Jahren hatte.

Ihr Leben lang habe sie diese Wahrheit herunterschlucken müssen. Sie wolle kein Geld, keinen Ruhm, aber immer selbst auf das öffentliche Wissen um ihren Vater verzichten zu müssen, sei einfach zu viel. In ihren Recherchen habe sie nur einen einzigen schriftlichen Hinweis auf Satchmos Vaterschaft gefunden, einen Brief des Trompeter an seinen Manager, Joe Glaser, aus dem Jahr 1955, in dem er diesen bat, vor der Ankunft seiner Frau Lucille in Las Vegas ein paar Geschäftsdinge zu klären, darunter Zahlungen an eine Freundin, von der er glaubt, dass sie ein Kind von ihm habe. Ihre Mutter habe sie immer beschworen, ihren Vater geheim zu halten, und so habe sie letzten Endes gehorcht und damit auch keine Ansprüche geltend gemacht auf sein physisches, historisches und finanzielles Erbe. Wenn sie etwas gekränkt habe bei ihren Recherchen, sei es, dass Louis Armstrong in seinen Briefen so offen über alles geredet habe, seine Musik, seine Kindheit, seine Liebe zum Essen und zu den Frauen, über Sex, sogar über seine Darmtätigkeit, dass er über seine Tochter aber sein Leben lang geschwiegen habe.

Warum er ihre Existenz verleugnet habe? Nun, erklärt Preston-Folta, Louis Armstrong sei ein gefeierter Künstler seiner Zeit gewesen und habe sich in der besten (weißen) Gesellschaft aufgehalten. Es habe einfach nicht gepasst, in dieser Zeit, wenn Nachrichten über ein uneheliches Kind mit einer Geliebten in die Schlagzeilen gekommen wären.

Prestons Mutter wurde 1921 in New York geboren und arbeitete bereits als 16-Jährige als Chorus Girl in diversen Shows. 1941 heiratete sie einen Tänzerkollegen; 1946 arbeiteten die beiden als Tanzpaar “Slim & Sweets” als Vorgruppen für große Swingorchester, unter ihnen auch Louis Armstrong, der sich mit ihnen anfreundete und in einen launigen Briefwechsel einstieg. 1950 starb Slim, und bei der Trauerfeier war auch Louis Armstrong dabei, der Lucille Preston in den Arm nahm und versprach: “Ich werde mich um dich kümmern.” In den nächsten vier Jahren reiste sie Pops hinterher und tauchte auf, wann immer Armstrongs in New York spielte. 1954 wurde Preston schwanger, und im November schrieb Satchmo ihr einen Brief, in dem er erklärt, wie sehr er sich auf das Kind freue und sogar vorschlägt, sie zu heiraten, sollte seine Frau (mit gleichem Namen Lucille) sich von ihm scheiden lassen. Armstrong war dann aber nicht dabei, als Sharon Louise (nach Louis) Preston am 24. Juni 1955 das Licht der Welt erblickte. Armstrongs rechtmäßige Ehefrau war “not amused” und habe ihm nach der Geburt der Tochter sogar vorgeschlagen, diese zu adoptieren, was ihre leibliche Mutter aber vehement ablehnte. Lucille (die Ehefrau) habe sogar die Alimente überwiesen, bis sie diese Aufgabe irgendwann Joe Glaser übertrug.

In ihrem Buch berichtet Sharon von den viel zu seltenen, sorgfältig geplanten und sehnsuchtsvoll erwarteten Treffen. Sie und ihre Mutter lebten eine Weile bei ihrem Onkel Kenny, der nach außen schon mal als Lucilles Ehemann auftrat und immer wieder auf seine Schwester eindrang, bei Satchmo mehr einzufordern: mehr Geld, mehr Fürsorge, am besten seinen Namen. Bei einzelnen Sommertourneen durfte Sharon mitreisen. Ansonsten aber war Satchmo vor allem durch die monatlichen Unterhaltszahlungen präsent, durch Broadway-Tickets, 1962 durch den Kauf eines Hauses in Mount Vernon, New York. In Harlem hatte sich niemand wirklich darum gekümmert, wie ihre Familienverhältnisse aussahen, erzählt Preston-Folta, in Mount Vernon aber begann eine Zeit der Lügen. Die Liaison dauerte ja bereits 12 Jahre, aber nach wie vor war nicht in Sicht, dass Armstrong auch öffentlich zu seiner Familie stehen würde. Mit zehn Jahren begriff Sharon erstmals, dass ihr Vater eine “andere Lucille” hatte, ein anderes Leben, das mit ihrem aber auch gar nichts zu tun hatte.

Etwas später seien sie gemeinsam in Atlantic City zu einem Auftritt Marvin Gayes gegangen, es habe einen Streit zwischen den Erwachsenen gegeben, bei dem ihre Mutter Satchmo fragte, wann er sie nun endlich zu heiraten gedachte, worauf er laut wurde: “Ich werde dich niemals heiraten” und mit Fingerzeig auf die Tochter fragte: “Sag mir einfach, was es kostet, für sie zu sorgen!” Das war das Ende der Beziehung.

Kaum war Armstrong gestorben, kamen auch die monatlichen Schecks nicht mehr. Ein paar im Voraus geleistete Zahlungen für Sharons Erziehung hielten sie und ihre Mutter über Wasser, mussten bald auch den Zuwachs zur Familie finanzieren, denn Sharon wurde mit 16 selbst Mutter. Sharon erzählt, wie ihr Leben weiterging, immer gezeichnet durch die Narben, die der fehlende Vater hinterlassen hatte. Irgendwann rebellierte sie gegen die eigene Bitterkeit und versuchte, das emotionale Band, das sie mit der verlorenen, nie gehabten Vergangenheit hatte, zu zerschneiden.

Sharon Preston-Foltas Buch endet mit einem Besuch im Armstrong House in Queens. Ein Anwalt hatte ihr empfohlen, einen Blick in Satchmos Testament zu werfen, das eine eidesstattliche Erklärung von Lucille, Armstrongs Frau, enthielt, Armstrong habe nie Kinder gehabt. Als Sharon diese Zeilen las, von Lucille eigenhändig korrigiert von “Der Verstorbene und ich hatten keine Kinder” in “Der Verstorbene hatte keine Kinder”, entschied sie sich, jetzt ihr Geschichte zu erzählen. Ihre Mutter, die sie immer zur Geheimhaltung gedrängt hatte, willigte endlich ein: “Mach, was Du meinst, dass du tun musst.”

Sharon Preston-Foltas Buch ist als eine Liebeserklärung an die von ihr immer vermisste Vaterfigur Louis Armstrong geschrieben, aber es ist eben auch eine leicht verbitterte Liebeserklärung geworden. An genügend Stellen legt man es zur Seite, unterschiedlich berührt von den Schuldzuweisungen, mit denen Preston-Folta ihre eigenen Lebensentscheidungen aus ihrer vaterlosen Kindheit und Jugend ableitet. Ein bedrückendes Schicksal, denkt man, und fragt sich zugleich, warum sie, die immer wieder von der DNA ihres Vaters schreibt, die in ihr fortlebe, nicht irgendwann, spätestens vor der Veröffentlichung dieses Buchs, auf einem DNA-Test bestanden habe. Doch ist es einem Kind, das sein Leben lang sicher ist, seine Eltern zu kennen, überhaupt zuzumuten, von einem auf den anderen Tag an der Tatsache der Vaterschaft zu zweifeln? Auch als skeptischer Leser sollte man jedenfalls für die Zeit der Lektüre erst einmal die Grundbehauptung der Vaterschaft Louis Armstrongs akzeptieren, sonst hat man wenig Spaß am Buch. Armstrong selbst schließlich scheint bis zu seinem Tod überzeugt davon gewesen zu sein, in Sharon eine Tochter gehabt zu haben.

Allen Fragen und sicher auch allen möglichen Zweifeln zum Trotz, die einem bei der überraschenden Enthüllung Sharon Preston-Foltas kommen mögen, lernt man einiges bei der Lektüre, und wenn nur, dass Scheinwerferlicht auch Schatten wirft, dass Stars wie Louis Armstrong das Leben vieler Menschen zum Teil viel direkter berührten, als man es wahrhaben mag, und nicht zuletzt, dass die Persönlichkeit großer Stars aus ihren emotionalen Stärken genauso besteht wie aus ihren emotionalen Unzulänglichkeiten. Am Glorienschein des großen Meisters mag das alles ein wenig kratzen; der Kraft seiner Musik tut es keinen Abbruch.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Theatrical Jazz. Performance, Àṣẹ, and the Power of the Present Moment
von Omi Osun Joni L. Jones
Columbus/OH 2015 (The Ohio State University Press)
270 Seiten, 99,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8142-1282-0

2015jonesDer Blick über den Tellerrand kann das Wesentliche erhellen, der Blick von außen Dinge erkennen lassen, die man im internen Diskurs oft nicht mehr sieht. Das ist einer der Hintergründe für die sogenannten “new jazz studies”, ein Konzept in der jüngeren Jazzforschung, das sich der untersuchten Materie neben der musikwissenschaftlichen Betrachtung interdisziplinär nähert. Die Feministin Omi Osun Joni L. Jones versucht in ihrem Buch eine Verbindung zwischen Jazzästhetik , theatralischer Performance und auf Yoruba basierender afrikanischer Theologie. Dabei beschreibt sie als eine der zentralen Prinzipien der Jazzästhetik die Fähigkeit, die eigenen intuitiven Kräfte freizusetzen. In ihrer Beschäftigung mit afrikanischer Spiritualität habe sie gelernt, dass auch in wissenschaftlichen Büchern die Auseinandersetzung mit spirituellen Impulsen nicht zu kurz kommen dürfte, ganz ähnlich wie dies auch Jazzgrößen wie John und Alice Coltrane immer gesehen hätten. Sie will mit ihrem Buch den Jazz gegen den Strich bürsten, seine Begriffe, Handlungen, Ausformungen kritisch hinterfragen, und zwar aus der Perspektive aller seiner unterschiedlichen Bedeutungen in musikalischer Ästhetik, Performance, gesellschaftlichem Spiegel, ethnischer Identität oder politischer Haltung. Es gäbe Kollegen, schreibt sie in ihrer Einleitung, die den Jazz als eine polyglotte Form ansähen und damit Gefahr liefen seine Wurzeln in der afro-amerikanischen Kultur zu leugnen. Tatsächlich aber sei die spirituelle Kraft nicht an irgendwelche Identitätsregeln gebunden. Die spirituelle Transzendenz des Jazz brauche keine Abwesenheit ethnischer Identität (“race”), sondern höchstens Abwesenheit solch einer ethnischen Identität (“race”) als Restriktion oder als Prognose.

Tatsächlich handelt ihr Buch allerdings zentral gar nicht von Musik, sondern vom Theater, und hier insbesondere von den drei Theaterautoren Laurie Carlos, Daniel Alexander Jones und Sharon Bridgforth. Jones bedient sich in ihrer Herangehensweisen an das Thema der feministischen und queeren Theorie, erklärt Wirkungen der Theaterperformance aus der Haltung des Jazz heraus und zugleich aus ihrer Interpretation von Yoruba-Traditionen. Als übergeordneten Approach versucht sie ihrem wissenschaftlichen Buch darüber hinaus aber auch improvisatorische Strukturen zu geben, indem sie Bilder, Fotos, Zeichnungen, Zitate einfließen lässt, die wie kurze solistische Kommentare neben ihrem Text stehen.

In ihrer Einleitung zitiert Jones einige Beispiele direkter Bezugnahme von Jazzmusikern wie Dizzy Gillespie und John Coltrane auf Yoruba-Beschwörungen, erinnert außerdem an die lebendige Avantgarde-Theaterszene von Austin, Texas, in der in den 190er Jahren die Verbindungen von Theater und Jazz besonders entwickelt wurden. Im ersten Kapitel betrachtet sie, wie biographische Erfahrungen die drei von ihr untersuchten Autoren prägten, Carlos’ Jugend im New Yorker East Village, Jones’ Aufwachsen im Arbeiterklasse-Milieu von Springfield, Massachusetts, Bridgforths Bustrips durch die verschiedenen Viertel von Los Angeles. Sie analysiert die dem Jazz nahestehenden Praktiken von Lehrer und Schüler im Theater, deren Lernprozesse dabei immer gegenseitig sind. Das zweite Kapitel untersucht Performance-Methoden, Ansätze an Regie, Probenphasen, das Beziehung-Herstellen zum Publikum, die Auswahl der Schauspieler, aber auch das Zulassen spiritueller Erfahrung im Verlauf der Performance. Im dritten Kapitel schließlich fragt sie danach, was die Performance beim Publikum (sie spricht gern von “witnesses” = Zeugen) auslöst, wie sie zu einer Perspektivverschiebung führen kann, einer aktiven Partizipation des Publikums, die das eigentliche Ziel aller Beteiligten sei.

Wenn ich Jones zu Beginn dieser Rezension in die Nähe der “new jazz studies” gestellt habe, so muss ich diese Aussage zumindest zum Teil revidieren. In den New Jazz Studies werden Aspekte des Jazz möglichst von vielen Seiten (und mit unterschiedlichen Methoden) betrachtet. Jones geht den entgegengesetzten Weg: Sie nutzt, was sie vom Jazz gelernt hat, um ihr eigentliches Thema, die Performance im Theater genauer zu definieren. Sie erkennt im Jazz Kommunikations- und Tradierungsmodelle, die so beispielhaft sind, dass sie ein anderes Genre besser verstehen lassen, vielleicht sogar Modell stehen können für neue, weitreichendere Regie- oder Performance-Ansätze. Ihr Buch ist darin so weitsichtig wie der Versuch früherer Literaturwissenschaftler wie Houston Baker, insbesondere den Bereich der afro-amerikanischen Literatur (aber durchaus darüber hinaus) durch die schon von Ralph Ellison oder Albert Murray identifizierte Blues Aesthetic zu beschreiben. Beide nahmen dabei sehr bewusst auf westafrikanische kulturelle Traditionen, Praktiken und Symbole Bezug, für den ungeübten Leser einerseits manchmal etwas schwer nachvollziehbar, gerade dadurch aber die Argumentation auch angenehm schnell aufbrechend und Rückschlüsse erlaubend.

Wenn nämlich die Praxis des Jazz als Erklärungsmodell für andere künstlerische Praktiken taugt, dann wirft das ein ganz anderes Licht auch auf den Stellenwert von Jazz und Improvisation.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


The Long Shadow of the Little Giant. The Life, Work and Legacy of Tubby Hayes
von Simon Spillett
Sheffield 2015 (Equinox)
377 Seiten, 19,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78179-173-8

2015spillettWie Hans Koller oder Lars Gullin war der britische saxophonist Tubby Hayes eine der europäischen Jazzgrößen, die ihren Kollegen genauso wie ihrem Publikum klar machten, dass der Jazz zwar eine afro-amerikanische Musik war, dass aber Europäer das Idiom durchaus beherrschten und ihre eigenen Beiträge zur Tradition des Jazz leisten konnten. Hayes kam aus der Swing-Mainstream-Tradition des Jazz, nahm erst Bebop, Hardbop, schließlich Einflüsse des Spiels John Coltranes in seinen Stil auf und starb 1973, gerademal 38 Jahre alt, in Folge einer Herz-Operation.

Dem Autor und Saxophonisten Simon Spillett gelingt es in seinem Buch “The Long Shadow of the Little Giant” mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews und Material aus Hayes’ persönlichem Archiv das Leben und die musikalische Karriere des Saxophonisten in den Jahren vom bombenerschütterten London der Nachkriegszeit über die jazzigen 1950er Jahre und die Swinging Sixties bis hin zur großen Krise des Jazz Anfang der 1970er Jahre nachzuzeichnen.

Hayes wurde in eine musikalische Familie geboren – sein Vater leitete in den 1930er Jahren verschiedene Tanzorchester, seine Mutter war Revuesängerin und -tänzerin. Schon früh war er vom Saxophon fasziniert, begann aber im Alter von acht Jahren erst einmal mit Geigenunterricht, und bekam schließlich zum elften Geburtstag das langersehnte Saxophon, das er größtenteils autodidaktisch meisterte. Er hatte ein gutes Gehör, und der Geigenunterricht hatte ihn zu einem exzellenten Notisten gemacht. Er hörte Charlie-Parker-Platten und bewegte sich in Kreisen Gleichgesinnter, spielte bald mit Ronnie Scott, Alan Skidmore und Kenny Baker, mit dem er im Juli 1951 auch seine ersten Aufnahmen machte.

Die Baker Band hatte jede Menge Fans, und die Presse wurde schnell auf Hayes aufmerksam, der bald als “boy wonder tenorist” vermarktet wurde und, noch nicht einmal 20 Jahre alt, mit den Modernisten der britischen Jazzszene spielte. Mit 18 heiratete er zum ersten Mal, hatte schon zuvor alle möglichen Drogen ausprobiert. Er spielte in den populären Bands von Vic Lewis, Jack Parnell, Tony Hall und hatte schließlich auch mit seiner eigenen Band einen vollen Terminkalender.

Spillett beschreibt, wie britische Musiker in jenen Jahren das US-amerikanische Idiom des Hardbop gemeistert hatten, die Musik von Art Blakey und Horace Silver, und wie Kollegen wie Sonny Rollins oder Hank Mobley ihre stilistischen Spuren in Hayes’ Spiel hinterließen. 1958 traten Hayes’ Jazz Couriers neben dem Dave Brubeck Quartet bei einer Tournee durch sechzehn Städte des Vereinigten Königreichs auf; 1959 wurde Hayes vom Melody Maker zum besten Tenorsaxphonisten gewählt.

Andere Musiker hatten die Entwicklung des amerikanischen Jazz genauso interessiert mit verfolgt; und um 1960 kamen erste Versuche “freier Form” auch in England an. Joe Harriott war einer der ersten, die sich an freieren Spielweisen versuchten; Hayes aber blieb skeptisch. Die Eröffnung von Ronnie Scott’s, bis heute einem der wichtigsten Clubs des Königreichs, war sowohl für die Präsenz des amerikanischen Jazz in England wichtig als auch für das Selbstbewusstsein der eigenen Szene. Der BBC schnitt Konzerte mit, und Plattenfirmen widmeten dem heimischen Jazz eigene Alben. 1961 trat Hayes erstmals in New York auf, wo ihn die Größen des amerikanischen Jazz hörten, unter ihnen Zoot Sims, Al Cohn und Miles Davis. Zurück in England erhielt er einerseits eine eigene Fernsehshow, “Tubby Plays Hayes”, hörte er andererseits erstmals John Coltrane, der sein Bild von den Möglichkeiten im Jazz genau wie das vieler anderer Kollegen völlig veränderte.

Als Duke Ellington 1964 in England auftrat, jammte Hayes mit Bandmitgliedern und wurde vom Duke gebeten für Paul Gonsalves einzuspringen, als dieser unpässlich war. In den nächsten Jahren war Hayes international unterwegs, trat im New Yorker Half Note genauso auf wie beim NDR Jazz Workshop in Hamburg. Er arbeitete wie besessen, hatte zugleich gesundheitliche Rückschläge, darunter eine Thrombose, die auch seine Lungenfunktion herabgesetzt hatte.

Ende der 1960er Jahre hatte der britische Jazz zwei Probleme: die Macht der Rockmusik auf der einen Seite und das Verlangen des Publikums nach amerikanischen Künstlern auf der anderen Seite. Hayes erlitt auch persönliche Rückschläge, etwa als seine Freundin starb und er daraufhin noch stärker zu Drogen griff. Er musste wegen Herzproblemen immer häufiger in ärztliche Behandlung, begann aber trotz aller gesundheitlichen Probleme ein musikalisches Comeback. Er spielte mit Musikern der britischen Avantgarde, John Stevens, Trevor Watts, Kenny Wheeler, beteiligte sich bei einem Benefizkonzert für Alan Skidmore, der nach einem Autounfall im Krankenhaus lag, starb aber schließlich nach einer Operation, bei der eine Herzklappe ausgetauscht werden sollte.

“The Long Shadow” heißt das Buch, und so widmet Spillett sein letztes Kapitel der kritischen Aufbereitung seiner musikalischen Bedeutung nach seinem Tod sowie dem Nachwirken Hayes’ auf der britischen Szene. Er schließt mit einer Diskographie die Aufnahmen des Saxophonisten zwischen 1951 bis 1973 verzeichnet.

Simon Spillett hat viel Sorgfalt in seine Recherchen gesteckt. Nebenbei wirft er immer wieder aufschlussreiche Blicke auf die Musik selbst, auf die Aufnahmen, die Hayes’ musikalische Entwicklung dokumentieren. Wenn überhaupt, so mangelt es dem Buch insbesondere in diesem Segment an Tiefe, etwa an Erklärungen, wo sich Einflüsse, ästhetische Umbrüche und anderes konkret festmachen lassen. Eingehend aber beschreibt er den Lebensweg, die persönlichen Probleme, die musikalischen und ästhetischen Entscheidungen und zieht die Verbindungen zu den allgemeinen Entwicklungen des Jazz in Großbritannien, in Europa und in den Vereinigten Staaten. Spillett konnte mit Zeitzeugen sprechen und hatte Zugriff auf Hayes’ persönliche Papiere. Sein Buch ist eine definitive Biographie, die viele Fragen beantwortet und dabei im umfassenden Apparat all die Dokumente benennt, die für eine solche Arbeit notwendig sind.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Musiktraumzimmer Jazzcampus
herausgegeben von Peter Rüedi & Steff Rohrbach
Basel 2015 (Jazzcampus / Echtzeit Verlag)
212 Seiten, 32 Euro
ISBN: 978-3-905800-78-4

B2015rueediasels Jazzschule ist zum Jazzcampus geworden, zu einer Hochschule für improvisierte Musik, in der, wie der Titel dieses Buchs suggeriert, jede Menge an Träumen und Visionen wahrgeworden sind. Da ist zuallererst die Vision des Gründers und Gitarristen Bernhard Ley, der erzählt, wie er die Schule in den Räumen eines Jugendkulturzentrums gründete und wie er es dann durch pädagogisches wie politisches Geschick, aber auch durch das Talent der Vernetzung, das die Schule zum Teil des Basler Kulturlebens werden ließ, erreichte, sie zu einem Kompetenzzentrum zu machen, in dem der musikalische Gehalt, die Arbeit von Lehrenden und Schüler/innen, sich auch in der architektonischen Umsetzung spiegelt.

Davon nämlich handelt dieses Buch, vom glücklichen Unterfangen, auf den Grundrissen einer ehemaligen Maschinenfabrik eine Musikschule zu bauen mit all der für eine solche notwendigen Infrastruktur, Club, Konzertsaal, Tonstudio, Probenräume etc. Ein Musiktraumzimmer sei das ganze geworden, eine Raumrealisation also, die dem Thema “Jazz” angemessen sei. Mitgeholfen hätten alle, die Architekten Lukas Buol und Marco Zünd, der Bauherr Georg Hasler von der Stiftung Levedo sowie Bernhard Ley, der als Studiengangsleiter den zukünftig alltäglichen Gebrauch im Blick behielt. Das Gespräch mit diesen vieren erklärt Fragen der Akustik, Diskussionen im Planungsverlauf, die Außenwirkung genauso wie den inneren Glanz (sprich: Farben, Bodenbeläde, Beleuchtung).

Solch eine theoretische Diskussion lässt sich nur durch Fotos und Raumpläne in Buchform einfangen. Eigentlich gehört Musik dazu, noch wichtiger wäre der tatsächliche Raumeindruck, der aber in der Architektur immer noch einzig durch einen Besuch ermöglicht wird.

Um die tatsächliche musikalische und pädagogische Nutzung der Räume geht es im zweiten, noch umfassenderen Teil des Buchs: um Konzepte der Jazzpädagogik, persönliche Herangehensweisen an Musik, ästhetische Vorstellungen, die Rückwirkung von Unterricht auf die eigene Kunst der unterrichtenden Musiker.

Wolfgang Muthspiel etwa betont, wie wichtig es neben einem festen Lehrerstamm sei, großartige internationale Kollegen als Gastdozenten an die Schule zu holen. Andy Scherrer erzählt, wie er zum Unterrichten wie die Jungfrau zum Kind gekommen sei, und wie er trotz vieler Schüler immer eine gesunde Skepsis gegenüber des Unterrichtens beibehalten habe. Malcolm Braff erklärt, dass er nicht so sehr das Klavier denn vielmehr sich selbst als das wirkliche Instrument empfinde und wie er in den letzten Jahren eine rhythmische Theorie entwickelt habe, die auch Grundlage seines Unterrichts an der Hochschule sei. Lisette Spinnler versteht die Stimme als Instrument und Texte als Ausgangspunkt für musikalische Erkundungen. Adrian Mears plädiert auch beim Lernen für Spielpraxis, egal mit was für Besetzungen. Bänz Oester vertraut auf die Motivation zukünftiger Musiker/innen, auf die Verantwortung für das Selbst, das Eigene. Domenic Landolf mag sich weder verbiegen noch sonderlich in den Vordergrund spielen. Jorge Rossy spricht über die Standards als Basis und über seine Arbeit mit Carla Bley und Steve Swallow. Matthieu Michel überlegt, wie man als junger Musiker neben der Technik vor allem zu einer eigenen Stimme gelangt. Hans Feigenwinter sieht seine analytischen Fähigkeiten als eine Grundlage seines Musikmachens, zugleich aber die Musik auch als laufenden Ansporn, sie analytisch zu begreifen. Gregor Hilbe berichtet über die Bedeutung des Schlagzeugers in einer rhythmischen Kultur, und zugleich über die Idee des Producing / Performance-Studiengangs am Jazzcampus Basel. Daniel Dettmeister hatte die Chance, als Tonmeister selbst Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung des Aufnahmesaals der Hochschule. Mit Martin Lachmann kommt zum Schluss auch noch der Akustiker selbst zu Wort, der die Räume eingerichtet hat.

Eine bunte Abfolge von Interviews, Reflexionen und Fotos also, die sehr umfassend das Konzept klarmachen, dass hinter dem Jazzcampus Basel steckt: Freiräume schaffen und beste akustische Möglichkeiten. “Musiktraumzimmer Jazzcampus” ist damit zwar vordergründig eine in Buchform gepresste Imagebroschüre der Hochschule, zugleich aber erheblich mehr: ein Manifest für eine Jazzausbildung, in der Kunst und Wirklichkeit, Klang und Akustik, Pädagogik und Freiheit sinnvoll miteinander in Beziehung stehen.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Résume. Eine deutsche Jazz-Geschichte
von Eberhard Weber
Stuttgart 2015 (sagas.edition)
252 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-944660-04-2

2015weberDer Autor kommt gleich zur Sache: Der Leser wisse ja bereits, dass er, Eberhard Weber, gut 40 Jahre lang als Jazzbassist aktiv war, vielleicht auch, dass er seine aktive Karriere nach einem Schlaganfall 2007 beenden musste. Der Leser wisse wahrscheinlich etliches über seine Karriere, wahrscheinlich auch über den Jazz – was könne er dazu noch beitragen…? Nun, wenn überhaupt, dann könne er aus seinen eigenen Erinnerungen erzählen, sehr persönliche Geschichten, die sich um die Musik drehen, die aber auch sein ästhetisches Weltbild und vieles darüber hinaus berühren. Webers Buch wird so zu seinem “Resumé”. Und es mag vielleicht nicht “die” deutsche Jazzgeschichte sein, aber es ist auf jeden Fall, wie der Untertitel verspricht, “eine deutsche Jazz-Geschichte”, ein Beispiel dafür, wieso ein junger Mann zu dieser Musik kommt, was ihn über all die Jahrzehnte an ihr faszinierte und wie er lernte, in ihr sich selbst auszudrücken.

Eberhard Weber, dem musikalischen Geschichtenerzähler, gelingt der narrative Bogen auch in Worten. Bereits das Eingangskapitel, das vom “Schlag” handelt, der ihn kurz vor einem Konzert mit Jan Garbarek in der Berliner Philharmonie traf, von der Unsicherheit über seinen Gesundheitszustand, von der Hoffnung, wieder spielen zu können, zeigt seine erzählerischen, auch zur Selbstironie fähigen schriftstellerischen Qualitäten.

Im zweiten Kapitel widmet sich Weber seiner eigenen Vorstellung von Jazz. “Jazz”, schreibt er ironisch, doch nicht ganz falsch, “ist, wenn es der Komponist, der Arrangeur oder der ausführende Musiker dem Hörer so schwer wie möglich macht, der Musik zu folgen – und trotzdem alle Spaß daran haben. Das unterscheidet ihn von der vermeintlich ‘Neuen Musik’.” Doch neben dem Jazz als großer Kunst will Weber in diesem Kapitel auch seiner eigenen Ästhetik auf die Schliche kommen. Wiederholungen, erkennt er, langweilen ihn in der Regel; die Schlüsse von Stücken, findet er, misslingen meist. Er weiß, dass Solisten auch mal ohne Inspiration sein können und weiterspielen müssen. Er weiß auch um seine eigenen Schwächen als Bassist und beschreibt, wie man nur, wenn man um die technischen Probleme des eigenen Spiels oder des eigenen Instruments weiß, diese überkommen und kreativ mit ihnen umgehen könne.

Weber selbst wurde die Musik in die Wiege gelegt. Sein Vater, erzählt er, hatte als Cellist klassische Musik gemacht, daneben aber auch Cello und Banjo im Tanzorchester von Bernard Etté gespielt. Weber kam mitten im Krieg in Esslingen zur Welt. Seine Mutter sang, und “im häuslichen Weber’schen Freundeskreis”, erinnert er sich, “triumphierte Gesang über Instrumentales”– vielleicht eine Vorbereitung auf seine eigene sangliche Haltung beim Instrumentalspiel? Gehörbildung fand im Kinderzimmer statt, wenn seine Schwester und er Automarken am Klang unterschieden und dabei lernten zuzuhören und zu differenzieren. Ein Vetter quartierte sich nach der Kriegsgefangenschaft bei ihnen ein und begann Flöte zu lernen. Man diskutierte über Wagner und spielte Kammermusik. Weber bekam Cellounterricht, dann entdeckte er den Jazz und mit ihm wechselte er zum Kontrabass.

Im Jazz brachte er sich das meiste selbst bei, berichtet von ersten Bühnenerfahrungen, von Stuttgarter Jazzern wie Horst Fischer und Ernst Mosch, vom ersten Einsatz in Erwin Lehns Orchester als Vertretung für dessen regulären Bassisten. Seine musikalische Leidenschaft führte dazu, dass Weber durchs Abitur rasselte, eine Lehre als Fotograf begann und Kameraassistent bei einer Fernsehfirma wurde. Nebenbei spielte er mit gleichaltrigen Musikern, lernte Anfang der 1960er Wolfgang Dauner kennen und wurde bald Mitglied in dessen Trio. Er erzählt von den unterschiedlichsten Auftrittsorten zwischen Nachtclub, Café, Tanz und Ami-Kaserne, von Einflüssen auf sein Bassspiel, davon, wie das Dauner-Trio seinen eigenen Stil fand. Zwischendurch gibt es reichlich Anekdoten, aber auch Einblicke in die technischen Seiten seiner Kunst: Instrumentenwahl, Akustik, Pickups, Verstärker, elektronische Spielereien.

Ende der 1960er Jahre wandten Dauner und Weber sich freieren Spielweisen zu. Weber weiß um seine Beobachtungsgabe, weiß auch, dass er sich gern mal zur Polemik hinreißen lässt. Doch er besitzt eben auch die Erfahrung, Beobachtetes, insbesondere, wenn es um Musik geht, passend einordnen zu können. Und so mag man mit mancher polemischen Äußerung, die seinem eigenen musikalischen Geschmack zuzuschreiben ist, nicht übereinstimmen, wird aber an richtiger Stelle durch ein Augenzwinkern darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor zwar eine feste Meinung hat, sich selbst aber auch nicht immer ganz so ernst nimmt.

Weber stand in seiner Karriere bei zwei Plattenfirmen unter Vertrag, die Weltgeltung besaßen, Hans-Georg Brunner Schwers MPS und Manfred Eichers ECM. Er beschreibt die Arbeiten zu “The Colours of Chloë” und den folgenden internationalen Erfolg. Er erzählt vom Zusammenspiel mit Gary Burton, von den Unterschieden zwischen amerikanischen und europäischen Gepflogenheiten in der Jazzszene, von Tourneen mit seiner eigenen Band Colours, durch Deutschland – Ost und West –, die USA und Australien. Er berichtet von seiner Zusammenarbeit mit Jan Garbarek, mit dem er auch offizielle Empfänge spielte, bei denen Politiker, Botschafter, Bundespräsidenten, gekrönte Häupter begeistert waren, “endlich mal kein Streichquartett hören zu müssen”.

Eberhard Weber ist ein vielgereister Musiker. Seine Berichte von Zollformalitäten, Einreisebestimmungen, fasst verpassten Flügen und sonstigen Widrigkeiten sind amüsante Anekdoten, die vor Augen führen, dass das Musikerdasein nicht nur der aus musikalischer Kreativität besteht, die das Publikum erwartet und zumeist auch bekommt. Eine Professur für Musik hatte er nie annehmen wollen. Seine Begründung, die wie ein Tenor seine ungemein flüssige und lesenswerte Autobiographie beendet: “Ich kann nicht Bass spielen. Aber ich weiß, wie’s geht.”

Wolfram Knauer (Juni 2015)


Coltrane sur le Vif
von Luc Bouquet
Nantes 2015 (Lenka Lente)
146 Seiten, 13 Euro
ISBN: 978-2-9545845-8-4

2015bouquetDie Großen des Jazz waren zumeist auch die Meistaufgenommenen, und neben den offiziellen Einspielungen im Studio gehörten über die Jahre Bootlegs dazu, Schwarzpressungen von legalen oder illegalen Mitschnitten, die in mal besserer, mal schlechterer Qualität auf den Markt kamen. Solche Bootlegs haben naturgemäß keine Studioqualität; zum Teil sogar einen unsäglich schlechten Sound. Aber sie sind nicht nur für den Fan, sondern auch für den Experten ein immens wichtiger Teil der Aufnahmegeschichte dieser Musiker. Sie dokumentieren nicht die perfekte Abmischung, sondern den Alltag des Konzerts, in dem das Solo völlig anders klingen kann, in dem die Künstler mit dem Material oder auch mit sich selbst zu kämpfen haben, in dem mal bessere, mal schlechtere Fassungen der großen Titel erklingen, vergleichen mit den auf den im Studio gefertigten Referenzaufnahmen.

Luc Bouquet hatte im französischen Magazin Improjazz eine Reihe über die Liveaufnahmen John Coltranes veröffentlicht und diese jetzt in die zwölf Kapitel des vorliegenden Buchs einfließen lassen. Ein erstes Kapitel beschreibt Coltranes erste Aufnahmen aus dem Jahr 1946 sowie zwei Sessions mit Dizzy Gillespie bzw. Johnny Hodges. Kapitel 2 widmet sich den Jahren 1955-57 und Livemitschnitten mit Miles Davis, Kapitel 3 der Zeit von 1957-58 und den erst jüngst entdeckten und doch schon legendären Aufnahmen Coltranes mit dem Thelonious Monk Quartet. Zwei weitere Miles Davis-Kapitel schließen sich an, 1958-59 in den USA sowie 1960 in Europa, dann beginnt mit Kapitel 6 die Aufnahmegeschichte von Coltranes eigenen Bands: sein klassisches Quartett, Trane und Dolphy, die diversen Besetzungen von 1962, 1963, 1964-65 bis hin zu seiner letzten Liveaufnahme, dem “Olatunji”-Konzert vom April 1967. Jede der Platten wird mit Besetzungs- und Inhaltsangaben gelistet, dazu kommt eine kurze Beschreibung dessen, was auf ihr zu hören ist. Allzu tief versteigt sich Bouquet dabei weder in die Musik noch in die Begleitumstände der Aufnahmen – so wäre etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Entdeckungsgeschichte der Bänder von Tranes Carnegie-Hall-Konzerts mit Thelonious Monk durchaus berichtenswert gewesen.

Bouquets Buch ist als eine Art annotierte Diskographie der Liveaufnahmen John Coltranes ein nützliches Handbuch sowohl beim Hören wie auch bei der Entscheidungsfindung, was man sich vielleicht noch zulegen könnte.

Wolfram Knauer, April 2015Rencontres du jazz et de la musique contemporaine
herausgegeben von Jean-Michel Court & Ludovic Florin
Toulouse 2015 (Presses Universitaires du Midi)
184 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-2-8107-0374-6

Das vorliegende Buch ist die Dokumentation einer Tagung, die im Oktober 2013 in Toulouse stattfand und sich mit aktuellen Beziehungen zwischen Jazz und Zeitgenössischer (sogenannter “Neuer”) Musik beschäftigte. Im Vorwort stecken die beiden Herausgeber das Feld ab, das irgendwo zwischen Anthony Braxton und IRCAM-Experimenten angesiedelt ist und bei dem oft die Genrebezeichnung, ob “Jazz” oder “Neue Musik”, im Weg steht, da die Musik selbst solche Grenzen inzwischen gern und oft überschreitet.

Die Beiträge selbst sind theoretisch-musikwissenschaftlicher Natur. Im ersten Teil findet Vincenzo Caporaletti, dass die jüngere Entwicklung im Kunstmusikbereich neue wissenschaftliche Ansätze benötigt und stellt sein “principe autiotactile” vor, durch das sich sowohl für komponierte wie auch für improvisierte Musik die performativen Prozesse genauso analysieren ließen wie die ästhetischen Prozesse, die durch die Musik wie auch durch äußere, etwa mediale Einwirkungen mitbestimmt werden. Alexandre Pierrepont nähert sich der Frage, inwieweit die genre-spezifische Einordnung und Wertung von Musik aus den Bereichen europäischer klassischer Musik und des afro-amerikanischen Jazz nicht auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser zu Missverständnissen führt, wenn die Querverbindungen, die ja zwischen den Genres bestehen, oft und gern mit kulturellen Konnotationen versehen werden. Pierre Sauvanet betrachtet, wie das Moment der “Tradition” von Musikern im Jazz, der Neuen Musik und in tatsächlich “traditionellen” Musikrichtungen unterschiedlich behandelt wird.

Im zweiten Teil des Buchs geht es an konkrete Analysen. Pierre Fargeton befasst sich mit Franz Koglmanns langjähriger Auseinandersetzung mit dem Third Stream, der Neuen Musik und anderen Kunstrichtungen. Konkret untersucht er Koglmanns “Join!” eine “Oper” aus dem Jahr 2013 auf diverse Bezüge (1.) zum Jazz und (2.) zur Zeitgenössischen Musik. Martin Guerpin analysiert die Komposition “Unisono” des israelischen Komponisten Ofer Pelz und identifiziert darin insbesondere die Jazzverweise. Wataru Miyakawa untersucht das Werk des japanischen Komponisten Toru Takemitsu, in dem ihn vor allem der Einfluss des Lyrian Chromatic Concept von George Russell interessiert.

Im dritten Teil des Bandes berichtet der Gitarrist Frédéric Maurin darüber, wie er Methoden der Spektralmusik, die in den 1970er Jahren im Kreis der IRCAM in Paris entwickelt wurde, etwa für seine Band Ping Machine nutzbar macht. Cécile Auzolle untersucht das “Wintermärchen” des belgischen Komponisten Philippe Boesmans von 1999 und hat dabei Einflüsse aus dem jazz sowie improvisatorische Passagen im Fokus, die in der Oper vom Ensemble Aka Moon ausgeführt wurden. Henri Fourès hinterfragt die Begriffe Jazz, Zeitgenössische Musik, Komposition, Notation und Improvisation auf ihre Wertigkeit in der Hochschullehre. Zum Schluss berichten die Bassistin Joëlle Léandre, der Saxophonist Douglas Ewart und der Trompeter Mike Mantler über ihre eigenen Erfahrungen im Feld zwischen den Welten von Jazz und Neuer Musik.

“Rencontres du jazz et de la musique contemporaine” wirft ein Schlaglicht auf eine offenbar immer noch wichtige Diskussion in den beiden darin angesprochenen Welten. Der einleitende Überblick listet frühere Beschäftigungen mit dem Thema auf (hier fehlt allerdings der Band “Jazz und Komposition”, der das 2. Darmstädter Jazzforum von 1991 dokumentiert und in dem dieses Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet wurde). Sowohl in den allgemein theoretischen wie auch den konkreter praktischen Kapiteln fehlt ein wenig – aber das ist bei einer Tagung, die das nicht ausdrücklich zum Thema machte, vielleicht auch kaum zu leisten – die grundlegende Diskussion einer anders als aus dem europäischem Wissenschaftsdiskurs entstandenen Reflexion über Musik, eine Perspektive also, die sowohl Jazz wie auch die in europäischer Tradition stehende Neue Musik etwa aus dem Blickwinkel von Community, von Macht, von Geschlechterungleichheit oder ähnlichem betrachtet, sich dabei nicht auf die bestehenden meist europäisch gefärbten und genormten Diskurstraditionen einlässt, sondern mutig nach neuen sucht. Das von George Lewis und Benjamin Piekut 2016 herausgegebene Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies geht da einen anderen Weg, braucht, um das Thema abzudecken allerdings auch über 1000 Seiten.

Wolfram Knauer (März 2018)


Bunk Monk & Funk – and other attractions
von Anders Stefansen (& Jan Søttrup)
Kopenhagen 2012 (People’s Press)
248 Seiten, 249 Dänische Kronen
ISBN: 978-8771-37035-5

Anders Stefansen ist ein bisschen der Fritz Rau Dänemarks: ein Konzertveranstalter, der eher zufällig ins Geschäft kam, in den frühen 1960er Jahren für Norman Granz dessen Skandinavien-Tourneen organisierte (so wie dies Lippmann + Rau in Deutschland taten), später auch populärere Acts betreute, von den Beatles bis zu den Rolling Stones. In seiner Autobiographie erinnert sich Stefansen an die vielen Freundschaften zu Musikern, die er in seinem Berufsleben schließen konnte, an das Tourleben, an Probleme und ihre jeweilige Lösung, und an Begegnungen wie die mit John Coltrane, Andrés Segovia, Count Basie, Duke Ellington, Ben Webster, Cecil Taylor und vielen anderen. Er beleuchtet die Realitäten des Business, schwelgt aber vor allem in Erinnerungen. Wenn es dabei auch mehr um die Menschen geht als um die Musik, so ist die Lektüre seines Buchs dennoch erhellend nicht nur für diejenigen, die von seiner Arbeit als Konzertveranstalter profitierten, etwa weil sie selbst im Publikum saßen. Seine Anekdoten beleuchtet zugleich eine ungewöhnliche Karriere zwischen Musik und guter Küche (Stefansen eröffnete eines der ersten French Cuisine Restaurants in Dänemark). Und seine Anekdoten über Henry Miller, den er traf, als er den Film “Ruhige Tage in Clichy” produzierte, sind besondere Zugaben der Lektüre.

Wolfram Knauer (Januar 2018)


Fashion and Jazz. Dress, Identity and Subcultural Improvisation
von Alphonso D. McClendon
London 2015 (Bloomsbury Academic)
194 Seiten, 24,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-85785-127-7

Von den Banduniformen der Swingorchester über die Gardenie im Haar von Billie Holiday bis zu Wynton Marsalis’ in Brooks Brothers-Anzüge gekleidetes Lincoln Center Jazz Orchestra: Jazzmusiker waren immer auch Mode-Ikonen. Miles Davis mag diese Facette seines Bühnenlebens am stärksten ausgelebt haben, doch findet sich das Bewusstsein für die Bühnengarderobe durch die Jazzgeschichte. Als Art Blakey seiner Band in den 1970er Jahren für eine Weile erlaubte, in Straßenklamotten aufzutreten, war das eine Ausnahme. Er wie andere Musiker wussten, dass sie als afro-amerikanische Künstler Vorbildfunktion hatten.

Alphonso D. McClendon ist Modeforscher und hat sich in seinem Buch “Fashion and Jazz” dem Subtext der Musikergarderobe durch die Jazzgeschichte angenommen. Ihm ist wichtig, auf die gegenseitigen Einflüsse zwischen Jazz und Mode hinzuweisen, wie er gleich im ersten Kapitel deutlich macht, in dem er Parallelen und Einflusswege nennt, dass nämlich sowohl Mode wie auch Jazz auf ihre jeweilige Art und Weise vom Freiheit des Ausdrucks handeln. Es habe im Jazz durchaus eine “Sprache der Kleidung” gegeben, sagt er – will heißen: die Bühnenpräsentation hatte immer auch etwas zu bedeuten, und Kleidung habe zur visuellen Ästhetik von Jazzmusikern beigetragen, ob in der Performance auf der Bühne oder in Abbildungen.

Im zweiten Kapitel geht McClendon das Thema dann chronologisch an. Er beschreibt die Mode der Ragtime-Ära und der Bluesmusiker, die Bühnenkostüme von Swing-Musikern und die Selbstdarstellung der Bebopper, die zugleich “die Konstruktion eines subkulturellen Stils” gewesen sei, und stellt schließlich fest, das sowohl Mode wie auch Jazz ähnliche Perioden von Konformität (1900-1920), populärem Einfluss (1920-1940) und Widerstand (1940-1960) durchgemacht hätten.

Kapitel 3 diskutiert Momente “der Moderne” bzw. “des Modernen” und die Kommunikation beider durch Mode und Spielpraktiken im Jazz. Im vierten Kapitel beschreibt McClendon Strategien der Distinktion durch Jazz und Mode, um sich im fünften Kapitel etwa auf die Darstellung von Frauen und Männern in frühen Sheet-Music-Covers zu konzentrieren. Kapitel 6 diskutiert subversive Konnotationen, die sich etwa in Texten von Bluessängerinnen finden oder im Eingang von Jazzthemen in die Literatur oder den Film. Kapitel 7 ist überschrieben “Narcotics and Jazz: A Fashionable Addiction” und beschreibt unter anderem, wie elegante Kleidung auch helfen konnte ein Leben im Schatten der Drogensucht zu verschleiern. Kapitel 8 fokussiert auf Billie Holiday als Musik- wie Mode-Ikone; Kapitel 9 beschreibt Duke Ellington und Benny Carter als “traditionellen Dandy” sowie Dizzy Gillespie und Gerry Mulligan als “modernen Dandy” und blickt kurz darauf, wie amerikanische Präsidenten wie Bill Clinton und Barack Obama ihre Nähe zum Jazz als Imagefaktor ausnutzten.

McClendons Buch reicht leider nur bis ins Jahr 1960 und verpasst damit die politische Garderobe von Dashikis, schwarzen Lederjacken oder soul-beeinflusster Hipstermode der 1960er und 1970er Jahre, thematisiert also auch nicht die Rückkehr zur ordentlichen Garderobe mit Aufkommen der Young Lions der 1980er Jahre. Er thematisiert damit weder die modetechnische Annäherung zwischen den Genres, etwa in Richtung Rock oder auch Neue Musik, noch die Unterschiede etwa in im Modeverhalten amerikanischer und europäischer Musiker. Doch gelingt ihm in diesem eigentlich auf der Hand liegenden und doch so ganz anderen Blick auf Jazzgeschichte eine Perspektive, die Aufschluss über Imagebildung, Selbstverständnis der Künstler und die gegenseitige Beeinflussung von Image und künstlerischem Anspruch erlaubt. Etliche Bilder, eine ausführliche Bibliographie und ein Namensindex schließen das Buch ab.

Wolfram Knauer (August 2017)


Sales Rectangles. Daunik Lazro. Vieux Carré
von Guillaume Belhomme
Nantes 2015 (Lenka Lente)
44 Seiten, 1 Mini-CD, 9 Euro
ISBN: 978-2-9545845-9-1

Am 21. Mai 2011 spielte der Saxophonist Daunik Lazro ein inspiriertes unbegleitetes Solokonzert in einen Buchladen in Rouen. Guillaume Belhomme versucht die Stimmung des Konzerts einzufangen, indem er eines der Stücke Lazros, eine lange Improvisation über Joe McPhees “Vieux Carré” mit kurzen Blicken in die Bücher, die um ihn herum stehen und liegen, verbindet. Seine knappen, aus jeweils nicht mehr als einem Satz bestehenden Kommentare lassen sich den diesen Büchern allerdings erst zuweisen, wenn man sie anhand der im Büchlein abgedruckten Barcodes (bzw. die diesen beigefügten ISBN-Nummern) sucht. Und tatsächlich gelingt es Belhomme dabei ein wenig, jene Stimmung eines Konzerts im Buchladen einzufangen, bei dem die Konzentration auf die Musik von den Blicken zu und in die Bücher, von der Wahrnehmung der Atmosphäre, von kurzen Reflektionen darüber, was man da aufblättert, während man zugleich zuhört, unterbrochen, aber durchaus auch bereichert wird. Ein ungewöhnliches, durchaus inspirierendes Experiment, das den Leser / Hörer quasi subkutan auf die Komplexität der Wahrnehmung von Musik aufmerksam macht.

Wolfram Knauer (März 2017)


Spirits Rejoice! Jazz and American Religion
von Jason C. Bivins
New York 2015 (Oxford University Press)
369 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-023091-3

Jazz und Spiritualität sind für viele Musiker eine zusammenhängende Einheit. Duke Ellington, John Coltrane, Albert Ayler, Rahsaan Roland Kirk, Yusef Lateef, Anthony Braxton – die Liste der Musiker, für die ihre musikalische immer auch eine spirituelle Suche war, ist lang. Der Religionswissenschaftler und Jazzgitarrist Jason Bivins beleuchtet in seinem Buch dieses Verhältnis zwischen Religion und Musik anhand zahlreicher Beispiele und legt, gerade weil er seine Studien aus der Perspektive eines Religionsforschers und mit dem Wissen eines Jazzers macht, ein wichtiges Buch vor, in dem das Thema weit fundierter angegangen wird als in vielen Biographien der bereits genannten Musiker.

In seinen “ersten Meditationen” zum Thema stellt Bivins fest, dass Jazz genauso wie Religion in ihrer jeweiligen Individualität der Wahrnehmung schwer fassbare Gebilde seien. Er weiß um die ganz unterschiedlichen Ausprägungen des Religiösen oder Spirituellen gerade in der Musik, die irgendwo zwischen Ritual und Weltforschung liegt. Er fragt, wie sich das spirituelle Umfeld, aus dem Musik heraus initiiert oder rezipiert wird, auf die Musik selbst auswirkt. Er befasst sich mit konkreten Traditionen, auf die Jazz sich immer wieder bezog. Er betrachtet Beispiele, in denen mit Jazz amerikanische Geschichte genauso wie religiöse Aspekte derselben dargestellt werden. Er befasst sich mit Jazz in religiös-musikalischer Praxis. Er hinterfragt das Klischee von Jazz als rituelle oder heilende Praxis. Er diskutiert Verweise im Jazz auf Mystizismus, Selbstlosigkeit, die klangliche Verbindung zu einem höheren Wesen. Es untersucht Kosmologien und metaphysische Theorien im Jazz. Er will damit nicht nur Aspekte der Jazzgeschichte durch ihre Verankerung in religiösen Praktiken erklären helfen, sondern zugleich die Religionsgeschichte in den USA seit den 1920er Jahren mithilfe ihres Widerhalls im Jazz beleuchten.

Bivins geht dabei weder chronologisch vor noch versucht er seine Thesen an zentralen Figuren festzumachen, wenn es auch an konkreten Beispielen nicht mangelt in seinem Buch. Natürlich spielt der Einfluss der schwarzen Kirche auf viele afro-amerikanischen Musiker eine wichtige Rolle. Er beschreibt das Zeugnis ablegende (“testifyin'”) Tenorsaxophonspiel Albert Aylers. Er findet Spiritualität in Charles Gayles Bühnen- genauso wie Straßenmusikauftritten. Er fragt nach den Gründen von Jazzmusikern zum Islam, zum Buddhismus, zum Bahá’í, zur Scientology zu konvertieren und ihre Reflektion über die jeweilige religiöse Praxis und ihre Auswirkung auf ihre Musik. Er befasst sich mit den Ausprägungen des “Radical Jewish jazz” und mit der Idee einer imaginären Folklore in den Vereinigten Staaten.

Er beschäftigt sich mit Beispielen, in denen Jazzmusiker bzw. ihre Werke religiöse Geschichte erzählen und verwebt dabei eng religiöse und politische Aussagen, etwa in den Aufnahmen von Charles Mingus, Archie Shepp, Max Roach und Abbey Lincoln. Auch der Saxophonist Fred Ho und sein Einsatz für einen Asian American Jazz kommen zur Sprache sowie Sun Ras Verweise auf weltumspannende Verbindungen, die weit über den Planeten Erde hinausreichen. Er geht auf Ellingtons “Sacred Concerts” ein und widmet eine längere Passage John Carters Komposition “Roots and Folklore”, die, wie er findet, ein würdiger Träger des Pulitzer Preises gewesen wäre, den Wynton Marsalis später für sein Oratorium “Blood On the Fields” erhielt.

Er entdeckt im Bemühen von Musikern seit den 1950er Jahren sich zu organisieren neben den politischen auch spirituelle Gründe, wie er etwa am Beispiel der AACM und der Black Artists Group zeigt. Die von Horace Tapscott gegründete Underground Musicians Association, die Saint John Coltrane African Orthodox Church und Alice Coltranes Ashram sind für ihn konkrete Beispiele, wie Jazz als spirituell-religiöses Ritual gelebt und zelebriert werden kann.

Im zweiten Teil seines Buchs beschäftigt sich Bivins mit den engen Verbindungen zwischen Ritual und Improvisation, nennt Beispiele aus dem Schaffen von Duke Ellington, Mary Lou Williams, Milford Graves, Cecil Taylor, bezieht sich aber auch auf das Feld des afro-kubanischen Jazz, auf Steve Colemans Studien zur Yoruba-Kultur und auf die Musik des Art Ensembles of Chicago.

Ein eigenes Kapitel befasst sich mit Meditation und Mystizismus und verweist dabei auf Musiker wie Steve Lacy, Arthur Blythe, William Parker und Davis S. Ware. Ornette Colemans Harmolodics und George Russells Lydian Chromatic Concept werden von Bivins nicht allein als musiktheoretische Abhandlungen verstanden, sondern als Beispiel für kosmologische und metaphysische Versuche Jazz, Improvisation, ja Musik ganz allgemein zu fassen. In dieses Kapitel gehören auch Anthony Braxtons Tri-Axium-System und Wadada Leo Smith’ Ankhrasmation.

In seinem Schlusskapitel stellt Bivins dann noch einmal klar, dass die Auseinandersetzung mit Jazz oder mit Religion notwendigerweise eine fragmentarische sein muss, dass beide Praktiken ein Versuch sind, sich der Komplexität der Welt zu nähern, unsere eigene Sicht aber immer durch das geprägt ist, was wir bereits “wissen”. Für einige sei Musik wie Religion, weiß er, das aber beinhalte weit mehr als die pure Hingabe. Wie die Religion in amerikanische (und weltweiter) Geschichte, habe auch die Musik subversive Funktionen gehabt, habe Einfluss auf die Wahrnehmung der Realität genommen und diese damit ändern können.

Bivins’ Entscheidung, keine klar strukturierte Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Jazz und verschiedenen Ausprägungen von Spiritualität zu wählen, sondern stattdessen Themen zu identifizieren und von verschiedenen Seiten zu beleuchten, führt dazu, dass man auch als Leser die Vorstellung von Religion, Spiritualität, Ritual weiter fasst. Wo man zu Beginn der Lektüre von der sehr offenen Fassung der Begriffe noch ein wenig irritiert sein mag, da ist man dem Autor am Ende genau dafür dankbar, da er es schafft, auch beim Lesen die schnellen Analogien zu vermeiden. Bivins gelingt es, diesen offenen Geist in seine Leser zu übertragen – für den europäischen Leser dann auch in Richtung all der Themen, die sich hierzulande in die verschieden Kapitel einflechten ließen.

Wolfram Knauer (März 2017)


Omniverse Sun Ra
von Hartmut Geerken & Chris Trent
Wartaweil 2015 (Waitawhile Books / Art Yard)
304 Seiten, 69 Euro
ISBN: 978-0-9933514-0-2

Von 1994 stammt das damals im LP-Schallplattenformat veröffentlichte, von Hartmut Geerken und Bernhard Hefele herausgegebene Buch “Omniverse Sun Ra”. Jetzt erschien eine Neuauflage dieses Werks, das das Universum des Meisters aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben versucht.

Geerken war in den 1960er bis 1980er Jahren Institutsleiter verschiedener Goethe-Institute. Als Perkussionist hat er daneben mit zahlreichen Musikern vor allem aus dem Bereich der improvisierten Musik zusammengearbeitet. In Jazzkreisen ist er dabei insbesondere als Kenner des Oeuvres Sun Ras bekannt und war für Konzerte des Arkestra verantwortlich, etwa 1971 in Kairo, wo er seinerzeit fürs Goethe-Institut wirkte. Sein Buch von 1994 war eine kleine Sensation für die Aufarbeitung des Ra’schen Oeuvres; die Neuauflage ist nicht weniger willkommen.

Was übernommen wurde: Amiri Baraka beginnt das coffeetable-große Buch mit einem einleitenden, sehr persönlichen Text über den Meister. Robert Campbell erzählt die irdische Biographie Herman Blounts von seiner Geburt in Birmingham, Alabama, im Jahr 1914 bis zu seinem Tod im Mai 1993 und ordnet zugleich die verschiedenen Besetzungen und musikalischen Phasen seines Schaffens zu. Sigrid Hauff untersucht die mythologische und spirituelle Welt, die Sun Ra musikalisch genauso wie in Texten oder Interviews heraufzubeschwören versuchte. Chris Cutler ordnet sein musikalisches Schaffen in den größeren Kontext von Jazz und afro-amerikanischer Musikgeschichte ein. Robert Lax versammelt mehr oder weniger unzusammenhängende Gesprächsfetzen, Bonmots und Aphorismen des Pianisten, Komponisten, Bandleaders und spirituellen Philosophen. Salah Ragab berichtet über Konzerte des Arkestra in Ägypten in den Jahren 1983 und 1984. Karlheinz Kessler hinterfragt die Verwendung von Ritualen in den Performances der Band. Gabi Geist schreibt ein Horoskop für jemanden, der immer sagte, dass sein Geburtstag und -ort höchstens irdisch seien, tatsächlich aber seiner Herkunft nicht gerecht würden. Hartmut Geerken schließlich erinnert sich an den Besuch des Arkestra in Ägypten im Dezember 1971. Zwischendrin finden sich zahlreiche Fotos, viele davon von der britischen Fotografin Val Wilmer.

Was neu ist: Ein Text Bernhard Helefes entfällt in der Neuauflage. Den ausführlichen diskographischen Teil des Buchs hat Chris Trent neu geordnet. Wieder gibt es einen umfangreichen Bildteil, der die Plattencovers zeigt.

“Omniverse Sun Ra” war schon in der ersten Ausgabe von 1994 eine labor of love. Die neue Ausgabe hat einen Hardcover-Einband, ein etwas handlicheres Format, einen Block mit Farbfotos der Band, die im früheren Buch nicht enthalten waren. Es verzichtet auf die Tapeologogy, also die Auflistung oft privater Konzertmitschnitte, sowie auf die ausführliche Bibliographie der früheren Ausgabe.

“Omniverse Sun Ra” bleibt bei alledem ein großartiges Buch, das in Wort, Bild und Tonträgerverweisen als hervorragendes Nachschlagewerk über die Welt und Weltsicht Sun Ras genauso zu nutzen ist wie als eine Dokumentation, in der auch “Nachgeborenen” die Bühnenperformance des Arkestra vor Augen geführt wird.

Wolfram Knauer (März 2017)


A City Called Heaven. Chicago and the Birth of Gospel Music
von Robert M. Marovich
Urbana/IL 2015 (University of Illinois Press)
488Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08069-2

Gospelmusik, erklärt Robert Marovich, Rundfunkmoderator, Herausgeber des Journal of Gospel Music und Musikhistoriker, sei die künstlerische Antwort auf die Great Migration gewesen, in der tausende und abertausende Afro-Amerikaner zu Beginn des 20sten Jahrhunderts aus den Südstaaten in den Norden zogen und insbesondere in Städten wie Chicago ein neues Zuhause fanden. Blues, sagte Mahalia Jackson einmal, seien Lieder der Verzweiflung gewesen, Gospel dagegen Lieder der Hoffnung. Das Genre, erklärt Makovich in seinem Buch, das sich auf die Verankerung der Musik im Chicago des 20sten Jahrhunderts fokussiert, sei wie eine soziale Organisation organisiert gewesen, die jeden, egal wie gut er oder sie singen konnte, willkommen geheißen hätte.

In seinem Buch beschreibt Marovich die Entwicklung der Gospelmusik von frühen Hymnen und Camp Meetings über die beschriebene Great Migration und die lebendige Gospelszene von Chicago bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sounds, Rhythmen und der Enthusiasmus dieser Musik Eingang in die Popmusik fanden und schließlich zur Begleitmusik der Bürgerrechtsbewegung wurden. Er greift auf Interviews und selten ausgewertete historische Quellen zurück, um die Einbettung der Musik in die Community zu beschreiben; er entdeckt die Bedeutung von Predigern, deren eindringliche Sermons ab den 1920er Jahren ja sogar auf Schallplatte veröffentlicht wurden; er berichtet von frühen Aufnahmen für das noch junge Radio genauso wie für die aufstrebende Plattenindustrie. Er geht auf weithin bekannte Gospel-Künstler ein, Thomas A. Dorsey etwa oder Mahalia Jackson, genauso aber auch auf weniger, oft nur lokal bekannte Musikerinnen und Musiker. Er weiß um die Hintergründe der Gospeltourneen, die in den 1930er Jahren große Erfolge feierten, und er beschreibt die Entwicklung des Gospelquartetts über die Jahre.

Die Zuwanderung nach Chicago aus dem Süden hielt bis in die 1940er Jahre an und vermittelte der Gospelmusik damit über lange Jahre jene wichtige Funktion des Haltgebens in der Fremde. Radio- und frühe Fernsehshows nahmen sich des Genres an, und immer mehr wurde Gospel auch zu einem kommerziellen Produkt. In seiner Übersicht über die verschiedenen Stränge des Genres kennt Marovich alle Solisten, Bands, Quartette und Chöre und beschreibt sowohl ihre Einbindung in die örtliche kirchliche Gemeinschaft wie auch ihr sehr unterschiedliches Verhältnis zur Plattenindustrie. Mitte der 1950er Jahre fiel der Gospelmusik schließlich eine neue Rolle zu, als Mahalia Jackson zu einer glühenden Vertreterin des Civil Rights Movement und einer engen Verbündeten Dr. Martin Luther Kings wurde.

Die große Zeit des Gospel war mit dem Tode Mahalia Jacksons und Roberta Martins vorbei; und hier endet auch Marovichs Buch, mit einem nur kurzen Ausblick auf die Gegenwart. “A City Called Heaven” ist ungemein detailreich, dadurch stellenweise etwas mühsam zu lesen, aber durch einen umfangreich aufgeschlüsselten Index ein gutes Nachschlagewerk zum Thema. Marovich zeigt anhand der Gospelmusik in Chicago, wie sich sich Genre- und Stadtgeschichtsschreibung miteinander verbinden lassen, weil die Nöte und Zwänge des Lebens in der Großstadt letztlich die Entwicklung einer Musik als spirituelles Gegengewicht befördert haben.

Wolfram Knauer (Januar 2017)


La Nuée. L’AACM: un jeu de société musicale
von Alexandre Pierrepont
Marseille 2015 (Éditions Parenthèses)
443 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-2-86364-669-4

2008 veröffentlichte George E. Lewis sein Buch “A Power Stronger Than Itself. The AACM and American Experimental Music”, das die musikalische und ästhetische Welt der Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago seit den 1960er Jahren aus der Ecke einer “nur” afro-amerikanischen Avantgarde holte und zeigte, wie sehr die darin Aktiven Teil eines generellen und weit über Amerika hinausreichenden künstlerischen Diskurses waren und sind.

Im Vorwort seines Buchs über die AACM schildert Alexandre Pierrepont, wie es dazu kam, dass er sich als Anthropologe entschied, eine Studie zur AACM zu schreiben, wie er mittendrin von Lewis’ Arbeit erfuhr und sofort bereit war, mit seinem eigenen Projekt zurückzustecken. Lewis aber habe ihn zum Weitermachen ermutigt: Sein Buch sei eine Innenansicht, so Lewis, ein so komplexes Thema aber brauche immer mehrere Perspektiven, und Pierreponts Arbeit könne vielleicht eine sinnvolle Außenansicht bieten. Und so ist mit “La Nuée” (“Der Schwarm”) jetzt ein zweites umfangreiches Buch auf dem Markt, das die AACM von den 1960er Jahren bis heute als einen künstlerische Ansatz beschreibt, der weit über die erklingende oder auf Tonträgern dokumentierte Musik hinausreicht, vor allem nämlich in den daran beteiligten Akteuren ein Selbstbewusstsein geschaffen hat, das sie weit über den Kreis des Jazz, der afro-amerikanischen oder sogar der amerikanischen Musik hinaus einordnen lässt.

Pierrepont präsentiert im ersten Kapitel 25 Gründe warum, und Erklärungen wie Afro-Amerikaner in den USA ausgegrenzt oder marginalisiert wurden. Er zeigt, dass Musik gerade in diesem Zusammenhang wichtige soziale Funktionen übernahm. Er schildert die Situation in Chicago und erklärt, wie sich hier ab den 1950er Jahren eine aktive experimentelle Musikszene herausbildete. Im zweiten Kapitel beschreibt er die Idee hinter der AACM, die unterschiedlichen Ensembles und Projekte, die aus dem Kreis der Musiker entstanden, die europäische Erfahrung von Mitgliedern etwa des Art Ensemble of Chicago zwischen den Jahren 1969 und 1974, die Verbindungen zwischen der Chicagoer und der New Yorker Avantgarde-Szene ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre (die viel damit zu tun hatte, dass etliche Chicagoer Musiker inzwischen an die Ostküste umgezogen waren), sowie den Einfluss der AACM und ihres Konzepts auf europäische Improvisations-Kollektive.

Im dritten Kapitel untersucht Pierrepont die AACM als Kooperative und Verein, als Geheimbund und Brüderschaft, als sozio-musikalische Bewegung und Weltschule, beschreibt ihre formale Organisation, aber auch die “respectful anarchy”, die sich aus ihren Verbindungen etwa zum Black Arts Movement und anderen auch politisch aktiven Organisationen ergaben. Dabei sei sie bis heute eine Vereinigung afro-amerikanischer Musiker geblieben. Egal ob in Tongebung, Improvisation oder Komposition sei eines der verbindenden Merkmale der aus der AACM entstandenen Musik zum einen die Betonung von Individualität, zum zweiten aber auch das Einbringen des Subjekts in kollektive Prozesse. Pierrepont beschreibt pädagogische Konzepte, die sich aus den Schulprojekten der Association ergaben, und umreißt musikalische als soziale Verbindungen und die daraus resultierenden Gruppenzugehörigkeits-Prozesse. Im vierten Kapitel beschreibt er die Offenheit der AACM-Mitglieder gegenüber Genre, kompositorischen und improvisatorischen Experimenten, der Verwendung und Aneignung im Jazz bislang eher unüblicher Instrumente, der Weiterentwicklung elektronischer Klang- (und musikalischer Reaktions)möglichkeiten, sowie der Arbeit im Solo- und großorchestralen Kontext. Das Art Ensemble of Chicago warb mit dem Slogan “Ancient to the Future”, und in dieser Haltung, dass die Formung jedweder (künstlerischen) Zukunft sich auf die eigene Interpretation der Vergangenheit beziehe, sieht Pierrepont eines der Geheimnisse hinter der Langlebigkeit der AACM als Organisation. “Ich ziehe die Mythokratie der Demokratie vor”, zitiert er Sun Ra. “Noch vor der Geschichte. Alles vor der Geschichte sind Mythen… Das ist der Ort, an dem die Schwarzen sind. Realität ist gleich Tod, weil alles, was real ist, einen Anfang und ein Ende hat. Die Mythen sprechen vom Unmöglichen, von Unsterblichkeit. Und da alles Mögliche bereits versucht wurde, müssen wir eben das Unmögliche versuchen.”

Alexandre Pierreponts Studie zur AACM bietet eine gelungene Interpretation dessen, wofür die Association for the Advancement of Creative Musicians stand und steht, eine Einordnung ästhetischer wie gesellschaftlicher Vorstellungen und Aktivitäten aus der Gruppe, und den Versuch, das alles in Verbindung zu bringen mit ästhetischen, kritischen, philosophischen und spirituellen Aspekten, die weit über die Arbeit der AACM-Mitglieder hinausgehen. Ihm ist dabei, in Gesprächen mit Musikern, in den Beschreibungen von Konzert- und Aktionssituationen, in der historischen genauso wie der anthropologischen Einordnung all dessen ein kluges Buch gelungen, das die Rolle der AACM im Jazz genauso zu verorten in der Lage ist wie in der aktuellen Musik des 20sten (und letzten Endes auch 21.) Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Jazz Tales from Jazz Legends. Oral Histories from the Fillius Jazz Archive at Hamilton College
Von Monk Rowe (& Romy Britell)
Rochester 2015 (Richard W. Couper Press)
209 Seiten, 20 US-Dollar
ISBN: 978-1-937370-17-6

Das Hamilton College ist eine relativ kleine Hochschule in Clinton, New York. Einer ihrer Absolventen, Milt Fillius Jr., zog nach seinem Diplom ans andere Ende des Landes, nach San Diego, hielt aber Kontakt zu seiner Alma Mater. Er liebte Jazz und er war ein guter Freund des Sängers Joe Williams, der 1988 die erste Ehrendoktorwürde des Hamilton College erhielt. Im Gespräch mit Williams und dem Bassisten Milt Hinton wurde Fillius bewusst, wie viel an Wissen über den Jazz tatsächlich nur in der Erinnerung der Musiker bewahrt und wie wichtig Oral History gerade in diesem Bereich ist. Er etablierte also ein umfassendes Interview-Projekt, für das mittlerweile weit über 300 Künstler/innen in Ton und Bild festgehalten wurden. Die Interviews, von denen viele der Hamilton-Archivar Monk Rowe selbst durchführte, dokumentieren die Welt des Swing genauso wie die des modernen Jazz. Die meisten dieser Erinnerungen sind auf der Website des Hamilton College nachzulesen; eine für die Jazzforschung ungemein hilfreiche Sammlung. Es handelt sich bei den Interviewten nicht unbedingt um die großen Stars der Jazzgeschichte, obwohl etwa mit Lionel Hampton, Nat Adderley, Herbie Hancock, James Moody, Oscar Peterson, Ruth Brown und anderen auch solche vertreten sind. Viele der Musikererinnerungen stammen stattdessen von Sidemen, die über ihre Zeit in den großen Bands berichten, über das Leben “on the road”, über die alltäglichen Probleme eines reisenden Musikers, über Rassismus und vieles mehr

In “Jazz Tales from Jazz Legends” zeigt Monk Rowe, was man aus diesen Interviews so alles lernen kann. Er filtert konkrete Themen heraus, für die er dann die verschiedenen Erfahrungen der Interviewten gegenüberstellt. Das Anfangskapitel widmet sich Joe Williams, dann folgt ein Abschnitt über das Schicksal der Sidemen bei Duke Ellington, Count Basie, Benny Goodman und in anderen Bigbands. Clark Terry erzählt etwa, wie der Duke ihn bei Basie abwarb, erinnert außerdem, was er bei beiden Bandleadern lernte, und Benny Powell weiß zu berichten, dass Basie ihm in den zwölf Jahren in der Band nie förmlich bestätigt habe, dass er engagiert sei. Im Kapitel “Road Travails” erzählen Eddie Bert von seiner Zeit bei Benny Goodman, Sonnie Igoe von einer Tournee mit Woody Herman, Bucky Pizzarelli vom Reisen mit dem Vaugn Monroe Orchestra, Jay McShann vom Problem mit schlechten Klavieren “on the road”, Jimmy Lewis von einem angst-machenden Flug mit der Basie-Band, Kenny Davern vom Stress, die 60 One-Nighters in 90 Tagen erzeugen können, Lanny Morgan darüber, dass die Gage oft von Hotel- und Reisekosten aufgefressen wurde, die die Musiker aus eigener Tasche zahlen mussten. “Arranging the Notes” heißt ein weiteres Kapitel, das sich mit den Ansprüchen an die Arrangeure der Bands befasst. Dick Hyman, Mike Abene, Bill Holman, Derrick Gardner, Ray Conniff, Manny Albam erzählen darin von der Arbeit eines Bandarrangeurs genauso wie von den Anforderungen an andere Arten von Musik, etwa für Hollywood; Lew Soloff erinnert sich an die Arrangements für Blood Sweat & Tears, und Dave Rivello und Maria Schneider geben einen Ausblick darauf, wie die Arbeit eines Arrangeurs im 21sten Jahrhundert funktioniert.

“Inside the Studio” ist ein Kapitel über Aufnahmeerfahrungen überschrieben, in dem sich Doc Cheatham an seine erste Platte mit Ma Raney erinnert, Richard Wyands einen typischen Aufnahmegig aus dem Jahr 1959 beschreibt, Orrin Keepnews erzählt, was Musikern für Aufnahmesitzungen üblicherweise bezahlt wurde, und Dick Hyman und Derek Smith verraten, dass sie sich natürlich auch mit Musik für Fernsehwerbung über Wasser halten mussten. Man müsse nicht alles mögen, was da im Studio produziert werde, erklärt Hyman, man müsse sich aber anstrengen, das, was von einem gefordert werde, möglichst gut zu spielen. Rassismus war für viele der interviewten Musiker ein täglich erlebtes Thema, und im Kapitel “The Color of Jazz” kommt auch dies zur Sprache. Clark Terry und Joe Williams haben genügend eigene Erlebnisse; Sonny Igoe erzählt, wie er auf einer Tournee durch den Süden, bei der er im Bus mit dem Art Tatum Trio mitreiste, als “White Trash” angepöbelt und aufgefordert wurde, er solle den Bus gefälligst verlassen. Louie Bellson und Red Rodney haben ähnliche Erinnerungen, und Frank Foster fasst zusammen, dass der Jazz zwar aus der schwarzen Erfahrung heraus geboren worden sei, dass der Melting Pot Amerika ihn aber schon seit langem zu einer amerikanischen, wenn nicht gar globalen Musik gemacht habe.

Im Kapitel “Thoughts on Improvisation” geben Marian McPartland, Clark Terry, Bill Charlap, Charles McPherson und andere Tipps, wie man sich der Improvisation nähern könne. Ken Peplowski fasst zusammen: “Lern es, dann vergiss es wieder!”, und Randy Sandke reflektiert, was während eines Solos so alles durch seinen Kopf ginge. Schließlich äußern sich Gary Smulyan, Ralph Lalama und Jan Weber über die Möglichkeit und die Chancen “falscher Töne” im Jazz. “Motivation and Inspiration” ist ein Kapitel überschrieben, das Erinnerungen an persönliche Einflüsse beinhaltet. Keter Betts etwas erzählt, dass er als Schlagzeuger begonnen habe und durch Milt Hinton (und reichlich Zufall) zum Bass gekommen sei. John Pizzarelli kam über die Beatles zur Gitarre, Kenny Davern übers Radio bei einer der Pflegefamilien, bei denen er aufwuchs, bis er sechs Jahre alt war, und auch Junior Mance war von Earl Hines begeistert, dem er spätabends heimlich im Radio lauschte. Jon Hendricks berichtet, wie er dazu kam, improvisierte Instrumentalsoli zu textieren. Und Eiji Kitamura erinnert sich, wie eine Platte von Benny Goodman in der Sammlung seines Vaters ihn zur Klarinette brachte. Schließlich gibt es im Schlusskapitel noch ein paar Haltungen zum Phänomen des Swing und zum Missverständnis des Free Jazz sowie Erinnerungen an unglücklich gelaufene Engagements und über die Arbeit mit Legenden.

“Jazz Tales from Jazz Legends” ist also ein vielfältiges Buch, das jede Menge unterschiedlicher Erfahrungen zusammenbringt. Zu Beginn der Lektüre wünscht man sich, die einzelnen Interviews im Zusammenhang zu lesen, aber das ist ja tatsächlich möglich, über die Website des Fillius Jazz Archive am Hamilton College. Und so sollte man Monk Rowes thematische Zusammenstellung als das sehen, was sie ist: ein exzellentes Beispiel, wie sich aus den gesammelten Interviews am Hamilton College Narrative zu den unterschiedlichsten Themengebieten der Jazzgeschichte exzerpieren lassen. Dann lässt sich umso interessanter verfolgen, wie die Interviews sich gegenseitig ergänzen und die unabhängig voneinander Befragten dabei fast miteinander ins Gespräch zu kommen scheinen.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Swingin’ On Central Avenue. African American Jazz in Los Angeles
von Peter Vacher
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
331 Seiten, 55 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8832-6

2015vacherJazzgeschichtsschreibung funktioniert normalerweise so: Louis Armstrong – Charlie Parker – Miles Davis – John Coltrane. Oder so: New Orleans – Chicago – Kansas City – New York. Oder so: Dixieland – Swing – Bebop – Cool Jazz – Hard Bop – Free Jazz – Fusion. Personen, Orte, Epochen… eine Geschichte der großen Männer (!), der lebendigen urbanen Szenen, der alles umwälzenden stilistischen Innovationen. Tatsächlich aber ist dieser Blick auf die Größen, die Zentren, die Stilbegriffe enorm einengend, wenn nicht gar: einfach nur falsch. Neben den großen Stilisten gibt es immer auch diejenigen, deren Kreativität entweder nicht den großen populären Erfolg hatte oder aber nicht lange genug anhielt, oder die sich einfach weniger gut “verkaufen” konnten. Neben den jazzgeschichtsmäßig bekannten Zentren gab es Städte und Landstriche, die musikalisch enorm lebendig waren, viele Musiker hervorbrachten, aber von der Geschichtsschreibung höchstens als potentielle Spielorte, nicht als Brutstätten dieser Musik dargestellt wurden. Und neben den etablierten Stilen gibt es unendlich viele Zwischenstufen, da kaum ein Musiker sich eines Stils “in Reinkultur” bediente”. Ganz davon zu schweigen, dass sich die meisten Jazzgeschichten, ja selbst die meisten Biographien an Aufnahmen entlanghangeln und dabei gern den performativen Aspekt des Jazz vergessen, die Tatsache also, dass die veröffentlichte Platte nur eine Momentaufnahme des kreativen Prozesses ist.

Peter Vacher füllt mit seinem Buch also eine Lücke. Er widmet es einer Szene, die nie so ganz im Mittelpunkt des Jazz stand (Los Angeles), und er fokussiert dabei auf Musiker, die höchstens regionale Stars blieben und kaum nationalen oder gar internationalen Erfolg einfuhren. Vacher ist Außenseiter (Brite); er kam im Laufe des Trad-Jazz-Booms der 1950er Jahre zum Jazz. In den 1980er Jahren arbeitete er mit dem Klarinettisten Joe Darensbourg an dessen Autobiographie, verbrachte währenddessen einige Zeit in Los Angeles und lernte damals Veteranen der schwarzen Musikszene der Westküstenmetropole kennen. Die Interviews, die er mit den sechzehn in diesem Buch dokumentierten Musikern führte, hatten ursprünglich nicht das Ziel einer Buchveröffentlichung, sondern dienten einzig seinem privaten Interesse an ihrer Geschichte. Wenige konnte er ein zweites Mal interviewen, bei anderen fühlte er sich im Nachhinein schlecht vorbereitet. Dennoch geben die Geschichten, die er anhand dieser 16 Musiker erzählt, einen Einblick in eine so ganz andere Musikszene als die an der Ostküste. Die Westküstenmusiker waren flexibel; sie spielten Jazz genauso wie R&B oder Dixieland. Viele von ihnen verdienten sich ihren Lebensunterhalt in den Studios Hollywoods, und viele zog es vielleicht mal für eine Tournee, selten aber für immer fort aus Kalifornien. Und wenn auch diese Szene Jazzgrößen wie Dexter Gordon, Wardell Gray, Teddy Edwards und Charles Mingus hervorbrachte, wenn auch Legenden wie Benny Carter, Red Callender und Buddy Collette von hier aus agierten, so blieb Los Angeles doch ein weitgehend ungeschriebenes Kapitel der US-amerikanischen Jazzgeschichte.

Die von Peter Vacher interviewten Musikern stammen aus der älteren Generation, und dokumentieren die Szene vor allem der 1930er bis 1950er Jahre. Noch weiter zurück geht es in den Erzählungen des Trompeters Andy Blakeney , der von seinen ersten musikalischen Erfahrungen im Chicago der 1920er Jahre berichtet, von seinem Umzug an die Westküste im Jahr 1925, von Reb Spikes, der ein Musikgeschäft in L.A. besaß und außerdem eine gut beschäftigte Band. Er erinnert an viele der Musiker in der Stadt und an Partys bei Orson Welles. Er erzählt aber auch von der Rassentrennung in der Stadt, und von den legendären Gigs, die Louis Armstrong und Duke Ellington Anfang der 1930er Jahre in Sebastian’s Cotton Club hatten, von Tagesjobs in einer Schiffswerft, von Gigs mit Kid Ory und Barney Bigard, und von verschiedenen Comebacks in den 1970er und 1980er Jahren. Beim Pianisten Gid Honoré musste Vacher erst Street Credibility beweisen (dadurch, dass er den Schlagzeuger Wallace Bishop kannte), bevor der sich zu einem Interview bereitfand. Honoré kam 1921 aus New Orleans nach Chicago und erzählt von den vielen Ensembles, mit denen er in den 1920er bis 1940er Jahren dort spielte – oft Bands alter Freunde aus New Orleans. 1948 zog er an die Westküste, wo er mit Kid Ory und Teddy Buckner spielte – seine Erinnerungen an die Szene in L.A. nehmen dabei gerade einmal ein Fünftel seines Kapitels ein. Der Trompeter George Orendorff hatte in den 1920er Jahren King Olivers Creole Jazz Band mit Louis Armstrong in Chicago gehört, kurz bevor er nach L.A. zog. Er erzählt vom Engagement in der Band von Les Hite, in der als Schlagzeuger Lionel Hampton mitwirkte, oder von einem Abend, an dem Fats Waller Bach und Beethoven spielte. 1946 war er im Billy Berg’s Club, als Dizzy Gillespie dort mit Charlie Parker spielte. Orendorff arbeitete schließlich 30 Jahre lang als Postbeamter und trat nur noch selten auf. Jeder in Los Angeles kannte den Schlagzeuger Monk Fay, den Vacher aber erst nach intensiver Suche in einem Seniorenheim fand. Der erzählt von seiner Popularität in Hawaii, von einer Gefängnisstrafe wegen Dealens mit Marihuana und von Gigs in Los Angeles in den 1940er und 1950er Jahren. Der Saxophonist Floyd Turnham erinnert sich an Britt Woodman und an Aufnahmen mit Johnny Otis; die Sängerin Betty Hall Jones weiß noch, wie Nellie Lutcher ihr einen Vertrag bei Capitol Records verschaffte. Der Trompeter Red Mack Morris war in Les Hites Band, als diese Louis Armstrong begleitete und führte später eine Weile einen eigenen Club, in dem er schwarz Alkohol ausschenkte. Der Klarinettist Caughey Roberts erzählt von seinen Lehrern und davon, wie er schließlich selbst unterrichtete, daneben aber auch von einer Reise nach China mit Buck Clayton, über seine Arbeit mit Count Basie und Fats Waller in den 1930er Jahren und über seine Dixieland-Aufnahmen in den 1950ern. Der Pianist Chester Lane war ein großer Fan von Earl Hines, arbeitete lange Zeit um St. Louis, und zog 1957 an die Westküste. Der Trompeter Monte Easter erinnert sich, wie er und Art Farmer Ende der 1940er Jahre in Jay McShanns Band saßen, berichtet über die Probleme der afro-amerikanischen Gewerkschaften und über seinen Broterwerb als Postbediensteter. Der Bassist Billy Hadnott erzählt ausführlich von seinen musikalischen Erlebnissen in Kansas City und hat seine eigene Erinnerung daran, wie Charlie Parker ins Sanatorium von Camarillo kam. Der Trompeter Norm Bowden weiß einiges über Reb Spikes und den Schlagzeuger “Boots” Douglas zu berichten, aber auch über den Club Alabam im berühmten Dunbar Hotel auf der Central Avenue. Der Posaunist John ‘Streamline’ Ewing hatte anfangs gut bezahlte Nebenjobs in den Hollywoodstudios, ging dann auf Anregung eines Musikerkollegen nach Chicago, tourte mit Bands wie denen von Horace Henderson und Earl Hines und spielte ab den 1950er Jahren mit Teddy Buckner in Disneyland. Der Saxophonist Chuck Thomas spielte vor allem in der Küstenregion (bis Las Vegas) und zuletzt ebenfalls mit Teddy Buckner. Der Schlagzeuger Jesse Sailes erinnert sich, wie all die großen Swingbands in den Theatern von Los Angeles auftraten und wie er später Platten mit Percy Mayfield, Ray Charles und B.B. King aufnahm. Der Schlagzeuger Minor Robinson spielte mit Buddy Collette und kannte Charles Mingus, als dieser vielleicht 15, 16 Jahre alt war.

Es sind persönliche Geschichten, von Sidemen-Karrieren und außermusikalischen Lebensentscheidungen. Die Namen wiederholen sich; aus den Erzählungen schält sich dabei eine Szene heraus, die zusammenhielt, auch wenn einzelne der Musiker die Stadt für kürzer oder für länger verließen. Peter Vacher beschreibt zu Beginn eines jeden der Kapitel, wie er den Musikern auf die Spur kam und erklärt einzelne der von den Interviewten mitgeteilten Anekdoten. Nebenbei erzählen diese von der Mobilität des Musikerberufs, von Karrieren, die in New Orleans oder Chicago begannen oder in Kansas City und New York Station machten, deren Protagonisten aber, nachdem sie kalifornische Luft geschnuppert hatten, von dieser nicht mehr loskamen. Es gibt schöne Geschichten über das Zusammentreffen des West-Coast-Größen mit durchreisenden Stars der großen Swingbands; es gibt Insiderberichte über alle möglichen Aspekte des Showbusiness’; es gibt immer wieder den Anruf aus der Ferne, der ihnen einen Job in einer der “name bands” anbietet, den sie entweder für kurze Zeit annehmen oder aber ablehnen. Es gibt Geschichten über Familienplanung und solche über Tagesjobs, mit denen man die Familie ernähren konnte. Central Avenue spielt eine bedeutende Rolle, jene Straße, die in Teilen zu einem kulturellen Zentrum der afro-amerikanischen Community der Stadt wurde.

Peter Vacher hat die Gespräche laufen lassen; sein ursprüngliches Interesse galt der Lebensgeschichte der Musiker, weniger dem Treiben in Los Angeles. Und so nehmen die Erinnerungen an Chicago oder Kansas City oft mehr Raum ein als die aktuelle Lebenswirklichkeit des Ortes, an dem die interviewten Musiker schließlich landeten. Doch wird eine Szene eben nicht nur durch das geprägt, was Musiker in ihr kreieren, sondern auch durch alles, was sie aus ihrer Vergangenheit mitbringen. Von daher ist Vachers Ansatz völlig richtig, die Geschichte der Central Avenue durch die Einflüsse zu erzählen, die hier zusammenkamen.

Beim Lesen wünschte man sich stellenweise entweder einen knappen biographischen Abriss vor oder nach den Kapiteln oder aber das Einstreuen von Jahreszahlen, um die Erinnerungen der Musiker besser einordnen zu können. Wer bei Los Angeles an die Westcoast-Szene denkt, sei gewarnt: alle der von Vacher interviewten Musiker sind vor allem der Swingära zuzuordnen; sie erzählen zum Teil von den jüngeren Musikern, die sie kannten, waren aber nie selbst Mitglied dieser Szene. In seinem Vorwort heb Vacher vor allem drei Interviews hervor, die besonders gut gelungen seien: jene mit Andy Blakeney, Billy Hadnott und Norman Bowden, mit Musikern also, mit denen er mehrfach sprechen und dabei mehr über ihr Leben und musikalisches Wirken lernen konnte. Tatsächlich aber sind auch jene Gespräche lesenswert, die etwas langsamer “auf den Punkt” kommen. “Swingin’ On Central Avenue” gelingt es dabei, Erhebliches zur Kulturgeschichte des afro-amerikanischen Jazz im Los Angeles der 1930er bis 1950er Jahre beizutragen. Das Buch erzählt von künstlerischen Idealen und von der Realität des alltäglichen Musikgeschäfts. Die Entscheidung, die Vacher – sicher mehr der Not gehorchend – getroffen hatte, war genau richtig: Seine Protagonisten sind eben nicht die großen Stars, weil die Szene, die er im Fokus hat, sich in keiner der stilbildenden Städte befand, weil die Community, die er in den Kapiteln seines Buchs abbildet, sich aus vielen sehr disparaten Erfahrungen zusammensetzte. Sein Buch ist auf jeden Fall eine Fundgrube für Jazzhistoriker mit vielen Anekdoten und Erinnerungen, die dieser Rezensent hier zum ersten Mal gelesen hat; zugleich ist es eine abwechslungsreiche Zeitzeugensammlung einer Szene, die bislang nur mäßig dokumentiert ist.

Wolfram Knauer (Juli 2016)


Invitation to Openness. The Jazz & Soul Photography of Les McCann, 1960-1980
herausgegeben von Pat Thomas & Alan Abrahams
Seattle 2015 (Fantagraphics Books)
200 Seiten, 39,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-60699-786-4

2015mccannMusikerfotos – es gibt eine ganze Reihe an Jazzmusikern, deren Hobby auf Tournee das Fotografieren war. Milt Hinton ist der wohl namhafteste unter ihnen, doch jetzt zeigt ein neues Buch, dass auch Les McCann nicht nur gute Ohren, sondern auch ein exzellentes Auge hat. Das nämlich gehört dazu, auf dass das Buch eines fotografierenden Musikers nicht einzig wegen der Vorteile interessant ist, die sich daraus ergeben, dass der Mann hinter der Kamera zugleich auf der Bühne sitzt und von den Objekten seiner Begierde, also anderen Musikern, nicht als Störenfried, sondern als einer der ihren anerkannt wird.

Im Vorwort von “Invitation to Openness” erzählt A. Scott Galloway kurz die biographischen Stationen Les McCanns: geboren in Lexington, Kentucky, über Tuba und Snare-Drum zum Klavier gelangt, zusammen mit Eddie Harris mit “Compared to What” über Nacht einen Welthit geschaffen, der eine Solokarriere bedingte, die bis in jüngste Zeit anhielt. Pat Thomas erzählt die Genese des Buchprojekts: Er hatte gerade eine CD-Wiederveröffentlichung des McCann-Klassikers “Invitation to Openness” organisiert und McCann zu Hause besucht, als er in einer Ecke einen Stapel zerkratzter Abzüge von Fotos entdeckte, die der Pianist in den 1960er und 1970er Jahren gemacht, aber nie veröffentlicht hatte. Im Interview mit Thomas erzählt McCann, dass es in seiner Familie immer Fotoapparate gegeben habe. Er selbst habe sich eine Nikon gekauft und begonnen, auf der Bühne und daneben Menschen abzulichten. Als er sich ein Haus in Hollywood leisten konnte, richtete er sich eine Dunkelkammer ein und begann seine Aufnahmen selbst zu entwickeln.

Das Bemerkenswerteste an den Bildern ist vielleicht die Perspektive. Gerade die Bühnenaufnahmen sind eben nicht von vorn gemacht, aus dem Bühnengraben oder der ersten Reihe, sondern oft von der Seite oder leicht von hinten. Viele Bilder zeigen die Musiker backstage, in Vorbereitung fürs Konzert, in Freizeitklamotten beim Soundcheck. Das entspannte Lächeln Count Basies zeigt die entspannte Vertrautheit. Andere eindrucksvolle Motive sind etwa: Stanley Clarke mit abwartend-konzentrierter Miene (und einer denkwürdigen Frisur); Ben Webster am Flügel; Dexter Gordon und Joe Zawinul vor einem Motel; die junge Tina Turner; das Publikum aus Gefangenen im Cook County Jail; Cannonball Addlerley, der an einer Zigarette zieht, sein Gesicht halb in Rauch gehüllt. Neben Musikern gibt es Bilder von Schauspielern (Jack Lemmon, Bill Cosby, Jerry Lewis), Politikern (Jimmy Carter, Jesse Jackson, Stokely Carmichael, Dr. Martin Luther King), Sportlern (Muhamad Ali, Pelé), sowie einige wenige Bilder, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Doch auch diese Aufnahmen, etwa das eines alten Mannes mit Fahrrad, hätten das Potential zu Plattencovers.

Les McCann gibt zu einzelnen der Bilder Kommentare ab, in denen er Kolleginnen oder Kollegen erinnert. Auch die Identifizierung der Motive basiert auf McCanns Erinnerung, wobei es Motive gibt, zu denen er nicht wirklich mehr weiß, wo oder wann sie gemacht wurden, und zumindest eine falsche Zuschreibung (nein: das ist NICHT Eberhard Weber auf den beiden Fotos mit Sarah Vaughan, sondern Bob Magnusson!). Beim Durchblättern des Bandes kommt einem immer wieder in den Sinn, dass das Leben eines Jazzmusikers eben aus mehr besteht als der Bühnenwirklichkeit. Les McCanns “Invitation to Openness” bietet damit einen lohnenswerten und allemal mit Soul gefüllten Blick hinter die Kulissen sowohl der Musiker, die er darin dokumentiert, als auch seiner eigenen Konzertarbeit.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Bitches Brew
von George Grella Jr.
New York 2015 (Bloomsbury Academic, 33 1/3)
128 Seiten, 14,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-6289-2943-0

D2015grellaie Buchreihe 33 1/3 des Bloomsbury-Verlags behandelt eigentlich Rockgeschichte. Jeder Band ist einem separaten Album gewidmet und wird historisch kontextualisiert. Miles Davis wurde jetzt die Ehre zuteil, als erster Jazzer in die Reihe aufgenommen zu werden, die immerhin schon mehr als 100 Bände umfasst. Sein Album “Bitches Brew” von 1969 schrieb eben nicht nur Jazz-, sondern genauso auch Popgeschichte.

In seinem ersten Kapitel betont George Grella, wie schwer es ist, “Bitches Brew” klar einem Genre zuzuordnen. Miles wollte weder ein klares Jazz- noch ein dezidiertes Rockalbum machen. “Bitches Brew”, meint Grella, sollte man daher am ehesten als experimentelle Musik hören, als Versuch, den überkommenen Normen von sowohl Jazz wie auch von Rock zu entkommen.

Im zweiten Kapitel erklärt Grella die seltsame Sektenhaltung, die Jazzrezeption manchmal annehmen kann und gegen die sich Miles Davis von früh an wehrte. Geht nicht gibt’s nicht, sei sein Motto gewesen, und Popsongs nahm er bereits lange vor “Time After Time” auf. Miles, fasst Grella zusammen, spielte Pop nicht um Popstar zu sein, sondern um Musik zu machen. Er erzählt von der Zeit des Trompeters mit Charlie Parker, vom Capitol-Nonet, das irgendwie die Geburtsstunde des Third Stream wurde, sowie von “Kind of Blue” und “Sketches of Spain”.

In Kapitel 3 erklärt Grella, welch völlig anderen Ansatz Miles an die Produktion eines Albums hatte, bei dem er sich ab 1968, ab dem Album “Circle in the Round”, vorbehielt, die musikalischen Versatzstücke nach Belieben zusammenzuschneiden.

In den Kapiteln 4 und 5 schließlich steht “Bitches Brew” selbst im Mittelpunkt, wenn Grella über Titel und Covergestaltung geflektiert und die einzelnen Titel beschreibt. Das liest sich stellenweise wie eine Sportreportage: wer, wann, was, Tonart, Einsatz, Intensität. Grella verweist auf die oft nicht wahrnehmbare Editiertechnik Teo Maceros und darauf, wie dies nur deshalb möglich war, weil alle Musiker immer deutlich aufeinander hörten. In “Pharoah’s Dance” benennt er eine “hippe Blueslinie bei 4:46” oder eine Coda, die “fast Beethoven’schen Charakter” habe. Im Titeltrack zeigt er auf viele der Nahtstellen, und dann verweist auf die Unterschiede der beiden Platten des Doppelalbums: “eine, um dich wegzublasen, die andere, um deinen Kopf wieder geradezurücken”.

Im letzten Kapitel widmet Grella sich den Nachwirkungen des Albums, in der Kritik genauso wie im Jazz. Mit Verweis auf Wynton Marsalis erklärt er, dass da zwei recht unterschiedliche Sichtweisen der Zukunftfähigkeit von Musik aufeinandergeprallt seien, um dann Miles’ Konzept auf dem kleinsten Nenner zusammenzufassen: “Indem er Rhythmus, Puls und Harmonien – und auf Tonband eingespielte Kompositionen – verwandte, die absichtlich nicht zu einer Auflösung fanden, organisierte Miles Zeit: und sowohl Form wie auch Zeit finden damit in der Musik zusammen”.

Eine kommentierte Diskographie beschließt das Büchlein, das sich wie ein sehr ausführlicher Plattentext mit vielen zusätzliche Informationen liest. Ja, Grella gelingt die Kontextualisierung, und doch kommt er der Musik selbst nur bedingt nahe, auch weil seine analytischen Anmerkungen etwas zu oberflächlich bleiben, weil er quasi nur parallel zur Musik beschreibt, was man eh hört, anstatt zusammenzufassen, was das alles “bedeutet”. Trotz dieser Einschränkung aber ist Grellas Büchlein ein lohnenswerter Begleiter zur nächsten abendlichen Abhörsession dieses Miles Davis-Klassikers.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Jazz Basel. Vier Jahrzehnte Stars und Szene
herausgegeben von Offbeat = Urs Ramseyer & Ruedi Ankli & Peewee Windmüller & Urs Blindenbacher
Basel 2015 (Christoph Merian Verlag)
180 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-85616-695-5

2015offbeatDie Geschichte regionaler Jazzszenen kann man auf unterschiedliche Weise erzählen. Man kann nostalgisch und sehnsuchtsvoll zurückblicken und von alten Zeiten schwärmen. Oder man kann auch Zurückliegendes vor allem aus dem Wissen um die Gegenwart verstehen.

Die Macher des offbeat-Festivals gehen in ihrem Buch über “Jazz Basel” den zweiten Weg. Das opulent bebilderte Buch widmet einzig sein Eingangskapitel (von Bruno Spoerri) den Anfängen des Jazz in Basel von den 1920er bis in die 1970er Jahre. 1974 gründete sich der Verein und die Konzertreihe jazz in basel, 1990 schließlich das Festival offbeat. Das Buch blickt auf die Musiker, die seither auf dem Festival spielten, aus skandinavische Gäste oder gesamtdeutsche Schwerpunkte, auf Jazz aus dem Mittelmeerraum und einen lateinamerikanischen Fokus, auf US-amerikanische Bands und die Schweizer Musiker, die hier auch immer zu hören waren. Es gibt Anekdoten aus dem Alltag von Festivalorganisatoren und Berichte von Backstage. Die Auswirkungen des Festivals in Stadt und Region werden thematisiert, Schulprojekte etwa oder die Präsenz im örtlichen Rundfunk. Und schließlich wird mit Stolz auf die Zusammenarbeit des offbeat Festivals mit dem Jazzcampus Basel und dem Club The Bird’s Eye berichtet.

Das alles ist kurzweilig geschrieben, vordergründig wohl vor allem für regionale Leser interessant, daneben aber genauso ein Bericht über die Verankerung einer regionalen wie internationalen Szene, aus dem auch Veranstalter anderswo etwas lernen können. Und schließlich sind da noch die 86 schwarz-weißen Abbildungen, Fotos von Bernhard Ley, Peewee Windmüller und Röné Bringold, die die Erinnerungen an die Geschichte von offbeat ungemein lebendig werden lassen.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher
von Detlef Siegfried
Göttingen 2015 (Wallstein)
455 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1673-7

2015siegfriedErnest Borneman war eine Mehrfachbegabung, so sehr, dass es genügend Menschen gaben, die dachten, es handele sich wahrscheinlich um mehrere Personen, die nur zufällig denselben Namen hätten. In den 1970er und 1980er Jahren war Borneman ein regelmäßiger Gast in deutschen Talkshows, wann immer es um das Thema Sexualität ging, hatte daneben eine Sex-Beratungskolumne in der Neuen Revue. Als Soziologe hatte er sich mit seinem Buch Das Patriarchat 1975 einen Namen gemacht. Vor seiner Beschäftigung mit Frauenbewegung und Feminismus hatte Borneman eine Karriere im Filmgeschäft gemacht, arbeitete für das National Film Board of Canada, für die UNESCO in Paris und war Programmdirektor des Freien Fernsehens, der ersten privaten Fernsehanstalt, die nach ihrem Verbot durch die Adenauer-Regierung quasi durch das ZDF abgelöst wurde. Und noch früher war Borneman nicht nur Jazzliebhaber und -experte, sondern einer der ersten Jazzforscher, ein Kenner des Jazz, der diese Musik zeitlebens als transkulturelle künstlerische Aussage verstand und 1944 mit seinem Artikelreihe “The Anthroprologist Looks at Jazz” eine der ersten übers Anekdotische hinausreichenden Kulturgeschichten des Jazz verfasste.

Borneman schied im Juni 1995 aus dem Leben. Sein Archiv ist in der Berliner Akademie der Künste untergekommen; jetzt hat der Historiker Detlef Siegfried die Biographie des vielfältigen Forschers vorgelegt. Diese hat er klar nach den verschiedenen Feldern gegliedert, in denen Borneman tätig war, überschrieben “Hören. Die Ethnologie des Jazz”, “Sehen. Das Leben auf der Leinwand” und “Berühren. Sex und Gesellschaft”.

Der 1915 in Berlin geborene Ernst Bornemann – wie er bis zu seiner Emigration 1933 hieß – hatte bereits 1930 Bertolt Brecht kennengelernt, als Mitglieder von Berliner Schulchören zu Proben des Lehrstücks Der Jasager geladen worden waren. Er und Brecht freundeten sich an, Brecht half ihm bei der Abfassung seines ersten Theaterstücks und Borneman Brecht bei einer Neuübersetzung des Dreigroschenromans ins Englische. Siegfried, der zu Beginn seines Buchs anschaulich erklärt, wie er sich durch Bornemans eigene “Autofiktionen”, wie er sie nennt arbeiten musste, durch falsche Fährten also, die Borneman aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten seiner Karriere legte, beschreibt Bornemans Exil als “nicht nur Flucht-, sondern auch Möglichkeitsraum”.

In London war Borneman regelmäßig bei Jazzkonzerten anzutreffen, verkehrte außerdem in einem Kreis linker und schwarzer Intellektueller. Bereits Mitte der 1930er Jahre hatte er einen Kriminalroman geschrieben, arbeitete bald auch an einem Drehbuch für einen möglichen eigenen Film, in dem auch der Jazz eine Rolle spielen sollte. Im Sommer 1940 wurde er als “feindlicher Ausländer” interniert, doch bereits zuvor produzierte er seine erste Rundfunksendung. Nach seiner Internierung wurde er nach Kanada deportiert, wo er nach seiner Entlassung beim National Film Board Arbeit fand.

Er knüpfte Kontakt zu Sammlern und Jazzkennern in den USA und sammelte Material für eine mögliche musikwissenschaftliche Dissertation und ein Buch zum Thema “American Negro Folk Music”, das von zwei Verlagen zur Publikation angenommen, dann aber wegen kriegsbedingten Papiermangels nicht gedruckt wurde. In seinen Jazzarbeiten, für die Borneman sich bei dem bekannten Musikethnologen Melville J. Herskovits um ein Stipendium bemühte, ging es, wie Siegfried zusammenfasst, “um zwei Themen: erstens um die Verbindungen von afroamerikanischer Volksmusik und moderner Tanzmusik der Gegenwart, und zweitens um die Verschränkungen von sozialen Verhältnissen und Populärkultur”. 1944 begann Borneman seine achtteilige Artikelserie “The Anthropologist Looks at Jazz”, die in der Zeitschrift The Record Changer erschien, der er bald auch als Mitherausgeber angehörte. Er schlug sich in der Debatte um den Bebop zwar auf die Seite des “authentischen” Jazz, konnte aber der romantischen Rückwärtsgewandtheit vieler der Traditionalisten wenig abgewinnen und versuchte daher immer wieder zwischen den Lagern zu vermitteln.

Mitte der 1940er Jahre lebte er in Paris, interviewte Louis Armstrongs Band anlässlich des ersten Jazzfestivals in Nizza im Jahr 1948, und freundete sich mit amerikanischen Expatriates und französischen Musikern wie Claude Bolling oder Boris Vian an. Er schrieb für den britischen Melody Maker und produzierte 1953 mit Betty Slow Drag einen experimentellen Kurzfilm, der seine beiden großen Interessen Jazz und Film miteinander verbinden sollte. Für den Melody Maker berichtete Borneman auch über den Jazz in Westdeutschland, konnte aber, selbst als Joachim Ernst Berendt versuchte ihn mit zeitgenössischen Musikrichtungen der 1960er Jahre anzufreunden, indem er ihn in ein Konzert John Coltranes mitnahm, mit dem modernen Jazz wenig anfangen.

Siegfried widmet Bornemans langer Auseinandersetzung mit den karibischen Wurzeln des Jazz ein eigenes Unterkapitel und berichtet davon, wie der spätere Beat Club von Radio Bremen auf Bornemans Ideen zurückzuführen gewesen sei. Er zeigt, dass Borneman in seinen Schriften einige Debatten angestoßen hatte, die in der Jazzkritik erst in den 1960er Jahren wirklich ausgetragen wurden, als er selbst an dieser Diskussion nicht mehr selbst teilnahm. Letzen Endes mag Borneman nicht mit allen seiner Thesen Recht gehabt haben, ohne Zweifel aber sei er ein Wegbereiter der internationalen Jazzforschung gewesen.

Der Jazz spielt auch in den weiteren Lebens- und Arbeitsphasen für Borneman eine wichtige Rolle, und Bornemans kritischer Geist, den Siegfried am Beispiel des Jazz ausgiebig beschrieben hat, lässt sich auch in diesen Bereichen zeigen. Detlef Siegfrieds Buch ist dabei ein faktenreicher Band, der biographische Stationen und Diskurse, an denen Borneman beteiligt war, laufend miteinander verschränkt. Ganz sicher war Borneman einer der schillerndsten Vordenker des Jazz; Siegfrieds Schilderung sowohl seines Lebens als auch der Diskussionen, an denen sich Borneman sein Leben lang beteiligte, zeigt ihn aber darüber hinaus als einen vielseitig gebildeten, einfachen Erklärungen zutiefst skeptisch gegenüberstehenden, zur Offenheit des Denkens neigenden Forscher.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Teddy Wilson. 19 Selected Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2015 (Blue Black Jazz)
44,95 Euro

Boogie Woogie, Volume 2. 17 Original Boogie Woogie and Blues Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2014 (Blue Black Jazz)
46,85 Euro
Zu beziehen über www.blueblackjazz.com

Paul Marcorelles hat bereits eine ganze Reihe an Transkriptionen von Pianisten des frühen Jazz vorgelegt, vorzugsweise von Musikern, die im Stride- oder Boogie-Woogie-Stil spielten. Seine jüngsten Veröffentlichungen widmen sich dem Swing-Stil Teddy Wilsons auf der einen und dem Repertoire einiger der Boogie-Woogie-Größen der frühen 1940er Jahre auf der anderen Seite.

2015marcorelles_wilsonFür Teddy Wilson hat Marcorelles sich Soli zwischen 1934 und 1946 ausgesucht, schnelle virtuose Titel wie “Rosetta”, den “Tiger Rag” oder “When You and I Were Young, Maggie” sowie Balladen wie “Don’t Blame Me”, “Out of Nowhere” oder “Body and Soul”. Seine Transkriptionen sind exakt, gut lesbar, reine Notationen ohne weitere Spielanweisungen oder analysierende Harmoniesymbole. Sie sind zum Nachspielen gedacht, brauchen allerdings Pianisten, die zum einen keine Probleme mit den bei Wilson so beliebten Dezimengängen der linken Hand haben und zum zweiten technisch fortgeschritten sind, um die virtuosen Arpeggien und die die Rhythmik aufbrechenden Läufe tatsächlich zum Swingen zu bringen. Wilsons linke Hand allein kann jedem Pianisten helfen, die antreibende Kraft des Swingens zu begreifen. Auch das Studium seiner Voicings lohnt, deren Alterationen den Akkorden zusätzliche Schwebungen verleihen. Wie immer bei Transkriptionen von eigentlich improvisierten Jazzsoli ist es mehr als hilfreich, sich die Soli auf Platte (oder über Streamingdienste) anzuhören.

2015marcorelles_boogieIm zweiten der beiden jüngst veröffentlichten Bände versammelt Marcorelles Transkriptionen von Hersal Thomas (“Hersal’s Blues”), Clarence ‘Pinetop’ Smith (“Pinetop’s Boogie Woogie”), Jimmy Yancey (etwa den “Five O’Clock Blues”), Pete Ammons (z.B. “Rock It Boogie”), Meade Lux Lewis (“Chicago Flyer” und “Glendale Glide”), Albert Ammons (etwa seinen “Swanee River Boogie”), Sammy Price (133rd Street Boogie”) und Pat Flowers (“Eight Mile Boogie”). Die rhythmischen Verschiebungen zwischen Bassfiguren und rechter Hand im Boogie Woogie sind dabei noch weit schwerer zu “lesen” und bedürfen noch stärker des Höreindrucks, um sie danach vom Papier in die Tasten zu übertragen und erlauben im Idealfall – und das wäre es ja eigentlich immer im Jazz – irgendwann das Loslassen und das eigene Erfinden melodischer und rhythmischer Muster, die eigene Improvisation.

Marcorelles’ neue Bände seien jedenfalls jedem interessierten Pianisten empfohlen als Übe- genauso wie Studienmaterial. Marcorelles bietet auf seiner Website übrigens alle insgesamt 202 Transkriptionen dieser wie früher erschienener Bände auch einzeln zum Download als PDF-Datei an

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Hot Music, Ragmentation, and the Bluing of American Literature
von Steven C. Tracy
Tuscaloosa 2015 (The University of Alabama Press)
537 Seiten, 64,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8173-1865-9

2015tracySteven C. Tracy ist Literaturwissenschaftler, Professor für Afro-American Studies, aber auch ein Blues-Harp-Spieler, der bereits in Vorgruppen für B.B. King, Muddy Waters und andere Stars der Szene auftrat. In seinem umfangreichen Buch stellt er die afro-amerikanische Musik der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, also Jazz und Blues, als Referenzpunkt dar, der helfen könne, die amerikanische Literaturgeschichte jener Zeit besser zu verstehen. Es geht ihm dabei nicht einzig um Romane oder Dichtung, die sich konkret und thematisch mit Musik beschäftigen, sondern auch um den Einfluss von Klanglichkeit, von Virtuosität, von improvisatorischer Haltung auf die amerikanische Literatur der Jahre bis 1930. Er greift hierfür immer wieder zurück auf konkrete Aufnahmen, um etwa Beispiele der afro-amerikanischer Stimme, des afro-amerikanischen Rhythmus, der Griot-Funktion des Bluessängers, der Bedeutung von Wiederholungen, der tiefen Doppeldeutigkeit, der politischen Untertöne herauszustreichen, die eben keine rein afro-amerikanischen Untertöne seien, sondern Befunde für den Zustand der gesamten amerikanischen Gesellschaft. Tracy verbindet die Genres, folkloristischen Blues, modernistischen Jazz, um aus dem Mix der Aufnahmen heraus, auf die er sich bezieht, neue Argumente zu entwickeln, die abseits der üblichen Beschreibung von Jazz-, Blues- oder Kulturgeschichte liegen. Er untersucht daneben auch Film- oder klassische Musikgeschichte nach Einflüssen von oder Analogien zu afro-amerikanischer Musik und findet den nachhaltigsten Widerhall außerhalb der Musik schließlich in der Literatur, bei T.S. Eliot, William Carlos Williams, Hart Crane, Gertrude Stein, Ezra Pount, und bei Abbe Niles, Langston Hughes, Countee Cullen, Zora Neale Hurston und anderen Dichtern und Schriftstellern der Harlem Renaissance.

Tracys schnelle Wechsel zwischen den Diskursen sind dabei sowohl inspirierend wie auch, da sie ein häufiges Vor- und Zurückblättern erfordern, zeitweise ermüdend. Sein intertextueller Ansatz ist auf jeden Fall ein Beispiel, wie sich aus dem Studium afro-amerikanischer Musik Aussagen über weit mehr als diese treffen lassen, wie stark tatsächlich diese Musik bereits in den ersten 30 Jahren des 20sten Jahrhunderts ihren Niederschlag im Denken, Handeln und Schreiben gefunden hat.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Friedel Keim
Das große Buch der Trompete (3)
Diskografie, Fotografien, Statistik, Nachträge
Fortsetzung des Trompeter-Lexikons, Band 3
Mainz 2015 [Eigenverlag
554 Seiten, 33,90 Euro
nur direkt zu beziehen über
Friedel Keim, e-mail: ruf.keim@t-online.de

2015keimDer Ur-Maizer Trompeter Friedel Keim hat nach den ersten beiden Auflagen von 2005 und 2009 nun den dritten Band seiner Trompeterbibel vorgelegt, ein sorgfältig recherchiertes Kompendium, das die verschiedensten Seiten des Instruments und seiner Musiker beleuchtet und dessen Spektrum von Klassik über Jazz bis zur volkstümlichen Musik reicht.

Keim kennt dabei keine Berührungsängste. Er versteht es genauso, sich über die Kunst der Barocktrompete auszulassen wie über die Probleme, die viele Jazzer mit der Ästhetik eines Wynton Marsalis haben. Und neben den großen Stars finden auch die Satzbläser wieder Erwähnung oder Musiker der aktuellen Szene.

Der lexikalische Teil von Band 3 enthält biographische Artikel von A wie “Abbott, Goivinda” bis Z wie “Zonshine, Michael”. Neben diesen teils ausführlichen Portraits gibt es Anmerkungen zur Interpretation von Werken aus Klassik, Marschmusik und anderen Genres, darunter auch analytische Anmerkungen und Notenbeispiele aus dem Jazzbereich, etwa eine Transkription des “West End Blues” in der Version von Louis Armstrong und seiner Hot Five von 1928, Dizzy Gillespies “Night in Tunisia”, oder Maynard Fergusons Version von “Body and Soul”. Korrekturen und Ergänzungen zu den beiden ersten Bänden erhalten ein eigenes Kapitel, und wieder gibt es den Block “Wissenswertes rund um die Trompete”, der etwa Informationen über das “Gansch-Horn” gibt oder über das flexibrass-Mundstück, über die Vuvuzela oder über die Trompete auf historischen Briefmarken, über den Trompetenbaum oder diverse Filme, in denen die Trompete im Mittelpunkt steht. Schließlich findet sich noch ein umfassendes Kapitel zu Horst Fischer, jenem legendären deutschen Trompeter, dessen Prolog zu einer Autobiographie Keim abdruckt, außerdem eine alphabetische Auflistung aller ihm bekannter Fischer-Aufnahmen.

Wie bereits in den vorherigen Bänden findet sich auch in Band 3 vieles, was sonst kaum irgendwo erierbar wäre. Friedel Keim weiß um Geburts- und Sterbedaten, berichtet über die Stars, aber eben genauso über die “kleinen” Vertretern des Instruments, über Satzspieler oder junge Musiker, die durchaus auch zwischen den stilistischen Welten leben und arbeiten, über Dixieland- und Swingtrompeter, die eher der Amateur- als der Profiszene angehören, aber dennoch gute Musiker sind, über Musiker von denen man noch nie gehört hat oder aber auch Musiker, die man persönlich kennt, aber nie in einem Lexikon vermutet hätte, weil ihr Arbeitsschwerpunkt doch eher regional begrenzt ist. Keim hat sich ihnen allen angenommen mit einem Vollständigkeitsanspruch, der jede Kritik an der Auswahl im Keim ersticken ließe (man entschuldige das Wortspiel). Und gerade in den Einträgen zu den kleinen Vertretern der Trompete erkennt man einmal mehr die “labor of love” dieses Buches, das zu alledem noch exzellent lesbar ist. Kein kritisches Buch vielleicht, dafür ein verlässliches Nachschlagewerk für jeden, der sich für die Trompete interessiert: eine Trompeterbibel fürwahr!

(Wolfram Knauer, Februar 2016)


 

Mein Onkel Pö
von Holger Jass
Hamburg 2015 (Offline-Verlag)
137 Seiten, 25,55 Euro
ISBN: 978-3-00-051272-8

2015jassEinen ersten Hinweis auf den Inhalt dieses Buchs gibt bereits der Preis: 25,55 Euro, entsprechend einem Cent pro Nacht im legendären Club, wie Holger Jass in der Presseankündigung zum Buch erklärt. Holger Jass hatte das Onkel Pö (Onkel Pö’s Carnegie Hall, wie es damals offiziell hieß) Anfang 1979 vom Vorbesitzer Peter Marxen übernommen, der ihn bei der Übergabe warnte: “Ich muss dich warnen. Pö-Jahre sind wie Hundejahre. Die zählen siebenfach.” Jass hielt es bis Anfang 1986 aus, führte das “Pö” im Sinne seines Kultstatus’ weiter und hat jetzt ein kurzweilig-amüsantes Buch über seine Erlebnisse mit Musikern, Medienmenschen, Kollegen und dem Publikum geschrieben, das ihm die ganzen Jahre über treu blieb, aus dessen Reihen sich aber partout kein Interessent für eine Nachfolge finden ließ.

“Jetzt macht Jass den Jazz im Onkel Pö” titelte das Hamburger Abendblatt, als Jass 1979 übernahm. Sein Buch handelt natürlich auch von Jazz. Er beschreibt, wie Michael Naura, damals Jazzredakteur des NDR viele der Jazzabende mitschnitt, die sich das Pö ansonsten kaum hätte leisten können. Den Flügel im Club hatte kein geringerer als Joachim Kühn ausgesucht und eingeweiht. Ansonsten bevölkern Jazzer wie Freddie Hubbard, Elvin Jones, Pat Metheny, Dexter Gordon die Seiten, aber auch Tom Waits, Charlie Watts, Joe Cocker, Hannes Wader, Truck Stop und natürlich Udo Lindenberg, der dem “Pö” in einem seiner Hits ein Denkmal setzte.

“Bei Onkel Pö spielt ‘ne Rentnerband”, hieß es da, “seit 20 Jahren Dixieland” – aber mit Dixieland ließ sich so ein Schuppen nicht finanzieren, bilanziert Jass trocken … obwohl man das Wort “trocken” selbst bei einer Rezension dieses Buchs nicht in den Mund nehmen sollte, denn trocken ging es ganz sicher nicht zu im Pö. Auch davon handelt das Buch, von den skurrilen Erlebnissen mit den Musikern, vom gesteigerten Alkoholkonsum, vom Pflegen einer Szene und davon, dass man, um Wirt zu sein, ein dickes Fell und viel Humor benötigt. Pineau ist das Zauberwort, jene süßliche Mischung aus Traubenmost und Cognac, die Jass als Allheilmittel vieler Probleme genauso beschreibt wie als Ursache anderer. Seine Anekdoten machen klar, dass man als Wirt und täglicher Konzertveranstalter selbst nicht ganz ohne solche “Medizin” auskommt: ein divenhafter Auftritt Freddie Hubbards etwa oder jener Abend mit Dexter Gordon, den Jass allerdings erst aus drogenbedingtem Tiefschlaf im Hotel um die Ecke wecken musste, den er für seine 57 Jahre als “bös klöterich” beschreibt, der dann aber nach einem dreifachen Whiskey ein denkwürdiges Konzert gegeben habe.

Sehr viel tiefer geht es sicher nicht in seinen Erinnerungen, die er mit viel Augenzwinkern und der humorvollen Abgeklärtheit der zeitlichen Distanz schreibt, und bei denen man schon mal über die eine oder andere schlüpfrige Anekdote hinweglesen muss. Bei all denen, die dabei waren in diesem zwischen Alternativszene und Hochkultur angesiedelten Zauberort in Eppendorf, wird er warme Erinnerungen wecken. Man meint den Fusel wieder zu schmecken und die dicke Luft wieder zu riechen, vor allem aber erinnert man sich an die musikalischen Hochgenüsse, die das Onkel Pö so oft und so viel vermittelte. Für diejenigen, die nicht dabei waren, gibt Jass ein launiges Portrait, einschließlich etlicher Fotos, ein Portrait, das stellenweise einer Filmdokumentation über verwunschene Zeiten ähnelt, bei denen man eigentlich gern dabei gewesen wäre.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Rhythm Is My Beat. Jazz Guitar Great Freddie Green and the Count Basie Sound
von Alfred Green
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
325 Seiten, 75 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4246-3

2015greenCount Basies All American Rhythm Section gilt als die swingendste Rhythmusgruppe des Jazz. Die Art, wie Pianist Basie, Gitarrist Freddie Green, Bassist Walter Page und Schlagzeuger Jo Jones rhythmisch und harmonisch ineinandergriffen, um den vorwärtstreibenden Schwung zu schaffen, der zu ihrem Markenzeichen wurde, besaß so viel an Energie, dass Rhythmusgruppen überall auf der Welt sie zum Vorbild nahmen. Den wichtigsten Anteil an dieser Energie hatte, wie Basie selbst, aber auch zahllose andere Musiker bezeugen, Freddie Green, der dem Count Basie Orchester von 1937 bis zu Basies Tod im Jahr 1983 und der Band noch ein paar Jahre danach bis zu seinem eigenen Tod 1987 angehörte. Von Nichtmusikern wurde Green schon mal dafür bemitleidet, ein ganzes Leben lang nie ein wirkliches Solo gespielt, dafür immer nur “schrumm schrumm” gemacht zu haben, vier Schläge pro Takt, durchgehend vom ersten Akkord bis zum letzten; und doch ist ihm jemand kaum in der Kunst des Rhythmus nahegekommen, den dieser Vierschlag erzeugen konnte.

Jetzt hat Alfred Green, der Sohn des Gitarristen, eine Biographie vorgelegt, die weit mehr ist als die persönliche Erinnerung eines Verwandten. Greens Buch schafft den Spagat zwischen Insiderwissen, persönlicher Betroffenheit und nüchterner Beschreibung der Lebens- und Arbeitswirklichkeit eines Musikers der Bigbandära.

Die Geschichte beginnt in Charleston, South Carolina, wo Freddie Green 1911 geboren wurde, in einer Stadt mit einer überaus lebendigen schwarzen Musikszene. Nachdem er die erste Ukulele gegen ein viersaitiges Banjo ausgetauscht hatte, sammelte er erste musikalische Erfahrungen mit Freunden aus dem Jenkins Orphanage, einem berühmten Waisenhaus in Charleston, aus dem etliche spätere Musiker hervorgingen. Mit einer dieser Bands reiste er die Küste hoch bis nach Maine, wechselte irgendwann vom Banjo zur Gitarre und spielte mit dem Saxophonisten Lonnie Simmons und dem Stride-Pianisten Willie Gant. Als der Impresario John Hammond ihn hörte, empfahl er seinem Schützling Count Basie, sich den Gitarristen für sein Orchester zu sichern. Im Januar 1937 kam es zum Vorspiel erst in kleinem Kreis, dann mit der Bigband, und am 1. Februar begann sein mehr als 45-jähriges Engagement als Motor des Count Basie Orchestra.

Alfred Green erzählt nicht nur die Lebens- und Arbeitsstationen Greens, sondern nähert sich auch seinem Stil, fragt nach Einflüssen, erklärt die Besonderheit des Green’schen Sounds. Der Autor wurde im Februar 1938 geboren, im selben Jahr beendete seine Mutter ihre Beziehung zu seinem Vater, sicher auch, weil der inzwischen eine Romanze mit Billie Holiday begonnen hatte, die für kurze Zeit mit Basie reiste.

Green beschreibt die verschiedenen Besetzungen der Basie-Band der 1930er und 1940er, die Schwierigkeiten des Musikerlebens, und die zunehmenden Probleme der Musikindustrie, die schließlich dazu führten, dass Basie sein Orchester auflöste und kurze Zeit mit einem Sextett – ohne Gitarre – auftrat. Sein Vater nahm die Entscheidung nicht hin und tauchte einfach beim nächsten Gig des Sextetts mit seiner Gitarre auf. “Was machst du denn hier?”, fragte Basie, und Green antwortete, “Was glaubst du wohl? Du hast hier einen Gig, richtig? Ich habe dir die besten Jahre meines Lebens gegeben und du glaubst, mich einfach beiseiteschieben zu können? Keine Chance!”

Während die 1930er- und 1940er-Jahre-Band insbesondere ein Solistenorchester war, wurde der Sound der 1950er Jahre-Band durch ihre Arrangeure geprägt. Alfred Green berichtet, wie Green seinen Platz in den Arrangements fand, wie er sich zu den Schlagzeugern positionierte, und wie er seine Aufgabe immer als die eines Unterstützers der anderen gesehen habe.

Neben den Einsichten in Greens Karriere sind es vor allem die technischeren Kapitel, die im Buch faszinieren. Alfred Green beschreibt etwa die Spannung der Saiten, die besondere Haltung, die Green benutzte, bei der sein Instrument fast auf seinem Schoß lag, spricht über die Tatsache, dass Green kaum je mit nicht-akkordischen Soli zu hören war, über seine wenigen Aufnahmen unter eigenem Namen, über Gigs für andere Bandleader und anderes mehr.

Einem dicken Block mit seltenen Fotos folgen schließlich noch Analysen von Michael Petterson, M.D. Allen und Trevor de Clerq sowie Zitate anderer Gitarristen über Green, schließlich eine ausführliche Diskographie aller seiner Aufnahmen.

Es gibt eine Reihe an Büchern über das Count Basie Orchester, darunter natürlich auch Basies eigene Autobiographie, verfasst mit Hilfe Albert Murrays. Keines dieser Bücher aber bietet einen so persönlichen Einblick in die Band wie das Buch Alfred Greens über seinen Vater. Der Gitarrist Freddie Green war wahrscheinlich der wichtigste Musiker des Basie Orchesters, der nicht nur für den durchgehenden Swing und eine rhythmische Verlässlichkeit stand, sondern der Band auch, was oft übersehen wird, ihren ganz spezifischen Sound verlieh, der sie aus der Menge ihrer Konkurrenten auf dem großen Bigbandmarkt hervorhob. Greens Buch gelingt in diesem Umfeld gleich dreierlei: Er schreibt eine Biographie des Gitarristen Freddie Green, er erzählt Details aus der Bandgeschichte Count Basies (und damit aus dem Alltag der Swingära), und er teilt sehr persönliche Erinnerungen an seinen Vater mit dem Leser.

Ihm gelingt dabei der schwierige Spagat, Beobachter und Sohn zur selben Zeit zu bleiben. Zu Beginn liest sich das alles wie eine interessante, aber eher distanzierte Lebensdarstellung, bis Green aus einem Gespräch zitiert, das er mit seiner Mutter geführt hatte, und bei dem einen schlagartig klar wird, dass der Autor ja Sohn des Objekts seines Berichts ist, dass er mit dem Wissen eines Familienglieds, sicher auch mit eigener Betroffenheit schreibt. Solche Perspektivwechsel gelingen ihm hervorragend, wie man in etlichen bewegenden Passagen erkennen kann. Green verschweigt macht aus seinem Vater nirgends einen Heiligen, sondern stellt ihn als Menschen dar, der nach dem Besten strebte, aber durchaus fehlbar war.

“Rhythm Is My Beat” ist ein sehr empfehlenswertes Buch, über Freddie Green, über Count Basie, über die Swingära und vieles mehr. Alfred Greens Buch gibt einen tieferen Einblick als vieles, was man sonst so liest zu diesem Thema und ist eine spannende Lektüre für Fans, genauso wie für Musiker oder Forscher über diese Musik.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Keith Jarrett. Eine Biographie
von Wolfgang Sandner
Berlin 2015 (rowohlt)
362 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-780-1

2015sandner“Mit freundlichen Künstlern ist die Welt nicht gesegnet”, beginnt Wolfgang Sandner sein Buch, das er mit Wohlwollen des Pianisten angegangen war, bis er mit diesem nach einem Konzert aneinandergerieten sei, weil es Jarrett nicht gefallen habe, dass Sandner sein “Köln Concert” als einen seiner größten Erfolge bezeichnete. “Das Ende eines Dialogs eröffnet jedoch auch eine Chance”, befindet Sandner. In der Folge nämlich habe er sich noch stärker auf die Musik konzentrieren müssen. Das Ergebnis ist ein Buch, das der Musik Jarretts als eines Künstlers gerecht wird, der seine Kraft aus der Improvisation des Jazz zieht, dessen Wirkung aber weit über dieses Genre hinausreicht.

Keith Jarrett wurde am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren, und Sandner sieht diesen Tag, Kriegsende, als symbolträchtig für die Jahrhundertkarriere des Pianisten. Ohne Europa, das durch den Krieg noch mehr für die Qualitäten des Jazz sensibilisiert war, erklärt Sandner, wäre Jarretts Karriere einerseits so nicht möglich gewesen, auf der anderen Seite habe Jarrett immer tief in den Traditionen der amerikanischen Avantgardeästhetik gestanden, in der Tradition auch eigenbrötlerischer Künstler wie Lou Harrison und Alan Hovhaness, deren Werke er Anfang der 1980er Jahre in Europa uraufführte.

Sandner zeichnet die Kindheit Jarretts in Allentown nach, die Erkenntnis seines Talents, das Trauma der Trennung seiner Eltern, dem er mit dem Rückzug in die Musik begegnete, und die musikalischen Bemühungen seiner Brüder. Jarrett spielte mit lokalen Bands, besuchte Workshops, gewann ein Stipendium fürs Berklee College, mit dessen die Musik eher regulierenden als zur Kreativität ermutigendem Lehrplan er allerdings wenig anzufangen wusste. Da war die Schule von Art Blakeys Jazz Messengers schon eine andere, in denen Jarrett ab Herbst 1965 für vier Monate mitwirkte. Von Blakey wechselte er in die Band des Saxophonisten Charles Lloyd, dem er durch dessen Schlagzeuger Jack DeJohnette empfohlen worden war. Lloyds Quartett war “die erste Supergroup des Rockjazz”, und Sandner hört sich sowohl dessen Studio- wie auch die Liveaufnahmen an. 1967 gründete Jarrett sein erstes Trio mit Charlie Haden und Paul Motian, und als ihm Miles Davis 1969 zum wiederholten Mal anbot, in seiner Band mitzuwirken, sagte Jarrett zu, obwohl Miles mit Herbie Hancock und Chick Corea bereits zwei Pianisten in der Band hatte. Bei Miles musste er elektronische Keyboards und Orgel spielen, Instrumente, die ihm eigentlich zuwider waren. Zugleich setzte er sich noch mehr mit Klang auseinander, mit dem Sound der Instrumente, die er zu bedienen hatte genauso wie den Soundmöglichkeiten der Band, die für Miles im Mittelpunkt seiner “musikalischen Großräume, Klangkunstwerke” standen.

Ein eigenes Kapitel widmet Sandner der Partnerschaft zwischen Keith Jarrett und Manfred Eicher, der weit mehr war als ein Labelgründer und Plattenproduzent. Jarrett stand Anfang der 1970er Jahre eigentlich bei ABC unter Vertrag, ihm wurde aber erlaubt, Produktionen mit “ernster Musik” und ähnliche Aufnahmen ohne Gegenleistung anderswo einzuspielen, das könne sein Ansehen schließlich nur steigern. Dass Jarretts Aufnahmen für Eichers Edition of Contemporary Music zum Zugpferd für das Label ECM werden sollten, hatte niemand vorhergesehen. Im November 1971 also ging Jarrett erstmals in Oslo ins Studio und produzierte mit “Facing You” die erste von bis heute 28 Solo-Produktionen für Eicher, ein Album, das sowohl Jarretts Ruf als Solopianist begründete als auch Eichers Ruf als einer der offenohrigsten Produzenten des Jazz. Sandner erklärt, was die Partnerschaft und das Vertrauen der beiden zueinander begründe, die Tatsache etwa, dass Eicher selbst Musiker sei oder dass sein Interesse neben dem Jazz auch anderen Formen von Musik (oder Literatur oder Kunst oder Film) gelte. Eicher, schlussfolgert Sandner auch nach dem Gespräch mit anderen ECM-Künstlern, sei bei vielen seiner Produktionen der “dritte Mann”, auch wenn man ihn weder sehe noch höre.

Es gäbe etliche Musiker und Musikliebhaber, warnt Sandner schon im Vorwort seines Buchs, die meinen, über Musik solle man nicht so viel schreiben, da diese das Wesentliche doch eh in sich berge. Und dann tut er genau das, kongenial, so nämlich, dass seine Zeilen die Musik zwar heraufbeschwört, aber nirgends zu ersetzen trachtet. Über Jarretts Klavierspiel etwa schreibt er, man könne vielleicht die verschiedenen Techniken benennen, die seinen Personalstil ausmachten, komme dabei aber vor allem an einem Charakteristikum nicht vorbei, das Sandner die “Konzentration aufs Wesentliche” nennt und das er in Jarretts musikalischem Ansatz genauso findet wie in seiner Wahl der Mitmusiker oder in der klaren Gliederung seines Repertoires in Standards, eigene Kompositionen und freie Solo-Improvisationen.

An anderer Stelle verfolgt er Jarretts Vervollkommnung der authentisch-eigenen Stimme. Er betrachtet die Aufnahmen seines amerikanischen Quartetts mit Dewey Redman und seines europäischen Quartetts mit Jan Garbarek, beschreibt, was an diesen Aufnahmen so besonders sei, obwohl sie doch weder einen unerhörten Klang hervorbrächten noch eine neue Form oder eine außergewöhnliche ästhetische Haltung. Er nennt Jarrett einen “Solist ohne Grenzen”, verfolgt die unterschiedlichen pianistischen Ansätze, die der Künstler über die Jahre entwickelte. Und Sandner ist wie wenige deutsche Autoren ein Meister darin, Musik mit Worten näher zu kommen. Ein Beispiel: Über Jarretts Album “Staircase” schreibt er: “Alles, was Jarrett in den elf Stücken erklingen lässt, besitzt Körperlichkeit. Es gibt keine flachen Töne, nur runde, eckige, kubusartige, voller Tiefenschärfe. Wenn ein Ton verklingt, wird er nicht nur leiser, er verschwindet wie in einem Tunnel, verliert nicht nur sein Volumen, sondern wird augenscheinlich kleiner.” Er benennt die Beziehungen zwischen Jarretts Aufnahmen an der Barockorgel in Ottobeuren und seiner Suche nach Klangfarben einerseits und ähnlichen Suchen europäischer oder amerikanischer Komponisten andererseits, nicht aber, um daraus Einflüsse abzuleiten, sondern um zu zeigen, dass Jarrett sich da inmitten eines breiten Diskurses befindet, in dem seine eine gewichtige Stimme ist.

Zwischen ausführliche Beschreibungen der diversen Plattenprojekte streut Sandner aber auch Informationen über die Selbstzweifel des Künstlers, über persönliche und geschäftliche Krisen, über Rückenschmerzen und das chronische Erschöpfungssyndrom, dass Jarrett für einige Jahre aus dem Verkehr zog. Er beschreibt, wie all diese außermusikalischen Ereignisse ihren Widerhall in Jarretts Musik fanden. Nach seiner Genesung, fasst Sandner zusammen, sei Jarrett ” praktisch nicht mehr in ein Aufnahmestudio zurückgekehrt. Mit Ausnahme einer Duo-Aufnahme mit Charlie Haden und einer Einspielung von Bach-Sonaten für Violine und Klavier sind alle Aufnahmen danach bei Live-Auftritten entstanden.”

Natürlich nimmt das “Köln Concert” ein wichtiges Kapitel seines Buchs ein. Sandner beschreibt die bekannt widrigen Umstände des Konzerts, Rückenschmerzen, ein schlecht intoniertes Instrument, ein Stutzflügel, den die Bühnenarbeiter statt des eigentlich geplanten Bösendorfer Imperial auf die Bühne gestellt hatten, und er erzählt, wie Jarrett aus all diesen Widrigkeiten über sich herauswuchs, die Beschränkungen des Instruments zu Stärken seiner Aufnahme machte. Das “Köln Concert” wurde zu einem Riesenerfolg bei Kritik und Publikum gleichermaßen, und selbst der Perfektionist Jarrett musste später zugeben, dass die Ideen, “diese Klangfarben und diese Stimmführungen”, die auf der Aufnahme zu hören sind, schon einzigartig waren.

In weiteren Kapiteln seziert Sandner die Herangehensweise Jarretts an die Standards des American Popular Song, die er zusammen mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette ab 1983 einspielte und bald auch bei Konzerten spielte, seine Einspielungen klassischer Musik von Bach bis Lou Harrison, sowie Jarretts eigene Kompositionstätigkeit, die sich keinesfalls in der Komposition von Themen für eigene Improvisationen erschöpfte.

Sandners letztes Kapitel heiß “Einspruch” und ist unter all den lesenswerten Kapiteln dieses Buchs vielleicht das lesenswerteste. Sandner beginnt mit einer Eloge auf den kreativen Schöpfer, auf das Genie Keith Jarrett, um dann die Reaktion hervorzuheben, mit der Jarrett so oft, auf so vieles, reagiert, seine “Manie, etwas abzulehnen”. Der wichtigste Einspruch Jarretts gelte dabei musikalischen Trends, kurzlebigen Moden oder selbsternannten Kanonikern. Sandner findet diese Veto-Haltung auch im Klavierspiel des Meisters selbst, das “allen Regeln der traditionellen Klavierkunst widerspricht und wirkt, als sei das Instrument weniger ein Partner, vielmehr ein Gegner, den man bezwingen müsse, bisweilen mit List und Tücke, bisweilen mit tänzerischem Ablenkungsmanöver, manchmal mit brachialer Gewalt, nicht selten aber, indem man sich den Flügel einverleibt, mit ihm verschmilzt.” Es ist dieses Eins-Sein mit seiner Musik, das Jarrett auch außerhalb der Jazzanhängerschaft Wirkung verschafft hat. Henry Miller schrieb ihm einen Brief, nachdem er das “Köln Concert” gehört hatte, Sergiu Celibidache und Marcel Reich-Ranicki zeigten sich begeistert. Sandner argumentiert aber auch, dass diese Verweigerungshaltung neben seinen künstlerischen Entscheidungen auch Jarretts problematisches Bühnenverhalten beeinflusst habe, seine gelegentlichen Publikumsbeschimpfungen, die, wie Sandner schreibt, fast schon zum Ritual geworden seien, das Voyeure unter den Hörern erwarten oder gar herausfordern.

Wolfgang Sandners Buch gelingt es, der Musik Keith Jarretts nahe zu kommen, gerade, weil er sich, wie er im Vorwort erklärt, mit dem Künstler entzweit hat. Sandner besitzt den Überblick nicht nur über Jarretts Schaffen und nicht nur über die Jazzgeschichte, aus der heraus Jarretts Kunst kommt, sondern über die gesamte Kulturgeschichte, in die hinein Jarretts Musik wirkt. Es gelingt ihm, die verschiedenen Positionen zu definieren, die sich in der Musik und ihrer Rezeption widerspiegeln: die musikalische, ästhetische und wirtschaftliche Position Jarretts zu verschiedenen Zeiten, die Position der Labels, der Agenten, der Produzenten, die Position Manfred Eichers, die Position der Kritiker und des Publikums, und nicht zuletzt auch seine eigene Position, die Position Wolfgang Sandners. Dass er aus eigener Begeisterung heraus schreibt, lässt er nicht unerwähnt. Er bezeichnet Jarrett wiederholt als “Genie”, nennt ihn den größten Musiker, der je aus Allentown kam. Doch dient diese eigene Positionsbestimmung letztlich auch dem Vertrauen, das wir als Leser in Sandners Wertung der Musik haben können. Er lässt uns klar wissen, wo er als Autor steht, und so können wir viel leichter unsere eigene Position beziehen, überdenken, revidieren. Wolfgang Sandner ordnet Jarretts Aufnahmen dabei nicht nur in Jazz-, Musik- und Kulturgeschichte ein, er verleitet zum neuen, zum tieferen Hören, und er ermöglicht ein Verständnis – im besten Sinne des Wortes – über die Grenzen des emotionalen Hörens hinaus.

Wolfram Knauer (Dezember 2015)

Nachtrag Februar 2021:

Keith Jarrett. A Biography
by Wolfgang Sandner, translated by Chris Jarrett
Sheffield 2020 (Equinox)
215 Seiten. 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-800500129

Sandners Jarrett-Biographie ist inzwischen auf Englisch erschienen, übersetzt von keinem Geringerem als Jarretts Bruder, dem in Deutschland lebenden Pianisten Chris Jarrett. Für die englische Ausgabe hat Sandner seinen früheren Text erweitert und aktualisiert, hat neuere Aufnahmen und neue Veröffentlichungen aus früheren Jahren berücksichtigt und neue Erkenntnisse über Jarretts familiären Background geteilt. Mit dem Abschied Jarretts von der Bühne im vergangenen Oktober scheint auch seine Karriere abgeschlossen. Sandners Buch vertieft das Wissen und ermuntert zum Nachhören – jetzt vielleicht etwas wehmütiger als bei der ersten (deutschen) Lektüre vor sechs Jahren.


 

Als der Jazz nach Kassel kam. Streifzüge durch die Szene der ersten Nachkriegsjahre
von Ulrich Riedler
Berlin 2015 (B&S Siebenhaar Verlag)
104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN: 978-3-943132-39-7

2015riedlerDie großen Jazzmetropolen – Berlin, Hamburg, Köln, München – sind weitgehend dokumentiert. Auch für kleinere Städte haben sich Historiker und Hobbyhistoriker der Aufbereitung der Jazzgeschichte angenommen. Das kann schon mal seltsam wirken, wenn Provinzzentren wie der Mittelpunkt der Welt erscheinen, wo sie doch meist nur Durchgangsstationen für aufstrebende spätere oder etablierte, sich auf Tournee befindende Jazzstars waren. Tatsächlich aber sind regionalen Szenen bis heute wichtige Brutstätten künstlerischer Ideen, auch wenn viele der Musiker, die hier ihre Anfänge nehmen, irgendwann in die großen Zentren abwandern, in Städte mit bedeutenden Hochschulen etwa oder in solche mit einer lebendigen, großen Jazzszene.

Das nordhessische Kassel, in der Mitte der Republik, und doch kulturell vor allem durch die Brüder Grimm und die documenta bekannt, besitzt bis heute eine lebendige Szene, verschiedene Spielorte für Jazz und improvisierte Musik, und ein langjähriges Festival. Die alle fünf Jahre stattfindende documenta bringt es mit sich, dass die Bürger der Stadt sich sehr bewusst mit ästhetischen Diskursen der Avantgarde auseinandersetzen.

Der Journalist und Jazzfan Ulrich Riedler hat sich in seinem Buch auf die Suche nach den Anfängen des Jazz in der nordhessischen Stadt gemacht und diese im Frühjahr 1940 entdeckt, als sich junge Jazzfreunde im Gasthaus “Ledderhose” trafen, wo sie gemeinsam die neuesten Platten hörten. Irgendwann rückte die Gestapo ihnen auf den Leib, nahm die Jungs mitsamt ihrer Schellackschätze mit und unterzog sie einer gründlichen Befragung. Die Jazzfans wurden bald wieder entlassen, und einer von ihnen kann Riedler nicht nur von damals berichten, sondern ihm sogar noch die kurzfristig konfiszierten Platten zeigen. Die “Ledderhose” blieb auch nach dem Krieg ein Jazztreffpunkt, in dem die Mitglieder zu Platten tanzten, ab und zu aber auch selbst zum Instrument griffen.

Die 1950er Jahre dokumentiert ein Gespräch mit dem späteren Spiegel-Redakteur Alfred Nemeczek, von dem Riedler außerdem einen Bericht über das Jazzkontor Kassel aus dem Jahr 1959 andruckt, den Versuch, in Nordhessen einen Liveclub nach Vorbild des Frankfurter Jazzkellers zu etablieren. In den 1950er Jahren begannen die ersten amerikanischen Stars Deutschland zu erobern. Kassel erlebte Konzerte von Duke Ellington, Louis Armstrong, Lionel Hampton oder der Jam-Session-Truppe Jazz at the Philharmonic mit Ella Fitzgerald und vielen anderen.

Einer der Stammgäste der Kasseler Jazzszene war damals der Trompeter Manfred Schoof, der zwei Jahre an der Kasseler Musikakademie studierte, bevor er nach Köln weiterzog. Riedler spricht mit ihm über die Jazzszene jener Zeit, über Musiker und Musikerlegenden der Region, unter anderem den Tenorsaxophonisten Werner Apel, den, wie man sich erzählt, sogar Duke Ellington verpflichten wollte, weil er ihn bei einer Jam Session so beeindruckt habe, und natürlich auch über die GI-Clubs, in denen Schoof die amerikanische Kultur erst richtig kennenlernte.

Die Amerikaner waren im Stadtteil Rothwesten in Fuldatal stationiert und engagierten über die Special Service Agencies jede Menge deutscher Musiker für die Unterhaltung in den verschiedenen Clubs. Riedler blickt auf Orte, aufs Repertoire, auf das Jazzprogramm des örtlichen Amerika-Hauses, beschreibt aber auch andere Veranstaltungsorte der Stadt, deren Programm großteils von Vereinen organisiert, zum Teil auch von der Stadt unterstützt wurde. Er erzählt, wie Arnold Bode, der Vater der documenta, von der Band des Vibraphonisten und Gitarristen Fritz Bönsel so angetan war, dass er im Landesmuseum ein Konzert veranstaltete, das den Jazz endgültig in der Stadt etablierte.

Die Jazzszene jener Jahre beinhaltete traditionelle genauso wie moderne Stile, und so beschreibt auf der einen Seite die Dixieland-Szene der 1950er und 1960er Jahre mit ihren Riverboatshuffles und dem musikalischen Versuch, dem Original so nah wie möglich zu kommen, auf der anderen Seite aber auch, wie andere Musiker, Schoof und Gunter Hampel unter ihnen, dem modernen Jazz in Kassel zu Gehör verhalfen. Und schließlich spricht er mit dem Pianisten Joe Pentzlin, dessen Trio quasi die Hausband des Jazzclubs in der Orangerie gewesen war.

In einem abschließenden Kapitel schlägt Riedler einen knappen Bogen in die Regenwart, zu Musikern wie Matthias Schubert und Ernst Bier, die entweder aus Kassel stammen oder aber hier über längere Zeit Station machten und die Szene der Stadt mitprägten.

Riedlers Buch ist nicht als historische Dokumentation gedacht, denn vielmehr als eine flüssig zu lesende Erinnerung an die 1940er bis 1960er Jahre, ein liebevoll bebildeter Band über die Jazzszene in der deutschen Provinz, die – ähnlich wie die Szenen vieler anderer Städte mittlerer Größe – überaus lebendig war. Die Lektüre macht dem Leser deutlich, dass der Diskurs über den Jazz als aktuelle Kunstform nicht nur in den Metropolen stattfindet.

Wolfram Knauer (November 2015)


 

Music Wars 1937-1945. Propaganda, Götterfunken, Swing. Musik im Zweiten Weltkrieg
von Patrick Bade
Hamburg 2015 (Laika Verlag)
511 Seiten, 34 Euro
ISBN: 978-3-944233-41-3

Sounds of War. Music in the United States during World War II
von Annegret Fauser
New York 2013 (Oxford University Press)
366 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-994803-1

Victory Through Harmony. The BBC and Popular Music in World War II
von Christina L. Baade
New York 2012 (Oxford University Press)
275 Seiten, 31,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-537201-4

2013fauser Musik war immer schon kriegswichtig. Ob zum Anfeuern der Truppen im Marschrhythmus, ob zum Mobilmachen der Bevölkerung durch patriotische Hymnen, ob als Beruhigung und Selbstbestätigung, ob als Instrument der psychologischen Kriegsführung oder sogar als Foltermethode: Krieg ist ohne Musik – so seltsam diese Idee auch scheinen mag – kaum vorstellbar.

Drei kürzlich erschienene Bücher untersuchen die Rolle der Musik im Zweiten Weltkrieg. Der britische Historiker Patrick Bade berichtet über die verschiedenen musikalischen Strategien und Funktionen direkt vor Ort, in den Gebieten, in denen der Krieg tobte oder die am Krieg beteiligt waren, Frankreich, Deutschland, den USA, Russland, Großbritannien, dem nördlichen Afrika und dem Mittleren Osten. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Annegret Fauser beschränkt sich in ihrem Buch auf die klassische Musikszene in den Vereinigten Staaten. Die britische Musikhistorikerin Christina Baade schließlich untersucht, wie der BBC in den Kriegsjahren auf Jazz, Tanz- und Popmusik gesetzt habe, um die Moral der gesamten britischen Öffentlichkeit in den Kriegstagen zu stärken. Baades Studie gibt dabei einen Einblick in Programmentscheidungen eines öffentlichen Rundfunksenders und thematisiert, inwieweit die Öffnung des Senders für Jazz und amerikanische Popmusik auf Widerstände gestoßen sei. Fausers Fokus liegt auf der “concert music”, also der klassischen Musik, und im Umschlagtext heißt es, dass Dinah Shore, Duke Ellington und die Andrews Sisters vielleicht die Zivilisten zuhause und die Soldaten in Übersee unterhalten hätten, es tatsächlich aber vor allem die klassische Musik gewesen sei, die die Menschen für die Kriegsanstrengungen mobilisiert habe. Patrick Bade schließlich wagt den Rundumschlag, lässt also auch die sogenannte leichte Muse, Swing und Jazz, nicht aus. Während er dabei neben dem klassischen Repertoire und dem Swing auch einen Blick auf die Funktion von Radio, Film und Plattenindustrie wirft, außerdem in einem langen Kapitel Kriegslieder aus unterschiedlichen Ländern ins Visier nimmt, finden man in Fausers Buch Informationen über Musiker in der Armee, Auftragskompositionen für den Kriegseinsatz, ein Kapitel über Musik als Beruhigung der Bevölkerung und als Therapie für traumatisierte Soldaten sowie eines über die vielen Exilkomponisten, die durch den Krieg in den USA strandeten. Christina Baade schließlich diskutiert in ihrem Buch auch das Thema von Tanzmusik und Maskulinität, die Sorge um den Erfolg der amerikanische Popmusik und die Verdrängung eigener Traditionen, und die Bedeutung von Rundfunkprogrammen, in denen afro-amerikanische Musik in den Mittelpunkt gestellt wurden, für schwarze britische Musiker. Bei allen drei Autor/innen finden sich Diskussionen der Zuschreibung moralischer Qualitäten zur Musik, der Grundlage letzten Endes dessen, was in den USA später zur “cultural diplomacy”, zur Kulturdiplomatie werden sollte.

2012baadeFür Christina Baades Argumentationslinie spielt der Jazz eine zentrale Rolle; ihr Buch erlaubt dabei Rückschlüsse auf Entwicklungen des Nachkriegsjazz in Großbritannien, einschließlich der Hinwendung vieler junger Musiker insbesondere zu traditionellen Jazzstilen. Patrick Bade hat neben einem Kapitel über Jazz und Swing im Dritten Reich, in dem er auch auf das Phänomen der Propagandaband Charlie and His Orchestra eingeht, ein eigenes Kapitel über Musik im Feldlager, im Gefangenenlager und im Konzentrationslager. Fauser wiederum diskutiert in ihrem Buch ausführlich musikalischen Ausdruck von Nationalismus, etwa in Werken von Aaron Copland und Roy Harris.

Patrick Bade gibt am Schluss seines Buchs einen Ausblick auf die Nachwirkungen, erzählt etwa, dass Wagner im Bayreuther Festspielhaus kurzzeitig Cole Porter weichen musste, berichtet, wie Sänger/innen und Musiker/innen nach dem Krieg mit ihrer Karriere im Dritten Reich konfrontiert wurden oder diese sehr bewusst aus ihrer Biographie ausblendeten. Er endet mit dem kurzen Hinweis auf Werke, die sich bis ins 21ste Jahrhundert hinein mit den Gräueltaten des Kriegs auseinandersetzen. Christina Baades Buch endet mit der Ankunft der amerikanischen Truppen im August 1944 und der Entscheidungen des BBC, die auch die amerikanischen GIs mit ihrem Programm unterhalten wollte. In der Folge kam es zu einer Diskussion der Vermischung musikalischer Werte in der populären und Tanzmusik, über “Britishness” oder “Pseudo-American”. Ihr Buch verweist zwischen den Zeilen immer wieder, etwa Kapiteln über das vom Rundfunk mitgeprägte Bild der Frau oder im Versuch, die Ausstrahlung von Musik männlicher übersentimentaler Schlagersänger im Rundfunk zu unterbinden, auf Diskurse, die auch nach dem Krieg weitergingen und auf die letzten Endes BBC-Programmentscheidungen großen Einfluss hatten. Bei Fauser geht der Blick in die Nachkriegszeit über John Cage, dessen experimentelle Ideen sie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren verortet. Sie verweist darauf, dass Cage und seine Zeitgenossen ihre Lehren aus den Erfahrungen des Kriegs gezogen hätten, sich nach Ende des Kriegs von ihren nationalistischen Kompositionen distanziert oder aber diese in neue Werke integriert hätten.

2015badeZusammengefasst bietet Patrick Bade im breiteren Ansatz seines Buchs eine Art Rundumschlag über das Thema. Christina Baade wirft Licht auf die Verflechtungen zwischen Musik, Musikindustrie, öffentlicher Meinung und Publikumsgeschmack. Fausers Studie schließlich hätte von einer Erweiterung ihres Schwerpunkts vielleicht profitiert. Fauser begründet ihren eingeschränkten Blick im Vorwort damit, dass die Jazz- und Popmusikszene jener Jahre ja schon ausgiebig genug untersucht worden sei, während Forschungen zur klassischen Musik im Krieg weitgehend fehlten, vergibt sich damit aber die Chance einer differenzierten Darstellung, was vielleicht – nehmen wir einmal an, dass der Einband-Text vom Verlag und nicht von ihr stammte –, eine wertende Aussage wie die, dass Jazz und Popmusik die Bürger zuhause und die GIs in Übersee vielleicht unterhalten hätten, es aber die klassische Musik gewesen sei, die den wirklichen Unterschied gemacht habe, verhindert hätte.

Von solchen Anmerkungen abgesehen, haben alle drei Bücher ihre Meriten. Sie helfen bei der Kontextualisierung von Musikgeschichte in der späten ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, die letzten Endes Auswirkungen auch darauf hatte, wie Musik heute klingt und wie wir sie wahrnehmen.

Wolfram Knauer (Oktober 2015)


 

 

Giving Birth to Sound. Women in Creative Music
herausgegeben von Renate Da Rin & William Parker
Köln 2015 (Buddy’s Knife)
294 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-00-049279-2

2015darinVielleicht müsste am Anfang dieser Rezension erklärt werden, welchen Weg die Bücher durchlaufen, die im Jazzinstitut Darmstadt anlangen. Bevor wir uns die Bücher aussuchen, die wir rezensieren wollen, erfassen wir sie in unserem Jazz Index, einer computergestützten bibliographischen Datenbank, die von Forschern und Journalisten (und Fans) aus aller Welt genutzt wird. Das heißt, wir gehen das Buch von vorn bis hinten durch, ordnen jedes einzelne Kapitel einem Stichwort oder einem Musikernamen zu, tragen biographische Notizen wie etwa Geburtstag oder Geburtsort, nach, sofern sie in unserer Datenbank noch fehlen. Erst dann machen wir uns ans Lesen.

Aber schon bei diesem ersten Schritt des Erfassens fiel einiges auf beim Buch “Giving Birth to Sound”. Etliche der darin befragten Musikerinnen waren nämlich noch gar nicht in unserer Datenbank erfasst oder aber nur mit relativ kurzen bibliographischen Listen. Über sie wurde in der Jazzpresse bislang also nur wenig berichtet. Nun ja, mag man meinen, das hat sicher auch damit zu tun, dass Frauen ja so richtig erst in den letzten Jahren ins Rampenlicht des Jazz getreten sind. Weit gefehlt aber, und das war die zweite Überraschung: Viele Musikerinnen, die im Buch zu Worte kommen, gehören nämlich gar nicht der jungen (sagen wir: unter 40-jährigen) Generation an, sondern sind weit länger auf der Szene unterwegs. Die Gründe für ihre Unsichtbarkeit in der Jazzpresse mögen also doch woanders liegen.

Eine dritte Erkenntnis, die sich beim Durchblättern schnell ergibt, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Jede der Musikerinnen hat einen völlig anderen Zugang zum Thema. Mal analytisch, mal diskursiv, mal ausweichend, mal ablehnend, mal nüchtern gefasst, mal poetisch überhöht, mal kämpferisch, mal verteidigend. Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich schon in den Überschriften der Kapitel, die Renata Da Rin und William Parker aus der Frage “Was bedeutet Musik für Dich” abgeleitet hat. “Jeder Sound und jede Stille”, antwortet Renée Baker; “die Gründe für mein Leben”, sagt Amy Fraser; “ein abstrakter Ort, um das Leben zu teilen und zu fühlen”, meint Marilyn Mazur; “ein Lager der Erinnerungen”, findet Shelley Hirsch, “Leben, Magie, Geist”, beschreibt Maggie Nicols, oder aber, so Erika Stucky, “serious fun – a ‘Schnaps'”.

Oder aber die Einleitung: Nach dem Vorwort von Amina Claudine Myers haben die Herausgeber eine Anzahl von Reaktionen auf den Buchtitel zusammengefasst. “Giving Birth to Sound”? Schrecklicher Titel: Frauen wurden schließlich immer wieder aufs Gebären reduziert, meint eine der Gesprächspartnerinnen, während eine andere findet, der Titel passe, sei auch angenehm mehrdeutig. Naja, und bei allen Bedenken spräche der Titel ja auch vom Schaffen von etwas Neuem. Blödsinn, widerspricht eine weitere Stimme, Gebären sei doch eine passive, rein physische Tätigkeit, jede Kuh könne das. Musik zu erschaffen sei dagegen ein aktiver intellektueller Prozess und damit das exakte Gegenteil.

Das Konzept des Buchs: Ohne weitere Vorgaben schickten die Herausgeber den 48 Musikerinnen 20 Fragen, die vom Faktischen zum Nachdenken über den Prozess des Kreativen gehen, sich dabei immer wieder danach erkundigen, inwieweit das eigene Geschlecht bei musikalischen, ästhetischen oder beruflichen Entscheidungen eine Rolle gespielt habe. Tatsächlich sind nur sechs der Fragen konkret aufs Frau-Sein der Musikerinnen abgezielt: Wie hast Du deine Kreativität als kleines Mädchen ausgelebt? Wie hat die Tatsache, dass Du eine Frau bist, die Entwicklung Deiner musikalischen Karriere behindert? Wie siehst Du Deine Position als Frau in der Musikszene? Hat diese Position Dein Verhältnis zum Sound beeinflusst? Siehst oder spürst Du einen Unterschied im weiblichen und im männlichen Ansatz an Kreativität? Was würdest Du anderen / jungen Frauen empfehlen, die sich bemühen ein kreatives Leben zu führen?

Die Antworten auf diese und allgemeiner gehaltene Fragen fallen so unterschiedlich aus wie die Lebenswege der 48 Interviewten. Es macht nun mal einen Unterschied, ob man Ende der 1970er Jahre in Dänemark zum Jazz kommt wie Lotte Anker oder 1941 in Oklahoma wie Jay Clayton. Haben Männer und Frauen einen anderen kreativen Approach?, fragen die Herausgeber. “NEIN!” ruft Jay Clayton, in Großbuchstaben, keine weitere Diskussion duldend, während Marilyn Mazur einwirft, Frauen würden vielleicht weniger in Wettstreit treten, mehr ans Ganze und Kollektive denken. “Nein, ich sehe da keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen”, findet wiederum Amy X. Neuberg, um gleich anzuschließen, “das heißt aber nicht, dass es keine gäbe.” Klar gibt es einen Unterschied”, erklärt Kali Z. Fasteau, etwa, dass Männer in hierarchischen Systemen besser funktionierten als Frauen. Andererseits, urteilt Nicole Johänntgen, sei diese Frage ziemlich schwer zu beantworten, weil es nun mal so sehr viel mehr Männer als Frauen auf der Szene gäbe.

Nicole Mitchell beantwortet ihre Fragen in poetischen Erinnerungen und Reflexionen über schwarze Musik, den langen Atem der Bürgerrechtsbewegung und ihren eigenen Weg. Maggie Nicols auf der anderen Seite streicht heraus, dass ihre Musik immer sowohl politische wie auch spirituelle Untertöne besessen habe. Ob sie einen Preis bezahlt habe dafür, dass sie Musik mache, fragen die Herausgeber, und Angelika Niescier findet: Im Gegenteil, sie habe daraus sehr viel für sich gewonnen. Musikerin zu werden, sei nun mal eine Lebensentscheidung, finden auch viele ihrer Kolleginnen, niemand zwinge einen schließlich diesen Weg einzuschlagen.

Die weibliche Kreativität erlaube mehr “Raum”, meint Fay Victor, und zwar “sowohl mehr Raum im Sinn von Zeit und Raum wie auch mehr Raum für die Akzeptanz von Fehlern und Intuition”. Klar habe die Tatsache, dass sie eine Frau sei, ihr Verhältnis zum Sound beeinflusst, erklärt Joëlle Léandre. Frauen seien nun mal anders, sie hätten die Fähigkeit zur Distanz, die in diesem Geschäft wichtig sei, außerdem könne man mit ihnen viel besser lachen.

Sie sehen in dieser springend-vergleichenden Zusammenfassung einzelner Antworten bereits, wie ungemein gewinnbringend sich dieses Buch lesen lässt, wenn man blättert, Themen identifiziert, die die Herausgeber durch ihre Fragen ja nicht festgeklopft, sondern nur angestoßen haben, um dann zu sehen, welchen Kontext die verschiedenen Antworten beleuchten. Man erlebt die ja unabhängig voneinander befragten Musikerinnen bald wie in einer respekt- und kraftvollen Diskussion neugieriger, andere Meinungen (meistens) zulassender, vor allem aber ungemein selbstbewusster Musikerinnen.

Das Fazit des Buchs wusste man vielleicht schon vor der Lektüre: Eine einzelne Antwort auf die Frage nach dem kreativen Unterschied nämlich gibt es nicht. Der künstlerische Ansatz zwischen Männern und Frauen ist genauso unterschiedlich wie jener zwischen Männern und Männern oder zwischen Frauen und Frauen. Es gibt jedoch, und das wird in diesem Buch sehr deutlich, ein anderes Diskursverhalten, eine klare Selbstwahrnehmung der Rolle, in die man gesellschaftlich gedrängt wurde.

Unbedingt lesenswert also, ob von Buchdeckel zu Buchdeckel oder im laufenden Vor- und Zurückblättern. “Giving Birth to Sound” erklärt dem interessierten Leser nämlich in der persönlichen Selbstbefragung der Protagonistinnen und oft auch zwischen den Zeilen weit mehr über die Thematik, als man es etwa von wissenschaftlichen Studien erwarten dürfte.

[Naja, wir empfehlen dennoch den Besuch unseres Darmstädter Jazzforums zum Thema “Gender and Identity in Jazz” vom 1.-3. Oktober 2015 oder die spätere Lektüre unserer Beiträge zur Jazzforschung mit den referaten dieser Konferenz. Aber das ist natürlich nur Eigenwerbung…]

Wolfram Knauer (September 2015)


 

Beyond Jazz. Plink, Plonk & Scratch. The Golden Age of Free Music in London 1966-1972
von Trevor Barre
London 2015 (Compass Publishing)
330 Seiten, 12,99 Britische Pfund
ISBN 978-1-907308-84-0
Zu bestellen über trevorbarre@aol.com

Ekkehard Jost hat die Jahre zwischen 1960 und 1980 als eine Zeit beschrieben, in der Europas Jazz zu sich selbst fand, in der Musiker sich von ihren amerikanischen Vorbildern lösten und eigene Wege gingen. Einige dieser Wege führten fort vom, gingen also “beyond jazz”, und diese Entwicklung will Trevor Barre in seinem Buch mit demselben Titel nachzeichnen. Der Gitarrist Derek Bailey forderte eine Improvisation, die sich aus den idiomatischen Bezügen befreien, und auch andere Musiker begannen statt des Begriffs “Free Jazz” von “improvised music” zu sprechen. Barre interessiert, wie es überhaupt dazu kam, dass eine solch sperrige und alles andere als publikumsfreundliche Musik entstehen konnte und warum sie nicht angesichts ihres kommerziellen Misserfolgs einfach nach ein paar Jahren ausstarb. In seinem Fokus steht dabei die erste Generation der freien Improvisatoren, also Musiker wie Evan Parker, Derek Bailey, John Stevens, Kenny Wheeler, Barry Guy, Dave Holland, Trevor Watts, Tony Oxley, Paul Rutherford, Howard Riley, Eddie Prévost, Keith Rowe, Gavin Bryars und Cornelius Cardew.

Barre beginnt mit einer Definition seines Themas: Wo die meisten Jazzbücher den Jazz durch seine improvisatorischen Parameter beschreiben würden, sei Free Music, schreibt er, einzig durch den improvisatorischen Gehalt definiert. Er stellt unterschiedliche Formen freier Improvisation vor, solche, die näher am Jazz bleiben und solche, die eher der europäischen Avantgardetradition verpflichtet scheinen. Die beiden Hauptensembles seines Buchs sind das Spontaneous Music Ensemble und die Gruppe AMM. Barre ordnet deren Auftritte in die Jugend- und Protestkultur der 1960er Jahre ein und schildert, wie die globalen Entwicklungen von Pop, Rock und Folk jungen Musikern ein völlig neues Vokabularium an die Hand gab, sie auch zu neuen Herangehensweisen zwischen tiefer Ernsthaftigkeit und unbändigem Humor bewegten. Er beschreibt auch, welchen Platz sie in die Bandbreite des britischen Jazz jener Jahre zwischen Dixieland und Free Jazz hatten.

Barre zeichnet den Weg einzelner Protagonisten zur freien Improvisation nach, schildert insbesondere die Bedeutung des Little Theatre Club, in dem die jungen Musiker mit Kollegen auch aus dem europäischen Ausland experimentieren konnten. Er beschreibt, wie sie nach und nach merkten, dass es außer dem afro-amerikanischen Jazz auch anderes gab, dass beispielsweise südafrikanische Musiker um Chris McGregor dieser Musik eine neue Farbe geben konnten und dass sich Freiheit, wie sie der Free Jazz implizierte, auch ganz mit anderen Mitteln umsetzen ließ. Er diskutiert wichtige Aufnahmen der Zeit, wobei ihn vor allem die interaktiven Prozesse interessieren, die ästhetischen Diskurse, die sich aus der Improvisation der Aufnahmen ergaben. Das alles beleuchtet er anhand von zeitgenössischen genauso wie selbst geführten Interviews mit beteiligten Musikern. Das Spontaneous Music Ensemble und AMM nehmen zwei der umfangreichsten Kapitel ein, in denen Barre neben dein Einflüssen und den ästhetischen Diskussionen auch über Nachwirkungen schreibt, bewusste oder unbewusste Reaktionen auf die Klangexperimente in weit jüngerer Musik, der 1980er, 1990er Jahre und danach. Er betrachtet den Einfluss der Technologie, schaut auch auf die Bedeutung der visuellen Covergestaltung oder der Plattentexte. Das Label Incus nimmt ein eigenes Kapitel ein, wie FMP in Deutschland oder ICP in Holland ein von Musikern gegründetes Label, das Musik seiner Mitglieder nicht so sehr vermarkten als vielmehr dokumentieren wollte. Improvisation ist schließlich weit mehr als komponierte Musik auf das Medium der Tonaufzeichnung angewiesen – sonst verklingt sie.

In seinem Schlusskapitel betrachtet Barre kurz die “zweite Generation” der Free Music in London um das London Musicians’ Collective sowie eine “dritte Generation” um John Edwards, John Butcher und andere und setzt beide Entwicklungen mit jenem von ihm als “erste Generation” betrachteten Grundthema seines Buchs in Beziehung. Im Nachwort schließlich verfolgt er die Aktivitäten seiner Protagonisten bis in die Gegenwart.

Trevor Barres Buch ordnet die Entwicklung der Free Music der späten 1960er, frühen 1970er Jahre in die kulturelle Szene des “Swinging London” ein. Ihm gelingt dabei vor allem der Blick auf sich wandelnde ästhetische Ideale und eine Begründung derselben aus gesellschaftlichen und politischen Diskussionen heraus. Der Musik selbst kommt er vor allem in Interviews mit den beteiligten Musikern nahe. Die inhaltliche wie organisatorische Unabhängigkeit der britischen Improvisationsszene jener Jahre hat Auswirkungen bis heute. Initiativen wir F-Ire Collective wären ohne das Vordenken und Vormachen der hier beschriebenen Musiker und Gruppen nicht möglich gewesen. Von daher füllt Barres Buch eine Lücke. Dass er bestimmte Themen weitgehend außer Acht lässt – die Auseinandersetzung dieser Szene mit ihrem Publikum beispielsweise oder mit den Mainstream-Medien, der tatsächliche Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Szenen oder die Reaktion amerikanischer Musiker, zeigt nur, wie viele Perspektiven das Thema tatsächlich hat, die bislang kaum beleuchtet wurden. Barre jedenfalls stößt mit “Beyond Jazz” die Tür zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der musikalischen Freiheitsbewegung jener Zeit weit auf.

Wolfram Knauer (August 2015)


 

Little Satchmo. Living in the Shadow of my Father, Louis Daniel Armstrong
von Sharon Preston-Folta (mit Denene Millner)
Charleston/SC 2015 (self published)
112 Seiten, 12 US-Dollar
ISBN: 978-1-481227-23-7
Zu beziehen über www.littlesatchmo.com

2015prestonfoltaDie offizielle Version lautet: Louis Armstrong hatte nie Kinder. Er hätte immer gern welche gehabt, sagte seine letzte Frau und Witwe, Lucille Armstrong, aber er sei zeugungsunfähig gewesen. Nun kommt, 34 Jahre nach Satchmos Tod, Sharon Preston-Folta mit einem Buch heraus, in dem sie kundtut, sie sei die Tochter Louis Armstrongs aus einer außerehelichen Beziehung, die Satchmo in den 1950er Jahren hatte.

Ihr Leben lang habe sie diese Wahrheit herunterschlucken müssen. Sie wolle kein Geld, keinen Ruhm, aber immer selbst auf das öffentliche Wissen um ihren Vater verzichten zu müssen, sei einfach zu viel. In ihren Recherchen habe sie nur einen einzigen schriftlichen Hinweis auf Satchmos Vaterschaft gefunden, einen Brief des Trompeter an seinen Manager, Joe Glaser, aus dem Jahr 1955, in dem er diesen bat, vor der Ankunft seiner Frau Lucille in Las Vegas ein paar Geschäftsdinge zu klären, darunter Zahlungen an eine Freundin, von der er glaubt, dass sie ein Kind von ihm habe. Ihre Mutter habe sie immer beschworen, ihren Vater geheim zu halten, und so habe sie letzten Endes gehorcht und damit auch keine Ansprüche geltend gemacht auf sein physisches, historisches und finanzielles Erbe. Wenn sie etwas gekränkt habe bei ihren Recherchen, sei es, dass Louis Armstrong in seinen Briefen so offen über alles geredet habe, seine Musik, seine Kindheit, seine Liebe zum Essen und zu den Frauen, über Sex, sogar über seine Darmtätigkeit, dass er über seine Tochter aber sein Leben lang geschwiegen habe.

Warum er ihre Existenz verleugnet habe? Nun, erklärt Preston-Folta, Louis Armstrong sei ein gefeierter Künstler seiner Zeit gewesen und habe sich in der besten (weißen) Gesellschaft aufgehalten. Es habe einfach nicht gepasst, in dieser Zeit, wenn Nachrichten über ein uneheliches Kind mit einer Geliebten in die Schlagzeilen gekommen wären.

Prestons Mutter wurde 1921 in New York geboren und arbeitete bereits als 16-Jährige als Chorus Girl in diversen Shows. 1941 heiratete sie einen Tänzerkollegen; 1946 arbeiteten die beiden als Tanzpaar “Slim & Sweets” als Vorgruppen für große Swingorchester, unter ihnen auch Louis Armstrong, der sich mit ihnen anfreundete und in einen launigen Briefwechsel einstieg. 1950 starb Slim, und bei der Trauerfeier war auch Louis Armstrong dabei, der Lucille Preston in den Arm nahm und versprach: “Ich werde mich um dich kümmern.” In den nächsten vier Jahren reiste sie Pops hinterher und tauchte auf, wann immer Armstrongs in New York spielte. 1954 wurde Preston schwanger, und im November schrieb Satchmo ihr einen Brief, in dem er erklärt, wie sehr er sich auf das Kind freue und sogar vorschlägt, sie zu heiraten, sollte seine Frau (mit gleichem Namen Lucille) sich von ihm scheiden lassen. Armstrong war dann aber nicht dabei, als Sharon Louise (nach Louis) Preston am 24. Juni 1955 das Licht der Welt erblickte. Armstrongs rechtmäßige Ehefrau war “not amused” und habe ihm nach der Geburt der Tochter sogar vorgeschlagen, diese zu adoptieren, was ihre leibliche Mutter aber vehement ablehnte. Lucille (die Ehefrau) habe sogar die Alimente überwiesen, bis sie diese Aufgabe irgendwann Joe Glaser übertrug.

In ihrem Buch berichtet Sharon von den viel zu seltenen, sorgfältig geplanten und sehnsuchtsvoll erwarteten Treffen. Sie und ihre Mutter lebten eine Weile bei ihrem Onkel Kenny, der nach außen schon mal als Lucilles Ehemann auftrat und immer wieder auf seine Schwester eindrang, bei Satchmo mehr einzufordern: mehr Geld, mehr Fürsorge, am besten seinen Namen. Bei einzelnen Sommertourneen durfte Sharon mitreisen. Ansonsten aber war Satchmo vor allem durch die monatlichen Unterhaltszahlungen präsent, durch Broadway-Tickets, 1962 durch den Kauf eines Hauses in Mount Vernon, New York. In Harlem hatte sich niemand wirklich darum gekümmert, wie ihre Familienverhältnisse aussahen, erzählt Preston-Folta, in Mount Vernon aber begann eine Zeit der Lügen. Die Liaison dauerte ja bereits 12 Jahre, aber nach wie vor war nicht in Sicht, dass Armstrong auch öffentlich zu seiner Familie stehen würde. Mit zehn Jahren begriff Sharon erstmals, dass ihr Vater eine “andere Lucille” hatte, ein anderes Leben, das mit ihrem aber auch gar nichts zu tun hatte.

Etwas später seien sie gemeinsam in Atlantic City zu einem Auftritt Marvin Gayes gegangen, es habe einen Streit zwischen den Erwachsenen gegeben, bei dem ihre Mutter Satchmo fragte, wann er sie nun endlich zu heiraten gedachte, worauf er laut wurde: “Ich werde dich niemals heiraten” und mit Fingerzeig auf die Tochter fragte: “Sag mir einfach, was es kostet, für sie zu sorgen!” Das war das Ende der Beziehung.

Kaum war Armstrong gestorben, kamen auch die monatlichen Schecks nicht mehr. Ein paar im Voraus geleistete Zahlungen für Sharons Erziehung hielten sie und ihre Mutter über Wasser, mussten bald auch den Zuwachs zur Familie finanzieren, denn Sharon wurde mit 16 selbst Mutter. Sharon erzählt, wie ihr Leben weiterging, immer gezeichnet durch die Narben, die der fehlende Vater hinterlassen hatte. Irgendwann rebellierte sie gegen die eigene Bitterkeit und versuchte, das emotionale Band, das sie mit der verlorenen, nie gehabten Vergangenheit hatte, zu zerschneiden.

Sharon Preston-Foltas Buch endet mit einem Besuch im Armstrong House in Queens. Ein Anwalt hatte ihr empfohlen, einen Blick in Satchmos Testament zu werfen, das eine eidesstattliche Erklärung von Lucille, Armstrongs Frau, enthielt, Armstrong habe nie Kinder gehabt. Als Sharon diese Zeilen las, von Lucille eigenhändig korrigiert von “Der Verstorbene und ich hatten keine Kinder” in “Der Verstorbene hatte keine Kinder”, entschied sie sich, jetzt ihr Geschichte zu erzählen. Ihre Mutter, die sie immer zur Geheimhaltung gedrängt hatte, willigte endlich ein: “Mach, was Du meinst, dass du tun musst.”

Sharon Preston-Foltas Buch ist als eine Liebeserklärung an die von ihr immer vermisste Vaterfigur Louis Armstrong geschrieben, aber es ist eben auch eine leicht verbitterte Liebeserklärung geworden. An genügend Stellen legt man es zur Seite, unterschiedlich berührt von den Schuldzuweisungen, mit denen Preston-Folta ihre eigenen Lebensentscheidungen aus ihrer vaterlosen Kindheit und Jugend ableitet. Ein bedrückendes Schicksal, denkt man, und fragt sich zugleich, warum sie, die immer wieder von der DNA ihres Vaters schreibt, die in ihr fortlebe, nicht irgendwann, spätestens vor der Veröffentlichung dieses Buchs, auf einem DNA-Test bestanden habe. Doch ist es einem Kind, das sein Leben lang sicher ist, seine Eltern zu kennen, überhaupt zuzumuten, von einem auf den anderen Tag an der Tatsache der Vaterschaft zu zweifeln? Auch als skeptischer Leser sollte man jedenfalls für die Zeit der Lektüre erst einmal die Grundbehauptung der Vaterschaft Louis Armstrongs akzeptieren, sonst hat man wenig Spaß am Buch. Armstrong selbst schließlich scheint bis zu seinem Tod überzeugt davon gewesen zu sein, in Sharon eine Tochter gehabt zu haben.

Allen Fragen und sicher auch allen möglichen Zweifeln zum Trotz, die einem bei der überraschenden Enthüllung Sharon Preston-Foltas kommen mögen, lernt man einiges bei der Lektüre, und wenn nur, dass Scheinwerferlicht auch Schatten wirft, dass Stars wie Louis Armstrong das Leben vieler Menschen zum Teil viel direkter berührten, als man es wahrhaben mag, und nicht zuletzt, dass die Persönlichkeit großer Stars aus ihren emotionalen Stärken genauso besteht wie aus ihren emotionalen Unzulänglichkeiten. Am Glorienschein des großen Meisters mag das alles ein wenig kratzen; der Kraft seiner Musik tut es keinen Abbruch.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Theatrical Jazz. Performance, Àṣẹ, and the Power of the Present Moment
von Omi Osun Joni L. Jones
Columbus/OH 2015 (The Ohio State University Press)
270 Seiten, 99,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8142-1282-0

2015jonesDer Blick über den Tellerrand kann das Wesentliche erhellen, der Blick von außen Dinge erkennen lassen, die man im internen Diskurs oft nicht mehr sieht. Das ist einer der Hintergründe für die sogenannten “new jazz studies”, ein Konzept in der jüngeren Jazzforschung, das sich der untersuchten Materie neben der musikwissenschaftlichen Betrachtung interdisziplinär nähert. Die Feministin Omi Osun Joni L. Jones versucht in ihrem Buch eine Verbindung zwischen Jazzästhetik , theatralischer Performance und auf Yoruba basierender afrikanischer Theologie. Dabei beschreibt sie als eine der zentralen Prinzipien der Jazzästhetik die Fähigkeit, die eigenen intuitiven Kräfte freizusetzen. In ihrer Beschäftigung mit afrikanischer Spiritualität habe sie gelernt, dass auch in wissenschaftlichen Büchern die Auseinandersetzung mit spirituellen Impulsen nicht zu kurz kommen dürfte, ganz ähnlich wie dies auch Jazzgrößen wie John und Alice Coltrane immer gesehen hätten. Sie will mit ihrem Buch den Jazz gegen den Strich bürsten, seine Begriffe, Handlungen, Ausformungen kritisch hinterfragen, und zwar aus der Perspektive aller seiner unterschiedlichen Bedeutungen in musikalischer Ästhetik, Performance, gesellschaftlichem Spiegel, ethnischer Identität oder politischer Haltung. Es gäbe Kollegen, schreibt sie in ihrer Einleitung, die den Jazz als eine polyglotte Form ansähen und damit Gefahr liefen seine Wurzeln in der afro-amerikanischen Kultur zu leugnen. Tatsächlich aber sei die spirituelle Kraft nicht an irgendwelche Identitätsregeln gebunden. Die spirituelle Transzendenz des Jazz brauche keine Abwesenheit ethnischer Identität (“race”), sondern höchstens Abwesenheit solch einer ethnischen Identität (“race”) als Restriktion oder als Prognose.

Tatsächlich handelt ihr Buch allerdings zentral gar nicht von Musik, sondern vom Theater, und hier insbesondere von den drei Theaterautoren Laurie Carlos, Daniel Alexander Jones und Sharon Bridgforth. Jones bedient sich in ihrer Herangehensweisen an das Thema der feministischen und queeren Theorie, erklärt Wirkungen der Theaterperformance aus der Haltung des Jazz heraus und zugleich aus ihrer Interpretation von Yoruba-Traditionen. Als übergeordneten Approach versucht sie ihrem wissenschaftlichen Buch darüber hinaus aber auch improvisatorische Strukturen zu geben, indem sie Bilder, Fotos, Zeichnungen, Zitate einfließen lässt, die wie kurze solistische Kommentare neben ihrem Text stehen.

In ihrer Einleitung zitiert Jones einige Beispiele direkter Bezugnahme von Jazzmusikern wie Dizzy Gillespie und John Coltrane auf Yoruba-Beschwörungen, erinnert außerdem an die lebendige Avantgarde-Theaterszene von Austin, Texas, in der in den 190er Jahren die Verbindungen von Theater und Jazz besonders entwickelt wurden. Im ersten Kapitel betrachtet sie, wie biographische Erfahrungen die drei von ihr untersuchten Autoren prägten, Carlos’ Jugend im New Yorker East Village, Jones’ Aufwachsen im Arbeiterklasse-Milieu von Springfield, Massachusetts, Bridgforths Bustrips durch die verschiedenen Viertel von Los Angeles. Sie analysiert die dem Jazz nahestehenden Praktiken von Lehrer und Schüler im Theater, deren Lernprozesse dabei immer gegenseitig sind. Das zweite Kapitel untersucht Performance-Methoden, Ansätze an Regie, Probenphasen, das Beziehung-Herstellen zum Publikum, die Auswahl der Schauspieler, aber auch das Zulassen spiritueller Erfahrung im Verlauf der Performance. Im dritten Kapitel schließlich fragt sie danach, was die Performance beim Publikum (sie spricht gern von “witnesses” = Zeugen) auslöst, wie sie zu einer Perspektivverschiebung führen kann, einer aktiven Partizipation des Publikums, die das eigentliche Ziel aller Beteiligten sei.

Wenn ich Jones zu Beginn dieser Rezension in die Nähe der “new jazz studies” gestellt habe, so muss ich diese Aussage zumindest zum Teil revidieren. In den New Jazz Studies werden Aspekte des Jazz möglichst von vielen Seiten (und mit unterschiedlichen Methoden) betrachtet. Jones geht den entgegengesetzten Weg: Sie nutzt, was sie vom Jazz gelernt hat, um ihr eigentliches Thema, die Performance im Theater genauer zu definieren. Sie erkennt im Jazz Kommunikations- und Tradierungsmodelle, die so beispielhaft sind, dass sie ein anderes Genre besser verstehen lassen, vielleicht sogar Modell stehen können für neue, weitreichendere Regie- oder Performance-Ansätze. Ihr Buch ist darin so weitsichtig wie der Versuch früherer Literaturwissenschaftler wie Houston Baker, insbesondere den Bereich der afro-amerikanischen Literatur (aber durchaus darüber hinaus) durch die schon von Ralph Ellison oder Albert Murray identifizierte Blues Aesthetic zu beschreiben. Beide nahmen dabei sehr bewusst auf westafrikanische kulturelle Traditionen, Praktiken und Symbole Bezug, für den ungeübten Leser einerseits manchmal etwas schwer nachvollziehbar, gerade dadurch aber die Argumentation auch angenehm schnell aufbrechend und Rückschlüsse erlaubend.

Wenn nämlich die Praxis des Jazz als Erklärungsmodell für andere künstlerische Praktiken taugt, dann wirft das ein ganz anderes Licht auch auf den Stellenwert von Jazz und Improvisation.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


The Long Shadow of the Little Giant. The Life, Work and Legacy of Tubby Hayes
von Simon Spillett
Sheffield 2015 (Equinox)
377 Seiten, 19,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78179-173-8

2015spillettWie Hans Koller oder Lars Gullin war der britische saxophonist Tubby Hayes eine der europäischen Jazzgrößen, die ihren Kollegen genauso wie ihrem Publikum klar machten, dass der Jazz zwar eine afro-amerikanische Musik war, dass aber Europäer das Idiom durchaus beherrschten und ihre eigenen Beiträge zur Tradition des Jazz leisten konnten. Hayes kam aus der Swing-Mainstream-Tradition des Jazz, nahm erst Bebop, Hardbop, schließlich Einflüsse des Spiels John Coltranes in seinen Stil auf und starb 1973, gerademal 38 Jahre alt, in Folge einer Herz-Operation.

Dem Autor und Saxophonisten Simon Spillett gelingt es in seinem Buch “The Long Shadow of the Little Giant” mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews und Material aus Hayes’ persönlichem Archiv das Leben und die musikalische Karriere des Saxophonisten in den Jahren vom bombenerschütterten London der Nachkriegszeit über die jazzigen 1950er Jahre und die Swinging Sixties bis hin zur großen Krise des Jazz Anfang der 1970er Jahre nachzuzeichnen.

Hayes wurde in eine musikalische Familie geboren – sein Vater leitete in den 1930er Jahren verschiedene Tanzorchester, seine Mutter war Revuesängerin und -tänzerin. Schon früh war er vom Saxophon fasziniert, begann aber im Alter von acht Jahren erst einmal mit Geigenunterricht, und bekam schließlich zum elften Geburtstag das langersehnte Saxophon, das er größtenteils autodidaktisch meisterte. Er hatte ein gutes Gehör, und der Geigenunterricht hatte ihn zu einem exzellenten Notisten gemacht. Er hörte Charlie-Parker-Platten und bewegte sich in Kreisen Gleichgesinnter, spielte bald mit Ronnie Scott, Alan Skidmore und Kenny Baker, mit dem er im Juli 1951 auch seine ersten Aufnahmen machte.

Die Baker Band hatte jede Menge Fans, und die Presse wurde schnell auf Hayes aufmerksam, der bald als “boy wonder tenorist” vermarktet wurde und, noch nicht einmal 20 Jahre alt, mit den Modernisten der britischen Jazzszene spielte. Mit 18 heiratete er zum ersten Mal, hatte schon zuvor alle möglichen Drogen ausprobiert. Er spielte in den populären Bands von Vic Lewis, Jack Parnell, Tony Hall und hatte schließlich auch mit seiner eigenen Band einen vollen Terminkalender.

Spillett beschreibt, wie britische Musiker in jenen Jahren das US-amerikanische Idiom des Hardbop gemeistert hatten, die Musik von Art Blakey und Horace Silver, und wie Kollegen wie Sonny Rollins oder Hank Mobley ihre stilistischen Spuren in Hayes’ Spiel hinterließen. 1958 traten Hayes’ Jazz Couriers neben dem Dave Brubeck Quartet bei einer Tournee durch sechzehn Städte des Vereinigten Königreichs auf; 1959 wurde Hayes vom Melody Maker zum besten Tenorsaxphonisten gewählt.

Andere Musiker hatten die Entwicklung des amerikanischen Jazz genauso interessiert mit verfolgt; und um 1960 kamen erste Versuche “freier Form” auch in England an. Joe Harriott war einer der ersten, die sich an freieren Spielweisen versuchten; Hayes aber blieb skeptisch. Die Eröffnung von Ronnie Scott’s, bis heute einem der wichtigsten Clubs des Königreichs, war sowohl für die Präsenz des amerikanischen Jazz in England wichtig als auch für das Selbstbewusstsein der eigenen Szene. Der BBC schnitt Konzerte mit, und Plattenfirmen widmeten dem heimischen Jazz eigene Alben. 1961 trat Hayes erstmals in New York auf, wo ihn die Größen des amerikanischen Jazz hörten, unter ihnen Zoot Sims, Al Cohn und Miles Davis. Zurück in England erhielt er einerseits eine eigene Fernsehshow, “Tubby Plays Hayes”, hörte er andererseits erstmals John Coltrane, der sein Bild von den Möglichkeiten im Jazz genau wie das vieler anderer Kollegen völlig veränderte.

Als Duke Ellington 1964 in England auftrat, jammte Hayes mit Bandmitgliedern und wurde vom Duke gebeten für Paul Gonsalves einzuspringen, als dieser unpässlich war. In den nächsten Jahren war Hayes international unterwegs, trat im New Yorker Half Note genauso auf wie beim NDR Jazz Workshop in Hamburg. Er arbeitete wie besessen, hatte zugleich gesundheitliche Rückschläge, darunter eine Thrombose, die auch seine Lungenfunktion herabgesetzt hatte.

Ende der 1960er Jahre hatte der britische Jazz zwei Probleme: die Macht der Rockmusik auf der einen Seite und das Verlangen des Publikums nach amerikanischen Künstlern auf der anderen Seite. Hayes erlitt auch persönliche Rückschläge, etwa als seine Freundin starb und er daraufhin noch stärker zu Drogen griff. Er musste wegen Herzproblemen immer häufiger in ärztliche Behandlung, begann aber trotz aller gesundheitlichen Probleme ein musikalisches Comeback. Er spielte mit Musikern der britischen Avantgarde, John Stevens, Trevor Watts, Kenny Wheeler, beteiligte sich bei einem Benefizkonzert für Alan Skidmore, der nach einem Autounfall im Krankenhaus lag, starb aber schließlich nach einer Operation, bei der eine Herzklappe ausgetauscht werden sollte.

“The Long Shadow” heißt das Buch, und so widmet Spillett sein letztes Kapitel der kritischen Aufbereitung seiner musikalischen Bedeutung nach seinem Tod sowie dem Nachwirken Hayes’ auf der britischen Szene. Er schließt mit einer Diskographie die Aufnahmen des Saxophonisten zwischen 1951 bis 1973 verzeichnet.

Simon Spillett hat viel Sorgfalt in seine Recherchen gesteckt. Nebenbei wirft er immer wieder aufschlussreiche Blicke auf die Musik selbst, auf die Aufnahmen, die Hayes’ musikalische Entwicklung dokumentieren. Wenn überhaupt, so mangelt es dem Buch insbesondere in diesem Segment an Tiefe, etwa an Erklärungen, wo sich Einflüsse, ästhetische Umbrüche und anderes konkret festmachen lassen. Eingehend aber beschreibt er den Lebensweg, die persönlichen Probleme, die musikalischen und ästhetischen Entscheidungen und zieht die Verbindungen zu den allgemeinen Entwicklungen des Jazz in Großbritannien, in Europa und in den Vereinigten Staaten. Spillett konnte mit Zeitzeugen sprechen und hatte Zugriff auf Hayes’ persönliche Papiere. Sein Buch ist eine definitive Biographie, die viele Fragen beantwortet und dabei im umfassenden Apparat all die Dokumente benennt, die für eine solche Arbeit notwendig sind.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Musiktraumzimmer Jazzcampus
herausgegeben von Peter Rüedi & Steff Rohrbach
Basel 2015 (Jazzcampus / Echtzeit Verlag)
212 Seiten, 32 Euro
ISBN: 978-3-905800-78-4

B2015rueediasels Jazzschule ist zum Jazzcampus geworden, zu einer Hochschule für improvisierte Musik, in der, wie der Titel dieses Buchs suggeriert, jede Menge an Träumen und Visionen wahrgeworden sind. Da ist zuallererst die Vision des Gründers und Gitarristen Bernhard Ley, der erzählt, wie er die Schule in den Räumen eines Jugendkulturzentrums gründete und wie er es dann durch pädagogisches wie politisches Geschick, aber auch durch das Talent der Vernetzung, das die Schule zum Teil des Basler Kulturlebens werden ließ, erreichte, sie zu einem Kompetenzzentrum zu machen, in dem der musikalische Gehalt, die Arbeit von Lehrenden und Schüler/innen, sich auch in der architektonischen Umsetzung spiegelt.

Davon nämlich handelt dieses Buch, vom glücklichen Unterfangen, auf den Grundrissen einer ehemaligen Maschinenfabrik eine Musikschule zu bauen mit all der für eine solche notwendigen Infrastruktur, Club, Konzertsaal, Tonstudio, Probenräume etc. Ein Musiktraumzimmer sei das ganze geworden, eine Raumrealisation also, die dem Thema “Jazz” angemessen sei. Mitgeholfen hätten alle, die Architekten Lukas Buol und Marco Zünd, der Bauherr Georg Hasler von der Stiftung Levedo sowie Bernhard Ley, der als Studiengangsleiter den zukünftig alltäglichen Gebrauch im Blick behielt. Das Gespräch mit diesen vieren erklärt Fragen der Akustik, Diskussionen im Planungsverlauf, die Außenwirkung genauso wie den inneren Glanz (sprich: Farben, Bodenbeläde, Beleuchtung).

Solch eine theoretische Diskussion lässt sich nur durch Fotos und Raumpläne in Buchform einfangen. Eigentlich gehört Musik dazu, noch wichtiger wäre der tatsächliche Raumeindruck, der aber in der Architektur immer noch einzig durch einen Besuch ermöglicht wird.

Um die tatsächliche musikalische und pädagogische Nutzung der Räume geht es im zweiten, noch umfassenderen Teil des Buchs: um Konzepte der Jazzpädagogik, persönliche Herangehensweisen an Musik, ästhetische Vorstellungen, die Rückwirkung von Unterricht auf die eigene Kunst der unterrichtenden Musiker.

Wolfgang Muthspiel etwa betont, wie wichtig es neben einem festen Lehrerstamm sei, großartige internationale Kollegen als Gastdozenten an die Schule zu holen. Andy Scherrer erzählt, wie er zum Unterrichten wie die Jungfrau zum Kind gekommen sei, und wie er trotz vieler Schüler immer eine gesunde Skepsis gegenüber des Unterrichtens beibehalten habe. Malcolm Braff erklärt, dass er nicht so sehr das Klavier denn vielmehr sich selbst als das wirkliche Instrument empfinde und wie er in den letzten Jahren eine rhythmische Theorie entwickelt habe, die auch Grundlage seines Unterrichts an der Hochschule sei. Lisette Spinnler versteht die Stimme als Instrument und Texte als Ausgangspunkt für musikalische Erkundungen. Adrian Mears plädiert auch beim Lernen für Spielpraxis, egal mit was für Besetzungen. Bänz Oester vertraut auf die Motivation zukünftiger Musiker/innen, auf die Verantwortung für das Selbst, das Eigene. Domenic Landolf mag sich weder verbiegen noch sonderlich in den Vordergrund spielen. Jorge Rossy spricht über die Standards als Basis und über seine Arbeit mit Carla Bley und Steve Swallow. Matthieu Michel überlegt, wie man als junger Musiker neben der Technik vor allem zu einer eigenen Stimme gelangt. Hans Feigenwinter sieht seine analytischen Fähigkeiten als eine Grundlage seines Musikmachens, zugleich aber die Musik auch als laufenden Ansporn, sie analytisch zu begreifen. Gregor Hilbe berichtet über die Bedeutung des Schlagzeugers in einer rhythmischen Kultur, und zugleich über die Idee des Producing / Performance-Studiengangs am Jazzcampus Basel. Daniel Dettmeister hatte die Chance, als Tonmeister selbst Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung des Aufnahmesaals der Hochschule. Mit Martin Lachmann kommt zum Schluss auch noch der Akustiker selbst zu Wort, der die Räume eingerichtet hat.

Eine bunte Abfolge von Interviews, Reflexionen und Fotos also, die sehr umfassend das Konzept klarmachen, dass hinter dem Jazzcampus Basel steckt: Freiräume schaffen und beste akustische Möglichkeiten. “Musiktraumzimmer Jazzcampus” ist damit zwar vordergründig eine in Buchform gepresste Imagebroschüre der Hochschule, zugleich aber erheblich mehr: ein Manifest für eine Jazzausbildung, in der Kunst und Wirklichkeit, Klang und Akustik, Pädagogik und Freiheit sinnvoll miteinander in Beziehung stehen.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Résume. Eine deutsche Jazz-Geschichte
von Eberhard Weber
Stuttgart 2015 (sagas.edition)
252 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-944660-04-2

2015weberDer Autor kommt gleich zur Sache: Der Leser wisse ja bereits, dass er, Eberhard Weber, gut 40 Jahre lang als Jazzbassist aktiv war, vielleicht auch, dass er seine aktive Karriere nach einem Schlaganfall 2007 beenden musste. Der Leser wisse wahrscheinlich etliches über seine Karriere, wahrscheinlich auch über den Jazz – was könne er dazu noch beitragen…? Nun, wenn überhaupt, dann könne er aus seinen eigenen Erinnerungen erzählen, sehr persönliche Geschichten, die sich um die Musik drehen, die aber auch sein ästhetisches Weltbild und vieles darüber hinaus berühren. Webers Buch wird so zu seinem “Resumé”. Und es mag vielleicht nicht “die” deutsche Jazzgeschichte sein, aber es ist auf jeden Fall, wie der Untertitel verspricht, “eine deutsche Jazz-Geschichte”, ein Beispiel dafür, wieso ein junger Mann zu dieser Musik kommt, was ihn über all die Jahrzehnte an ihr faszinierte und wie er lernte, in ihr sich selbst auszudrücken.

Eberhard Weber, dem musikalischen Geschichtenerzähler, gelingt der narrative Bogen auch in Worten. Bereits das Eingangskapitel, das vom “Schlag” handelt, der ihn kurz vor einem Konzert mit Jan Garbarek in der Berliner Philharmonie traf, von der Unsicherheit über seinen Gesundheitszustand, von der Hoffnung, wieder spielen zu können, zeigt seine erzählerischen, auch zur Selbstironie fähigen schriftstellerischen Qualitäten.

Im zweiten Kapitel widmet sich Weber seiner eigenen Vorstellung von Jazz. “Jazz”, schreibt er ironisch, doch nicht ganz falsch, “ist, wenn es der Komponist, der Arrangeur oder der ausführende Musiker dem Hörer so schwer wie möglich macht, der Musik zu folgen – und trotzdem alle Spaß daran haben. Das unterscheidet ihn von der vermeintlich ‘Neuen Musik’.” Doch neben dem Jazz als großer Kunst will Weber in diesem Kapitel auch seiner eigenen Ästhetik auf die Schliche kommen. Wiederholungen, erkennt er, langweilen ihn in der Regel; die Schlüsse von Stücken, findet er, misslingen meist. Er weiß, dass Solisten auch mal ohne Inspiration sein können und weiterspielen müssen. Er weiß auch um seine eigenen Schwächen als Bassist und beschreibt, wie man nur, wenn man um die technischen Probleme des eigenen Spiels oder des eigenen Instruments weiß, diese überkommen und kreativ mit ihnen umgehen könne.

Weber selbst wurde die Musik in die Wiege gelegt. Sein Vater, erzählt er, hatte als Cellist klassische Musik gemacht, daneben aber auch Cello und Banjo im Tanzorchester von Bernard Etté gespielt. Weber kam mitten im Krieg in Esslingen zur Welt. Seine Mutter sang, und “im häuslichen Weber’schen Freundeskreis”, erinnert er sich, “triumphierte Gesang über Instrumentales”– vielleicht eine Vorbereitung auf seine eigene sangliche Haltung beim Instrumentalspiel? Gehörbildung fand im Kinderzimmer statt, wenn seine Schwester und er Automarken am Klang unterschieden und dabei lernten zuzuhören und zu differenzieren. Ein Vetter quartierte sich nach der Kriegsgefangenschaft bei ihnen ein und begann Flöte zu lernen. Man diskutierte über Wagner und spielte Kammermusik. Weber bekam Cellounterricht, dann entdeckte er den Jazz und mit ihm wechselte er zum Kontrabass.

Im Jazz brachte er sich das meiste selbst bei, berichtet von ersten Bühnenerfahrungen, von Stuttgarter Jazzern wie Horst Fischer und Ernst Mosch, vom ersten Einsatz in Erwin Lehns Orchester als Vertretung für dessen regulären Bassisten. Seine musikalische Leidenschaft führte dazu, dass Weber durchs Abitur rasselte, eine Lehre als Fotograf begann und Kameraassistent bei einer Fernsehfirma wurde. Nebenbei spielte er mit gleichaltrigen Musikern, lernte Anfang der 1960er Wolfgang Dauner kennen und wurde bald Mitglied in dessen Trio. Er erzählt von den unterschiedlichsten Auftrittsorten zwischen Nachtclub, Café, Tanz und Ami-Kaserne, von Einflüssen auf sein Bassspiel, davon, wie das Dauner-Trio seinen eigenen Stil fand. Zwischendurch gibt es reichlich Anekdoten, aber auch Einblicke in die technischen Seiten seiner Kunst: Instrumentenwahl, Akustik, Pickups, Verstärker, elektronische Spielereien.

Ende der 1960er Jahre wandten Dauner und Weber sich freieren Spielweisen zu. Weber weiß um seine Beobachtungsgabe, weiß auch, dass er sich gern mal zur Polemik hinreißen lässt. Doch er besitzt eben auch die Erfahrung, Beobachtetes, insbesondere, wenn es um Musik geht, passend einordnen zu können. Und so mag man mit mancher polemischen Äußerung, die seinem eigenen musikalischen Geschmack zuzuschreiben ist, nicht übereinstimmen, wird aber an richtiger Stelle durch ein Augenzwinkern darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor zwar eine feste Meinung hat, sich selbst aber auch nicht immer ganz so ernst nimmt.

Weber stand in seiner Karriere bei zwei Plattenfirmen unter Vertrag, die Weltgeltung besaßen, Hans-Georg Brunner Schwers MPS und Manfred Eichers ECM. Er beschreibt die Arbeiten zu “The Colours of Chloë” und den folgenden internationalen Erfolg. Er erzählt vom Zusammenspiel mit Gary Burton, von den Unterschieden zwischen amerikanischen und europäischen Gepflogenheiten in der Jazzszene, von Tourneen mit seiner eigenen Band Colours, durch Deutschland – Ost und West –, die USA und Australien. Er berichtet von seiner Zusammenarbeit mit Jan Garbarek, mit dem er auch offizielle Empfänge spielte, bei denen Politiker, Botschafter, Bundespräsidenten, gekrönte Häupter begeistert waren, “endlich mal kein Streichquartett hören zu müssen”.

Eberhard Weber ist ein vielgereister Musiker. Seine Berichte von Zollformalitäten, Einreisebestimmungen, fasst verpassten Flügen und sonstigen Widrigkeiten sind amüsante Anekdoten, die vor Augen führen, dass das Musikerdasein nicht nur der aus musikalischer Kreativität besteht, die das Publikum erwartet und zumeist auch bekommt. Eine Professur für Musik hatte er nie annehmen wollen. Seine Begründung, die wie ein Tenor seine ungemein flüssige und lesenswerte Autobiographie beendet: “Ich kann nicht Bass spielen. Aber ich weiß, wie’s geht.”

Wolfram Knauer (Juni 2015)


Coltrane sur le Vif
von Luc Bouquet
Nantes 2015 (Lenka Lente)
146 Seiten, 13 Euro
ISBN: 978-2-9545845-8-4

2015bouquetDie Großen des Jazz waren zumeist auch die Meistaufgenommenen, und neben den offiziellen Einspielungen im Studio gehörten über die Jahre Bootlegs dazu, Schwarzpressungen von legalen oder illegalen Mitschnitten, die in mal besserer, mal schlechterer Qualität auf den Markt kamen. Solche Bootlegs haben naturgemäß keine Studioqualität; zum Teil sogar einen unsäglich schlechten Sound. Aber sie sind nicht nur für den Fan, sondern auch für den Experten ein immens wichtiger Teil der Aufnahmegeschichte dieser Musiker. Sie dokumentieren nicht die perfekte Abmischung, sondern den Alltag des Konzerts, in dem das Solo völlig anders klingen kann, in dem die Künstler mit dem Material oder auch mit sich selbst zu kämpfen haben, in dem mal bessere, mal schlechtere Fassungen der großen Titel erklingen, vergleichen mit den auf den im Studio gefertigten Referenzaufnahmen.

Luc Bouquet hatte im französischen Magazin Improjazz eine Reihe über die Liveaufnahmen John Coltranes veröffentlicht und diese jetzt in die zwölf Kapitel des vorliegenden Buchs einfließen lassen. Ein erstes Kapitel beschreibt Coltranes erste Aufnahmen aus dem Jahr 1946 sowie zwei Sessions mit Dizzy Gillespie bzw. Johnny Hodges. Kapitel 2 widmet sich den Jahren 1955-57 und Livemitschnitten mit Miles Davis, Kapitel 3 der Zeit von 1957-58 und den erst jüngst entdeckten und doch schon legendären Aufnahmen Coltranes mit dem Thelonious Monk Quartet. Zwei weitere Miles Davis-Kapitel schließen sich an, 1958-59 in den USA sowie 1960 in Europa, dann beginnt mit Kapitel 6 die Aufnahmegeschichte von Coltranes eigenen Bands: sein klassisches Quartett, Trane und Dolphy, die diversen Besetzungen von 1962, 1963, 1964-65 bis hin zu seiner letzten Liveaufnahme, dem “Olatunji”-Konzert vom April 1967. Jede der Platten wird mit Besetzungs- und Inhaltsangaben gelistet, dazu kommt eine kurze Beschreibung dessen, was auf ihr zu hören ist. Allzu tief versteigt sich Bouquet dabei weder in die Musik noch in die Begleitumstände der Aufnahmen – so wäre etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Entdeckungsgeschichte der Bänder von Tranes Carnegie-Hall-Konzerts mit Thelonious Monk durchaus berichtenswert gewesen.

Bouquets Buch ist als eine Art annotierte Diskographie der Liveaufnahmen John Coltranes ein nützliches Handbuch sowohl beim Hören wie auch bei der Entscheidungsfindung, was man sich vielleicht noch zulegen könnte.

Wolfram Knauer, April 2015Rencontres du jazz et de la musique contemporaine
herausgegeben von Jean-Michel Court & Ludovic Florin
Toulouse 2015 (Presses Universitaires du Midi)
184 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-2-8107-0374-6

Das vorliegende Buch ist die Dokumentation einer Tagung, die im Oktober 2013 in Toulouse stattfand und sich mit aktuellen Beziehungen zwischen Jazz und Zeitgenössischer (sogenannter “Neuer”) Musik beschäftigte. Im Vorwort stecken die beiden Herausgeber das Feld ab, das irgendwo zwischen Anthony Braxton und IRCAM-Experimenten angesiedelt ist und bei dem oft die Genrebezeichnung, ob “Jazz” oder “Neue Musik”, im Weg steht, da die Musik selbst solche Grenzen inzwischen gern und oft überschreitet.

Die Beiträge selbst sind theoretisch-musikwissenschaftlicher Natur. Im ersten Teil findet Vincenzo Caporaletti, dass die jüngere Entwicklung im Kunstmusikbereich neue wissenschaftliche Ansätze benötigt und stellt sein “principe autiotactile” vor, durch das sich sowohl für komponierte wie auch für improvisierte Musik die performativen Prozesse genauso analysieren ließen wie die ästhetischen Prozesse, die durch die Musik wie auch durch äußere, etwa mediale Einwirkungen mitbestimmt werden. Alexandre Pierrepont nähert sich der Frage, inwieweit die genre-spezifische Einordnung und Wertung von Musik aus den Bereichen europäischer klassischer Musik und des afro-amerikanischen Jazz nicht auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser zu Missverständnissen führt, wenn die Querverbindungen, die ja zwischen den Genres bestehen, oft und gern mit kulturellen Konnotationen versehen werden. Pierre Sauvanet betrachtet, wie das Moment der “Tradition” von Musikern im Jazz, der Neuen Musik und in tatsächlich “traditionellen” Musikrichtungen unterschiedlich behandelt wird.

Im zweiten Teil des Buchs geht es an konkrete Analysen. Pierre Fargeton befasst sich mit Franz Koglmanns langjähriger Auseinandersetzung mit dem Third Stream, der Neuen Musik und anderen Kunstrichtungen. Konkret untersucht er Koglmanns “Join!” eine “Oper” aus dem Jahr 2013 auf diverse Bezüge (1.) zum Jazz und (2.) zur Zeitgenössischen Musik. Martin Guerpin analysiert die Komposition “Unisono” des israelischen Komponisten Ofer Pelz und identifiziert darin insbesondere die Jazzverweise. Wataru Miyakawa untersucht das Werk des japanischen Komponisten Toru Takemitsu, in dem ihn vor allem der Einfluss des Lyrian Chromatic Concept von George Russell interessiert.

Im dritten Teil des Bandes berichtet der Gitarrist Frédéric Maurin darüber, wie er Methoden der Spektralmusik, die in den 1970er Jahren im Kreis der IRCAM in Paris entwickelt wurde, etwa für seine Band Ping Machine nutzbar macht. Cécile Auzolle untersucht das “Wintermärchen” des belgischen Komponisten Philippe Boesmans von 1999 und hat dabei Einflüsse aus dem jazz sowie improvisatorische Passagen im Fokus, die in der Oper vom Ensemble Aka Moon ausgeführt wurden. Henri Fourès hinterfragt die Begriffe Jazz, Zeitgenössische Musik, Komposition, Notation und Improvisation auf ihre Wertigkeit in der Hochschullehre. Zum Schluss berichten die Bassistin Joëlle Léandre, der Saxophonist Douglas Ewart und der Trompeter Mike Mantler über ihre eigenen Erfahrungen im Feld zwischen den Welten von Jazz und Neuer Musik.

“Rencontres du jazz et de la musique contemporaine” wirft ein Schlaglicht auf eine offenbar immer noch wichtige Diskussion in den beiden darin angesprochenen Welten. Der einleitende Überblick listet frühere Beschäftigungen mit dem Thema auf (hier fehlt allerdings der Band “Jazz und Komposition”, der das 2. Darmstädter Jazzforum von 1991 dokumentiert und in dem dieses Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet wurde). Sowohl in den allgemein theoretischen wie auch den konkreter praktischen Kapiteln fehlt ein wenig – aber das ist bei einer Tagung, die das nicht ausdrücklich zum Thema machte, vielleicht auch kaum zu leisten – die grundlegende Diskussion einer anders als aus dem europäischem Wissenschaftsdiskurs entstandenen Reflexion über Musik, eine Perspektive also, die sowohl Jazz wie auch die in europäischer Tradition stehende Neue Musik etwa aus dem Blickwinkel von Community, von Macht, von Geschlechterungleichheit oder ähnlichem betrachtet, sich dabei nicht auf die bestehenden meist europäisch gefärbten und genormten Diskurstraditionen einlässt, sondern mutig nach neuen sucht. Das von George Lewis und Benjamin Piekut 2016 herausgegebene Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies geht da einen anderen Weg, braucht, um das Thema abzudecken allerdings auch über 1000 Seiten.

Wolfram Knauer (März 2018)


Bunk Monk & Funk – and other attractions
von Anders Stefansen (& Jan Søttrup)
Kopenhagen 2012 (People’s Press)
248 Seiten, 249 Dänische Kronen
ISBN: 978-8771-37035-5

Anders Stefansen ist ein bisschen der Fritz Rau Dänemarks: ein Konzertveranstalter, der eher zufällig ins Geschäft kam, in den frühen 1960er Jahren für Norman Granz dessen Skandinavien-Tourneen organisierte (so wie dies Lippmann + Rau in Deutschland taten), später auch populärere Acts betreute, von den Beatles bis zu den Rolling Stones. In seiner Autobiographie erinnert sich Stefansen an die vielen Freundschaften zu Musikern, die er in seinem Berufsleben schließen konnte, an das Tourleben, an Probleme und ihre jeweilige Lösung, und an Begegnungen wie die mit John Coltrane, Andrés Segovia, Count Basie, Duke Ellington, Ben Webster, Cecil Taylor und vielen anderen. Er beleuchtet die Realitäten des Business, schwelgt aber vor allem in Erinnerungen. Wenn es dabei auch mehr um die Menschen geht als um die Musik, so ist die Lektüre seines Buchs dennoch erhellend nicht nur für diejenigen, die von seiner Arbeit als Konzertveranstalter profitierten, etwa weil sie selbst im Publikum saßen. Seine Anekdoten beleuchtet zugleich eine ungewöhnliche Karriere zwischen Musik und guter Küche (Stefansen eröffnete eines der ersten French Cuisine Restaurants in Dänemark). Und seine Anekdoten über Henry Miller, den er traf, als er den Film “Ruhige Tage in Clichy” produzierte, sind besondere Zugaben der Lektüre.

Wolfram Knauer (Januar 2018)


Fashion and Jazz. Dress, Identity and Subcultural Improvisation
von Alphonso D. McClendon
London 2015 (Bloomsbury Academic)
194 Seiten, 24,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-85785-127-7

Von den Banduniformen der Swingorchester über die Gardenie im Haar von Billie Holiday bis zu Wynton Marsalis’ in Brooks Brothers-Anzüge gekleidetes Lincoln Center Jazz Orchestra: Jazzmusiker waren immer auch Mode-Ikonen. Miles Davis mag diese Facette seines Bühnenlebens am stärksten ausgelebt haben, doch findet sich das Bewusstsein für die Bühnengarderobe durch die Jazzgeschichte. Als Art Blakey seiner Band in den 1970er Jahren für eine Weile erlaubte, in Straßenklamotten aufzutreten, war das eine Ausnahme. Er wie andere Musiker wussten, dass sie als afro-amerikanische Künstler Vorbildfunktion hatten.

Alphonso D. McClendon ist Modeforscher und hat sich in seinem Buch “Fashion and Jazz” dem Subtext der Musikergarderobe durch die Jazzgeschichte angenommen. Ihm ist wichtig, auf die gegenseitigen Einflüsse zwischen Jazz und Mode hinzuweisen, wie er gleich im ersten Kapitel deutlich macht, in dem er Parallelen und Einflusswege nennt, dass nämlich sowohl Mode wie auch Jazz auf ihre jeweilige Art und Weise vom Freiheit des Ausdrucks handeln. Es habe im Jazz durchaus eine “Sprache der Kleidung” gegeben, sagt er – will heißen: die Bühnenpräsentation hatte immer auch etwas zu bedeuten, und Kleidung habe zur visuellen Ästhetik von Jazzmusikern beigetragen, ob in der Performance auf der Bühne oder in Abbildungen.

Im zweiten Kapitel geht McClendon das Thema dann chronologisch an. Er beschreibt die Mode der Ragtime-Ära und der Bluesmusiker, die Bühnenkostüme von Swing-Musikern und die Selbstdarstellung der Bebopper, die zugleich “die Konstruktion eines subkulturellen Stils” gewesen sei, und stellt schließlich fest, das sowohl Mode wie auch Jazz ähnliche Perioden von Konformität (1900-1920), populärem Einfluss (1920-1940) und Widerstand (1940-1960) durchgemacht hätten.

Kapitel 3 diskutiert Momente “der Moderne” bzw. “des Modernen” und die Kommunikation beider durch Mode und Spielpraktiken im Jazz. Im vierten Kapitel beschreibt McClendon Strategien der Distinktion durch Jazz und Mode, um sich im fünften Kapitel etwa auf die Darstellung von Frauen und Männern in frühen Sheet-Music-Covers zu konzentrieren. Kapitel 6 diskutiert subversive Konnotationen, die sich etwa in Texten von Bluessängerinnen finden oder im Eingang von Jazzthemen in die Literatur oder den Film. Kapitel 7 ist überschrieben “Narcotics and Jazz: A Fashionable Addiction” und beschreibt unter anderem, wie elegante Kleidung auch helfen konnte ein Leben im Schatten der Drogensucht zu verschleiern. Kapitel 8 fokussiert auf Billie Holiday als Musik- wie Mode-Ikone; Kapitel 9 beschreibt Duke Ellington und Benny Carter als “traditionellen Dandy” sowie Dizzy Gillespie und Gerry Mulligan als “modernen Dandy” und blickt kurz darauf, wie amerikanische Präsidenten wie Bill Clinton und Barack Obama ihre Nähe zum Jazz als Imagefaktor ausnutzten.

McClendons Buch reicht leider nur bis ins Jahr 1960 und verpasst damit die politische Garderobe von Dashikis, schwarzen Lederjacken oder soul-beeinflusster Hipstermode der 1960er und 1970er Jahre, thematisiert also auch nicht die Rückkehr zur ordentlichen Garderobe mit Aufkommen der Young Lions der 1980er Jahre. Er thematisiert damit weder die modetechnische Annäherung zwischen den Genres, etwa in Richtung Rock oder auch Neue Musik, noch die Unterschiede etwa in im Modeverhalten amerikanischer und europäischer Musiker. Doch gelingt ihm in diesem eigentlich auf der Hand liegenden und doch so ganz anderen Blick auf Jazzgeschichte eine Perspektive, die Aufschluss über Imagebildung, Selbstverständnis der Künstler und die gegenseitige Beeinflussung von Image und künstlerischem Anspruch erlaubt. Etliche Bilder, eine ausführliche Bibliographie und ein Namensindex schließen das Buch ab.

Wolfram Knauer (August 2017)


Sales Rectangles. Daunik Lazro. Vieux Carré
von Guillaume Belhomme
Nantes 2015 (Lenka Lente)
44 Seiten, 1 Mini-CD, 9 Euro
ISBN: 978-2-9545845-9-1

Am 21. Mai 2011 spielte der Saxophonist Daunik Lazro ein inspiriertes unbegleitetes Solokonzert in einen Buchladen in Rouen. Guillaume Belhomme versucht die Stimmung des Konzerts einzufangen, indem er eines der Stücke Lazros, eine lange Improvisation über Joe McPhees “Vieux Carré” mit kurzen Blicken in die Bücher, die um ihn herum stehen und liegen, verbindet. Seine knappen, aus jeweils nicht mehr als einem Satz bestehenden Kommentare lassen sich den diesen Büchern allerdings erst zuweisen, wenn man sie anhand der im Büchlein abgedruckten Barcodes (bzw. die diesen beigefügten ISBN-Nummern) sucht. Und tatsächlich gelingt es Belhomme dabei ein wenig, jene Stimmung eines Konzerts im Buchladen einzufangen, bei dem die Konzentration auf die Musik von den Blicken zu und in die Bücher, von der Wahrnehmung der Atmosphäre, von kurzen Reflektionen darüber, was man da aufblättert, während man zugleich zuhört, unterbrochen, aber durchaus auch bereichert wird. Ein ungewöhnliches, durchaus inspirierendes Experiment, das den Leser / Hörer quasi subkutan auf die Komplexität der Wahrnehmung von Musik aufmerksam macht.

Wolfram Knauer (März 2017)


Spirits Rejoice! Jazz and American Religion
von Jason C. Bivins
New York 2015 (Oxford University Press)
369 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-023091-3

Jazz und Spiritualität sind für viele Musiker eine zusammenhängende Einheit. Duke Ellington, John Coltrane, Albert Ayler, Rahsaan Roland Kirk, Yusef Lateef, Anthony Braxton – die Liste der Musiker, für die ihre musikalische immer auch eine spirituelle Suche war, ist lang. Der Religionswissenschaftler und Jazzgitarrist Jason Bivins beleuchtet in seinem Buch dieses Verhältnis zwischen Religion und Musik anhand zahlreicher Beispiele und legt, gerade weil er seine Studien aus der Perspektive eines Religionsforschers und mit dem Wissen eines Jazzers macht, ein wichtiges Buch vor, in dem das Thema weit fundierter angegangen wird als in vielen Biographien der bereits genannten Musiker.

In seinen “ersten Meditationen” zum Thema stellt Bivins fest, dass Jazz genauso wie Religion in ihrer jeweiligen Individualität der Wahrnehmung schwer fassbare Gebilde seien. Er weiß um die ganz unterschiedlichen Ausprägungen des Religiösen oder Spirituellen gerade in der Musik, die irgendwo zwischen Ritual und Weltforschung liegt. Er fragt, wie sich das spirituelle Umfeld, aus dem Musik heraus initiiert oder rezipiert wird, auf die Musik selbst auswirkt. Er befasst sich mit konkreten Traditionen, auf die Jazz sich immer wieder bezog. Er betrachtet Beispiele, in denen mit Jazz amerikanische Geschichte genauso wie religiöse Aspekte derselben dargestellt werden. Er befasst sich mit Jazz in religiös-musikalischer Praxis. Er hinterfragt das Klischee von Jazz als rituelle oder heilende Praxis. Er diskutiert Verweise im Jazz auf Mystizismus, Selbstlosigkeit, die klangliche Verbindung zu einem höheren Wesen. Es untersucht Kosmologien und metaphysische Theorien im Jazz. Er will damit nicht nur Aspekte der Jazzgeschichte durch ihre Verankerung in religiösen Praktiken erklären helfen, sondern zugleich die Religionsgeschichte in den USA seit den 1920er Jahren mithilfe ihres Widerhalls im Jazz beleuchten.

Bivins geht dabei weder chronologisch vor noch versucht er seine Thesen an zentralen Figuren festzumachen, wenn es auch an konkreten Beispielen nicht mangelt in seinem Buch. Natürlich spielt der Einfluss der schwarzen Kirche auf viele afro-amerikanischen Musiker eine wichtige Rolle. Er beschreibt das Zeugnis ablegende (“testifyin'”) Tenorsaxophonspiel Albert Aylers. Er findet Spiritualität in Charles Gayles Bühnen- genauso wie Straßenmusikauftritten. Er fragt nach den Gründen von Jazzmusikern zum Islam, zum Buddhismus, zum Bahá’í, zur Scientology zu konvertieren und ihre Reflektion über die jeweilige religiöse Praxis und ihre Auswirkung auf ihre Musik. Er befasst sich mit den Ausprägungen des “Radical Jewish jazz” und mit der Idee einer imaginären Folklore in den Vereinigten Staaten.

Er beschäftigt sich mit Beispielen, in denen Jazzmusiker bzw. ihre Werke religiöse Geschichte erzählen und verwebt dabei eng religiöse und politische Aussagen, etwa in den Aufnahmen von Charles Mingus, Archie Shepp, Max Roach und Abbey Lincoln. Auch der Saxophonist Fred Ho und sein Einsatz für einen Asian American Jazz kommen zur Sprache sowie Sun Ras Verweise auf weltumspannende Verbindungen, die weit über den Planeten Erde hinausreichen. Er geht auf Ellingtons “Sacred Concerts” ein und widmet eine längere Passage John Carters Komposition “Roots and Folklore”, die, wie er findet, ein würdiger Träger des Pulitzer Preises gewesen wäre, den Wynton Marsalis später für sein Oratorium “Blood On the Fields” erhielt.

Er entdeckt im Bemühen von Musikern seit den 1950er Jahren sich zu organisieren neben den politischen auch spirituelle Gründe, wie er etwa am Beispiel der AACM und der Black Artists Group zeigt. Die von Horace Tapscott gegründete Underground Musicians Association, die Saint John Coltrane African Orthodox Church und Alice Coltranes Ashram sind für ihn konkrete Beispiele, wie Jazz als spirituell-religiöses Ritual gelebt und zelebriert werden kann.

Im zweiten Teil seines Buchs beschäftigt sich Bivins mit den engen Verbindungen zwischen Ritual und Improvisation, nennt Beispiele aus dem Schaffen von Duke Ellington, Mary Lou Williams, Milford Graves, Cecil Taylor, bezieht sich aber auch auf das Feld des afro-kubanischen Jazz, auf Steve Colemans Studien zur Yoruba-Kultur und auf die Musik des Art Ensembles of Chicago.

Ein eigenes Kapitel befasst sich mit Meditation und Mystizismus und verweist dabei auf Musiker wie Steve Lacy, Arthur Blythe, William Parker und Davis S. Ware. Ornette Colemans Harmolodics und George Russells Lydian Chromatic Concept werden von Bivins nicht allein als musiktheoretische Abhandlungen verstanden, sondern als Beispiel für kosmologische und metaphysische Versuche Jazz, Improvisation, ja Musik ganz allgemein zu fassen. In dieses Kapitel gehören auch Anthony Braxtons Tri-Axium-System und Wadada Leo Smith’ Ankhrasmation.

In seinem Schlusskapitel stellt Bivins dann noch einmal klar, dass die Auseinandersetzung mit Jazz oder mit Religion notwendigerweise eine fragmentarische sein muss, dass beide Praktiken ein Versuch sind, sich der Komplexität der Welt zu nähern, unsere eigene Sicht aber immer durch das geprägt ist, was wir bereits “wissen”. Für einige sei Musik wie Religion, weiß er, das aber beinhalte weit mehr als die pure Hingabe. Wie die Religion in amerikanische (und weltweiter) Geschichte, habe auch die Musik subversive Funktionen gehabt, habe Einfluss auf die Wahrnehmung der Realität genommen und diese damit ändern können.

Bivins’ Entscheidung, keine klar strukturierte Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Jazz und verschiedenen Ausprägungen von Spiritualität zu wählen, sondern stattdessen Themen zu identifizieren und von verschiedenen Seiten zu beleuchten, führt dazu, dass man auch als Leser die Vorstellung von Religion, Spiritualität, Ritual weiter fasst. Wo man zu Beginn der Lektüre von der sehr offenen Fassung der Begriffe noch ein wenig irritiert sein mag, da ist man dem Autor am Ende genau dafür dankbar, da er es schafft, auch beim Lesen die schnellen Analogien zu vermeiden. Bivins gelingt es, diesen offenen Geist in seine Leser zu übertragen – für den europäischen Leser dann auch in Richtung all der Themen, die sich hierzulande in die verschieden Kapitel einflechten ließen.

Wolfram Knauer (März 2017)


Omniverse Sun Ra
von Hartmut Geerken & Chris Trent
Wartaweil 2015 (Waitawhile Books / Art Yard)
304 Seiten, 69 Euro
ISBN: 978-0-9933514-0-2

Von 1994 stammt das damals im LP-Schallplattenformat veröffentlichte, von Hartmut Geerken und Bernhard Hefele herausgegebene Buch “Omniverse Sun Ra”. Jetzt erschien eine Neuauflage dieses Werks, das das Universum des Meisters aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben versucht.

Geerken war in den 1960er bis 1980er Jahren Institutsleiter verschiedener Goethe-Institute. Als Perkussionist hat er daneben mit zahlreichen Musikern vor allem aus dem Bereich der improvisierten Musik zusammengearbeitet. In Jazzkreisen ist er dabei insbesondere als Kenner des Oeuvres Sun Ras bekannt und war für Konzerte des Arkestra verantwortlich, etwa 1971 in Kairo, wo er seinerzeit fürs Goethe-Institut wirkte. Sein Buch von 1994 war eine kleine Sensation für die Aufarbeitung des Ra’schen Oeuvres; die Neuauflage ist nicht weniger willkommen.

Was übernommen wurde: Amiri Baraka beginnt das coffeetable-große Buch mit einem einleitenden, sehr persönlichen Text über den Meister. Robert Campbell erzählt die irdische Biographie Herman Blounts von seiner Geburt in Birmingham, Alabama, im Jahr 1914 bis zu seinem Tod im Mai 1993 und ordnet zugleich die verschiedenen Besetzungen und musikalischen Phasen seines Schaffens zu. Sigrid Hauff untersucht die mythologische und spirituelle Welt, die Sun Ra musikalisch genauso wie in Texten oder Interviews heraufzubeschwören versuchte. Chris Cutler ordnet sein musikalisches Schaffen in den größeren Kontext von Jazz und afro-amerikanischer Musikgeschichte ein. Robert Lax versammelt mehr oder weniger unzusammenhängende Gesprächsfetzen, Bonmots und Aphorismen des Pianisten, Komponisten, Bandleaders und spirituellen Philosophen. Salah Ragab berichtet über Konzerte des Arkestra in Ägypten in den Jahren 1983 und 1984. Karlheinz Kessler hinterfragt die Verwendung von Ritualen in den Performances der Band. Gabi Geist schreibt ein Horoskop für jemanden, der immer sagte, dass sein Geburtstag und -ort höchstens irdisch seien, tatsächlich aber seiner Herkunft nicht gerecht würden. Hartmut Geerken schließlich erinnert sich an den Besuch des Arkestra in Ägypten im Dezember 1971. Zwischendrin finden sich zahlreiche Fotos, viele davon von der britischen Fotografin Val Wilmer.

Was neu ist: Ein Text Bernhard Helefes entfällt in der Neuauflage. Den ausführlichen diskographischen Teil des Buchs hat Chris Trent neu geordnet. Wieder gibt es einen umfangreichen Bildteil, der die Plattencovers zeigt.

“Omniverse Sun Ra” war schon in der ersten Ausgabe von 1994 eine labor of love. Die neue Ausgabe hat einen Hardcover-Einband, ein etwas handlicheres Format, einen Block mit Farbfotos der Band, die im früheren Buch nicht enthalten waren. Es verzichtet auf die Tapeologogy, also die Auflistung oft privater Konzertmitschnitte, sowie auf die ausführliche Bibliographie der früheren Ausgabe.

“Omniverse Sun Ra” bleibt bei alledem ein großartiges Buch, das in Wort, Bild und Tonträgerverweisen als hervorragendes Nachschlagewerk über die Welt und Weltsicht Sun Ras genauso zu nutzen ist wie als eine Dokumentation, in der auch “Nachgeborenen” die Bühnenperformance des Arkestra vor Augen geführt wird.

Wolfram Knauer (März 2017)


A City Called Heaven. Chicago and the Birth of Gospel Music
von Robert M. Marovich
Urbana/IL 2015 (University of Illinois Press)
488Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08069-2

Gospelmusik, erklärt Robert Marovich, Rundfunkmoderator, Herausgeber des Journal of Gospel Music und Musikhistoriker, sei die künstlerische Antwort auf die Great Migration gewesen, in der tausende und abertausende Afro-Amerikaner zu Beginn des 20sten Jahrhunderts aus den Südstaaten in den Norden zogen und insbesondere in Städten wie Chicago ein neues Zuhause fanden. Blues, sagte Mahalia Jackson einmal, seien Lieder der Verzweiflung gewesen, Gospel dagegen Lieder der Hoffnung. Das Genre, erklärt Makovich in seinem Buch, das sich auf die Verankerung der Musik im Chicago des 20sten Jahrhunderts fokussiert, sei wie eine soziale Organisation organisiert gewesen, die jeden, egal wie gut er oder sie singen konnte, willkommen geheißen hätte.

In seinem Buch beschreibt Marovich die Entwicklung der Gospelmusik von frühen Hymnen und Camp Meetings über die beschriebene Great Migration und die lebendige Gospelszene von Chicago bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sounds, Rhythmen und der Enthusiasmus dieser Musik Eingang in die Popmusik fanden und schließlich zur Begleitmusik der Bürgerrechtsbewegung wurden. Er greift auf Interviews und selten ausgewertete historische Quellen zurück, um die Einbettung der Musik in die Community zu beschreiben; er entdeckt die Bedeutung von Predigern, deren eindringliche Sermons ab den 1920er Jahren ja sogar auf Schallplatte veröffentlicht wurden; er berichtet von frühen Aufnahmen für das noch junge Radio genauso wie für die aufstrebende Plattenindustrie. Er geht auf weithin bekannte Gospel-Künstler ein, Thomas A. Dorsey etwa oder Mahalia Jackson, genauso aber auch auf weniger, oft nur lokal bekannte Musikerinnen und Musiker. Er weiß um die Hintergründe der Gospeltourneen, die in den 1930er Jahren große Erfolge feierten, und er beschreibt die Entwicklung des Gospelquartetts über die Jahre.

Die Zuwanderung nach Chicago aus dem Süden hielt bis in die 1940er Jahre an und vermittelte der Gospelmusik damit über lange Jahre jene wichtige Funktion des Haltgebens in der Fremde. Radio- und frühe Fernsehshows nahmen sich des Genres an, und immer mehr wurde Gospel auch zu einem kommerziellen Produkt. In seiner Übersicht über die verschiedenen Stränge des Genres kennt Marovich alle Solisten, Bands, Quartette und Chöre und beschreibt sowohl ihre Einbindung in die örtliche kirchliche Gemeinschaft wie auch ihr sehr unterschiedliches Verhältnis zur Plattenindustrie. Mitte der 1950er Jahre fiel der Gospelmusik schließlich eine neue Rolle zu, als Mahalia Jackson zu einer glühenden Vertreterin des Civil Rights Movement und einer engen Verbündeten Dr. Martin Luther Kings wurde.

Die große Zeit des Gospel war mit dem Tode Mahalia Jacksons und Roberta Martins vorbei; und hier endet auch Marovichs Buch, mit einem nur kurzen Ausblick auf die Gegenwart. “A City Called Heaven” ist ungemein detailreich, dadurch stellenweise etwas mühsam zu lesen, aber durch einen umfangreich aufgeschlüsselten Index ein gutes Nachschlagewerk zum Thema. Marovich zeigt anhand der Gospelmusik in Chicago, wie sich sich Genre- und Stadtgeschichtsschreibung miteinander verbinden lassen, weil die Nöte und Zwänge des Lebens in der Großstadt letztlich die Entwicklung einer Musik als spirituelles Gegengewicht befördert haben.

Wolfram Knauer (Januar 2017)


La Nuée. L’AACM: un jeu de société musicale
von Alexandre Pierrepont
Marseille 2015 (Éditions Parenthèses)
443 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-2-86364-669-4

2008 veröffentlichte George E. Lewis sein Buch “A Power Stronger Than Itself. The AACM and American Experimental Music”, das die musikalische und ästhetische Welt der Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago seit den 1960er Jahren aus der Ecke einer “nur” afro-amerikanischen Avantgarde holte und zeigte, wie sehr die darin Aktiven Teil eines generellen und weit über Amerika hinausreichenden künstlerischen Diskurses waren und sind.

Im Vorwort seines Buchs über die AACM schildert Alexandre Pierrepont, wie es dazu kam, dass er sich als Anthropologe entschied, eine Studie zur AACM zu schreiben, wie er mittendrin von Lewis’ Arbeit erfuhr und sofort bereit war, mit seinem eigenen Projekt zurückzustecken. Lewis aber habe ihn zum Weitermachen ermutigt: Sein Buch sei eine Innenansicht, so Lewis, ein so komplexes Thema aber brauche immer mehrere Perspektiven, und Pierreponts Arbeit könne vielleicht eine sinnvolle Außenansicht bieten. Und so ist mit “La Nuée” (“Der Schwarm”) jetzt ein zweites umfangreiches Buch auf dem Markt, das die AACM von den 1960er Jahren bis heute als einen künstlerische Ansatz beschreibt, der weit über die erklingende oder auf Tonträgern dokumentierte Musik hinausreicht, vor allem nämlich in den daran beteiligten Akteuren ein Selbstbewusstsein geschaffen hat, das sie weit über den Kreis des Jazz, der afro-amerikanischen oder sogar der amerikanischen Musik hinaus einordnen lässt.

Pierrepont präsentiert im ersten Kapitel 25 Gründe warum, und Erklärungen wie Afro-Amerikaner in den USA ausgegrenzt oder marginalisiert wurden. Er zeigt, dass Musik gerade in diesem Zusammenhang wichtige soziale Funktionen übernahm. Er schildert die Situation in Chicago und erklärt, wie sich hier ab den 1950er Jahren eine aktive experimentelle Musikszene herausbildete. Im zweiten Kapitel beschreibt er die Idee hinter der AACM, die unterschiedlichen Ensembles und Projekte, die aus dem Kreis der Musiker entstanden, die europäische Erfahrung von Mitgliedern etwa des Art Ensemble of Chicago zwischen den Jahren 1969 und 1974, die Verbindungen zwischen der Chicagoer und der New Yorker Avantgarde-Szene ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre (die viel damit zu tun hatte, dass etliche Chicagoer Musiker inzwischen an die Ostküste umgezogen waren), sowie den Einfluss der AACM und ihres Konzepts auf europäische Improvisations-Kollektive.

Im dritten Kapitel untersucht Pierrepont die AACM als Kooperative und Verein, als Geheimbund und Brüderschaft, als sozio-musikalische Bewegung und Weltschule, beschreibt ihre formale Organisation, aber auch die “respectful anarchy”, die sich aus ihren Verbindungen etwa zum Black Arts Movement und anderen auch politisch aktiven Organisationen ergaben. Dabei sei sie bis heute eine Vereinigung afro-amerikanischer Musiker geblieben. Egal ob in Tongebung, Improvisation oder Komposition sei eines der verbindenden Merkmale der aus der AACM entstandenen Musik zum einen die Betonung von Individualität, zum zweiten aber auch das Einbringen des Subjekts in kollektive Prozesse. Pierrepont beschreibt pädagogische Konzepte, die sich aus den Schulprojekten der Association ergaben, und umreißt musikalische als soziale Verbindungen und die daraus resultierenden Gruppenzugehörigkeits-Prozesse. Im vierten Kapitel beschreibt er die Offenheit der AACM-Mitglieder gegenüber Genre, kompositorischen und improvisatorischen Experimenten, der Verwendung und Aneignung im Jazz bislang eher unüblicher Instrumente, der Weiterentwicklung elektronischer Klang- (und musikalischer Reaktions)möglichkeiten, sowie der Arbeit im Solo- und großorchestralen Kontext. Das Art Ensemble of Chicago warb mit dem Slogan “Ancient to the Future”, und in dieser Haltung, dass die Formung jedweder (künstlerischen) Zukunft sich auf die eigene Interpretation der Vergangenheit beziehe, sieht Pierrepont eines der Geheimnisse hinter der Langlebigkeit der AACM als Organisation. “Ich ziehe die Mythokratie der Demokratie vor”, zitiert er Sun Ra. “Noch vor der Geschichte. Alles vor der Geschichte sind Mythen… Das ist der Ort, an dem die Schwarzen sind. Realität ist gleich Tod, weil alles, was real ist, einen Anfang und ein Ende hat. Die Mythen sprechen vom Unmöglichen, von Unsterblichkeit. Und da alles Mögliche bereits versucht wurde, müssen wir eben das Unmögliche versuchen.”

Alexandre Pierreponts Studie zur AACM bietet eine gelungene Interpretation dessen, wofür die Association for the Advancement of Creative Musicians stand und steht, eine Einordnung ästhetischer wie gesellschaftlicher Vorstellungen und Aktivitäten aus der Gruppe, und den Versuch, das alles in Verbindung zu bringen mit ästhetischen, kritischen, philosophischen und spirituellen Aspekten, die weit über die Arbeit der AACM-Mitglieder hinausgehen. Ihm ist dabei, in Gesprächen mit Musikern, in den Beschreibungen von Konzert- und Aktionssituationen, in der historischen genauso wie der anthropologischen Einordnung all dessen ein kluges Buch gelungen, das die Rolle der AACM im Jazz genauso zu verorten in der Lage ist wie in der aktuellen Musik des 20sten (und letzten Endes auch 21.) Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Jazz Tales from Jazz Legends. Oral Histories from the Fillius Jazz Archive at Hamilton College
Von Monk Rowe (& Romy Britell)
Rochester 2015 (Richard W. Couper Press)
209 Seiten, 20 US-Dollar
ISBN: 978-1-937370-17-6

Das Hamilton College ist eine relativ kleine Hochschule in Clinton, New York. Einer ihrer Absolventen, Milt Fillius Jr., zog nach seinem Diplom ans andere Ende des Landes, nach San Diego, hielt aber Kontakt zu seiner Alma Mater. Er liebte Jazz und er war ein guter Freund des Sängers Joe Williams, der 1988 die erste Ehrendoktorwürde des Hamilton College erhielt. Im Gespräch mit Williams und dem Bassisten Milt Hinton wurde Fillius bewusst, wie viel an Wissen über den Jazz tatsächlich nur in der Erinnerung der Musiker bewahrt und wie wichtig Oral History gerade in diesem Bereich ist. Er etablierte also ein umfassendes Interview-Projekt, für das mittlerweile weit über 300 Künstler/innen in Ton und Bild festgehalten wurden. Die Interviews, von denen viele der Hamilton-Archivar Monk Rowe selbst durchführte, dokumentieren die Welt des Swing genauso wie die des modernen Jazz. Die meisten dieser Erinnerungen sind auf der Website des Hamilton College nachzulesen; eine für die Jazzforschung ungemein hilfreiche Sammlung. Es handelt sich bei den Interviewten nicht unbedingt um die großen Stars der Jazzgeschichte, obwohl etwa mit Lionel Hampton, Nat Adderley, Herbie Hancock, James Moody, Oscar Peterson, Ruth Brown und anderen auch solche vertreten sind. Viele der Musikererinnerungen stammen stattdessen von Sidemen, die über ihre Zeit in den großen Bands berichten, über das Leben “on the road”, über die alltäglichen Probleme eines reisenden Musikers, über Rassismus und vieles mehr

In “Jazz Tales from Jazz Legends” zeigt Monk Rowe, was man aus diesen Interviews so alles lernen kann. Er filtert konkrete Themen heraus, für die er dann die verschiedenen Erfahrungen der Interviewten gegenüberstellt. Das Anfangskapitel widmet sich Joe Williams, dann folgt ein Abschnitt über das Schicksal der Sidemen bei Duke Ellington, Count Basie, Benny Goodman und in anderen Bigbands. Clark Terry erzählt etwa, wie der Duke ihn bei Basie abwarb, erinnert außerdem, was er bei beiden Bandleadern lernte, und Benny Powell weiß zu berichten, dass Basie ihm in den zwölf Jahren in der Band nie förmlich bestätigt habe, dass er engagiert sei. Im Kapitel “Road Travails” erzählen Eddie Bert von seiner Zeit bei Benny Goodman, Sonnie Igoe von einer Tournee mit Woody Herman, Bucky Pizzarelli vom Reisen mit dem Vaugn Monroe Orchestra, Jay McShann vom Problem mit schlechten Klavieren “on the road”, Jimmy Lewis von einem angst-machenden Flug mit der Basie-Band, Kenny Davern vom Stress, die 60 One-Nighters in 90 Tagen erzeugen können, Lanny Morgan darüber, dass die Gage oft von Hotel- und Reisekosten aufgefressen wurde, die die Musiker aus eigener Tasche zahlen mussten. “Arranging the Notes” heißt ein weiteres Kapitel, das sich mit den Ansprüchen an die Arrangeure der Bands befasst. Dick Hyman, Mike Abene, Bill Holman, Derrick Gardner, Ray Conniff, Manny Albam erzählen darin von der Arbeit eines Bandarrangeurs genauso wie von den Anforderungen an andere Arten von Musik, etwa für Hollywood; Lew Soloff erinnert sich an die Arrangements für Blood Sweat & Tears, und Dave Rivello und Maria Schneider geben einen Ausblick darauf, wie die Arbeit eines Arrangeurs im 21sten Jahrhundert funktioniert.

“Inside the Studio” ist ein Kapitel über Aufnahmeerfahrungen überschrieben, in dem sich Doc Cheatham an seine erste Platte mit Ma Raney erinnert, Richard Wyands einen typischen Aufnahmegig aus dem Jahr 1959 beschreibt, Orrin Keepnews erzählt, was Musikern für Aufnahmesitzungen üblicherweise bezahlt wurde, und Dick Hyman und Derek Smith verraten, dass sie sich natürlich auch mit Musik für Fernsehwerbung über Wasser halten mussten. Man müsse nicht alles mögen, was da im Studio produziert werde, erklärt Hyman, man müsse sich aber anstrengen, das, was von einem gefordert werde, möglichst gut zu spielen. Rassismus war für viele der interviewten Musiker ein täglich erlebtes Thema, und im Kapitel “The Color of Jazz” kommt auch dies zur Sprache. Clark Terry und Joe Williams haben genügend eigene Erlebnisse; Sonny Igoe erzählt, wie er auf einer Tournee durch den Süden, bei der er im Bus mit dem Art Tatum Trio mitreiste, als “White Trash” angepöbelt und aufgefordert wurde, er solle den Bus gefälligst verlassen. Louie Bellson und Red Rodney haben ähnliche Erinnerungen, und Frank Foster fasst zusammen, dass der Jazz zwar aus der schwarzen Erfahrung heraus geboren worden sei, dass der Melting Pot Amerika ihn aber schon seit langem zu einer amerikanischen, wenn nicht gar globalen Musik gemacht habe.

Im Kapitel “Thoughts on Improvisation” geben Marian McPartland, Clark Terry, Bill Charlap, Charles McPherson und andere Tipps, wie man sich der Improvisation nähern könne. Ken Peplowski fasst zusammen: “Lern es, dann vergiss es wieder!”, und Randy Sandke reflektiert, was während eines Solos so alles durch seinen Kopf ginge. Schließlich äußern sich Gary Smulyan, Ralph Lalama und Jan Weber über die Möglichkeit und die Chancen “falscher Töne” im Jazz. “Motivation and Inspiration” ist ein Kapitel überschrieben, das Erinnerungen an persönliche Einflüsse beinhaltet. Keter Betts etwas erzählt, dass er als Schlagzeuger begonnen habe und durch Milt Hinton (und reichlich Zufall) zum Bass gekommen sei. John Pizzarelli kam über die Beatles zur Gitarre, Kenny Davern übers Radio bei einer der Pflegefamilien, bei denen er aufwuchs, bis er sechs Jahre alt war, und auch Junior Mance war von Earl Hines begeistert, dem er spätabends heimlich im Radio lauschte. Jon Hendricks berichtet, wie er dazu kam, improvisierte Instrumentalsoli zu textieren. Und Eiji Kitamura erinnert sich, wie eine Platte von Benny Goodman in der Sammlung seines Vaters ihn zur Klarinette brachte. Schließlich gibt es im Schlusskapitel noch ein paar Haltungen zum Phänomen des Swing und zum Missverständnis des Free Jazz sowie Erinnerungen an unglücklich gelaufene Engagements und über die Arbeit mit Legenden.

“Jazz Tales from Jazz Legends” ist also ein vielfältiges Buch, das jede Menge unterschiedlicher Erfahrungen zusammenbringt. Zu Beginn der Lektüre wünscht man sich, die einzelnen Interviews im Zusammenhang zu lesen, aber das ist ja tatsächlich möglich, über die Website des Fillius Jazz Archive am Hamilton College. Und so sollte man Monk Rowes thematische Zusammenstellung als das sehen, was sie ist: ein exzellentes Beispiel, wie sich aus den gesammelten Interviews am Hamilton College Narrative zu den unterschiedlichsten Themengebieten der Jazzgeschichte exzerpieren lassen. Dann lässt sich umso interessanter verfolgen, wie die Interviews sich gegenseitig ergänzen und die unabhängig voneinander Befragten dabei fast miteinander ins Gespräch zu kommen scheinen.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Swingin’ On Central Avenue. African American Jazz in Los Angeles
von Peter Vacher
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
331 Seiten, 55 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8832-6

2015vacherJazzgeschichtsschreibung funktioniert normalerweise so: Louis Armstrong – Charlie Parker – Miles Davis – John Coltrane. Oder so: New Orleans – Chicago – Kansas City – New York. Oder so: Dixieland – Swing – Bebop – Cool Jazz – Hard Bop – Free Jazz – Fusion. Personen, Orte, Epochen… eine Geschichte der großen Männer (!), der lebendigen urbanen Szenen, der alles umwälzenden stilistischen Innovationen. Tatsächlich aber ist dieser Blick auf die Größen, die Zentren, die Stilbegriffe enorm einengend, wenn nicht gar: einfach nur falsch. Neben den großen Stilisten gibt es immer auch diejenigen, deren Kreativität entweder nicht den großen populären Erfolg hatte oder aber nicht lange genug anhielt, oder die sich einfach weniger gut “verkaufen” konnten. Neben den jazzgeschichtsmäßig bekannten Zentren gab es Städte und Landstriche, die musikalisch enorm lebendig waren, viele Musiker hervorbrachten, aber von der Geschichtsschreibung höchstens als potentielle Spielorte, nicht als Brutstätten dieser Musik dargestellt wurden. Und neben den etablierten Stilen gibt es unendlich viele Zwischenstufen, da kaum ein Musiker sich eines Stils “in Reinkultur” bediente”. Ganz davon zu schweigen, dass sich die meisten Jazzgeschichten, ja selbst die meisten Biographien an Aufnahmen entlanghangeln und dabei gern den performativen Aspekt des Jazz vergessen, die Tatsache also, dass die veröffentlichte Platte nur eine Momentaufnahme des kreativen Prozesses ist.

Peter Vacher füllt mit seinem Buch also eine Lücke. Er widmet es einer Szene, die nie so ganz im Mittelpunkt des Jazz stand (Los Angeles), und er fokussiert dabei auf Musiker, die höchstens regionale Stars blieben und kaum nationalen oder gar internationalen Erfolg einfuhren. Vacher ist Außenseiter (Brite); er kam im Laufe des Trad-Jazz-Booms der 1950er Jahre zum Jazz. In den 1980er Jahren arbeitete er mit dem Klarinettisten Joe Darensbourg an dessen Autobiographie, verbrachte währenddessen einige Zeit in Los Angeles und lernte damals Veteranen der schwarzen Musikszene der Westküstenmetropole kennen. Die Interviews, die er mit den sechzehn in diesem Buch dokumentierten Musikern führte, hatten ursprünglich nicht das Ziel einer Buchveröffentlichung, sondern dienten einzig seinem privaten Interesse an ihrer Geschichte. Wenige konnte er ein zweites Mal interviewen, bei anderen fühlte er sich im Nachhinein schlecht vorbereitet. Dennoch geben die Geschichten, die er anhand dieser 16 Musiker erzählt, einen Einblick in eine so ganz andere Musikszene als die an der Ostküste. Die Westküstenmusiker waren flexibel; sie spielten Jazz genauso wie R&B oder Dixieland. Viele von ihnen verdienten sich ihren Lebensunterhalt in den Studios Hollywoods, und viele zog es vielleicht mal für eine Tournee, selten aber für immer fort aus Kalifornien. Und wenn auch diese Szene Jazzgrößen wie Dexter Gordon, Wardell Gray, Teddy Edwards und Charles Mingus hervorbrachte, wenn auch Legenden wie Benny Carter, Red Callender und Buddy Collette von hier aus agierten, so blieb Los Angeles doch ein weitgehend ungeschriebenes Kapitel der US-amerikanischen Jazzgeschichte.

Die von Peter Vacher interviewten Musikern stammen aus der älteren Generation, und dokumentieren die Szene vor allem der 1930er bis 1950er Jahre. Noch weiter zurück geht es in den Erzählungen des Trompeters Andy Blakeney , der von seinen ersten musikalischen Erfahrungen im Chicago der 1920er Jahre berichtet, von seinem Umzug an die Westküste im Jahr 1925, von Reb Spikes, der ein Musikgeschäft in L.A. besaß und außerdem eine gut beschäftigte Band. Er erinnert an viele der Musiker in der Stadt und an Partys bei Orson Welles. Er erzählt aber auch von der Rassentrennung in der Stadt, und von den legendären Gigs, die Louis Armstrong und Duke Ellington Anfang der 1930er Jahre in Sebastian’s Cotton Club hatten, von Tagesjobs in einer Schiffswerft, von Gigs mit Kid Ory und Barney Bigard, und von verschiedenen Comebacks in den 1970er und 1980er Jahren. Beim Pianisten Gid Honoré musste Vacher erst Street Credibility beweisen (dadurch, dass er den Schlagzeuger Wallace Bishop kannte), bevor der sich zu einem Interview bereitfand. Honoré kam 1921 aus New Orleans nach Chicago und erzählt von den vielen Ensembles, mit denen er in den 1920er bis 1940er Jahren dort spielte – oft Bands alter Freunde aus New Orleans. 1948 zog er an die Westküste, wo er mit Kid Ory und Teddy Buckner spielte – seine Erinnerungen an die Szene in L.A. nehmen dabei gerade einmal ein Fünftel seines Kapitels ein. Der Trompeter George Orendorff hatte in den 1920er Jahren King Olivers Creole Jazz Band mit Louis Armstrong in Chicago gehört, kurz bevor er nach L.A. zog. Er erzählt vom Engagement in der Band von Les Hite, in der als Schlagzeuger Lionel Hampton mitwirkte, oder von einem Abend, an dem Fats Waller Bach und Beethoven spielte. 1946 war er im Billy Berg’s Club, als Dizzy Gillespie dort mit Charlie Parker spielte. Orendorff arbeitete schließlich 30 Jahre lang als Postbeamter und trat nur noch selten auf. Jeder in Los Angeles kannte den Schlagzeuger Monk Fay, den Vacher aber erst nach intensiver Suche in einem Seniorenheim fand. Der erzählt von seiner Popularität in Hawaii, von einer Gefängnisstrafe wegen Dealens mit Marihuana und von Gigs in Los Angeles in den 1940er und 1950er Jahren. Der Saxophonist Floyd Turnham erinnert sich an Britt Woodman und an Aufnahmen mit Johnny Otis; die Sängerin Betty Hall Jones weiß noch, wie Nellie Lutcher ihr einen Vertrag bei Capitol Records verschaffte. Der Trompeter Red Mack Morris war in Les Hites Band, als diese Louis Armstrong begleitete und führte später eine Weile einen eigenen Club, in dem er schwarz Alkohol ausschenkte. Der Klarinettist Caughey Roberts erzählt von seinen Lehrern und davon, wie er schließlich selbst unterrichtete, daneben aber auch von einer Reise nach China mit Buck Clayton, über seine Arbeit mit Count Basie und Fats Waller in den 1930er Jahren und über seine Dixieland-Aufnahmen in den 1950ern. Der Pianist Chester Lane war ein großer Fan von Earl Hines, arbeitete lange Zeit um St. Louis, und zog 1957 an die Westküste. Der Trompeter Monte Easter erinnert sich, wie er und Art Farmer Ende der 1940er Jahre in Jay McShanns Band saßen, berichtet über die Probleme der afro-amerikanischen Gewerkschaften und über seinen Broterwerb als Postbediensteter. Der Bassist Billy Hadnott erzählt ausführlich von seinen musikalischen Erlebnissen in Kansas City und hat seine eigene Erinnerung daran, wie Charlie Parker ins Sanatorium von Camarillo kam. Der Trompeter Norm Bowden weiß einiges über Reb Spikes und den Schlagzeuger “Boots” Douglas zu berichten, aber auch über den Club Alabam im berühmten Dunbar Hotel auf der Central Avenue. Der Posaunist John ‘Streamline’ Ewing hatte anfangs gut bezahlte Nebenjobs in den Hollywoodstudios, ging dann auf Anregung eines Musikerkollegen nach Chicago, tourte mit Bands wie denen von Horace Henderson und Earl Hines und spielte ab den 1950er Jahren mit Teddy Buckner in Disneyland. Der Saxophonist Chuck Thomas spielte vor allem in der Küstenregion (bis Las Vegas) und zuletzt ebenfalls mit Teddy Buckner. Der Schlagzeuger Jesse Sailes erinnert sich, wie all die großen Swingbands in den Theatern von Los Angeles auftraten und wie er später Platten mit Percy Mayfield, Ray Charles und B.B. King aufnahm. Der Schlagzeuger Minor Robinson spielte mit Buddy Collette und kannte Charles Mingus, als dieser vielleicht 15, 16 Jahre alt war.

Es sind persönliche Geschichten, von Sidemen-Karrieren und außermusikalischen Lebensentscheidungen. Die Namen wiederholen sich; aus den Erzählungen schält sich dabei eine Szene heraus, die zusammenhielt, auch wenn einzelne der Musiker die Stadt für kürzer oder für länger verließen. Peter Vacher beschreibt zu Beginn eines jeden der Kapitel, wie er den Musikern auf die Spur kam und erklärt einzelne der von den Interviewten mitgeteilten Anekdoten. Nebenbei erzählen diese von der Mobilität des Musikerberufs, von Karrieren, die in New Orleans oder Chicago begannen oder in Kansas City und New York Station machten, deren Protagonisten aber, nachdem sie kalifornische Luft geschnuppert hatten, von dieser nicht mehr loskamen. Es gibt schöne Geschichten über das Zusammentreffen des West-Coast-Größen mit durchreisenden Stars der großen Swingbands; es gibt Insiderberichte über alle möglichen Aspekte des Showbusiness’; es gibt immer wieder den Anruf aus der Ferne, der ihnen einen Job in einer der “name bands” anbietet, den sie entweder für kurze Zeit annehmen oder aber ablehnen. Es gibt Geschichten über Familienplanung und solche über Tagesjobs, mit denen man die Familie ernähren konnte. Central Avenue spielt eine bedeutende Rolle, jene Straße, die in Teilen zu einem kulturellen Zentrum der afro-amerikanischen Community der Stadt wurde.

Peter Vacher hat die Gespräche laufen lassen; sein ursprüngliches Interesse galt der Lebensgeschichte der Musiker, weniger dem Treiben in Los Angeles. Und so nehmen die Erinnerungen an Chicago oder Kansas City oft mehr Raum ein als die aktuelle Lebenswirklichkeit des Ortes, an dem die interviewten Musiker schließlich landeten. Doch wird eine Szene eben nicht nur durch das geprägt, was Musiker in ihr kreieren, sondern auch durch alles, was sie aus ihrer Vergangenheit mitbringen. Von daher ist Vachers Ansatz völlig richtig, die Geschichte der Central Avenue durch die Einflüsse zu erzählen, die hier zusammenkamen.

Beim Lesen wünschte man sich stellenweise entweder einen knappen biographischen Abriss vor oder nach den Kapiteln oder aber das Einstreuen von Jahreszahlen, um die Erinnerungen der Musiker besser einordnen zu können. Wer bei Los Angeles an die Westcoast-Szene denkt, sei gewarnt: alle der von Vacher interviewten Musiker sind vor allem der Swingära zuzuordnen; sie erzählen zum Teil von den jüngeren Musikern, die sie kannten, waren aber nie selbst Mitglied dieser Szene. In seinem Vorwort heb Vacher vor allem drei Interviews hervor, die besonders gut gelungen seien: jene mit Andy Blakeney, Billy Hadnott und Norman Bowden, mit Musikern also, mit denen er mehrfach sprechen und dabei mehr über ihr Leben und musikalisches Wirken lernen konnte. Tatsächlich aber sind auch jene Gespräche lesenswert, die etwas langsamer “auf den Punkt” kommen. “Swingin’ On Central Avenue” gelingt es dabei, Erhebliches zur Kulturgeschichte des afro-amerikanischen Jazz im Los Angeles der 1930er bis 1950er Jahre beizutragen. Das Buch erzählt von künstlerischen Idealen und von der Realität des alltäglichen Musikgeschäfts. Die Entscheidung, die Vacher – sicher mehr der Not gehorchend – getroffen hatte, war genau richtig: Seine Protagonisten sind eben nicht die großen Stars, weil die Szene, die er im Fokus hat, sich in keiner der stilbildenden Städte befand, weil die Community, die er in den Kapiteln seines Buchs abbildet, sich aus vielen sehr disparaten Erfahrungen zusammensetzte. Sein Buch ist auf jeden Fall eine Fundgrube für Jazzhistoriker mit vielen Anekdoten und Erinnerungen, die dieser Rezensent hier zum ersten Mal gelesen hat; zugleich ist es eine abwechslungsreiche Zeitzeugensammlung einer Szene, die bislang nur mäßig dokumentiert ist.

Wolfram Knauer (Juli 2016)


Invitation to Openness. The Jazz & Soul Photography of Les McCann, 1960-1980
herausgegeben von Pat Thomas & Alan Abrahams
Seattle 2015 (Fantagraphics Books)
200 Seiten, 39,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-60699-786-4

2015mccannMusikerfotos – es gibt eine ganze Reihe an Jazzmusikern, deren Hobby auf Tournee das Fotografieren war. Milt Hinton ist der wohl namhafteste unter ihnen, doch jetzt zeigt ein neues Buch, dass auch Les McCann nicht nur gute Ohren, sondern auch ein exzellentes Auge hat. Das nämlich gehört dazu, auf dass das Buch eines fotografierenden Musikers nicht einzig wegen der Vorteile interessant ist, die sich daraus ergeben, dass der Mann hinter der Kamera zugleich auf der Bühne sitzt und von den Objekten seiner Begierde, also anderen Musikern, nicht als Störenfried, sondern als einer der ihren anerkannt wird.

Im Vorwort von “Invitation to Openness” erzählt A. Scott Galloway kurz die biographischen Stationen Les McCanns: geboren in Lexington, Kentucky, über Tuba und Snare-Drum zum Klavier gelangt, zusammen mit Eddie Harris mit “Compared to What” über Nacht einen Welthit geschaffen, der eine Solokarriere bedingte, die bis in jüngste Zeit anhielt. Pat Thomas erzählt die Genese des Buchprojekts: Er hatte gerade eine CD-Wiederveröffentlichung des McCann-Klassikers “Invitation to Openness” organisiert und McCann zu Hause besucht, als er in einer Ecke einen Stapel zerkratzter Abzüge von Fotos entdeckte, die der Pianist in den 1960er und 1970er Jahren gemacht, aber nie veröffentlicht hatte. Im Interview mit Thomas erzählt McCann, dass es in seiner Familie immer Fotoapparate gegeben habe. Er selbst habe sich eine Nikon gekauft und begonnen, auf der Bühne und daneben Menschen abzulichten. Als er sich ein Haus in Hollywood leisten konnte, richtete er sich eine Dunkelkammer ein und begann seine Aufnahmen selbst zu entwickeln.

Das Bemerkenswerteste an den Bildern ist vielleicht die Perspektive. Gerade die Bühnenaufnahmen sind eben nicht von vorn gemacht, aus dem Bühnengraben oder der ersten Reihe, sondern oft von der Seite oder leicht von hinten. Viele Bilder zeigen die Musiker backstage, in Vorbereitung fürs Konzert, in Freizeitklamotten beim Soundcheck. Das entspannte Lächeln Count Basies zeigt die entspannte Vertrautheit. Andere eindrucksvolle Motive sind etwa: Stanley Clarke mit abwartend-konzentrierter Miene (und einer denkwürdigen Frisur); Ben Webster am Flügel; Dexter Gordon und Joe Zawinul vor einem Motel; die junge Tina Turner; das Publikum aus Gefangenen im Cook County Jail; Cannonball Addlerley, der an einer Zigarette zieht, sein Gesicht halb in Rauch gehüllt. Neben Musikern gibt es Bilder von Schauspielern (Jack Lemmon, Bill Cosby, Jerry Lewis), Politikern (Jimmy Carter, Jesse Jackson, Stokely Carmichael, Dr. Martin Luther King), Sportlern (Muhamad Ali, Pelé), sowie einige wenige Bilder, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Doch auch diese Aufnahmen, etwa das eines alten Mannes mit Fahrrad, hätten das Potential zu Plattencovers.

Les McCann gibt zu einzelnen der Bilder Kommentare ab, in denen er Kolleginnen oder Kollegen erinnert. Auch die Identifizierung der Motive basiert auf McCanns Erinnerung, wobei es Motive gibt, zu denen er nicht wirklich mehr weiß, wo oder wann sie gemacht wurden, und zumindest eine falsche Zuschreibung (nein: das ist NICHT Eberhard Weber auf den beiden Fotos mit Sarah Vaughan, sondern Bob Magnusson!). Beim Durchblättern des Bandes kommt einem immer wieder in den Sinn, dass das Leben eines Jazzmusikers eben aus mehr besteht als der Bühnenwirklichkeit. Les McCanns “Invitation to Openness” bietet damit einen lohnenswerten und allemal mit Soul gefüllten Blick hinter die Kulissen sowohl der Musiker, die er darin dokumentiert, als auch seiner eigenen Konzertarbeit.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Bitches Brew
von George Grella Jr.
New York 2015 (Bloomsbury Academic, 33 1/3)
128 Seiten, 14,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-6289-2943-0

D2015grellaie Buchreihe 33 1/3 des Bloomsbury-Verlags behandelt eigentlich Rockgeschichte. Jeder Band ist einem separaten Album gewidmet und wird historisch kontextualisiert. Miles Davis wurde jetzt die Ehre zuteil, als erster Jazzer in die Reihe aufgenommen zu werden, die immerhin schon mehr als 100 Bände umfasst. Sein Album “Bitches Brew” von 1969 schrieb eben nicht nur Jazz-, sondern genauso auch Popgeschichte.

In seinem ersten Kapitel betont George Grella, wie schwer es ist, “Bitches Brew” klar einem Genre zuzuordnen. Miles wollte weder ein klares Jazz- noch ein dezidiertes Rockalbum machen. “Bitches Brew”, meint Grella, sollte man daher am ehesten als experimentelle Musik hören, als Versuch, den überkommenen Normen von sowohl Jazz wie auch von Rock zu entkommen.

Im zweiten Kapitel erklärt Grella die seltsame Sektenhaltung, die Jazzrezeption manchmal annehmen kann und gegen die sich Miles Davis von früh an wehrte. Geht nicht gibt’s nicht, sei sein Motto gewesen, und Popsongs nahm er bereits lange vor “Time After Time” auf. Miles, fasst Grella zusammen, spielte Pop nicht um Popstar zu sein, sondern um Musik zu machen. Er erzählt von der Zeit des Trompeters mit Charlie Parker, vom Capitol-Nonet, das irgendwie die Geburtsstunde des Third Stream wurde, sowie von “Kind of Blue” und “Sketches of Spain”.

In Kapitel 3 erklärt Grella, welch völlig anderen Ansatz Miles an die Produktion eines Albums hatte, bei dem er sich ab 1968, ab dem Album “Circle in the Round”, vorbehielt, die musikalischen Versatzstücke nach Belieben zusammenzuschneiden.

In den Kapiteln 4 und 5 schließlich steht “Bitches Brew” selbst im Mittelpunkt, wenn Grella über Titel und Covergestaltung geflektiert und die einzelnen Titel beschreibt. Das liest sich stellenweise wie eine Sportreportage: wer, wann, was, Tonart, Einsatz, Intensität. Grella verweist auf die oft nicht wahrnehmbare Editiertechnik Teo Maceros und darauf, wie dies nur deshalb möglich war, weil alle Musiker immer deutlich aufeinander hörten. In “Pharoah’s Dance” benennt er eine “hippe Blueslinie bei 4:46” oder eine Coda, die “fast Beethoven’schen Charakter” habe. Im Titeltrack zeigt er auf viele der Nahtstellen, und dann verweist auf die Unterschiede der beiden Platten des Doppelalbums: “eine, um dich wegzublasen, die andere, um deinen Kopf wieder geradezurücken”.

Im letzten Kapitel widmet Grella sich den Nachwirkungen des Albums, in der Kritik genauso wie im Jazz. Mit Verweis auf Wynton Marsalis erklärt er, dass da zwei recht unterschiedliche Sichtweisen der Zukunftfähigkeit von Musik aufeinandergeprallt seien, um dann Miles’ Konzept auf dem kleinsten Nenner zusammenzufassen: “Indem er Rhythmus, Puls und Harmonien – und auf Tonband eingespielte Kompositionen – verwandte, die absichtlich nicht zu einer Auflösung fanden, organisierte Miles Zeit: und sowohl Form wie auch Zeit finden damit in der Musik zusammen”.

Eine kommentierte Diskographie beschließt das Büchlein, das sich wie ein sehr ausführlicher Plattentext mit vielen zusätzliche Informationen liest. Ja, Grella gelingt die Kontextualisierung, und doch kommt er der Musik selbst nur bedingt nahe, auch weil seine analytischen Anmerkungen etwas zu oberflächlich bleiben, weil er quasi nur parallel zur Musik beschreibt, was man eh hört, anstatt zusammenzufassen, was das alles “bedeutet”. Trotz dieser Einschränkung aber ist Grellas Büchlein ein lohnenswerter Begleiter zur nächsten abendlichen Abhörsession dieses Miles Davis-Klassikers.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Jazz Basel. Vier Jahrzehnte Stars und Szene
herausgegeben von Offbeat = Urs Ramseyer & Ruedi Ankli & Peewee Windmüller & Urs Blindenbacher
Basel 2015 (Christoph Merian Verlag)
180 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-85616-695-5

2015offbeatDie Geschichte regionaler Jazzszenen kann man auf unterschiedliche Weise erzählen. Man kann nostalgisch und sehnsuchtsvoll zurückblicken und von alten Zeiten schwärmen. Oder man kann auch Zurückliegendes vor allem aus dem Wissen um die Gegenwart verstehen.

Die Macher des offbeat-Festivals gehen in ihrem Buch über “Jazz Basel” den zweiten Weg. Das opulent bebilderte Buch widmet einzig sein Eingangskapitel (von Bruno Spoerri) den Anfängen des Jazz in Basel von den 1920er bis in die 1970er Jahre. 1974 gründete sich der Verein und die Konzertreihe jazz in basel, 1990 schließlich das Festival offbeat. Das Buch blickt auf die Musiker, die seither auf dem Festival spielten, aus skandinavische Gäste oder gesamtdeutsche Schwerpunkte, auf Jazz aus dem Mittelmeerraum und einen lateinamerikanischen Fokus, auf US-amerikanische Bands und die Schweizer Musiker, die hier auch immer zu hören waren. Es gibt Anekdoten aus dem Alltag von Festivalorganisatoren und Berichte von Backstage. Die Auswirkungen des Festivals in Stadt und Region werden thematisiert, Schulprojekte etwa oder die Präsenz im örtlichen Rundfunk. Und schließlich wird mit Stolz auf die Zusammenarbeit des offbeat Festivals mit dem Jazzcampus Basel und dem Club The Bird’s Eye berichtet.

Das alles ist kurzweilig geschrieben, vordergründig wohl vor allem für regionale Leser interessant, daneben aber genauso ein Bericht über die Verankerung einer regionalen wie internationalen Szene, aus dem auch Veranstalter anderswo etwas lernen können. Und schließlich sind da noch die 86 schwarz-weißen Abbildungen, Fotos von Bernhard Ley, Peewee Windmüller und Röné Bringold, die die Erinnerungen an die Geschichte von offbeat ungemein lebendig werden lassen.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher
von Detlef Siegfried
Göttingen 2015 (Wallstein)
455 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1673-7

2015siegfriedErnest Borneman war eine Mehrfachbegabung, so sehr, dass es genügend Menschen gaben, die dachten, es handele sich wahrscheinlich um mehrere Personen, die nur zufällig denselben Namen hätten. In den 1970er und 1980er Jahren war Borneman ein regelmäßiger Gast in deutschen Talkshows, wann immer es um das Thema Sexualität ging, hatte daneben eine Sex-Beratungskolumne in der Neuen Revue. Als Soziologe hatte er sich mit seinem Buch Das Patriarchat 1975 einen Namen gemacht. Vor seiner Beschäftigung mit Frauenbewegung und Feminismus hatte Borneman eine Karriere im Filmgeschäft gemacht, arbeitete für das National Film Board of Canada, für die UNESCO in Paris und war Programmdirektor des Freien Fernsehens, der ersten privaten Fernsehanstalt, die nach ihrem Verbot durch die Adenauer-Regierung quasi durch das ZDF abgelöst wurde. Und noch früher war Borneman nicht nur Jazzliebhaber und -experte, sondern einer der ersten Jazzforscher, ein Kenner des Jazz, der diese Musik zeitlebens als transkulturelle künstlerische Aussage verstand und 1944 mit seinem Artikelreihe “The Anthroprologist Looks at Jazz” eine der ersten übers Anekdotische hinausreichenden Kulturgeschichten des Jazz verfasste.

Borneman schied im Juni 1995 aus dem Leben. Sein Archiv ist in der Berliner Akademie der Künste untergekommen; jetzt hat der Historiker Detlef Siegfried die Biographie des vielfältigen Forschers vorgelegt. Diese hat er klar nach den verschiedenen Feldern gegliedert, in denen Borneman tätig war, überschrieben “Hören. Die Ethnologie des Jazz”, “Sehen. Das Leben auf der Leinwand” und “Berühren. Sex und Gesellschaft”.

Der 1915 in Berlin geborene Ernst Bornemann – wie er bis zu seiner Emigration 1933 hieß – hatte bereits 1930 Bertolt Brecht kennengelernt, als Mitglieder von Berliner Schulchören zu Proben des Lehrstücks Der Jasager geladen worden waren. Er und Brecht freundeten sich an, Brecht half ihm bei der Abfassung seines ersten Theaterstücks und Borneman Brecht bei einer Neuübersetzung des Dreigroschenromans ins Englische. Siegfried, der zu Beginn seines Buchs anschaulich erklärt, wie er sich durch Bornemans eigene “Autofiktionen”, wie er sie nennt arbeiten musste, durch falsche Fährten also, die Borneman aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten seiner Karriere legte, beschreibt Bornemans Exil als “nicht nur Flucht-, sondern auch Möglichkeitsraum”.

In London war Borneman regelmäßig bei Jazzkonzerten anzutreffen, verkehrte außerdem in einem Kreis linker und schwarzer Intellektueller. Bereits Mitte der 1930er Jahre hatte er einen Kriminalroman geschrieben, arbeitete bald auch an einem Drehbuch für einen möglichen eigenen Film, in dem auch der Jazz eine Rolle spielen sollte. Im Sommer 1940 wurde er als “feindlicher Ausländer” interniert, doch bereits zuvor produzierte er seine erste Rundfunksendung. Nach seiner Internierung wurde er nach Kanada deportiert, wo er nach seiner Entlassung beim National Film Board Arbeit fand.

Er knüpfte Kontakt zu Sammlern und Jazzkennern in den USA und sammelte Material für eine mögliche musikwissenschaftliche Dissertation und ein Buch zum Thema “American Negro Folk Music”, das von zwei Verlagen zur Publikation angenommen, dann aber wegen kriegsbedingten Papiermangels nicht gedruckt wurde. In seinen Jazzarbeiten, für die Borneman sich bei dem bekannten Musikethnologen Melville J. Herskovits um ein Stipendium bemühte, ging es, wie Siegfried zusammenfasst, “um zwei Themen: erstens um die Verbindungen von afroamerikanischer Volksmusik und moderner Tanzmusik der Gegenwart, und zweitens um die Verschränkungen von sozialen Verhältnissen und Populärkultur”. 1944 begann Borneman seine achtteilige Artikelserie “The Anthropologist Looks at Jazz”, die in der Zeitschrift The Record Changer erschien, der er bald auch als Mitherausgeber angehörte. Er schlug sich in der Debatte um den Bebop zwar auf die Seite des “authentischen” Jazz, konnte aber der romantischen Rückwärtsgewandtheit vieler der Traditionalisten wenig abgewinnen und versuchte daher immer wieder zwischen den Lagern zu vermitteln.

Mitte der 1940er Jahre lebte er in Paris, interviewte Louis Armstrongs Band anlässlich des ersten Jazzfestivals in Nizza im Jahr 1948, und freundete sich mit amerikanischen Expatriates und französischen Musikern wie Claude Bolling oder Boris Vian an. Er schrieb für den britischen Melody Maker und produzierte 1953 mit Betty Slow Drag einen experimentellen Kurzfilm, der seine beiden großen Interessen Jazz und Film miteinander verbinden sollte. Für den Melody Maker berichtete Borneman auch über den Jazz in Westdeutschland, konnte aber, selbst als Joachim Ernst Berendt versuchte ihn mit zeitgenössischen Musikrichtungen der 1960er Jahre anzufreunden, indem er ihn in ein Konzert John Coltranes mitnahm, mit dem modernen Jazz wenig anfangen.

Siegfried widmet Bornemans langer Auseinandersetzung mit den karibischen Wurzeln des Jazz ein eigenes Unterkapitel und berichtet davon, wie der spätere Beat Club von Radio Bremen auf Bornemans Ideen zurückzuführen gewesen sei. Er zeigt, dass Borneman in seinen Schriften einige Debatten angestoßen hatte, die in der Jazzkritik erst in den 1960er Jahren wirklich ausgetragen wurden, als er selbst an dieser Diskussion nicht mehr selbst teilnahm. Letzen Endes mag Borneman nicht mit allen seiner Thesen Recht gehabt haben, ohne Zweifel aber sei er ein Wegbereiter der internationalen Jazzforschung gewesen.

Der Jazz spielt auch in den weiteren Lebens- und Arbeitsphasen für Borneman eine wichtige Rolle, und Bornemans kritischer Geist, den Siegfried am Beispiel des Jazz ausgiebig beschrieben hat, lässt sich auch in diesen Bereichen zeigen. Detlef Siegfrieds Buch ist dabei ein faktenreicher Band, der biographische Stationen und Diskurse, an denen Borneman beteiligt war, laufend miteinander verschränkt. Ganz sicher war Borneman einer der schillerndsten Vordenker des Jazz; Siegfrieds Schilderung sowohl seines Lebens als auch der Diskussionen, an denen sich Borneman sein Leben lang beteiligte, zeigt ihn aber darüber hinaus als einen vielseitig gebildeten, einfachen Erklärungen zutiefst skeptisch gegenüberstehenden, zur Offenheit des Denkens neigenden Forscher.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Teddy Wilson. 19 Selected Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2015 (Blue Black Jazz)
44,95 Euro

Boogie Woogie, Volume 2. 17 Original Boogie Woogie and Blues Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2014 (Blue Black Jazz)
46,85 Euro
Zu beziehen über www.blueblackjazz.com

Paul Marcorelles hat bereits eine ganze Reihe an Transkriptionen von Pianisten des frühen Jazz vorgelegt, vorzugsweise von Musikern, die im Stride- oder Boogie-Woogie-Stil spielten. Seine jüngsten Veröffentlichungen widmen sich dem Swing-Stil Teddy Wilsons auf der einen und dem Repertoire einiger der Boogie-Woogie-Größen der frühen 1940er Jahre auf der anderen Seite.

2015marcorelles_wilsonFür Teddy Wilson hat Marcorelles sich Soli zwischen 1934 und 1946 ausgesucht, schnelle virtuose Titel wie “Rosetta”, den “Tiger Rag” oder “When You and I Were Young, Maggie” sowie Balladen wie “Don’t Blame Me”, “Out of Nowhere” oder “Body and Soul”. Seine Transkriptionen sind exakt, gut lesbar, reine Notationen ohne weitere Spielanweisungen oder analysierende Harmoniesymbole. Sie sind zum Nachspielen gedacht, brauchen allerdings Pianisten, die zum einen keine Probleme mit den bei Wilson so beliebten Dezimengängen der linken Hand haben und zum zweiten technisch fortgeschritten sind, um die virtuosen Arpeggien und die die Rhythmik aufbrechenden Läufe tatsächlich zum Swingen zu bringen. Wilsons linke Hand allein kann jedem Pianisten helfen, die antreibende Kraft des Swingens zu begreifen. Auch das Studium seiner Voicings lohnt, deren Alterationen den Akkorden zusätzliche Schwebungen verleihen. Wie immer bei Transkriptionen von eigentlich improvisierten Jazzsoli ist es mehr als hilfreich, sich die Soli auf Platte (oder über Streamingdienste) anzuhören.

2015marcorelles_boogieIm zweiten der beiden jüngst veröffentlichten Bände versammelt Marcorelles Transkriptionen von Hersal Thomas (“Hersal’s Blues”), Clarence ‘Pinetop’ Smith (“Pinetop’s Boogie Woogie”), Jimmy Yancey (etwa den “Five O’Clock Blues”), Pete Ammons (z.B. “Rock It Boogie”), Meade Lux Lewis (“Chicago Flyer” und “Glendale Glide”), Albert Ammons (etwa seinen “Swanee River Boogie”), Sammy Price (133rd Street Boogie”) und Pat Flowers (“Eight Mile Boogie”). Die rhythmischen Verschiebungen zwischen Bassfiguren und rechter Hand im Boogie Woogie sind dabei noch weit schwerer zu “lesen” und bedürfen noch stärker des Höreindrucks, um sie danach vom Papier in die Tasten zu übertragen und erlauben im Idealfall – und das wäre es ja eigentlich immer im Jazz – irgendwann das Loslassen und das eigene Erfinden melodischer und rhythmischer Muster, die eigene Improvisation.

Marcorelles’ neue Bände seien jedenfalls jedem interessierten Pianisten empfohlen als Übe- genauso wie Studienmaterial. Marcorelles bietet auf seiner Website übrigens alle insgesamt 202 Transkriptionen dieser wie früher erschienener Bände auch einzeln zum Download als PDF-Datei an

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Hot Music, Ragmentation, and the Bluing of American Literature
von Steven C. Tracy
Tuscaloosa 2015 (The University of Alabama Press)
537 Seiten, 64,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8173-1865-9

2015tracySteven C. Tracy ist Literaturwissenschaftler, Professor für Afro-American Studies, aber auch ein Blues-Harp-Spieler, der bereits in Vorgruppen für B.B. King, Muddy Waters und andere Stars der Szene auftrat. In seinem umfangreichen Buch stellt er die afro-amerikanische Musik der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, also Jazz und Blues, als Referenzpunkt dar, der helfen könne, die amerikanische Literaturgeschichte jener Zeit besser zu verstehen. Es geht ihm dabei nicht einzig um Romane oder Dichtung, die sich konkret und thematisch mit Musik beschäftigen, sondern auch um den Einfluss von Klanglichkeit, von Virtuosität, von improvisatorischer Haltung auf die amerikanische Literatur der Jahre bis 1930. Er greift hierfür immer wieder zurück auf konkrete Aufnahmen, um etwa Beispiele der afro-amerikanischer Stimme, des afro-amerikanischen Rhythmus, der Griot-Funktion des Bluessängers, der Bedeutung von Wiederholungen, der tiefen Doppeldeutigkeit, der politischen Untertöne herauszustreichen, die eben keine rein afro-amerikanischen Untertöne seien, sondern Befunde für den Zustand der gesamten amerikanischen Gesellschaft. Tracy verbindet die Genres, folkloristischen Blues, modernistischen Jazz, um aus dem Mix der Aufnahmen heraus, auf die er sich bezieht, neue Argumente zu entwickeln, die abseits der üblichen Beschreibung von Jazz-, Blues- oder Kulturgeschichte liegen. Er untersucht daneben auch Film- oder klassische Musikgeschichte nach Einflüssen von oder Analogien zu afro-amerikanischer Musik und findet den nachhaltigsten Widerhall außerhalb der Musik schließlich in der Literatur, bei T.S. Eliot, William Carlos Williams, Hart Crane, Gertrude Stein, Ezra Pount, und bei Abbe Niles, Langston Hughes, Countee Cullen, Zora Neale Hurston und anderen Dichtern und Schriftstellern der Harlem Renaissance.

Tracys schnelle Wechsel zwischen den Diskursen sind dabei sowohl inspirierend wie auch, da sie ein häufiges Vor- und Zurückblättern erfordern, zeitweise ermüdend. Sein intertextueller Ansatz ist auf jeden Fall ein Beispiel, wie sich aus dem Studium afro-amerikanischer Musik Aussagen über weit mehr als diese treffen lassen, wie stark tatsächlich diese Musik bereits in den ersten 30 Jahren des 20sten Jahrhunderts ihren Niederschlag im Denken, Handeln und Schreiben gefunden hat.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Friedel Keim
Das große Buch der Trompete (3)
Diskografie, Fotografien, Statistik, Nachträge
Fortsetzung des Trompeter-Lexikons, Band 3
Mainz 2015 [Eigenverlag
554 Seiten, 33,90 Euro
nur direkt zu beziehen über
Friedel Keim, e-mail: ruf.keim@t-online.de

2015keimDer Ur-Maizer Trompeter Friedel Keim hat nach den ersten beiden Auflagen von 2005 und 2009 nun den dritten Band seiner Trompeterbibel vorgelegt, ein sorgfältig recherchiertes Kompendium, das die verschiedensten Seiten des Instruments und seiner Musiker beleuchtet und dessen Spektrum von Klassik über Jazz bis zur volkstümlichen Musik reicht.

Keim kennt dabei keine Berührungsängste. Er versteht es genauso, sich über die Kunst der Barocktrompete auszulassen wie über die Probleme, die viele Jazzer mit der Ästhetik eines Wynton Marsalis haben. Und neben den großen Stars finden auch die Satzbläser wieder Erwähnung oder Musiker der aktuellen Szene.

Der lexikalische Teil von Band 3 enthält biographische Artikel von A wie “Abbott, Goivinda” bis Z wie “Zonshine, Michael”. Neben diesen teils ausführlichen Portraits gibt es Anmerkungen zur Interpretation von Werken aus Klassik, Marschmusik und anderen Genres, darunter auch analytische Anmerkungen und Notenbeispiele aus dem Jazzbereich, etwa eine Transkription des “West End Blues” in der Version von Louis Armstrong und seiner Hot Five von 1928, Dizzy Gillespies “Night in Tunisia”, oder Maynard Fergusons Version von “Body and Soul”. Korrekturen und Ergänzungen zu den beiden ersten Bänden erhalten ein eigenes Kapitel, und wieder gibt es den Block “Wissenswertes rund um die Trompete”, der etwa Informationen über das “Gansch-Horn” gibt oder über das flexibrass-Mundstück, über die Vuvuzela oder über die Trompete auf historischen Briefmarken, über den Trompetenbaum oder diverse Filme, in denen die Trompete im Mittelpunkt steht. Schließlich findet sich noch ein umfassendes Kapitel zu Horst Fischer, jenem legendären deutschen Trompeter, dessen Prolog zu einer Autobiographie Keim abdruckt, außerdem eine alphabetische Auflistung aller ihm bekannter Fischer-Aufnahmen.

Wie bereits in den vorherigen Bänden findet sich auch in Band 3 vieles, was sonst kaum irgendwo erierbar wäre. Friedel Keim weiß um Geburts- und Sterbedaten, berichtet über die Stars, aber eben genauso über die “kleinen” Vertretern des Instruments, über Satzspieler oder junge Musiker, die durchaus auch zwischen den stilistischen Welten leben und arbeiten, über Dixieland- und Swingtrompeter, die eher der Amateur- als der Profiszene angehören, aber dennoch gute Musiker sind, über Musiker von denen man noch nie gehört hat oder aber auch Musiker, die man persönlich kennt, aber nie in einem Lexikon vermutet hätte, weil ihr Arbeitsschwerpunkt doch eher regional begrenzt ist. Keim hat sich ihnen allen angenommen mit einem Vollständigkeitsanspruch, der jede Kritik an der Auswahl im Keim ersticken ließe (man entschuldige das Wortspiel). Und gerade in den Einträgen zu den kleinen Vertretern der Trompete erkennt man einmal mehr die “labor of love” dieses Buches, das zu alledem noch exzellent lesbar ist. Kein kritisches Buch vielleicht, dafür ein verlässliches Nachschlagewerk für jeden, der sich für die Trompete interessiert: eine Trompeterbibel fürwahr!

(Wolfram Knauer, Februar 2016)


 

Mein Onkel Pö
von Holger Jass
Hamburg 2015 (Offline-Verlag)
137 Seiten, 25,55 Euro
ISBN: 978-3-00-051272-8

2015jassEinen ersten Hinweis auf den Inhalt dieses Buchs gibt bereits der Preis: 25,55 Euro, entsprechend einem Cent pro Nacht im legendären Club, wie Holger Jass in der Presseankündigung zum Buch erklärt. Holger Jass hatte das Onkel Pö (Onkel Pö’s Carnegie Hall, wie es damals offiziell hieß) Anfang 1979 vom Vorbesitzer Peter Marxen übernommen, der ihn bei der Übergabe warnte: “Ich muss dich warnen. Pö-Jahre sind wie Hundejahre. Die zählen siebenfach.” Jass hielt es bis Anfang 1986 aus, führte das “Pö” im Sinne seines Kultstatus’ weiter und hat jetzt ein kurzweilig-amüsantes Buch über seine Erlebnisse mit Musikern, Medienmenschen, Kollegen und dem Publikum geschrieben, das ihm die ganzen Jahre über treu blieb, aus dessen Reihen sich aber partout kein Interessent für eine Nachfolge finden ließ.

“Jetzt macht Jass den Jazz im Onkel Pö” titelte das Hamburger Abendblatt, als Jass 1979 übernahm. Sein Buch handelt natürlich auch von Jazz. Er beschreibt, wie Michael Naura, damals Jazzredakteur des NDR viele der Jazzabende mitschnitt, die sich das Pö ansonsten kaum hätte leisten können. Den Flügel im Club hatte kein geringerer als Joachim Kühn ausgesucht und eingeweiht. Ansonsten bevölkern Jazzer wie Freddie Hubbard, Elvin Jones, Pat Metheny, Dexter Gordon die Seiten, aber auch Tom Waits, Charlie Watts, Joe Cocker, Hannes Wader, Truck Stop und natürlich Udo Lindenberg, der dem “Pö” in einem seiner Hits ein Denkmal setzte.

“Bei Onkel Pö spielt ‘ne Rentnerband”, hieß es da, “seit 20 Jahren Dixieland” – aber mit Dixieland ließ sich so ein Schuppen nicht finanzieren, bilanziert Jass trocken … obwohl man das Wort “trocken” selbst bei einer Rezension dieses Buchs nicht in den Mund nehmen sollte, denn trocken ging es ganz sicher nicht zu im Pö. Auch davon handelt das Buch, von den skurrilen Erlebnissen mit den Musikern, vom gesteigerten Alkoholkonsum, vom Pflegen einer Szene und davon, dass man, um Wirt zu sein, ein dickes Fell und viel Humor benötigt. Pineau ist das Zauberwort, jene süßliche Mischung aus Traubenmost und Cognac, die Jass als Allheilmittel vieler Probleme genauso beschreibt wie als Ursache anderer. Seine Anekdoten machen klar, dass man als Wirt und täglicher Konzertveranstalter selbst nicht ganz ohne solche “Medizin” auskommt: ein divenhafter Auftritt Freddie Hubbards etwa oder jener Abend mit Dexter Gordon, den Jass allerdings erst aus drogenbedingtem Tiefschlaf im Hotel um die Ecke wecken musste, den er für seine 57 Jahre als “bös klöterich” beschreibt, der dann aber nach einem dreifachen Whiskey ein denkwürdiges Konzert gegeben habe.

Sehr viel tiefer geht es sicher nicht in seinen Erinnerungen, die er mit viel Augenzwinkern und der humorvollen Abgeklärtheit der zeitlichen Distanz schreibt, und bei denen man schon mal über die eine oder andere schlüpfrige Anekdote hinweglesen muss. Bei all denen, die dabei waren in diesem zwischen Alternativszene und Hochkultur angesiedelten Zauberort in Eppendorf, wird er warme Erinnerungen wecken. Man meint den Fusel wieder zu schmecken und die dicke Luft wieder zu riechen, vor allem aber erinnert man sich an die musikalischen Hochgenüsse, die das Onkel Pö so oft und so viel vermittelte. Für diejenigen, die nicht dabei waren, gibt Jass ein launiges Portrait, einschließlich etlicher Fotos, ein Portrait, das stellenweise einer Filmdokumentation über verwunschene Zeiten ähnelt, bei denen man eigentlich gern dabei gewesen wäre.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Rhythm Is My Beat. Jazz Guitar Great Freddie Green and the Count Basie Sound
von Alfred Green
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
325 Seiten, 75 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4246-3

2015greenCount Basies All American Rhythm Section gilt als die swingendste Rhythmusgruppe des Jazz. Die Art, wie Pianist Basie, Gitarrist Freddie Green, Bassist Walter Page und Schlagzeuger Jo Jones rhythmisch und harmonisch ineinandergriffen, um den vorwärtstreibenden Schwung zu schaffen, der zu ihrem Markenzeichen wurde, besaß so viel an Energie, dass Rhythmusgruppen überall auf der Welt sie zum Vorbild nahmen. Den wichtigsten Anteil an dieser Energie hatte, wie Basie selbst, aber auch zahllose andere Musiker bezeugen, Freddie Green, der dem Count Basie Orchester von 1937 bis zu Basies Tod im Jahr 1983 und der Band noch ein paar Jahre danach bis zu seinem eigenen Tod 1987 angehörte. Von Nichtmusikern wurde Green schon mal dafür bemitleidet, ein ganzes Leben lang nie ein wirkliches Solo gespielt, dafür immer nur “schrumm schrumm” gemacht zu haben, vier Schläge pro Takt, durchgehend vom ersten Akkord bis zum letzten; und doch ist ihm jemand kaum in der Kunst des Rhythmus nahegekommen, den dieser Vierschlag erzeugen konnte.

Jetzt hat Alfred Green, der Sohn des Gitarristen, eine Biographie vorgelegt, die weit mehr ist als die persönliche Erinnerung eines Verwandten. Greens Buch schafft den Spagat zwischen Insiderwissen, persönlicher Betroffenheit und nüchterner Beschreibung der Lebens- und Arbeitswirklichkeit eines Musikers der Bigbandära.

Die Geschichte beginnt in Charleston, South Carolina, wo Freddie Green 1911 geboren wurde, in einer Stadt mit einer überaus lebendigen schwarzen Musikszene. Nachdem er die erste Ukulele gegen ein viersaitiges Banjo ausgetauscht hatte, sammelte er erste musikalische Erfahrungen mit Freunden aus dem Jenkins Orphanage, einem berühmten Waisenhaus in Charleston, aus dem etliche spätere Musiker hervorgingen. Mit einer dieser Bands reiste er die Küste hoch bis nach Maine, wechselte irgendwann vom Banjo zur Gitarre und spielte mit dem Saxophonisten Lonnie Simmons und dem Stride-Pianisten Willie Gant. Als der Impresario John Hammond ihn hörte, empfahl er seinem Schützling Count Basie, sich den Gitarristen für sein Orchester zu sichern. Im Januar 1937 kam es zum Vorspiel erst in kleinem Kreis, dann mit der Bigband, und am 1. Februar begann sein mehr als 45-jähriges Engagement als Motor des Count Basie Orchestra.

Alfred Green erzählt nicht nur die Lebens- und Arbeitsstationen Greens, sondern nähert sich auch seinem Stil, fragt nach Einflüssen, erklärt die Besonderheit des Green’schen Sounds. Der Autor wurde im Februar 1938 geboren, im selben Jahr beendete seine Mutter ihre Beziehung zu seinem Vater, sicher auch, weil der inzwischen eine Romanze mit Billie Holiday begonnen hatte, die für kurze Zeit mit Basie reiste.

Green beschreibt die verschiedenen Besetzungen der Basie-Band der 1930er und 1940er, die Schwierigkeiten des Musikerlebens, und die zunehmenden Probleme der Musikindustrie, die schließlich dazu führten, dass Basie sein Orchester auflöste und kurze Zeit mit einem Sextett – ohne Gitarre – auftrat. Sein Vater nahm die Entscheidung nicht hin und tauchte einfach beim nächsten Gig des Sextetts mit seiner Gitarre auf. “Was machst du denn hier?”, fragte Basie, und Green antwortete, “Was glaubst du wohl? Du hast hier einen Gig, richtig? Ich habe dir die besten Jahre meines Lebens gegeben und du glaubst, mich einfach beiseiteschieben zu können? Keine Chance!”

Während die 1930er- und 1940er-Jahre-Band insbesondere ein Solistenorchester war, wurde der Sound der 1950er Jahre-Band durch ihre Arrangeure geprägt. Alfred Green berichtet, wie Green seinen Platz in den Arrangements fand, wie er sich zu den Schlagzeugern positionierte, und wie er seine Aufgabe immer als die eines Unterstützers der anderen gesehen habe.

Neben den Einsichten in Greens Karriere sind es vor allem die technischeren Kapitel, die im Buch faszinieren. Alfred Green beschreibt etwa die Spannung der Saiten, die besondere Haltung, die Green benutzte, bei der sein Instrument fast auf seinem Schoß lag, spricht über die Tatsache, dass Green kaum je mit nicht-akkordischen Soli zu hören war, über seine wenigen Aufnahmen unter eigenem Namen, über Gigs für andere Bandleader und anderes mehr.

Einem dicken Block mit seltenen Fotos folgen schließlich noch Analysen von Michael Petterson, M.D. Allen und Trevor de Clerq sowie Zitate anderer Gitarristen über Green, schließlich eine ausführliche Diskographie aller seiner Aufnahmen.

Es gibt eine Reihe an Büchern über das Count Basie Orchester, darunter natürlich auch Basies eigene Autobiographie, verfasst mit Hilfe Albert Murrays. Keines dieser Bücher aber bietet einen so persönlichen Einblick in die Band wie das Buch Alfred Greens über seinen Vater. Der Gitarrist Freddie Green war wahrscheinlich der wichtigste Musiker des Basie Orchesters, der nicht nur für den durchgehenden Swing und eine rhythmische Verlässlichkeit stand, sondern der Band auch, was oft übersehen wird, ihren ganz spezifischen Sound verlieh, der sie aus der Menge ihrer Konkurrenten auf dem großen Bigbandmarkt hervorhob. Greens Buch gelingt in diesem Umfeld gleich dreierlei: Er schreibt eine Biographie des Gitarristen Freddie Green, er erzählt Details aus der Bandgeschichte Count Basies (und damit aus dem Alltag der Swingära), und er teilt sehr persönliche Erinnerungen an seinen Vater mit dem Leser.

Ihm gelingt dabei der schwierige Spagat, Beobachter und Sohn zur selben Zeit zu bleiben. Zu Beginn liest sich das alles wie eine interessante, aber eher distanzierte Lebensdarstellung, bis Green aus einem Gespräch zitiert, das er mit seiner Mutter geführt hatte, und bei dem einen schlagartig klar wird, dass der Autor ja Sohn des Objekts seines Berichts ist, dass er mit dem Wissen eines Familienglieds, sicher auch mit eigener Betroffenheit schreibt. Solche Perspektivwechsel gelingen ihm hervorragend, wie man in etlichen bewegenden Passagen erkennen kann. Green verschweigt macht aus seinem Vater nirgends einen Heiligen, sondern stellt ihn als Menschen dar, der nach dem Besten strebte, aber durchaus fehlbar war.

“Rhythm Is My Beat” ist ein sehr empfehlenswertes Buch, über Freddie Green, über Count Basie, über die Swingära und vieles mehr. Alfred Greens Buch gibt einen tieferen Einblick als vieles, was man sonst so liest zu diesem Thema und ist eine spannende Lektüre für Fans, genauso wie für Musiker oder Forscher über diese Musik.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Keith Jarrett. Eine Biographie
von Wolfgang Sandner
Berlin 2015 (rowohlt)
362 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-780-1

2015sandner“Mit freundlichen Künstlern ist die Welt nicht gesegnet”, beginnt Wolfgang Sandner sein Buch, das er mit Wohlwollen des Pianisten angegangen war, bis er mit diesem nach einem Konzert aneinandergerieten sei, weil es Jarrett nicht gefallen habe, dass Sandner sein “Köln Concert” als einen seiner größten Erfolge bezeichnete. “Das Ende eines Dialogs eröffnet jedoch auch eine Chance”, befindet Sandner. In der Folge nämlich habe er sich noch stärker auf die Musik konzentrieren müssen. Das Ergebnis ist ein Buch, das der Musik Jarretts als eines Künstlers gerecht wird, der seine Kraft aus der Improvisation des Jazz zieht, dessen Wirkung aber weit über dieses Genre hinausreicht.

Keith Jarrett wurde am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren, und Sandner sieht diesen Tag, Kriegsende, als symbolträchtig für die Jahrhundertkarriere des Pianisten. Ohne Europa, das durch den Krieg noch mehr für die Qualitäten des Jazz sensibilisiert war, erklärt Sandner, wäre Jarretts Karriere einerseits so nicht möglich gewesen, auf der anderen Seite habe Jarrett immer tief in den Traditionen der amerikanischen Avantgardeästhetik gestanden, in der Tradition auch eigenbrötlerischer Künstler wie Lou Harrison und Alan Hovhaness, deren Werke er Anfang der 1980er Jahre in Europa uraufführte.

Sandner zeichnet die Kindheit Jarretts in Allentown nach, die Erkenntnis seines Talents, das Trauma der Trennung seiner Eltern, dem er mit dem Rückzug in die Musik begegnete, und die musikalischen Bemühungen seiner Brüder. Jarrett spielte mit lokalen Bands, besuchte Workshops, gewann ein Stipendium fürs Berklee College, mit dessen die Musik eher regulierenden als zur Kreativität ermutigendem Lehrplan er allerdings wenig anzufangen wusste. Da war die Schule von Art Blakeys Jazz Messengers schon eine andere, in denen Jarrett ab Herbst 1965 für vier Monate mitwirkte. Von Blakey wechselte er in die Band des Saxophonisten Charles Lloyd, dem er durch dessen Schlagzeuger Jack DeJohnette empfohlen worden war. Lloyds Quartett war “die erste Supergroup des Rockjazz”, und Sandner hört sich sowohl dessen Studio- wie auch die Liveaufnahmen an. 1967 gründete Jarrett sein erstes Trio mit Charlie Haden und Paul Motian, und als ihm Miles Davis 1969 zum wiederholten Mal anbot, in seiner Band mitzuwirken, sagte Jarrett zu, obwohl Miles mit Herbie Hancock und Chick Corea bereits zwei Pianisten in der Band hatte. Bei Miles musste er elektronische Keyboards und Orgel spielen, Instrumente, die ihm eigentlich zuwider waren. Zugleich setzte er sich noch mehr mit Klang auseinander, mit dem Sound der Instrumente, die er zu bedienen hatte genauso wie den Soundmöglichkeiten der Band, die für Miles im Mittelpunkt seiner “musikalischen Großräume, Klangkunstwerke” standen.

Ein eigenes Kapitel widmet Sandner der Partnerschaft zwischen Keith Jarrett und Manfred Eicher, der weit mehr war als ein Labelgründer und Plattenproduzent. Jarrett stand Anfang der 1970er Jahre eigentlich bei ABC unter Vertrag, ihm wurde aber erlaubt, Produktionen mit “ernster Musik” und ähnliche Aufnahmen ohne Gegenleistung anderswo einzuspielen, das könne sein Ansehen schließlich nur steigern. Dass Jarretts Aufnahmen für Eichers Edition of Contemporary Music zum Zugpferd für das Label ECM werden sollten, hatte niemand vorhergesehen. Im November 1971 also ging Jarrett erstmals in Oslo ins Studio und produzierte mit “Facing You” die erste von bis heute 28 Solo-Produktionen für Eicher, ein Album, das sowohl Jarretts Ruf als Solopianist begründete als auch Eichers Ruf als einer der offenohrigsten Produzenten des Jazz. Sandner erklärt, was die Partnerschaft und das Vertrauen der beiden zueinander begründe, die Tatsache etwa, dass Eicher selbst Musiker sei oder dass sein Interesse neben dem Jazz auch anderen Formen von Musik (oder Literatur oder Kunst oder Film) gelte. Eicher, schlussfolgert Sandner auch nach dem Gespräch mit anderen ECM-Künstlern, sei bei vielen seiner Produktionen der “dritte Mann”, auch wenn man ihn weder sehe noch höre.

Es gäbe etliche Musiker und Musikliebhaber, warnt Sandner schon im Vorwort seines Buchs, die meinen, über Musik solle man nicht so viel schreiben, da diese das Wesentliche doch eh in sich berge. Und dann tut er genau das, kongenial, so nämlich, dass seine Zeilen die Musik zwar heraufbeschwört, aber nirgends zu ersetzen trachtet. Über Jarretts Klavierspiel etwa schreibt er, man könne vielleicht die verschiedenen Techniken benennen, die seinen Personalstil ausmachten, komme dabei aber vor allem an einem Charakteristikum nicht vorbei, das Sandner die “Konzentration aufs Wesentliche” nennt und das er in Jarretts musikalischem Ansatz genauso findet wie in seiner Wahl der Mitmusiker oder in der klaren Gliederung seines Repertoires in Standards, eigene Kompositionen und freie Solo-Improvisationen.

An anderer Stelle verfolgt er Jarretts Vervollkommnung der authentisch-eigenen Stimme. Er betrachtet die Aufnahmen seines amerikanischen Quartetts mit Dewey Redman und seines europäischen Quartetts mit Jan Garbarek, beschreibt, was an diesen Aufnahmen so besonders sei, obwohl sie doch weder einen unerhörten Klang hervorbrächten noch eine neue Form oder eine außergewöhnliche ästhetische Haltung. Er nennt Jarrett einen “Solist ohne Grenzen”, verfolgt die unterschiedlichen pianistischen Ansätze, die der Künstler über die Jahre entwickelte. Und Sandner ist wie wenige deutsche Autoren ein Meister darin, Musik mit Worten näher zu kommen. Ein Beispiel: Über Jarretts Album “Staircase” schreibt er: “Alles, was Jarrett in den elf Stücken erklingen lässt, besitzt Körperlichkeit. Es gibt keine flachen Töne, nur runde, eckige, kubusartige, voller Tiefenschärfe. Wenn ein Ton verklingt, wird er nicht nur leiser, er verschwindet wie in einem Tunnel, verliert nicht nur sein Volumen, sondern wird augenscheinlich kleiner.” Er benennt die Beziehungen zwischen Jarretts Aufnahmen an der Barockorgel in Ottobeuren und seiner Suche nach Klangfarben einerseits und ähnlichen Suchen europäischer oder amerikanischer Komponisten andererseits, nicht aber, um daraus Einflüsse abzuleiten, sondern um zu zeigen, dass Jarrett sich da inmitten eines breiten Diskurses befindet, in dem seine eine gewichtige Stimme ist.

Zwischen ausführliche Beschreibungen der diversen Plattenprojekte streut Sandner aber auch Informationen über die Selbstzweifel des Künstlers, über persönliche und geschäftliche Krisen, über Rückenschmerzen und das chronische Erschöpfungssyndrom, dass Jarrett für einige Jahre aus dem Verkehr zog. Er beschreibt, wie all diese außermusikalischen Ereignisse ihren Widerhall in Jarretts Musik fanden. Nach seiner Genesung, fasst Sandner zusammen, sei Jarrett ” praktisch nicht mehr in ein Aufnahmestudio zurückgekehrt. Mit Ausnahme einer Duo-Aufnahme mit Charlie Haden und einer Einspielung von Bach-Sonaten für Violine und Klavier sind alle Aufnahmen danach bei Live-Auftritten entstanden.”

Natürlich nimmt das “Köln Concert” ein wichtiges Kapitel seines Buchs ein. Sandner beschreibt die bekannt widrigen Umstände des Konzerts, Rückenschmerzen, ein schlecht intoniertes Instrument, ein Stutzflügel, den die Bühnenarbeiter statt des eigentlich geplanten Bösendorfer Imperial auf die Bühne gestellt hatten, und er erzählt, wie Jarrett aus all diesen Widrigkeiten über sich herauswuchs, die Beschränkungen des Instruments zu Stärken seiner Aufnahme machte. Das “Köln Concert” wurde zu einem Riesenerfolg bei Kritik und Publikum gleichermaßen, und selbst der Perfektionist Jarrett musste später zugeben, dass die Ideen, “diese Klangfarben und diese Stimmführungen”, die auf der Aufnahme zu hören sind, schon einzigartig waren.

In weiteren Kapiteln seziert Sandner die Herangehensweise Jarretts an die Standards des American Popular Song, die er zusammen mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette ab 1983 einspielte und bald auch bei Konzerten spielte, seine Einspielungen klassischer Musik von Bach bis Lou Harrison, sowie Jarretts eigene Kompositionstätigkeit, die sich keinesfalls in der Komposition von Themen für eigene Improvisationen erschöpfte.

Sandners letztes Kapitel heiß “Einspruch” und ist unter all den lesenswerten Kapiteln dieses Buchs vielleicht das lesenswerteste. Sandner beginnt mit einer Eloge auf den kreativen Schöpfer, auf das Genie Keith Jarrett, um dann die Reaktion hervorzuheben, mit der Jarrett so oft, auf so vieles, reagiert, seine “Manie, etwas abzulehnen”. Der wichtigste Einspruch Jarretts gelte dabei musikalischen Trends, kurzlebigen Moden oder selbsternannten Kanonikern. Sandner findet diese Veto-Haltung auch im Klavierspiel des Meisters selbst, das “allen Regeln der traditionellen Klavierkunst widerspricht und wirkt, als sei das Instrument weniger ein Partner, vielmehr ein Gegner, den man bezwingen müsse, bisweilen mit List und Tücke, bisweilen mit tänzerischem Ablenkungsmanöver, manchmal mit brachialer Gewalt, nicht selten aber, indem man sich den Flügel einverleibt, mit ihm verschmilzt.” Es ist dieses Eins-Sein mit seiner Musik, das Jarrett auch außerhalb der Jazzanhängerschaft Wirkung verschafft hat. Henry Miller schrieb ihm einen Brief, nachdem er das “Köln Concert” gehört hatte, Sergiu Celibidache und Marcel Reich-Ranicki zeigten sich begeistert. Sandner argumentiert aber auch, dass diese Verweigerungshaltung neben seinen künstlerischen Entscheidungen auch Jarretts problematisches Bühnenverhalten beeinflusst habe, seine gelegentlichen Publikumsbeschimpfungen, die, wie Sandner schreibt, fast schon zum Ritual geworden seien, das Voyeure unter den Hörern erwarten oder gar herausfordern.

Wolfgang Sandners Buch gelingt es, der Musik Keith Jarretts nahe zu kommen, gerade, weil er sich, wie er im Vorwort erklärt, mit dem Künstler entzweit hat. Sandner besitzt den Überblick nicht nur über Jarretts Schaffen und nicht nur über die Jazzgeschichte, aus der heraus Jarretts Kunst kommt, sondern über die gesamte Kulturgeschichte, in die hinein Jarretts Musik wirkt. Es gelingt ihm, die verschiedenen Positionen zu definieren, die sich in der Musik und ihrer Rezeption widerspiegeln: die musikalische, ästhetische und wirtschaftliche Position Jarretts zu verschiedenen Zeiten, die Position der Labels, der Agenten, der Produzenten, die Position Manfred Eichers, die Position der Kritiker und des Publikums, und nicht zuletzt auch seine eigene Position, die Position Wolfgang Sandners. Dass er aus eigener Begeisterung heraus schreibt, lässt er nicht unerwähnt. Er bezeichnet Jarrett wiederholt als “Genie”, nennt ihn den größten Musiker, der je aus Allentown kam. Doch dient diese eigene Positionsbestimmung letztlich auch dem Vertrauen, das wir als Leser in Sandners Wertung der Musik haben können. Er lässt uns klar wissen, wo er als Autor steht, und so können wir viel leichter unsere eigene Position beziehen, überdenken, revidieren. Wolfgang Sandner ordnet Jarretts Aufnahmen dabei nicht nur in Jazz-, Musik- und Kulturgeschichte ein, er verleitet zum neuen, zum tieferen Hören, und er ermöglicht ein Verständnis – im besten Sinne des Wortes – über die Grenzen des emotionalen Hörens hinaus.

Wolfram Knauer (Dezember 2015)

Nachtrag Februar 2021:

Keith Jarrett. A Biography
by Wolfgang Sandner, translated by Chris Jarrett
Sheffield 2020 (Equinox)
215 Seiten. 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-800500129

Sandners Jarrett-Biographie ist inzwischen auf Englisch erschienen, übersetzt von keinem Geringerem als Jarretts Bruder, dem in Deutschland lebenden Pianisten Chris Jarrett. Für die englische Ausgabe hat Sandner seinen früheren Text erweitert und aktualisiert, hat neuere Aufnahmen und neue Veröffentlichungen aus früheren Jahren berücksichtigt und neue Erkenntnisse über Jarretts familiären Background geteilt. Mit dem Abschied Jarretts von der Bühne im vergangenen Oktober scheint auch seine Karriere abgeschlossen. Sandners Buch vertieft das Wissen und ermuntert zum Nachhören – jetzt vielleicht etwas wehmütiger als bei der ersten (deutschen) Lektüre vor sechs Jahren.


 

Als der Jazz nach Kassel kam. Streifzüge durch die Szene der ersten Nachkriegsjahre
von Ulrich Riedler
Berlin 2015 (B&S Siebenhaar Verlag)
104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN: 978-3-943132-39-7

2015riedlerDie großen Jazzmetropolen – Berlin, Hamburg, Köln, München – sind weitgehend dokumentiert. Auch für kleinere Städte haben sich Historiker und Hobbyhistoriker der Aufbereitung der Jazzgeschichte angenommen. Das kann schon mal seltsam wirken, wenn Provinzzentren wie der Mittelpunkt der Welt erscheinen, wo sie doch meist nur Durchgangsstationen für aufstrebende spätere oder etablierte, sich auf Tournee befindende Jazzstars waren. Tatsächlich aber sind regionalen Szenen bis heute wichtige Brutstätten künstlerischer Ideen, auch wenn viele der Musiker, die hier ihre Anfänge nehmen, irgendwann in die großen Zentren abwandern, in Städte mit bedeutenden Hochschulen etwa oder in solche mit einer lebendigen, großen Jazzszene.

Das nordhessische Kassel, in der Mitte der Republik, und doch kulturell vor allem durch die Brüder Grimm und die documenta bekannt, besitzt bis heute eine lebendige Szene, verschiedene Spielorte für Jazz und improvisierte Musik, und ein langjähriges Festival. Die alle fünf Jahre stattfindende documenta bringt es mit sich, dass die Bürger der Stadt sich sehr bewusst mit ästhetischen Diskursen der Avantgarde auseinandersetzen.

Der Journalist und Jazzfan Ulrich Riedler hat sich in seinem Buch auf die Suche nach den Anfängen des Jazz in der nordhessischen Stadt gemacht und diese im Frühjahr 1940 entdeckt, als sich junge Jazzfreunde im Gasthaus “Ledderhose” trafen, wo sie gemeinsam die neuesten Platten hörten. Irgendwann rückte die Gestapo ihnen auf den Leib, nahm die Jungs mitsamt ihrer Schellackschätze mit und unterzog sie einer gründlichen Befragung. Die Jazzfans wurden bald wieder entlassen, und einer von ihnen kann Riedler nicht nur von damals berichten, sondern ihm sogar noch die kurzfristig konfiszierten Platten zeigen. Die “Ledderhose” blieb auch nach dem Krieg ein Jazztreffpunkt, in dem die Mitglieder zu Platten tanzten, ab und zu aber auch selbst zum Instrument griffen.

Die 1950er Jahre dokumentiert ein Gespräch mit dem späteren Spiegel-Redakteur Alfred Nemeczek, von dem Riedler außerdem einen Bericht über das Jazzkontor Kassel aus dem Jahr 1959 andruckt, den Versuch, in Nordhessen einen Liveclub nach Vorbild des Frankfurter Jazzkellers zu etablieren. In den 1950er Jahren begannen die ersten amerikanischen Stars Deutschland zu erobern. Kassel erlebte Konzerte von Duke Ellington, Louis Armstrong, Lionel Hampton oder der Jam-Session-Truppe Jazz at the Philharmonic mit Ella Fitzgerald und vielen anderen.

Einer der Stammgäste der Kasseler Jazzszene war damals der Trompeter Manfred Schoof, der zwei Jahre an der Kasseler Musikakademie studierte, bevor er nach Köln weiterzog. Riedler spricht mit ihm über die Jazzszene jener Zeit, über Musiker und Musikerlegenden der Region, unter anderem den Tenorsaxophonisten Werner Apel, den, wie man sich erzählt, sogar Duke Ellington verpflichten wollte, weil er ihn bei einer Jam Session so beeindruckt habe, und natürlich auch über die GI-Clubs, in denen Schoof die amerikanische Kultur erst richtig kennenlernte.

Die Amerikaner waren im Stadtteil Rothwesten in Fuldatal stationiert und engagierten über die Special Service Agencies jede Menge deutscher Musiker für die Unterhaltung in den verschiedenen Clubs. Riedler blickt auf Orte, aufs Repertoire, auf das Jazzprogramm des örtlichen Amerika-Hauses, beschreibt aber auch andere Veranstaltungsorte der Stadt, deren Programm großteils von Vereinen organisiert, zum Teil auch von der Stadt unterstützt wurde. Er erzählt, wie Arnold Bode, der Vater der documenta, von der Band des Vibraphonisten und Gitarristen Fritz Bönsel so angetan war, dass er im Landesmuseum ein Konzert veranstaltete, das den Jazz endgültig in der Stadt etablierte.

Die Jazzszene jener Jahre beinhaltete traditionelle genauso wie moderne Stile, und so beschreibt auf der einen Seite die Dixieland-Szene der 1950er und 1960er Jahre mit ihren Riverboatshuffles und dem musikalischen Versuch, dem Original so nah wie möglich zu kommen, auf der anderen Seite aber auch, wie andere Musiker, Schoof und Gunter Hampel unter ihnen, dem modernen Jazz in Kassel zu Gehör verhalfen. Und schließlich spricht er mit dem Pianisten Joe Pentzlin, dessen Trio quasi die Hausband des Jazzclubs in der Orangerie gewesen war.

In einem abschließenden Kapitel schlägt Riedler einen knappen Bogen in die Regenwart, zu Musikern wie Matthias Schubert und Ernst Bier, die entweder aus Kassel stammen oder aber hier über längere Zeit Station machten und die Szene der Stadt mitprägten.

Riedlers Buch ist nicht als historische Dokumentation gedacht, denn vielmehr als eine flüssig zu lesende Erinnerung an die 1940er bis 1960er Jahre, ein liebevoll bebildeter Band über die Jazzszene in der deutschen Provinz, die – ähnlich wie die Szenen vieler anderer Städte mittlerer Größe – überaus lebendig war. Die Lektüre macht dem Leser deutlich, dass der Diskurs über den Jazz als aktuelle Kunstform nicht nur in den Metropolen stattfindet.

Wolfram Knauer (November 2015)


 

Music Wars 1937-1945. Propaganda, Götterfunken, Swing. Musik im Zweiten Weltkrieg
von Patrick Bade
Hamburg 2015 (Laika Verlag)
511 Seiten, 34 Euro
ISBN: 978-3-944233-41-3

Sounds of War. Music in the United States during World War II
von Annegret Fauser
New York 2013 (Oxford University Press)
366 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-994803-1

Victory Through Harmony. The BBC and Popular Music in World War II
von Christina L. Baade
New York 2012 (Oxford University Press)
275 Seiten, 31,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-537201-4

2013fauser Musik war immer schon kriegswichtig. Ob zum Anfeuern der Truppen im Marschrhythmus, ob zum Mobilmachen der Bevölkerung durch patriotische Hymnen, ob als Beruhigung und Selbstbestätigung, ob als Instrument der psychologischen Kriegsführung oder sogar als Foltermethode: Krieg ist ohne Musik – so seltsam diese Idee auch scheinen mag – kaum vorstellbar.

Drei kürzlich erschienene Bücher untersuchen die Rolle der Musik im Zweiten Weltkrieg. Der britische Historiker Patrick Bade berichtet über die verschiedenen musikalischen Strategien und Funktionen direkt vor Ort, in den Gebieten, in denen der Krieg tobte oder die am Krieg beteiligt waren, Frankreich, Deutschland, den USA, Russland, Großbritannien, dem nördlichen Afrika und dem Mittleren Osten. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Annegret Fauser beschränkt sich in ihrem Buch auf die klassische Musikszene in den Vereinigten Staaten. Die britische Musikhistorikerin Christina Baade schließlich untersucht, wie der BBC in den Kriegsjahren auf Jazz, Tanz- und Popmusik gesetzt habe, um die Moral der gesamten britischen Öffentlichkeit in den Kriegstagen zu stärken. Baades Studie gibt dabei einen Einblick in Programmentscheidungen eines öffentlichen Rundfunksenders und thematisiert, inwieweit die Öffnung des Senders für Jazz und amerikanische Popmusik auf Widerstände gestoßen sei. Fausers Fokus liegt auf der “concert music”, also der klassischen Musik, und im Umschlagtext heißt es, dass Dinah Shore, Duke Ellington und die Andrews Sisters vielleicht die Zivilisten zuhause und die Soldaten in Übersee unterhalten hätten, es tatsächlich aber vor allem die klassische Musik gewesen sei, die die Menschen für die Kriegsanstrengungen mobilisiert habe. Patrick Bade schließlich wagt den Rundumschlag, lässt also auch die sogenannte leichte Muse, Swing und Jazz, nicht aus. Während er dabei neben dem klassischen Repertoire und dem Swing auch einen Blick auf die Funktion von Radio, Film und Plattenindustrie wirft, außerdem in einem langen Kapitel Kriegslieder aus unterschiedlichen Ländern ins Visier nimmt, finden man in Fausers Buch Informationen über Musiker in der Armee, Auftragskompositionen für den Kriegseinsatz, ein Kapitel über Musik als Beruhigung der Bevölkerung und als Therapie für traumatisierte Soldaten sowie eines über die vielen Exilkomponisten, die durch den Krieg in den USA strandeten. Christina Baade schließlich diskutiert in ihrem Buch auch das Thema von Tanzmusik und Maskulinität, die Sorge um den Erfolg der amerikanische Popmusik und die Verdrängung eigener Traditionen, und die Bedeutung von Rundfunkprogrammen, in denen afro-amerikanische Musik in den Mittelpunkt gestellt wurden, für schwarze britische Musiker. Bei allen drei Autor/innen finden sich Diskussionen der Zuschreibung moralischer Qualitäten zur Musik, der Grundlage letzten Endes dessen, was in den USA später zur “cultural diplomacy”, zur Kulturdiplomatie werden sollte.

2012baadeFür Christina Baades Argumentationslinie spielt der Jazz eine zentrale Rolle; ihr Buch erlaubt dabei Rückschlüsse auf Entwicklungen des Nachkriegsjazz in Großbritannien, einschließlich der Hinwendung vieler junger Musiker insbesondere zu traditionellen Jazzstilen. Patrick Bade hat neben einem Kapitel über Jazz und Swing im Dritten Reich, in dem er auch auf das Phänomen der Propagandaband Charlie and His Orchestra eingeht, ein eigenes Kapitel über Musik im Feldlager, im Gefangenenlager und im Konzentrationslager. Fauser wiederum diskutiert in ihrem Buch ausführlich musikalischen Ausdruck von Nationalismus, etwa in Werken von Aaron Copland und Roy Harris.

Patrick Bade gibt am Schluss seines Buchs einen Ausblick auf die Nachwirkungen, erzählt etwa, dass Wagner im Bayreuther Festspielhaus kurzzeitig Cole Porter weichen musste, berichtet, wie Sänger/innen und Musiker/innen nach dem Krieg mit ihrer Karriere im Dritten Reich konfrontiert wurden oder diese sehr bewusst aus ihrer Biographie ausblendeten. Er endet mit dem kurzen Hinweis auf Werke, die sich bis ins 21ste Jahrhundert hinein mit den Gräueltaten des Kriegs auseinandersetzen. Christina Baades Buch endet mit der Ankunft der amerikanischen Truppen im August 1944 und der Entscheidungen des BBC, die auch die amerikanischen GIs mit ihrem Programm unterhalten wollte. In der Folge kam es zu einer Diskussion der Vermischung musikalischer Werte in der populären und Tanzmusik, über “Britishness” oder “Pseudo-American”. Ihr Buch verweist zwischen den Zeilen immer wieder, etwa Kapiteln über das vom Rundfunk mitgeprägte Bild der Frau oder im Versuch, die Ausstrahlung von Musik männlicher übersentimentaler Schlagersänger im Rundfunk zu unterbinden, auf Diskurse, die auch nach dem Krieg weitergingen und auf die letzten Endes BBC-Programmentscheidungen großen Einfluss hatten. Bei Fauser geht der Blick in die Nachkriegszeit über John Cage, dessen experimentelle Ideen sie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren verortet. Sie verweist darauf, dass Cage und seine Zeitgenossen ihre Lehren aus den Erfahrungen des Kriegs gezogen hätten, sich nach Ende des Kriegs von ihren nationalistischen Kompositionen distanziert oder aber diese in neue Werke integriert hätten.

2015badeZusammengefasst bietet Patrick Bade im breiteren Ansatz seines Buchs eine Art Rundumschlag über das Thema. Christina Baade wirft Licht auf die Verflechtungen zwischen Musik, Musikindustrie, öffentlicher Meinung und Publikumsgeschmack. Fausers Studie schließlich hätte von einer Erweiterung ihres Schwerpunkts vielleicht profitiert. Fauser begründet ihren eingeschränkten Blick im Vorwort damit, dass die Jazz- und Popmusikszene jener Jahre ja schon ausgiebig genug untersucht worden sei, während Forschungen zur klassischen Musik im Krieg weitgehend fehlten, vergibt sich damit aber die Chance einer differenzierten Darstellung, was vielleicht – nehmen wir einmal an, dass der Einband-Text vom Verlag und nicht von ihr stammte –, eine wertende Aussage wie die, dass Jazz und Popmusik die Bürger zuhause und die GIs in Übersee vielleicht unterhalten hätten, es aber die klassische Musik gewesen sei, die den wirklichen Unterschied gemacht habe, verhindert hätte.

Von solchen Anmerkungen abgesehen, haben alle drei Bücher ihre Meriten. Sie helfen bei der Kontextualisierung von Musikgeschichte in der späten ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, die letzten Endes Auswirkungen auch darauf hatte, wie Musik heute klingt und wie wir sie wahrnehmen.

Wolfram Knauer (Oktober 2015)


 

 

Giving Birth to Sound. Women in Creative Music
herausgegeben von Renate Da Rin & William Parker
Köln 2015 (Buddy’s Knife)
294 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-00-049279-2

2015darinVielleicht müsste am Anfang dieser Rezension erklärt werden, welchen Weg die Bücher durchlaufen, die im Jazzinstitut Darmstadt anlangen. Bevor wir uns die Bücher aussuchen, die wir rezensieren wollen, erfassen wir sie in unserem Jazz Index, einer computergestützten bibliographischen Datenbank, die von Forschern und Journalisten (und Fans) aus aller Welt genutzt wird. Das heißt, wir gehen das Buch von vorn bis hinten durch, ordnen jedes einzelne Kapitel einem Stichwort oder einem Musikernamen zu, tragen biographische Notizen wie etwa Geburtstag oder Geburtsort, nach, sofern sie in unserer Datenbank noch fehlen. Erst dann machen wir uns ans Lesen.

Aber schon bei diesem ersten Schritt des Erfassens fiel einiges auf beim Buch “Giving Birth to Sound”. Etliche der darin befragten Musikerinnen waren nämlich noch gar nicht in unserer Datenbank erfasst oder aber nur mit relativ kurzen bibliographischen Listen. Über sie wurde in der Jazzpresse bislang also nur wenig berichtet. Nun ja, mag man meinen, das hat sicher auch damit zu tun, dass Frauen ja so richtig erst in den letzten Jahren ins Rampenlicht des Jazz getreten sind. Weit gefehlt aber, und das war die zweite Überraschung: Viele Musikerinnen, die im Buch zu Worte kommen, gehören nämlich gar nicht der jungen (sagen wir: unter 40-jährigen) Generation an, sondern sind weit länger auf der Szene unterwegs. Die Gründe für ihre Unsichtbarkeit in der Jazzpresse mögen also doch woanders liegen.

Eine dritte Erkenntnis, die sich beim Durchblättern schnell ergibt, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Jede der Musikerinnen hat einen völlig anderen Zugang zum Thema. Mal analytisch, mal diskursiv, mal ausweichend, mal ablehnend, mal nüchtern gefasst, mal poetisch überhöht, mal kämpferisch, mal verteidigend. Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich schon in den Überschriften der Kapitel, die Renata Da Rin und William Parker aus der Frage “Was bedeutet Musik für Dich” abgeleitet hat. “Jeder Sound und jede Stille”, antwortet Renée Baker; “die Gründe für mein Leben”, sagt Amy Fraser; “ein abstrakter Ort, um das Leben zu teilen und zu fühlen”, meint Marilyn Mazur; “ein Lager der Erinnerungen”, findet Shelley Hirsch, “Leben, Magie, Geist”, beschreibt Maggie Nicols, oder aber, so Erika Stucky, “serious fun – a ‘Schnaps'”.

Oder aber die Einleitung: Nach dem Vorwort von Amina Claudine Myers haben die Herausgeber eine Anzahl von Reaktionen auf den Buchtitel zusammengefasst. “Giving Birth to Sound”? Schrecklicher Titel: Frauen wurden schließlich immer wieder aufs Gebären reduziert, meint eine der Gesprächspartnerinnen, während eine andere findet, der Titel passe, sei auch angenehm mehrdeutig. Naja, und bei allen Bedenken spräche der Titel ja auch vom Schaffen von etwas Neuem. Blödsinn, widerspricht eine weitere Stimme, Gebären sei doch eine passive, rein physische Tätigkeit, jede Kuh könne das. Musik zu erschaffen sei dagegen ein aktiver intellektueller Prozess und damit das exakte Gegenteil.

Das Konzept des Buchs: Ohne weitere Vorgaben schickten die Herausgeber den 48 Musikerinnen 20 Fragen, die vom Faktischen zum Nachdenken über den Prozess des Kreativen gehen, sich dabei immer wieder danach erkundigen, inwieweit das eigene Geschlecht bei musikalischen, ästhetischen oder beruflichen Entscheidungen eine Rolle gespielt habe. Tatsächlich sind nur sechs der Fragen konkret aufs Frau-Sein der Musikerinnen abgezielt: Wie hast Du deine Kreativität als kleines Mädchen ausgelebt? Wie hat die Tatsache, dass Du eine Frau bist, die Entwicklung Deiner musikalischen Karriere behindert? Wie siehst Du Deine Position als Frau in der Musikszene? Hat diese Position Dein Verhältnis zum Sound beeinflusst? Siehst oder spürst Du einen Unterschied im weiblichen und im männlichen Ansatz an Kreativität? Was würdest Du anderen / jungen Frauen empfehlen, die sich bemühen ein kreatives Leben zu führen?

Die Antworten auf diese und allgemeiner gehaltene Fragen fallen so unterschiedlich aus wie die Lebenswege der 48 Interviewten. Es macht nun mal einen Unterschied, ob man Ende der 1970er Jahre in Dänemark zum Jazz kommt wie Lotte Anker oder 1941 in Oklahoma wie Jay Clayton. Haben Männer und Frauen einen anderen kreativen Approach?, fragen die Herausgeber. “NEIN!” ruft Jay Clayton, in Großbuchstaben, keine weitere Diskussion duldend, während Marilyn Mazur einwirft, Frauen würden vielleicht weniger in Wettstreit treten, mehr ans Ganze und Kollektive denken. “Nein, ich sehe da keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen”, findet wiederum Amy X. Neuberg, um gleich anzuschließen, “das heißt aber nicht, dass es keine gäbe.” Klar gibt es einen Unterschied”, erklärt Kali Z. Fasteau, etwa, dass Männer in hierarchischen Systemen besser funktionierten als Frauen. Andererseits, urteilt Nicole Johänntgen, sei diese Frage ziemlich schwer zu beantworten, weil es nun mal so sehr viel mehr Männer als Frauen auf der Szene gäbe.

Nicole Mitchell beantwortet ihre Fragen in poetischen Erinnerungen und Reflexionen über schwarze Musik, den langen Atem der Bürgerrechtsbewegung und ihren eigenen Weg. Maggie Nicols auf der anderen Seite streicht heraus, dass ihre Musik immer sowohl politische wie auch spirituelle Untertöne besessen habe. Ob sie einen Preis bezahlt habe dafür, dass sie Musik mache, fragen die Herausgeber, und Angelika Niescier findet: Im Gegenteil, sie habe daraus sehr viel für sich gewonnen. Musikerin zu werden, sei nun mal eine Lebensentscheidung, finden auch viele ihrer Kolleginnen, niemand zwinge einen schließlich diesen Weg einzuschlagen.

Die weibliche Kreativität erlaube mehr “Raum”, meint Fay Victor, und zwar “sowohl mehr Raum im Sinn von Zeit und Raum wie auch mehr Raum für die Akzeptanz von Fehlern und Intuition”. Klar habe die Tatsache, dass sie eine Frau sei, ihr Verhältnis zum Sound beeinflusst, erklärt Joëlle Léandre. Frauen seien nun mal anders, sie hätten die Fähigkeit zur Distanz, die in diesem Geschäft wichtig sei, außerdem könne man mit ihnen viel besser lachen.

Sie sehen in dieser springend-vergleichenden Zusammenfassung einzelner Antworten bereits, wie ungemein gewinnbringend sich dieses Buch lesen lässt, wenn man blättert, Themen identifiziert, die die Herausgeber durch ihre Fragen ja nicht festgeklopft, sondern nur angestoßen haben, um dann zu sehen, welchen Kontext die verschiedenen Antworten beleuchten. Man erlebt die ja unabhängig voneinander befragten Musikerinnen bald wie in einer respekt- und kraftvollen Diskussion neugieriger, andere Meinungen (meistens) zulassender, vor allem aber ungemein selbstbewusster Musikerinnen.

Das Fazit des Buchs wusste man vielleicht schon vor der Lektüre: Eine einzelne Antwort auf die Frage nach dem kreativen Unterschied nämlich gibt es nicht. Der künstlerische Ansatz zwischen Männern und Frauen ist genauso unterschiedlich wie jener zwischen Männern und Männern oder zwischen Frauen und Frauen. Es gibt jedoch, und das wird in diesem Buch sehr deutlich, ein anderes Diskursverhalten, eine klare Selbstwahrnehmung der Rolle, in die man gesellschaftlich gedrängt wurde.

Unbedingt lesenswert also, ob von Buchdeckel zu Buchdeckel oder im laufenden Vor- und Zurückblättern. “Giving Birth to Sound” erklärt dem interessierten Leser nämlich in der persönlichen Selbstbefragung der Protagonistinnen und oft auch zwischen den Zeilen weit mehr über die Thematik, als man es etwa von wissenschaftlichen Studien erwarten dürfte.

[Naja, wir empfehlen dennoch den Besuch unseres Darmstädter Jazzforums zum Thema “Gender and Identity in Jazz” vom 1.-3. Oktober 2015 oder die spätere Lektüre unserer Beiträge zur Jazzforschung mit den referaten dieser Konferenz. Aber das ist natürlich nur Eigenwerbung…]

Wolfram Knauer (September 2015)


 

Beyond Jazz. Plink, Plonk & Scratch. The Golden Age of Free Music in London 1966-1972
von Trevor Barre
London 2015 (Compass Publishing)
330 Seiten, 12,99 Britische Pfund
ISBN 978-1-907308-84-0
Zu bestellen über trevorbarre@aol.com

Ekkehard Jost hat die Jahre zwischen 1960 und 1980 als eine Zeit beschrieben, in der Europas Jazz zu sich selbst fand, in der Musiker sich von ihren amerikanischen Vorbildern lösten und eigene Wege gingen. Einige dieser Wege führten fort vom, gingen also “beyond jazz”, und diese Entwicklung will Trevor Barre in seinem Buch mit demselben Titel nachzeichnen. Der Gitarrist Derek Bailey forderte eine Improvisation, die sich aus den idiomatischen Bezügen befreien, und auch andere Musiker begannen statt des Begriffs “Free Jazz” von “improvised music” zu sprechen. Barre interessiert, wie es überhaupt dazu kam, dass eine solch sperrige und alles andere als publikumsfreundliche Musik entstehen konnte und warum sie nicht angesichts ihres kommerziellen Misserfolgs einfach nach ein paar Jahren ausstarb. In seinem Fokus steht dabei die erste Generation der freien Improvisatoren, also Musiker wie Evan Parker, Derek Bailey, John Stevens, Kenny Wheeler, Barry Guy, Dave Holland, Trevor Watts, Tony Oxley, Paul Rutherford, Howard Riley, Eddie Prévost, Keith Rowe, Gavin Bryars und Cornelius Cardew.

Barre beginnt mit einer Definition seines Themas: Wo die meisten Jazzbücher den Jazz durch seine improvisatorischen Parameter beschreiben würden, sei Free Music, schreibt er, einzig durch den improvisatorischen Gehalt definiert. Er stellt unterschiedliche Formen freier Improvisation vor, solche, die näher am Jazz bleiben und solche, die eher der europäischen Avantgardetradition verpflichtet scheinen. Die beiden Hauptensembles seines Buchs sind das Spontaneous Music Ensemble und die Gruppe AMM. Barre ordnet deren Auftritte in die Jugend- und Protestkultur der 1960er Jahre ein und schildert, wie die globalen Entwicklungen von Pop, Rock und Folk jungen Musikern ein völlig neues Vokabularium an die Hand gab, sie auch zu neuen Herangehensweisen zwischen tiefer Ernsthaftigkeit und unbändigem Humor bewegten. Er beschreibt auch, welchen Platz sie in die Bandbreite des britischen Jazz jener Jahre zwischen Dixieland und Free Jazz hatten.

Barre zeichnet den Weg einzelner Protagonisten zur freien Improvisation nach, schildert insbesondere die Bedeutung des Little Theatre Club, in dem die jungen Musiker mit Kollegen auch aus dem europäischen Ausland experimentieren konnten. Er beschreibt, wie sie nach und nach merkten, dass es außer dem afro-amerikanischen Jazz auch anderes gab, dass beispielsweise südafrikanische Musiker um Chris McGregor dieser Musik eine neue Farbe geben konnten und dass sich Freiheit, wie sie der Free Jazz implizierte, auch ganz mit anderen Mitteln umsetzen ließ. Er diskutiert wichtige Aufnahmen der Zeit, wobei ihn vor allem die interaktiven Prozesse interessieren, die ästhetischen Diskurse, die sich aus der Improvisation der Aufnahmen ergaben. Das alles beleuchtet er anhand von zeitgenössischen genauso wie selbst geführten Interviews mit beteiligten Musikern. Das Spontaneous Music Ensemble und AMM nehmen zwei der umfangreichsten Kapitel ein, in denen Barre neben dein Einflüssen und den ästhetischen Diskussionen auch über Nachwirkungen schreibt, bewusste oder unbewusste Reaktionen auf die Klangexperimente in weit jüngerer Musik, der 1980er, 1990er Jahre und danach. Er betrachtet den Einfluss der Technologie, schaut auch auf die Bedeutung der visuellen Covergestaltung oder der Plattentexte. Das Label Incus nimmt ein eigenes Kapitel ein, wie FMP in Deutschland oder ICP in Holland ein von Musikern gegründetes Label, das Musik seiner Mitglieder nicht so sehr vermarkten als vielmehr dokumentieren wollte. Improvisation ist schließlich weit mehr als komponierte Musik auf das Medium der Tonaufzeichnung angewiesen – sonst verklingt sie.

In seinem Schlusskapitel betrachtet Barre kurz die “zweite Generation” der Free Music in London um das London Musicians’ Collective sowie eine “dritte Generation” um John Edwards, John Butcher und andere und setzt beide Entwicklungen mit jenem von ihm als “erste Generation” betrachteten Grundthema seines Buchs in Beziehung. Im Nachwort schließlich verfolgt er die Aktivitäten seiner Protagonisten bis in die Gegenwart.

Trevor Barres Buch ordnet die Entwicklung der Free Music der späten 1960er, frühen 1970er Jahre in die kulturelle Szene des “Swinging London” ein. Ihm gelingt dabei vor allem der Blick auf sich wandelnde ästhetische Ideale und eine Begründung derselben aus gesellschaftlichen und politischen Diskussionen heraus. Der Musik selbst kommt er vor allem in Interviews mit den beteiligten Musikern nahe. Die inhaltliche wie organisatorische Unabhängigkeit der britischen Improvisationsszene jener Jahre hat Auswirkungen bis heute. Initiativen wir F-Ire Collective wären ohne das Vordenken und Vormachen der hier beschriebenen Musiker und Gruppen nicht möglich gewesen. Von daher füllt Barres Buch eine Lücke. Dass er bestimmte Themen weitgehend außer Acht lässt – die Auseinandersetzung dieser Szene mit ihrem Publikum beispielsweise oder mit den Mainstream-Medien, der tatsächliche Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Szenen oder die Reaktion amerikanischer Musiker, zeigt nur, wie viele Perspektiven das Thema tatsächlich hat, die bislang kaum beleuchtet wurden. Barre jedenfalls stößt mit “Beyond Jazz” die Tür zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der musikalischen Freiheitsbewegung jener Zeit weit auf.

Wolfram Knauer (August 2015)


 

Little Satchmo. Living in the Shadow of my Father, Louis Daniel Armstrong
von Sharon Preston-Folta (mit Denene Millner)
Charleston/SC 2015 (self published)
112 Seiten, 12 US-Dollar
ISBN: 978-1-481227-23-7
Zu beziehen über www.littlesatchmo.com

2015prestonfoltaDie offizielle Version lautet: Louis Armstrong hatte nie Kinder. Er hätte immer gern welche gehabt, sagte seine letzte Frau und Witwe, Lucille Armstrong, aber er sei zeugungsunfähig gewesen. Nun kommt, 34 Jahre nach Satchmos Tod, Sharon Preston-Folta mit einem Buch heraus, in dem sie kundtut, sie sei die Tochter Louis Armstrongs aus einer außerehelichen Beziehung, die Satchmo in den 1950er Jahren hatte.

Ihr Leben lang habe sie diese Wahrheit herunterschlucken müssen. Sie wolle kein Geld, keinen Ruhm, aber immer selbst auf das öffentliche Wissen um ihren Vater verzichten zu müssen, sei einfach zu viel. In ihren Recherchen habe sie nur einen einzigen schriftlichen Hinweis auf Satchmos Vaterschaft gefunden, einen Brief des Trompeter an seinen Manager, Joe Glaser, aus dem Jahr 1955, in dem er diesen bat, vor der Ankunft seiner Frau Lucille in Las Vegas ein paar Geschäftsdinge zu klären, darunter Zahlungen an eine Freundin, von der er glaubt, dass sie ein Kind von ihm habe. Ihre Mutter habe sie immer beschworen, ihren Vater geheim zu halten, und so habe sie letzten Endes gehorcht und damit auch keine Ansprüche geltend gemacht auf sein physisches, historisches und finanzielles Erbe. Wenn sie etwas gekränkt habe bei ihren Recherchen, sei es, dass Louis Armstrong in seinen Briefen so offen über alles geredet habe, seine Musik, seine Kindheit, seine Liebe zum Essen und zu den Frauen, über Sex, sogar über seine Darmtätigkeit, dass er über seine Tochter aber sein Leben lang geschwiegen habe.

Warum er ihre Existenz verleugnet habe? Nun, erklärt Preston-Folta, Louis Armstrong sei ein gefeierter Künstler seiner Zeit gewesen und habe sich in der besten (weißen) Gesellschaft aufgehalten. Es habe einfach nicht gepasst, in dieser Zeit, wenn Nachrichten über ein uneheliches Kind mit einer Geliebten in die Schlagzeilen gekommen wären.

Prestons Mutter wurde 1921 in New York geboren und arbeitete bereits als 16-Jährige als Chorus Girl in diversen Shows. 1941 heiratete sie einen Tänzerkollegen; 1946 arbeiteten die beiden als Tanzpaar “Slim & Sweets” als Vorgruppen für große Swingorchester, unter ihnen auch Louis Armstrong, der sich mit ihnen anfreundete und in einen launigen Briefwechsel einstieg. 1950 starb Slim, und bei der Trauerfeier war auch Louis Armstrong dabei, der Lucille Preston in den Arm nahm und versprach: “Ich werde mich um dich kümmern.” In den nächsten vier Jahren reiste sie Pops hinterher und tauchte auf, wann immer Armstrongs in New York spielte. 1954 wurde Preston schwanger, und im November schrieb Satchmo ihr einen Brief, in dem er erklärt, wie sehr er sich auf das Kind freue und sogar vorschlägt, sie zu heiraten, sollte seine Frau (mit gleichem Namen Lucille) sich von ihm scheiden lassen. Armstrong war dann aber nicht dabei, als Sharon Louise (nach Louis) Preston am 24. Juni 1955 das Licht der Welt erblickte. Armstrongs rechtmäßige Ehefrau war “not amused” und habe ihm nach der Geburt der Tochter sogar vorgeschlagen, diese zu adoptieren, was ihre leibliche Mutter aber vehement ablehnte. Lucille (die Ehefrau) habe sogar die Alimente überwiesen, bis sie diese Aufgabe irgendwann Joe Glaser übertrug.

In ihrem Buch berichtet Sharon von den viel zu seltenen, sorgfältig geplanten und sehnsuchtsvoll erwarteten Treffen. Sie und ihre Mutter lebten eine Weile bei ihrem Onkel Kenny, der nach außen schon mal als Lucilles Ehemann auftrat und immer wieder auf seine Schwester eindrang, bei Satchmo mehr einzufordern: mehr Geld, mehr Fürsorge, am besten seinen Namen. Bei einzelnen Sommertourneen durfte Sharon mitreisen. Ansonsten aber war Satchmo vor allem durch die monatlichen Unterhaltszahlungen präsent, durch Broadway-Tickets, 1962 durch den Kauf eines Hauses in Mount Vernon, New York. In Harlem hatte sich niemand wirklich darum gekümmert, wie ihre Familienverhältnisse aussahen, erzählt Preston-Folta, in Mount Vernon aber begann eine Zeit der Lügen. Die Liaison dauerte ja bereits 12 Jahre, aber nach wie vor war nicht in Sicht, dass Armstrong auch öffentlich zu seiner Familie stehen würde. Mit zehn Jahren begriff Sharon erstmals, dass ihr Vater eine “andere Lucille” hatte, ein anderes Leben, das mit ihrem aber auch gar nichts zu tun hatte.

Etwas später seien sie gemeinsam in Atlantic City zu einem Auftritt Marvin Gayes gegangen, es habe einen Streit zwischen den Erwachsenen gegeben, bei dem ihre Mutter Satchmo fragte, wann er sie nun endlich zu heiraten gedachte, worauf er laut wurde: “Ich werde dich niemals heiraten” und mit Fingerzeig auf die Tochter fragte: “Sag mir einfach, was es kostet, für sie zu sorgen!” Das war das Ende der Beziehung.

Kaum war Armstrong gestorben, kamen auch die monatlichen Schecks nicht mehr. Ein paar im Voraus geleistete Zahlungen für Sharons Erziehung hielten sie und ihre Mutter über Wasser, mussten bald auch den Zuwachs zur Familie finanzieren, denn Sharon wurde mit 16 selbst Mutter. Sharon erzählt, wie ihr Leben weiterging, immer gezeichnet durch die Narben, die der fehlende Vater hinterlassen hatte. Irgendwann rebellierte sie gegen die eigene Bitterkeit und versuchte, das emotionale Band, das sie mit der verlorenen, nie gehabten Vergangenheit hatte, zu zerschneiden.

Sharon Preston-Foltas Buch endet mit einem Besuch im Armstrong House in Queens. Ein Anwalt hatte ihr empfohlen, einen Blick in Satchmos Testament zu werfen, das eine eidesstattliche Erklärung von Lucille, Armstrongs Frau, enthielt, Armstrong habe nie Kinder gehabt. Als Sharon diese Zeilen las, von Lucille eigenhändig korrigiert von “Der Verstorbene und ich hatten keine Kinder” in “Der Verstorbene hatte keine Kinder”, entschied sie sich, jetzt ihr Geschichte zu erzählen. Ihre Mutter, die sie immer zur Geheimhaltung gedrängt hatte, willigte endlich ein: “Mach, was Du meinst, dass du tun musst.”

Sharon Preston-Foltas Buch ist als eine Liebeserklärung an die von ihr immer vermisste Vaterfigur Louis Armstrong geschrieben, aber es ist eben auch eine leicht verbitterte Liebeserklärung geworden. An genügend Stellen legt man es zur Seite, unterschiedlich berührt von den Schuldzuweisungen, mit denen Preston-Folta ihre eigenen Lebensentscheidungen aus ihrer vaterlosen Kindheit und Jugend ableitet. Ein bedrückendes Schicksal, denkt man, und fragt sich zugleich, warum sie, die immer wieder von der DNA ihres Vaters schreibt, die in ihr fortlebe, nicht irgendwann, spätestens vor der Veröffentlichung dieses Buchs, auf einem DNA-Test bestanden habe. Doch ist es einem Kind, das sein Leben lang sicher ist, seine Eltern zu kennen, überhaupt zuzumuten, von einem auf den anderen Tag an der Tatsache der Vaterschaft zu zweifeln? Auch als skeptischer Leser sollte man jedenfalls für die Zeit der Lektüre erst einmal die Grundbehauptung der Vaterschaft Louis Armstrongs akzeptieren, sonst hat man wenig Spaß am Buch. Armstrong selbst schließlich scheint bis zu seinem Tod überzeugt davon gewesen zu sein, in Sharon eine Tochter gehabt zu haben.

Allen Fragen und sicher auch allen möglichen Zweifeln zum Trotz, die einem bei der überraschenden Enthüllung Sharon Preston-Foltas kommen mögen, lernt man einiges bei der Lektüre, und wenn nur, dass Scheinwerferlicht auch Schatten wirft, dass Stars wie Louis Armstrong das Leben vieler Menschen zum Teil viel direkter berührten, als man es wahrhaben mag, und nicht zuletzt, dass die Persönlichkeit großer Stars aus ihren emotionalen Stärken genauso besteht wie aus ihren emotionalen Unzulänglichkeiten. Am Glorienschein des großen Meisters mag das alles ein wenig kratzen; der Kraft seiner Musik tut es keinen Abbruch.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Theatrical Jazz. Performance, Àṣẹ, and the Power of the Present Moment
von Omi Osun Joni L. Jones
Columbus/OH 2015 (The Ohio State University Press)
270 Seiten, 99,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8142-1282-0

2015jonesDer Blick über den Tellerrand kann das Wesentliche erhellen, der Blick von außen Dinge erkennen lassen, die man im internen Diskurs oft nicht mehr sieht. Das ist einer der Hintergründe für die sogenannten “new jazz studies”, ein Konzept in der jüngeren Jazzforschung, das sich der untersuchten Materie neben der musikwissenschaftlichen Betrachtung interdisziplinär nähert. Die Feministin Omi Osun Joni L. Jones versucht in ihrem Buch eine Verbindung zwischen Jazzästhetik , theatralischer Performance und auf Yoruba basierender afrikanischer Theologie. Dabei beschreibt sie als eine der zentralen Prinzipien der Jazzästhetik die Fähigkeit, die eigenen intuitiven Kräfte freizusetzen. In ihrer Beschäftigung mit afrikanischer Spiritualität habe sie gelernt, dass auch in wissenschaftlichen Büchern die Auseinandersetzung mit spirituellen Impulsen nicht zu kurz kommen dürfte, ganz ähnlich wie dies auch Jazzgrößen wie John und Alice Coltrane immer gesehen hätten. Sie will mit ihrem Buch den Jazz gegen den Strich bürsten, seine Begriffe, Handlungen, Ausformungen kritisch hinterfragen, und zwar aus der Perspektive aller seiner unterschiedlichen Bedeutungen in musikalischer Ästhetik, Performance, gesellschaftlichem Spiegel, ethnischer Identität oder politischer Haltung. Es gäbe Kollegen, schreibt sie in ihrer Einleitung, die den Jazz als eine polyglotte Form ansähen und damit Gefahr liefen seine Wurzeln in der afro-amerikanischen Kultur zu leugnen. Tatsächlich aber sei die spirituelle Kraft nicht an irgendwelche Identitätsregeln gebunden. Die spirituelle Transzendenz des Jazz brauche keine Abwesenheit ethnischer Identität (“race”), sondern höchstens Abwesenheit solch einer ethnischen Identität (“race”) als Restriktion oder als Prognose.

Tatsächlich handelt ihr Buch allerdings zentral gar nicht von Musik, sondern vom Theater, und hier insbesondere von den drei Theaterautoren Laurie Carlos, Daniel Alexander Jones und Sharon Bridgforth. Jones bedient sich in ihrer Herangehensweisen an das Thema der feministischen und queeren Theorie, erklärt Wirkungen der Theaterperformance aus der Haltung des Jazz heraus und zugleich aus ihrer Interpretation von Yoruba-Traditionen. Als übergeordneten Approach versucht sie ihrem wissenschaftlichen Buch darüber hinaus aber auch improvisatorische Strukturen zu geben, indem sie Bilder, Fotos, Zeichnungen, Zitate einfließen lässt, die wie kurze solistische Kommentare neben ihrem Text stehen.

In ihrer Einleitung zitiert Jones einige Beispiele direkter Bezugnahme von Jazzmusikern wie Dizzy Gillespie und John Coltrane auf Yoruba-Beschwörungen, erinnert außerdem an die lebendige Avantgarde-Theaterszene von Austin, Texas, in der in den 190er Jahren die Verbindungen von Theater und Jazz besonders entwickelt wurden. Im ersten Kapitel betrachtet sie, wie biographische Erfahrungen die drei von ihr untersuchten Autoren prägten, Carlos’ Jugend im New Yorker East Village, Jones’ Aufwachsen im Arbeiterklasse-Milieu von Springfield, Massachusetts, Bridgforths Bustrips durch die verschiedenen Viertel von Los Angeles. Sie analysiert die dem Jazz nahestehenden Praktiken von Lehrer und Schüler im Theater, deren Lernprozesse dabei immer gegenseitig sind. Das zweite Kapitel untersucht Performance-Methoden, Ansätze an Regie, Probenphasen, das Beziehung-Herstellen zum Publikum, die Auswahl der Schauspieler, aber auch das Zulassen spiritueller Erfahrung im Verlauf der Performance. Im dritten Kapitel schließlich fragt sie danach, was die Performance beim Publikum (sie spricht gern von “witnesses” = Zeugen) auslöst, wie sie zu einer Perspektivverschiebung führen kann, einer aktiven Partizipation des Publikums, die das eigentliche Ziel aller Beteiligten sei.

Wenn ich Jones zu Beginn dieser Rezension in die Nähe der “new jazz studies” gestellt habe, so muss ich diese Aussage zumindest zum Teil revidieren. In den New Jazz Studies werden Aspekte des Jazz möglichst von vielen Seiten (und mit unterschiedlichen Methoden) betrachtet. Jones geht den entgegengesetzten Weg: Sie nutzt, was sie vom Jazz gelernt hat, um ihr eigentliches Thema, die Performance im Theater genauer zu definieren. Sie erkennt im Jazz Kommunikations- und Tradierungsmodelle, die so beispielhaft sind, dass sie ein anderes Genre besser verstehen lassen, vielleicht sogar Modell stehen können für neue, weitreichendere Regie- oder Performance-Ansätze. Ihr Buch ist darin so weitsichtig wie der Versuch früherer Literaturwissenschaftler wie Houston Baker, insbesondere den Bereich der afro-amerikanischen Literatur (aber durchaus darüber hinaus) durch die schon von Ralph Ellison oder Albert Murray identifizierte Blues Aesthetic zu beschreiben. Beide nahmen dabei sehr bewusst auf westafrikanische kulturelle Traditionen, Praktiken und Symbole Bezug, für den ungeübten Leser einerseits manchmal etwas schwer nachvollziehbar, gerade dadurch aber die Argumentation auch angenehm schnell aufbrechend und Rückschlüsse erlaubend.

Wenn nämlich die Praxis des Jazz als Erklärungsmodell für andere künstlerische Praktiken taugt, dann wirft das ein ganz anderes Licht auch auf den Stellenwert von Jazz und Improvisation.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


The Long Shadow of the Little Giant. The Life, Work and Legacy of Tubby Hayes
von Simon Spillett
Sheffield 2015 (Equinox)
377 Seiten, 19,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78179-173-8

2015spillettWie Hans Koller oder Lars Gullin war der britische saxophonist Tubby Hayes eine der europäischen Jazzgrößen, die ihren Kollegen genauso wie ihrem Publikum klar machten, dass der Jazz zwar eine afro-amerikanische Musik war, dass aber Europäer das Idiom durchaus beherrschten und ihre eigenen Beiträge zur Tradition des Jazz leisten konnten. Hayes kam aus der Swing-Mainstream-Tradition des Jazz, nahm erst Bebop, Hardbop, schließlich Einflüsse des Spiels John Coltranes in seinen Stil auf und starb 1973, gerademal 38 Jahre alt, in Folge einer Herz-Operation.

Dem Autor und Saxophonisten Simon Spillett gelingt es in seinem Buch “The Long Shadow of the Little Giant” mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews und Material aus Hayes’ persönlichem Archiv das Leben und die musikalische Karriere des Saxophonisten in den Jahren vom bombenerschütterten London der Nachkriegszeit über die jazzigen 1950er Jahre und die Swinging Sixties bis hin zur großen Krise des Jazz Anfang der 1970er Jahre nachzuzeichnen.

Hayes wurde in eine musikalische Familie geboren – sein Vater leitete in den 1930er Jahren verschiedene Tanzorchester, seine Mutter war Revuesängerin und -tänzerin. Schon früh war er vom Saxophon fasziniert, begann aber im Alter von acht Jahren erst einmal mit Geigenunterricht, und bekam schließlich zum elften Geburtstag das langersehnte Saxophon, das er größtenteils autodidaktisch meisterte. Er hatte ein gutes Gehör, und der Geigenunterricht hatte ihn zu einem exzellenten Notisten gemacht. Er hörte Charlie-Parker-Platten und bewegte sich in Kreisen Gleichgesinnter, spielte bald mit Ronnie Scott, Alan Skidmore und Kenny Baker, mit dem er im Juli 1951 auch seine ersten Aufnahmen machte.

Die Baker Band hatte jede Menge Fans, und die Presse wurde schnell auf Hayes aufmerksam, der bald als “boy wonder tenorist” vermarktet wurde und, noch nicht einmal 20 Jahre alt, mit den Modernisten der britischen Jazzszene spielte. Mit 18 heiratete er zum ersten Mal, hatte schon zuvor alle möglichen Drogen ausprobiert. Er spielte in den populären Bands von Vic Lewis, Jack Parnell, Tony Hall und hatte schließlich auch mit seiner eigenen Band einen vollen Terminkalender.

Spillett beschreibt, wie britische Musiker in jenen Jahren das US-amerikanische Idiom des Hardbop gemeistert hatten, die Musik von Art Blakey und Horace Silver, und wie Kollegen wie Sonny Rollins oder Hank Mobley ihre stilistischen Spuren in Hayes’ Spiel hinterließen. 1958 traten Hayes’ Jazz Couriers neben dem Dave Brubeck Quartet bei einer Tournee durch sechzehn Städte des Vereinigten Königreichs auf; 1959 wurde Hayes vom Melody Maker zum besten Tenorsaxphonisten gewählt.

Andere Musiker hatten die Entwicklung des amerikanischen Jazz genauso interessiert mit verfolgt; und um 1960 kamen erste Versuche “freier Form” auch in England an. Joe Harriott war einer der ersten, die sich an freieren Spielweisen versuchten; Hayes aber blieb skeptisch. Die Eröffnung von Ronnie Scott’s, bis heute einem der wichtigsten Clubs des Königreichs, war sowohl für die Präsenz des amerikanischen Jazz in England wichtig als auch für das Selbstbewusstsein der eigenen Szene. Der BBC schnitt Konzerte mit, und Plattenfirmen widmeten dem heimischen Jazz eigene Alben. 1961 trat Hayes erstmals in New York auf, wo ihn die Größen des amerikanischen Jazz hörten, unter ihnen Zoot Sims, Al Cohn und Miles Davis. Zurück in England erhielt er einerseits eine eigene Fernsehshow, “Tubby Plays Hayes”, hörte er andererseits erstmals John Coltrane, der sein Bild von den Möglichkeiten im Jazz genau wie das vieler anderer Kollegen völlig veränderte.

Als Duke Ellington 1964 in England auftrat, jammte Hayes mit Bandmitgliedern und wurde vom Duke gebeten für Paul Gonsalves einzuspringen, als dieser unpässlich war. In den nächsten Jahren war Hayes international unterwegs, trat im New Yorker Half Note genauso auf wie beim NDR Jazz Workshop in Hamburg. Er arbeitete wie besessen, hatte zugleich gesundheitliche Rückschläge, darunter eine Thrombose, die auch seine Lungenfunktion herabgesetzt hatte.

Ende der 1960er Jahre hatte der britische Jazz zwei Probleme: die Macht der Rockmusik auf der einen Seite und das Verlangen des Publikums nach amerikanischen Künstlern auf der anderen Seite. Hayes erlitt auch persönliche Rückschläge, etwa als seine Freundin starb und er daraufhin noch stärker zu Drogen griff. Er musste wegen Herzproblemen immer häufiger in ärztliche Behandlung, begann aber trotz aller gesundheitlichen Probleme ein musikalisches Comeback. Er spielte mit Musikern der britischen Avantgarde, John Stevens, Trevor Watts, Kenny Wheeler, beteiligte sich bei einem Benefizkonzert für Alan Skidmore, der nach einem Autounfall im Krankenhaus lag, starb aber schließlich nach einer Operation, bei der eine Herzklappe ausgetauscht werden sollte.

“The Long Shadow” heißt das Buch, und so widmet Spillett sein letztes Kapitel der kritischen Aufbereitung seiner musikalischen Bedeutung nach seinem Tod sowie dem Nachwirken Hayes’ auf der britischen Szene. Er schließt mit einer Diskographie die Aufnahmen des Saxophonisten zwischen 1951 bis 1973 verzeichnet.

Simon Spillett hat viel Sorgfalt in seine Recherchen gesteckt. Nebenbei wirft er immer wieder aufschlussreiche Blicke auf die Musik selbst, auf die Aufnahmen, die Hayes’ musikalische Entwicklung dokumentieren. Wenn überhaupt, so mangelt es dem Buch insbesondere in diesem Segment an Tiefe, etwa an Erklärungen, wo sich Einflüsse, ästhetische Umbrüche und anderes konkret festmachen lassen. Eingehend aber beschreibt er den Lebensweg, die persönlichen Probleme, die musikalischen und ästhetischen Entscheidungen und zieht die Verbindungen zu den allgemeinen Entwicklungen des Jazz in Großbritannien, in Europa und in den Vereinigten Staaten. Spillett konnte mit Zeitzeugen sprechen und hatte Zugriff auf Hayes’ persönliche Papiere. Sein Buch ist eine definitive Biographie, die viele Fragen beantwortet und dabei im umfassenden Apparat all die Dokumente benennt, die für eine solche Arbeit notwendig sind.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Musiktraumzimmer Jazzcampus
herausgegeben von Peter Rüedi & Steff Rohrbach
Basel 2015 (Jazzcampus / Echtzeit Verlag)
212 Seiten, 32 Euro
ISBN: 978-3-905800-78-4

B2015rueediasels Jazzschule ist zum Jazzcampus geworden, zu einer Hochschule für improvisierte Musik, in der, wie der Titel dieses Buchs suggeriert, jede Menge an Träumen und Visionen wahrgeworden sind. Da ist zuallererst die Vision des Gründers und Gitarristen Bernhard Ley, der erzählt, wie er die Schule in den Räumen eines Jugendkulturzentrums gründete und wie er es dann durch pädagogisches wie politisches Geschick, aber auch durch das Talent der Vernetzung, das die Schule zum Teil des Basler Kulturlebens werden ließ, erreichte, sie zu einem Kompetenzzentrum zu machen, in dem der musikalische Gehalt, die Arbeit von Lehrenden und Schüler/innen, sich auch in der architektonischen Umsetzung spiegelt.

Davon nämlich handelt dieses Buch, vom glücklichen Unterfangen, auf den Grundrissen einer ehemaligen Maschinenfabrik eine Musikschule zu bauen mit all der für eine solche notwendigen Infrastruktur, Club, Konzertsaal, Tonstudio, Probenräume etc. Ein Musiktraumzimmer sei das ganze geworden, eine Raumrealisation also, die dem Thema “Jazz” angemessen sei. Mitgeholfen hätten alle, die Architekten Lukas Buol und Marco Zünd, der Bauherr Georg Hasler von der Stiftung Levedo sowie Bernhard Ley, der als Studiengangsleiter den zukünftig alltäglichen Gebrauch im Blick behielt. Das Gespräch mit diesen vieren erklärt Fragen der Akustik, Diskussionen im Planungsverlauf, die Außenwirkung genauso wie den inneren Glanz (sprich: Farben, Bodenbeläde, Beleuchtung).

Solch eine theoretische Diskussion lässt sich nur durch Fotos und Raumpläne in Buchform einfangen. Eigentlich gehört Musik dazu, noch wichtiger wäre der tatsächliche Raumeindruck, der aber in der Architektur immer noch einzig durch einen Besuch ermöglicht wird.

Um die tatsächliche musikalische und pädagogische Nutzung der Räume geht es im zweiten, noch umfassenderen Teil des Buchs: um Konzepte der Jazzpädagogik, persönliche Herangehensweisen an Musik, ästhetische Vorstellungen, die Rückwirkung von Unterricht auf die eigene Kunst der unterrichtenden Musiker.

Wolfgang Muthspiel etwa betont, wie wichtig es neben einem festen Lehrerstamm sei, großartige internationale Kollegen als Gastdozenten an die Schule zu holen. Andy Scherrer erzählt, wie er zum Unterrichten wie die Jungfrau zum Kind gekommen sei, und wie er trotz vieler Schüler immer eine gesunde Skepsis gegenüber des Unterrichtens beibehalten habe. Malcolm Braff erklärt, dass er nicht so sehr das Klavier denn vielmehr sich selbst als das wirkliche Instrument empfinde und wie er in den letzten Jahren eine rhythmische Theorie entwickelt habe, die auch Grundlage seines Unterrichts an der Hochschule sei. Lisette Spinnler versteht die Stimme als Instrument und Texte als Ausgangspunkt für musikalische Erkundungen. Adrian Mears plädiert auch beim Lernen für Spielpraxis, egal mit was für Besetzungen. Bänz Oester vertraut auf die Motivation zukünftiger Musiker/innen, auf die Verantwortung für das Selbst, das Eigene. Domenic Landolf mag sich weder verbiegen noch sonderlich in den Vordergrund spielen. Jorge Rossy spricht über die Standards als Basis und über seine Arbeit mit Carla Bley und Steve Swallow. Matthieu Michel überlegt, wie man als junger Musiker neben der Technik vor allem zu einer eigenen Stimme gelangt. Hans Feigenwinter sieht seine analytischen Fähigkeiten als eine Grundlage seines Musikmachens, zugleich aber die Musik auch als laufenden Ansporn, sie analytisch zu begreifen. Gregor Hilbe berichtet über die Bedeutung des Schlagzeugers in einer rhythmischen Kultur, und zugleich über die Idee des Producing / Performance-Studiengangs am Jazzcampus Basel. Daniel Dettmeister hatte die Chance, als Tonmeister selbst Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung des Aufnahmesaals der Hochschule. Mit Martin Lachmann kommt zum Schluss auch noch der Akustiker selbst zu Wort, der die Räume eingerichtet hat.

Eine bunte Abfolge von Interviews, Reflexionen und Fotos also, die sehr umfassend das Konzept klarmachen, dass hinter dem Jazzcampus Basel steckt: Freiräume schaffen und beste akustische Möglichkeiten. “Musiktraumzimmer Jazzcampus” ist damit zwar vordergründig eine in Buchform gepresste Imagebroschüre der Hochschule, zugleich aber erheblich mehr: ein Manifest für eine Jazzausbildung, in der Kunst und Wirklichkeit, Klang und Akustik, Pädagogik und Freiheit sinnvoll miteinander in Beziehung stehen.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Résume. Eine deutsche Jazz-Geschichte
von Eberhard Weber
Stuttgart 2015 (sagas.edition)
252 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-944660-04-2

2015weberDer Autor kommt gleich zur Sache: Der Leser wisse ja bereits, dass er, Eberhard Weber, gut 40 Jahre lang als Jazzbassist aktiv war, vielleicht auch, dass er seine aktive Karriere nach einem Schlaganfall 2007 beenden musste. Der Leser wisse wahrscheinlich etliches über seine Karriere, wahrscheinlich auch über den Jazz – was könne er dazu noch beitragen…? Nun, wenn überhaupt, dann könne er aus seinen eigenen Erinnerungen erzählen, sehr persönliche Geschichten, die sich um die Musik drehen, die aber auch sein ästhetisches Weltbild und vieles darüber hinaus berühren. Webers Buch wird so zu seinem “Resumé”. Und es mag vielleicht nicht “die” deutsche Jazzgeschichte sein, aber es ist auf jeden Fall, wie der Untertitel verspricht, “eine deutsche Jazz-Geschichte”, ein Beispiel dafür, wieso ein junger Mann zu dieser Musik kommt, was ihn über all die Jahrzehnte an ihr faszinierte und wie er lernte, in ihr sich selbst auszudrücken.

Eberhard Weber, dem musikalischen Geschichtenerzähler, gelingt der narrative Bogen auch in Worten. Bereits das Eingangskapitel, das vom “Schlag” handelt, der ihn kurz vor einem Konzert mit Jan Garbarek in der Berliner Philharmonie traf, von der Unsicherheit über seinen Gesundheitszustand, von der Hoffnung, wieder spielen zu können, zeigt seine erzählerischen, auch zur Selbstironie fähigen schriftstellerischen Qualitäten.

Im zweiten Kapitel widmet sich Weber seiner eigenen Vorstellung von Jazz. “Jazz”, schreibt er ironisch, doch nicht ganz falsch, “ist, wenn es der Komponist, der Arrangeur oder der ausführende Musiker dem Hörer so schwer wie möglich macht, der Musik zu folgen – und trotzdem alle Spaß daran haben. Das unterscheidet ihn von der vermeintlich ‘Neuen Musik’.” Doch neben dem Jazz als großer Kunst will Weber in diesem Kapitel auch seiner eigenen Ästhetik auf die Schliche kommen. Wiederholungen, erkennt er, langweilen ihn in der Regel; die Schlüsse von Stücken, findet er, misslingen meist. Er weiß, dass Solisten auch mal ohne Inspiration sein können und weiterspielen müssen. Er weiß auch um seine eigenen Schwächen als Bassist und beschreibt, wie man nur, wenn man um die technischen Probleme des eigenen Spiels oder des eigenen Instruments weiß, diese überkommen und kreativ mit ihnen umgehen könne.

Weber selbst wurde die Musik in die Wiege gelegt. Sein Vater, erzählt er, hatte als Cellist klassische Musik gemacht, daneben aber auch Cello und Banjo im Tanzorchester von Bernard Etté gespielt. Weber kam mitten im Krieg in Esslingen zur Welt. Seine Mutter sang, und “im häuslichen Weber’schen Freundeskreis”, erinnert er sich, “triumphierte Gesang über Instrumentales”– vielleicht eine Vorbereitung auf seine eigene sangliche Haltung beim Instrumentalspiel? Gehörbildung fand im Kinderzimmer statt, wenn seine Schwester und er Automarken am Klang unterschieden und dabei lernten zuzuhören und zu differenzieren. Ein Vetter quartierte sich nach der Kriegsgefangenschaft bei ihnen ein und begann Flöte zu lernen. Man diskutierte über Wagner und spielte Kammermusik. Weber bekam Cellounterricht, dann entdeckte er den Jazz und mit ihm wechselte er zum Kontrabass.

Im Jazz brachte er sich das meiste selbst bei, berichtet von ersten Bühnenerfahrungen, von Stuttgarter Jazzern wie Horst Fischer und Ernst Mosch, vom ersten Einsatz in Erwin Lehns Orchester als Vertretung für dessen regulären Bassisten. Seine musikalische Leidenschaft führte dazu, dass Weber durchs Abitur rasselte, eine Lehre als Fotograf begann und Kameraassistent bei einer Fernsehfirma wurde. Nebenbei spielte er mit gleichaltrigen Musikern, lernte Anfang der 1960er Wolfgang Dauner kennen und wurde bald Mitglied in dessen Trio. Er erzählt von den unterschiedlichsten Auftrittsorten zwischen Nachtclub, Café, Tanz und Ami-Kaserne, von Einflüssen auf sein Bassspiel, davon, wie das Dauner-Trio seinen eigenen Stil fand. Zwischendurch gibt es reichlich Anekdoten, aber auch Einblicke in die technischen Seiten seiner Kunst: Instrumentenwahl, Akustik, Pickups, Verstärker, elektronische Spielereien.

Ende der 1960er Jahre wandten Dauner und Weber sich freieren Spielweisen zu. Weber weiß um seine Beobachtungsgabe, weiß auch, dass er sich gern mal zur Polemik hinreißen lässt. Doch er besitzt eben auch die Erfahrung, Beobachtetes, insbesondere, wenn es um Musik geht, passend einordnen zu können. Und so mag man mit mancher polemischen Äußerung, die seinem eigenen musikalischen Geschmack zuzuschreiben ist, nicht übereinstimmen, wird aber an richtiger Stelle durch ein Augenzwinkern darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor zwar eine feste Meinung hat, sich selbst aber auch nicht immer ganz so ernst nimmt.

Weber stand in seiner Karriere bei zwei Plattenfirmen unter Vertrag, die Weltgeltung besaßen, Hans-Georg Brunner Schwers MPS und Manfred Eichers ECM. Er beschreibt die Arbeiten zu “The Colours of Chloë” und den folgenden internationalen Erfolg. Er erzählt vom Zusammenspiel mit Gary Burton, von den Unterschieden zwischen amerikanischen und europäischen Gepflogenheiten in der Jazzszene, von Tourneen mit seiner eigenen Band Colours, durch Deutschland – Ost und West –, die USA und Australien. Er berichtet von seiner Zusammenarbeit mit Jan Garbarek, mit dem er auch offizielle Empfänge spielte, bei denen Politiker, Botschafter, Bundespräsidenten, gekrönte Häupter begeistert waren, “endlich mal kein Streichquartett hören zu müssen”.

Eberhard Weber ist ein vielgereister Musiker. Seine Berichte von Zollformalitäten, Einreisebestimmungen, fasst verpassten Flügen und sonstigen Widrigkeiten sind amüsante Anekdoten, die vor Augen führen, dass das Musikerdasein nicht nur der aus musikalischer Kreativität besteht, die das Publikum erwartet und zumeist auch bekommt. Eine Professur für Musik hatte er nie annehmen wollen. Seine Begründung, die wie ein Tenor seine ungemein flüssige und lesenswerte Autobiographie beendet: “Ich kann nicht Bass spielen. Aber ich weiß, wie’s geht.”

Wolfram Knauer (Juni 2015)


Coltrane sur le Vif
von Luc Bouquet
Nantes 2015 (Lenka Lente)
146 Seiten, 13 Euro
ISBN: 978-2-9545845-8-4

2015bouquetDie Großen des Jazz waren zumeist auch die Meistaufgenommenen, und neben den offiziellen Einspielungen im Studio gehörten über die Jahre Bootlegs dazu, Schwarzpressungen von legalen oder illegalen Mitschnitten, die in mal besserer, mal schlechterer Qualität auf den Markt kamen. Solche Bootlegs haben naturgemäß keine Studioqualität; zum Teil sogar einen unsäglich schlechten Sound. Aber sie sind nicht nur für den Fan, sondern auch für den Experten ein immens wichtiger Teil der Aufnahmegeschichte dieser Musiker. Sie dokumentieren nicht die perfekte Abmischung, sondern den Alltag des Konzerts, in dem das Solo völlig anders klingen kann, in dem die Künstler mit dem Material oder auch mit sich selbst zu kämpfen haben, in dem mal bessere, mal schlechtere Fassungen der großen Titel erklingen, vergleichen mit den auf den im Studio gefertigten Referenzaufnahmen.

Luc Bouquet hatte im französischen Magazin Improjazz eine Reihe über die Liveaufnahmen John Coltranes veröffentlicht und diese jetzt in die zwölf Kapitel des vorliegenden Buchs einfließen lassen. Ein erstes Kapitel beschreibt Coltranes erste Aufnahmen aus dem Jahr 1946 sowie zwei Sessions mit Dizzy Gillespie bzw. Johnny Hodges. Kapitel 2 widmet sich den Jahren 1955-57 und Livemitschnitten mit Miles Davis, Kapitel 3 der Zeit von 1957-58 und den erst jüngst entdeckten und doch schon legendären Aufnahmen Coltranes mit dem Thelonious Monk Quartet. Zwei weitere Miles Davis-Kapitel schließen sich an, 1958-59 in den USA sowie 1960 in Europa, dann beginnt mit Kapitel 6 die Aufnahmegeschichte von Coltranes eigenen Bands: sein klassisches Quartett, Trane und Dolphy, die diversen Besetzungen von 1962, 1963, 1964-65 bis hin zu seiner letzten Liveaufnahme, dem “Olatunji”-Konzert vom April 1967. Jede der Platten wird mit Besetzungs- und Inhaltsangaben gelistet, dazu kommt eine kurze Beschreibung dessen, was auf ihr zu hören ist. Allzu tief versteigt sich Bouquet dabei weder in die Musik noch in die Begleitumstände der Aufnahmen – so wäre etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Entdeckungsgeschichte der Bänder von Tranes Carnegie-Hall-Konzerts mit Thelonious Monk durchaus berichtenswert gewesen.

Bouquets Buch ist als eine Art annotierte Diskographie der Liveaufnahmen John Coltranes ein nützliches Handbuch sowohl beim Hören wie auch bei der Entscheidungsfindung, was man sich vielleicht noch zulegen könnte.

Wolfram Knauer, April 2015Rencontres du jazz et de la musique contemporaine
herausgegeben von Jean-Michel Court & Ludovic Florin
Toulouse 2015 (Presses Universitaires du Midi)
184 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-2-8107-0374-6

Das vorliegende Buch ist die Dokumentation einer Tagung, die im Oktober 2013 in Toulouse stattfand und sich mit aktuellen Beziehungen zwischen Jazz und Zeitgenössischer (sogenannter “Neuer”) Musik beschäftigte. Im Vorwort stecken die beiden Herausgeber das Feld ab, das irgendwo zwischen Anthony Braxton und IRCAM-Experimenten angesiedelt ist und bei dem oft die Genrebezeichnung, ob “Jazz” oder “Neue Musik”, im Weg steht, da die Musik selbst solche Grenzen inzwischen gern und oft überschreitet.

Die Beiträge selbst sind theoretisch-musikwissenschaftlicher Natur. Im ersten Teil findet Vincenzo Caporaletti, dass die jüngere Entwicklung im Kunstmusikbereich neue wissenschaftliche Ansätze benötigt und stellt sein “principe autiotactile” vor, durch das sich sowohl für komponierte wie auch für improvisierte Musik die performativen Prozesse genauso analysieren ließen wie die ästhetischen Prozesse, die durch die Musik wie auch durch äußere, etwa mediale Einwirkungen mitbestimmt werden. Alexandre Pierrepont nähert sich der Frage, inwieweit die genre-spezifische Einordnung und Wertung von Musik aus den Bereichen europäischer klassischer Musik und des afro-amerikanischen Jazz nicht auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser zu Missverständnissen führt, wenn die Querverbindungen, die ja zwischen den Genres bestehen, oft und gern mit kulturellen Konnotationen versehen werden. Pierre Sauvanet betrachtet, wie das Moment der “Tradition” von Musikern im Jazz, der Neuen Musik und in tatsächlich “traditionellen” Musikrichtungen unterschiedlich behandelt wird.

Im zweiten Teil des Buchs geht es an konkrete Analysen. Pierre Fargeton befasst sich mit Franz Koglmanns langjähriger Auseinandersetzung mit dem Third Stream, der Neuen Musik und anderen Kunstrichtungen. Konkret untersucht er Koglmanns “Join!” eine “Oper” aus dem Jahr 2013 auf diverse Bezüge (1.) zum Jazz und (2.) zur Zeitgenössischen Musik. Martin Guerpin analysiert die Komposition “Unisono” des israelischen Komponisten Ofer Pelz und identifiziert darin insbesondere die Jazzverweise. Wataru Miyakawa untersucht das Werk des japanischen Komponisten Toru Takemitsu, in dem ihn vor allem der Einfluss des Lyrian Chromatic Concept von George Russell interessiert.

Im dritten Teil des Bandes berichtet der Gitarrist Frédéric Maurin darüber, wie er Methoden der Spektralmusik, die in den 1970er Jahren im Kreis der IRCAM in Paris entwickelt wurde, etwa für seine Band Ping Machine nutzbar macht. Cécile Auzolle untersucht das “Wintermärchen” des belgischen Komponisten Philippe Boesmans von 1999 und hat dabei Einflüsse aus dem jazz sowie improvisatorische Passagen im Fokus, die in der Oper vom Ensemble Aka Moon ausgeführt wurden. Henri Fourès hinterfragt die Begriffe Jazz, Zeitgenössische Musik, Komposition, Notation und Improvisation auf ihre Wertigkeit in der Hochschullehre. Zum Schluss berichten die Bassistin Joëlle Léandre, der Saxophonist Douglas Ewart und der Trompeter Mike Mantler über ihre eigenen Erfahrungen im Feld zwischen den Welten von Jazz und Neuer Musik.

“Rencontres du jazz et de la musique contemporaine” wirft ein Schlaglicht auf eine offenbar immer noch wichtige Diskussion in den beiden darin angesprochenen Welten. Der einleitende Überblick listet frühere Beschäftigungen mit dem Thema auf (hier fehlt allerdings der Band “Jazz und Komposition”, der das 2. Darmstädter Jazzforum von 1991 dokumentiert und in dem dieses Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet wurde). Sowohl in den allgemein theoretischen wie auch den konkreter praktischen Kapiteln fehlt ein wenig – aber das ist bei einer Tagung, die das nicht ausdrücklich zum Thema machte, vielleicht auch kaum zu leisten – die grundlegende Diskussion einer anders als aus dem europäischem Wissenschaftsdiskurs entstandenen Reflexion über Musik, eine Perspektive also, die sowohl Jazz wie auch die in europäischer Tradition stehende Neue Musik etwa aus dem Blickwinkel von Community, von Macht, von Geschlechterungleichheit oder ähnlichem betrachtet, sich dabei nicht auf die bestehenden meist europäisch gefärbten und genormten Diskurstraditionen einlässt, sondern mutig nach neuen sucht. Das von George Lewis und Benjamin Piekut 2016 herausgegebene Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies geht da einen anderen Weg, braucht, um das Thema abzudecken allerdings auch über 1000 Seiten.

Wolfram Knauer (März 2018)


Bunk Monk & Funk – and other attractions
von Anders Stefansen (& Jan Søttrup)
Kopenhagen 2012 (People’s Press)
248 Seiten, 249 Dänische Kronen
ISBN: 978-8771-37035-5

Anders Stefansen ist ein bisschen der Fritz Rau Dänemarks: ein Konzertveranstalter, der eher zufällig ins Geschäft kam, in den frühen 1960er Jahren für Norman Granz dessen Skandinavien-Tourneen organisierte (so wie dies Lippmann + Rau in Deutschland taten), später auch populärere Acts betreute, von den Beatles bis zu den Rolling Stones. In seiner Autobiographie erinnert sich Stefansen an die vielen Freundschaften zu Musikern, die er in seinem Berufsleben schließen konnte, an das Tourleben, an Probleme und ihre jeweilige Lösung, und an Begegnungen wie die mit John Coltrane, Andrés Segovia, Count Basie, Duke Ellington, Ben Webster, Cecil Taylor und vielen anderen. Er beleuchtet die Realitäten des Business, schwelgt aber vor allem in Erinnerungen. Wenn es dabei auch mehr um die Menschen geht als um die Musik, so ist die Lektüre seines Buchs dennoch erhellend nicht nur für diejenigen, die von seiner Arbeit als Konzertveranstalter profitierten, etwa weil sie selbst im Publikum saßen. Seine Anekdoten beleuchtet zugleich eine ungewöhnliche Karriere zwischen Musik und guter Küche (Stefansen eröffnete eines der ersten French Cuisine Restaurants in Dänemark). Und seine Anekdoten über Henry Miller, den er traf, als er den Film “Ruhige Tage in Clichy” produzierte, sind besondere Zugaben der Lektüre.

Wolfram Knauer (Januar 2018)


Fashion and Jazz. Dress, Identity and Subcultural Improvisation
von Alphonso D. McClendon
London 2015 (Bloomsbury Academic)
194 Seiten, 24,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-85785-127-7

Von den Banduniformen der Swingorchester über die Gardenie im Haar von Billie Holiday bis zu Wynton Marsalis’ in Brooks Brothers-Anzüge gekleidetes Lincoln Center Jazz Orchestra: Jazzmusiker waren immer auch Mode-Ikonen. Miles Davis mag diese Facette seines Bühnenlebens am stärksten ausgelebt haben, doch findet sich das Bewusstsein für die Bühnengarderobe durch die Jazzgeschichte. Als Art Blakey seiner Band in den 1970er Jahren für eine Weile erlaubte, in Straßenklamotten aufzutreten, war das eine Ausnahme. Er wie andere Musiker wussten, dass sie als afro-amerikanische Künstler Vorbildfunktion hatten.

Alphonso D. McClendon ist Modeforscher und hat sich in seinem Buch “Fashion and Jazz” dem Subtext der Musikergarderobe durch die Jazzgeschichte angenommen. Ihm ist wichtig, auf die gegenseitigen Einflüsse zwischen Jazz und Mode hinzuweisen, wie er gleich im ersten Kapitel deutlich macht, in dem er Parallelen und Einflusswege nennt, dass nämlich sowohl Mode wie auch Jazz auf ihre jeweilige Art und Weise vom Freiheit des Ausdrucks handeln. Es habe im Jazz durchaus eine “Sprache der Kleidung” gegeben, sagt er – will heißen: die Bühnenpräsentation hatte immer auch etwas zu bedeuten, und Kleidung habe zur visuellen Ästhetik von Jazzmusikern beigetragen, ob in der Performance auf der Bühne oder in Abbildungen.

Im zweiten Kapitel geht McClendon das Thema dann chronologisch an. Er beschreibt die Mode der Ragtime-Ära und der Bluesmusiker, die Bühnenkostüme von Swing-Musikern und die Selbstdarstellung der Bebopper, die zugleich “die Konstruktion eines subkulturellen Stils” gewesen sei, und stellt schließlich fest, das sowohl Mode wie auch Jazz ähnliche Perioden von Konformität (1900-1920), populärem Einfluss (1920-1940) und Widerstand (1940-1960) durchgemacht hätten.

Kapitel 3 diskutiert Momente “der Moderne” bzw. “des Modernen” und die Kommunikation beider durch Mode und Spielpraktiken im Jazz. Im vierten Kapitel beschreibt McClendon Strategien der Distinktion durch Jazz und Mode, um sich im fünften Kapitel etwa auf die Darstellung von Frauen und Männern in frühen Sheet-Music-Covers zu konzentrieren. Kapitel 6 diskutiert subversive Konnotationen, die sich etwa in Texten von Bluessängerinnen finden oder im Eingang von Jazzthemen in die Literatur oder den Film. Kapitel 7 ist überschrieben “Narcotics and Jazz: A Fashionable Addiction” und beschreibt unter anderem, wie elegante Kleidung auch helfen konnte ein Leben im Schatten der Drogensucht zu verschleiern. Kapitel 8 fokussiert auf Billie Holiday als Musik- wie Mode-Ikone; Kapitel 9 beschreibt Duke Ellington und Benny Carter als “traditionellen Dandy” sowie Dizzy Gillespie und Gerry Mulligan als “modernen Dandy” und blickt kurz darauf, wie amerikanische Präsidenten wie Bill Clinton und Barack Obama ihre Nähe zum Jazz als Imagefaktor ausnutzten.

McClendons Buch reicht leider nur bis ins Jahr 1960 und verpasst damit die politische Garderobe von Dashikis, schwarzen Lederjacken oder soul-beeinflusster Hipstermode der 1960er und 1970er Jahre, thematisiert also auch nicht die Rückkehr zur ordentlichen Garderobe mit Aufkommen der Young Lions der 1980er Jahre. Er thematisiert damit weder die modetechnische Annäherung zwischen den Genres, etwa in Richtung Rock oder auch Neue Musik, noch die Unterschiede etwa in im Modeverhalten amerikanischer und europäischer Musiker. Doch gelingt ihm in diesem eigentlich auf der Hand liegenden und doch so ganz anderen Blick auf Jazzgeschichte eine Perspektive, die Aufschluss über Imagebildung, Selbstverständnis der Künstler und die gegenseitige Beeinflussung von Image und künstlerischem Anspruch erlaubt. Etliche Bilder, eine ausführliche Bibliographie und ein Namensindex schließen das Buch ab.

Wolfram Knauer (August 2017)


Sales Rectangles. Daunik Lazro. Vieux Carré
von Guillaume Belhomme
Nantes 2015 (Lenka Lente)
44 Seiten, 1 Mini-CD, 9 Euro
ISBN: 978-2-9545845-9-1

Am 21. Mai 2011 spielte der Saxophonist Daunik Lazro ein inspiriertes unbegleitetes Solokonzert in einen Buchladen in Rouen. Guillaume Belhomme versucht die Stimmung des Konzerts einzufangen, indem er eines der Stücke Lazros, eine lange Improvisation über Joe McPhees “Vieux Carré” mit kurzen Blicken in die Bücher, die um ihn herum stehen und liegen, verbindet. Seine knappen, aus jeweils nicht mehr als einem Satz bestehenden Kommentare lassen sich den diesen Büchern allerdings erst zuweisen, wenn man sie anhand der im Büchlein abgedruckten Barcodes (bzw. die diesen beigefügten ISBN-Nummern) sucht. Und tatsächlich gelingt es Belhomme dabei ein wenig, jene Stimmung eines Konzerts im Buchladen einzufangen, bei dem die Konzentration auf die Musik von den Blicken zu und in die Bücher, von der Wahrnehmung der Atmosphäre, von kurzen Reflektionen darüber, was man da aufblättert, während man zugleich zuhört, unterbrochen, aber durchaus auch bereichert wird. Ein ungewöhnliches, durchaus inspirierendes Experiment, das den Leser / Hörer quasi subkutan auf die Komplexität der Wahrnehmung von Musik aufmerksam macht.

Wolfram Knauer (März 2017)


Spirits Rejoice! Jazz and American Religion
von Jason C. Bivins
New York 2015 (Oxford University Press)
369 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-023091-3

Jazz und Spiritualität sind für viele Musiker eine zusammenhängende Einheit. Duke Ellington, John Coltrane, Albert Ayler, Rahsaan Roland Kirk, Yusef Lateef, Anthony Braxton – die Liste der Musiker, für die ihre musikalische immer auch eine spirituelle Suche war, ist lang. Der Religionswissenschaftler und Jazzgitarrist Jason Bivins beleuchtet in seinem Buch dieses Verhältnis zwischen Religion und Musik anhand zahlreicher Beispiele und legt, gerade weil er seine Studien aus der Perspektive eines Religionsforschers und mit dem Wissen eines Jazzers macht, ein wichtiges Buch vor, in dem das Thema weit fundierter angegangen wird als in vielen Biographien der bereits genannten Musiker.

In seinen “ersten Meditationen” zum Thema stellt Bivins fest, dass Jazz genauso wie Religion in ihrer jeweiligen Individualität der Wahrnehmung schwer fassbare Gebilde seien. Er weiß um die ganz unterschiedlichen Ausprägungen des Religiösen oder Spirituellen gerade in der Musik, die irgendwo zwischen Ritual und Weltforschung liegt. Er fragt, wie sich das spirituelle Umfeld, aus dem Musik heraus initiiert oder rezipiert wird, auf die Musik selbst auswirkt. Er befasst sich mit konkreten Traditionen, auf die Jazz sich immer wieder bezog. Er betrachtet Beispiele, in denen mit Jazz amerikanische Geschichte genauso wie religiöse Aspekte derselben dargestellt werden. Er befasst sich mit Jazz in religiös-musikalischer Praxis. Er hinterfragt das Klischee von Jazz als rituelle oder heilende Praxis. Er diskutiert Verweise im Jazz auf Mystizismus, Selbstlosigkeit, die klangliche Verbindung zu einem höheren Wesen. Es untersucht Kosmologien und metaphysische Theorien im Jazz. Er will damit nicht nur Aspekte der Jazzgeschichte durch ihre Verankerung in religiösen Praktiken erklären helfen, sondern zugleich die Religionsgeschichte in den USA seit den 1920er Jahren mithilfe ihres Widerhalls im Jazz beleuchten.

Bivins geht dabei weder chronologisch vor noch versucht er seine Thesen an zentralen Figuren festzumachen, wenn es auch an konkreten Beispielen nicht mangelt in seinem Buch. Natürlich spielt der Einfluss der schwarzen Kirche auf viele afro-amerikanischen Musiker eine wichtige Rolle. Er beschreibt das Zeugnis ablegende (“testifyin'”) Tenorsaxophonspiel Albert Aylers. Er findet Spiritualität in Charles Gayles Bühnen- genauso wie Straßenmusikauftritten. Er fragt nach den Gründen von Jazzmusikern zum Islam, zum Buddhismus, zum Bahá’í, zur Scientology zu konvertieren und ihre Reflektion über die jeweilige religiöse Praxis und ihre Auswirkung auf ihre Musik. Er befasst sich mit den Ausprägungen des “Radical Jewish jazz” und mit der Idee einer imaginären Folklore in den Vereinigten Staaten.

Er beschäftigt sich mit Beispielen, in denen Jazzmusiker bzw. ihre Werke religiöse Geschichte erzählen und verwebt dabei eng religiöse und politische Aussagen, etwa in den Aufnahmen von Charles Mingus, Archie Shepp, Max Roach und Abbey Lincoln. Auch der Saxophonist Fred Ho und sein Einsatz für einen Asian American Jazz kommen zur Sprache sowie Sun Ras Verweise auf weltumspannende Verbindungen, die weit über den Planeten Erde hinausreichen. Er geht auf Ellingtons “Sacred Concerts” ein und widmet eine längere Passage John Carters Komposition “Roots and Folklore”, die, wie er findet, ein würdiger Träger des Pulitzer Preises gewesen wäre, den Wynton Marsalis später für sein Oratorium “Blood On the Fields” erhielt.

Er entdeckt im Bemühen von Musikern seit den 1950er Jahren sich zu organisieren neben den politischen auch spirituelle Gründe, wie er etwa am Beispiel der AACM und der Black Artists Group zeigt. Die von Horace Tapscott gegründete Underground Musicians Association, die Saint John Coltrane African Orthodox Church und Alice Coltranes Ashram sind für ihn konkrete Beispiele, wie Jazz als spirituell-religiöses Ritual gelebt und zelebriert werden kann.

Im zweiten Teil seines Buchs beschäftigt sich Bivins mit den engen Verbindungen zwischen Ritual und Improvisation, nennt Beispiele aus dem Schaffen von Duke Ellington, Mary Lou Williams, Milford Graves, Cecil Taylor, bezieht sich aber auch auf das Feld des afro-kubanischen Jazz, auf Steve Colemans Studien zur Yoruba-Kultur und auf die Musik des Art Ensembles of Chicago.

Ein eigenes Kapitel befasst sich mit Meditation und Mystizismus und verweist dabei auf Musiker wie Steve Lacy, Arthur Blythe, William Parker und Davis S. Ware. Ornette Colemans Harmolodics und George Russells Lydian Chromatic Concept werden von Bivins nicht allein als musiktheoretische Abhandlungen verstanden, sondern als Beispiel für kosmologische und metaphysische Versuche Jazz, Improvisation, ja Musik ganz allgemein zu fassen. In dieses Kapitel gehören auch Anthony Braxtons Tri-Axium-System und Wadada Leo Smith’ Ankhrasmation.

In seinem Schlusskapitel stellt Bivins dann noch einmal klar, dass die Auseinandersetzung mit Jazz oder mit Religion notwendigerweise eine fragmentarische sein muss, dass beide Praktiken ein Versuch sind, sich der Komplexität der Welt zu nähern, unsere eigene Sicht aber immer durch das geprägt ist, was wir bereits “wissen”. Für einige sei Musik wie Religion, weiß er, das aber beinhalte weit mehr als die pure Hingabe. Wie die Religion in amerikanische (und weltweiter) Geschichte, habe auch die Musik subversive Funktionen gehabt, habe Einfluss auf die Wahrnehmung der Realität genommen und diese damit ändern können.

Bivins’ Entscheidung, keine klar strukturierte Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Jazz und verschiedenen Ausprägungen von Spiritualität zu wählen, sondern stattdessen Themen zu identifizieren und von verschiedenen Seiten zu beleuchten, führt dazu, dass man auch als Leser die Vorstellung von Religion, Spiritualität, Ritual weiter fasst. Wo man zu Beginn der Lektüre von der sehr offenen Fassung der Begriffe noch ein wenig irritiert sein mag, da ist man dem Autor am Ende genau dafür dankbar, da er es schafft, auch beim Lesen die schnellen Analogien zu vermeiden. Bivins gelingt es, diesen offenen Geist in seine Leser zu übertragen – für den europäischen Leser dann auch in Richtung all der Themen, die sich hierzulande in die verschieden Kapitel einflechten ließen.

Wolfram Knauer (März 2017)


Omniverse Sun Ra
von Hartmut Geerken & Chris Trent
Wartaweil 2015 (Waitawhile Books / Art Yard)
304 Seiten, 69 Euro
ISBN: 978-0-9933514-0-2

Von 1994 stammt das damals im LP-Schallplattenformat veröffentlichte, von Hartmut Geerken und Bernhard Hefele herausgegebene Buch “Omniverse Sun Ra”. Jetzt erschien eine Neuauflage dieses Werks, das das Universum des Meisters aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben versucht.

Geerken war in den 1960er bis 1980er Jahren Institutsleiter verschiedener Goethe-Institute. Als Perkussionist hat er daneben mit zahlreichen Musikern vor allem aus dem Bereich der improvisierten Musik zusammengearbeitet. In Jazzkreisen ist er dabei insbesondere als Kenner des Oeuvres Sun Ras bekannt und war für Konzerte des Arkestra verantwortlich, etwa 1971 in Kairo, wo er seinerzeit fürs Goethe-Institut wirkte. Sein Buch von 1994 war eine kleine Sensation für die Aufarbeitung des Ra’schen Oeuvres; die Neuauflage ist nicht weniger willkommen.

Was übernommen wurde: Amiri Baraka beginnt das coffeetable-große Buch mit einem einleitenden, sehr persönlichen Text über den Meister. Robert Campbell erzählt die irdische Biographie Herman Blounts von seiner Geburt in Birmingham, Alabama, im Jahr 1914 bis zu seinem Tod im Mai 1993 und ordnet zugleich die verschiedenen Besetzungen und musikalischen Phasen seines Schaffens zu. Sigrid Hauff untersucht die mythologische und spirituelle Welt, die Sun Ra musikalisch genauso wie in Texten oder Interviews heraufzubeschwören versuchte. Chris Cutler ordnet sein musikalisches Schaffen in den größeren Kontext von Jazz und afro-amerikanischer Musikgeschichte ein. Robert Lax versammelt mehr oder weniger unzusammenhängende Gesprächsfetzen, Bonmots und Aphorismen des Pianisten, Komponisten, Bandleaders und spirituellen Philosophen. Salah Ragab berichtet über Konzerte des Arkestra in Ägypten in den Jahren 1983 und 1984. Karlheinz Kessler hinterfragt die Verwendung von Ritualen in den Performances der Band. Gabi Geist schreibt ein Horoskop für jemanden, der immer sagte, dass sein Geburtstag und -ort höchstens irdisch seien, tatsächlich aber seiner Herkunft nicht gerecht würden. Hartmut Geerken schließlich erinnert sich an den Besuch des Arkestra in Ägypten im Dezember 1971. Zwischendrin finden sich zahlreiche Fotos, viele davon von der britischen Fotografin Val Wilmer.

Was neu ist: Ein Text Bernhard Helefes entfällt in der Neuauflage. Den ausführlichen diskographischen Teil des Buchs hat Chris Trent neu geordnet. Wieder gibt es einen umfangreichen Bildteil, der die Plattencovers zeigt.

“Omniverse Sun Ra” war schon in der ersten Ausgabe von 1994 eine labor of love. Die neue Ausgabe hat einen Hardcover-Einband, ein etwas handlicheres Format, einen Block mit Farbfotos der Band, die im früheren Buch nicht enthalten waren. Es verzichtet auf die Tapeologogy, also die Auflistung oft privater Konzertmitschnitte, sowie auf die ausführliche Bibliographie der früheren Ausgabe.

“Omniverse Sun Ra” bleibt bei alledem ein großartiges Buch, das in Wort, Bild und Tonträgerverweisen als hervorragendes Nachschlagewerk über die Welt und Weltsicht Sun Ras genauso zu nutzen ist wie als eine Dokumentation, in der auch “Nachgeborenen” die Bühnenperformance des Arkestra vor Augen geführt wird.

Wolfram Knauer (März 2017)


A City Called Heaven. Chicago and the Birth of Gospel Music
von Robert M. Marovich
Urbana/IL 2015 (University of Illinois Press)
488Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08069-2

Gospelmusik, erklärt Robert Marovich, Rundfunkmoderator, Herausgeber des Journal of Gospel Music und Musikhistoriker, sei die künstlerische Antwort auf die Great Migration gewesen, in der tausende und abertausende Afro-Amerikaner zu Beginn des 20sten Jahrhunderts aus den Südstaaten in den Norden zogen und insbesondere in Städten wie Chicago ein neues Zuhause fanden. Blues, sagte Mahalia Jackson einmal, seien Lieder der Verzweiflung gewesen, Gospel dagegen Lieder der Hoffnung. Das Genre, erklärt Makovich in seinem Buch, das sich auf die Verankerung der Musik im Chicago des 20sten Jahrhunderts fokussiert, sei wie eine soziale Organisation organisiert gewesen, die jeden, egal wie gut er oder sie singen konnte, willkommen geheißen hätte.

In seinem Buch beschreibt Marovich die Entwicklung der Gospelmusik von frühen Hymnen und Camp Meetings über die beschriebene Great Migration und die lebendige Gospelszene von Chicago bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sounds, Rhythmen und der Enthusiasmus dieser Musik Eingang in die Popmusik fanden und schließlich zur Begleitmusik der Bürgerrechtsbewegung wurden. Er greift auf Interviews und selten ausgewertete historische Quellen zurück, um die Einbettung der Musik in die Community zu beschreiben; er entdeckt die Bedeutung von Predigern, deren eindringliche Sermons ab den 1920er Jahren ja sogar auf Schallplatte veröffentlicht wurden; er berichtet von frühen Aufnahmen für das noch junge Radio genauso wie für die aufstrebende Plattenindustrie. Er geht auf weithin bekannte Gospel-Künstler ein, Thomas A. Dorsey etwa oder Mahalia Jackson, genauso aber auch auf weniger, oft nur lokal bekannte Musikerinnen und Musiker. Er weiß um die Hintergründe der Gospeltourneen, die in den 1930er Jahren große Erfolge feierten, und er beschreibt die Entwicklung des Gospelquartetts über die Jahre.

Die Zuwanderung nach Chicago aus dem Süden hielt bis in die 1940er Jahre an und vermittelte der Gospelmusik damit über lange Jahre jene wichtige Funktion des Haltgebens in der Fremde. Radio- und frühe Fernsehshows nahmen sich des Genres an, und immer mehr wurde Gospel auch zu einem kommerziellen Produkt. In seiner Übersicht über die verschiedenen Stränge des Genres kennt Marovich alle Solisten, Bands, Quartette und Chöre und beschreibt sowohl ihre Einbindung in die örtliche kirchliche Gemeinschaft wie auch ihr sehr unterschiedliches Verhältnis zur Plattenindustrie. Mitte der 1950er Jahre fiel der Gospelmusik schließlich eine neue Rolle zu, als Mahalia Jackson zu einer glühenden Vertreterin des Civil Rights Movement und einer engen Verbündeten Dr. Martin Luther Kings wurde.

Die große Zeit des Gospel war mit dem Tode Mahalia Jacksons und Roberta Martins vorbei; und hier endet auch Marovichs Buch, mit einem nur kurzen Ausblick auf die Gegenwart. “A City Called Heaven” ist ungemein detailreich, dadurch stellenweise etwas mühsam zu lesen, aber durch einen umfangreich aufgeschlüsselten Index ein gutes Nachschlagewerk zum Thema. Marovich zeigt anhand der Gospelmusik in Chicago, wie sich sich Genre- und Stadtgeschichtsschreibung miteinander verbinden lassen, weil die Nöte und Zwänge des Lebens in der Großstadt letztlich die Entwicklung einer Musik als spirituelles Gegengewicht befördert haben.

Wolfram Knauer (Januar 2017)


La Nuée. L’AACM: un jeu de société musicale
von Alexandre Pierrepont
Marseille 2015 (Éditions Parenthèses)
443 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-2-86364-669-4

2008 veröffentlichte George E. Lewis sein Buch “A Power Stronger Than Itself. The AACM and American Experimental Music”, das die musikalische und ästhetische Welt der Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago seit den 1960er Jahren aus der Ecke einer “nur” afro-amerikanischen Avantgarde holte und zeigte, wie sehr die darin Aktiven Teil eines generellen und weit über Amerika hinausreichenden künstlerischen Diskurses waren und sind.

Im Vorwort seines Buchs über die AACM schildert Alexandre Pierrepont, wie es dazu kam, dass er sich als Anthropologe entschied, eine Studie zur AACM zu schreiben, wie er mittendrin von Lewis’ Arbeit erfuhr und sofort bereit war, mit seinem eigenen Projekt zurückzustecken. Lewis aber habe ihn zum Weitermachen ermutigt: Sein Buch sei eine Innenansicht, so Lewis, ein so komplexes Thema aber brauche immer mehrere Perspektiven, und Pierreponts Arbeit könne vielleicht eine sinnvolle Außenansicht bieten. Und so ist mit “La Nuée” (“Der Schwarm”) jetzt ein zweites umfangreiches Buch auf dem Markt, das die AACM von den 1960er Jahren bis heute als einen künstlerische Ansatz beschreibt, der weit über die erklingende oder auf Tonträgern dokumentierte Musik hinausreicht, vor allem nämlich in den daran beteiligten Akteuren ein Selbstbewusstsein geschaffen hat, das sie weit über den Kreis des Jazz, der afro-amerikanischen oder sogar der amerikanischen Musik hinaus einordnen lässt.

Pierrepont präsentiert im ersten Kapitel 25 Gründe warum, und Erklärungen wie Afro-Amerikaner in den USA ausgegrenzt oder marginalisiert wurden. Er zeigt, dass Musik gerade in diesem Zusammenhang wichtige soziale Funktionen übernahm. Er schildert die Situation in Chicago und erklärt, wie sich hier ab den 1950er Jahren eine aktive experimentelle Musikszene herausbildete. Im zweiten Kapitel beschreibt er die Idee hinter der AACM, die unterschiedlichen Ensembles und Projekte, die aus dem Kreis der Musiker entstanden, die europäische Erfahrung von Mitgliedern etwa des Art Ensemble of Chicago zwischen den Jahren 1969 und 1974, die Verbindungen zwischen der Chicagoer und der New Yorker Avantgarde-Szene ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre (die viel damit zu tun hatte, dass etliche Chicagoer Musiker inzwischen an die Ostküste umgezogen waren), sowie den Einfluss der AACM und ihres Konzepts auf europäische Improvisations-Kollektive.

Im dritten Kapitel untersucht Pierrepont die AACM als Kooperative und Verein, als Geheimbund und Brüderschaft, als sozio-musikalische Bewegung und Weltschule, beschreibt ihre formale Organisation, aber auch die “respectful anarchy”, die sich aus ihren Verbindungen etwa zum Black Arts Movement und anderen auch politisch aktiven Organisationen ergaben. Dabei sei sie bis heute eine Vereinigung afro-amerikanischer Musiker geblieben. Egal ob in Tongebung, Improvisation oder Komposition sei eines der verbindenden Merkmale der aus der AACM entstandenen Musik zum einen die Betonung von Individualität, zum zweiten aber auch das Einbringen des Subjekts in kollektive Prozesse. Pierrepont beschreibt pädagogische Konzepte, die sich aus den Schulprojekten der Association ergaben, und umreißt musikalische als soziale Verbindungen und die daraus resultierenden Gruppenzugehörigkeits-Prozesse. Im vierten Kapitel beschreibt er die Offenheit der AACM-Mitglieder gegenüber Genre, kompositorischen und improvisatorischen Experimenten, der Verwendung und Aneignung im Jazz bislang eher unüblicher Instrumente, der Weiterentwicklung elektronischer Klang- (und musikalischer Reaktions)möglichkeiten, sowie der Arbeit im Solo- und großorchestralen Kontext. Das Art Ensemble of Chicago warb mit dem Slogan “Ancient to the Future”, und in dieser Haltung, dass die Formung jedweder (künstlerischen) Zukunft sich auf die eigene Interpretation der Vergangenheit beziehe, sieht Pierrepont eines der Geheimnisse hinter der Langlebigkeit der AACM als Organisation. “Ich ziehe die Mythokratie der Demokratie vor”, zitiert er Sun Ra. “Noch vor der Geschichte. Alles vor der Geschichte sind Mythen… Das ist der Ort, an dem die Schwarzen sind. Realität ist gleich Tod, weil alles, was real ist, einen Anfang und ein Ende hat. Die Mythen sprechen vom Unmöglichen, von Unsterblichkeit. Und da alles Mögliche bereits versucht wurde, müssen wir eben das Unmögliche versuchen.”

Alexandre Pierreponts Studie zur AACM bietet eine gelungene Interpretation dessen, wofür die Association for the Advancement of Creative Musicians stand und steht, eine Einordnung ästhetischer wie gesellschaftlicher Vorstellungen und Aktivitäten aus der Gruppe, und den Versuch, das alles in Verbindung zu bringen mit ästhetischen, kritischen, philosophischen und spirituellen Aspekten, die weit über die Arbeit der AACM-Mitglieder hinausgehen. Ihm ist dabei, in Gesprächen mit Musikern, in den Beschreibungen von Konzert- und Aktionssituationen, in der historischen genauso wie der anthropologischen Einordnung all dessen ein kluges Buch gelungen, das die Rolle der AACM im Jazz genauso zu verorten in der Lage ist wie in der aktuellen Musik des 20sten (und letzten Endes auch 21.) Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Jazz Tales from Jazz Legends. Oral Histories from the Fillius Jazz Archive at Hamilton College
Von Monk Rowe (& Romy Britell)
Rochester 2015 (Richard W. Couper Press)
209 Seiten, 20 US-Dollar
ISBN: 978-1-937370-17-6

Das Hamilton College ist eine relativ kleine Hochschule in Clinton, New York. Einer ihrer Absolventen, Milt Fillius Jr., zog nach seinem Diplom ans andere Ende des Landes, nach San Diego, hielt aber Kontakt zu seiner Alma Mater. Er liebte Jazz und er war ein guter Freund des Sängers Joe Williams, der 1988 die erste Ehrendoktorwürde des Hamilton College erhielt. Im Gespräch mit Williams und dem Bassisten Milt Hinton wurde Fillius bewusst, wie viel an Wissen über den Jazz tatsächlich nur in der Erinnerung der Musiker bewahrt und wie wichtig Oral History gerade in diesem Bereich ist. Er etablierte also ein umfassendes Interview-Projekt, für das mittlerweile weit über 300 Künstler/innen in Ton und Bild festgehalten wurden. Die Interviews, von denen viele der Hamilton-Archivar Monk Rowe selbst durchführte, dokumentieren die Welt des Swing genauso wie die des modernen Jazz. Die meisten dieser Erinnerungen sind auf der Website des Hamilton College nachzulesen; eine für die Jazzforschung ungemein hilfreiche Sammlung. Es handelt sich bei den Interviewten nicht unbedingt um die großen Stars der Jazzgeschichte, obwohl etwa mit Lionel Hampton, Nat Adderley, Herbie Hancock, James Moody, Oscar Peterson, Ruth Brown und anderen auch solche vertreten sind. Viele der Musikererinnerungen stammen stattdessen von Sidemen, die über ihre Zeit in den großen Bands berichten, über das Leben “on the road”, über die alltäglichen Probleme eines reisenden Musikers, über Rassismus und vieles mehr

In “Jazz Tales from Jazz Legends” zeigt Monk Rowe, was man aus diesen Interviews so alles lernen kann. Er filtert konkrete Themen heraus, für die er dann die verschiedenen Erfahrungen der Interviewten gegenüberstellt. Das Anfangskapitel widmet sich Joe Williams, dann folgt ein Abschnitt über das Schicksal der Sidemen bei Duke Ellington, Count Basie, Benny Goodman und in anderen Bigbands. Clark Terry erzählt etwa, wie der Duke ihn bei Basie abwarb, erinnert außerdem, was er bei beiden Bandleadern lernte, und Benny Powell weiß zu berichten, dass Basie ihm in den zwölf Jahren in der Band nie förmlich bestätigt habe, dass er engagiert sei. Im Kapitel “Road Travails” erzählen Eddie Bert von seiner Zeit bei Benny Goodman, Sonnie Igoe von einer Tournee mit Woody Herman, Bucky Pizzarelli vom Reisen mit dem Vaugn Monroe Orchestra, Jay McShann vom Problem mit schlechten Klavieren “on the road”, Jimmy Lewis von einem angst-machenden Flug mit der Basie-Band, Kenny Davern vom Stress, die 60 One-Nighters in 90 Tagen erzeugen können, Lanny Morgan darüber, dass die Gage oft von Hotel- und Reisekosten aufgefressen wurde, die die Musiker aus eigener Tasche zahlen mussten. “Arranging the Notes” heißt ein weiteres Kapitel, das sich mit den Ansprüchen an die Arrangeure der Bands befasst. Dick Hyman, Mike Abene, Bill Holman, Derrick Gardner, Ray Conniff, Manny Albam erzählen darin von der Arbeit eines Bandarrangeurs genauso wie von den Anforderungen an andere Arten von Musik, etwa für Hollywood; Lew Soloff erinnert sich an die Arrangements für Blood Sweat & Tears, und Dave Rivello und Maria Schneider geben einen Ausblick darauf, wie die Arbeit eines Arrangeurs im 21sten Jahrhundert funktioniert.

“Inside the Studio” ist ein Kapitel über Aufnahmeerfahrungen überschrieben, in dem sich Doc Cheatham an seine erste Platte mit Ma Raney erinnert, Richard Wyands einen typischen Aufnahmegig aus dem Jahr 1959 beschreibt, Orrin Keepnews erzählt, was Musikern für Aufnahmesitzungen üblicherweise bezahlt wurde, und Dick Hyman und Derek Smith verraten, dass sie sich natürlich auch mit Musik für Fernsehwerbung über Wasser halten mussten. Man müsse nicht alles mögen, was da im Studio produziert werde, erklärt Hyman, man müsse sich aber anstrengen, das, was von einem gefordert werde, möglichst gut zu spielen. Rassismus war für viele der interviewten Musiker ein täglich erlebtes Thema, und im Kapitel “The Color of Jazz” kommt auch dies zur Sprache. Clark Terry und Joe Williams haben genügend eigene Erlebnisse; Sonny Igoe erzählt, wie er auf einer Tournee durch den Süden, bei der er im Bus mit dem Art Tatum Trio mitreiste, als “White Trash” angepöbelt und aufgefordert wurde, er solle den Bus gefälligst verlassen. Louie Bellson und Red Rodney haben ähnliche Erinnerungen, und Frank Foster fasst zusammen, dass der Jazz zwar aus der schwarzen Erfahrung heraus geboren worden sei, dass der Melting Pot Amerika ihn aber schon seit langem zu einer amerikanischen, wenn nicht gar globalen Musik gemacht habe.

Im Kapitel “Thoughts on Improvisation” geben Marian McPartland, Clark Terry, Bill Charlap, Charles McPherson und andere Tipps, wie man sich der Improvisation nähern könne. Ken Peplowski fasst zusammen: “Lern es, dann vergiss es wieder!”, und Randy Sandke reflektiert, was während eines Solos so alles durch seinen Kopf ginge. Schließlich äußern sich Gary Smulyan, Ralph Lalama und Jan Weber über die Möglichkeit und die Chancen “falscher Töne” im Jazz. “Motivation and Inspiration” ist ein Kapitel überschrieben, das Erinnerungen an persönliche Einflüsse beinhaltet. Keter Betts etwas erzählt, dass er als Schlagzeuger begonnen habe und durch Milt Hinton (und reichlich Zufall) zum Bass gekommen sei. John Pizzarelli kam über die Beatles zur Gitarre, Kenny Davern übers Radio bei einer der Pflegefamilien, bei denen er aufwuchs, bis er sechs Jahre alt war, und auch Junior Mance war von Earl Hines begeistert, dem er spätabends heimlich im Radio lauschte. Jon Hendricks berichtet, wie er dazu kam, improvisierte Instrumentalsoli zu textieren. Und Eiji Kitamura erinnert sich, wie eine Platte von Benny Goodman in der Sammlung seines Vaters ihn zur Klarinette brachte. Schließlich gibt es im Schlusskapitel noch ein paar Haltungen zum Phänomen des Swing und zum Missverständnis des Free Jazz sowie Erinnerungen an unglücklich gelaufene Engagements und über die Arbeit mit Legenden.

“Jazz Tales from Jazz Legends” ist also ein vielfältiges Buch, das jede Menge unterschiedlicher Erfahrungen zusammenbringt. Zu Beginn der Lektüre wünscht man sich, die einzelnen Interviews im Zusammenhang zu lesen, aber das ist ja tatsächlich möglich, über die Website des Fillius Jazz Archive am Hamilton College. Und so sollte man Monk Rowes thematische Zusammenstellung als das sehen, was sie ist: ein exzellentes Beispiel, wie sich aus den gesammelten Interviews am Hamilton College Narrative zu den unterschiedlichsten Themengebieten der Jazzgeschichte exzerpieren lassen. Dann lässt sich umso interessanter verfolgen, wie die Interviews sich gegenseitig ergänzen und die unabhängig voneinander Befragten dabei fast miteinander ins Gespräch zu kommen scheinen.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Swingin’ On Central Avenue. African American Jazz in Los Angeles
von Peter Vacher
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
331 Seiten, 55 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8832-6

2015vacherJazzgeschichtsschreibung funktioniert normalerweise so: Louis Armstrong – Charlie Parker – Miles Davis – John Coltrane. Oder so: New Orleans – Chicago – Kansas City – New York. Oder so: Dixieland – Swing – Bebop – Cool Jazz – Hard Bop – Free Jazz – Fusion. Personen, Orte, Epochen… eine Geschichte der großen Männer (!), der lebendigen urbanen Szenen, der alles umwälzenden stilistischen Innovationen. Tatsächlich aber ist dieser Blick auf die Größen, die Zentren, die Stilbegriffe enorm einengend, wenn nicht gar: einfach nur falsch. Neben den großen Stilisten gibt es immer auch diejenigen, deren Kreativität entweder nicht den großen populären Erfolg hatte oder aber nicht lange genug anhielt, oder die sich einfach weniger gut “verkaufen” konnten. Neben den jazzgeschichtsmäßig bekannten Zentren gab es Städte und Landstriche, die musikalisch enorm lebendig waren, viele Musiker hervorbrachten, aber von der Geschichtsschreibung höchstens als potentielle Spielorte, nicht als Brutstätten dieser Musik dargestellt wurden. Und neben den etablierten Stilen gibt es unendlich viele Zwischenstufen, da kaum ein Musiker sich eines Stils “in Reinkultur” bediente”. Ganz davon zu schweigen, dass sich die meisten Jazzgeschichten, ja selbst die meisten Biographien an Aufnahmen entlanghangeln und dabei gern den performativen Aspekt des Jazz vergessen, die Tatsache also, dass die veröffentlichte Platte nur eine Momentaufnahme des kreativen Prozesses ist.

Peter Vacher füllt mit seinem Buch also eine Lücke. Er widmet es einer Szene, die nie so ganz im Mittelpunkt des Jazz stand (Los Angeles), und er fokussiert dabei auf Musiker, die höchstens regionale Stars blieben und kaum nationalen oder gar internationalen Erfolg einfuhren. Vacher ist Außenseiter (Brite); er kam im Laufe des Trad-Jazz-Booms der 1950er Jahre zum Jazz. In den 1980er Jahren arbeitete er mit dem Klarinettisten Joe Darensbourg an dessen Autobiographie, verbrachte währenddessen einige Zeit in Los Angeles und lernte damals Veteranen der schwarzen Musikszene der Westküstenmetropole kennen. Die Interviews, die er mit den sechzehn in diesem Buch dokumentierten Musikern führte, hatten ursprünglich nicht das Ziel einer Buchveröffentlichung, sondern dienten einzig seinem privaten Interesse an ihrer Geschichte. Wenige konnte er ein zweites Mal interviewen, bei anderen fühlte er sich im Nachhinein schlecht vorbereitet. Dennoch geben die Geschichten, die er anhand dieser 16 Musiker erzählt, einen Einblick in eine so ganz andere Musikszene als die an der Ostküste. Die Westküstenmusiker waren flexibel; sie spielten Jazz genauso wie R&B oder Dixieland. Viele von ihnen verdienten sich ihren Lebensunterhalt in den Studios Hollywoods, und viele zog es vielleicht mal für eine Tournee, selten aber für immer fort aus Kalifornien. Und wenn auch diese Szene Jazzgrößen wie Dexter Gordon, Wardell Gray, Teddy Edwards und Charles Mingus hervorbrachte, wenn auch Legenden wie Benny Carter, Red Callender und Buddy Collette von hier aus agierten, so blieb Los Angeles doch ein weitgehend ungeschriebenes Kapitel der US-amerikanischen Jazzgeschichte.

Die von Peter Vacher interviewten Musikern stammen aus der älteren Generation, und dokumentieren die Szene vor allem der 1930er bis 1950er Jahre. Noch weiter zurück geht es in den Erzählungen des Trompeters Andy Blakeney , der von seinen ersten musikalischen Erfahrungen im Chicago der 1920er Jahre berichtet, von seinem Umzug an die Westküste im Jahr 1925, von Reb Spikes, der ein Musikgeschäft in L.A. besaß und außerdem eine gut beschäftigte Band. Er erinnert an viele der Musiker in der Stadt und an Partys bei Orson Welles. Er erzählt aber auch von der Rassentrennung in der Stadt, und von den legendären Gigs, die Louis Armstrong und Duke Ellington Anfang der 1930er Jahre in Sebastian’s Cotton Club hatten, von Tagesjobs in einer Schiffswerft, von Gigs mit Kid Ory und Barney Bigard, und von verschiedenen Comebacks in den 1970er und 1980er Jahren. Beim Pianisten Gid Honoré musste Vacher erst Street Credibility beweisen (dadurch, dass er den Schlagzeuger Wallace Bishop kannte), bevor der sich zu einem Interview bereitfand. Honoré kam 1921 aus New Orleans nach Chicago und erzählt von den vielen Ensembles, mit denen er in den 1920er bis 1940er Jahren dort spielte – oft Bands alter Freunde aus New Orleans. 1948 zog er an die Westküste, wo er mit Kid Ory und Teddy Buckner spielte – seine Erinnerungen an die Szene in L.A. nehmen dabei gerade einmal ein Fünftel seines Kapitels ein. Der Trompeter George Orendorff hatte in den 1920er Jahren King Olivers Creole Jazz Band mit Louis Armstrong in Chicago gehört, kurz bevor er nach L.A. zog. Er erzählt vom Engagement in der Band von Les Hite, in der als Schlagzeuger Lionel Hampton mitwirkte, oder von einem Abend, an dem Fats Waller Bach und Beethoven spielte. 1946 war er im Billy Berg’s Club, als Dizzy Gillespie dort mit Charlie Parker spielte. Orendorff arbeitete schließlich 30 Jahre lang als Postbeamter und trat nur noch selten auf. Jeder in Los Angeles kannte den Schlagzeuger Monk Fay, den Vacher aber erst nach intensiver Suche in einem Seniorenheim fand. Der erzählt von seiner Popularität in Hawaii, von einer Gefängnisstrafe wegen Dealens mit Marihuana und von Gigs in Los Angeles in den 1940er und 1950er Jahren. Der Saxophonist Floyd Turnham erinnert sich an Britt Woodman und an Aufnahmen mit Johnny Otis; die Sängerin Betty Hall Jones weiß noch, wie Nellie Lutcher ihr einen Vertrag bei Capitol Records verschaffte. Der Trompeter Red Mack Morris war in Les Hites Band, als diese Louis Armstrong begleitete und führte später eine Weile einen eigenen Club, in dem er schwarz Alkohol ausschenkte. Der Klarinettist Caughey Roberts erzählt von seinen Lehrern und davon, wie er schließlich selbst unterrichtete, daneben aber auch von einer Reise nach China mit Buck Clayton, über seine Arbeit mit Count Basie und Fats Waller in den 1930er Jahren und über seine Dixieland-Aufnahmen in den 1950ern. Der Pianist Chester Lane war ein großer Fan von Earl Hines, arbeitete lange Zeit um St. Louis, und zog 1957 an die Westküste. Der Trompeter Monte Easter erinnert sich, wie er und Art Farmer Ende der 1940er Jahre in Jay McShanns Band saßen, berichtet über die Probleme der afro-amerikanischen Gewerkschaften und über seinen Broterwerb als Postbediensteter. Der Bassist Billy Hadnott erzählt ausführlich von seinen musikalischen Erlebnissen in Kansas City und hat seine eigene Erinnerung daran, wie Charlie Parker ins Sanatorium von Camarillo kam. Der Trompeter Norm Bowden weiß einiges über Reb Spikes und den Schlagzeuger “Boots” Douglas zu berichten, aber auch über den Club Alabam im berühmten Dunbar Hotel auf der Central Avenue. Der Posaunist John ‘Streamline’ Ewing hatte anfangs gut bezahlte Nebenjobs in den Hollywoodstudios, ging dann auf Anregung eines Musikerkollegen nach Chicago, tourte mit Bands wie denen von Horace Henderson und Earl Hines und spielte ab den 1950er Jahren mit Teddy Buckner in Disneyland. Der Saxophonist Chuck Thomas spielte vor allem in der Küstenregion (bis Las Vegas) und zuletzt ebenfalls mit Teddy Buckner. Der Schlagzeuger Jesse Sailes erinnert sich, wie all die großen Swingbands in den Theatern von Los Angeles auftraten und wie er später Platten mit Percy Mayfield, Ray Charles und B.B. King aufnahm. Der Schlagzeuger Minor Robinson spielte mit Buddy Collette und kannte Charles Mingus, als dieser vielleicht 15, 16 Jahre alt war.

Es sind persönliche Geschichten, von Sidemen-Karrieren und außermusikalischen Lebensentscheidungen. Die Namen wiederholen sich; aus den Erzählungen schält sich dabei eine Szene heraus, die zusammenhielt, auch wenn einzelne der Musiker die Stadt für kürzer oder für länger verließen. Peter Vacher beschreibt zu Beginn eines jeden der Kapitel, wie er den Musikern auf die Spur kam und erklärt einzelne der von den Interviewten mitgeteilten Anekdoten. Nebenbei erzählen diese von der Mobilität des Musikerberufs, von Karrieren, die in New Orleans oder Chicago begannen oder in Kansas City und New York Station machten, deren Protagonisten aber, nachdem sie kalifornische Luft geschnuppert hatten, von dieser nicht mehr loskamen. Es gibt schöne Geschichten über das Zusammentreffen des West-Coast-Größen mit durchreisenden Stars der großen Swingbands; es gibt Insiderberichte über alle möglichen Aspekte des Showbusiness’; es gibt immer wieder den Anruf aus der Ferne, der ihnen einen Job in einer der “name bands” anbietet, den sie entweder für kurze Zeit annehmen oder aber ablehnen. Es gibt Geschichten über Familienplanung und solche über Tagesjobs, mit denen man die Familie ernähren konnte. Central Avenue spielt eine bedeutende Rolle, jene Straße, die in Teilen zu einem kulturellen Zentrum der afro-amerikanischen Community der Stadt wurde.

Peter Vacher hat die Gespräche laufen lassen; sein ursprüngliches Interesse galt der Lebensgeschichte der Musiker, weniger dem Treiben in Los Angeles. Und so nehmen die Erinnerungen an Chicago oder Kansas City oft mehr Raum ein als die aktuelle Lebenswirklichkeit des Ortes, an dem die interviewten Musiker schließlich landeten. Doch wird eine Szene eben nicht nur durch das geprägt, was Musiker in ihr kreieren, sondern auch durch alles, was sie aus ihrer Vergangenheit mitbringen. Von daher ist Vachers Ansatz völlig richtig, die Geschichte der Central Avenue durch die Einflüsse zu erzählen, die hier zusammenkamen.

Beim Lesen wünschte man sich stellenweise entweder einen knappen biographischen Abriss vor oder nach den Kapiteln oder aber das Einstreuen von Jahreszahlen, um die Erinnerungen der Musiker besser einordnen zu können. Wer bei Los Angeles an die Westcoast-Szene denkt, sei gewarnt: alle der von Vacher interviewten Musiker sind vor allem der Swingära zuzuordnen; sie erzählen zum Teil von den jüngeren Musikern, die sie kannten, waren aber nie selbst Mitglied dieser Szene. In seinem Vorwort heb Vacher vor allem drei Interviews hervor, die besonders gut gelungen seien: jene mit Andy Blakeney, Billy Hadnott und Norman Bowden, mit Musikern also, mit denen er mehrfach sprechen und dabei mehr über ihr Leben und musikalisches Wirken lernen konnte. Tatsächlich aber sind auch jene Gespräche lesenswert, die etwas langsamer “auf den Punkt” kommen. “Swingin’ On Central Avenue” gelingt es dabei, Erhebliches zur Kulturgeschichte des afro-amerikanischen Jazz im Los Angeles der 1930er bis 1950er Jahre beizutragen. Das Buch erzählt von künstlerischen Idealen und von der Realität des alltäglichen Musikgeschäfts. Die Entscheidung, die Vacher – sicher mehr der Not gehorchend – getroffen hatte, war genau richtig: Seine Protagonisten sind eben nicht die großen Stars, weil die Szene, die er im Fokus hat, sich in keiner der stilbildenden Städte befand, weil die Community, die er in den Kapiteln seines Buchs abbildet, sich aus vielen sehr disparaten Erfahrungen zusammensetzte. Sein Buch ist auf jeden Fall eine Fundgrube für Jazzhistoriker mit vielen Anekdoten und Erinnerungen, die dieser Rezensent hier zum ersten Mal gelesen hat; zugleich ist es eine abwechslungsreiche Zeitzeugensammlung einer Szene, die bislang nur mäßig dokumentiert ist.

Wolfram Knauer (Juli 2016)


Invitation to Openness. The Jazz & Soul Photography of Les McCann, 1960-1980
herausgegeben von Pat Thomas & Alan Abrahams
Seattle 2015 (Fantagraphics Books)
200 Seiten, 39,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-60699-786-4

2015mccannMusikerfotos – es gibt eine ganze Reihe an Jazzmusikern, deren Hobby auf Tournee das Fotografieren war. Milt Hinton ist der wohl namhafteste unter ihnen, doch jetzt zeigt ein neues Buch, dass auch Les McCann nicht nur gute Ohren, sondern auch ein exzellentes Auge hat. Das nämlich gehört dazu, auf dass das Buch eines fotografierenden Musikers nicht einzig wegen der Vorteile interessant ist, die sich daraus ergeben, dass der Mann hinter der Kamera zugleich auf der Bühne sitzt und von den Objekten seiner Begierde, also anderen Musikern, nicht als Störenfried, sondern als einer der ihren anerkannt wird.

Im Vorwort von “Invitation to Openness” erzählt A. Scott Galloway kurz die biographischen Stationen Les McCanns: geboren in Lexington, Kentucky, über Tuba und Snare-Drum zum Klavier gelangt, zusammen mit Eddie Harris mit “Compared to What” über Nacht einen Welthit geschaffen, der eine Solokarriere bedingte, die bis in jüngste Zeit anhielt. Pat Thomas erzählt die Genese des Buchprojekts: Er hatte gerade eine CD-Wiederveröffentlichung des McCann-Klassikers “Invitation to Openness” organisiert und McCann zu Hause besucht, als er in einer Ecke einen Stapel zerkratzter Abzüge von Fotos entdeckte, die der Pianist in den 1960er und 1970er Jahren gemacht, aber nie veröffentlicht hatte. Im Interview mit Thomas erzählt McCann, dass es in seiner Familie immer Fotoapparate gegeben habe. Er selbst habe sich eine Nikon gekauft und begonnen, auf der Bühne und daneben Menschen abzulichten. Als er sich ein Haus in Hollywood leisten konnte, richtete er sich eine Dunkelkammer ein und begann seine Aufnahmen selbst zu entwickeln.

Das Bemerkenswerteste an den Bildern ist vielleicht die Perspektive. Gerade die Bühnenaufnahmen sind eben nicht von vorn gemacht, aus dem Bühnengraben oder der ersten Reihe, sondern oft von der Seite oder leicht von hinten. Viele Bilder zeigen die Musiker backstage, in Vorbereitung fürs Konzert, in Freizeitklamotten beim Soundcheck. Das entspannte Lächeln Count Basies zeigt die entspannte Vertrautheit. Andere eindrucksvolle Motive sind etwa: Stanley Clarke mit abwartend-konzentrierter Miene (und einer denkwürdigen Frisur); Ben Webster am Flügel; Dexter Gordon und Joe Zawinul vor einem Motel; die junge Tina Turner; das Publikum aus Gefangenen im Cook County Jail; Cannonball Addlerley, der an einer Zigarette zieht, sein Gesicht halb in Rauch gehüllt. Neben Musikern gibt es Bilder von Schauspielern (Jack Lemmon, Bill Cosby, Jerry Lewis), Politikern (Jimmy Carter, Jesse Jackson, Stokely Carmichael, Dr. Martin Luther King), Sportlern (Muhamad Ali, Pelé), sowie einige wenige Bilder, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Doch auch diese Aufnahmen, etwa das eines alten Mannes mit Fahrrad, hätten das Potential zu Plattencovers.

Les McCann gibt zu einzelnen der Bilder Kommentare ab, in denen er Kolleginnen oder Kollegen erinnert. Auch die Identifizierung der Motive basiert auf McCanns Erinnerung, wobei es Motive gibt, zu denen er nicht wirklich mehr weiß, wo oder wann sie gemacht wurden, und zumindest eine falsche Zuschreibung (nein: das ist NICHT Eberhard Weber auf den beiden Fotos mit Sarah Vaughan, sondern Bob Magnusson!). Beim Durchblättern des Bandes kommt einem immer wieder in den Sinn, dass das Leben eines Jazzmusikers eben aus mehr besteht als der Bühnenwirklichkeit. Les McCanns “Invitation to Openness” bietet damit einen lohnenswerten und allemal mit Soul gefüllten Blick hinter die Kulissen sowohl der Musiker, die er darin dokumentiert, als auch seiner eigenen Konzertarbeit.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Bitches Brew
von George Grella Jr.
New York 2015 (Bloomsbury Academic, 33 1/3)
128 Seiten, 14,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-6289-2943-0

D2015grellaie Buchreihe 33 1/3 des Bloomsbury-Verlags behandelt eigentlich Rockgeschichte. Jeder Band ist einem separaten Album gewidmet und wird historisch kontextualisiert. Miles Davis wurde jetzt die Ehre zuteil, als erster Jazzer in die Reihe aufgenommen zu werden, die immerhin schon mehr als 100 Bände umfasst. Sein Album “Bitches Brew” von 1969 schrieb eben nicht nur Jazz-, sondern genauso auch Popgeschichte.

In seinem ersten Kapitel betont George Grella, wie schwer es ist, “Bitches Brew” klar einem Genre zuzuordnen. Miles wollte weder ein klares Jazz- noch ein dezidiertes Rockalbum machen. “Bitches Brew”, meint Grella, sollte man daher am ehesten als experimentelle Musik hören, als Versuch, den überkommenen Normen von sowohl Jazz wie auch von Rock zu entkommen.

Im zweiten Kapitel erklärt Grella die seltsame Sektenhaltung, die Jazzrezeption manchmal annehmen kann und gegen die sich Miles Davis von früh an wehrte. Geht nicht gibt’s nicht, sei sein Motto gewesen, und Popsongs nahm er bereits lange vor “Time After Time” auf. Miles, fasst Grella zusammen, spielte Pop nicht um Popstar zu sein, sondern um Musik zu machen. Er erzählt von der Zeit des Trompeters mit Charlie Parker, vom Capitol-Nonet, das irgendwie die Geburtsstunde des Third Stream wurde, sowie von “Kind of Blue” und “Sketches of Spain”.

In Kapitel 3 erklärt Grella, welch völlig anderen Ansatz Miles an die Produktion eines Albums hatte, bei dem er sich ab 1968, ab dem Album “Circle in the Round”, vorbehielt, die musikalischen Versatzstücke nach Belieben zusammenzuschneiden.

In den Kapiteln 4 und 5 schließlich steht “Bitches Brew” selbst im Mittelpunkt, wenn Grella über Titel und Covergestaltung geflektiert und die einzelnen Titel beschreibt. Das liest sich stellenweise wie eine Sportreportage: wer, wann, was, Tonart, Einsatz, Intensität. Grella verweist auf die oft nicht wahrnehmbare Editiertechnik Teo Maceros und darauf, wie dies nur deshalb möglich war, weil alle Musiker immer deutlich aufeinander hörten. In “Pharoah’s Dance” benennt er eine “hippe Blueslinie bei 4:46” oder eine Coda, die “fast Beethoven’schen Charakter” habe. Im Titeltrack zeigt er auf viele der Nahtstellen, und dann verweist auf die Unterschiede der beiden Platten des Doppelalbums: “eine, um dich wegzublasen, die andere, um deinen Kopf wieder geradezurücken”.

Im letzten Kapitel widmet Grella sich den Nachwirkungen des Albums, in der Kritik genauso wie im Jazz. Mit Verweis auf Wynton Marsalis erklärt er, dass da zwei recht unterschiedliche Sichtweisen der Zukunftfähigkeit von Musik aufeinandergeprallt seien, um dann Miles’ Konzept auf dem kleinsten Nenner zusammenzufassen: “Indem er Rhythmus, Puls und Harmonien – und auf Tonband eingespielte Kompositionen – verwandte, die absichtlich nicht zu einer Auflösung fanden, organisierte Miles Zeit: und sowohl Form wie auch Zeit finden damit in der Musik zusammen”.

Eine kommentierte Diskographie beschließt das Büchlein, das sich wie ein sehr ausführlicher Plattentext mit vielen zusätzliche Informationen liest. Ja, Grella gelingt die Kontextualisierung, und doch kommt er der Musik selbst nur bedingt nahe, auch weil seine analytischen Anmerkungen etwas zu oberflächlich bleiben, weil er quasi nur parallel zur Musik beschreibt, was man eh hört, anstatt zusammenzufassen, was das alles “bedeutet”. Trotz dieser Einschränkung aber ist Grellas Büchlein ein lohnenswerter Begleiter zur nächsten abendlichen Abhörsession dieses Miles Davis-Klassikers.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Jazz Basel. Vier Jahrzehnte Stars und Szene
herausgegeben von Offbeat = Urs Ramseyer & Ruedi Ankli & Peewee Windmüller & Urs Blindenbacher
Basel 2015 (Christoph Merian Verlag)
180 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-85616-695-5

2015offbeatDie Geschichte regionaler Jazzszenen kann man auf unterschiedliche Weise erzählen. Man kann nostalgisch und sehnsuchtsvoll zurückblicken und von alten Zeiten schwärmen. Oder man kann auch Zurückliegendes vor allem aus dem Wissen um die Gegenwart verstehen.

Die Macher des offbeat-Festivals gehen in ihrem Buch über “Jazz Basel” den zweiten Weg. Das opulent bebilderte Buch widmet einzig sein Eingangskapitel (von Bruno Spoerri) den Anfängen des Jazz in Basel von den 1920er bis in die 1970er Jahre. 1974 gründete sich der Verein und die Konzertreihe jazz in basel, 1990 schließlich das Festival offbeat. Das Buch blickt auf die Musiker, die seither auf dem Festival spielten, aus skandinavische Gäste oder gesamtdeutsche Schwerpunkte, auf Jazz aus dem Mittelmeerraum und einen lateinamerikanischen Fokus, auf US-amerikanische Bands und die Schweizer Musiker, die hier auch immer zu hören waren. Es gibt Anekdoten aus dem Alltag von Festivalorganisatoren und Berichte von Backstage. Die Auswirkungen des Festivals in Stadt und Region werden thematisiert, Schulprojekte etwa oder die Präsenz im örtlichen Rundfunk. Und schließlich wird mit Stolz auf die Zusammenarbeit des offbeat Festivals mit dem Jazzcampus Basel und dem Club The Bird’s Eye berichtet.

Das alles ist kurzweilig geschrieben, vordergründig wohl vor allem für regionale Leser interessant, daneben aber genauso ein Bericht über die Verankerung einer regionalen wie internationalen Szene, aus dem auch Veranstalter anderswo etwas lernen können. Und schließlich sind da noch die 86 schwarz-weißen Abbildungen, Fotos von Bernhard Ley, Peewee Windmüller und Röné Bringold, die die Erinnerungen an die Geschichte von offbeat ungemein lebendig werden lassen.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher
von Detlef Siegfried
Göttingen 2015 (Wallstein)
455 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1673-7

2015siegfriedErnest Borneman war eine Mehrfachbegabung, so sehr, dass es genügend Menschen gaben, die dachten, es handele sich wahrscheinlich um mehrere Personen, die nur zufällig denselben Namen hätten. In den 1970er und 1980er Jahren war Borneman ein regelmäßiger Gast in deutschen Talkshows, wann immer es um das Thema Sexualität ging, hatte daneben eine Sex-Beratungskolumne in der Neuen Revue. Als Soziologe hatte er sich mit seinem Buch Das Patriarchat 1975 einen Namen gemacht. Vor seiner Beschäftigung mit Frauenbewegung und Feminismus hatte Borneman eine Karriere im Filmgeschäft gemacht, arbeitete für das National Film Board of Canada, für die UNESCO in Paris und war Programmdirektor des Freien Fernsehens, der ersten privaten Fernsehanstalt, die nach ihrem Verbot durch die Adenauer-Regierung quasi durch das ZDF abgelöst wurde. Und noch früher war Borneman nicht nur Jazzliebhaber und -experte, sondern einer der ersten Jazzforscher, ein Kenner des Jazz, der diese Musik zeitlebens als transkulturelle künstlerische Aussage verstand und 1944 mit seinem Artikelreihe “The Anthroprologist Looks at Jazz” eine der ersten übers Anekdotische hinausreichenden Kulturgeschichten des Jazz verfasste.

Borneman schied im Juni 1995 aus dem Leben. Sein Archiv ist in der Berliner Akademie der Künste untergekommen; jetzt hat der Historiker Detlef Siegfried die Biographie des vielfältigen Forschers vorgelegt. Diese hat er klar nach den verschiedenen Feldern gegliedert, in denen Borneman tätig war, überschrieben “Hören. Die Ethnologie des Jazz”, “Sehen. Das Leben auf der Leinwand” und “Berühren. Sex und Gesellschaft”.

Der 1915 in Berlin geborene Ernst Bornemann – wie er bis zu seiner Emigration 1933 hieß – hatte bereits 1930 Bertolt Brecht kennengelernt, als Mitglieder von Berliner Schulchören zu Proben des Lehrstücks Der Jasager geladen worden waren. Er und Brecht freundeten sich an, Brecht half ihm bei der Abfassung seines ersten Theaterstücks und Borneman Brecht bei einer Neuübersetzung des Dreigroschenromans ins Englische. Siegfried, der zu Beginn seines Buchs anschaulich erklärt, wie er sich durch Bornemans eigene “Autofiktionen”, wie er sie nennt arbeiten musste, durch falsche Fährten also, die Borneman aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten seiner Karriere legte, beschreibt Bornemans Exil als “nicht nur Flucht-, sondern auch Möglichkeitsraum”.

In London war Borneman regelmäßig bei Jazzkonzerten anzutreffen, verkehrte außerdem in einem Kreis linker und schwarzer Intellektueller. Bereits Mitte der 1930er Jahre hatte er einen Kriminalroman geschrieben, arbeitete bald auch an einem Drehbuch für einen möglichen eigenen Film, in dem auch der Jazz eine Rolle spielen sollte. Im Sommer 1940 wurde er als “feindlicher Ausländer” interniert, doch bereits zuvor produzierte er seine erste Rundfunksendung. Nach seiner Internierung wurde er nach Kanada deportiert, wo er nach seiner Entlassung beim National Film Board Arbeit fand.

Er knüpfte Kontakt zu Sammlern und Jazzkennern in den USA und sammelte Material für eine mögliche musikwissenschaftliche Dissertation und ein Buch zum Thema “American Negro Folk Music”, das von zwei Verlagen zur Publikation angenommen, dann aber wegen kriegsbedingten Papiermangels nicht gedruckt wurde. In seinen Jazzarbeiten, für die Borneman sich bei dem bekannten Musikethnologen Melville J. Herskovits um ein Stipendium bemühte, ging es, wie Siegfried zusammenfasst, “um zwei Themen: erstens um die Verbindungen von afroamerikanischer Volksmusik und moderner Tanzmusik der Gegenwart, und zweitens um die Verschränkungen von sozialen Verhältnissen und Populärkultur”. 1944 begann Borneman seine achtteilige Artikelserie “The Anthropologist Looks at Jazz”, die in der Zeitschrift The Record Changer erschien, der er bald auch als Mitherausgeber angehörte. Er schlug sich in der Debatte um den Bebop zwar auf die Seite des “authentischen” Jazz, konnte aber der romantischen Rückwärtsgewandtheit vieler der Traditionalisten wenig abgewinnen und versuchte daher immer wieder zwischen den Lagern zu vermitteln.

Mitte der 1940er Jahre lebte er in Paris, interviewte Louis Armstrongs Band anlässlich des ersten Jazzfestivals in Nizza im Jahr 1948, und freundete sich mit amerikanischen Expatriates und französischen Musikern wie Claude Bolling oder Boris Vian an. Er schrieb für den britischen Melody Maker und produzierte 1953 mit Betty Slow Drag einen experimentellen Kurzfilm, der seine beiden großen Interessen Jazz und Film miteinander verbinden sollte. Für den Melody Maker berichtete Borneman auch über den Jazz in Westdeutschland, konnte aber, selbst als Joachim Ernst Berendt versuchte ihn mit zeitgenössischen Musikrichtungen der 1960er Jahre anzufreunden, indem er ihn in ein Konzert John Coltranes mitnahm, mit dem modernen Jazz wenig anfangen.

Siegfried widmet Bornemans langer Auseinandersetzung mit den karibischen Wurzeln des Jazz ein eigenes Unterkapitel und berichtet davon, wie der spätere Beat Club von Radio Bremen auf Bornemans Ideen zurückzuführen gewesen sei. Er zeigt, dass Borneman in seinen Schriften einige Debatten angestoßen hatte, die in der Jazzkritik erst in den 1960er Jahren wirklich ausgetragen wurden, als er selbst an dieser Diskussion nicht mehr selbst teilnahm. Letzen Endes mag Borneman nicht mit allen seiner Thesen Recht gehabt haben, ohne Zweifel aber sei er ein Wegbereiter der internationalen Jazzforschung gewesen.

Der Jazz spielt auch in den weiteren Lebens- und Arbeitsphasen für Borneman eine wichtige Rolle, und Bornemans kritischer Geist, den Siegfried am Beispiel des Jazz ausgiebig beschrieben hat, lässt sich auch in diesen Bereichen zeigen. Detlef Siegfrieds Buch ist dabei ein faktenreicher Band, der biographische Stationen und Diskurse, an denen Borneman beteiligt war, laufend miteinander verschränkt. Ganz sicher war Borneman einer der schillerndsten Vordenker des Jazz; Siegfrieds Schilderung sowohl seines Lebens als auch der Diskussionen, an denen sich Borneman sein Leben lang beteiligte, zeigt ihn aber darüber hinaus als einen vielseitig gebildeten, einfachen Erklärungen zutiefst skeptisch gegenüberstehenden, zur Offenheit des Denkens neigenden Forscher.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Teddy Wilson. 19 Selected Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2015 (Blue Black Jazz)
44,95 Euro

Boogie Woogie, Volume 2. 17 Original Boogie Woogie and Blues Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2014 (Blue Black Jazz)
46,85 Euro
Zu beziehen über www.blueblackjazz.com

Paul Marcorelles hat bereits eine ganze Reihe an Transkriptionen von Pianisten des frühen Jazz vorgelegt, vorzugsweise von Musikern, die im Stride- oder Boogie-Woogie-Stil spielten. Seine jüngsten Veröffentlichungen widmen sich dem Swing-Stil Teddy Wilsons auf der einen und dem Repertoire einiger der Boogie-Woogie-Größen der frühen 1940er Jahre auf der anderen Seite.

2015marcorelles_wilsonFür Teddy Wilson hat Marcorelles sich Soli zwischen 1934 und 1946 ausgesucht, schnelle virtuose Titel wie “Rosetta”, den “Tiger Rag” oder “When You and I Were Young, Maggie” sowie Balladen wie “Don’t Blame Me”, “Out of Nowhere” oder “Body and Soul”. Seine Transkriptionen sind exakt, gut lesbar, reine Notationen ohne weitere Spielanweisungen oder analysierende Harmoniesymbole. Sie sind zum Nachspielen gedacht, brauchen allerdings Pianisten, die zum einen keine Probleme mit den bei Wilson so beliebten Dezimengängen der linken Hand haben und zum zweiten technisch fortgeschritten sind, um die virtuosen Arpeggien und die die Rhythmik aufbrechenden Läufe tatsächlich zum Swingen zu bringen. Wilsons linke Hand allein kann jedem Pianisten helfen, die antreibende Kraft des Swingens zu begreifen. Auch das Studium seiner Voicings lohnt, deren Alterationen den Akkorden zusätzliche Schwebungen verleihen. Wie immer bei Transkriptionen von eigentlich improvisierten Jazzsoli ist es mehr als hilfreich, sich die Soli auf Platte (oder über Streamingdienste) anzuhören.

2015marcorelles_boogieIm zweiten der beiden jüngst veröffentlichten Bände versammelt Marcorelles Transkriptionen von Hersal Thomas (“Hersal’s Blues”), Clarence ‘Pinetop’ Smith (“Pinetop’s Boogie Woogie”), Jimmy Yancey (etwa den “Five O’Clock Blues”), Pete Ammons (z.B. “Rock It Boogie”), Meade Lux Lewis (“Chicago Flyer” und “Glendale Glide”), Albert Ammons (etwa seinen “Swanee River Boogie”), Sammy Price (133rd Street Boogie”) und Pat Flowers (“Eight Mile Boogie”). Die rhythmischen Verschiebungen zwischen Bassfiguren und rechter Hand im Boogie Woogie sind dabei noch weit schwerer zu “lesen” und bedürfen noch stärker des Höreindrucks, um sie danach vom Papier in die Tasten zu übertragen und erlauben im Idealfall – und das wäre es ja eigentlich immer im Jazz – irgendwann das Loslassen und das eigene Erfinden melodischer und rhythmischer Muster, die eigene Improvisation.

Marcorelles’ neue Bände seien jedenfalls jedem interessierten Pianisten empfohlen als Übe- genauso wie Studienmaterial. Marcorelles bietet auf seiner Website übrigens alle insgesamt 202 Transkriptionen dieser wie früher erschienener Bände auch einzeln zum Download als PDF-Datei an

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Hot Music, Ragmentation, and the Bluing of American Literature
von Steven C. Tracy
Tuscaloosa 2015 (The University of Alabama Press)
537 Seiten, 64,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8173-1865-9

2015tracySteven C. Tracy ist Literaturwissenschaftler, Professor für Afro-American Studies, aber auch ein Blues-Harp-Spieler, der bereits in Vorgruppen für B.B. King, Muddy Waters und andere Stars der Szene auftrat. In seinem umfangreichen Buch stellt er die afro-amerikanische Musik der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, also Jazz und Blues, als Referenzpunkt dar, der helfen könne, die amerikanische Literaturgeschichte jener Zeit besser zu verstehen. Es geht ihm dabei nicht einzig um Romane oder Dichtung, die sich konkret und thematisch mit Musik beschäftigen, sondern auch um den Einfluss von Klanglichkeit, von Virtuosität, von improvisatorischer Haltung auf die amerikanische Literatur der Jahre bis 1930. Er greift hierfür immer wieder zurück auf konkrete Aufnahmen, um etwa Beispiele der afro-amerikanischer Stimme, des afro-amerikanischen Rhythmus, der Griot-Funktion des Bluessängers, der Bedeutung von Wiederholungen, der tiefen Doppeldeutigkeit, der politischen Untertöne herauszustreichen, die eben keine rein afro-amerikanischen Untertöne seien, sondern Befunde für den Zustand der gesamten amerikanischen Gesellschaft. Tracy verbindet die Genres, folkloristischen Blues, modernistischen Jazz, um aus dem Mix der Aufnahmen heraus, auf die er sich bezieht, neue Argumente zu entwickeln, die abseits der üblichen Beschreibung von Jazz-, Blues- oder Kulturgeschichte liegen. Er untersucht daneben auch Film- oder klassische Musikgeschichte nach Einflüssen von oder Analogien zu afro-amerikanischer Musik und findet den nachhaltigsten Widerhall außerhalb der Musik schließlich in der Literatur, bei T.S. Eliot, William Carlos Williams, Hart Crane, Gertrude Stein, Ezra Pount, und bei Abbe Niles, Langston Hughes, Countee Cullen, Zora Neale Hurston und anderen Dichtern und Schriftstellern der Harlem Renaissance.

Tracys schnelle Wechsel zwischen den Diskursen sind dabei sowohl inspirierend wie auch, da sie ein häufiges Vor- und Zurückblättern erfordern, zeitweise ermüdend. Sein intertextueller Ansatz ist auf jeden Fall ein Beispiel, wie sich aus dem Studium afro-amerikanischer Musik Aussagen über weit mehr als diese treffen lassen, wie stark tatsächlich diese Musik bereits in den ersten 30 Jahren des 20sten Jahrhunderts ihren Niederschlag im Denken, Handeln und Schreiben gefunden hat.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Friedel Keim
Das große Buch der Trompete (3)
Diskografie, Fotografien, Statistik, Nachträge
Fortsetzung des Trompeter-Lexikons, Band 3
Mainz 2015 [Eigenverlag
554 Seiten, 33,90 Euro
nur direkt zu beziehen über
Friedel Keim, e-mail: ruf.keim@t-online.de

2015keimDer Ur-Maizer Trompeter Friedel Keim hat nach den ersten beiden Auflagen von 2005 und 2009 nun den dritten Band seiner Trompeterbibel vorgelegt, ein sorgfältig recherchiertes Kompendium, das die verschiedensten Seiten des Instruments und seiner Musiker beleuchtet und dessen Spektrum von Klassik über Jazz bis zur volkstümlichen Musik reicht.

Keim kennt dabei keine Berührungsängste. Er versteht es genauso, sich über die Kunst der Barocktrompete auszulassen wie über die Probleme, die viele Jazzer mit der Ästhetik eines Wynton Marsalis haben. Und neben den großen Stars finden auch die Satzbläser wieder Erwähnung oder Musiker der aktuellen Szene.

Der lexikalische Teil von Band 3 enthält biographische Artikel von A wie “Abbott, Goivinda” bis Z wie “Zonshine, Michael”. Neben diesen teils ausführlichen Portraits gibt es Anmerkungen zur Interpretation von Werken aus Klassik, Marschmusik und anderen Genres, darunter auch analytische Anmerkungen und Notenbeispiele aus dem Jazzbereich, etwa eine Transkription des “West End Blues” in der Version von Louis Armstrong und seiner Hot Five von 1928, Dizzy Gillespies “Night in Tunisia”, oder Maynard Fergusons Version von “Body and Soul”. Korrekturen und Ergänzungen zu den beiden ersten Bänden erhalten ein eigenes Kapitel, und wieder gibt es den Block “Wissenswertes rund um die Trompete”, der etwa Informationen über das “Gansch-Horn” gibt oder über das flexibrass-Mundstück, über die Vuvuzela oder über die Trompete auf historischen Briefmarken, über den Trompetenbaum oder diverse Filme, in denen die Trompete im Mittelpunkt steht. Schließlich findet sich noch ein umfassendes Kapitel zu Horst Fischer, jenem legendären deutschen Trompeter, dessen Prolog zu einer Autobiographie Keim abdruckt, außerdem eine alphabetische Auflistung aller ihm bekannter Fischer-Aufnahmen.

Wie bereits in den vorherigen Bänden findet sich auch in Band 3 vieles, was sonst kaum irgendwo erierbar wäre. Friedel Keim weiß um Geburts- und Sterbedaten, berichtet über die Stars, aber eben genauso über die “kleinen” Vertretern des Instruments, über Satzspieler oder junge Musiker, die durchaus auch zwischen den stilistischen Welten leben und arbeiten, über Dixieland- und Swingtrompeter, die eher der Amateur- als der Profiszene angehören, aber dennoch gute Musiker sind, über Musiker von denen man noch nie gehört hat oder aber auch Musiker, die man persönlich kennt, aber nie in einem Lexikon vermutet hätte, weil ihr Arbeitsschwerpunkt doch eher regional begrenzt ist. Keim hat sich ihnen allen angenommen mit einem Vollständigkeitsanspruch, der jede Kritik an der Auswahl im Keim ersticken ließe (man entschuldige das Wortspiel). Und gerade in den Einträgen zu den kleinen Vertretern der Trompete erkennt man einmal mehr die “labor of love” dieses Buches, das zu alledem noch exzellent lesbar ist. Kein kritisches Buch vielleicht, dafür ein verlässliches Nachschlagewerk für jeden, der sich für die Trompete interessiert: eine Trompeterbibel fürwahr!

(Wolfram Knauer, Februar 2016)


 

Mein Onkel Pö
von Holger Jass
Hamburg 2015 (Offline-Verlag)
137 Seiten, 25,55 Euro
ISBN: 978-3-00-051272-8

2015jassEinen ersten Hinweis auf den Inhalt dieses Buchs gibt bereits der Preis: 25,55 Euro, entsprechend einem Cent pro Nacht im legendären Club, wie Holger Jass in der Presseankündigung zum Buch erklärt. Holger Jass hatte das Onkel Pö (Onkel Pö’s Carnegie Hall, wie es damals offiziell hieß) Anfang 1979 vom Vorbesitzer Peter Marxen übernommen, der ihn bei der Übergabe warnte: “Ich muss dich warnen. Pö-Jahre sind wie Hundejahre. Die zählen siebenfach.” Jass hielt es bis Anfang 1986 aus, führte das “Pö” im Sinne seines Kultstatus’ weiter und hat jetzt ein kurzweilig-amüsantes Buch über seine Erlebnisse mit Musikern, Medienmenschen, Kollegen und dem Publikum geschrieben, das ihm die ganzen Jahre über treu blieb, aus dessen Reihen sich aber partout kein Interessent für eine Nachfolge finden ließ.

“Jetzt macht Jass den Jazz im Onkel Pö” titelte das Hamburger Abendblatt, als Jass 1979 übernahm. Sein Buch handelt natürlich auch von Jazz. Er beschreibt, wie Michael Naura, damals Jazzredakteur des NDR viele der Jazzabende mitschnitt, die sich das Pö ansonsten kaum hätte leisten können. Den Flügel im Club hatte kein geringerer als Joachim Kühn ausgesucht und eingeweiht. Ansonsten bevölkern Jazzer wie Freddie Hubbard, Elvin Jones, Pat Metheny, Dexter Gordon die Seiten, aber auch Tom Waits, Charlie Watts, Joe Cocker, Hannes Wader, Truck Stop und natürlich Udo Lindenberg, der dem “Pö” in einem seiner Hits ein Denkmal setzte.

“Bei Onkel Pö spielt ‘ne Rentnerband”, hieß es da, “seit 20 Jahren Dixieland” – aber mit Dixieland ließ sich so ein Schuppen nicht finanzieren, bilanziert Jass trocken … obwohl man das Wort “trocken” selbst bei einer Rezension dieses Buchs nicht in den Mund nehmen sollte, denn trocken ging es ganz sicher nicht zu im Pö. Auch davon handelt das Buch, von den skurrilen Erlebnissen mit den Musikern, vom gesteigerten Alkoholkonsum, vom Pflegen einer Szene und davon, dass man, um Wirt zu sein, ein dickes Fell und viel Humor benötigt. Pineau ist das Zauberwort, jene süßliche Mischung aus Traubenmost und Cognac, die Jass als Allheilmittel vieler Probleme genauso beschreibt wie als Ursache anderer. Seine Anekdoten machen klar, dass man als Wirt und täglicher Konzertveranstalter selbst nicht ganz ohne solche “Medizin” auskommt: ein divenhafter Auftritt Freddie Hubbards etwa oder jener Abend mit Dexter Gordon, den Jass allerdings erst aus drogenbedingtem Tiefschlaf im Hotel um die Ecke wecken musste, den er für seine 57 Jahre als “bös klöterich” beschreibt, der dann aber nach einem dreifachen Whiskey ein denkwürdiges Konzert gegeben habe.

Sehr viel tiefer geht es sicher nicht in seinen Erinnerungen, die er mit viel Augenzwinkern und der humorvollen Abgeklärtheit der zeitlichen Distanz schreibt, und bei denen man schon mal über die eine oder andere schlüpfrige Anekdote hinweglesen muss. Bei all denen, die dabei waren in diesem zwischen Alternativszene und Hochkultur angesiedelten Zauberort in Eppendorf, wird er warme Erinnerungen wecken. Man meint den Fusel wieder zu schmecken und die dicke Luft wieder zu riechen, vor allem aber erinnert man sich an die musikalischen Hochgenüsse, die das Onkel Pö so oft und so viel vermittelte. Für diejenigen, die nicht dabei waren, gibt Jass ein launiges Portrait, einschließlich etlicher Fotos, ein Portrait, das stellenweise einer Filmdokumentation über verwunschene Zeiten ähnelt, bei denen man eigentlich gern dabei gewesen wäre.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Rhythm Is My Beat. Jazz Guitar Great Freddie Green and the Count Basie Sound
von Alfred Green
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
325 Seiten, 75 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4246-3

2015greenCount Basies All American Rhythm Section gilt als die swingendste Rhythmusgruppe des Jazz. Die Art, wie Pianist Basie, Gitarrist Freddie Green, Bassist Walter Page und Schlagzeuger Jo Jones rhythmisch und harmonisch ineinandergriffen, um den vorwärtstreibenden Schwung zu schaffen, der zu ihrem Markenzeichen wurde, besaß so viel an Energie, dass Rhythmusgruppen überall auf der Welt sie zum Vorbild nahmen. Den wichtigsten Anteil an dieser Energie hatte, wie Basie selbst, aber auch zahllose andere Musiker bezeugen, Freddie Green, der dem Count Basie Orchester von 1937 bis zu Basies Tod im Jahr 1983 und der Band noch ein paar Jahre danach bis zu seinem eigenen Tod 1987 angehörte. Von Nichtmusikern wurde Green schon mal dafür bemitleidet, ein ganzes Leben lang nie ein wirkliches Solo gespielt, dafür immer nur “schrumm schrumm” gemacht zu haben, vier Schläge pro Takt, durchgehend vom ersten Akkord bis zum letzten; und doch ist ihm jemand kaum in der Kunst des Rhythmus nahegekommen, den dieser Vierschlag erzeugen konnte.

Jetzt hat Alfred Green, der Sohn des Gitarristen, eine Biographie vorgelegt, die weit mehr ist als die persönliche Erinnerung eines Verwandten. Greens Buch schafft den Spagat zwischen Insiderwissen, persönlicher Betroffenheit und nüchterner Beschreibung der Lebens- und Arbeitswirklichkeit eines Musikers der Bigbandära.

Die Geschichte beginnt in Charleston, South Carolina, wo Freddie Green 1911 geboren wurde, in einer Stadt mit einer überaus lebendigen schwarzen Musikszene. Nachdem er die erste Ukulele gegen ein viersaitiges Banjo ausgetauscht hatte, sammelte er erste musikalische Erfahrungen mit Freunden aus dem Jenkins Orphanage, einem berühmten Waisenhaus in Charleston, aus dem etliche spätere Musiker hervorgingen. Mit einer dieser Bands reiste er die Küste hoch bis nach Maine, wechselte irgendwann vom Banjo zur Gitarre und spielte mit dem Saxophonisten Lonnie Simmons und dem Stride-Pianisten Willie Gant. Als der Impresario John Hammond ihn hörte, empfahl er seinem Schützling Count Basie, sich den Gitarristen für sein Orchester zu sichern. Im Januar 1937 kam es zum Vorspiel erst in kleinem Kreis, dann mit der Bigband, und am 1. Februar begann sein mehr als 45-jähriges Engagement als Motor des Count Basie Orchestra.

Alfred Green erzählt nicht nur die Lebens- und Arbeitsstationen Greens, sondern nähert sich auch seinem Stil, fragt nach Einflüssen, erklärt die Besonderheit des Green’schen Sounds. Der Autor wurde im Februar 1938 geboren, im selben Jahr beendete seine Mutter ihre Beziehung zu seinem Vater, sicher auch, weil der inzwischen eine Romanze mit Billie Holiday begonnen hatte, die für kurze Zeit mit Basie reiste.

Green beschreibt die verschiedenen Besetzungen der Basie-Band der 1930er und 1940er, die Schwierigkeiten des Musikerlebens, und die zunehmenden Probleme der Musikindustrie, die schließlich dazu führten, dass Basie sein Orchester auflöste und kurze Zeit mit einem Sextett – ohne Gitarre – auftrat. Sein Vater nahm die Entscheidung nicht hin und tauchte einfach beim nächsten Gig des Sextetts mit seiner Gitarre auf. “Was machst du denn hier?”, fragte Basie, und Green antwortete, “Was glaubst du wohl? Du hast hier einen Gig, richtig? Ich habe dir die besten Jahre meines Lebens gegeben und du glaubst, mich einfach beiseiteschieben zu können? Keine Chance!”

Während die 1930er- und 1940er-Jahre-Band insbesondere ein Solistenorchester war, wurde der Sound der 1950er Jahre-Band durch ihre Arrangeure geprägt. Alfred Green berichtet, wie Green seinen Platz in den Arrangements fand, wie er sich zu den Schlagzeugern positionierte, und wie er seine Aufgabe immer als die eines Unterstützers der anderen gesehen habe.

Neben den Einsichten in Greens Karriere sind es vor allem die technischeren Kapitel, die im Buch faszinieren. Alfred Green beschreibt etwa die Spannung der Saiten, die besondere Haltung, die Green benutzte, bei der sein Instrument fast auf seinem Schoß lag, spricht über die Tatsache, dass Green kaum je mit nicht-akkordischen Soli zu hören war, über seine wenigen Aufnahmen unter eigenem Namen, über Gigs für andere Bandleader und anderes mehr.

Einem dicken Block mit seltenen Fotos folgen schließlich noch Analysen von Michael Petterson, M.D. Allen und Trevor de Clerq sowie Zitate anderer Gitarristen über Green, schließlich eine ausführliche Diskographie aller seiner Aufnahmen.

Es gibt eine Reihe an Büchern über das Count Basie Orchester, darunter natürlich auch Basies eigene Autobiographie, verfasst mit Hilfe Albert Murrays. Keines dieser Bücher aber bietet einen so persönlichen Einblick in die Band wie das Buch Alfred Greens über seinen Vater. Der Gitarrist Freddie Green war wahrscheinlich der wichtigste Musiker des Basie Orchesters, der nicht nur für den durchgehenden Swing und eine rhythmische Verlässlichkeit stand, sondern der Band auch, was oft übersehen wird, ihren ganz spezifischen Sound verlieh, der sie aus der Menge ihrer Konkurrenten auf dem großen Bigbandmarkt hervorhob. Greens Buch gelingt in diesem Umfeld gleich dreierlei: Er schreibt eine Biographie des Gitarristen Freddie Green, er erzählt Details aus der Bandgeschichte Count Basies (und damit aus dem Alltag der Swingära), und er teilt sehr persönliche Erinnerungen an seinen Vater mit dem Leser.

Ihm gelingt dabei der schwierige Spagat, Beobachter und Sohn zur selben Zeit zu bleiben. Zu Beginn liest sich das alles wie eine interessante, aber eher distanzierte Lebensdarstellung, bis Green aus einem Gespräch zitiert, das er mit seiner Mutter geführt hatte, und bei dem einen schlagartig klar wird, dass der Autor ja Sohn des Objekts seines Berichts ist, dass er mit dem Wissen eines Familienglieds, sicher auch mit eigener Betroffenheit schreibt. Solche Perspektivwechsel gelingen ihm hervorragend, wie man in etlichen bewegenden Passagen erkennen kann. Green verschweigt macht aus seinem Vater nirgends einen Heiligen, sondern stellt ihn als Menschen dar, der nach dem Besten strebte, aber durchaus fehlbar war.

“Rhythm Is My Beat” ist ein sehr empfehlenswertes Buch, über Freddie Green, über Count Basie, über die Swingära und vieles mehr. Alfred Greens Buch gibt einen tieferen Einblick als vieles, was man sonst so liest zu diesem Thema und ist eine spannende Lektüre für Fans, genauso wie für Musiker oder Forscher über diese Musik.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Keith Jarrett. Eine Biographie
von Wolfgang Sandner
Berlin 2015 (rowohlt)
362 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-780-1

2015sandner“Mit freundlichen Künstlern ist die Welt nicht gesegnet”, beginnt Wolfgang Sandner sein Buch, das er mit Wohlwollen des Pianisten angegangen war, bis er mit diesem nach einem Konzert aneinandergerieten sei, weil es Jarrett nicht gefallen habe, dass Sandner sein “Köln Concert” als einen seiner größten Erfolge bezeichnete. “Das Ende eines Dialogs eröffnet jedoch auch eine Chance”, befindet Sandner. In der Folge nämlich habe er sich noch stärker auf die Musik konzentrieren müssen. Das Ergebnis ist ein Buch, das der Musik Jarretts als eines Künstlers gerecht wird, der seine Kraft aus der Improvisation des Jazz zieht, dessen Wirkung aber weit über dieses Genre hinausreicht.

Keith Jarrett wurde am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren, und Sandner sieht diesen Tag, Kriegsende, als symbolträchtig für die Jahrhundertkarriere des Pianisten. Ohne Europa, das durch den Krieg noch mehr für die Qualitäten des Jazz sensibilisiert war, erklärt Sandner, wäre Jarretts Karriere einerseits so nicht möglich gewesen, auf der anderen Seite habe Jarrett immer tief in den Traditionen der amerikanischen Avantgardeästhetik gestanden, in der Tradition auch eigenbrötlerischer Künstler wie Lou Harrison und Alan Hovhaness, deren Werke er Anfang der 1980er Jahre in Europa uraufführte.

Sandner zeichnet die Kindheit Jarretts in Allentown nach, die Erkenntnis seines Talents, das Trauma der Trennung seiner Eltern, dem er mit dem Rückzug in die Musik begegnete, und die musikalischen Bemühungen seiner Brüder. Jarrett spielte mit lokalen Bands, besuchte Workshops, gewann ein Stipendium fürs Berklee College, mit dessen die Musik eher regulierenden als zur Kreativität ermutigendem Lehrplan er allerdings wenig anzufangen wusste. Da war die Schule von Art Blakeys Jazz Messengers schon eine andere, in denen Jarrett ab Herbst 1965 für vier Monate mitwirkte. Von Blakey wechselte er in die Band des Saxophonisten Charles Lloyd, dem er durch dessen Schlagzeuger Jack DeJohnette empfohlen worden war. Lloyds Quartett war “die erste Supergroup des Rockjazz”, und Sandner hört sich sowohl dessen Studio- wie auch die Liveaufnahmen an. 1967 gründete Jarrett sein erstes Trio mit Charlie Haden und Paul Motian, und als ihm Miles Davis 1969 zum wiederholten Mal anbot, in seiner Band mitzuwirken, sagte Jarrett zu, obwohl Miles mit Herbie Hancock und Chick Corea bereits zwei Pianisten in der Band hatte. Bei Miles musste er elektronische Keyboards und Orgel spielen, Instrumente, die ihm eigentlich zuwider waren. Zugleich setzte er sich noch mehr mit Klang auseinander, mit dem Sound der Instrumente, die er zu bedienen hatte genauso wie den Soundmöglichkeiten der Band, die für Miles im Mittelpunkt seiner “musikalischen Großräume, Klangkunstwerke” standen.

Ein eigenes Kapitel widmet Sandner der Partnerschaft zwischen Keith Jarrett und Manfred Eicher, der weit mehr war als ein Labelgründer und Plattenproduzent. Jarrett stand Anfang der 1970er Jahre eigentlich bei ABC unter Vertrag, ihm wurde aber erlaubt, Produktionen mit “ernster Musik” und ähnliche Aufnahmen ohne Gegenleistung anderswo einzuspielen, das könne sein Ansehen schließlich nur steigern. Dass Jarretts Aufnahmen für Eichers Edition of Contemporary Music zum Zugpferd für das Label ECM werden sollten, hatte niemand vorhergesehen. Im November 1971 also ging Jarrett erstmals in Oslo ins Studio und produzierte mit “Facing You” die erste von bis heute 28 Solo-Produktionen für Eicher, ein Album, das sowohl Jarretts Ruf als Solopianist begründete als auch Eichers Ruf als einer der offenohrigsten Produzenten des Jazz. Sandner erklärt, was die Partnerschaft und das Vertrauen der beiden zueinander begründe, die Tatsache etwa, dass Eicher selbst Musiker sei oder dass sein Interesse neben dem Jazz auch anderen Formen von Musik (oder Literatur oder Kunst oder Film) gelte. Eicher, schlussfolgert Sandner auch nach dem Gespräch mit anderen ECM-Künstlern, sei bei vielen seiner Produktionen der “dritte Mann”, auch wenn man ihn weder sehe noch höre.

Es gäbe etliche Musiker und Musikliebhaber, warnt Sandner schon im Vorwort seines Buchs, die meinen, über Musik solle man nicht so viel schreiben, da diese das Wesentliche doch eh in sich berge. Und dann tut er genau das, kongenial, so nämlich, dass seine Zeilen die Musik zwar heraufbeschwört, aber nirgends zu ersetzen trachtet. Über Jarretts Klavierspiel etwa schreibt er, man könne vielleicht die verschiedenen Techniken benennen, die seinen Personalstil ausmachten, komme dabei aber vor allem an einem Charakteristikum nicht vorbei, das Sandner die “Konzentration aufs Wesentliche” nennt und das er in Jarretts musikalischem Ansatz genauso findet wie in seiner Wahl der Mitmusiker oder in der klaren Gliederung seines Repertoires in Standards, eigene Kompositionen und freie Solo-Improvisationen.

An anderer Stelle verfolgt er Jarretts Vervollkommnung der authentisch-eigenen Stimme. Er betrachtet die Aufnahmen seines amerikanischen Quartetts mit Dewey Redman und seines europäischen Quartetts mit Jan Garbarek, beschreibt, was an diesen Aufnahmen so besonders sei, obwohl sie doch weder einen unerhörten Klang hervorbrächten noch eine neue Form oder eine außergewöhnliche ästhetische Haltung. Er nennt Jarrett einen “Solist ohne Grenzen”, verfolgt die unterschiedlichen pianistischen Ansätze, die der Künstler über die Jahre entwickelte. Und Sandner ist wie wenige deutsche Autoren ein Meister darin, Musik mit Worten näher zu kommen. Ein Beispiel: Über Jarretts Album “Staircase” schreibt er: “Alles, was Jarrett in den elf Stücken erklingen lässt, besitzt Körperlichkeit. Es gibt keine flachen Töne, nur runde, eckige, kubusartige, voller Tiefenschärfe. Wenn ein Ton verklingt, wird er nicht nur leiser, er verschwindet wie in einem Tunnel, verliert nicht nur sein Volumen, sondern wird augenscheinlich kleiner.” Er benennt die Beziehungen zwischen Jarretts Aufnahmen an der Barockorgel in Ottobeuren und seiner Suche nach Klangfarben einerseits und ähnlichen Suchen europäischer oder amerikanischer Komponisten andererseits, nicht aber, um daraus Einflüsse abzuleiten, sondern um zu zeigen, dass Jarrett sich da inmitten eines breiten Diskurses befindet, in dem seine eine gewichtige Stimme ist.

Zwischen ausführliche Beschreibungen der diversen Plattenprojekte streut Sandner aber auch Informationen über die Selbstzweifel des Künstlers, über persönliche und geschäftliche Krisen, über Rückenschmerzen und das chronische Erschöpfungssyndrom, dass Jarrett für einige Jahre aus dem Verkehr zog. Er beschreibt, wie all diese außermusikalischen Ereignisse ihren Widerhall in Jarretts Musik fanden. Nach seiner Genesung, fasst Sandner zusammen, sei Jarrett ” praktisch nicht mehr in ein Aufnahmestudio zurückgekehrt. Mit Ausnahme einer Duo-Aufnahme mit Charlie Haden und einer Einspielung von Bach-Sonaten für Violine und Klavier sind alle Aufnahmen danach bei Live-Auftritten entstanden.”

Natürlich nimmt das “Köln Concert” ein wichtiges Kapitel seines Buchs ein. Sandner beschreibt die bekannt widrigen Umstände des Konzerts, Rückenschmerzen, ein schlecht intoniertes Instrument, ein Stutzflügel, den die Bühnenarbeiter statt des eigentlich geplanten Bösendorfer Imperial auf die Bühne gestellt hatten, und er erzählt, wie Jarrett aus all diesen Widrigkeiten über sich herauswuchs, die Beschränkungen des Instruments zu Stärken seiner Aufnahme machte. Das “Köln Concert” wurde zu einem Riesenerfolg bei Kritik und Publikum gleichermaßen, und selbst der Perfektionist Jarrett musste später zugeben, dass die Ideen, “diese Klangfarben und diese Stimmführungen”, die auf der Aufnahme zu hören sind, schon einzigartig waren.

In weiteren Kapiteln seziert Sandner die Herangehensweise Jarretts an die Standards des American Popular Song, die er zusammen mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette ab 1983 einspielte und bald auch bei Konzerten spielte, seine Einspielungen klassischer Musik von Bach bis Lou Harrison, sowie Jarretts eigene Kompositionstätigkeit, die sich keinesfalls in der Komposition von Themen für eigene Improvisationen erschöpfte.

Sandners letztes Kapitel heiß “Einspruch” und ist unter all den lesenswerten Kapiteln dieses Buchs vielleicht das lesenswerteste. Sandner beginnt mit einer Eloge auf den kreativen Schöpfer, auf das Genie Keith Jarrett, um dann die Reaktion hervorzuheben, mit der Jarrett so oft, auf so vieles, reagiert, seine “Manie, etwas abzulehnen”. Der wichtigste Einspruch Jarretts gelte dabei musikalischen Trends, kurzlebigen Moden oder selbsternannten Kanonikern. Sandner findet diese Veto-Haltung auch im Klavierspiel des Meisters selbst, das “allen Regeln der traditionellen Klavierkunst widerspricht und wirkt, als sei das Instrument weniger ein Partner, vielmehr ein Gegner, den man bezwingen müsse, bisweilen mit List und Tücke, bisweilen mit tänzerischem Ablenkungsmanöver, manchmal mit brachialer Gewalt, nicht selten aber, indem man sich den Flügel einverleibt, mit ihm verschmilzt.” Es ist dieses Eins-Sein mit seiner Musik, das Jarrett auch außerhalb der Jazzanhängerschaft Wirkung verschafft hat. Henry Miller schrieb ihm einen Brief, nachdem er das “Köln Concert” gehört hatte, Sergiu Celibidache und Marcel Reich-Ranicki zeigten sich begeistert. Sandner argumentiert aber auch, dass diese Verweigerungshaltung neben seinen künstlerischen Entscheidungen auch Jarretts problematisches Bühnenverhalten beeinflusst habe, seine gelegentlichen Publikumsbeschimpfungen, die, wie Sandner schreibt, fast schon zum Ritual geworden seien, das Voyeure unter den Hörern erwarten oder gar herausfordern.

Wolfgang Sandners Buch gelingt es, der Musik Keith Jarretts nahe zu kommen, gerade, weil er sich, wie er im Vorwort erklärt, mit dem Künstler entzweit hat. Sandner besitzt den Überblick nicht nur über Jarretts Schaffen und nicht nur über die Jazzgeschichte, aus der heraus Jarretts Kunst kommt, sondern über die gesamte Kulturgeschichte, in die hinein Jarretts Musik wirkt. Es gelingt ihm, die verschiedenen Positionen zu definieren, die sich in der Musik und ihrer Rezeption widerspiegeln: die musikalische, ästhetische und wirtschaftliche Position Jarretts zu verschiedenen Zeiten, die Position der Labels, der Agenten, der Produzenten, die Position Manfred Eichers, die Position der Kritiker und des Publikums, und nicht zuletzt auch seine eigene Position, die Position Wolfgang Sandners. Dass er aus eigener Begeisterung heraus schreibt, lässt er nicht unerwähnt. Er bezeichnet Jarrett wiederholt als “Genie”, nennt ihn den größten Musiker, der je aus Allentown kam. Doch dient diese eigene Positionsbestimmung letztlich auch dem Vertrauen, das wir als Leser in Sandners Wertung der Musik haben können. Er lässt uns klar wissen, wo er als Autor steht, und so können wir viel leichter unsere eigene Position beziehen, überdenken, revidieren. Wolfgang Sandner ordnet Jarretts Aufnahmen dabei nicht nur in Jazz-, Musik- und Kulturgeschichte ein, er verleitet zum neuen, zum tieferen Hören, und er ermöglicht ein Verständnis – im besten Sinne des Wortes – über die Grenzen des emotionalen Hörens hinaus.

Wolfram Knauer (Dezember 2015)

Nachtrag Februar 2021:

Keith Jarrett. A Biography
by Wolfgang Sandner, translated by Chris Jarrett
Sheffield 2020 (Equinox)
215 Seiten. 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-800500129

Sandners Jarrett-Biographie ist inzwischen auf Englisch erschienen, übersetzt von keinem Geringerem als Jarretts Bruder, dem in Deutschland lebenden Pianisten Chris Jarrett. Für die englische Ausgabe hat Sandner seinen früheren Text erweitert und aktualisiert, hat neuere Aufnahmen und neue Veröffentlichungen aus früheren Jahren berücksichtigt und neue Erkenntnisse über Jarretts familiären Background geteilt. Mit dem Abschied Jarretts von der Bühne im vergangenen Oktober scheint auch seine Karriere abgeschlossen. Sandners Buch vertieft das Wissen und ermuntert zum Nachhören – jetzt vielleicht etwas wehmütiger als bei der ersten (deutschen) Lektüre vor sechs Jahren.


 

Als der Jazz nach Kassel kam. Streifzüge durch die Szene der ersten Nachkriegsjahre
von Ulrich Riedler
Berlin 2015 (B&S Siebenhaar Verlag)
104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN: 978-3-943132-39-7

2015riedlerDie großen Jazzmetropolen – Berlin, Hamburg, Köln, München – sind weitgehend dokumentiert. Auch für kleinere Städte haben sich Historiker und Hobbyhistoriker der Aufbereitung der Jazzgeschichte angenommen. Das kann schon mal seltsam wirken, wenn Provinzzentren wie der Mittelpunkt der Welt erscheinen, wo sie doch meist nur Durchgangsstationen für aufstrebende spätere oder etablierte, sich auf Tournee befindende Jazzstars waren. Tatsächlich aber sind regionalen Szenen bis heute wichtige Brutstätten künstlerischer Ideen, auch wenn viele der Musiker, die hier ihre Anfänge nehmen, irgendwann in die großen Zentren abwandern, in Städte mit bedeutenden Hochschulen etwa oder in solche mit einer lebendigen, großen Jazzszene.

Das nordhessische Kassel, in der Mitte der Republik, und doch kulturell vor allem durch die Brüder Grimm und die documenta bekannt, besitzt bis heute eine lebendige Szene, verschiedene Spielorte für Jazz und improvisierte Musik, und ein langjähriges Festival. Die alle fünf Jahre stattfindende documenta bringt es mit sich, dass die Bürger der Stadt sich sehr bewusst mit ästhetischen Diskursen der Avantgarde auseinandersetzen.

Der Journalist und Jazzfan Ulrich Riedler hat sich in seinem Buch auf die Suche nach den Anfängen des Jazz in der nordhessischen Stadt gemacht und diese im Frühjahr 1940 entdeckt, als sich junge Jazzfreunde im Gasthaus “Ledderhose” trafen, wo sie gemeinsam die neuesten Platten hörten. Irgendwann rückte die Gestapo ihnen auf den Leib, nahm die Jungs mitsamt ihrer Schellackschätze mit und unterzog sie einer gründlichen Befragung. Die Jazzfans wurden bald wieder entlassen, und einer von ihnen kann Riedler nicht nur von damals berichten, sondern ihm sogar noch die kurzfristig konfiszierten Platten zeigen. Die “Ledderhose” blieb auch nach dem Krieg ein Jazztreffpunkt, in dem die Mitglieder zu Platten tanzten, ab und zu aber auch selbst zum Instrument griffen.

Die 1950er Jahre dokumentiert ein Gespräch mit dem späteren Spiegel-Redakteur Alfred Nemeczek, von dem Riedler außerdem einen Bericht über das Jazzkontor Kassel aus dem Jahr 1959 andruckt, den Versuch, in Nordhessen einen Liveclub nach Vorbild des Frankfurter Jazzkellers zu etablieren. In den 1950er Jahren begannen die ersten amerikanischen Stars Deutschland zu erobern. Kassel erlebte Konzerte von Duke Ellington, Louis Armstrong, Lionel Hampton oder der Jam-Session-Truppe Jazz at the Philharmonic mit Ella Fitzgerald und vielen anderen.

Einer der Stammgäste der Kasseler Jazzszene war damals der Trompeter Manfred Schoof, der zwei Jahre an der Kasseler Musikakademie studierte, bevor er nach Köln weiterzog. Riedler spricht mit ihm über die Jazzszene jener Zeit, über Musiker und Musikerlegenden der Region, unter anderem den Tenorsaxophonisten Werner Apel, den, wie man sich erzählt, sogar Duke Ellington verpflichten wollte, weil er ihn bei einer Jam Session so beeindruckt habe, und natürlich auch über die GI-Clubs, in denen Schoof die amerikanische Kultur erst richtig kennenlernte.

Die Amerikaner waren im Stadtteil Rothwesten in Fuldatal stationiert und engagierten über die Special Service Agencies jede Menge deutscher Musiker für die Unterhaltung in den verschiedenen Clubs. Riedler blickt auf Orte, aufs Repertoire, auf das Jazzprogramm des örtlichen Amerika-Hauses, beschreibt aber auch andere Veranstaltungsorte der Stadt, deren Programm großteils von Vereinen organisiert, zum Teil auch von der Stadt unterstützt wurde. Er erzählt, wie Arnold Bode, der Vater der documenta, von der Band des Vibraphonisten und Gitarristen Fritz Bönsel so angetan war, dass er im Landesmuseum ein Konzert veranstaltete, das den Jazz endgültig in der Stadt etablierte.

Die Jazzszene jener Jahre beinhaltete traditionelle genauso wie moderne Stile, und so beschreibt auf der einen Seite die Dixieland-Szene der 1950er und 1960er Jahre mit ihren Riverboatshuffles und dem musikalischen Versuch, dem Original so nah wie möglich zu kommen, auf der anderen Seite aber auch, wie andere Musiker, Schoof und Gunter Hampel unter ihnen, dem modernen Jazz in Kassel zu Gehör verhalfen. Und schließlich spricht er mit dem Pianisten Joe Pentzlin, dessen Trio quasi die Hausband des Jazzclubs in der Orangerie gewesen war.

In einem abschließenden Kapitel schlägt Riedler einen knappen Bogen in die Regenwart, zu Musikern wie Matthias Schubert und Ernst Bier, die entweder aus Kassel stammen oder aber hier über längere Zeit Station machten und die Szene der Stadt mitprägten.

Riedlers Buch ist nicht als historische Dokumentation gedacht, denn vielmehr als eine flüssig zu lesende Erinnerung an die 1940er bis 1960er Jahre, ein liebevoll bebildeter Band über die Jazzszene in der deutschen Provinz, die – ähnlich wie die Szenen vieler anderer Städte mittlerer Größe – überaus lebendig war. Die Lektüre macht dem Leser deutlich, dass der Diskurs über den Jazz als aktuelle Kunstform nicht nur in den Metropolen stattfindet.

Wolfram Knauer (November 2015)


 

Music Wars 1937-1945. Propaganda, Götterfunken, Swing. Musik im Zweiten Weltkrieg
von Patrick Bade
Hamburg 2015 (Laika Verlag)
511 Seiten, 34 Euro
ISBN: 978-3-944233-41-3

Sounds of War. Music in the United States during World War II
von Annegret Fauser
New York 2013 (Oxford University Press)
366 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-994803-1

Victory Through Harmony. The BBC and Popular Music in World War II
von Christina L. Baade
New York 2012 (Oxford University Press)
275 Seiten, 31,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-537201-4

2013fauser Musik war immer schon kriegswichtig. Ob zum Anfeuern der Truppen im Marschrhythmus, ob zum Mobilmachen der Bevölkerung durch patriotische Hymnen, ob als Beruhigung und Selbstbestätigung, ob als Instrument der psychologischen Kriegsführung oder sogar als Foltermethode: Krieg ist ohne Musik – so seltsam diese Idee auch scheinen mag – kaum vorstellbar.

Drei kürzlich erschienene Bücher untersuchen die Rolle der Musik im Zweiten Weltkrieg. Der britische Historiker Patrick Bade berichtet über die verschiedenen musikalischen Strategien und Funktionen direkt vor Ort, in den Gebieten, in denen der Krieg tobte oder die am Krieg beteiligt waren, Frankreich, Deutschland, den USA, Russland, Großbritannien, dem nördlichen Afrika und dem Mittleren Osten. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Annegret Fauser beschränkt sich in ihrem Buch auf die klassische Musikszene in den Vereinigten Staaten. Die britische Musikhistorikerin Christina Baade schließlich untersucht, wie der BBC in den Kriegsjahren auf Jazz, Tanz- und Popmusik gesetzt habe, um die Moral der gesamten britischen Öffentlichkeit in den Kriegstagen zu stärken. Baades Studie gibt dabei einen Einblick in Programmentscheidungen eines öffentlichen Rundfunksenders und thematisiert, inwieweit die Öffnung des Senders für Jazz und amerikanische Popmusik auf Widerstände gestoßen sei. Fausers Fokus liegt auf der “concert music”, also der klassischen Musik, und im Umschlagtext heißt es, dass Dinah Shore, Duke Ellington und die Andrews Sisters vielleicht die Zivilisten zuhause und die Soldaten in Übersee unterhalten hätten, es tatsächlich aber vor allem die klassische Musik gewesen sei, die die Menschen für die Kriegsanstrengungen mobilisiert habe. Patrick Bade schließlich wagt den Rundumschlag, lässt also auch die sogenannte leichte Muse, Swing und Jazz, nicht aus. Während er dabei neben dem klassischen Repertoire und dem Swing auch einen Blick auf die Funktion von Radio, Film und Plattenindustrie wirft, außerdem in einem langen Kapitel Kriegslieder aus unterschiedlichen Ländern ins Visier nimmt, finden man in Fausers Buch Informationen über Musiker in der Armee, Auftragskompositionen für den Kriegseinsatz, ein Kapitel über Musik als Beruhigung der Bevölkerung und als Therapie für traumatisierte Soldaten sowie eines über die vielen Exilkomponisten, die durch den Krieg in den USA strandeten. Christina Baade schließlich diskutiert in ihrem Buch auch das Thema von Tanzmusik und Maskulinität, die Sorge um den Erfolg der amerikanische Popmusik und die Verdrängung eigener Traditionen, und die Bedeutung von Rundfunkprogrammen, in denen afro-amerikanische Musik in den Mittelpunkt gestellt wurden, für schwarze britische Musiker. Bei allen drei Autor/innen finden sich Diskussionen der Zuschreibung moralischer Qualitäten zur Musik, der Grundlage letzten Endes dessen, was in den USA später zur “cultural diplomacy”, zur Kulturdiplomatie werden sollte.

2012baadeFür Christina Baades Argumentationslinie spielt der Jazz eine zentrale Rolle; ihr Buch erlaubt dabei Rückschlüsse auf Entwicklungen des Nachkriegsjazz in Großbritannien, einschließlich der Hinwendung vieler junger Musiker insbesondere zu traditionellen Jazzstilen. Patrick Bade hat neben einem Kapitel über Jazz und Swing im Dritten Reich, in dem er auch auf das Phänomen der Propagandaband Charlie and His Orchestra eingeht, ein eigenes Kapitel über Musik im Feldlager, im Gefangenenlager und im Konzentrationslager. Fauser wiederum diskutiert in ihrem Buch ausführlich musikalischen Ausdruck von Nationalismus, etwa in Werken von Aaron Copland und Roy Harris.

Patrick Bade gibt am Schluss seines Buchs einen Ausblick auf die Nachwirkungen, erzählt etwa, dass Wagner im Bayreuther Festspielhaus kurzzeitig Cole Porter weichen musste, berichtet, wie Sänger/innen und Musiker/innen nach dem Krieg mit ihrer Karriere im Dritten Reich konfrontiert wurden oder diese sehr bewusst aus ihrer Biographie ausblendeten. Er endet mit dem kurzen Hinweis auf Werke, die sich bis ins 21ste Jahrhundert hinein mit den Gräueltaten des Kriegs auseinandersetzen. Christina Baades Buch endet mit der Ankunft der amerikanischen Truppen im August 1944 und der Entscheidungen des BBC, die auch die amerikanischen GIs mit ihrem Programm unterhalten wollte. In der Folge kam es zu einer Diskussion der Vermischung musikalischer Werte in der populären und Tanzmusik, über “Britishness” oder “Pseudo-American”. Ihr Buch verweist zwischen den Zeilen immer wieder, etwa Kapiteln über das vom Rundfunk mitgeprägte Bild der Frau oder im Versuch, die Ausstrahlung von Musik männlicher übersentimentaler Schlagersänger im Rundfunk zu unterbinden, auf Diskurse, die auch nach dem Krieg weitergingen und auf die letzten Endes BBC-Programmentscheidungen großen Einfluss hatten. Bei Fauser geht der Blick in die Nachkriegszeit über John Cage, dessen experimentelle Ideen sie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren verortet. Sie verweist darauf, dass Cage und seine Zeitgenossen ihre Lehren aus den Erfahrungen des Kriegs gezogen hätten, sich nach Ende des Kriegs von ihren nationalistischen Kompositionen distanziert oder aber diese in neue Werke integriert hätten.

2015badeZusammengefasst bietet Patrick Bade im breiteren Ansatz seines Buchs eine Art Rundumschlag über das Thema. Christina Baade wirft Licht auf die Verflechtungen zwischen Musik, Musikindustrie, öffentlicher Meinung und Publikumsgeschmack. Fausers Studie schließlich hätte von einer Erweiterung ihres Schwerpunkts vielleicht profitiert. Fauser begründet ihren eingeschränkten Blick im Vorwort damit, dass die Jazz- und Popmusikszene jener Jahre ja schon ausgiebig genug untersucht worden sei, während Forschungen zur klassischen Musik im Krieg weitgehend fehlten, vergibt sich damit aber die Chance einer differenzierten Darstellung, was vielleicht – nehmen wir einmal an, dass der Einband-Text vom Verlag und nicht von ihr stammte –, eine wertende Aussage wie die, dass Jazz und Popmusik die Bürger zuhause und die GIs in Übersee vielleicht unterhalten hätten, es aber die klassische Musik gewesen sei, die den wirklichen Unterschied gemacht habe, verhindert hätte.

Von solchen Anmerkungen abgesehen, haben alle drei Bücher ihre Meriten. Sie helfen bei der Kontextualisierung von Musikgeschichte in der späten ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, die letzten Endes Auswirkungen auch darauf hatte, wie Musik heute klingt und wie wir sie wahrnehmen.

Wolfram Knauer (Oktober 2015)


 

 

Giving Birth to Sound. Women in Creative Music
herausgegeben von Renate Da Rin & William Parker
Köln 2015 (Buddy’s Knife)
294 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-00-049279-2

2015darinVielleicht müsste am Anfang dieser Rezension erklärt werden, welchen Weg die Bücher durchlaufen, die im Jazzinstitut Darmstadt anlangen. Bevor wir uns die Bücher aussuchen, die wir rezensieren wollen, erfassen wir sie in unserem Jazz Index, einer computergestützten bibliographischen Datenbank, die von Forschern und Journalisten (und Fans) aus aller Welt genutzt wird. Das heißt, wir gehen das Buch von vorn bis hinten durch, ordnen jedes einzelne Kapitel einem Stichwort oder einem Musikernamen zu, tragen biographische Notizen wie etwa Geburtstag oder Geburtsort, nach, sofern sie in unserer Datenbank noch fehlen. Erst dann machen wir uns ans Lesen.

Aber schon bei diesem ersten Schritt des Erfassens fiel einiges auf beim Buch “Giving Birth to Sound”. Etliche der darin befragten Musikerinnen waren nämlich noch gar nicht in unserer Datenbank erfasst oder aber nur mit relativ kurzen bibliographischen Listen. Über sie wurde in der Jazzpresse bislang also nur wenig berichtet. Nun ja, mag man meinen, das hat sicher auch damit zu tun, dass Frauen ja so richtig erst in den letzten Jahren ins Rampenlicht des Jazz getreten sind. Weit gefehlt aber, und das war die zweite Überraschung: Viele Musikerinnen, die im Buch zu Worte kommen, gehören nämlich gar nicht der jungen (sagen wir: unter 40-jährigen) Generation an, sondern sind weit länger auf der Szene unterwegs. Die Gründe für ihre Unsichtbarkeit in der Jazzpresse mögen also doch woanders liegen.

Eine dritte Erkenntnis, die sich beim Durchblättern schnell ergibt, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Jede der Musikerinnen hat einen völlig anderen Zugang zum Thema. Mal analytisch, mal diskursiv, mal ausweichend, mal ablehnend, mal nüchtern gefasst, mal poetisch überhöht, mal kämpferisch, mal verteidigend. Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich schon in den Überschriften der Kapitel, die Renata Da Rin und William Parker aus der Frage “Was bedeutet Musik für Dich” abgeleitet hat. “Jeder Sound und jede Stille”, antwortet Renée Baker; “die Gründe für mein Leben”, sagt Amy Fraser; “ein abstrakter Ort, um das Leben zu teilen und zu fühlen”, meint Marilyn Mazur; “ein Lager der Erinnerungen”, findet Shelley Hirsch, “Leben, Magie, Geist”, beschreibt Maggie Nicols, oder aber, so Erika Stucky, “serious fun – a ‘Schnaps'”.

Oder aber die Einleitung: Nach dem Vorwort von Amina Claudine Myers haben die Herausgeber eine Anzahl von Reaktionen auf den Buchtitel zusammengefasst. “Giving Birth to Sound”? Schrecklicher Titel: Frauen wurden schließlich immer wieder aufs Gebären reduziert, meint eine der Gesprächspartnerinnen, während eine andere findet, der Titel passe, sei auch angenehm mehrdeutig. Naja, und bei allen Bedenken spräche der Titel ja auch vom Schaffen von etwas Neuem. Blödsinn, widerspricht eine weitere Stimme, Gebären sei doch eine passive, rein physische Tätigkeit, jede Kuh könne das. Musik zu erschaffen sei dagegen ein aktiver intellektueller Prozess und damit das exakte Gegenteil.

Das Konzept des Buchs: Ohne weitere Vorgaben schickten die Herausgeber den 48 Musikerinnen 20 Fragen, die vom Faktischen zum Nachdenken über den Prozess des Kreativen gehen, sich dabei immer wieder danach erkundigen, inwieweit das eigene Geschlecht bei musikalischen, ästhetischen oder beruflichen Entscheidungen eine Rolle gespielt habe. Tatsächlich sind nur sechs der Fragen konkret aufs Frau-Sein der Musikerinnen abgezielt: Wie hast Du deine Kreativität als kleines Mädchen ausgelebt? Wie hat die Tatsache, dass Du eine Frau bist, die Entwicklung Deiner musikalischen Karriere behindert? Wie siehst Du Deine Position als Frau in der Musikszene? Hat diese Position Dein Verhältnis zum Sound beeinflusst? Siehst oder spürst Du einen Unterschied im weiblichen und im männlichen Ansatz an Kreativität? Was würdest Du anderen / jungen Frauen empfehlen, die sich bemühen ein kreatives Leben zu führen?

Die Antworten auf diese und allgemeiner gehaltene Fragen fallen so unterschiedlich aus wie die Lebenswege der 48 Interviewten. Es macht nun mal einen Unterschied, ob man Ende der 1970er Jahre in Dänemark zum Jazz kommt wie Lotte Anker oder 1941 in Oklahoma wie Jay Clayton. Haben Männer und Frauen einen anderen kreativen Approach?, fragen die Herausgeber. “NEIN!” ruft Jay Clayton, in Großbuchstaben, keine weitere Diskussion duldend, während Marilyn Mazur einwirft, Frauen würden vielleicht weniger in Wettstreit treten, mehr ans Ganze und Kollektive denken. “Nein, ich sehe da keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen”, findet wiederum Amy X. Neuberg, um gleich anzuschließen, “das heißt aber nicht, dass es keine gäbe.” Klar gibt es einen Unterschied”, erklärt Kali Z. Fasteau, etwa, dass Männer in hierarchischen Systemen besser funktionierten als Frauen. Andererseits, urteilt Nicole Johänntgen, sei diese Frage ziemlich schwer zu beantworten, weil es nun mal so sehr viel mehr Männer als Frauen auf der Szene gäbe.

Nicole Mitchell beantwortet ihre Fragen in poetischen Erinnerungen und Reflexionen über schwarze Musik, den langen Atem der Bürgerrechtsbewegung und ihren eigenen Weg. Maggie Nicols auf der anderen Seite streicht heraus, dass ihre Musik immer sowohl politische wie auch spirituelle Untertöne besessen habe. Ob sie einen Preis bezahlt habe dafür, dass sie Musik mache, fragen die Herausgeber, und Angelika Niescier findet: Im Gegenteil, sie habe daraus sehr viel für sich gewonnen. Musikerin zu werden, sei nun mal eine Lebensentscheidung, finden auch viele ihrer Kolleginnen, niemand zwinge einen schließlich diesen Weg einzuschlagen.

Die weibliche Kreativität erlaube mehr “Raum”, meint Fay Victor, und zwar “sowohl mehr Raum im Sinn von Zeit und Raum wie auch mehr Raum für die Akzeptanz von Fehlern und Intuition”. Klar habe die Tatsache, dass sie eine Frau sei, ihr Verhältnis zum Sound beeinflusst, erklärt Joëlle Léandre. Frauen seien nun mal anders, sie hätten die Fähigkeit zur Distanz, die in diesem Geschäft wichtig sei, außerdem könne man mit ihnen viel besser lachen.

Sie sehen in dieser springend-vergleichenden Zusammenfassung einzelner Antworten bereits, wie ungemein gewinnbringend sich dieses Buch lesen lässt, wenn man blättert, Themen identifiziert, die die Herausgeber durch ihre Fragen ja nicht festgeklopft, sondern nur angestoßen haben, um dann zu sehen, welchen Kontext die verschiedenen Antworten beleuchten. Man erlebt die ja unabhängig voneinander befragten Musikerinnen bald wie in einer respekt- und kraftvollen Diskussion neugieriger, andere Meinungen (meistens) zulassender, vor allem aber ungemein selbstbewusster Musikerinnen.

Das Fazit des Buchs wusste man vielleicht schon vor der Lektüre: Eine einzelne Antwort auf die Frage nach dem kreativen Unterschied nämlich gibt es nicht. Der künstlerische Ansatz zwischen Männern und Frauen ist genauso unterschiedlich wie jener zwischen Männern und Männern oder zwischen Frauen und Frauen. Es gibt jedoch, und das wird in diesem Buch sehr deutlich, ein anderes Diskursverhalten, eine klare Selbstwahrnehmung der Rolle, in die man gesellschaftlich gedrängt wurde.

Unbedingt lesenswert also, ob von Buchdeckel zu Buchdeckel oder im laufenden Vor- und Zurückblättern. “Giving Birth to Sound” erklärt dem interessierten Leser nämlich in der persönlichen Selbstbefragung der Protagonistinnen und oft auch zwischen den Zeilen weit mehr über die Thematik, als man es etwa von wissenschaftlichen Studien erwarten dürfte.

[Naja, wir empfehlen dennoch den Besuch unseres Darmstädter Jazzforums zum Thema “Gender and Identity in Jazz” vom 1.-3. Oktober 2015 oder die spätere Lektüre unserer Beiträge zur Jazzforschung mit den referaten dieser Konferenz. Aber das ist natürlich nur Eigenwerbung…]

Wolfram Knauer (September 2015)


 

Beyond Jazz. Plink, Plonk & Scratch. The Golden Age of Free Music in London 1966-1972
von Trevor Barre
London 2015 (Compass Publishing)
330 Seiten, 12,99 Britische Pfund
ISBN 978-1-907308-84-0
Zu bestellen über trevorbarre@aol.com

Ekkehard Jost hat die Jahre zwischen 1960 und 1980 als eine Zeit beschrieben, in der Europas Jazz zu sich selbst fand, in der Musiker sich von ihren amerikanischen Vorbildern lösten und eigene Wege gingen. Einige dieser Wege führten fort vom, gingen also “beyond jazz”, und diese Entwicklung will Trevor Barre in seinem Buch mit demselben Titel nachzeichnen. Der Gitarrist Derek Bailey forderte eine Improvisation, die sich aus den idiomatischen Bezügen befreien, und auch andere Musiker begannen statt des Begriffs “Free Jazz” von “improvised music” zu sprechen. Barre interessiert, wie es überhaupt dazu kam, dass eine solch sperrige und alles andere als publikumsfreundliche Musik entstehen konnte und warum sie nicht angesichts ihres kommerziellen Misserfolgs einfach nach ein paar Jahren ausstarb. In seinem Fokus steht dabei die erste Generation der freien Improvisatoren, also Musiker wie Evan Parker, Derek Bailey, John Stevens, Kenny Wheeler, Barry Guy, Dave Holland, Trevor Watts, Tony Oxley, Paul Rutherford, Howard Riley, Eddie Prévost, Keith Rowe, Gavin Bryars und Cornelius Cardew.

Barre beginnt mit einer Definition seines Themas: Wo die meisten Jazzbücher den Jazz durch seine improvisatorischen Parameter beschreiben würden, sei Free Music, schreibt er, einzig durch den improvisatorischen Gehalt definiert. Er stellt unterschiedliche Formen freier Improvisation vor, solche, die näher am Jazz bleiben und solche, die eher der europäischen Avantgardetradition verpflichtet scheinen. Die beiden Hauptensembles seines Buchs sind das Spontaneous Music Ensemble und die Gruppe AMM. Barre ordnet deren Auftritte in die Jugend- und Protestkultur der 1960er Jahre ein und schildert, wie die globalen Entwicklungen von Pop, Rock und Folk jungen Musikern ein völlig neues Vokabularium an die Hand gab, sie auch zu neuen Herangehensweisen zwischen tiefer Ernsthaftigkeit und unbändigem Humor bewegten. Er beschreibt auch, welchen Platz sie in die Bandbreite des britischen Jazz jener Jahre zwischen Dixieland und Free Jazz hatten.

Barre zeichnet den Weg einzelner Protagonisten zur freien Improvisation nach, schildert insbesondere die Bedeutung des Little Theatre Club, in dem die jungen Musiker mit Kollegen auch aus dem europäischen Ausland experimentieren konnten. Er beschreibt, wie sie nach und nach merkten, dass es außer dem afro-amerikanischen Jazz auch anderes gab, dass beispielsweise südafrikanische Musiker um Chris McGregor dieser Musik eine neue Farbe geben konnten und dass sich Freiheit, wie sie der Free Jazz implizierte, auch ganz mit anderen Mitteln umsetzen ließ. Er diskutiert wichtige Aufnahmen der Zeit, wobei ihn vor allem die interaktiven Prozesse interessieren, die ästhetischen Diskurse, die sich aus der Improvisation der Aufnahmen ergaben. Das alles beleuchtet er anhand von zeitgenössischen genauso wie selbst geführten Interviews mit beteiligten Musikern. Das Spontaneous Music Ensemble und AMM nehmen zwei der umfangreichsten Kapitel ein, in denen Barre neben dein Einflüssen und den ästhetischen Diskussionen auch über Nachwirkungen schreibt, bewusste oder unbewusste Reaktionen auf die Klangexperimente in weit jüngerer Musik, der 1980er, 1990er Jahre und danach. Er betrachtet den Einfluss der Technologie, schaut auch auf die Bedeutung der visuellen Covergestaltung oder der Plattentexte. Das Label Incus nimmt ein eigenes Kapitel ein, wie FMP in Deutschland oder ICP in Holland ein von Musikern gegründetes Label, das Musik seiner Mitglieder nicht so sehr vermarkten als vielmehr dokumentieren wollte. Improvisation ist schließlich weit mehr als komponierte Musik auf das Medium der Tonaufzeichnung angewiesen – sonst verklingt sie.

In seinem Schlusskapitel betrachtet Barre kurz die “zweite Generation” der Free Music in London um das London Musicians’ Collective sowie eine “dritte Generation” um John Edwards, John Butcher und andere und setzt beide Entwicklungen mit jenem von ihm als “erste Generation” betrachteten Grundthema seines Buchs in Beziehung. Im Nachwort schließlich verfolgt er die Aktivitäten seiner Protagonisten bis in die Gegenwart.

Trevor Barres Buch ordnet die Entwicklung der Free Music der späten 1960er, frühen 1970er Jahre in die kulturelle Szene des “Swinging London” ein. Ihm gelingt dabei vor allem der Blick auf sich wandelnde ästhetische Ideale und eine Begründung derselben aus gesellschaftlichen und politischen Diskussionen heraus. Der Musik selbst kommt er vor allem in Interviews mit den beteiligten Musikern nahe. Die inhaltliche wie organisatorische Unabhängigkeit der britischen Improvisationsszene jener Jahre hat Auswirkungen bis heute. Initiativen wir F-Ire Collective wären ohne das Vordenken und Vormachen der hier beschriebenen Musiker und Gruppen nicht möglich gewesen. Von daher füllt Barres Buch eine Lücke. Dass er bestimmte Themen weitgehend außer Acht lässt – die Auseinandersetzung dieser Szene mit ihrem Publikum beispielsweise oder mit den Mainstream-Medien, der tatsächliche Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Szenen oder die Reaktion amerikanischer Musiker, zeigt nur, wie viele Perspektiven das Thema tatsächlich hat, die bislang kaum beleuchtet wurden. Barre jedenfalls stößt mit “Beyond Jazz” die Tür zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der musikalischen Freiheitsbewegung jener Zeit weit auf.

Wolfram Knauer (August 2015)


 

Little Satchmo. Living in the Shadow of my Father, Louis Daniel Armstrong
von Sharon Preston-Folta (mit Denene Millner)
Charleston/SC 2015 (self published)
112 Seiten, 12 US-Dollar
ISBN: 978-1-481227-23-7
Zu beziehen über www.littlesatchmo.com

2015prestonfoltaDie offizielle Version lautet: Louis Armstrong hatte nie Kinder. Er hätte immer gern welche gehabt, sagte seine letzte Frau und Witwe, Lucille Armstrong, aber er sei zeugungsunfähig gewesen. Nun kommt, 34 Jahre nach Satchmos Tod, Sharon Preston-Folta mit einem Buch heraus, in dem sie kundtut, sie sei die Tochter Louis Armstrongs aus einer außerehelichen Beziehung, die Satchmo in den 1950er Jahren hatte.

Ihr Leben lang habe sie diese Wahrheit herunterschlucken müssen. Sie wolle kein Geld, keinen Ruhm, aber immer selbst auf das öffentliche Wissen um ihren Vater verzichten zu müssen, sei einfach zu viel. In ihren Recherchen habe sie nur einen einzigen schriftlichen Hinweis auf Satchmos Vaterschaft gefunden, einen Brief des Trompeter an seinen Manager, Joe Glaser, aus dem Jahr 1955, in dem er diesen bat, vor der Ankunft seiner Frau Lucille in Las Vegas ein paar Geschäftsdinge zu klären, darunter Zahlungen an eine Freundin, von der er glaubt, dass sie ein Kind von ihm habe. Ihre Mutter habe sie immer beschworen, ihren Vater geheim zu halten, und so habe sie letzten Endes gehorcht und damit auch keine Ansprüche geltend gemacht auf sein physisches, historisches und finanzielles Erbe. Wenn sie etwas gekränkt habe bei ihren Recherchen, sei es, dass Louis Armstrong in seinen Briefen so offen über alles geredet habe, seine Musik, seine Kindheit, seine Liebe zum Essen und zu den Frauen, über Sex, sogar über seine Darmtätigkeit, dass er über seine Tochter aber sein Leben lang geschwiegen habe.

Warum er ihre Existenz verleugnet habe? Nun, erklärt Preston-Folta, Louis Armstrong sei ein gefeierter Künstler seiner Zeit gewesen und habe sich in der besten (weißen) Gesellschaft aufgehalten. Es habe einfach nicht gepasst, in dieser Zeit, wenn Nachrichten über ein uneheliches Kind mit einer Geliebten in die Schlagzeilen gekommen wären.

Prestons Mutter wurde 1921 in New York geboren und arbeitete bereits als 16-Jährige als Chorus Girl in diversen Shows. 1941 heiratete sie einen Tänzerkollegen; 1946 arbeiteten die beiden als Tanzpaar “Slim & Sweets” als Vorgruppen für große Swingorchester, unter ihnen auch Louis Armstrong, der sich mit ihnen anfreundete und in einen launigen Briefwechsel einstieg. 1950 starb Slim, und bei der Trauerfeier war auch Louis Armstrong dabei, der Lucille Preston in den Arm nahm und versprach: “Ich werde mich um dich kümmern.” In den nächsten vier Jahren reiste sie Pops hinterher und tauchte auf, wann immer Armstrongs in New York spielte. 1954 wurde Preston schwanger, und im November schrieb Satchmo ihr einen Brief, in dem er erklärt, wie sehr er sich auf das Kind freue und sogar vorschlägt, sie zu heiraten, sollte seine Frau (mit gleichem Namen Lucille) sich von ihm scheiden lassen. Armstrong war dann aber nicht dabei, als Sharon Louise (nach Louis) Preston am 24. Juni 1955 das Licht der Welt erblickte. Armstrongs rechtmäßige Ehefrau war “not amused” und habe ihm nach der Geburt der Tochter sogar vorgeschlagen, diese zu adoptieren, was ihre leibliche Mutter aber vehement ablehnte. Lucille (die Ehefrau) habe sogar die Alimente überwiesen, bis sie diese Aufgabe irgendwann Joe Glaser übertrug.

In ihrem Buch berichtet Sharon von den viel zu seltenen, sorgfältig geplanten und sehnsuchtsvoll erwarteten Treffen. Sie und ihre Mutter lebten eine Weile bei ihrem Onkel Kenny, der nach außen schon mal als Lucilles Ehemann auftrat und immer wieder auf seine Schwester eindrang, bei Satchmo mehr einzufordern: mehr Geld, mehr Fürsorge, am besten seinen Namen. Bei einzelnen Sommertourneen durfte Sharon mitreisen. Ansonsten aber war Satchmo vor allem durch die monatlichen Unterhaltszahlungen präsent, durch Broadway-Tickets, 1962 durch den Kauf eines Hauses in Mount Vernon, New York. In Harlem hatte sich niemand wirklich darum gekümmert, wie ihre Familienverhältnisse aussahen, erzählt Preston-Folta, in Mount Vernon aber begann eine Zeit der Lügen. Die Liaison dauerte ja bereits 12 Jahre, aber nach wie vor war nicht in Sicht, dass Armstrong auch öffentlich zu seiner Familie stehen würde. Mit zehn Jahren begriff Sharon erstmals, dass ihr Vater eine “andere Lucille” hatte, ein anderes Leben, das mit ihrem aber auch gar nichts zu tun hatte.

Etwas später seien sie gemeinsam in Atlantic City zu einem Auftritt Marvin Gayes gegangen, es habe einen Streit zwischen den Erwachsenen gegeben, bei dem ihre Mutter Satchmo fragte, wann er sie nun endlich zu heiraten gedachte, worauf er laut wurde: “Ich werde dich niemals heiraten” und mit Fingerzeig auf die Tochter fragte: “Sag mir einfach, was es kostet, für sie zu sorgen!” Das war das Ende der Beziehung.

Kaum war Armstrong gestorben, kamen auch die monatlichen Schecks nicht mehr. Ein paar im Voraus geleistete Zahlungen für Sharons Erziehung hielten sie und ihre Mutter über Wasser, mussten bald auch den Zuwachs zur Familie finanzieren, denn Sharon wurde mit 16 selbst Mutter. Sharon erzählt, wie ihr Leben weiterging, immer gezeichnet durch die Narben, die der fehlende Vater hinterlassen hatte. Irgendwann rebellierte sie gegen die eigene Bitterkeit und versuchte, das emotionale Band, das sie mit der verlorenen, nie gehabten Vergangenheit hatte, zu zerschneiden.

Sharon Preston-Foltas Buch endet mit einem Besuch im Armstrong House in Queens. Ein Anwalt hatte ihr empfohlen, einen Blick in Satchmos Testament zu werfen, das eine eidesstattliche Erklärung von Lucille, Armstrongs Frau, enthielt, Armstrong habe nie Kinder gehabt. Als Sharon diese Zeilen las, von Lucille eigenhändig korrigiert von “Der Verstorbene und ich hatten keine Kinder” in “Der Verstorbene hatte keine Kinder”, entschied sie sich, jetzt ihr Geschichte zu erzählen. Ihre Mutter, die sie immer zur Geheimhaltung gedrängt hatte, willigte endlich ein: “Mach, was Du meinst, dass du tun musst.”

Sharon Preston-Foltas Buch ist als eine Liebeserklärung an die von ihr immer vermisste Vaterfigur Louis Armstrong geschrieben, aber es ist eben auch eine leicht verbitterte Liebeserklärung geworden. An genügend Stellen legt man es zur Seite, unterschiedlich berührt von den Schuldzuweisungen, mit denen Preston-Folta ihre eigenen Lebensentscheidungen aus ihrer vaterlosen Kindheit und Jugend ableitet. Ein bedrückendes Schicksal, denkt man, und fragt sich zugleich, warum sie, die immer wieder von der DNA ihres Vaters schreibt, die in ihr fortlebe, nicht irgendwann, spätestens vor der Veröffentlichung dieses Buchs, auf einem DNA-Test bestanden habe. Doch ist es einem Kind, das sein Leben lang sicher ist, seine Eltern zu kennen, überhaupt zuzumuten, von einem auf den anderen Tag an der Tatsache der Vaterschaft zu zweifeln? Auch als skeptischer Leser sollte man jedenfalls für die Zeit der Lektüre erst einmal die Grundbehauptung der Vaterschaft Louis Armstrongs akzeptieren, sonst hat man wenig Spaß am Buch. Armstrong selbst schließlich scheint bis zu seinem Tod überzeugt davon gewesen zu sein, in Sharon eine Tochter gehabt zu haben.

Allen Fragen und sicher auch allen möglichen Zweifeln zum Trotz, die einem bei der überraschenden Enthüllung Sharon Preston-Foltas kommen mögen, lernt man einiges bei der Lektüre, und wenn nur, dass Scheinwerferlicht auch Schatten wirft, dass Stars wie Louis Armstrong das Leben vieler Menschen zum Teil viel direkter berührten, als man es wahrhaben mag, und nicht zuletzt, dass die Persönlichkeit großer Stars aus ihren emotionalen Stärken genauso besteht wie aus ihren emotionalen Unzulänglichkeiten. Am Glorienschein des großen Meisters mag das alles ein wenig kratzen; der Kraft seiner Musik tut es keinen Abbruch.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Theatrical Jazz. Performance, Àṣẹ, and the Power of the Present Moment
von Omi Osun Joni L. Jones
Columbus/OH 2015 (The Ohio State University Press)
270 Seiten, 99,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8142-1282-0

2015jonesDer Blick über den Tellerrand kann das Wesentliche erhellen, der Blick von außen Dinge erkennen lassen, die man im internen Diskurs oft nicht mehr sieht. Das ist einer der Hintergründe für die sogenannten “new jazz studies”, ein Konzept in der jüngeren Jazzforschung, das sich der untersuchten Materie neben der musikwissenschaftlichen Betrachtung interdisziplinär nähert. Die Feministin Omi Osun Joni L. Jones versucht in ihrem Buch eine Verbindung zwischen Jazzästhetik , theatralischer Performance und auf Yoruba basierender afrikanischer Theologie. Dabei beschreibt sie als eine der zentralen Prinzipien der Jazzästhetik die Fähigkeit, die eigenen intuitiven Kräfte freizusetzen. In ihrer Beschäftigung mit afrikanischer Spiritualität habe sie gelernt, dass auch in wissenschaftlichen Büchern die Auseinandersetzung mit spirituellen Impulsen nicht zu kurz kommen dürfte, ganz ähnlich wie dies auch Jazzgrößen wie John und Alice Coltrane immer gesehen hätten. Sie will mit ihrem Buch den Jazz gegen den Strich bürsten, seine Begriffe, Handlungen, Ausformungen kritisch hinterfragen, und zwar aus der Perspektive aller seiner unterschiedlichen Bedeutungen in musikalischer Ästhetik, Performance, gesellschaftlichem Spiegel, ethnischer Identität oder politischer Haltung. Es gäbe Kollegen, schreibt sie in ihrer Einleitung, die den Jazz als eine polyglotte Form ansähen und damit Gefahr liefen seine Wurzeln in der afro-amerikanischen Kultur zu leugnen. Tatsächlich aber sei die spirituelle Kraft nicht an irgendwelche Identitätsregeln gebunden. Die spirituelle Transzendenz des Jazz brauche keine Abwesenheit ethnischer Identität (“race”), sondern höchstens Abwesenheit solch einer ethnischen Identität (“race”) als Restriktion oder als Prognose.

Tatsächlich handelt ihr Buch allerdings zentral gar nicht von Musik, sondern vom Theater, und hier insbesondere von den drei Theaterautoren Laurie Carlos, Daniel Alexander Jones und Sharon Bridgforth. Jones bedient sich in ihrer Herangehensweisen an das Thema der feministischen und queeren Theorie, erklärt Wirkungen der Theaterperformance aus der Haltung des Jazz heraus und zugleich aus ihrer Interpretation von Yoruba-Traditionen. Als übergeordneten Approach versucht sie ihrem wissenschaftlichen Buch darüber hinaus aber auch improvisatorische Strukturen zu geben, indem sie Bilder, Fotos, Zeichnungen, Zitate einfließen lässt, die wie kurze solistische Kommentare neben ihrem Text stehen.

In ihrer Einleitung zitiert Jones einige Beispiele direkter Bezugnahme von Jazzmusikern wie Dizzy Gillespie und John Coltrane auf Yoruba-Beschwörungen, erinnert außerdem an die lebendige Avantgarde-Theaterszene von Austin, Texas, in der in den 190er Jahren die Verbindungen von Theater und Jazz besonders entwickelt wurden. Im ersten Kapitel betrachtet sie, wie biographische Erfahrungen die drei von ihr untersuchten Autoren prägten, Carlos’ Jugend im New Yorker East Village, Jones’ Aufwachsen im Arbeiterklasse-Milieu von Springfield, Massachusetts, Bridgforths Bustrips durch die verschiedenen Viertel von Los Angeles. Sie analysiert die dem Jazz nahestehenden Praktiken von Lehrer und Schüler im Theater, deren Lernprozesse dabei immer gegenseitig sind. Das zweite Kapitel untersucht Performance-Methoden, Ansätze an Regie, Probenphasen, das Beziehung-Herstellen zum Publikum, die Auswahl der Schauspieler, aber auch das Zulassen spiritueller Erfahrung im Verlauf der Performance. Im dritten Kapitel schließlich fragt sie danach, was die Performance beim Publikum (sie spricht gern von “witnesses” = Zeugen) auslöst, wie sie zu einer Perspektivverschiebung führen kann, einer aktiven Partizipation des Publikums, die das eigentliche Ziel aller Beteiligten sei.

Wenn ich Jones zu Beginn dieser Rezension in die Nähe der “new jazz studies” gestellt habe, so muss ich diese Aussage zumindest zum Teil revidieren. In den New Jazz Studies werden Aspekte des Jazz möglichst von vielen Seiten (und mit unterschiedlichen Methoden) betrachtet. Jones geht den entgegengesetzten Weg: Sie nutzt, was sie vom Jazz gelernt hat, um ihr eigentliches Thema, die Performance im Theater genauer zu definieren. Sie erkennt im Jazz Kommunikations- und Tradierungsmodelle, die so beispielhaft sind, dass sie ein anderes Genre besser verstehen lassen, vielleicht sogar Modell stehen können für neue, weitreichendere Regie- oder Performance-Ansätze. Ihr Buch ist darin so weitsichtig wie der Versuch früherer Literaturwissenschaftler wie Houston Baker, insbesondere den Bereich der afro-amerikanischen Literatur (aber durchaus darüber hinaus) durch die schon von Ralph Ellison oder Albert Murray identifizierte Blues Aesthetic zu beschreiben. Beide nahmen dabei sehr bewusst auf westafrikanische kulturelle Traditionen, Praktiken und Symbole Bezug, für den ungeübten Leser einerseits manchmal etwas schwer nachvollziehbar, gerade dadurch aber die Argumentation auch angenehm schnell aufbrechend und Rückschlüsse erlaubend.

Wenn nämlich die Praxis des Jazz als Erklärungsmodell für andere künstlerische Praktiken taugt, dann wirft das ein ganz anderes Licht auch auf den Stellenwert von Jazz und Improvisation.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


The Long Shadow of the Little Giant. The Life, Work and Legacy of Tubby Hayes
von Simon Spillett
Sheffield 2015 (Equinox)
377 Seiten, 19,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78179-173-8

2015spillettWie Hans Koller oder Lars Gullin war der britische saxophonist Tubby Hayes eine der europäischen Jazzgrößen, die ihren Kollegen genauso wie ihrem Publikum klar machten, dass der Jazz zwar eine afro-amerikanische Musik war, dass aber Europäer das Idiom durchaus beherrschten und ihre eigenen Beiträge zur Tradition des Jazz leisten konnten. Hayes kam aus der Swing-Mainstream-Tradition des Jazz, nahm erst Bebop, Hardbop, schließlich Einflüsse des Spiels John Coltranes in seinen Stil auf und starb 1973, gerademal 38 Jahre alt, in Folge einer Herz-Operation.

Dem Autor und Saxophonisten Simon Spillett gelingt es in seinem Buch “The Long Shadow of the Little Giant” mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews und Material aus Hayes’ persönlichem Archiv das Leben und die musikalische Karriere des Saxophonisten in den Jahren vom bombenerschütterten London der Nachkriegszeit über die jazzigen 1950er Jahre und die Swinging Sixties bis hin zur großen Krise des Jazz Anfang der 1970er Jahre nachzuzeichnen.

Hayes wurde in eine musikalische Familie geboren – sein Vater leitete in den 1930er Jahren verschiedene Tanzorchester, seine Mutter war Revuesängerin und -tänzerin. Schon früh war er vom Saxophon fasziniert, begann aber im Alter von acht Jahren erst einmal mit Geigenunterricht, und bekam schließlich zum elften Geburtstag das langersehnte Saxophon, das er größtenteils autodidaktisch meisterte. Er hatte ein gutes Gehör, und der Geigenunterricht hatte ihn zu einem exzellenten Notisten gemacht. Er hörte Charlie-Parker-Platten und bewegte sich in Kreisen Gleichgesinnter, spielte bald mit Ronnie Scott, Alan Skidmore und Kenny Baker, mit dem er im Juli 1951 auch seine ersten Aufnahmen machte.

Die Baker Band hatte jede Menge Fans, und die Presse wurde schnell auf Hayes aufmerksam, der bald als “boy wonder tenorist” vermarktet wurde und, noch nicht einmal 20 Jahre alt, mit den Modernisten der britischen Jazzszene spielte. Mit 18 heiratete er zum ersten Mal, hatte schon zuvor alle möglichen Drogen ausprobiert. Er spielte in den populären Bands von Vic Lewis, Jack Parnell, Tony Hall und hatte schließlich auch mit seiner eigenen Band einen vollen Terminkalender.

Spillett beschreibt, wie britische Musiker in jenen Jahren das US-amerikanische Idiom des Hardbop gemeistert hatten, die Musik von Art Blakey und Horace Silver, und wie Kollegen wie Sonny Rollins oder Hank Mobley ihre stilistischen Spuren in Hayes’ Spiel hinterließen. 1958 traten Hayes’ Jazz Couriers neben dem Dave Brubeck Quartet bei einer Tournee durch sechzehn Städte des Vereinigten Königreichs auf; 1959 wurde Hayes vom Melody Maker zum besten Tenorsaxphonisten gewählt.

Andere Musiker hatten die Entwicklung des amerikanischen Jazz genauso interessiert mit verfolgt; und um 1960 kamen erste Versuche “freier Form” auch in England an. Joe Harriott war einer der ersten, die sich an freieren Spielweisen versuchten; Hayes aber blieb skeptisch. Die Eröffnung von Ronnie Scott’s, bis heute einem der wichtigsten Clubs des Königreichs, war sowohl für die Präsenz des amerikanischen Jazz in England wichtig als auch für das Selbstbewusstsein der eigenen Szene. Der BBC schnitt Konzerte mit, und Plattenfirmen widmeten dem heimischen Jazz eigene Alben. 1961 trat Hayes erstmals in New York auf, wo ihn die Größen des amerikanischen Jazz hörten, unter ihnen Zoot Sims, Al Cohn und Miles Davis. Zurück in England erhielt er einerseits eine eigene Fernsehshow, “Tubby Plays Hayes”, hörte er andererseits erstmals John Coltrane, der sein Bild von den Möglichkeiten im Jazz genau wie das vieler anderer Kollegen völlig veränderte.

Als Duke Ellington 1964 in England auftrat, jammte Hayes mit Bandmitgliedern und wurde vom Duke gebeten für Paul Gonsalves einzuspringen, als dieser unpässlich war. In den nächsten Jahren war Hayes international unterwegs, trat im New Yorker Half Note genauso auf wie beim NDR Jazz Workshop in Hamburg. Er arbeitete wie besessen, hatte zugleich gesundheitliche Rückschläge, darunter eine Thrombose, die auch seine Lungenfunktion herabgesetzt hatte.

Ende der 1960er Jahre hatte der britische Jazz zwei Probleme: die Macht der Rockmusik auf der einen Seite und das Verlangen des Publikums nach amerikanischen Künstlern auf der anderen Seite. Hayes erlitt auch persönliche Rückschläge, etwa als seine Freundin starb und er daraufhin noch stärker zu Drogen griff. Er musste wegen Herzproblemen immer häufiger in ärztliche Behandlung, begann aber trotz aller gesundheitlichen Probleme ein musikalisches Comeback. Er spielte mit Musikern der britischen Avantgarde, John Stevens, Trevor Watts, Kenny Wheeler, beteiligte sich bei einem Benefizkonzert für Alan Skidmore, der nach einem Autounfall im Krankenhaus lag, starb aber schließlich nach einer Operation, bei der eine Herzklappe ausgetauscht werden sollte.

“The Long Shadow” heißt das Buch, und so widmet Spillett sein letztes Kapitel der kritischen Aufbereitung seiner musikalischen Bedeutung nach seinem Tod sowie dem Nachwirken Hayes’ auf der britischen Szene. Er schließt mit einer Diskographie die Aufnahmen des Saxophonisten zwischen 1951 bis 1973 verzeichnet.

Simon Spillett hat viel Sorgfalt in seine Recherchen gesteckt. Nebenbei wirft er immer wieder aufschlussreiche Blicke auf die Musik selbst, auf die Aufnahmen, die Hayes’ musikalische Entwicklung dokumentieren. Wenn überhaupt, so mangelt es dem Buch insbesondere in diesem Segment an Tiefe, etwa an Erklärungen, wo sich Einflüsse, ästhetische Umbrüche und anderes konkret festmachen lassen. Eingehend aber beschreibt er den Lebensweg, die persönlichen Probleme, die musikalischen und ästhetischen Entscheidungen und zieht die Verbindungen zu den allgemeinen Entwicklungen des Jazz in Großbritannien, in Europa und in den Vereinigten Staaten. Spillett konnte mit Zeitzeugen sprechen und hatte Zugriff auf Hayes’ persönliche Papiere. Sein Buch ist eine definitive Biographie, die viele Fragen beantwortet und dabei im umfassenden Apparat all die Dokumente benennt, die für eine solche Arbeit notwendig sind.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Musiktraumzimmer Jazzcampus
herausgegeben von Peter Rüedi & Steff Rohrbach
Basel 2015 (Jazzcampus / Echtzeit Verlag)
212 Seiten, 32 Euro
ISBN: 978-3-905800-78-4

B2015rueediasels Jazzschule ist zum Jazzcampus geworden, zu einer Hochschule für improvisierte Musik, in der, wie der Titel dieses Buchs suggeriert, jede Menge an Träumen und Visionen wahrgeworden sind. Da ist zuallererst die Vision des Gründers und Gitarristen Bernhard Ley, der erzählt, wie er die Schule in den Räumen eines Jugendkulturzentrums gründete und wie er es dann durch pädagogisches wie politisches Geschick, aber auch durch das Talent der Vernetzung, das die Schule zum Teil des Basler Kulturlebens werden ließ, erreichte, sie zu einem Kompetenzzentrum zu machen, in dem der musikalische Gehalt, die Arbeit von Lehrenden und Schüler/innen, sich auch in der architektonischen Umsetzung spiegelt.

Davon nämlich handelt dieses Buch, vom glücklichen Unterfangen, auf den Grundrissen einer ehemaligen Maschinenfabrik eine Musikschule zu bauen mit all der für eine solche notwendigen Infrastruktur, Club, Konzertsaal, Tonstudio, Probenräume etc. Ein Musiktraumzimmer sei das ganze geworden, eine Raumrealisation also, die dem Thema “Jazz” angemessen sei. Mitgeholfen hätten alle, die Architekten Lukas Buol und Marco Zünd, der Bauherr Georg Hasler von der Stiftung Levedo sowie Bernhard Ley, der als Studiengangsleiter den zukünftig alltäglichen Gebrauch im Blick behielt. Das Gespräch mit diesen vieren erklärt Fragen der Akustik, Diskussionen im Planungsverlauf, die Außenwirkung genauso wie den inneren Glanz (sprich: Farben, Bodenbeläde, Beleuchtung).

Solch eine theoretische Diskussion lässt sich nur durch Fotos und Raumpläne in Buchform einfangen. Eigentlich gehört Musik dazu, noch wichtiger wäre der tatsächliche Raumeindruck, der aber in der Architektur immer noch einzig durch einen Besuch ermöglicht wird.

Um die tatsächliche musikalische und pädagogische Nutzung der Räume geht es im zweiten, noch umfassenderen Teil des Buchs: um Konzepte der Jazzpädagogik, persönliche Herangehensweisen an Musik, ästhetische Vorstellungen, die Rückwirkung von Unterricht auf die eigene Kunst der unterrichtenden Musiker.

Wolfgang Muthspiel etwa betont, wie wichtig es neben einem festen Lehrerstamm sei, großartige internationale Kollegen als Gastdozenten an die Schule zu holen. Andy Scherrer erzählt, wie er zum Unterrichten wie die Jungfrau zum Kind gekommen sei, und wie er trotz vieler Schüler immer eine gesunde Skepsis gegenüber des Unterrichtens beibehalten habe. Malcolm Braff erklärt, dass er nicht so sehr das Klavier denn vielmehr sich selbst als das wirkliche Instrument empfinde und wie er in den letzten Jahren eine rhythmische Theorie entwickelt habe, die auch Grundlage seines Unterrichts an der Hochschule sei. Lisette Spinnler versteht die Stimme als Instrument und Texte als Ausgangspunkt für musikalische Erkundungen. Adrian Mears plädiert auch beim Lernen für Spielpraxis, egal mit was für Besetzungen. Bänz Oester vertraut auf die Motivation zukünftiger Musiker/innen, auf die Verantwortung für das Selbst, das Eigene. Domenic Landolf mag sich weder verbiegen noch sonderlich in den Vordergrund spielen. Jorge Rossy spricht über die Standards als Basis und über seine Arbeit mit Carla Bley und Steve Swallow. Matthieu Michel überlegt, wie man als junger Musiker neben der Technik vor allem zu einer eigenen Stimme gelangt. Hans Feigenwinter sieht seine analytischen Fähigkeiten als eine Grundlage seines Musikmachens, zugleich aber die Musik auch als laufenden Ansporn, sie analytisch zu begreifen. Gregor Hilbe berichtet über die Bedeutung des Schlagzeugers in einer rhythmischen Kultur, und zugleich über die Idee des Producing / Performance-Studiengangs am Jazzcampus Basel. Daniel Dettmeister hatte die Chance, als Tonmeister selbst Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung des Aufnahmesaals der Hochschule. Mit Martin Lachmann kommt zum Schluss auch noch der Akustiker selbst zu Wort, der die Räume eingerichtet hat.

Eine bunte Abfolge von Interviews, Reflexionen und Fotos also, die sehr umfassend das Konzept klarmachen, dass hinter dem Jazzcampus Basel steckt: Freiräume schaffen und beste akustische Möglichkeiten. “Musiktraumzimmer Jazzcampus” ist damit zwar vordergründig eine in Buchform gepresste Imagebroschüre der Hochschule, zugleich aber erheblich mehr: ein Manifest für eine Jazzausbildung, in der Kunst und Wirklichkeit, Klang und Akustik, Pädagogik und Freiheit sinnvoll miteinander in Beziehung stehen.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Résume. Eine deutsche Jazz-Geschichte
von Eberhard Weber
Stuttgart 2015 (sagas.edition)
252 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-944660-04-2

2015weberDer Autor kommt gleich zur Sache: Der Leser wisse ja bereits, dass er, Eberhard Weber, gut 40 Jahre lang als Jazzbassist aktiv war, vielleicht auch, dass er seine aktive Karriere nach einem Schlaganfall 2007 beenden musste. Der Leser wisse wahrscheinlich etliches über seine Karriere, wahrscheinlich auch über den Jazz – was könne er dazu noch beitragen…? Nun, wenn überhaupt, dann könne er aus seinen eigenen Erinnerungen erzählen, sehr persönliche Geschichten, die sich um die Musik drehen, die aber auch sein ästhetisches Weltbild und vieles darüber hinaus berühren. Webers Buch wird so zu seinem “Resumé”. Und es mag vielleicht nicht “die” deutsche Jazzgeschichte sein, aber es ist auf jeden Fall, wie der Untertitel verspricht, “eine deutsche Jazz-Geschichte”, ein Beispiel dafür, wieso ein junger Mann zu dieser Musik kommt, was ihn über all die Jahrzehnte an ihr faszinierte und wie er lernte, in ihr sich selbst auszudrücken.

Eberhard Weber, dem musikalischen Geschichtenerzähler, gelingt der narrative Bogen auch in Worten. Bereits das Eingangskapitel, das vom “Schlag” handelt, der ihn kurz vor einem Konzert mit Jan Garbarek in der Berliner Philharmonie traf, von der Unsicherheit über seinen Gesundheitszustand, von der Hoffnung, wieder spielen zu können, zeigt seine erzählerischen, auch zur Selbstironie fähigen schriftstellerischen Qualitäten.

Im zweiten Kapitel widmet sich Weber seiner eigenen Vorstellung von Jazz. “Jazz”, schreibt er ironisch, doch nicht ganz falsch, “ist, wenn es der Komponist, der Arrangeur oder der ausführende Musiker dem Hörer so schwer wie möglich macht, der Musik zu folgen – und trotzdem alle Spaß daran haben. Das unterscheidet ihn von der vermeintlich ‘Neuen Musik’.” Doch neben dem Jazz als großer Kunst will Weber in diesem Kapitel auch seiner eigenen Ästhetik auf die Schliche kommen. Wiederholungen, erkennt er, langweilen ihn in der Regel; die Schlüsse von Stücken, findet er, misslingen meist. Er weiß, dass Solisten auch mal ohne Inspiration sein können und weiterspielen müssen. Er weiß auch um seine eigenen Schwächen als Bassist und beschreibt, wie man nur, wenn man um die technischen Probleme des eigenen Spiels oder des eigenen Instruments weiß, diese überkommen und kreativ mit ihnen umgehen könne.

Weber selbst wurde die Musik in die Wiege gelegt. Sein Vater, erzählt er, hatte als Cellist klassische Musik gemacht, daneben aber auch Cello und Banjo im Tanzorchester von Bernard Etté gespielt. Weber kam mitten im Krieg in Esslingen zur Welt. Seine Mutter sang, und “im häuslichen Weber’schen Freundeskreis”, erinnert er sich, “triumphierte Gesang über Instrumentales”– vielleicht eine Vorbereitung auf seine eigene sangliche Haltung beim Instrumentalspiel? Gehörbildung fand im Kinderzimmer statt, wenn seine Schwester und er Automarken am Klang unterschieden und dabei lernten zuzuhören und zu differenzieren. Ein Vetter quartierte sich nach der Kriegsgefangenschaft bei ihnen ein und begann Flöte zu lernen. Man diskutierte über Wagner und spielte Kammermusik. Weber bekam Cellounterricht, dann entdeckte er den Jazz und mit ihm wechselte er zum Kontrabass.

Im Jazz brachte er sich das meiste selbst bei, berichtet von ersten Bühnenerfahrungen, von Stuttgarter Jazzern wie Horst Fischer und Ernst Mosch, vom ersten Einsatz in Erwin Lehns Orchester als Vertretung für dessen regulären Bassisten. Seine musikalische Leidenschaft führte dazu, dass Weber durchs Abitur rasselte, eine Lehre als Fotograf begann und Kameraassistent bei einer Fernsehfirma wurde. Nebenbei spielte er mit gleichaltrigen Musikern, lernte Anfang der 1960er Wolfgang Dauner kennen und wurde bald Mitglied in dessen Trio. Er erzählt von den unterschiedlichsten Auftrittsorten zwischen Nachtclub, Café, Tanz und Ami-Kaserne, von Einflüssen auf sein Bassspiel, davon, wie das Dauner-Trio seinen eigenen Stil fand. Zwischendurch gibt es reichlich Anekdoten, aber auch Einblicke in die technischen Seiten seiner Kunst: Instrumentenwahl, Akustik, Pickups, Verstärker, elektronische Spielereien.

Ende der 1960er Jahre wandten Dauner und Weber sich freieren Spielweisen zu. Weber weiß um seine Beobachtungsgabe, weiß auch, dass er sich gern mal zur Polemik hinreißen lässt. Doch er besitzt eben auch die Erfahrung, Beobachtetes, insbesondere, wenn es um Musik geht, passend einordnen zu können. Und so mag man mit mancher polemischen Äußerung, die seinem eigenen musikalischen Geschmack zuzuschreiben ist, nicht übereinstimmen, wird aber an richtiger Stelle durch ein Augenzwinkern darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor zwar eine feste Meinung hat, sich selbst aber auch nicht immer ganz so ernst nimmt.

Weber stand in seiner Karriere bei zwei Plattenfirmen unter Vertrag, die Weltgeltung besaßen, Hans-Georg Brunner Schwers MPS und Manfred Eichers ECM. Er beschreibt die Arbeiten zu “The Colours of Chloë” und den folgenden internationalen Erfolg. Er erzählt vom Zusammenspiel mit Gary Burton, von den Unterschieden zwischen amerikanischen und europäischen Gepflogenheiten in der Jazzszene, von Tourneen mit seiner eigenen Band Colours, durch Deutschland – Ost und West –, die USA und Australien. Er berichtet von seiner Zusammenarbeit mit Jan Garbarek, mit dem er auch offizielle Empfänge spielte, bei denen Politiker, Botschafter, Bundespräsidenten, gekrönte Häupter begeistert waren, “endlich mal kein Streichquartett hören zu müssen”.

Eberhard Weber ist ein vielgereister Musiker. Seine Berichte von Zollformalitäten, Einreisebestimmungen, fasst verpassten Flügen und sonstigen Widrigkeiten sind amüsante Anekdoten, die vor Augen führen, dass das Musikerdasein nicht nur der aus musikalischer Kreativität besteht, die das Publikum erwartet und zumeist auch bekommt. Eine Professur für Musik hatte er nie annehmen wollen. Seine Begründung, die wie ein Tenor seine ungemein flüssige und lesenswerte Autobiographie beendet: “Ich kann nicht Bass spielen. Aber ich weiß, wie’s geht.”

Wolfram Knauer (Juni 2015)


Coltrane sur le Vif
von Luc Bouquet
Nantes 2015 (Lenka Lente)
146 Seiten, 13 Euro
ISBN: 978-2-9545845-8-4

2015bouquetDie Großen des Jazz waren zumeist auch die Meistaufgenommenen, und neben den offiziellen Einspielungen im Studio gehörten über die Jahre Bootlegs dazu, Schwarzpressungen von legalen oder illegalen Mitschnitten, die in mal besserer, mal schlechterer Qualität auf den Markt kamen. Solche Bootlegs haben naturgemäß keine Studioqualität; zum Teil sogar einen unsäglich schlechten Sound. Aber sie sind nicht nur für den Fan, sondern auch für den Experten ein immens wichtiger Teil der Aufnahmegeschichte dieser Musiker. Sie dokumentieren nicht die perfekte Abmischung, sondern den Alltag des Konzerts, in dem das Solo völlig anders klingen kann, in dem die Künstler mit dem Material oder auch mit sich selbst zu kämpfen haben, in dem mal bessere, mal schlechtere Fassungen der großen Titel erklingen, vergleichen mit den auf den im Studio gefertigten Referenzaufnahmen.

Luc Bouquet hatte im französischen Magazin Improjazz eine Reihe über die Liveaufnahmen John Coltranes veröffentlicht und diese jetzt in die zwölf Kapitel des vorliegenden Buchs einfließen lassen. Ein erstes Kapitel beschreibt Coltranes erste Aufnahmen aus dem Jahr 1946 sowie zwei Sessions mit Dizzy Gillespie bzw. Johnny Hodges. Kapitel 2 widmet sich den Jahren 1955-57 und Livemitschnitten mit Miles Davis, Kapitel 3 der Zeit von 1957-58 und den erst jüngst entdeckten und doch schon legendären Aufnahmen Coltranes mit dem Thelonious Monk Quartet. Zwei weitere Miles Davis-Kapitel schließen sich an, 1958-59 in den USA sowie 1960 in Europa, dann beginnt mit Kapitel 6 die Aufnahmegeschichte von Coltranes eigenen Bands: sein klassisches Quartett, Trane und Dolphy, die diversen Besetzungen von 1962, 1963, 1964-65 bis hin zu seiner letzten Liveaufnahme, dem “Olatunji”-Konzert vom April 1967. Jede der Platten wird mit Besetzungs- und Inhaltsangaben gelistet, dazu kommt eine kurze Beschreibung dessen, was auf ihr zu hören ist. Allzu tief versteigt sich Bouquet dabei weder in die Musik noch in die Begleitumstände der Aufnahmen – so wäre etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Entdeckungsgeschichte der Bänder von Tranes Carnegie-Hall-Konzerts mit Thelonious Monk durchaus berichtenswert gewesen.

Bouquets Buch ist als eine Art annotierte Diskographie der Liveaufnahmen John Coltranes ein nützliches Handbuch sowohl beim Hören wie auch bei der Entscheidungsfindung, was man sich vielleicht noch zulegen könnte.

Wolfram Knauer, April 2015Rencontres du jazz et de la musique contemporaine
herausgegeben von Jean-Michel Court & Ludovic Florin
Toulouse 2015 (Presses Universitaires du Midi)
184 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-2-8107-0374-6

Das vorliegende Buch ist die Dokumentation einer Tagung, die im Oktober 2013 in Toulouse stattfand und sich mit aktuellen Beziehungen zwischen Jazz und Zeitgenössischer (sogenannter “Neuer”) Musik beschäftigte. Im Vorwort stecken die beiden Herausgeber das Feld ab, das irgendwo zwischen Anthony Braxton und IRCAM-Experimenten angesiedelt ist und bei dem oft die Genrebezeichnung, ob “Jazz” oder “Neue Musik”, im Weg steht, da die Musik selbst solche Grenzen inzwischen gern und oft überschreitet.

Die Beiträge selbst sind theoretisch-musikwissenschaftlicher Natur. Im ersten Teil findet Vincenzo Caporaletti, dass die jüngere Entwicklung im Kunstmusikbereich neue wissenschaftliche Ansätze benötigt und stellt sein “principe autiotactile” vor, durch das sich sowohl für komponierte wie auch für improvisierte Musik die performativen Prozesse genauso analysieren ließen wie die ästhetischen Prozesse, die durch die Musik wie auch durch äußere, etwa mediale Einwirkungen mitbestimmt werden. Alexandre Pierrepont nähert sich der Frage, inwieweit die genre-spezifische Einordnung und Wertung von Musik aus den Bereichen europäischer klassischer Musik und des afro-amerikanischen Jazz nicht auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser zu Missverständnissen führt, wenn die Querverbindungen, die ja zwischen den Genres bestehen, oft und gern mit kulturellen Konnotationen versehen werden. Pierre Sauvanet betrachtet, wie das Moment der “Tradition” von Musikern im Jazz, der Neuen Musik und in tatsächlich “traditionellen” Musikrichtungen unterschiedlich behandelt wird.

Im zweiten Teil des Buchs geht es an konkrete Analysen. Pierre Fargeton befasst sich mit Franz Koglmanns langjähriger Auseinandersetzung mit dem Third Stream, der Neuen Musik und anderen Kunstrichtungen. Konkret untersucht er Koglmanns “Join!” eine “Oper” aus dem Jahr 2013 auf diverse Bezüge (1.) zum Jazz und (2.) zur Zeitgenössischen Musik. Martin Guerpin analysiert die Komposition “Unisono” des israelischen Komponisten Ofer Pelz und identifiziert darin insbesondere die Jazzverweise. Wataru Miyakawa untersucht das Werk des japanischen Komponisten Toru Takemitsu, in dem ihn vor allem der Einfluss des Lyrian Chromatic Concept von George Russell interessiert.

Im dritten Teil des Bandes berichtet der Gitarrist Frédéric Maurin darüber, wie er Methoden der Spektralmusik, die in den 1970er Jahren im Kreis der IRCAM in Paris entwickelt wurde, etwa für seine Band Ping Machine nutzbar macht. Cécile Auzolle untersucht das “Wintermärchen” des belgischen Komponisten Philippe Boesmans von 1999 und hat dabei Einflüsse aus dem jazz sowie improvisatorische Passagen im Fokus, die in der Oper vom Ensemble Aka Moon ausgeführt wurden. Henri Fourès hinterfragt die Begriffe Jazz, Zeitgenössische Musik, Komposition, Notation und Improvisation auf ihre Wertigkeit in der Hochschullehre. Zum Schluss berichten die Bassistin Joëlle Léandre, der Saxophonist Douglas Ewart und der Trompeter Mike Mantler über ihre eigenen Erfahrungen im Feld zwischen den Welten von Jazz und Neuer Musik.

“Rencontres du jazz et de la musique contemporaine” wirft ein Schlaglicht auf eine offenbar immer noch wichtige Diskussion in den beiden darin angesprochenen Welten. Der einleitende Überblick listet frühere Beschäftigungen mit dem Thema auf (hier fehlt allerdings der Band “Jazz und Komposition”, der das 2. Darmstädter Jazzforum von 1991 dokumentiert und in dem dieses Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet wurde). Sowohl in den allgemein theoretischen wie auch den konkreter praktischen Kapiteln fehlt ein wenig – aber das ist bei einer Tagung, die das nicht ausdrücklich zum Thema machte, vielleicht auch kaum zu leisten – die grundlegende Diskussion einer anders als aus dem europäischem Wissenschaftsdiskurs entstandenen Reflexion über Musik, eine Perspektive also, die sowohl Jazz wie auch die in europäischer Tradition stehende Neue Musik etwa aus dem Blickwinkel von Community, von Macht, von Geschlechterungleichheit oder ähnlichem betrachtet, sich dabei nicht auf die bestehenden meist europäisch gefärbten und genormten Diskurstraditionen einlässt, sondern mutig nach neuen sucht. Das von George Lewis und Benjamin Piekut 2016 herausgegebene Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies geht da einen anderen Weg, braucht, um das Thema abzudecken allerdings auch über 1000 Seiten.

Wolfram Knauer (März 2018)


Bunk Monk & Funk – and other attractions
von Anders Stefansen (& Jan Søttrup)
Kopenhagen 2012 (People’s Press)
248 Seiten, 249 Dänische Kronen
ISBN: 978-8771-37035-5

Anders Stefansen ist ein bisschen der Fritz Rau Dänemarks: ein Konzertveranstalter, der eher zufällig ins Geschäft kam, in den frühen 1960er Jahren für Norman Granz dessen Skandinavien-Tourneen organisierte (so wie dies Lippmann + Rau in Deutschland taten), später auch populärere Acts betreute, von den Beatles bis zu den Rolling Stones. In seiner Autobiographie erinnert sich Stefansen an die vielen Freundschaften zu Musikern, die er in seinem Berufsleben schließen konnte, an das Tourleben, an Probleme und ihre jeweilige Lösung, und an Begegnungen wie die mit John Coltrane, Andrés Segovia, Count Basie, Duke Ellington, Ben Webster, Cecil Taylor und vielen anderen. Er beleuchtet die Realitäten des Business, schwelgt aber vor allem in Erinnerungen. Wenn es dabei auch mehr um die Menschen geht als um die Musik, so ist die Lektüre seines Buchs dennoch erhellend nicht nur für diejenigen, die von seiner Arbeit als Konzertveranstalter profitierten, etwa weil sie selbst im Publikum saßen. Seine Anekdoten beleuchtet zugleich eine ungewöhnliche Karriere zwischen Musik und guter Küche (Stefansen eröffnete eines der ersten French Cuisine Restaurants in Dänemark). Und seine Anekdoten über Henry Miller, den er traf, als er den Film “Ruhige Tage in Clichy” produzierte, sind besondere Zugaben der Lektüre.

Wolfram Knauer (Januar 2018)


Fashion and Jazz. Dress, Identity and Subcultural Improvisation
von Alphonso D. McClendon
London 2015 (Bloomsbury Academic)
194 Seiten, 24,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-85785-127-7

Von den Banduniformen der Swingorchester über die Gardenie im Haar von Billie Holiday bis zu Wynton Marsalis’ in Brooks Brothers-Anzüge gekleidetes Lincoln Center Jazz Orchestra: Jazzmusiker waren immer auch Mode-Ikonen. Miles Davis mag diese Facette seines Bühnenlebens am stärksten ausgelebt haben, doch findet sich das Bewusstsein für die Bühnengarderobe durch die Jazzgeschichte. Als Art Blakey seiner Band in den 1970er Jahren für eine Weile erlaubte, in Straßenklamotten aufzutreten, war das eine Ausnahme. Er wie andere Musiker wussten, dass sie als afro-amerikanische Künstler Vorbildfunktion hatten.

Alphonso D. McClendon ist Modeforscher und hat sich in seinem Buch “Fashion and Jazz” dem Subtext der Musikergarderobe durch die Jazzgeschichte angenommen. Ihm ist wichtig, auf die gegenseitigen Einflüsse zwischen Jazz und Mode hinzuweisen, wie er gleich im ersten Kapitel deutlich macht, in dem er Parallelen und Einflusswege nennt, dass nämlich sowohl Mode wie auch Jazz auf ihre jeweilige Art und Weise vom Freiheit des Ausdrucks handeln. Es habe im Jazz durchaus eine “Sprache der Kleidung” gegeben, sagt er – will heißen: die Bühnenpräsentation hatte immer auch etwas zu bedeuten, und Kleidung habe zur visuellen Ästhetik von Jazzmusikern beigetragen, ob in der Performance auf der Bühne oder in Abbildungen.

Im zweiten Kapitel geht McClendon das Thema dann chronologisch an. Er beschreibt die Mode der Ragtime-Ära und der Bluesmusiker, die Bühnenkostüme von Swing-Musikern und die Selbstdarstellung der Bebopper, die zugleich “die Konstruktion eines subkulturellen Stils” gewesen sei, und stellt schließlich fest, das sowohl Mode wie auch Jazz ähnliche Perioden von Konformität (1900-1920), populärem Einfluss (1920-1940) und Widerstand (1940-1960) durchgemacht hätten.

Kapitel 3 diskutiert Momente “der Moderne” bzw. “des Modernen” und die Kommunikation beider durch Mode und Spielpraktiken im Jazz. Im vierten Kapitel beschreibt McClendon Strategien der Distinktion durch Jazz und Mode, um sich im fünften Kapitel etwa auf die Darstellung von Frauen und Männern in frühen Sheet-Music-Covers zu konzentrieren. Kapitel 6 diskutiert subversive Konnotationen, die sich etwa in Texten von Bluessängerinnen finden oder im Eingang von Jazzthemen in die Literatur oder den Film. Kapitel 7 ist überschrieben “Narcotics and Jazz: A Fashionable Addiction” und beschreibt unter anderem, wie elegante Kleidung auch helfen konnte ein Leben im Schatten der Drogensucht zu verschleiern. Kapitel 8 fokussiert auf Billie Holiday als Musik- wie Mode-Ikone; Kapitel 9 beschreibt Duke Ellington und Benny Carter als “traditionellen Dandy” sowie Dizzy Gillespie und Gerry Mulligan als “modernen Dandy” und blickt kurz darauf, wie amerikanische Präsidenten wie Bill Clinton und Barack Obama ihre Nähe zum Jazz als Imagefaktor ausnutzten.

McClendons Buch reicht leider nur bis ins Jahr 1960 und verpasst damit die politische Garderobe von Dashikis, schwarzen Lederjacken oder soul-beeinflusster Hipstermode der 1960er und 1970er Jahre, thematisiert also auch nicht die Rückkehr zur ordentlichen Garderobe mit Aufkommen der Young Lions der 1980er Jahre. Er thematisiert damit weder die modetechnische Annäherung zwischen den Genres, etwa in Richtung Rock oder auch Neue Musik, noch die Unterschiede etwa in im Modeverhalten amerikanischer und europäischer Musiker. Doch gelingt ihm in diesem eigentlich auf der Hand liegenden und doch so ganz anderen Blick auf Jazzgeschichte eine Perspektive, die Aufschluss über Imagebildung, Selbstverständnis der Künstler und die gegenseitige Beeinflussung von Image und künstlerischem Anspruch erlaubt. Etliche Bilder, eine ausführliche Bibliographie und ein Namensindex schließen das Buch ab.

Wolfram Knauer (August 2017)


Sales Rectangles. Daunik Lazro. Vieux Carré
von Guillaume Belhomme
Nantes 2015 (Lenka Lente)
44 Seiten, 1 Mini-CD, 9 Euro
ISBN: 978-2-9545845-9-1

Am 21. Mai 2011 spielte der Saxophonist Daunik Lazro ein inspiriertes unbegleitetes Solokonzert in einen Buchladen in Rouen. Guillaume Belhomme versucht die Stimmung des Konzerts einzufangen, indem er eines der Stücke Lazros, eine lange Improvisation über Joe McPhees “Vieux Carré” mit kurzen Blicken in die Bücher, die um ihn herum stehen und liegen, verbindet. Seine knappen, aus jeweils nicht mehr als einem Satz bestehenden Kommentare lassen sich den diesen Büchern allerdings erst zuweisen, wenn man sie anhand der im Büchlein abgedruckten Barcodes (bzw. die diesen beigefügten ISBN-Nummern) sucht. Und tatsächlich gelingt es Belhomme dabei ein wenig, jene Stimmung eines Konzerts im Buchladen einzufangen, bei dem die Konzentration auf die Musik von den Blicken zu und in die Bücher, von der Wahrnehmung der Atmosphäre, von kurzen Reflektionen darüber, was man da aufblättert, während man zugleich zuhört, unterbrochen, aber durchaus auch bereichert wird. Ein ungewöhnliches, durchaus inspirierendes Experiment, das den Leser / Hörer quasi subkutan auf die Komplexität der Wahrnehmung von Musik aufmerksam macht.

Wolfram Knauer (März 2017)


Spirits Rejoice! Jazz and American Religion
von Jason C. Bivins
New York 2015 (Oxford University Press)
369 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-023091-3

Jazz und Spiritualität sind für viele Musiker eine zusammenhängende Einheit. Duke Ellington, John Coltrane, Albert Ayler, Rahsaan Roland Kirk, Yusef Lateef, Anthony Braxton – die Liste der Musiker, für die ihre musikalische immer auch eine spirituelle Suche war, ist lang. Der Religionswissenschaftler und Jazzgitarrist Jason Bivins beleuchtet in seinem Buch dieses Verhältnis zwischen Religion und Musik anhand zahlreicher Beispiele und legt, gerade weil er seine Studien aus der Perspektive eines Religionsforschers und mit dem Wissen eines Jazzers macht, ein wichtiges Buch vor, in dem das Thema weit fundierter angegangen wird als in vielen Biographien der bereits genannten Musiker.

In seinen “ersten Meditationen” zum Thema stellt Bivins fest, dass Jazz genauso wie Religion in ihrer jeweiligen Individualität der Wahrnehmung schwer fassbare Gebilde seien. Er weiß um die ganz unterschiedlichen Ausprägungen des Religiösen oder Spirituellen gerade in der Musik, die irgendwo zwischen Ritual und Weltforschung liegt. Er fragt, wie sich das spirituelle Umfeld, aus dem Musik heraus initiiert oder rezipiert wird, auf die Musik selbst auswirkt. Er befasst sich mit konkreten Traditionen, auf die Jazz sich immer wieder bezog. Er betrachtet Beispiele, in denen mit Jazz amerikanische Geschichte genauso wie religiöse Aspekte derselben dargestellt werden. Er befasst sich mit Jazz in religiös-musikalischer Praxis. Er hinterfragt das Klischee von Jazz als rituelle oder heilende Praxis. Er diskutiert Verweise im Jazz auf Mystizismus, Selbstlosigkeit, die klangliche Verbindung zu einem höheren Wesen. Es untersucht Kosmologien und metaphysische Theorien im Jazz. Er will damit nicht nur Aspekte der Jazzgeschichte durch ihre Verankerung in religiösen Praktiken erklären helfen, sondern zugleich die Religionsgeschichte in den USA seit den 1920er Jahren mithilfe ihres Widerhalls im Jazz beleuchten.

Bivins geht dabei weder chronologisch vor noch versucht er seine Thesen an zentralen Figuren festzumachen, wenn es auch an konkreten Beispielen nicht mangelt in seinem Buch. Natürlich spielt der Einfluss der schwarzen Kirche auf viele afro-amerikanischen Musiker eine wichtige Rolle. Er beschreibt das Zeugnis ablegende (“testifyin'”) Tenorsaxophonspiel Albert Aylers. Er findet Spiritualität in Charles Gayles Bühnen- genauso wie Straßenmusikauftritten. Er fragt nach den Gründen von Jazzmusikern zum Islam, zum Buddhismus, zum Bahá’í, zur Scientology zu konvertieren und ihre Reflektion über die jeweilige religiöse Praxis und ihre Auswirkung auf ihre Musik. Er befasst sich mit den Ausprägungen des “Radical Jewish jazz” und mit der Idee einer imaginären Folklore in den Vereinigten Staaten.

Er beschäftigt sich mit Beispielen, in denen Jazzmusiker bzw. ihre Werke religiöse Geschichte erzählen und verwebt dabei eng religiöse und politische Aussagen, etwa in den Aufnahmen von Charles Mingus, Archie Shepp, Max Roach und Abbey Lincoln. Auch der Saxophonist Fred Ho und sein Einsatz für einen Asian American Jazz kommen zur Sprache sowie Sun Ras Verweise auf weltumspannende Verbindungen, die weit über den Planeten Erde hinausreichen. Er geht auf Ellingtons “Sacred Concerts” ein und widmet eine längere Passage John Carters Komposition “Roots and Folklore”, die, wie er findet, ein würdiger Träger des Pulitzer Preises gewesen wäre, den Wynton Marsalis später für sein Oratorium “Blood On the Fields” erhielt.

Er entdeckt im Bemühen von Musikern seit den 1950er Jahren sich zu organisieren neben den politischen auch spirituelle Gründe, wie er etwa am Beispiel der AACM und der Black Artists Group zeigt. Die von Horace Tapscott gegründete Underground Musicians Association, die Saint John Coltrane African Orthodox Church und Alice Coltranes Ashram sind für ihn konkrete Beispiele, wie Jazz als spirituell-religiöses Ritual gelebt und zelebriert werden kann.

Im zweiten Teil seines Buchs beschäftigt sich Bivins mit den engen Verbindungen zwischen Ritual und Improvisation, nennt Beispiele aus dem Schaffen von Duke Ellington, Mary Lou Williams, Milford Graves, Cecil Taylor, bezieht sich aber auch auf das Feld des afro-kubanischen Jazz, auf Steve Colemans Studien zur Yoruba-Kultur und auf die Musik des Art Ensembles of Chicago.

Ein eigenes Kapitel befasst sich mit Meditation und Mystizismus und verweist dabei auf Musiker wie Steve Lacy, Arthur Blythe, William Parker und Davis S. Ware. Ornette Colemans Harmolodics und George Russells Lydian Chromatic Concept werden von Bivins nicht allein als musiktheoretische Abhandlungen verstanden, sondern als Beispiel für kosmologische und metaphysische Versuche Jazz, Improvisation, ja Musik ganz allgemein zu fassen. In dieses Kapitel gehören auch Anthony Braxtons Tri-Axium-System und Wadada Leo Smith’ Ankhrasmation.

In seinem Schlusskapitel stellt Bivins dann noch einmal klar, dass die Auseinandersetzung mit Jazz oder mit Religion notwendigerweise eine fragmentarische sein muss, dass beide Praktiken ein Versuch sind, sich der Komplexität der Welt zu nähern, unsere eigene Sicht aber immer durch das geprägt ist, was wir bereits “wissen”. Für einige sei Musik wie Religion, weiß er, das aber beinhalte weit mehr als die pure Hingabe. Wie die Religion in amerikanische (und weltweiter) Geschichte, habe auch die Musik subversive Funktionen gehabt, habe Einfluss auf die Wahrnehmung der Realität genommen und diese damit ändern können.

Bivins’ Entscheidung, keine klar strukturierte Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Jazz und verschiedenen Ausprägungen von Spiritualität zu wählen, sondern stattdessen Themen zu identifizieren und von verschiedenen Seiten zu beleuchten, führt dazu, dass man auch als Leser die Vorstellung von Religion, Spiritualität, Ritual weiter fasst. Wo man zu Beginn der Lektüre von der sehr offenen Fassung der Begriffe noch ein wenig irritiert sein mag, da ist man dem Autor am Ende genau dafür dankbar, da er es schafft, auch beim Lesen die schnellen Analogien zu vermeiden. Bivins gelingt es, diesen offenen Geist in seine Leser zu übertragen – für den europäischen Leser dann auch in Richtung all der Themen, die sich hierzulande in die verschieden Kapitel einflechten ließen.

Wolfram Knauer (März 2017)


Omniverse Sun Ra
von Hartmut Geerken & Chris Trent
Wartaweil 2015 (Waitawhile Books / Art Yard)
304 Seiten, 69 Euro
ISBN: 978-0-9933514-0-2

Von 1994 stammt das damals im LP-Schallplattenformat veröffentlichte, von Hartmut Geerken und Bernhard Hefele herausgegebene Buch “Omniverse Sun Ra”. Jetzt erschien eine Neuauflage dieses Werks, das das Universum des Meisters aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben versucht.

Geerken war in den 1960er bis 1980er Jahren Institutsleiter verschiedener Goethe-Institute. Als Perkussionist hat er daneben mit zahlreichen Musikern vor allem aus dem Bereich der improvisierten Musik zusammengearbeitet. In Jazzkreisen ist er dabei insbesondere als Kenner des Oeuvres Sun Ras bekannt und war für Konzerte des Arkestra verantwortlich, etwa 1971 in Kairo, wo er seinerzeit fürs Goethe-Institut wirkte. Sein Buch von 1994 war eine kleine Sensation für die Aufarbeitung des Ra’schen Oeuvres; die Neuauflage ist nicht weniger willkommen.

Was übernommen wurde: Amiri Baraka beginnt das coffeetable-große Buch mit einem einleitenden, sehr persönlichen Text über den Meister. Robert Campbell erzählt die irdische Biographie Herman Blounts von seiner Geburt in Birmingham, Alabama, im Jahr 1914 bis zu seinem Tod im Mai 1993 und ordnet zugleich die verschiedenen Besetzungen und musikalischen Phasen seines Schaffens zu. Sigrid Hauff untersucht die mythologische und spirituelle Welt, die Sun Ra musikalisch genauso wie in Texten oder Interviews heraufzubeschwören versuchte. Chris Cutler ordnet sein musikalisches Schaffen in den größeren Kontext von Jazz und afro-amerikanischer Musikgeschichte ein. Robert Lax versammelt mehr oder weniger unzusammenhängende Gesprächsfetzen, Bonmots und Aphorismen des Pianisten, Komponisten, Bandleaders und spirituellen Philosophen. Salah Ragab berichtet über Konzerte des Arkestra in Ägypten in den Jahren 1983 und 1984. Karlheinz Kessler hinterfragt die Verwendung von Ritualen in den Performances der Band. Gabi Geist schreibt ein Horoskop für jemanden, der immer sagte, dass sein Geburtstag und -ort höchstens irdisch seien, tatsächlich aber seiner Herkunft nicht gerecht würden. Hartmut Geerken schließlich erinnert sich an den Besuch des Arkestra in Ägypten im Dezember 1971. Zwischendrin finden sich zahlreiche Fotos, viele davon von der britischen Fotografin Val Wilmer.

Was neu ist: Ein Text Bernhard Helefes entfällt in der Neuauflage. Den ausführlichen diskographischen Teil des Buchs hat Chris Trent neu geordnet. Wieder gibt es einen umfangreichen Bildteil, der die Plattencovers zeigt.

“Omniverse Sun Ra” war schon in der ersten Ausgabe von 1994 eine labor of love. Die neue Ausgabe hat einen Hardcover-Einband, ein etwas handlicheres Format, einen Block mit Farbfotos der Band, die im früheren Buch nicht enthalten waren. Es verzichtet auf die Tapeologogy, also die Auflistung oft privater Konzertmitschnitte, sowie auf die ausführliche Bibliographie der früheren Ausgabe.

“Omniverse Sun Ra” bleibt bei alledem ein großartiges Buch, das in Wort, Bild und Tonträgerverweisen als hervorragendes Nachschlagewerk über die Welt und Weltsicht Sun Ras genauso zu nutzen ist wie als eine Dokumentation, in der auch “Nachgeborenen” die Bühnenperformance des Arkestra vor Augen geführt wird.

Wolfram Knauer (März 2017)


A City Called Heaven. Chicago and the Birth of Gospel Music
von Robert M. Marovich
Urbana/IL 2015 (University of Illinois Press)
488Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08069-2

Gospelmusik, erklärt Robert Marovich, Rundfunkmoderator, Herausgeber des Journal of Gospel Music und Musikhistoriker, sei die künstlerische Antwort auf die Great Migration gewesen, in der tausende und abertausende Afro-Amerikaner zu Beginn des 20sten Jahrhunderts aus den Südstaaten in den Norden zogen und insbesondere in Städten wie Chicago ein neues Zuhause fanden. Blues, sagte Mahalia Jackson einmal, seien Lieder der Verzweiflung gewesen, Gospel dagegen Lieder der Hoffnung. Das Genre, erklärt Makovich in seinem Buch, das sich auf die Verankerung der Musik im Chicago des 20sten Jahrhunderts fokussiert, sei wie eine soziale Organisation organisiert gewesen, die jeden, egal wie gut er oder sie singen konnte, willkommen geheißen hätte.

In seinem Buch beschreibt Marovich die Entwicklung der Gospelmusik von frühen Hymnen und Camp Meetings über die beschriebene Great Migration und die lebendige Gospelszene von Chicago bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sounds, Rhythmen und der Enthusiasmus dieser Musik Eingang in die Popmusik fanden und schließlich zur Begleitmusik der Bürgerrechtsbewegung wurden. Er greift auf Interviews und selten ausgewertete historische Quellen zurück, um die Einbettung der Musik in die Community zu beschreiben; er entdeckt die Bedeutung von Predigern, deren eindringliche Sermons ab den 1920er Jahren ja sogar auf Schallplatte veröffentlicht wurden; er berichtet von frühen Aufnahmen für das noch junge Radio genauso wie für die aufstrebende Plattenindustrie. Er geht auf weithin bekannte Gospel-Künstler ein, Thomas A. Dorsey etwa oder Mahalia Jackson, genauso aber auch auf weniger, oft nur lokal bekannte Musikerinnen und Musiker. Er weiß um die Hintergründe der Gospeltourneen, die in den 1930er Jahren große Erfolge feierten, und er beschreibt die Entwicklung des Gospelquartetts über die Jahre.

Die Zuwanderung nach Chicago aus dem Süden hielt bis in die 1940er Jahre an und vermittelte der Gospelmusik damit über lange Jahre jene wichtige Funktion des Haltgebens in der Fremde. Radio- und frühe Fernsehshows nahmen sich des Genres an, und immer mehr wurde Gospel auch zu einem kommerziellen Produkt. In seiner Übersicht über die verschiedenen Stränge des Genres kennt Marovich alle Solisten, Bands, Quartette und Chöre und beschreibt sowohl ihre Einbindung in die örtliche kirchliche Gemeinschaft wie auch ihr sehr unterschiedliches Verhältnis zur Plattenindustrie. Mitte der 1950er Jahre fiel der Gospelmusik schließlich eine neue Rolle zu, als Mahalia Jackson zu einer glühenden Vertreterin des Civil Rights Movement und einer engen Verbündeten Dr. Martin Luther Kings wurde.

Die große Zeit des Gospel war mit dem Tode Mahalia Jacksons und Roberta Martins vorbei; und hier endet auch Marovichs Buch, mit einem nur kurzen Ausblick auf die Gegenwart. “A City Called Heaven” ist ungemein detailreich, dadurch stellenweise etwas mühsam zu lesen, aber durch einen umfangreich aufgeschlüsselten Index ein gutes Nachschlagewerk zum Thema. Marovich zeigt anhand der Gospelmusik in Chicago, wie sich sich Genre- und Stadtgeschichtsschreibung miteinander verbinden lassen, weil die Nöte und Zwänge des Lebens in der Großstadt letztlich die Entwicklung einer Musik als spirituelles Gegengewicht befördert haben.

Wolfram Knauer (Januar 2017)


La Nuée. L’AACM: un jeu de société musicale
von Alexandre Pierrepont
Marseille 2015 (Éditions Parenthèses)
443 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-2-86364-669-4

2008 veröffentlichte George E. Lewis sein Buch “A Power Stronger Than Itself. The AACM and American Experimental Music”, das die musikalische und ästhetische Welt der Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago seit den 1960er Jahren aus der Ecke einer “nur” afro-amerikanischen Avantgarde holte und zeigte, wie sehr die darin Aktiven Teil eines generellen und weit über Amerika hinausreichenden künstlerischen Diskurses waren und sind.

Im Vorwort seines Buchs über die AACM schildert Alexandre Pierrepont, wie es dazu kam, dass er sich als Anthropologe entschied, eine Studie zur AACM zu schreiben, wie er mittendrin von Lewis’ Arbeit erfuhr und sofort bereit war, mit seinem eigenen Projekt zurückzustecken. Lewis aber habe ihn zum Weitermachen ermutigt: Sein Buch sei eine Innenansicht, so Lewis, ein so komplexes Thema aber brauche immer mehrere Perspektiven, und Pierreponts Arbeit könne vielleicht eine sinnvolle Außenansicht bieten. Und so ist mit “La Nuée” (“Der Schwarm”) jetzt ein zweites umfangreiches Buch auf dem Markt, das die AACM von den 1960er Jahren bis heute als einen künstlerische Ansatz beschreibt, der weit über die erklingende oder auf Tonträgern dokumentierte Musik hinausreicht, vor allem nämlich in den daran beteiligten Akteuren ein Selbstbewusstsein geschaffen hat, das sie weit über den Kreis des Jazz, der afro-amerikanischen oder sogar der amerikanischen Musik hinaus einordnen lässt.

Pierrepont präsentiert im ersten Kapitel 25 Gründe warum, und Erklärungen wie Afro-Amerikaner in den USA ausgegrenzt oder marginalisiert wurden. Er zeigt, dass Musik gerade in diesem Zusammenhang wichtige soziale Funktionen übernahm. Er schildert die Situation in Chicago und erklärt, wie sich hier ab den 1950er Jahren eine aktive experimentelle Musikszene herausbildete. Im zweiten Kapitel beschreibt er die Idee hinter der AACM, die unterschiedlichen Ensembles und Projekte, die aus dem Kreis der Musiker entstanden, die europäische Erfahrung von Mitgliedern etwa des Art Ensemble of Chicago zwischen den Jahren 1969 und 1974, die Verbindungen zwischen der Chicagoer und der New Yorker Avantgarde-Szene ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre (die viel damit zu tun hatte, dass etliche Chicagoer Musiker inzwischen an die Ostküste umgezogen waren), sowie den Einfluss der AACM und ihres Konzepts auf europäische Improvisations-Kollektive.

Im dritten Kapitel untersucht Pierrepont die AACM als Kooperative und Verein, als Geheimbund und Brüderschaft, als sozio-musikalische Bewegung und Weltschule, beschreibt ihre formale Organisation, aber auch die “respectful anarchy”, die sich aus ihren Verbindungen etwa zum Black Arts Movement und anderen auch politisch aktiven Organisationen ergaben. Dabei sei sie bis heute eine Vereinigung afro-amerikanischer Musiker geblieben. Egal ob in Tongebung, Improvisation oder Komposition sei eines der verbindenden Merkmale der aus der AACM entstandenen Musik zum einen die Betonung von Individualität, zum zweiten aber auch das Einbringen des Subjekts in kollektive Prozesse. Pierrepont beschreibt pädagogische Konzepte, die sich aus den Schulprojekten der Association ergaben, und umreißt musikalische als soziale Verbindungen und die daraus resultierenden Gruppenzugehörigkeits-Prozesse. Im vierten Kapitel beschreibt er die Offenheit der AACM-Mitglieder gegenüber Genre, kompositorischen und improvisatorischen Experimenten, der Verwendung und Aneignung im Jazz bislang eher unüblicher Instrumente, der Weiterentwicklung elektronischer Klang- (und musikalischer Reaktions)möglichkeiten, sowie der Arbeit im Solo- und großorchestralen Kontext. Das Art Ensemble of Chicago warb mit dem Slogan “Ancient to the Future”, und in dieser Haltung, dass die Formung jedweder (künstlerischen) Zukunft sich auf die eigene Interpretation der Vergangenheit beziehe, sieht Pierrepont eines der Geheimnisse hinter der Langlebigkeit der AACM als Organisation. “Ich ziehe die Mythokratie der Demokratie vor”, zitiert er Sun Ra. “Noch vor der Geschichte. Alles vor der Geschichte sind Mythen… Das ist der Ort, an dem die Schwarzen sind. Realität ist gleich Tod, weil alles, was real ist, einen Anfang und ein Ende hat. Die Mythen sprechen vom Unmöglichen, von Unsterblichkeit. Und da alles Mögliche bereits versucht wurde, müssen wir eben das Unmögliche versuchen.”

Alexandre Pierreponts Studie zur AACM bietet eine gelungene Interpretation dessen, wofür die Association for the Advancement of Creative Musicians stand und steht, eine Einordnung ästhetischer wie gesellschaftlicher Vorstellungen und Aktivitäten aus der Gruppe, und den Versuch, das alles in Verbindung zu bringen mit ästhetischen, kritischen, philosophischen und spirituellen Aspekten, die weit über die Arbeit der AACM-Mitglieder hinausgehen. Ihm ist dabei, in Gesprächen mit Musikern, in den Beschreibungen von Konzert- und Aktionssituationen, in der historischen genauso wie der anthropologischen Einordnung all dessen ein kluges Buch gelungen, das die Rolle der AACM im Jazz genauso zu verorten in der Lage ist wie in der aktuellen Musik des 20sten (und letzten Endes auch 21.) Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Jazz Tales from Jazz Legends. Oral Histories from the Fillius Jazz Archive at Hamilton College
Von Monk Rowe (& Romy Britell)
Rochester 2015 (Richard W. Couper Press)
209 Seiten, 20 US-Dollar
ISBN: 978-1-937370-17-6

Das Hamilton College ist eine relativ kleine Hochschule in Clinton, New York. Einer ihrer Absolventen, Milt Fillius Jr., zog nach seinem Diplom ans andere Ende des Landes, nach San Diego, hielt aber Kontakt zu seiner Alma Mater. Er liebte Jazz und er war ein guter Freund des Sängers Joe Williams, der 1988 die erste Ehrendoktorwürde des Hamilton College erhielt. Im Gespräch mit Williams und dem Bassisten Milt Hinton wurde Fillius bewusst, wie viel an Wissen über den Jazz tatsächlich nur in der Erinnerung der Musiker bewahrt und wie wichtig Oral History gerade in diesem Bereich ist. Er etablierte also ein umfassendes Interview-Projekt, für das mittlerweile weit über 300 Künstler/innen in Ton und Bild festgehalten wurden. Die Interviews, von denen viele der Hamilton-Archivar Monk Rowe selbst durchführte, dokumentieren die Welt des Swing genauso wie die des modernen Jazz. Die meisten dieser Erinnerungen sind auf der Website des Hamilton College nachzulesen; eine für die Jazzforschung ungemein hilfreiche Sammlung. Es handelt sich bei den Interviewten nicht unbedingt um die großen Stars der Jazzgeschichte, obwohl etwa mit Lionel Hampton, Nat Adderley, Herbie Hancock, James Moody, Oscar Peterson, Ruth Brown und anderen auch solche vertreten sind. Viele der Musikererinnerungen stammen stattdessen von Sidemen, die über ihre Zeit in den großen Bands berichten, über das Leben “on the road”, über die alltäglichen Probleme eines reisenden Musikers, über Rassismus und vieles mehr

In “Jazz Tales from Jazz Legends” zeigt Monk Rowe, was man aus diesen Interviews so alles lernen kann. Er filtert konkrete Themen heraus, für die er dann die verschiedenen Erfahrungen der Interviewten gegenüberstellt. Das Anfangskapitel widmet sich Joe Williams, dann folgt ein Abschnitt über das Schicksal der Sidemen bei Duke Ellington, Count Basie, Benny Goodman und in anderen Bigbands. Clark Terry erzählt etwa, wie der Duke ihn bei Basie abwarb, erinnert außerdem, was er bei beiden Bandleadern lernte, und Benny Powell weiß zu berichten, dass Basie ihm in den zwölf Jahren in der Band nie förmlich bestätigt habe, dass er engagiert sei. Im Kapitel “Road Travails” erzählen Eddie Bert von seiner Zeit bei Benny Goodman, Sonnie Igoe von einer Tournee mit Woody Herman, Bucky Pizzarelli vom Reisen mit dem Vaugn Monroe Orchestra, Jay McShann vom Problem mit schlechten Klavieren “on the road”, Jimmy Lewis von einem angst-machenden Flug mit der Basie-Band, Kenny Davern vom Stress, die 60 One-Nighters in 90 Tagen erzeugen können, Lanny Morgan darüber, dass die Gage oft von Hotel- und Reisekosten aufgefressen wurde, die die Musiker aus eigener Tasche zahlen mussten. “Arranging the Notes” heißt ein weiteres Kapitel, das sich mit den Ansprüchen an die Arrangeure der Bands befasst. Dick Hyman, Mike Abene, Bill Holman, Derrick Gardner, Ray Conniff, Manny Albam erzählen darin von der Arbeit eines Bandarrangeurs genauso wie von den Anforderungen an andere Arten von Musik, etwa für Hollywood; Lew Soloff erinnert sich an die Arrangements für Blood Sweat & Tears, und Dave Rivello und Maria Schneider geben einen Ausblick darauf, wie die Arbeit eines Arrangeurs im 21sten Jahrhundert funktioniert.

“Inside the Studio” ist ein Kapitel über Aufnahmeerfahrungen überschrieben, in dem sich Doc Cheatham an seine erste Platte mit Ma Raney erinnert, Richard Wyands einen typischen Aufnahmegig aus dem Jahr 1959 beschreibt, Orrin Keepnews erzählt, was Musikern für Aufnahmesitzungen üblicherweise bezahlt wurde, und Dick Hyman und Derek Smith verraten, dass sie sich natürlich auch mit Musik für Fernsehwerbung über Wasser halten mussten. Man müsse nicht alles mögen, was da im Studio produziert werde, erklärt Hyman, man müsse sich aber anstrengen, das, was von einem gefordert werde, möglichst gut zu spielen. Rassismus war für viele der interviewten Musiker ein täglich erlebtes Thema, und im Kapitel “The Color of Jazz” kommt auch dies zur Sprache. Clark Terry und Joe Williams haben genügend eigene Erlebnisse; Sonny Igoe erzählt, wie er auf einer Tournee durch den Süden, bei der er im Bus mit dem Art Tatum Trio mitreiste, als “White Trash” angepöbelt und aufgefordert wurde, er solle den Bus gefälligst verlassen. Louie Bellson und Red Rodney haben ähnliche Erinnerungen, und Frank Foster fasst zusammen, dass der Jazz zwar aus der schwarzen Erfahrung heraus geboren worden sei, dass der Melting Pot Amerika ihn aber schon seit langem zu einer amerikanischen, wenn nicht gar globalen Musik gemacht habe.

Im Kapitel “Thoughts on Improvisation” geben Marian McPartland, Clark Terry, Bill Charlap, Charles McPherson und andere Tipps, wie man sich der Improvisation nähern könne. Ken Peplowski fasst zusammen: “Lern es, dann vergiss es wieder!”, und Randy Sandke reflektiert, was während eines Solos so alles durch seinen Kopf ginge. Schließlich äußern sich Gary Smulyan, Ralph Lalama und Jan Weber über die Möglichkeit und die Chancen “falscher Töne” im Jazz. “Motivation and Inspiration” ist ein Kapitel überschrieben, das Erinnerungen an persönliche Einflüsse beinhaltet. Keter Betts etwas erzählt, dass er als Schlagzeuger begonnen habe und durch Milt Hinton (und reichlich Zufall) zum Bass gekommen sei. John Pizzarelli kam über die Beatles zur Gitarre, Kenny Davern übers Radio bei einer der Pflegefamilien, bei denen er aufwuchs, bis er sechs Jahre alt war, und auch Junior Mance war von Earl Hines begeistert, dem er spätabends heimlich im Radio lauschte. Jon Hendricks berichtet, wie er dazu kam, improvisierte Instrumentalsoli zu textieren. Und Eiji Kitamura erinnert sich, wie eine Platte von Benny Goodman in der Sammlung seines Vaters ihn zur Klarinette brachte. Schließlich gibt es im Schlusskapitel noch ein paar Haltungen zum Phänomen des Swing und zum Missverständnis des Free Jazz sowie Erinnerungen an unglücklich gelaufene Engagements und über die Arbeit mit Legenden.

“Jazz Tales from Jazz Legends” ist also ein vielfältiges Buch, das jede Menge unterschiedlicher Erfahrungen zusammenbringt. Zu Beginn der Lektüre wünscht man sich, die einzelnen Interviews im Zusammenhang zu lesen, aber das ist ja tatsächlich möglich, über die Website des Fillius Jazz Archive am Hamilton College. Und so sollte man Monk Rowes thematische Zusammenstellung als das sehen, was sie ist: ein exzellentes Beispiel, wie sich aus den gesammelten Interviews am Hamilton College Narrative zu den unterschiedlichsten Themengebieten der Jazzgeschichte exzerpieren lassen. Dann lässt sich umso interessanter verfolgen, wie die Interviews sich gegenseitig ergänzen und die unabhängig voneinander Befragten dabei fast miteinander ins Gespräch zu kommen scheinen.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Swingin’ On Central Avenue. African American Jazz in Los Angeles
von Peter Vacher
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
331 Seiten, 55 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8832-6

2015vacherJazzgeschichtsschreibung funktioniert normalerweise so: Louis Armstrong – Charlie Parker – Miles Davis – John Coltrane. Oder so: New Orleans – Chicago – Kansas City – New York. Oder so: Dixieland – Swing – Bebop – Cool Jazz – Hard Bop – Free Jazz – Fusion. Personen, Orte, Epochen… eine Geschichte der großen Männer (!), der lebendigen urbanen Szenen, der alles umwälzenden stilistischen Innovationen. Tatsächlich aber ist dieser Blick auf die Größen, die Zentren, die Stilbegriffe enorm einengend, wenn nicht gar: einfach nur falsch. Neben den großen Stilisten gibt es immer auch diejenigen, deren Kreativität entweder nicht den großen populären Erfolg hatte oder aber nicht lange genug anhielt, oder die sich einfach weniger gut “verkaufen” konnten. Neben den jazzgeschichtsmäßig bekannten Zentren gab es Städte und Landstriche, die musikalisch enorm lebendig waren, viele Musiker hervorbrachten, aber von der Geschichtsschreibung höchstens als potentielle Spielorte, nicht als Brutstätten dieser Musik dargestellt wurden. Und neben den etablierten Stilen gibt es unendlich viele Zwischenstufen, da kaum ein Musiker sich eines Stils “in Reinkultur” bediente”. Ganz davon zu schweigen, dass sich die meisten Jazzgeschichten, ja selbst die meisten Biographien an Aufnahmen entlanghangeln und dabei gern den performativen Aspekt des Jazz vergessen, die Tatsache also, dass die veröffentlichte Platte nur eine Momentaufnahme des kreativen Prozesses ist.

Peter Vacher füllt mit seinem Buch also eine Lücke. Er widmet es einer Szene, die nie so ganz im Mittelpunkt des Jazz stand (Los Angeles), und er fokussiert dabei auf Musiker, die höchstens regionale Stars blieben und kaum nationalen oder gar internationalen Erfolg einfuhren. Vacher ist Außenseiter (Brite); er kam im Laufe des Trad-Jazz-Booms der 1950er Jahre zum Jazz. In den 1980er Jahren arbeitete er mit dem Klarinettisten Joe Darensbourg an dessen Autobiographie, verbrachte währenddessen einige Zeit in Los Angeles und lernte damals Veteranen der schwarzen Musikszene der Westküstenmetropole kennen. Die Interviews, die er mit den sechzehn in diesem Buch dokumentierten Musikern führte, hatten ursprünglich nicht das Ziel einer Buchveröffentlichung, sondern dienten einzig seinem privaten Interesse an ihrer Geschichte. Wenige konnte er ein zweites Mal interviewen, bei anderen fühlte er sich im Nachhinein schlecht vorbereitet. Dennoch geben die Geschichten, die er anhand dieser 16 Musiker erzählt, einen Einblick in eine so ganz andere Musikszene als die an der Ostküste. Die Westküstenmusiker waren flexibel; sie spielten Jazz genauso wie R&B oder Dixieland. Viele von ihnen verdienten sich ihren Lebensunterhalt in den Studios Hollywoods, und viele zog es vielleicht mal für eine Tournee, selten aber für immer fort aus Kalifornien. Und wenn auch diese Szene Jazzgrößen wie Dexter Gordon, Wardell Gray, Teddy Edwards und Charles Mingus hervorbrachte, wenn auch Legenden wie Benny Carter, Red Callender und Buddy Collette von hier aus agierten, so blieb Los Angeles doch ein weitgehend ungeschriebenes Kapitel der US-amerikanischen Jazzgeschichte.

Die von Peter Vacher interviewten Musikern stammen aus der älteren Generation, und dokumentieren die Szene vor allem der 1930er bis 1950er Jahre. Noch weiter zurück geht es in den Erzählungen des Trompeters Andy Blakeney , der von seinen ersten musikalischen Erfahrungen im Chicago der 1920er Jahre berichtet, von seinem Umzug an die Westküste im Jahr 1925, von Reb Spikes, der ein Musikgeschäft in L.A. besaß und außerdem eine gut beschäftigte Band. Er erinnert an viele der Musiker in der Stadt und an Partys bei Orson Welles. Er erzählt aber auch von der Rassentrennung in der Stadt, und von den legendären Gigs, die Louis Armstrong und Duke Ellington Anfang der 1930er Jahre in Sebastian’s Cotton Club hatten, von Tagesjobs in einer Schiffswerft, von Gigs mit Kid Ory und Barney Bigard, und von verschiedenen Comebacks in den 1970er und 1980er Jahren. Beim Pianisten Gid Honoré musste Vacher erst Street Credibility beweisen (dadurch, dass er den Schlagzeuger Wallace Bishop kannte), bevor der sich zu einem Interview bereitfand. Honoré kam 1921 aus New Orleans nach Chicago und erzählt von den vielen Ensembles, mit denen er in den 1920er bis 1940er Jahren dort spielte – oft Bands alter Freunde aus New Orleans. 1948 zog er an die Westküste, wo er mit Kid Ory und Teddy Buckner spielte – seine Erinnerungen an die Szene in L.A. nehmen dabei gerade einmal ein Fünftel seines Kapitels ein. Der Trompeter George Orendorff hatte in den 1920er Jahren King Olivers Creole Jazz Band mit Louis Armstrong in Chicago gehört, kurz bevor er nach L.A. zog. Er erzählt vom Engagement in der Band von Les Hite, in der als Schlagzeuger Lionel Hampton mitwirkte, oder von einem Abend, an dem Fats Waller Bach und Beethoven spielte. 1946 war er im Billy Berg’s Club, als Dizzy Gillespie dort mit Charlie Parker spielte. Orendorff arbeitete schließlich 30 Jahre lang als Postbeamter und trat nur noch selten auf. Jeder in Los Angeles kannte den Schlagzeuger Monk Fay, den Vacher aber erst nach intensiver Suche in einem Seniorenheim fand. Der erzählt von seiner Popularität in Hawaii, von einer Gefängnisstrafe wegen Dealens mit Marihuana und von Gigs in Los Angeles in den 1940er und 1950er Jahren. Der Saxophonist Floyd Turnham erinnert sich an Britt Woodman und an Aufnahmen mit Johnny Otis; die Sängerin Betty Hall Jones weiß noch, wie Nellie Lutcher ihr einen Vertrag bei Capitol Records verschaffte. Der Trompeter Red Mack Morris war in Les Hites Band, als diese Louis Armstrong begleitete und führte später eine Weile einen eigenen Club, in dem er schwarz Alkohol ausschenkte. Der Klarinettist Caughey Roberts erzählt von seinen Lehrern und davon, wie er schließlich selbst unterrichtete, daneben aber auch von einer Reise nach China mit Buck Clayton, über seine Arbeit mit Count Basie und Fats Waller in den 1930er Jahren und über seine Dixieland-Aufnahmen in den 1950ern. Der Pianist Chester Lane war ein großer Fan von Earl Hines, arbeitete lange Zeit um St. Louis, und zog 1957 an die Westküste. Der Trompeter Monte Easter erinnert sich, wie er und Art Farmer Ende der 1940er Jahre in Jay McShanns Band saßen, berichtet über die Probleme der afro-amerikanischen Gewerkschaften und über seinen Broterwerb als Postbediensteter. Der Bassist Billy Hadnott erzählt ausführlich von seinen musikalischen Erlebnissen in Kansas City und hat seine eigene Erinnerung daran, wie Charlie Parker ins Sanatorium von Camarillo kam. Der Trompeter Norm Bowden weiß einiges über Reb Spikes und den Schlagzeuger “Boots” Douglas zu berichten, aber auch über den Club Alabam im berühmten Dunbar Hotel auf der Central Avenue. Der Posaunist John ‘Streamline’ Ewing hatte anfangs gut bezahlte Nebenjobs in den Hollywoodstudios, ging dann auf Anregung eines Musikerkollegen nach Chicago, tourte mit Bands wie denen von Horace Henderson und Earl Hines und spielte ab den 1950er Jahren mit Teddy Buckner in Disneyland. Der Saxophonist Chuck Thomas spielte vor allem in der Küstenregion (bis Las Vegas) und zuletzt ebenfalls mit Teddy Buckner. Der Schlagzeuger Jesse Sailes erinnert sich, wie all die großen Swingbands in den Theatern von Los Angeles auftraten und wie er später Platten mit Percy Mayfield, Ray Charles und B.B. King aufnahm. Der Schlagzeuger Minor Robinson spielte mit Buddy Collette und kannte Charles Mingus, als dieser vielleicht 15, 16 Jahre alt war.

Es sind persönliche Geschichten, von Sidemen-Karrieren und außermusikalischen Lebensentscheidungen. Die Namen wiederholen sich; aus den Erzählungen schält sich dabei eine Szene heraus, die zusammenhielt, auch wenn einzelne der Musiker die Stadt für kürzer oder für länger verließen. Peter Vacher beschreibt zu Beginn eines jeden der Kapitel, wie er den Musikern auf die Spur kam und erklärt einzelne der von den Interviewten mitgeteilten Anekdoten. Nebenbei erzählen diese von der Mobilität des Musikerberufs, von Karrieren, die in New Orleans oder Chicago begannen oder in Kansas City und New York Station machten, deren Protagonisten aber, nachdem sie kalifornische Luft geschnuppert hatten, von dieser nicht mehr loskamen. Es gibt schöne Geschichten über das Zusammentreffen des West-Coast-Größen mit durchreisenden Stars der großen Swingbands; es gibt Insiderberichte über alle möglichen Aspekte des Showbusiness’; es gibt immer wieder den Anruf aus der Ferne, der ihnen einen Job in einer der “name bands” anbietet, den sie entweder für kurze Zeit annehmen oder aber ablehnen. Es gibt Geschichten über Familienplanung und solche über Tagesjobs, mit denen man die Familie ernähren konnte. Central Avenue spielt eine bedeutende Rolle, jene Straße, die in Teilen zu einem kulturellen Zentrum der afro-amerikanischen Community der Stadt wurde.

Peter Vacher hat die Gespräche laufen lassen; sein ursprüngliches Interesse galt der Lebensgeschichte der Musiker, weniger dem Treiben in Los Angeles. Und so nehmen die Erinnerungen an Chicago oder Kansas City oft mehr Raum ein als die aktuelle Lebenswirklichkeit des Ortes, an dem die interviewten Musiker schließlich landeten. Doch wird eine Szene eben nicht nur durch das geprägt, was Musiker in ihr kreieren, sondern auch durch alles, was sie aus ihrer Vergangenheit mitbringen. Von daher ist Vachers Ansatz völlig richtig, die Geschichte der Central Avenue durch die Einflüsse zu erzählen, die hier zusammenkamen.

Beim Lesen wünschte man sich stellenweise entweder einen knappen biographischen Abriss vor oder nach den Kapiteln oder aber das Einstreuen von Jahreszahlen, um die Erinnerungen der Musiker besser einordnen zu können. Wer bei Los Angeles an die Westcoast-Szene denkt, sei gewarnt: alle der von Vacher interviewten Musiker sind vor allem der Swingära zuzuordnen; sie erzählen zum Teil von den jüngeren Musikern, die sie kannten, waren aber nie selbst Mitglied dieser Szene. In seinem Vorwort heb Vacher vor allem drei Interviews hervor, die besonders gut gelungen seien: jene mit Andy Blakeney, Billy Hadnott und Norman Bowden, mit Musikern also, mit denen er mehrfach sprechen und dabei mehr über ihr Leben und musikalisches Wirken lernen konnte. Tatsächlich aber sind auch jene Gespräche lesenswert, die etwas langsamer “auf den Punkt” kommen. “Swingin’ On Central Avenue” gelingt es dabei, Erhebliches zur Kulturgeschichte des afro-amerikanischen Jazz im Los Angeles der 1930er bis 1950er Jahre beizutragen. Das Buch erzählt von künstlerischen Idealen und von der Realität des alltäglichen Musikgeschäfts. Die Entscheidung, die Vacher – sicher mehr der Not gehorchend – getroffen hatte, war genau richtig: Seine Protagonisten sind eben nicht die großen Stars, weil die Szene, die er im Fokus hat, sich in keiner der stilbildenden Städte befand, weil die Community, die er in den Kapiteln seines Buchs abbildet, sich aus vielen sehr disparaten Erfahrungen zusammensetzte. Sein Buch ist auf jeden Fall eine Fundgrube für Jazzhistoriker mit vielen Anekdoten und Erinnerungen, die dieser Rezensent hier zum ersten Mal gelesen hat; zugleich ist es eine abwechslungsreiche Zeitzeugensammlung einer Szene, die bislang nur mäßig dokumentiert ist.

Wolfram Knauer (Juli 2016)


Invitation to Openness. The Jazz & Soul Photography of Les McCann, 1960-1980
herausgegeben von Pat Thomas & Alan Abrahams
Seattle 2015 (Fantagraphics Books)
200 Seiten, 39,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-60699-786-4

2015mccannMusikerfotos – es gibt eine ganze Reihe an Jazzmusikern, deren Hobby auf Tournee das Fotografieren war. Milt Hinton ist der wohl namhafteste unter ihnen, doch jetzt zeigt ein neues Buch, dass auch Les McCann nicht nur gute Ohren, sondern auch ein exzellentes Auge hat. Das nämlich gehört dazu, auf dass das Buch eines fotografierenden Musikers nicht einzig wegen der Vorteile interessant ist, die sich daraus ergeben, dass der Mann hinter der Kamera zugleich auf der Bühne sitzt und von den Objekten seiner Begierde, also anderen Musikern, nicht als Störenfried, sondern als einer der ihren anerkannt wird.

Im Vorwort von “Invitation to Openness” erzählt A. Scott Galloway kurz die biographischen Stationen Les McCanns: geboren in Lexington, Kentucky, über Tuba und Snare-Drum zum Klavier gelangt, zusammen mit Eddie Harris mit “Compared to What” über Nacht einen Welthit geschaffen, der eine Solokarriere bedingte, die bis in jüngste Zeit anhielt. Pat Thomas erzählt die Genese des Buchprojekts: Er hatte gerade eine CD-Wiederveröffentlichung des McCann-Klassikers “Invitation to Openness” organisiert und McCann zu Hause besucht, als er in einer Ecke einen Stapel zerkratzter Abzüge von Fotos entdeckte, die der Pianist in den 1960er und 1970er Jahren gemacht, aber nie veröffentlicht hatte. Im Interview mit Thomas erzählt McCann, dass es in seiner Familie immer Fotoapparate gegeben habe. Er selbst habe sich eine Nikon gekauft und begonnen, auf der Bühne und daneben Menschen abzulichten. Als er sich ein Haus in Hollywood leisten konnte, richtete er sich eine Dunkelkammer ein und begann seine Aufnahmen selbst zu entwickeln.

Das Bemerkenswerteste an den Bildern ist vielleicht die Perspektive. Gerade die Bühnenaufnahmen sind eben nicht von vorn gemacht, aus dem Bühnengraben oder der ersten Reihe, sondern oft von der Seite oder leicht von hinten. Viele Bilder zeigen die Musiker backstage, in Vorbereitung fürs Konzert, in Freizeitklamotten beim Soundcheck. Das entspannte Lächeln Count Basies zeigt die entspannte Vertrautheit. Andere eindrucksvolle Motive sind etwa: Stanley Clarke mit abwartend-konzentrierter Miene (und einer denkwürdigen Frisur); Ben Webster am Flügel; Dexter Gordon und Joe Zawinul vor einem Motel; die junge Tina Turner; das Publikum aus Gefangenen im Cook County Jail; Cannonball Addlerley, der an einer Zigarette zieht, sein Gesicht halb in Rauch gehüllt. Neben Musikern gibt es Bilder von Schauspielern (Jack Lemmon, Bill Cosby, Jerry Lewis), Politikern (Jimmy Carter, Jesse Jackson, Stokely Carmichael, Dr. Martin Luther King), Sportlern (Muhamad Ali, Pelé), sowie einige wenige Bilder, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Doch auch diese Aufnahmen, etwa das eines alten Mannes mit Fahrrad, hätten das Potential zu Plattencovers.

Les McCann gibt zu einzelnen der Bilder Kommentare ab, in denen er Kolleginnen oder Kollegen erinnert. Auch die Identifizierung der Motive basiert auf McCanns Erinnerung, wobei es Motive gibt, zu denen er nicht wirklich mehr weiß, wo oder wann sie gemacht wurden, und zumindest eine falsche Zuschreibung (nein: das ist NICHT Eberhard Weber auf den beiden Fotos mit Sarah Vaughan, sondern Bob Magnusson!). Beim Durchblättern des Bandes kommt einem immer wieder in den Sinn, dass das Leben eines Jazzmusikers eben aus mehr besteht als der Bühnenwirklichkeit. Les McCanns “Invitation to Openness” bietet damit einen lohnenswerten und allemal mit Soul gefüllten Blick hinter die Kulissen sowohl der Musiker, die er darin dokumentiert, als auch seiner eigenen Konzertarbeit.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Bitches Brew
von George Grella Jr.
New York 2015 (Bloomsbury Academic, 33 1/3)
128 Seiten, 14,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-6289-2943-0

D2015grellaie Buchreihe 33 1/3 des Bloomsbury-Verlags behandelt eigentlich Rockgeschichte. Jeder Band ist einem separaten Album gewidmet und wird historisch kontextualisiert. Miles Davis wurde jetzt die Ehre zuteil, als erster Jazzer in die Reihe aufgenommen zu werden, die immerhin schon mehr als 100 Bände umfasst. Sein Album “Bitches Brew” von 1969 schrieb eben nicht nur Jazz-, sondern genauso auch Popgeschichte.

In seinem ersten Kapitel betont George Grella, wie schwer es ist, “Bitches Brew” klar einem Genre zuzuordnen. Miles wollte weder ein klares Jazz- noch ein dezidiertes Rockalbum machen. “Bitches Brew”, meint Grella, sollte man daher am ehesten als experimentelle Musik hören, als Versuch, den überkommenen Normen von sowohl Jazz wie auch von Rock zu entkommen.

Im zweiten Kapitel erklärt Grella die seltsame Sektenhaltung, die Jazzrezeption manchmal annehmen kann und gegen die sich Miles Davis von früh an wehrte. Geht nicht gibt’s nicht, sei sein Motto gewesen, und Popsongs nahm er bereits lange vor “Time After Time” auf. Miles, fasst Grella zusammen, spielte Pop nicht um Popstar zu sein, sondern um Musik zu machen. Er erzählt von der Zeit des Trompeters mit Charlie Parker, vom Capitol-Nonet, das irgendwie die Geburtsstunde des Third Stream wurde, sowie von “Kind of Blue” und “Sketches of Spain”.

In Kapitel 3 erklärt Grella, welch völlig anderen Ansatz Miles an die Produktion eines Albums hatte, bei dem er sich ab 1968, ab dem Album “Circle in the Round”, vorbehielt, die musikalischen Versatzstücke nach Belieben zusammenzuschneiden.

In den Kapiteln 4 und 5 schließlich steht “Bitches Brew” selbst im Mittelpunkt, wenn Grella über Titel und Covergestaltung geflektiert und die einzelnen Titel beschreibt. Das liest sich stellenweise wie eine Sportreportage: wer, wann, was, Tonart, Einsatz, Intensität. Grella verweist auf die oft nicht wahrnehmbare Editiertechnik Teo Maceros und darauf, wie dies nur deshalb möglich war, weil alle Musiker immer deutlich aufeinander hörten. In “Pharoah’s Dance” benennt er eine “hippe Blueslinie bei 4:46” oder eine Coda, die “fast Beethoven’schen Charakter” habe. Im Titeltrack zeigt er auf viele der Nahtstellen, und dann verweist auf die Unterschiede der beiden Platten des Doppelalbums: “eine, um dich wegzublasen, die andere, um deinen Kopf wieder geradezurücken”.

Im letzten Kapitel widmet Grella sich den Nachwirkungen des Albums, in der Kritik genauso wie im Jazz. Mit Verweis auf Wynton Marsalis erklärt er, dass da zwei recht unterschiedliche Sichtweisen der Zukunftfähigkeit von Musik aufeinandergeprallt seien, um dann Miles’ Konzept auf dem kleinsten Nenner zusammenzufassen: “Indem er Rhythmus, Puls und Harmonien – und auf Tonband eingespielte Kompositionen – verwandte, die absichtlich nicht zu einer Auflösung fanden, organisierte Miles Zeit: und sowohl Form wie auch Zeit finden damit in der Musik zusammen”.

Eine kommentierte Diskographie beschließt das Büchlein, das sich wie ein sehr ausführlicher Plattentext mit vielen zusätzliche Informationen liest. Ja, Grella gelingt die Kontextualisierung, und doch kommt er der Musik selbst nur bedingt nahe, auch weil seine analytischen Anmerkungen etwas zu oberflächlich bleiben, weil er quasi nur parallel zur Musik beschreibt, was man eh hört, anstatt zusammenzufassen, was das alles “bedeutet”. Trotz dieser Einschränkung aber ist Grellas Büchlein ein lohnenswerter Begleiter zur nächsten abendlichen Abhörsession dieses Miles Davis-Klassikers.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Jazz Basel. Vier Jahrzehnte Stars und Szene
herausgegeben von Offbeat = Urs Ramseyer & Ruedi Ankli & Peewee Windmüller & Urs Blindenbacher
Basel 2015 (Christoph Merian Verlag)
180 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-85616-695-5

2015offbeatDie Geschichte regionaler Jazzszenen kann man auf unterschiedliche Weise erzählen. Man kann nostalgisch und sehnsuchtsvoll zurückblicken und von alten Zeiten schwärmen. Oder man kann auch Zurückliegendes vor allem aus dem Wissen um die Gegenwart verstehen.

Die Macher des offbeat-Festivals gehen in ihrem Buch über “Jazz Basel” den zweiten Weg. Das opulent bebilderte Buch widmet einzig sein Eingangskapitel (von Bruno Spoerri) den Anfängen des Jazz in Basel von den 1920er bis in die 1970er Jahre. 1974 gründete sich der Verein und die Konzertreihe jazz in basel, 1990 schließlich das Festival offbeat. Das Buch blickt auf die Musiker, die seither auf dem Festival spielten, aus skandinavische Gäste oder gesamtdeutsche Schwerpunkte, auf Jazz aus dem Mittelmeerraum und einen lateinamerikanischen Fokus, auf US-amerikanische Bands und die Schweizer Musiker, die hier auch immer zu hören waren. Es gibt Anekdoten aus dem Alltag von Festivalorganisatoren und Berichte von Backstage. Die Auswirkungen des Festivals in Stadt und Region werden thematisiert, Schulprojekte etwa oder die Präsenz im örtlichen Rundfunk. Und schließlich wird mit Stolz auf die Zusammenarbeit des offbeat Festivals mit dem Jazzcampus Basel und dem Club The Bird’s Eye berichtet.

Das alles ist kurzweilig geschrieben, vordergründig wohl vor allem für regionale Leser interessant, daneben aber genauso ein Bericht über die Verankerung einer regionalen wie internationalen Szene, aus dem auch Veranstalter anderswo etwas lernen können. Und schließlich sind da noch die 86 schwarz-weißen Abbildungen, Fotos von Bernhard Ley, Peewee Windmüller und Röné Bringold, die die Erinnerungen an die Geschichte von offbeat ungemein lebendig werden lassen.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher
von Detlef Siegfried
Göttingen 2015 (Wallstein)
455 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1673-7

2015siegfriedErnest Borneman war eine Mehrfachbegabung, so sehr, dass es genügend Menschen gaben, die dachten, es handele sich wahrscheinlich um mehrere Personen, die nur zufällig denselben Namen hätten. In den 1970er und 1980er Jahren war Borneman ein regelmäßiger Gast in deutschen Talkshows, wann immer es um das Thema Sexualität ging, hatte daneben eine Sex-Beratungskolumne in der Neuen Revue. Als Soziologe hatte er sich mit seinem Buch Das Patriarchat 1975 einen Namen gemacht. Vor seiner Beschäftigung mit Frauenbewegung und Feminismus hatte Borneman eine Karriere im Filmgeschäft gemacht, arbeitete für das National Film Board of Canada, für die UNESCO in Paris und war Programmdirektor des Freien Fernsehens, der ersten privaten Fernsehanstalt, die nach ihrem Verbot durch die Adenauer-Regierung quasi durch das ZDF abgelöst wurde. Und noch früher war Borneman nicht nur Jazzliebhaber und -experte, sondern einer der ersten Jazzforscher, ein Kenner des Jazz, der diese Musik zeitlebens als transkulturelle künstlerische Aussage verstand und 1944 mit seinem Artikelreihe “The Anthroprologist Looks at Jazz” eine der ersten übers Anekdotische hinausreichenden Kulturgeschichten des Jazz verfasste.

Borneman schied im Juni 1995 aus dem Leben. Sein Archiv ist in der Berliner Akademie der Künste untergekommen; jetzt hat der Historiker Detlef Siegfried die Biographie des vielfältigen Forschers vorgelegt. Diese hat er klar nach den verschiedenen Feldern gegliedert, in denen Borneman tätig war, überschrieben “Hören. Die Ethnologie des Jazz”, “Sehen. Das Leben auf der Leinwand” und “Berühren. Sex und Gesellschaft”.

Der 1915 in Berlin geborene Ernst Bornemann – wie er bis zu seiner Emigration 1933 hieß – hatte bereits 1930 Bertolt Brecht kennengelernt, als Mitglieder von Berliner Schulchören zu Proben des Lehrstücks Der Jasager geladen worden waren. Er und Brecht freundeten sich an, Brecht half ihm bei der Abfassung seines ersten Theaterstücks und Borneman Brecht bei einer Neuübersetzung des Dreigroschenromans ins Englische. Siegfried, der zu Beginn seines Buchs anschaulich erklärt, wie er sich durch Bornemans eigene “Autofiktionen”, wie er sie nennt arbeiten musste, durch falsche Fährten also, die Borneman aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten seiner Karriere legte, beschreibt Bornemans Exil als “nicht nur Flucht-, sondern auch Möglichkeitsraum”.

In London war Borneman regelmäßig bei Jazzkonzerten anzutreffen, verkehrte außerdem in einem Kreis linker und schwarzer Intellektueller. Bereits Mitte der 1930er Jahre hatte er einen Kriminalroman geschrieben, arbeitete bald auch an einem Drehbuch für einen möglichen eigenen Film, in dem auch der Jazz eine Rolle spielen sollte. Im Sommer 1940 wurde er als “feindlicher Ausländer” interniert, doch bereits zuvor produzierte er seine erste Rundfunksendung. Nach seiner Internierung wurde er nach Kanada deportiert, wo er nach seiner Entlassung beim National Film Board Arbeit fand.

Er knüpfte Kontakt zu Sammlern und Jazzkennern in den USA und sammelte Material für eine mögliche musikwissenschaftliche Dissertation und ein Buch zum Thema “American Negro Folk Music”, das von zwei Verlagen zur Publikation angenommen, dann aber wegen kriegsbedingten Papiermangels nicht gedruckt wurde. In seinen Jazzarbeiten, für die Borneman sich bei dem bekannten Musikethnologen Melville J. Herskovits um ein Stipendium bemühte, ging es, wie Siegfried zusammenfasst, “um zwei Themen: erstens um die Verbindungen von afroamerikanischer Volksmusik und moderner Tanzmusik der Gegenwart, und zweitens um die Verschränkungen von sozialen Verhältnissen und Populärkultur”. 1944 begann Borneman seine achtteilige Artikelserie “The Anthropologist Looks at Jazz”, die in der Zeitschrift The Record Changer erschien, der er bald auch als Mitherausgeber angehörte. Er schlug sich in der Debatte um den Bebop zwar auf die Seite des “authentischen” Jazz, konnte aber der romantischen Rückwärtsgewandtheit vieler der Traditionalisten wenig abgewinnen und versuchte daher immer wieder zwischen den Lagern zu vermitteln.

Mitte der 1940er Jahre lebte er in Paris, interviewte Louis Armstrongs Band anlässlich des ersten Jazzfestivals in Nizza im Jahr 1948, und freundete sich mit amerikanischen Expatriates und französischen Musikern wie Claude Bolling oder Boris Vian an. Er schrieb für den britischen Melody Maker und produzierte 1953 mit Betty Slow Drag einen experimentellen Kurzfilm, der seine beiden großen Interessen Jazz und Film miteinander verbinden sollte. Für den Melody Maker berichtete Borneman auch über den Jazz in Westdeutschland, konnte aber, selbst als Joachim Ernst Berendt versuchte ihn mit zeitgenössischen Musikrichtungen der 1960er Jahre anzufreunden, indem er ihn in ein Konzert John Coltranes mitnahm, mit dem modernen Jazz wenig anfangen.

Siegfried widmet Bornemans langer Auseinandersetzung mit den karibischen Wurzeln des Jazz ein eigenes Unterkapitel und berichtet davon, wie der spätere Beat Club von Radio Bremen auf Bornemans Ideen zurückzuführen gewesen sei. Er zeigt, dass Borneman in seinen Schriften einige Debatten angestoßen hatte, die in der Jazzkritik erst in den 1960er Jahren wirklich ausgetragen wurden, als er selbst an dieser Diskussion nicht mehr selbst teilnahm. Letzen Endes mag Borneman nicht mit allen seiner Thesen Recht gehabt haben, ohne Zweifel aber sei er ein Wegbereiter der internationalen Jazzforschung gewesen.

Der Jazz spielt auch in den weiteren Lebens- und Arbeitsphasen für Borneman eine wichtige Rolle, und Bornemans kritischer Geist, den Siegfried am Beispiel des Jazz ausgiebig beschrieben hat, lässt sich auch in diesen Bereichen zeigen. Detlef Siegfrieds Buch ist dabei ein faktenreicher Band, der biographische Stationen und Diskurse, an denen Borneman beteiligt war, laufend miteinander verschränkt. Ganz sicher war Borneman einer der schillerndsten Vordenker des Jazz; Siegfrieds Schilderung sowohl seines Lebens als auch der Diskussionen, an denen sich Borneman sein Leben lang beteiligte, zeigt ihn aber darüber hinaus als einen vielseitig gebildeten, einfachen Erklärungen zutiefst skeptisch gegenüberstehenden, zur Offenheit des Denkens neigenden Forscher.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Teddy Wilson. 19 Selected Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2015 (Blue Black Jazz)
44,95 Euro

Boogie Woogie, Volume 2. 17 Original Boogie Woogie and Blues Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2014 (Blue Black Jazz)
46,85 Euro
Zu beziehen über www.blueblackjazz.com

Paul Marcorelles hat bereits eine ganze Reihe an Transkriptionen von Pianisten des frühen Jazz vorgelegt, vorzugsweise von Musikern, die im Stride- oder Boogie-Woogie-Stil spielten. Seine jüngsten Veröffentlichungen widmen sich dem Swing-Stil Teddy Wilsons auf der einen und dem Repertoire einiger der Boogie-Woogie-Größen der frühen 1940er Jahre auf der anderen Seite.

2015marcorelles_wilsonFür Teddy Wilson hat Marcorelles sich Soli zwischen 1934 und 1946 ausgesucht, schnelle virtuose Titel wie “Rosetta”, den “Tiger Rag” oder “When You and I Were Young, Maggie” sowie Balladen wie “Don’t Blame Me”, “Out of Nowhere” oder “Body and Soul”. Seine Transkriptionen sind exakt, gut lesbar, reine Notationen ohne weitere Spielanweisungen oder analysierende Harmoniesymbole. Sie sind zum Nachspielen gedacht, brauchen allerdings Pianisten, die zum einen keine Probleme mit den bei Wilson so beliebten Dezimengängen der linken Hand haben und zum zweiten technisch fortgeschritten sind, um die virtuosen Arpeggien und die die Rhythmik aufbrechenden Läufe tatsächlich zum Swingen zu bringen. Wilsons linke Hand allein kann jedem Pianisten helfen, die antreibende Kraft des Swingens zu begreifen. Auch das Studium seiner Voicings lohnt, deren Alterationen den Akkorden zusätzliche Schwebungen verleihen. Wie immer bei Transkriptionen von eigentlich improvisierten Jazzsoli ist es mehr als hilfreich, sich die Soli auf Platte (oder über Streamingdienste) anzuhören.

2015marcorelles_boogieIm zweiten der beiden jüngst veröffentlichten Bände versammelt Marcorelles Transkriptionen von Hersal Thomas (“Hersal’s Blues”), Clarence ‘Pinetop’ Smith (“Pinetop’s Boogie Woogie”), Jimmy Yancey (etwa den “Five O’Clock Blues”), Pete Ammons (z.B. “Rock It Boogie”), Meade Lux Lewis (“Chicago Flyer” und “Glendale Glide”), Albert Ammons (etwa seinen “Swanee River Boogie”), Sammy Price (133rd Street Boogie”) und Pat Flowers (“Eight Mile Boogie”). Die rhythmischen Verschiebungen zwischen Bassfiguren und rechter Hand im Boogie Woogie sind dabei noch weit schwerer zu “lesen” und bedürfen noch stärker des Höreindrucks, um sie danach vom Papier in die Tasten zu übertragen und erlauben im Idealfall – und das wäre es ja eigentlich immer im Jazz – irgendwann das Loslassen und das eigene Erfinden melodischer und rhythmischer Muster, die eigene Improvisation.

Marcorelles’ neue Bände seien jedenfalls jedem interessierten Pianisten empfohlen als Übe- genauso wie Studienmaterial. Marcorelles bietet auf seiner Website übrigens alle insgesamt 202 Transkriptionen dieser wie früher erschienener Bände auch einzeln zum Download als PDF-Datei an

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Hot Music, Ragmentation, and the Bluing of American Literature
von Steven C. Tracy
Tuscaloosa 2015 (The University of Alabama Press)
537 Seiten, 64,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8173-1865-9

2015tracySteven C. Tracy ist Literaturwissenschaftler, Professor für Afro-American Studies, aber auch ein Blues-Harp-Spieler, der bereits in Vorgruppen für B.B. King, Muddy Waters und andere Stars der Szene auftrat. In seinem umfangreichen Buch stellt er die afro-amerikanische Musik der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, also Jazz und Blues, als Referenzpunkt dar, der helfen könne, die amerikanische Literaturgeschichte jener Zeit besser zu verstehen. Es geht ihm dabei nicht einzig um Romane oder Dichtung, die sich konkret und thematisch mit Musik beschäftigen, sondern auch um den Einfluss von Klanglichkeit, von Virtuosität, von improvisatorischer Haltung auf die amerikanische Literatur der Jahre bis 1930. Er greift hierfür immer wieder zurück auf konkrete Aufnahmen, um etwa Beispiele der afro-amerikanischer Stimme, des afro-amerikanischen Rhythmus, der Griot-Funktion des Bluessängers, der Bedeutung von Wiederholungen, der tiefen Doppeldeutigkeit, der politischen Untertöne herauszustreichen, die eben keine rein afro-amerikanischen Untertöne seien, sondern Befunde für den Zustand der gesamten amerikanischen Gesellschaft. Tracy verbindet die Genres, folkloristischen Blues, modernistischen Jazz, um aus dem Mix der Aufnahmen heraus, auf die er sich bezieht, neue Argumente zu entwickeln, die abseits der üblichen Beschreibung von Jazz-, Blues- oder Kulturgeschichte liegen. Er untersucht daneben auch Film- oder klassische Musikgeschichte nach Einflüssen von oder Analogien zu afro-amerikanischer Musik und findet den nachhaltigsten Widerhall außerhalb der Musik schließlich in der Literatur, bei T.S. Eliot, William Carlos Williams, Hart Crane, Gertrude Stein, Ezra Pount, und bei Abbe Niles, Langston Hughes, Countee Cullen, Zora Neale Hurston und anderen Dichtern und Schriftstellern der Harlem Renaissance.

Tracys schnelle Wechsel zwischen den Diskursen sind dabei sowohl inspirierend wie auch, da sie ein häufiges Vor- und Zurückblättern erfordern, zeitweise ermüdend. Sein intertextueller Ansatz ist auf jeden Fall ein Beispiel, wie sich aus dem Studium afro-amerikanischer Musik Aussagen über weit mehr als diese treffen lassen, wie stark tatsächlich diese Musik bereits in den ersten 30 Jahren des 20sten Jahrhunderts ihren Niederschlag im Denken, Handeln und Schreiben gefunden hat.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Friedel Keim
Das große Buch der Trompete (3)
Diskografie, Fotografien, Statistik, Nachträge
Fortsetzung des Trompeter-Lexikons, Band 3
Mainz 2015 [Eigenverlag
554 Seiten, 33,90 Euro
nur direkt zu beziehen über
Friedel Keim, e-mail: ruf.keim@t-online.de

2015keimDer Ur-Maizer Trompeter Friedel Keim hat nach den ersten beiden Auflagen von 2005 und 2009 nun den dritten Band seiner Trompeterbibel vorgelegt, ein sorgfältig recherchiertes Kompendium, das die verschiedensten Seiten des Instruments und seiner Musiker beleuchtet und dessen Spektrum von Klassik über Jazz bis zur volkstümlichen Musik reicht.

Keim kennt dabei keine Berührungsängste. Er versteht es genauso, sich über die Kunst der Barocktrompete auszulassen wie über die Probleme, die viele Jazzer mit der Ästhetik eines Wynton Marsalis haben. Und neben den großen Stars finden auch die Satzbläser wieder Erwähnung oder Musiker der aktuellen Szene.

Der lexikalische Teil von Band 3 enthält biographische Artikel von A wie “Abbott, Goivinda” bis Z wie “Zonshine, Michael”. Neben diesen teils ausführlichen Portraits gibt es Anmerkungen zur Interpretation von Werken aus Klassik, Marschmusik und anderen Genres, darunter auch analytische Anmerkungen und Notenbeispiele aus dem Jazzbereich, etwa eine Transkription des “West End Blues” in der Version von Louis Armstrong und seiner Hot Five von 1928, Dizzy Gillespies “Night in Tunisia”, oder Maynard Fergusons Version von “Body and Soul”. Korrekturen und Ergänzungen zu den beiden ersten Bänden erhalten ein eigenes Kapitel, und wieder gibt es den Block “Wissenswertes rund um die Trompete”, der etwa Informationen über das “Gansch-Horn” gibt oder über das flexibrass-Mundstück, über die Vuvuzela oder über die Trompete auf historischen Briefmarken, über den Trompetenbaum oder diverse Filme, in denen die Trompete im Mittelpunkt steht. Schließlich findet sich noch ein umfassendes Kapitel zu Horst Fischer, jenem legendären deutschen Trompeter, dessen Prolog zu einer Autobiographie Keim abdruckt, außerdem eine alphabetische Auflistung aller ihm bekannter Fischer-Aufnahmen.

Wie bereits in den vorherigen Bänden findet sich auch in Band 3 vieles, was sonst kaum irgendwo erierbar wäre. Friedel Keim weiß um Geburts- und Sterbedaten, berichtet über die Stars, aber eben genauso über die “kleinen” Vertretern des Instruments, über Satzspieler oder junge Musiker, die durchaus auch zwischen den stilistischen Welten leben und arbeiten, über Dixieland- und Swingtrompeter, die eher der Amateur- als der Profiszene angehören, aber dennoch gute Musiker sind, über Musiker von denen man noch nie gehört hat oder aber auch Musiker, die man persönlich kennt, aber nie in einem Lexikon vermutet hätte, weil ihr Arbeitsschwerpunkt doch eher regional begrenzt ist. Keim hat sich ihnen allen angenommen mit einem Vollständigkeitsanspruch, der jede Kritik an der Auswahl im Keim ersticken ließe (man entschuldige das Wortspiel). Und gerade in den Einträgen zu den kleinen Vertretern der Trompete erkennt man einmal mehr die “labor of love” dieses Buches, das zu alledem noch exzellent lesbar ist. Kein kritisches Buch vielleicht, dafür ein verlässliches Nachschlagewerk für jeden, der sich für die Trompete interessiert: eine Trompeterbibel fürwahr!

(Wolfram Knauer, Februar 2016)


 

Mein Onkel Pö
von Holger Jass
Hamburg 2015 (Offline-Verlag)
137 Seiten, 25,55 Euro
ISBN: 978-3-00-051272-8

2015jassEinen ersten Hinweis auf den Inhalt dieses Buchs gibt bereits der Preis: 25,55 Euro, entsprechend einem Cent pro Nacht im legendären Club, wie Holger Jass in der Presseankündigung zum Buch erklärt. Holger Jass hatte das Onkel Pö (Onkel Pö’s Carnegie Hall, wie es damals offiziell hieß) Anfang 1979 vom Vorbesitzer Peter Marxen übernommen, der ihn bei der Übergabe warnte: “Ich muss dich warnen. Pö-Jahre sind wie Hundejahre. Die zählen siebenfach.” Jass hielt es bis Anfang 1986 aus, führte das “Pö” im Sinne seines Kultstatus’ weiter und hat jetzt ein kurzweilig-amüsantes Buch über seine Erlebnisse mit Musikern, Medienmenschen, Kollegen und dem Publikum geschrieben, das ihm die ganzen Jahre über treu blieb, aus dessen Reihen sich aber partout kein Interessent für eine Nachfolge finden ließ.

“Jetzt macht Jass den Jazz im Onkel Pö” titelte das Hamburger Abendblatt, als Jass 1979 übernahm. Sein Buch handelt natürlich auch von Jazz. Er beschreibt, wie Michael Naura, damals Jazzredakteur des NDR viele der Jazzabende mitschnitt, die sich das Pö ansonsten kaum hätte leisten können. Den Flügel im Club hatte kein geringerer als Joachim Kühn ausgesucht und eingeweiht. Ansonsten bevölkern Jazzer wie Freddie Hubbard, Elvin Jones, Pat Metheny, Dexter Gordon die Seiten, aber auch Tom Waits, Charlie Watts, Joe Cocker, Hannes Wader, Truck Stop und natürlich Udo Lindenberg, der dem “Pö” in einem seiner Hits ein Denkmal setzte.

“Bei Onkel Pö spielt ‘ne Rentnerband”, hieß es da, “seit 20 Jahren Dixieland” – aber mit Dixieland ließ sich so ein Schuppen nicht finanzieren, bilanziert Jass trocken … obwohl man das Wort “trocken” selbst bei einer Rezension dieses Buchs nicht in den Mund nehmen sollte, denn trocken ging es ganz sicher nicht zu im Pö. Auch davon handelt das Buch, von den skurrilen Erlebnissen mit den Musikern, vom gesteigerten Alkoholkonsum, vom Pflegen einer Szene und davon, dass man, um Wirt zu sein, ein dickes Fell und viel Humor benötigt. Pineau ist das Zauberwort, jene süßliche Mischung aus Traubenmost und Cognac, die Jass als Allheilmittel vieler Probleme genauso beschreibt wie als Ursache anderer. Seine Anekdoten machen klar, dass man als Wirt und täglicher Konzertveranstalter selbst nicht ganz ohne solche “Medizin” auskommt: ein divenhafter Auftritt Freddie Hubbards etwa oder jener Abend mit Dexter Gordon, den Jass allerdings erst aus drogenbedingtem Tiefschlaf im Hotel um die Ecke wecken musste, den er für seine 57 Jahre als “bös klöterich” beschreibt, der dann aber nach einem dreifachen Whiskey ein denkwürdiges Konzert gegeben habe.

Sehr viel tiefer geht es sicher nicht in seinen Erinnerungen, die er mit viel Augenzwinkern und der humorvollen Abgeklärtheit der zeitlichen Distanz schreibt, und bei denen man schon mal über die eine oder andere schlüpfrige Anekdote hinweglesen muss. Bei all denen, die dabei waren in diesem zwischen Alternativszene und Hochkultur angesiedelten Zauberort in Eppendorf, wird er warme Erinnerungen wecken. Man meint den Fusel wieder zu schmecken und die dicke Luft wieder zu riechen, vor allem aber erinnert man sich an die musikalischen Hochgenüsse, die das Onkel Pö so oft und so viel vermittelte. Für diejenigen, die nicht dabei waren, gibt Jass ein launiges Portrait, einschließlich etlicher Fotos, ein Portrait, das stellenweise einer Filmdokumentation über verwunschene Zeiten ähnelt, bei denen man eigentlich gern dabei gewesen wäre.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Rhythm Is My Beat. Jazz Guitar Great Freddie Green and the Count Basie Sound
von Alfred Green
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
325 Seiten, 75 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4246-3

2015greenCount Basies All American Rhythm Section gilt als die swingendste Rhythmusgruppe des Jazz. Die Art, wie Pianist Basie, Gitarrist Freddie Green, Bassist Walter Page und Schlagzeuger Jo Jones rhythmisch und harmonisch ineinandergriffen, um den vorwärtstreibenden Schwung zu schaffen, der zu ihrem Markenzeichen wurde, besaß so viel an Energie, dass Rhythmusgruppen überall auf der Welt sie zum Vorbild nahmen. Den wichtigsten Anteil an dieser Energie hatte, wie Basie selbst, aber auch zahllose andere Musiker bezeugen, Freddie Green, der dem Count Basie Orchester von 1937 bis zu Basies Tod im Jahr 1983 und der Band noch ein paar Jahre danach bis zu seinem eigenen Tod 1987 angehörte. Von Nichtmusikern wurde Green schon mal dafür bemitleidet, ein ganzes Leben lang nie ein wirkliches Solo gespielt, dafür immer nur “schrumm schrumm” gemacht zu haben, vier Schläge pro Takt, durchgehend vom ersten Akkord bis zum letzten; und doch ist ihm jemand kaum in der Kunst des Rhythmus nahegekommen, den dieser Vierschlag erzeugen konnte.

Jetzt hat Alfred Green, der Sohn des Gitarristen, eine Biographie vorgelegt, die weit mehr ist als die persönliche Erinnerung eines Verwandten. Greens Buch schafft den Spagat zwischen Insiderwissen, persönlicher Betroffenheit und nüchterner Beschreibung der Lebens- und Arbeitswirklichkeit eines Musikers der Bigbandära.

Die Geschichte beginnt in Charleston, South Carolina, wo Freddie Green 1911 geboren wurde, in einer Stadt mit einer überaus lebendigen schwarzen Musikszene. Nachdem er die erste Ukulele gegen ein viersaitiges Banjo ausgetauscht hatte, sammelte er erste musikalische Erfahrungen mit Freunden aus dem Jenkins Orphanage, einem berühmten Waisenhaus in Charleston, aus dem etliche spätere Musiker hervorgingen. Mit einer dieser Bands reiste er die Küste hoch bis nach Maine, wechselte irgendwann vom Banjo zur Gitarre und spielte mit dem Saxophonisten Lonnie Simmons und dem Stride-Pianisten Willie Gant. Als der Impresario John Hammond ihn hörte, empfahl er seinem Schützling Count Basie, sich den Gitarristen für sein Orchester zu sichern. Im Januar 1937 kam es zum Vorspiel erst in kleinem Kreis, dann mit der Bigband, und am 1. Februar begann sein mehr als 45-jähriges Engagement als Motor des Count Basie Orchestra.

Alfred Green erzählt nicht nur die Lebens- und Arbeitsstationen Greens, sondern nähert sich auch seinem Stil, fragt nach Einflüssen, erklärt die Besonderheit des Green’schen Sounds. Der Autor wurde im Februar 1938 geboren, im selben Jahr beendete seine Mutter ihre Beziehung zu seinem Vater, sicher auch, weil der inzwischen eine Romanze mit Billie Holiday begonnen hatte, die für kurze Zeit mit Basie reiste.

Green beschreibt die verschiedenen Besetzungen der Basie-Band der 1930er und 1940er, die Schwierigkeiten des Musikerlebens, und die zunehmenden Probleme der Musikindustrie, die schließlich dazu führten, dass Basie sein Orchester auflöste und kurze Zeit mit einem Sextett – ohne Gitarre – auftrat. Sein Vater nahm die Entscheidung nicht hin und tauchte einfach beim nächsten Gig des Sextetts mit seiner Gitarre auf. “Was machst du denn hier?”, fragte Basie, und Green antwortete, “Was glaubst du wohl? Du hast hier einen Gig, richtig? Ich habe dir die besten Jahre meines Lebens gegeben und du glaubst, mich einfach beiseiteschieben zu können? Keine Chance!”

Während die 1930er- und 1940er-Jahre-Band insbesondere ein Solistenorchester war, wurde der Sound der 1950er Jahre-Band durch ihre Arrangeure geprägt. Alfred Green berichtet, wie Green seinen Platz in den Arrangements fand, wie er sich zu den Schlagzeugern positionierte, und wie er seine Aufgabe immer als die eines Unterstützers der anderen gesehen habe.

Neben den Einsichten in Greens Karriere sind es vor allem die technischeren Kapitel, die im Buch faszinieren. Alfred Green beschreibt etwa die Spannung der Saiten, die besondere Haltung, die Green benutzte, bei der sein Instrument fast auf seinem Schoß lag, spricht über die Tatsache, dass Green kaum je mit nicht-akkordischen Soli zu hören war, über seine wenigen Aufnahmen unter eigenem Namen, über Gigs für andere Bandleader und anderes mehr.

Einem dicken Block mit seltenen Fotos folgen schließlich noch Analysen von Michael Petterson, M.D. Allen und Trevor de Clerq sowie Zitate anderer Gitarristen über Green, schließlich eine ausführliche Diskographie aller seiner Aufnahmen.

Es gibt eine Reihe an Büchern über das Count Basie Orchester, darunter natürlich auch Basies eigene Autobiographie, verfasst mit Hilfe Albert Murrays. Keines dieser Bücher aber bietet einen so persönlichen Einblick in die Band wie das Buch Alfred Greens über seinen Vater. Der Gitarrist Freddie Green war wahrscheinlich der wichtigste Musiker des Basie Orchesters, der nicht nur für den durchgehenden Swing und eine rhythmische Verlässlichkeit stand, sondern der Band auch, was oft übersehen wird, ihren ganz spezifischen Sound verlieh, der sie aus der Menge ihrer Konkurrenten auf dem großen Bigbandmarkt hervorhob. Greens Buch gelingt in diesem Umfeld gleich dreierlei: Er schreibt eine Biographie des Gitarristen Freddie Green, er erzählt Details aus der Bandgeschichte Count Basies (und damit aus dem Alltag der Swingära), und er teilt sehr persönliche Erinnerungen an seinen Vater mit dem Leser.

Ihm gelingt dabei der schwierige Spagat, Beobachter und Sohn zur selben Zeit zu bleiben. Zu Beginn liest sich das alles wie eine interessante, aber eher distanzierte Lebensdarstellung, bis Green aus einem Gespräch zitiert, das er mit seiner Mutter geführt hatte, und bei dem einen schlagartig klar wird, dass der Autor ja Sohn des Objekts seines Berichts ist, dass er mit dem Wissen eines Familienglieds, sicher auch mit eigener Betroffenheit schreibt. Solche Perspektivwechsel gelingen ihm hervorragend, wie man in etlichen bewegenden Passagen erkennen kann. Green verschweigt macht aus seinem Vater nirgends einen Heiligen, sondern stellt ihn als Menschen dar, der nach dem Besten strebte, aber durchaus fehlbar war.

“Rhythm Is My Beat” ist ein sehr empfehlenswertes Buch, über Freddie Green, über Count Basie, über die Swingära und vieles mehr. Alfred Greens Buch gibt einen tieferen Einblick als vieles, was man sonst so liest zu diesem Thema und ist eine spannende Lektüre für Fans, genauso wie für Musiker oder Forscher über diese Musik.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Keith Jarrett. Eine Biographie
von Wolfgang Sandner
Berlin 2015 (rowohlt)
362 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-780-1

2015sandner“Mit freundlichen Künstlern ist die Welt nicht gesegnet”, beginnt Wolfgang Sandner sein Buch, das er mit Wohlwollen des Pianisten angegangen war, bis er mit diesem nach einem Konzert aneinandergerieten sei, weil es Jarrett nicht gefallen habe, dass Sandner sein “Köln Concert” als einen seiner größten Erfolge bezeichnete. “Das Ende eines Dialogs eröffnet jedoch auch eine Chance”, befindet Sandner. In der Folge nämlich habe er sich noch stärker auf die Musik konzentrieren müssen. Das Ergebnis ist ein Buch, das der Musik Jarretts als eines Künstlers gerecht wird, der seine Kraft aus der Improvisation des Jazz zieht, dessen Wirkung aber weit über dieses Genre hinausreicht.

Keith Jarrett wurde am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren, und Sandner sieht diesen Tag, Kriegsende, als symbolträchtig für die Jahrhundertkarriere des Pianisten. Ohne Europa, das durch den Krieg noch mehr für die Qualitäten des Jazz sensibilisiert war, erklärt Sandner, wäre Jarretts Karriere einerseits so nicht möglich gewesen, auf der anderen Seite habe Jarrett immer tief in den Traditionen der amerikanischen Avantgardeästhetik gestanden, in der Tradition auch eigenbrötlerischer Künstler wie Lou Harrison und Alan Hovhaness, deren Werke er Anfang der 1980er Jahre in Europa uraufführte.

Sandner zeichnet die Kindheit Jarretts in Allentown nach, die Erkenntnis seines Talents, das Trauma der Trennung seiner Eltern, dem er mit dem Rückzug in die Musik begegnete, und die musikalischen Bemühungen seiner Brüder. Jarrett spielte mit lokalen Bands, besuchte Workshops, gewann ein Stipendium fürs Berklee College, mit dessen die Musik eher regulierenden als zur Kreativität ermutigendem Lehrplan er allerdings wenig anzufangen wusste. Da war die Schule von Art Blakeys Jazz Messengers schon eine andere, in denen Jarrett ab Herbst 1965 für vier Monate mitwirkte. Von Blakey wechselte er in die Band des Saxophonisten Charles Lloyd, dem er durch dessen Schlagzeuger Jack DeJohnette empfohlen worden war. Lloyds Quartett war “die erste Supergroup des Rockjazz”, und Sandner hört sich sowohl dessen Studio- wie auch die Liveaufnahmen an. 1967 gründete Jarrett sein erstes Trio mit Charlie Haden und Paul Motian, und als ihm Miles Davis 1969 zum wiederholten Mal anbot, in seiner Band mitzuwirken, sagte Jarrett zu, obwohl Miles mit Herbie Hancock und Chick Corea bereits zwei Pianisten in der Band hatte. Bei Miles musste er elektronische Keyboards und Orgel spielen, Instrumente, die ihm eigentlich zuwider waren. Zugleich setzte er sich noch mehr mit Klang auseinander, mit dem Sound der Instrumente, die er zu bedienen hatte genauso wie den Soundmöglichkeiten der Band, die für Miles im Mittelpunkt seiner “musikalischen Großräume, Klangkunstwerke” standen.

Ein eigenes Kapitel widmet Sandner der Partnerschaft zwischen Keith Jarrett und Manfred Eicher, der weit mehr war als ein Labelgründer und Plattenproduzent. Jarrett stand Anfang der 1970er Jahre eigentlich bei ABC unter Vertrag, ihm wurde aber erlaubt, Produktionen mit “ernster Musik” und ähnliche Aufnahmen ohne Gegenleistung anderswo einzuspielen, das könne sein Ansehen schließlich nur steigern. Dass Jarretts Aufnahmen für Eichers Edition of Contemporary Music zum Zugpferd für das Label ECM werden sollten, hatte niemand vorhergesehen. Im November 1971 also ging Jarrett erstmals in Oslo ins Studio und produzierte mit “Facing You” die erste von bis heute 28 Solo-Produktionen für Eicher, ein Album, das sowohl Jarretts Ruf als Solopianist begründete als auch Eichers Ruf als einer der offenohrigsten Produzenten des Jazz. Sandner erklärt, was die Partnerschaft und das Vertrauen der beiden zueinander begründe, die Tatsache etwa, dass Eicher selbst Musiker sei oder dass sein Interesse neben dem Jazz auch anderen Formen von Musik (oder Literatur oder Kunst oder Film) gelte. Eicher, schlussfolgert Sandner auch nach dem Gespräch mit anderen ECM-Künstlern, sei bei vielen seiner Produktionen der “dritte Mann”, auch wenn man ihn weder sehe noch höre.

Es gäbe etliche Musiker und Musikliebhaber, warnt Sandner schon im Vorwort seines Buchs, die meinen, über Musik solle man nicht so viel schreiben, da diese das Wesentliche doch eh in sich berge. Und dann tut er genau das, kongenial, so nämlich, dass seine Zeilen die Musik zwar heraufbeschwört, aber nirgends zu ersetzen trachtet. Über Jarretts Klavierspiel etwa schreibt er, man könne vielleicht die verschiedenen Techniken benennen, die seinen Personalstil ausmachten, komme dabei aber vor allem an einem Charakteristikum nicht vorbei, das Sandner die “Konzentration aufs Wesentliche” nennt und das er in Jarretts musikalischem Ansatz genauso findet wie in seiner Wahl der Mitmusiker oder in der klaren Gliederung seines Repertoires in Standards, eigene Kompositionen und freie Solo-Improvisationen.

An anderer Stelle verfolgt er Jarretts Vervollkommnung der authentisch-eigenen Stimme. Er betrachtet die Aufnahmen seines amerikanischen Quartetts mit Dewey Redman und seines europäischen Quartetts mit Jan Garbarek, beschreibt, was an diesen Aufnahmen so besonders sei, obwohl sie doch weder einen unerhörten Klang hervorbrächten noch eine neue Form oder eine außergewöhnliche ästhetische Haltung. Er nennt Jarrett einen “Solist ohne Grenzen”, verfolgt die unterschiedlichen pianistischen Ansätze, die der Künstler über die Jahre entwickelte. Und Sandner ist wie wenige deutsche Autoren ein Meister darin, Musik mit Worten näher zu kommen. Ein Beispiel: Über Jarretts Album “Staircase” schreibt er: “Alles, was Jarrett in den elf Stücken erklingen lässt, besitzt Körperlichkeit. Es gibt keine flachen Töne, nur runde, eckige, kubusartige, voller Tiefenschärfe. Wenn ein Ton verklingt, wird er nicht nur leiser, er verschwindet wie in einem Tunnel, verliert nicht nur sein Volumen, sondern wird augenscheinlich kleiner.” Er benennt die Beziehungen zwischen Jarretts Aufnahmen an der Barockorgel in Ottobeuren und seiner Suche nach Klangfarben einerseits und ähnlichen Suchen europäischer oder amerikanischer Komponisten andererseits, nicht aber, um daraus Einflüsse abzuleiten, sondern um zu zeigen, dass Jarrett sich da inmitten eines breiten Diskurses befindet, in dem seine eine gewichtige Stimme ist.

Zwischen ausführliche Beschreibungen der diversen Plattenprojekte streut Sandner aber auch Informationen über die Selbstzweifel des Künstlers, über persönliche und geschäftliche Krisen, über Rückenschmerzen und das chronische Erschöpfungssyndrom, dass Jarrett für einige Jahre aus dem Verkehr zog. Er beschreibt, wie all diese außermusikalischen Ereignisse ihren Widerhall in Jarretts Musik fanden. Nach seiner Genesung, fasst Sandner zusammen, sei Jarrett ” praktisch nicht mehr in ein Aufnahmestudio zurückgekehrt. Mit Ausnahme einer Duo-Aufnahme mit Charlie Haden und einer Einspielung von Bach-Sonaten für Violine und Klavier sind alle Aufnahmen danach bei Live-Auftritten entstanden.”

Natürlich nimmt das “Köln Concert” ein wichtiges Kapitel seines Buchs ein. Sandner beschreibt die bekannt widrigen Umstände des Konzerts, Rückenschmerzen, ein schlecht intoniertes Instrument, ein Stutzflügel, den die Bühnenarbeiter statt des eigentlich geplanten Bösendorfer Imperial auf die Bühne gestellt hatten, und er erzählt, wie Jarrett aus all diesen Widrigkeiten über sich herauswuchs, die Beschränkungen des Instruments zu Stärken seiner Aufnahme machte. Das “Köln Concert” wurde zu einem Riesenerfolg bei Kritik und Publikum gleichermaßen, und selbst der Perfektionist Jarrett musste später zugeben, dass die Ideen, “diese Klangfarben und diese Stimmführungen”, die auf der Aufnahme zu hören sind, schon einzigartig waren.

In weiteren Kapiteln seziert Sandner die Herangehensweise Jarretts an die Standards des American Popular Song, die er zusammen mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette ab 1983 einspielte und bald auch bei Konzerten spielte, seine Einspielungen klassischer Musik von Bach bis Lou Harrison, sowie Jarretts eigene Kompositionstätigkeit, die sich keinesfalls in der Komposition von Themen für eigene Improvisationen erschöpfte.

Sandners letztes Kapitel heiß “Einspruch” und ist unter all den lesenswerten Kapiteln dieses Buchs vielleicht das lesenswerteste. Sandner beginnt mit einer Eloge auf den kreativen Schöpfer, auf das Genie Keith Jarrett, um dann die Reaktion hervorzuheben, mit der Jarrett so oft, auf so vieles, reagiert, seine “Manie, etwas abzulehnen”. Der wichtigste Einspruch Jarretts gelte dabei musikalischen Trends, kurzlebigen Moden oder selbsternannten Kanonikern. Sandner findet diese Veto-Haltung auch im Klavierspiel des Meisters selbst, das “allen Regeln der traditionellen Klavierkunst widerspricht und wirkt, als sei das Instrument weniger ein Partner, vielmehr ein Gegner, den man bezwingen müsse, bisweilen mit List und Tücke, bisweilen mit tänzerischem Ablenkungsmanöver, manchmal mit brachialer Gewalt, nicht selten aber, indem man sich den Flügel einverleibt, mit ihm verschmilzt.” Es ist dieses Eins-Sein mit seiner Musik, das Jarrett auch außerhalb der Jazzanhängerschaft Wirkung verschafft hat. Henry Miller schrieb ihm einen Brief, nachdem er das “Köln Concert” gehört hatte, Sergiu Celibidache und Marcel Reich-Ranicki zeigten sich begeistert. Sandner argumentiert aber auch, dass diese Verweigerungshaltung neben seinen künstlerischen Entscheidungen auch Jarretts problematisches Bühnenverhalten beeinflusst habe, seine gelegentlichen Publikumsbeschimpfungen, die, wie Sandner schreibt, fast schon zum Ritual geworden seien, das Voyeure unter den Hörern erwarten oder gar herausfordern.

Wolfgang Sandners Buch gelingt es, der Musik Keith Jarretts nahe zu kommen, gerade, weil er sich, wie er im Vorwort erklärt, mit dem Künstler entzweit hat. Sandner besitzt den Überblick nicht nur über Jarretts Schaffen und nicht nur über die Jazzgeschichte, aus der heraus Jarretts Kunst kommt, sondern über die gesamte Kulturgeschichte, in die hinein Jarretts Musik wirkt. Es gelingt ihm, die verschiedenen Positionen zu definieren, die sich in der Musik und ihrer Rezeption widerspiegeln: die musikalische, ästhetische und wirtschaftliche Position Jarretts zu verschiedenen Zeiten, die Position der Labels, der Agenten, der Produzenten, die Position Manfred Eichers, die Position der Kritiker und des Publikums, und nicht zuletzt auch seine eigene Position, die Position Wolfgang Sandners. Dass er aus eigener Begeisterung heraus schreibt, lässt er nicht unerwähnt. Er bezeichnet Jarrett wiederholt als “Genie”, nennt ihn den größten Musiker, der je aus Allentown kam. Doch dient diese eigene Positionsbestimmung letztlich auch dem Vertrauen, das wir als Leser in Sandners Wertung der Musik haben können. Er lässt uns klar wissen, wo er als Autor steht, und so können wir viel leichter unsere eigene Position beziehen, überdenken, revidieren. Wolfgang Sandner ordnet Jarretts Aufnahmen dabei nicht nur in Jazz-, Musik- und Kulturgeschichte ein, er verleitet zum neuen, zum tieferen Hören, und er ermöglicht ein Verständnis – im besten Sinne des Wortes – über die Grenzen des emotionalen Hörens hinaus.

Wolfram Knauer (Dezember 2015)

Nachtrag Februar 2021:

Keith Jarrett. A Biography
by Wolfgang Sandner, translated by Chris Jarrett
Sheffield 2020 (Equinox)
215 Seiten. 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-800500129

Sandners Jarrett-Biographie ist inzwischen auf Englisch erschienen, übersetzt von keinem Geringerem als Jarretts Bruder, dem in Deutschland lebenden Pianisten Chris Jarrett. Für die englische Ausgabe hat Sandner seinen früheren Text erweitert und aktualisiert, hat neuere Aufnahmen und neue Veröffentlichungen aus früheren Jahren berücksichtigt und neue Erkenntnisse über Jarretts familiären Background geteilt. Mit dem Abschied Jarretts von der Bühne im vergangenen Oktober scheint auch seine Karriere abgeschlossen. Sandners Buch vertieft das Wissen und ermuntert zum Nachhören – jetzt vielleicht etwas wehmütiger als bei der ersten (deutschen) Lektüre vor sechs Jahren.


 

Als der Jazz nach Kassel kam. Streifzüge durch die Szene der ersten Nachkriegsjahre
von Ulrich Riedler
Berlin 2015 (B&S Siebenhaar Verlag)
104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN: 978-3-943132-39-7

2015riedlerDie großen Jazzmetropolen – Berlin, Hamburg, Köln, München – sind weitgehend dokumentiert. Auch für kleinere Städte haben sich Historiker und Hobbyhistoriker der Aufbereitung der Jazzgeschichte angenommen. Das kann schon mal seltsam wirken, wenn Provinzzentren wie der Mittelpunkt der Welt erscheinen, wo sie doch meist nur Durchgangsstationen für aufstrebende spätere oder etablierte, sich auf Tournee befindende Jazzstars waren. Tatsächlich aber sind regionalen Szenen bis heute wichtige Brutstätten künstlerischer Ideen, auch wenn viele der Musiker, die hier ihre Anfänge nehmen, irgendwann in die großen Zentren abwandern, in Städte mit bedeutenden Hochschulen etwa oder in solche mit einer lebendigen, großen Jazzszene.

Das nordhessische Kassel, in der Mitte der Republik, und doch kulturell vor allem durch die Brüder Grimm und die documenta bekannt, besitzt bis heute eine lebendige Szene, verschiedene Spielorte für Jazz und improvisierte Musik, und ein langjähriges Festival. Die alle fünf Jahre stattfindende documenta bringt es mit sich, dass die Bürger der Stadt sich sehr bewusst mit ästhetischen Diskursen der Avantgarde auseinandersetzen.

Der Journalist und Jazzfan Ulrich Riedler hat sich in seinem Buch auf die Suche nach den Anfängen des Jazz in der nordhessischen Stadt gemacht und diese im Frühjahr 1940 entdeckt, als sich junge Jazzfreunde im Gasthaus “Ledderhose” trafen, wo sie gemeinsam die neuesten Platten hörten. Irgendwann rückte die Gestapo ihnen auf den Leib, nahm die Jungs mitsamt ihrer Schellackschätze mit und unterzog sie einer gründlichen Befragung. Die Jazzfans wurden bald wieder entlassen, und einer von ihnen kann Riedler nicht nur von damals berichten, sondern ihm sogar noch die kurzfristig konfiszierten Platten zeigen. Die “Ledderhose” blieb auch nach dem Krieg ein Jazztreffpunkt, in dem die Mitglieder zu Platten tanzten, ab und zu aber auch selbst zum Instrument griffen.

Die 1950er Jahre dokumentiert ein Gespräch mit dem späteren Spiegel-Redakteur Alfred Nemeczek, von dem Riedler außerdem einen Bericht über das Jazzkontor Kassel aus dem Jahr 1959 andruckt, den Versuch, in Nordhessen einen Liveclub nach Vorbild des Frankfurter Jazzkellers zu etablieren. In den 1950er Jahren begannen die ersten amerikanischen Stars Deutschland zu erobern. Kassel erlebte Konzerte von Duke Ellington, Louis Armstrong, Lionel Hampton oder der Jam-Session-Truppe Jazz at the Philharmonic mit Ella Fitzgerald und vielen anderen.

Einer der Stammgäste der Kasseler Jazzszene war damals der Trompeter Manfred Schoof, der zwei Jahre an der Kasseler Musikakademie studierte, bevor er nach Köln weiterzog. Riedler spricht mit ihm über die Jazzszene jener Zeit, über Musiker und Musikerlegenden der Region, unter anderem den Tenorsaxophonisten Werner Apel, den, wie man sich erzählt, sogar Duke Ellington verpflichten wollte, weil er ihn bei einer Jam Session so beeindruckt habe, und natürlich auch über die GI-Clubs, in denen Schoof die amerikanische Kultur erst richtig kennenlernte.

Die Amerikaner waren im Stadtteil Rothwesten in Fuldatal stationiert und engagierten über die Special Service Agencies jede Menge deutscher Musiker für die Unterhaltung in den verschiedenen Clubs. Riedler blickt auf Orte, aufs Repertoire, auf das Jazzprogramm des örtlichen Amerika-Hauses, beschreibt aber auch andere Veranstaltungsorte der Stadt, deren Programm großteils von Vereinen organisiert, zum Teil auch von der Stadt unterstützt wurde. Er erzählt, wie Arnold Bode, der Vater der documenta, von der Band des Vibraphonisten und Gitarristen Fritz Bönsel so angetan war, dass er im Landesmuseum ein Konzert veranstaltete, das den Jazz endgültig in der Stadt etablierte.

Die Jazzszene jener Jahre beinhaltete traditionelle genauso wie moderne Stile, und so beschreibt auf der einen Seite die Dixieland-Szene der 1950er und 1960er Jahre mit ihren Riverboatshuffles und dem musikalischen Versuch, dem Original so nah wie möglich zu kommen, auf der anderen Seite aber auch, wie andere Musiker, Schoof und Gunter Hampel unter ihnen, dem modernen Jazz in Kassel zu Gehör verhalfen. Und schließlich spricht er mit dem Pianisten Joe Pentzlin, dessen Trio quasi die Hausband des Jazzclubs in der Orangerie gewesen war.

In einem abschließenden Kapitel schlägt Riedler einen knappen Bogen in die Regenwart, zu Musikern wie Matthias Schubert und Ernst Bier, die entweder aus Kassel stammen oder aber hier über längere Zeit Station machten und die Szene der Stadt mitprägten.

Riedlers Buch ist nicht als historische Dokumentation gedacht, denn vielmehr als eine flüssig zu lesende Erinnerung an die 1940er bis 1960er Jahre, ein liebevoll bebildeter Band über die Jazzszene in der deutschen Provinz, die – ähnlich wie die Szenen vieler anderer Städte mittlerer Größe – überaus lebendig war. Die Lektüre macht dem Leser deutlich, dass der Diskurs über den Jazz als aktuelle Kunstform nicht nur in den Metropolen stattfindet.

Wolfram Knauer (November 2015)


 

Music Wars 1937-1945. Propaganda, Götterfunken, Swing. Musik im Zweiten Weltkrieg
von Patrick Bade
Hamburg 2015 (Laika Verlag)
511 Seiten, 34 Euro
ISBN: 978-3-944233-41-3

Sounds of War. Music in the United States during World War II
von Annegret Fauser
New York 2013 (Oxford University Press)
366 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-994803-1

Victory Through Harmony. The BBC and Popular Music in World War II
von Christina L. Baade
New York 2012 (Oxford University Press)
275 Seiten, 31,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-537201-4

2013fauser Musik war immer schon kriegswichtig. Ob zum Anfeuern der Truppen im Marschrhythmus, ob zum Mobilmachen der Bevölkerung durch patriotische Hymnen, ob als Beruhigung und Selbstbestätigung, ob als Instrument der psychologischen Kriegsführung oder sogar als Foltermethode: Krieg ist ohne Musik – so seltsam diese Idee auch scheinen mag – kaum vorstellbar.

Drei kürzlich erschienene Bücher untersuchen die Rolle der Musik im Zweiten Weltkrieg. Der britische Historiker Patrick Bade berichtet über die verschiedenen musikalischen Strategien und Funktionen direkt vor Ort, in den Gebieten, in denen der Krieg tobte oder die am Krieg beteiligt waren, Frankreich, Deutschland, den USA, Russland, Großbritannien, dem nördlichen Afrika und dem Mittleren Osten. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Annegret Fauser beschränkt sich in ihrem Buch auf die klassische Musikszene in den Vereinigten Staaten. Die britische Musikhistorikerin Christina Baade schließlich untersucht, wie der BBC in den Kriegsjahren auf Jazz, Tanz- und Popmusik gesetzt habe, um die Moral der gesamten britischen Öffentlichkeit in den Kriegstagen zu stärken. Baades Studie gibt dabei einen Einblick in Programmentscheidungen eines öffentlichen Rundfunksenders und thematisiert, inwieweit die Öffnung des Senders für Jazz und amerikanische Popmusik auf Widerstände gestoßen sei. Fausers Fokus liegt auf der “concert music”, also der klassischen Musik, und im Umschlagtext heißt es, dass Dinah Shore, Duke Ellington und die Andrews Sisters vielleicht die Zivilisten zuhause und die Soldaten in Übersee unterhalten hätten, es tatsächlich aber vor allem die klassische Musik gewesen sei, die die Menschen für die Kriegsanstrengungen mobilisiert habe. Patrick Bade schließlich wagt den Rundumschlag, lässt also auch die sogenannte leichte Muse, Swing und Jazz, nicht aus. Während er dabei neben dem klassischen Repertoire und dem Swing auch einen Blick auf die Funktion von Radio, Film und Plattenindustrie wirft, außerdem in einem langen Kapitel Kriegslieder aus unterschiedlichen Ländern ins Visier nimmt, finden man in Fausers Buch Informationen über Musiker in der Armee, Auftragskompositionen für den Kriegseinsatz, ein Kapitel über Musik als Beruhigung der Bevölkerung und als Therapie für traumatisierte Soldaten sowie eines über die vielen Exilkomponisten, die durch den Krieg in den USA strandeten. Christina Baade schließlich diskutiert in ihrem Buch auch das Thema von Tanzmusik und Maskulinität, die Sorge um den Erfolg der amerikanische Popmusik und die Verdrängung eigener Traditionen, und die Bedeutung von Rundfunkprogrammen, in denen afro-amerikanische Musik in den Mittelpunkt gestellt wurden, für schwarze britische Musiker. Bei allen drei Autor/innen finden sich Diskussionen der Zuschreibung moralischer Qualitäten zur Musik, der Grundlage letzten Endes dessen, was in den USA später zur “cultural diplomacy”, zur Kulturdiplomatie werden sollte.

2012baadeFür Christina Baades Argumentationslinie spielt der Jazz eine zentrale Rolle; ihr Buch erlaubt dabei Rückschlüsse auf Entwicklungen des Nachkriegsjazz in Großbritannien, einschließlich der Hinwendung vieler junger Musiker insbesondere zu traditionellen Jazzstilen. Patrick Bade hat neben einem Kapitel über Jazz und Swing im Dritten Reich, in dem er auch auf das Phänomen der Propagandaband Charlie and His Orchestra eingeht, ein eigenes Kapitel über Musik im Feldlager, im Gefangenenlager und im Konzentrationslager. Fauser wiederum diskutiert in ihrem Buch ausführlich musikalischen Ausdruck von Nationalismus, etwa in Werken von Aaron Copland und Roy Harris.

Patrick Bade gibt am Schluss seines Buchs einen Ausblick auf die Nachwirkungen, erzählt etwa, dass Wagner im Bayreuther Festspielhaus kurzzeitig Cole Porter weichen musste, berichtet, wie Sänger/innen und Musiker/innen nach dem Krieg mit ihrer Karriere im Dritten Reich konfrontiert wurden oder diese sehr bewusst aus ihrer Biographie ausblendeten. Er endet mit dem kurzen Hinweis auf Werke, die sich bis ins 21ste Jahrhundert hinein mit den Gräueltaten des Kriegs auseinandersetzen. Christina Baades Buch endet mit der Ankunft der amerikanischen Truppen im August 1944 und der Entscheidungen des BBC, die auch die amerikanischen GIs mit ihrem Programm unterhalten wollte. In der Folge kam es zu einer Diskussion der Vermischung musikalischer Werte in der populären und Tanzmusik, über “Britishness” oder “Pseudo-American”. Ihr Buch verweist zwischen den Zeilen immer wieder, etwa Kapiteln über das vom Rundfunk mitgeprägte Bild der Frau oder im Versuch, die Ausstrahlung von Musik männlicher übersentimentaler Schlagersänger im Rundfunk zu unterbinden, auf Diskurse, die auch nach dem Krieg weitergingen und auf die letzten Endes BBC-Programmentscheidungen großen Einfluss hatten. Bei Fauser geht der Blick in die Nachkriegszeit über John Cage, dessen experimentelle Ideen sie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren verortet. Sie verweist darauf, dass Cage und seine Zeitgenossen ihre Lehren aus den Erfahrungen des Kriegs gezogen hätten, sich nach Ende des Kriegs von ihren nationalistischen Kompositionen distanziert oder aber diese in neue Werke integriert hätten.

2015badeZusammengefasst bietet Patrick Bade im breiteren Ansatz seines Buchs eine Art Rundumschlag über das Thema. Christina Baade wirft Licht auf die Verflechtungen zwischen Musik, Musikindustrie, öffentlicher Meinung und Publikumsgeschmack. Fausers Studie schließlich hätte von einer Erweiterung ihres Schwerpunkts vielleicht profitiert. Fauser begründet ihren eingeschränkten Blick im Vorwort damit, dass die Jazz- und Popmusikszene jener Jahre ja schon ausgiebig genug untersucht worden sei, während Forschungen zur klassischen Musik im Krieg weitgehend fehlten, vergibt sich damit aber die Chance einer differenzierten Darstellung, was vielleicht – nehmen wir einmal an, dass der Einband-Text vom Verlag und nicht von ihr stammte –, eine wertende Aussage wie die, dass Jazz und Popmusik die Bürger zuhause und die GIs in Übersee vielleicht unterhalten hätten, es aber die klassische Musik gewesen sei, die den wirklichen Unterschied gemacht habe, verhindert hätte.

Von solchen Anmerkungen abgesehen, haben alle drei Bücher ihre Meriten. Sie helfen bei der Kontextualisierung von Musikgeschichte in der späten ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, die letzten Endes Auswirkungen auch darauf hatte, wie Musik heute klingt und wie wir sie wahrnehmen.

Wolfram Knauer (Oktober 2015)


 

 

Giving Birth to Sound. Women in Creative Music
herausgegeben von Renate Da Rin & William Parker
Köln 2015 (Buddy’s Knife)
294 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-00-049279-2

2015darinVielleicht müsste am Anfang dieser Rezension erklärt werden, welchen Weg die Bücher durchlaufen, die im Jazzinstitut Darmstadt anlangen. Bevor wir uns die Bücher aussuchen, die wir rezensieren wollen, erfassen wir sie in unserem Jazz Index, einer computergestützten bibliographischen Datenbank, die von Forschern und Journalisten (und Fans) aus aller Welt genutzt wird. Das heißt, wir gehen das Buch von vorn bis hinten durch, ordnen jedes einzelne Kapitel einem Stichwort oder einem Musikernamen zu, tragen biographische Notizen wie etwa Geburtstag oder Geburtsort, nach, sofern sie in unserer Datenbank noch fehlen. Erst dann machen wir uns ans Lesen.

Aber schon bei diesem ersten Schritt des Erfassens fiel einiges auf beim Buch “Giving Birth to Sound”. Etliche der darin befragten Musikerinnen waren nämlich noch gar nicht in unserer Datenbank erfasst oder aber nur mit relativ kurzen bibliographischen Listen. Über sie wurde in der Jazzpresse bislang also nur wenig berichtet. Nun ja, mag man meinen, das hat sicher auch damit zu tun, dass Frauen ja so richtig erst in den letzten Jahren ins Rampenlicht des Jazz getreten sind. Weit gefehlt aber, und das war die zweite Überraschung: Viele Musikerinnen, die im Buch zu Worte kommen, gehören nämlich gar nicht der jungen (sagen wir: unter 40-jährigen) Generation an, sondern sind weit länger auf der Szene unterwegs. Die Gründe für ihre Unsichtbarkeit in der Jazzpresse mögen also doch woanders liegen.

Eine dritte Erkenntnis, die sich beim Durchblättern schnell ergibt, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Jede der Musikerinnen hat einen völlig anderen Zugang zum Thema. Mal analytisch, mal diskursiv, mal ausweichend, mal ablehnend, mal nüchtern gefasst, mal poetisch überhöht, mal kämpferisch, mal verteidigend. Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich schon in den Überschriften der Kapitel, die Renata Da Rin und William Parker aus der Frage “Was bedeutet Musik für Dich” abgeleitet hat. “Jeder Sound und jede Stille”, antwortet Renée Baker; “die Gründe für mein Leben”, sagt Amy Fraser; “ein abstrakter Ort, um das Leben zu teilen und zu fühlen”, meint Marilyn Mazur; “ein Lager der Erinnerungen”, findet Shelley Hirsch, “Leben, Magie, Geist”, beschreibt Maggie Nicols, oder aber, so Erika Stucky, “serious fun – a ‘Schnaps'”.

Oder aber die Einleitung: Nach dem Vorwort von Amina Claudine Myers haben die Herausgeber eine Anzahl von Reaktionen auf den Buchtitel zusammengefasst. “Giving Birth to Sound”? Schrecklicher Titel: Frauen wurden schließlich immer wieder aufs Gebären reduziert, meint eine der Gesprächspartnerinnen, während eine andere findet, der Titel passe, sei auch angenehm mehrdeutig. Naja, und bei allen Bedenken spräche der Titel ja auch vom Schaffen von etwas Neuem. Blödsinn, widerspricht eine weitere Stimme, Gebären sei doch eine passive, rein physische Tätigkeit, jede Kuh könne das. Musik zu erschaffen sei dagegen ein aktiver intellektueller Prozess und damit das exakte Gegenteil.

Das Konzept des Buchs: Ohne weitere Vorgaben schickten die Herausgeber den 48 Musikerinnen 20 Fragen, die vom Faktischen zum Nachdenken über den Prozess des Kreativen gehen, sich dabei immer wieder danach erkundigen, inwieweit das eigene Geschlecht bei musikalischen, ästhetischen oder beruflichen Entscheidungen eine Rolle gespielt habe. Tatsächlich sind nur sechs der Fragen konkret aufs Frau-Sein der Musikerinnen abgezielt: Wie hast Du deine Kreativität als kleines Mädchen ausgelebt? Wie hat die Tatsache, dass Du eine Frau bist, die Entwicklung Deiner musikalischen Karriere behindert? Wie siehst Du Deine Position als Frau in der Musikszene? Hat diese Position Dein Verhältnis zum Sound beeinflusst? Siehst oder spürst Du einen Unterschied im weiblichen und im männlichen Ansatz an Kreativität? Was würdest Du anderen / jungen Frauen empfehlen, die sich bemühen ein kreatives Leben zu führen?

Die Antworten auf diese und allgemeiner gehaltene Fragen fallen so unterschiedlich aus wie die Lebenswege der 48 Interviewten. Es macht nun mal einen Unterschied, ob man Ende der 1970er Jahre in Dänemark zum Jazz kommt wie Lotte Anker oder 1941 in Oklahoma wie Jay Clayton. Haben Männer und Frauen einen anderen kreativen Approach?, fragen die Herausgeber. “NEIN!” ruft Jay Clayton, in Großbuchstaben, keine weitere Diskussion duldend, während Marilyn Mazur einwirft, Frauen würden vielleicht weniger in Wettstreit treten, mehr ans Ganze und Kollektive denken. “Nein, ich sehe da keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen”, findet wiederum Amy X. Neuberg, um gleich anzuschließen, “das heißt aber nicht, dass es keine gäbe.” Klar gibt es einen Unterschied”, erklärt Kali Z. Fasteau, etwa, dass Männer in hierarchischen Systemen besser funktionierten als Frauen. Andererseits, urteilt Nicole Johänntgen, sei diese Frage ziemlich schwer zu beantworten, weil es nun mal so sehr viel mehr Männer als Frauen auf der Szene gäbe.

Nicole Mitchell beantwortet ihre Fragen in poetischen Erinnerungen und Reflexionen über schwarze Musik, den langen Atem der Bürgerrechtsbewegung und ihren eigenen Weg. Maggie Nicols auf der anderen Seite streicht heraus, dass ihre Musik immer sowohl politische wie auch spirituelle Untertöne besessen habe. Ob sie einen Preis bezahlt habe dafür, dass sie Musik mache, fragen die Herausgeber, und Angelika Niescier findet: Im Gegenteil, sie habe daraus sehr viel für sich gewonnen. Musikerin zu werden, sei nun mal eine Lebensentscheidung, finden auch viele ihrer Kolleginnen, niemand zwinge einen schließlich diesen Weg einzuschlagen.

Die weibliche Kreativität erlaube mehr “Raum”, meint Fay Victor, und zwar “sowohl mehr Raum im Sinn von Zeit und Raum wie auch mehr Raum für die Akzeptanz von Fehlern und Intuition”. Klar habe die Tatsache, dass sie eine Frau sei, ihr Verhältnis zum Sound beeinflusst, erklärt Joëlle Léandre. Frauen seien nun mal anders, sie hätten die Fähigkeit zur Distanz, die in diesem Geschäft wichtig sei, außerdem könne man mit ihnen viel besser lachen.

Sie sehen in dieser springend-vergleichenden Zusammenfassung einzelner Antworten bereits, wie ungemein gewinnbringend sich dieses Buch lesen lässt, wenn man blättert, Themen identifiziert, die die Herausgeber durch ihre Fragen ja nicht festgeklopft, sondern nur angestoßen haben, um dann zu sehen, welchen Kontext die verschiedenen Antworten beleuchten. Man erlebt die ja unabhängig voneinander befragten Musikerinnen bald wie in einer respekt- und kraftvollen Diskussion neugieriger, andere Meinungen (meistens) zulassender, vor allem aber ungemein selbstbewusster Musikerinnen.

Das Fazit des Buchs wusste man vielleicht schon vor der Lektüre: Eine einzelne Antwort auf die Frage nach dem kreativen Unterschied nämlich gibt es nicht. Der künstlerische Ansatz zwischen Männern und Frauen ist genauso unterschiedlich wie jener zwischen Männern und Männern oder zwischen Frauen und Frauen. Es gibt jedoch, und das wird in diesem Buch sehr deutlich, ein anderes Diskursverhalten, eine klare Selbstwahrnehmung der Rolle, in die man gesellschaftlich gedrängt wurde.

Unbedingt lesenswert also, ob von Buchdeckel zu Buchdeckel oder im laufenden Vor- und Zurückblättern. “Giving Birth to Sound” erklärt dem interessierten Leser nämlich in der persönlichen Selbstbefragung der Protagonistinnen und oft auch zwischen den Zeilen weit mehr über die Thematik, als man es etwa von wissenschaftlichen Studien erwarten dürfte.

[Naja, wir empfehlen dennoch den Besuch unseres Darmstädter Jazzforums zum Thema “Gender and Identity in Jazz” vom 1.-3. Oktober 2015 oder die spätere Lektüre unserer Beiträge zur Jazzforschung mit den referaten dieser Konferenz. Aber das ist natürlich nur Eigenwerbung…]

Wolfram Knauer (September 2015)


 

Beyond Jazz. Plink, Plonk & Scratch. The Golden Age of Free Music in London 1966-1972
von Trevor Barre
London 2015 (Compass Publishing)
330 Seiten, 12,99 Britische Pfund
ISBN 978-1-907308-84-0
Zu bestellen über trevorbarre@aol.com

Ekkehard Jost hat die Jahre zwischen 1960 und 1980 als eine Zeit beschrieben, in der Europas Jazz zu sich selbst fand, in der Musiker sich von ihren amerikanischen Vorbildern lösten und eigene Wege gingen. Einige dieser Wege führten fort vom, gingen also “beyond jazz”, und diese Entwicklung will Trevor Barre in seinem Buch mit demselben Titel nachzeichnen. Der Gitarrist Derek Bailey forderte eine Improvisation, die sich aus den idiomatischen Bezügen befreien, und auch andere Musiker begannen statt des Begriffs “Free Jazz” von “improvised music” zu sprechen. Barre interessiert, wie es überhaupt dazu kam, dass eine solch sperrige und alles andere als publikumsfreundliche Musik entstehen konnte und warum sie nicht angesichts ihres kommerziellen Misserfolgs einfach nach ein paar Jahren ausstarb. In seinem Fokus steht dabei die erste Generation der freien Improvisatoren, also Musiker wie Evan Parker, Derek Bailey, John Stevens, Kenny Wheeler, Barry Guy, Dave Holland, Trevor Watts, Tony Oxley, Paul Rutherford, Howard Riley, Eddie Prévost, Keith Rowe, Gavin Bryars und Cornelius Cardew.

Barre beginnt mit einer Definition seines Themas: Wo die meisten Jazzbücher den Jazz durch seine improvisatorischen Parameter beschreiben würden, sei Free Music, schreibt er, einzig durch den improvisatorischen Gehalt definiert. Er stellt unterschiedliche Formen freier Improvisation vor, solche, die näher am Jazz bleiben und solche, die eher der europäischen Avantgardetradition verpflichtet scheinen. Die beiden Hauptensembles seines Buchs sind das Spontaneous Music Ensemble und die Gruppe AMM. Barre ordnet deren Auftritte in die Jugend- und Protestkultur der 1960er Jahre ein und schildert, wie die globalen Entwicklungen von Pop, Rock und Folk jungen Musikern ein völlig neues Vokabularium an die Hand gab, sie auch zu neuen Herangehensweisen zwischen tiefer Ernsthaftigkeit und unbändigem Humor bewegten. Er beschreibt auch, welchen Platz sie in die Bandbreite des britischen Jazz jener Jahre zwischen Dixieland und Free Jazz hatten.

Barre zeichnet den Weg einzelner Protagonisten zur freien Improvisation nach, schildert insbesondere die Bedeutung des Little Theatre Club, in dem die jungen Musiker mit Kollegen auch aus dem europäischen Ausland experimentieren konnten. Er beschreibt, wie sie nach und nach merkten, dass es außer dem afro-amerikanischen Jazz auch anderes gab, dass beispielsweise südafrikanische Musiker um Chris McGregor dieser Musik eine neue Farbe geben konnten und dass sich Freiheit, wie sie der Free Jazz implizierte, auch ganz mit anderen Mitteln umsetzen ließ. Er diskutiert wichtige Aufnahmen der Zeit, wobei ihn vor allem die interaktiven Prozesse interessieren, die ästhetischen Diskurse, die sich aus der Improvisation der Aufnahmen ergaben. Das alles beleuchtet er anhand von zeitgenössischen genauso wie selbst geführten Interviews mit beteiligten Musikern. Das Spontaneous Music Ensemble und AMM nehmen zwei der umfangreichsten Kapitel ein, in denen Barre neben dein Einflüssen und den ästhetischen Diskussionen auch über Nachwirkungen schreibt, bewusste oder unbewusste Reaktionen auf die Klangexperimente in weit jüngerer Musik, der 1980er, 1990er Jahre und danach. Er betrachtet den Einfluss der Technologie, schaut auch auf die Bedeutung der visuellen Covergestaltung oder der Plattentexte. Das Label Incus nimmt ein eigenes Kapitel ein, wie FMP in Deutschland oder ICP in Holland ein von Musikern gegründetes Label, das Musik seiner Mitglieder nicht so sehr vermarkten als vielmehr dokumentieren wollte. Improvisation ist schließlich weit mehr als komponierte Musik auf das Medium der Tonaufzeichnung angewiesen – sonst verklingt sie.

In seinem Schlusskapitel betrachtet Barre kurz die “zweite Generation” der Free Music in London um das London Musicians’ Collective sowie eine “dritte Generation” um John Edwards, John Butcher und andere und setzt beide Entwicklungen mit jenem von ihm als “erste Generation” betrachteten Grundthema seines Buchs in Beziehung. Im Nachwort schließlich verfolgt er die Aktivitäten seiner Protagonisten bis in die Gegenwart.

Trevor Barres Buch ordnet die Entwicklung der Free Music der späten 1960er, frühen 1970er Jahre in die kulturelle Szene des “Swinging London” ein. Ihm gelingt dabei vor allem der Blick auf sich wandelnde ästhetische Ideale und eine Begründung derselben aus gesellschaftlichen und politischen Diskussionen heraus. Der Musik selbst kommt er vor allem in Interviews mit den beteiligten Musikern nahe. Die inhaltliche wie organisatorische Unabhängigkeit der britischen Improvisationsszene jener Jahre hat Auswirkungen bis heute. Initiativen wir F-Ire Collective wären ohne das Vordenken und Vormachen der hier beschriebenen Musiker und Gruppen nicht möglich gewesen. Von daher füllt Barres Buch eine Lücke. Dass er bestimmte Themen weitgehend außer Acht lässt – die Auseinandersetzung dieser Szene mit ihrem Publikum beispielsweise oder mit den Mainstream-Medien, der tatsächliche Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Szenen oder die Reaktion amerikanischer Musiker, zeigt nur, wie viele Perspektiven das Thema tatsächlich hat, die bislang kaum beleuchtet wurden. Barre jedenfalls stößt mit “Beyond Jazz” die Tür zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der musikalischen Freiheitsbewegung jener Zeit weit auf.

Wolfram Knauer (August 2015)


 

Little Satchmo. Living in the Shadow of my Father, Louis Daniel Armstrong
von Sharon Preston-Folta (mit Denene Millner)
Charleston/SC 2015 (self published)
112 Seiten, 12 US-Dollar
ISBN: 978-1-481227-23-7
Zu beziehen über www.littlesatchmo.com

2015prestonfoltaDie offizielle Version lautet: Louis Armstrong hatte nie Kinder. Er hätte immer gern welche gehabt, sagte seine letzte Frau und Witwe, Lucille Armstrong, aber er sei zeugungsunfähig gewesen. Nun kommt, 34 Jahre nach Satchmos Tod, Sharon Preston-Folta mit einem Buch heraus, in dem sie kundtut, sie sei die Tochter Louis Armstrongs aus einer außerehelichen Beziehung, die Satchmo in den 1950er Jahren hatte.

Ihr Leben lang habe sie diese Wahrheit herunterschlucken müssen. Sie wolle kein Geld, keinen Ruhm, aber immer selbst auf das öffentliche Wissen um ihren Vater verzichten zu müssen, sei einfach zu viel. In ihren Recherchen habe sie nur einen einzigen schriftlichen Hinweis auf Satchmos Vaterschaft gefunden, einen Brief des Trompeter an seinen Manager, Joe Glaser, aus dem Jahr 1955, in dem er diesen bat, vor der Ankunft seiner Frau Lucille in Las Vegas ein paar Geschäftsdinge zu klären, darunter Zahlungen an eine Freundin, von der er glaubt, dass sie ein Kind von ihm habe. Ihre Mutter habe sie immer beschworen, ihren Vater geheim zu halten, und so habe sie letzten Endes gehorcht und damit auch keine Ansprüche geltend gemacht auf sein physisches, historisches und finanzielles Erbe. Wenn sie etwas gekränkt habe bei ihren Recherchen, sei es, dass Louis Armstrong in seinen Briefen so offen über alles geredet habe, seine Musik, seine Kindheit, seine Liebe zum Essen und zu den Frauen, über Sex, sogar über seine Darmtätigkeit, dass er über seine Tochter aber sein Leben lang geschwiegen habe.

Warum er ihre Existenz verleugnet habe? Nun, erklärt Preston-Folta, Louis Armstrong sei ein gefeierter Künstler seiner Zeit gewesen und habe sich in der besten (weißen) Gesellschaft aufgehalten. Es habe einfach nicht gepasst, in dieser Zeit, wenn Nachrichten über ein uneheliches Kind mit einer Geliebten in die Schlagzeilen gekommen wären.

Prestons Mutter wurde 1921 in New York geboren und arbeitete bereits als 16-Jährige als Chorus Girl in diversen Shows. 1941 heiratete sie einen Tänzerkollegen; 1946 arbeiteten die beiden als Tanzpaar “Slim & Sweets” als Vorgruppen für große Swingorchester, unter ihnen auch Louis Armstrong, der sich mit ihnen anfreundete und in einen launigen Briefwechsel einstieg. 1950 starb Slim, und bei der Trauerfeier war auch Louis Armstrong dabei, der Lucille Preston in den Arm nahm und versprach: “Ich werde mich um dich kümmern.” In den nächsten vier Jahren reiste sie Pops hinterher und tauchte auf, wann immer Armstrongs in New York spielte. 1954 wurde Preston schwanger, und im November schrieb Satchmo ihr einen Brief, in dem er erklärt, wie sehr er sich auf das Kind freue und sogar vorschlägt, sie zu heiraten, sollte seine Frau (mit gleichem Namen Lucille) sich von ihm scheiden lassen. Armstrong war dann aber nicht dabei, als Sharon Louise (nach Louis) Preston am 24. Juni 1955 das Licht der Welt erblickte. Armstrongs rechtmäßige Ehefrau war “not amused” und habe ihm nach der Geburt der Tochter sogar vorgeschlagen, diese zu adoptieren, was ihre leibliche Mutter aber vehement ablehnte. Lucille (die Ehefrau) habe sogar die Alimente überwiesen, bis sie diese Aufgabe irgendwann Joe Glaser übertrug.

In ihrem Buch berichtet Sharon von den viel zu seltenen, sorgfältig geplanten und sehnsuchtsvoll erwarteten Treffen. Sie und ihre Mutter lebten eine Weile bei ihrem Onkel Kenny, der nach außen schon mal als Lucilles Ehemann auftrat und immer wieder auf seine Schwester eindrang, bei Satchmo mehr einzufordern: mehr Geld, mehr Fürsorge, am besten seinen Namen. Bei einzelnen Sommertourneen durfte Sharon mitreisen. Ansonsten aber war Satchmo vor allem durch die monatlichen Unterhaltszahlungen präsent, durch Broadway-Tickets, 1962 durch den Kauf eines Hauses in Mount Vernon, New York. In Harlem hatte sich niemand wirklich darum gekümmert, wie ihre Familienverhältnisse aussahen, erzählt Preston-Folta, in Mount Vernon aber begann eine Zeit der Lügen. Die Liaison dauerte ja bereits 12 Jahre, aber nach wie vor war nicht in Sicht, dass Armstrong auch öffentlich zu seiner Familie stehen würde. Mit zehn Jahren begriff Sharon erstmals, dass ihr Vater eine “andere Lucille” hatte, ein anderes Leben, das mit ihrem aber auch gar nichts zu tun hatte.

Etwas später seien sie gemeinsam in Atlantic City zu einem Auftritt Marvin Gayes gegangen, es habe einen Streit zwischen den Erwachsenen gegeben, bei dem ihre Mutter Satchmo fragte, wann er sie nun endlich zu heiraten gedachte, worauf er laut wurde: “Ich werde dich niemals heiraten” und mit Fingerzeig auf die Tochter fragte: “Sag mir einfach, was es kostet, für sie zu sorgen!” Das war das Ende der Beziehung.

Kaum war Armstrong gestorben, kamen auch die monatlichen Schecks nicht mehr. Ein paar im Voraus geleistete Zahlungen für Sharons Erziehung hielten sie und ihre Mutter über Wasser, mussten bald auch den Zuwachs zur Familie finanzieren, denn Sharon wurde mit 16 selbst Mutter. Sharon erzählt, wie ihr Leben weiterging, immer gezeichnet durch die Narben, die der fehlende Vater hinterlassen hatte. Irgendwann rebellierte sie gegen die eigene Bitterkeit und versuchte, das emotionale Band, das sie mit der verlorenen, nie gehabten Vergangenheit hatte, zu zerschneiden.

Sharon Preston-Foltas Buch endet mit einem Besuch im Armstrong House in Queens. Ein Anwalt hatte ihr empfohlen, einen Blick in Satchmos Testament zu werfen, das eine eidesstattliche Erklärung von Lucille, Armstrongs Frau, enthielt, Armstrong habe nie Kinder gehabt. Als Sharon diese Zeilen las, von Lucille eigenhändig korrigiert von “Der Verstorbene und ich hatten keine Kinder” in “Der Verstorbene hatte keine Kinder”, entschied sie sich, jetzt ihr Geschichte zu erzählen. Ihre Mutter, die sie immer zur Geheimhaltung gedrängt hatte, willigte endlich ein: “Mach, was Du meinst, dass du tun musst.”

Sharon Preston-Foltas Buch ist als eine Liebeserklärung an die von ihr immer vermisste Vaterfigur Louis Armstrong geschrieben, aber es ist eben auch eine leicht verbitterte Liebeserklärung geworden. An genügend Stellen legt man es zur Seite, unterschiedlich berührt von den Schuldzuweisungen, mit denen Preston-Folta ihre eigenen Lebensentscheidungen aus ihrer vaterlosen Kindheit und Jugend ableitet. Ein bedrückendes Schicksal, denkt man, und fragt sich zugleich, warum sie, die immer wieder von der DNA ihres Vaters schreibt, die in ihr fortlebe, nicht irgendwann, spätestens vor der Veröffentlichung dieses Buchs, auf einem DNA-Test bestanden habe. Doch ist es einem Kind, das sein Leben lang sicher ist, seine Eltern zu kennen, überhaupt zuzumuten, von einem auf den anderen Tag an der Tatsache der Vaterschaft zu zweifeln? Auch als skeptischer Leser sollte man jedenfalls für die Zeit der Lektüre erst einmal die Grundbehauptung der Vaterschaft Louis Armstrongs akzeptieren, sonst hat man wenig Spaß am Buch. Armstrong selbst schließlich scheint bis zu seinem Tod überzeugt davon gewesen zu sein, in Sharon eine Tochter gehabt zu haben.

Allen Fragen und sicher auch allen möglichen Zweifeln zum Trotz, die einem bei der überraschenden Enthüllung Sharon Preston-Foltas kommen mögen, lernt man einiges bei der Lektüre, und wenn nur, dass Scheinwerferlicht auch Schatten wirft, dass Stars wie Louis Armstrong das Leben vieler Menschen zum Teil viel direkter berührten, als man es wahrhaben mag, und nicht zuletzt, dass die Persönlichkeit großer Stars aus ihren emotionalen Stärken genauso besteht wie aus ihren emotionalen Unzulänglichkeiten. Am Glorienschein des großen Meisters mag das alles ein wenig kratzen; der Kraft seiner Musik tut es keinen Abbruch.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Theatrical Jazz. Performance, Àṣẹ, and the Power of the Present Moment
von Omi Osun Joni L. Jones
Columbus/OH 2015 (The Ohio State University Press)
270 Seiten, 99,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8142-1282-0

2015jonesDer Blick über den Tellerrand kann das Wesentliche erhellen, der Blick von außen Dinge erkennen lassen, die man im internen Diskurs oft nicht mehr sieht. Das ist einer der Hintergründe für die sogenannten “new jazz studies”, ein Konzept in der jüngeren Jazzforschung, das sich der untersuchten Materie neben der musikwissenschaftlichen Betrachtung interdisziplinär nähert. Die Feministin Omi Osun Joni L. Jones versucht in ihrem Buch eine Verbindung zwischen Jazzästhetik , theatralischer Performance und auf Yoruba basierender afrikanischer Theologie. Dabei beschreibt sie als eine der zentralen Prinzipien der Jazzästhetik die Fähigkeit, die eigenen intuitiven Kräfte freizusetzen. In ihrer Beschäftigung mit afrikanischer Spiritualität habe sie gelernt, dass auch in wissenschaftlichen Büchern die Auseinandersetzung mit spirituellen Impulsen nicht zu kurz kommen dürfte, ganz ähnlich wie dies auch Jazzgrößen wie John und Alice Coltrane immer gesehen hätten. Sie will mit ihrem Buch den Jazz gegen den Strich bürsten, seine Begriffe, Handlungen, Ausformungen kritisch hinterfragen, und zwar aus der Perspektive aller seiner unterschiedlichen Bedeutungen in musikalischer Ästhetik, Performance, gesellschaftlichem Spiegel, ethnischer Identität oder politischer Haltung. Es gäbe Kollegen, schreibt sie in ihrer Einleitung, die den Jazz als eine polyglotte Form ansähen und damit Gefahr liefen seine Wurzeln in der afro-amerikanischen Kultur zu leugnen. Tatsächlich aber sei die spirituelle Kraft nicht an irgendwelche Identitätsregeln gebunden. Die spirituelle Transzendenz des Jazz brauche keine Abwesenheit ethnischer Identität (“race”), sondern höchstens Abwesenheit solch einer ethnischen Identität (“race”) als Restriktion oder als Prognose.

Tatsächlich handelt ihr Buch allerdings zentral gar nicht von Musik, sondern vom Theater, und hier insbesondere von den drei Theaterautoren Laurie Carlos, Daniel Alexander Jones und Sharon Bridgforth. Jones bedient sich in ihrer Herangehensweisen an das Thema der feministischen und queeren Theorie, erklärt Wirkungen der Theaterperformance aus der Haltung des Jazz heraus und zugleich aus ihrer Interpretation von Yoruba-Traditionen. Als übergeordneten Approach versucht sie ihrem wissenschaftlichen Buch darüber hinaus aber auch improvisatorische Strukturen zu geben, indem sie Bilder, Fotos, Zeichnungen, Zitate einfließen lässt, die wie kurze solistische Kommentare neben ihrem Text stehen.

In ihrer Einleitung zitiert Jones einige Beispiele direkter Bezugnahme von Jazzmusikern wie Dizzy Gillespie und John Coltrane auf Yoruba-Beschwörungen, erinnert außerdem an die lebendige Avantgarde-Theaterszene von Austin, Texas, in der in den 190er Jahren die Verbindungen von Theater und Jazz besonders entwickelt wurden. Im ersten Kapitel betrachtet sie, wie biographische Erfahrungen die drei von ihr untersuchten Autoren prägten, Carlos’ Jugend im New Yorker East Village, Jones’ Aufwachsen im Arbeiterklasse-Milieu von Springfield, Massachusetts, Bridgforths Bustrips durch die verschiedenen Viertel von Los Angeles. Sie analysiert die dem Jazz nahestehenden Praktiken von Lehrer und Schüler im Theater, deren Lernprozesse dabei immer gegenseitig sind. Das zweite Kapitel untersucht Performance-Methoden, Ansätze an Regie, Probenphasen, das Beziehung-Herstellen zum Publikum, die Auswahl der Schauspieler, aber auch das Zulassen spiritueller Erfahrung im Verlauf der Performance. Im dritten Kapitel schließlich fragt sie danach, was die Performance beim Publikum (sie spricht gern von “witnesses” = Zeugen) auslöst, wie sie zu einer Perspektivverschiebung führen kann, einer aktiven Partizipation des Publikums, die das eigentliche Ziel aller Beteiligten sei.

Wenn ich Jones zu Beginn dieser Rezension in die Nähe der “new jazz studies” gestellt habe, so muss ich diese Aussage zumindest zum Teil revidieren. In den New Jazz Studies werden Aspekte des Jazz möglichst von vielen Seiten (und mit unterschiedlichen Methoden) betrachtet. Jones geht den entgegengesetzten Weg: Sie nutzt, was sie vom Jazz gelernt hat, um ihr eigentliches Thema, die Performance im Theater genauer zu definieren. Sie erkennt im Jazz Kommunikations- und Tradierungsmodelle, die so beispielhaft sind, dass sie ein anderes Genre besser verstehen lassen, vielleicht sogar Modell stehen können für neue, weitreichendere Regie- oder Performance-Ansätze. Ihr Buch ist darin so weitsichtig wie der Versuch früherer Literaturwissenschaftler wie Houston Baker, insbesondere den Bereich der afro-amerikanischen Literatur (aber durchaus darüber hinaus) durch die schon von Ralph Ellison oder Albert Murray identifizierte Blues Aesthetic zu beschreiben. Beide nahmen dabei sehr bewusst auf westafrikanische kulturelle Traditionen, Praktiken und Symbole Bezug, für den ungeübten Leser einerseits manchmal etwas schwer nachvollziehbar, gerade dadurch aber die Argumentation auch angenehm schnell aufbrechend und Rückschlüsse erlaubend.

Wenn nämlich die Praxis des Jazz als Erklärungsmodell für andere künstlerische Praktiken taugt, dann wirft das ein ganz anderes Licht auch auf den Stellenwert von Jazz und Improvisation.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


The Long Shadow of the Little Giant. The Life, Work and Legacy of Tubby Hayes
von Simon Spillett
Sheffield 2015 (Equinox)
377 Seiten, 19,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78179-173-8

2015spillettWie Hans Koller oder Lars Gullin war der britische saxophonist Tubby Hayes eine der europäischen Jazzgrößen, die ihren Kollegen genauso wie ihrem Publikum klar machten, dass der Jazz zwar eine afro-amerikanische Musik war, dass aber Europäer das Idiom durchaus beherrschten und ihre eigenen Beiträge zur Tradition des Jazz leisten konnten. Hayes kam aus der Swing-Mainstream-Tradition des Jazz, nahm erst Bebop, Hardbop, schließlich Einflüsse des Spiels John Coltranes in seinen Stil auf und starb 1973, gerademal 38 Jahre alt, in Folge einer Herz-Operation.

Dem Autor und Saxophonisten Simon Spillett gelingt es in seinem Buch “The Long Shadow of the Little Giant” mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews und Material aus Hayes’ persönlichem Archiv das Leben und die musikalische Karriere des Saxophonisten in den Jahren vom bombenerschütterten London der Nachkriegszeit über die jazzigen 1950er Jahre und die Swinging Sixties bis hin zur großen Krise des Jazz Anfang der 1970er Jahre nachzuzeichnen.

Hayes wurde in eine musikalische Familie geboren – sein Vater leitete in den 1930er Jahren verschiedene Tanzorchester, seine Mutter war Revuesängerin und -tänzerin. Schon früh war er vom Saxophon fasziniert, begann aber im Alter von acht Jahren erst einmal mit Geigenunterricht, und bekam schließlich zum elften Geburtstag das langersehnte Saxophon, das er größtenteils autodidaktisch meisterte. Er hatte ein gutes Gehör, und der Geigenunterricht hatte ihn zu einem exzellenten Notisten gemacht. Er hörte Charlie-Parker-Platten und bewegte sich in Kreisen Gleichgesinnter, spielte bald mit Ronnie Scott, Alan Skidmore und Kenny Baker, mit dem er im Juli 1951 auch seine ersten Aufnahmen machte.

Die Baker Band hatte jede Menge Fans, und die Presse wurde schnell auf Hayes aufmerksam, der bald als “boy wonder tenorist” vermarktet wurde und, noch nicht einmal 20 Jahre alt, mit den Modernisten der britischen Jazzszene spielte. Mit 18 heiratete er zum ersten Mal, hatte schon zuvor alle möglichen Drogen ausprobiert. Er spielte in den populären Bands von Vic Lewis, Jack Parnell, Tony Hall und hatte schließlich auch mit seiner eigenen Band einen vollen Terminkalender.

Spillett beschreibt, wie britische Musiker in jenen Jahren das US-amerikanische Idiom des Hardbop gemeistert hatten, die Musik von Art Blakey und Horace Silver, und wie Kollegen wie Sonny Rollins oder Hank Mobley ihre stilistischen Spuren in Hayes’ Spiel hinterließen. 1958 traten Hayes’ Jazz Couriers neben dem Dave Brubeck Quartet bei einer Tournee durch sechzehn Städte des Vereinigten Königreichs auf; 1959 wurde Hayes vom Melody Maker zum besten Tenorsaxphonisten gewählt.

Andere Musiker hatten die Entwicklung des amerikanischen Jazz genauso interessiert mit verfolgt; und um 1960 kamen erste Versuche “freier Form” auch in England an. Joe Harriott war einer der ersten, die sich an freieren Spielweisen versuchten; Hayes aber blieb skeptisch. Die Eröffnung von Ronnie Scott’s, bis heute einem der wichtigsten Clubs des Königreichs, war sowohl für die Präsenz des amerikanischen Jazz in England wichtig als auch für das Selbstbewusstsein der eigenen Szene. Der BBC schnitt Konzerte mit, und Plattenfirmen widmeten dem heimischen Jazz eigene Alben. 1961 trat Hayes erstmals in New York auf, wo ihn die Größen des amerikanischen Jazz hörten, unter ihnen Zoot Sims, Al Cohn und Miles Davis. Zurück in England erhielt er einerseits eine eigene Fernsehshow, “Tubby Plays Hayes”, hörte er andererseits erstmals John Coltrane, der sein Bild von den Möglichkeiten im Jazz genau wie das vieler anderer Kollegen völlig veränderte.

Als Duke Ellington 1964 in England auftrat, jammte Hayes mit Bandmitgliedern und wurde vom Duke gebeten für Paul Gonsalves einzuspringen, als dieser unpässlich war. In den nächsten Jahren war Hayes international unterwegs, trat im New Yorker Half Note genauso auf wie beim NDR Jazz Workshop in Hamburg. Er arbeitete wie besessen, hatte zugleich gesundheitliche Rückschläge, darunter eine Thrombose, die auch seine Lungenfunktion herabgesetzt hatte.

Ende der 1960er Jahre hatte der britische Jazz zwei Probleme: die Macht der Rockmusik auf der einen Seite und das Verlangen des Publikums nach amerikanischen Künstlern auf der anderen Seite. Hayes erlitt auch persönliche Rückschläge, etwa als seine Freundin starb und er daraufhin noch stärker zu Drogen griff. Er musste wegen Herzproblemen immer häufiger in ärztliche Behandlung, begann aber trotz aller gesundheitlichen Probleme ein musikalisches Comeback. Er spielte mit Musikern der britischen Avantgarde, John Stevens, Trevor Watts, Kenny Wheeler, beteiligte sich bei einem Benefizkonzert für Alan Skidmore, der nach einem Autounfall im Krankenhaus lag, starb aber schließlich nach einer Operation, bei der eine Herzklappe ausgetauscht werden sollte.

“The Long Shadow” heißt das Buch, und so widmet Spillett sein letztes Kapitel der kritischen Aufbereitung seiner musikalischen Bedeutung nach seinem Tod sowie dem Nachwirken Hayes’ auf der britischen Szene. Er schließt mit einer Diskographie die Aufnahmen des Saxophonisten zwischen 1951 bis 1973 verzeichnet.

Simon Spillett hat viel Sorgfalt in seine Recherchen gesteckt. Nebenbei wirft er immer wieder aufschlussreiche Blicke auf die Musik selbst, auf die Aufnahmen, die Hayes’ musikalische Entwicklung dokumentieren. Wenn überhaupt, so mangelt es dem Buch insbesondere in diesem Segment an Tiefe, etwa an Erklärungen, wo sich Einflüsse, ästhetische Umbrüche und anderes konkret festmachen lassen. Eingehend aber beschreibt er den Lebensweg, die persönlichen Probleme, die musikalischen und ästhetischen Entscheidungen und zieht die Verbindungen zu den allgemeinen Entwicklungen des Jazz in Großbritannien, in Europa und in den Vereinigten Staaten. Spillett konnte mit Zeitzeugen sprechen und hatte Zugriff auf Hayes’ persönliche Papiere. Sein Buch ist eine definitive Biographie, die viele Fragen beantwortet und dabei im umfassenden Apparat all die Dokumente benennt, die für eine solche Arbeit notwendig sind.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Musiktraumzimmer Jazzcampus
herausgegeben von Peter Rüedi & Steff Rohrbach
Basel 2015 (Jazzcampus / Echtzeit Verlag)
212 Seiten, 32 Euro
ISBN: 978-3-905800-78-4

B2015rueediasels Jazzschule ist zum Jazzcampus geworden, zu einer Hochschule für improvisierte Musik, in der, wie der Titel dieses Buchs suggeriert, jede Menge an Träumen und Visionen wahrgeworden sind. Da ist zuallererst die Vision des Gründers und Gitarristen Bernhard Ley, der erzählt, wie er die Schule in den Räumen eines Jugendkulturzentrums gründete und wie er es dann durch pädagogisches wie politisches Geschick, aber auch durch das Talent der Vernetzung, das die Schule zum Teil des Basler Kulturlebens werden ließ, erreichte, sie zu einem Kompetenzzentrum zu machen, in dem der musikalische Gehalt, die Arbeit von Lehrenden und Schüler/innen, sich auch in der architektonischen Umsetzung spiegelt.

Davon nämlich handelt dieses Buch, vom glücklichen Unterfangen, auf den Grundrissen einer ehemaligen Maschinenfabrik eine Musikschule zu bauen mit all der für eine solche notwendigen Infrastruktur, Club, Konzertsaal, Tonstudio, Probenräume etc. Ein Musiktraumzimmer sei das ganze geworden, eine Raumrealisation also, die dem Thema “Jazz” angemessen sei. Mitgeholfen hätten alle, die Architekten Lukas Buol und Marco Zünd, der Bauherr Georg Hasler von der Stiftung Levedo sowie Bernhard Ley, der als Studiengangsleiter den zukünftig alltäglichen Gebrauch im Blick behielt. Das Gespräch mit diesen vieren erklärt Fragen der Akustik, Diskussionen im Planungsverlauf, die Außenwirkung genauso wie den inneren Glanz (sprich: Farben, Bodenbeläde, Beleuchtung).

Solch eine theoretische Diskussion lässt sich nur durch Fotos und Raumpläne in Buchform einfangen. Eigentlich gehört Musik dazu, noch wichtiger wäre der tatsächliche Raumeindruck, der aber in der Architektur immer noch einzig durch einen Besuch ermöglicht wird.

Um die tatsächliche musikalische und pädagogische Nutzung der Räume geht es im zweiten, noch umfassenderen Teil des Buchs: um Konzepte der Jazzpädagogik, persönliche Herangehensweisen an Musik, ästhetische Vorstellungen, die Rückwirkung von Unterricht auf die eigene Kunst der unterrichtenden Musiker.

Wolfgang Muthspiel etwa betont, wie wichtig es neben einem festen Lehrerstamm sei, großartige internationale Kollegen als Gastdozenten an die Schule zu holen. Andy Scherrer erzählt, wie er zum Unterrichten wie die Jungfrau zum Kind gekommen sei, und wie er trotz vieler Schüler immer eine gesunde Skepsis gegenüber des Unterrichtens beibehalten habe. Malcolm Braff erklärt, dass er nicht so sehr das Klavier denn vielmehr sich selbst als das wirkliche Instrument empfinde und wie er in den letzten Jahren eine rhythmische Theorie entwickelt habe, die auch Grundlage seines Unterrichts an der Hochschule sei. Lisette Spinnler versteht die Stimme als Instrument und Texte als Ausgangspunkt für musikalische Erkundungen. Adrian Mears plädiert auch beim Lernen für Spielpraxis, egal mit was für Besetzungen. Bänz Oester vertraut auf die Motivation zukünftiger Musiker/innen, auf die Verantwortung für das Selbst, das Eigene. Domenic Landolf mag sich weder verbiegen noch sonderlich in den Vordergrund spielen. Jorge Rossy spricht über die Standards als Basis und über seine Arbeit mit Carla Bley und Steve Swallow. Matthieu Michel überlegt, wie man als junger Musiker neben der Technik vor allem zu einer eigenen Stimme gelangt. Hans Feigenwinter sieht seine analytischen Fähigkeiten als eine Grundlage seines Musikmachens, zugleich aber die Musik auch als laufenden Ansporn, sie analytisch zu begreifen. Gregor Hilbe berichtet über die Bedeutung des Schlagzeugers in einer rhythmischen Kultur, und zugleich über die Idee des Producing / Performance-Studiengangs am Jazzcampus Basel. Daniel Dettmeister hatte die Chance, als Tonmeister selbst Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung des Aufnahmesaals der Hochschule. Mit Martin Lachmann kommt zum Schluss auch noch der Akustiker selbst zu Wort, der die Räume eingerichtet hat.

Eine bunte Abfolge von Interviews, Reflexionen und Fotos also, die sehr umfassend das Konzept klarmachen, dass hinter dem Jazzcampus Basel steckt: Freiräume schaffen und beste akustische Möglichkeiten. “Musiktraumzimmer Jazzcampus” ist damit zwar vordergründig eine in Buchform gepresste Imagebroschüre der Hochschule, zugleich aber erheblich mehr: ein Manifest für eine Jazzausbildung, in der Kunst und Wirklichkeit, Klang und Akustik, Pädagogik und Freiheit sinnvoll miteinander in Beziehung stehen.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Résume. Eine deutsche Jazz-Geschichte
von Eberhard Weber
Stuttgart 2015 (sagas.edition)
252 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-944660-04-2

2015weberDer Autor kommt gleich zur Sache: Der Leser wisse ja bereits, dass er, Eberhard Weber, gut 40 Jahre lang als Jazzbassist aktiv war, vielleicht auch, dass er seine aktive Karriere nach einem Schlaganfall 2007 beenden musste. Der Leser wisse wahrscheinlich etliches über seine Karriere, wahrscheinlich auch über den Jazz – was könne er dazu noch beitragen…? Nun, wenn überhaupt, dann könne er aus seinen eigenen Erinnerungen erzählen, sehr persönliche Geschichten, die sich um die Musik drehen, die aber auch sein ästhetisches Weltbild und vieles darüber hinaus berühren. Webers Buch wird so zu seinem “Resumé”. Und es mag vielleicht nicht “die” deutsche Jazzgeschichte sein, aber es ist auf jeden Fall, wie der Untertitel verspricht, “eine deutsche Jazz-Geschichte”, ein Beispiel dafür, wieso ein junger Mann zu dieser Musik kommt, was ihn über all die Jahrzehnte an ihr faszinierte und wie er lernte, in ihr sich selbst auszudrücken.

Eberhard Weber, dem musikalischen Geschichtenerzähler, gelingt der narrative Bogen auch in Worten. Bereits das Eingangskapitel, das vom “Schlag” handelt, der ihn kurz vor einem Konzert mit Jan Garbarek in der Berliner Philharmonie traf, von der Unsicherheit über seinen Gesundheitszustand, von der Hoffnung, wieder spielen zu können, zeigt seine erzählerischen, auch zur Selbstironie fähigen schriftstellerischen Qualitäten.

Im zweiten Kapitel widmet sich Weber seiner eigenen Vorstellung von Jazz. “Jazz”, schreibt er ironisch, doch nicht ganz falsch, “ist, wenn es der Komponist, der Arrangeur oder der ausführende Musiker dem Hörer so schwer wie möglich macht, der Musik zu folgen – und trotzdem alle Spaß daran haben. Das unterscheidet ihn von der vermeintlich ‘Neuen Musik’.” Doch neben dem Jazz als großer Kunst will Weber in diesem Kapitel auch seiner eigenen Ästhetik auf die Schliche kommen. Wiederholungen, erkennt er, langweilen ihn in der Regel; die Schlüsse von Stücken, findet er, misslingen meist. Er weiß, dass Solisten auch mal ohne Inspiration sein können und weiterspielen müssen. Er weiß auch um seine eigenen Schwächen als Bassist und beschreibt, wie man nur, wenn man um die technischen Probleme des eigenen Spiels oder des eigenen Instruments weiß, diese überkommen und kreativ mit ihnen umgehen könne.

Weber selbst wurde die Musik in die Wiege gelegt. Sein Vater, erzählt er, hatte als Cellist klassische Musik gemacht, daneben aber auch Cello und Banjo im Tanzorchester von Bernard Etté gespielt. Weber kam mitten im Krieg in Esslingen zur Welt. Seine Mutter sang, und “im häuslichen Weber’schen Freundeskreis”, erinnert er sich, “triumphierte Gesang über Instrumentales”– vielleicht eine Vorbereitung auf seine eigene sangliche Haltung beim Instrumentalspiel? Gehörbildung fand im Kinderzimmer statt, wenn seine Schwester und er Automarken am Klang unterschieden und dabei lernten zuzuhören und zu differenzieren. Ein Vetter quartierte sich nach der Kriegsgefangenschaft bei ihnen ein und begann Flöte zu lernen. Man diskutierte über Wagner und spielte Kammermusik. Weber bekam Cellounterricht, dann entdeckte er den Jazz und mit ihm wechselte er zum Kontrabass.

Im Jazz brachte er sich das meiste selbst bei, berichtet von ersten Bühnenerfahrungen, von Stuttgarter Jazzern wie Horst Fischer und Ernst Mosch, vom ersten Einsatz in Erwin Lehns Orchester als Vertretung für dessen regulären Bassisten. Seine musikalische Leidenschaft führte dazu, dass Weber durchs Abitur rasselte, eine Lehre als Fotograf begann und Kameraassistent bei einer Fernsehfirma wurde. Nebenbei spielte er mit gleichaltrigen Musikern, lernte Anfang der 1960er Wolfgang Dauner kennen und wurde bald Mitglied in dessen Trio. Er erzählt von den unterschiedlichsten Auftrittsorten zwischen Nachtclub, Café, Tanz und Ami-Kaserne, von Einflüssen auf sein Bassspiel, davon, wie das Dauner-Trio seinen eigenen Stil fand. Zwischendurch gibt es reichlich Anekdoten, aber auch Einblicke in die technischen Seiten seiner Kunst: Instrumentenwahl, Akustik, Pickups, Verstärker, elektronische Spielereien.

Ende der 1960er Jahre wandten Dauner und Weber sich freieren Spielweisen zu. Weber weiß um seine Beobachtungsgabe, weiß auch, dass er sich gern mal zur Polemik hinreißen lässt. Doch er besitzt eben auch die Erfahrung, Beobachtetes, insbesondere, wenn es um Musik geht, passend einordnen zu können. Und so mag man mit mancher polemischen Äußerung, die seinem eigenen musikalischen Geschmack zuzuschreiben ist, nicht übereinstimmen, wird aber an richtiger Stelle durch ein Augenzwinkern darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor zwar eine feste Meinung hat, sich selbst aber auch nicht immer ganz so ernst nimmt.

Weber stand in seiner Karriere bei zwei Plattenfirmen unter Vertrag, die Weltgeltung besaßen, Hans-Georg Brunner Schwers MPS und Manfred Eichers ECM. Er beschreibt die Arbeiten zu “The Colours of Chloë” und den folgenden internationalen Erfolg. Er erzählt vom Zusammenspiel mit Gary Burton, von den Unterschieden zwischen amerikanischen und europäischen Gepflogenheiten in der Jazzszene, von Tourneen mit seiner eigenen Band Colours, durch Deutschland – Ost und West –, die USA und Australien. Er berichtet von seiner Zusammenarbeit mit Jan Garbarek, mit dem er auch offizielle Empfänge spielte, bei denen Politiker, Botschafter, Bundespräsidenten, gekrönte Häupter begeistert waren, “endlich mal kein Streichquartett hören zu müssen”.

Eberhard Weber ist ein vielgereister Musiker. Seine Berichte von Zollformalitäten, Einreisebestimmungen, fasst verpassten Flügen und sonstigen Widrigkeiten sind amüsante Anekdoten, die vor Augen führen, dass das Musikerdasein nicht nur der aus musikalischer Kreativität besteht, die das Publikum erwartet und zumeist auch bekommt. Eine Professur für Musik hatte er nie annehmen wollen. Seine Begründung, die wie ein Tenor seine ungemein flüssige und lesenswerte Autobiographie beendet: “Ich kann nicht Bass spielen. Aber ich weiß, wie’s geht.”

Wolfram Knauer (Juni 2015)


Coltrane sur le Vif
von Luc Bouquet
Nantes 2015 (Lenka Lente)
146 Seiten, 13 Euro
ISBN: 978-2-9545845-8-4

2015bouquetDie Großen des Jazz waren zumeist auch die Meistaufgenommenen, und neben den offiziellen Einspielungen im Studio gehörten über die Jahre Bootlegs dazu, Schwarzpressungen von legalen oder illegalen Mitschnitten, die in mal besserer, mal schlechterer Qualität auf den Markt kamen. Solche Bootlegs haben naturgemäß keine Studioqualität; zum Teil sogar einen unsäglich schlechten Sound. Aber sie sind nicht nur für den Fan, sondern auch für den Experten ein immens wichtiger Teil der Aufnahmegeschichte dieser Musiker. Sie dokumentieren nicht die perfekte Abmischung, sondern den Alltag des Konzerts, in dem das Solo völlig anders klingen kann, in dem die Künstler mit dem Material oder auch mit sich selbst zu kämpfen haben, in dem mal bessere, mal schlechtere Fassungen der großen Titel erklingen, vergleichen mit den auf den im Studio gefertigten Referenzaufnahmen.

Luc Bouquet hatte im französischen Magazin Improjazz eine Reihe über die Liveaufnahmen John Coltranes veröffentlicht und diese jetzt in die zwölf Kapitel des vorliegenden Buchs einfließen lassen. Ein erstes Kapitel beschreibt Coltranes erste Aufnahmen aus dem Jahr 1946 sowie zwei Sessions mit Dizzy Gillespie bzw. Johnny Hodges. Kapitel 2 widmet sich den Jahren 1955-57 und Livemitschnitten mit Miles Davis, Kapitel 3 der Zeit von 1957-58 und den erst jüngst entdeckten und doch schon legendären Aufnahmen Coltranes mit dem Thelonious Monk Quartet. Zwei weitere Miles Davis-Kapitel schließen sich an, 1958-59 in den USA sowie 1960 in Europa, dann beginnt mit Kapitel 6 die Aufnahmegeschichte von Coltranes eigenen Bands: sein klassisches Quartett, Trane und Dolphy, die diversen Besetzungen von 1962, 1963, 1964-65 bis hin zu seiner letzten Liveaufnahme, dem “Olatunji”-Konzert vom April 1967. Jede der Platten wird mit Besetzungs- und Inhaltsangaben gelistet, dazu kommt eine kurze Beschreibung dessen, was auf ihr zu hören ist. Allzu tief versteigt sich Bouquet dabei weder in die Musik noch in die Begleitumstände der Aufnahmen – so wäre etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Entdeckungsgeschichte der Bänder von Tranes Carnegie-Hall-Konzerts mit Thelonious Monk durchaus berichtenswert gewesen.

Bouquets Buch ist als eine Art annotierte Diskographie der Liveaufnahmen John Coltranes ein nützliches Handbuch sowohl beim Hören wie auch bei der Entscheidungsfindung, was man sich vielleicht noch zulegen könnte.

Wolfram Knauer, April 2015Rencontres du jazz et de la musique contemporaine
herausgegeben von Jean-Michel Court & Ludovic Florin
Toulouse 2015 (Presses Universitaires du Midi)
184 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-2-8107-0374-6

Das vorliegende Buch ist die Dokumentation einer Tagung, die im Oktober 2013 in Toulouse stattfand und sich mit aktuellen Beziehungen zwischen Jazz und Zeitgenössischer (sogenannter “Neuer”) Musik beschäftigte. Im Vorwort stecken die beiden Herausgeber das Feld ab, das irgendwo zwischen Anthony Braxton und IRCAM-Experimenten angesiedelt ist und bei dem oft die Genrebezeichnung, ob “Jazz” oder “Neue Musik”, im Weg steht, da die Musik selbst solche Grenzen inzwischen gern und oft überschreitet.

Die Beiträge selbst sind theoretisch-musikwissenschaftlicher Natur. Im ersten Teil findet Vincenzo Caporaletti, dass die jüngere Entwicklung im Kunstmusikbereich neue wissenschaftliche Ansätze benötigt und stellt sein “principe autiotactile” vor, durch das sich sowohl für komponierte wie auch für improvisierte Musik die performativen Prozesse genauso analysieren ließen wie die ästhetischen Prozesse, die durch die Musik wie auch durch äußere, etwa mediale Einwirkungen mitbestimmt werden. Alexandre Pierrepont nähert sich der Frage, inwieweit die genre-spezifische Einordnung und Wertung von Musik aus den Bereichen europäischer klassischer Musik und des afro-amerikanischen Jazz nicht auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser zu Missverständnissen führt, wenn die Querverbindungen, die ja zwischen den Genres bestehen, oft und gern mit kulturellen Konnotationen versehen werden. Pierre Sauvanet betrachtet, wie das Moment der “Tradition” von Musikern im Jazz, der Neuen Musik und in tatsächlich “traditionellen” Musikrichtungen unterschiedlich behandelt wird.

Im zweiten Teil des Buchs geht es an konkrete Analysen. Pierre Fargeton befasst sich mit Franz Koglmanns langjähriger Auseinandersetzung mit dem Third Stream, der Neuen Musik und anderen Kunstrichtungen. Konkret untersucht er Koglmanns “Join!” eine “Oper” aus dem Jahr 2013 auf diverse Bezüge (1.) zum Jazz und (2.) zur Zeitgenössischen Musik. Martin Guerpin analysiert die Komposition “Unisono” des israelischen Komponisten Ofer Pelz und identifiziert darin insbesondere die Jazzverweise. Wataru Miyakawa untersucht das Werk des japanischen Komponisten Toru Takemitsu, in dem ihn vor allem der Einfluss des Lyrian Chromatic Concept von George Russell interessiert.

Im dritten Teil des Bandes berichtet der Gitarrist Frédéric Maurin darüber, wie er Methoden der Spektralmusik, die in den 1970er Jahren im Kreis der IRCAM in Paris entwickelt wurde, etwa für seine Band Ping Machine nutzbar macht. Cécile Auzolle untersucht das “Wintermärchen” des belgischen Komponisten Philippe Boesmans von 1999 und hat dabei Einflüsse aus dem jazz sowie improvisatorische Passagen im Fokus, die in der Oper vom Ensemble Aka Moon ausgeführt wurden. Henri Fourès hinterfragt die Begriffe Jazz, Zeitgenössische Musik, Komposition, Notation und Improvisation auf ihre Wertigkeit in der Hochschullehre. Zum Schluss berichten die Bassistin Joëlle Léandre, der Saxophonist Douglas Ewart und der Trompeter Mike Mantler über ihre eigenen Erfahrungen im Feld zwischen den Welten von Jazz und Neuer Musik.

“Rencontres du jazz et de la musique contemporaine” wirft ein Schlaglicht auf eine offenbar immer noch wichtige Diskussion in den beiden darin angesprochenen Welten. Der einleitende Überblick listet frühere Beschäftigungen mit dem Thema auf (hier fehlt allerdings der Band “Jazz und Komposition”, der das 2. Darmstädter Jazzforum von 1991 dokumentiert und in dem dieses Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet wurde). Sowohl in den allgemein theoretischen wie auch den konkreter praktischen Kapiteln fehlt ein wenig – aber das ist bei einer Tagung, die das nicht ausdrücklich zum Thema machte, vielleicht auch kaum zu leisten – die grundlegende Diskussion einer anders als aus dem europäischem Wissenschaftsdiskurs entstandenen Reflexion über Musik, eine Perspektive also, die sowohl Jazz wie auch die in europäischer Tradition stehende Neue Musik etwa aus dem Blickwinkel von Community, von Macht, von Geschlechterungleichheit oder ähnlichem betrachtet, sich dabei nicht auf die bestehenden meist europäisch gefärbten und genormten Diskurstraditionen einlässt, sondern mutig nach neuen sucht. Das von George Lewis und Benjamin Piekut 2016 herausgegebene Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies geht da einen anderen Weg, braucht, um das Thema abzudecken allerdings auch über 1000 Seiten.

Wolfram Knauer (März 2018)


Bunk Monk & Funk – and other attractions
von Anders Stefansen (& Jan Søttrup)
Kopenhagen 2012 (People’s Press)
248 Seiten, 249 Dänische Kronen
ISBN: 978-8771-37035-5

Anders Stefansen ist ein bisschen der Fritz Rau Dänemarks: ein Konzertveranstalter, der eher zufällig ins Geschäft kam, in den frühen 1960er Jahren für Norman Granz dessen Skandinavien-Tourneen organisierte (so wie dies Lippmann + Rau in Deutschland taten), später auch populärere Acts betreute, von den Beatles bis zu den Rolling Stones. In seiner Autobiographie erinnert sich Stefansen an die vielen Freundschaften zu Musikern, die er in seinem Berufsleben schließen konnte, an das Tourleben, an Probleme und ihre jeweilige Lösung, und an Begegnungen wie die mit John Coltrane, Andrés Segovia, Count Basie, Duke Ellington, Ben Webster, Cecil Taylor und vielen anderen. Er beleuchtet die Realitäten des Business, schwelgt aber vor allem in Erinnerungen. Wenn es dabei auch mehr um die Menschen geht als um die Musik, so ist die Lektüre seines Buchs dennoch erhellend nicht nur für diejenigen, die von seiner Arbeit als Konzertveranstalter profitierten, etwa weil sie selbst im Publikum saßen. Seine Anekdoten beleuchtet zugleich eine ungewöhnliche Karriere zwischen Musik und guter Küche (Stefansen eröffnete eines der ersten French Cuisine Restaurants in Dänemark). Und seine Anekdoten über Henry Miller, den er traf, als er den Film “Ruhige Tage in Clichy” produzierte, sind besondere Zugaben der Lektüre.

Wolfram Knauer (Januar 2018)


Fashion and Jazz. Dress, Identity and Subcultural Improvisation
von Alphonso D. McClendon
London 2015 (Bloomsbury Academic)
194 Seiten, 24,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-85785-127-7

Von den Banduniformen der Swingorchester über die Gardenie im Haar von Billie Holiday bis zu Wynton Marsalis’ in Brooks Brothers-Anzüge gekleidetes Lincoln Center Jazz Orchestra: Jazzmusiker waren immer auch Mode-Ikonen. Miles Davis mag diese Facette seines Bühnenlebens am stärksten ausgelebt haben, doch findet sich das Bewusstsein für die Bühnengarderobe durch die Jazzgeschichte. Als Art Blakey seiner Band in den 1970er Jahren für eine Weile erlaubte, in Straßenklamotten aufzutreten, war das eine Ausnahme. Er wie andere Musiker wussten, dass sie als afro-amerikanische Künstler Vorbildfunktion hatten.

Alphonso D. McClendon ist Modeforscher und hat sich in seinem Buch “Fashion and Jazz” dem Subtext der Musikergarderobe durch die Jazzgeschichte angenommen. Ihm ist wichtig, auf die gegenseitigen Einflüsse zwischen Jazz und Mode hinzuweisen, wie er gleich im ersten Kapitel deutlich macht, in dem er Parallelen und Einflusswege nennt, dass nämlich sowohl Mode wie auch Jazz auf ihre jeweilige Art und Weise vom Freiheit des Ausdrucks handeln. Es habe im Jazz durchaus eine “Sprache der Kleidung” gegeben, sagt er – will heißen: die Bühnenpräsentation hatte immer auch etwas zu bedeuten, und Kleidung habe zur visuellen Ästhetik von Jazzmusikern beigetragen, ob in der Performance auf der Bühne oder in Abbildungen.

Im zweiten Kapitel geht McClendon das Thema dann chronologisch an. Er beschreibt die Mode der Ragtime-Ära und der Bluesmusiker, die Bühnenkostüme von Swing-Musikern und die Selbstdarstellung der Bebopper, die zugleich “die Konstruktion eines subkulturellen Stils” gewesen sei, und stellt schließlich fest, das sowohl Mode wie auch Jazz ähnliche Perioden von Konformität (1900-1920), populärem Einfluss (1920-1940) und Widerstand (1940-1960) durchgemacht hätten.

Kapitel 3 diskutiert Momente “der Moderne” bzw. “des Modernen” und die Kommunikation beider durch Mode und Spielpraktiken im Jazz. Im vierten Kapitel beschreibt McClendon Strategien der Distinktion durch Jazz und Mode, um sich im fünften Kapitel etwa auf die Darstellung von Frauen und Männern in frühen Sheet-Music-Covers zu konzentrieren. Kapitel 6 diskutiert subversive Konnotationen, die sich etwa in Texten von Bluessängerinnen finden oder im Eingang von Jazzthemen in die Literatur oder den Film. Kapitel 7 ist überschrieben “Narcotics and Jazz: A Fashionable Addiction” und beschreibt unter anderem, wie elegante Kleidung auch helfen konnte ein Leben im Schatten der Drogensucht zu verschleiern. Kapitel 8 fokussiert auf Billie Holiday als Musik- wie Mode-Ikone; Kapitel 9 beschreibt Duke Ellington und Benny Carter als “traditionellen Dandy” sowie Dizzy Gillespie und Gerry Mulligan als “modernen Dandy” und blickt kurz darauf, wie amerikanische Präsidenten wie Bill Clinton und Barack Obama ihre Nähe zum Jazz als Imagefaktor ausnutzten.

McClendons Buch reicht leider nur bis ins Jahr 1960 und verpasst damit die politische Garderobe von Dashikis, schwarzen Lederjacken oder soul-beeinflusster Hipstermode der 1960er und 1970er Jahre, thematisiert also auch nicht die Rückkehr zur ordentlichen Garderobe mit Aufkommen der Young Lions der 1980er Jahre. Er thematisiert damit weder die modetechnische Annäherung zwischen den Genres, etwa in Richtung Rock oder auch Neue Musik, noch die Unterschiede etwa in im Modeverhalten amerikanischer und europäischer Musiker. Doch gelingt ihm in diesem eigentlich auf der Hand liegenden und doch so ganz anderen Blick auf Jazzgeschichte eine Perspektive, die Aufschluss über Imagebildung, Selbstverständnis der Künstler und die gegenseitige Beeinflussung von Image und künstlerischem Anspruch erlaubt. Etliche Bilder, eine ausführliche Bibliographie und ein Namensindex schließen das Buch ab.

Wolfram Knauer (August 2017)


Sales Rectangles. Daunik Lazro. Vieux Carré
von Guillaume Belhomme
Nantes 2015 (Lenka Lente)
44 Seiten, 1 Mini-CD, 9 Euro
ISBN: 978-2-9545845-9-1

Am 21. Mai 2011 spielte der Saxophonist Daunik Lazro ein inspiriertes unbegleitetes Solokonzert in einen Buchladen in Rouen. Guillaume Belhomme versucht die Stimmung des Konzerts einzufangen, indem er eines der Stücke Lazros, eine lange Improvisation über Joe McPhees “Vieux Carré” mit kurzen Blicken in die Bücher, die um ihn herum stehen und liegen, verbindet. Seine knappen, aus jeweils nicht mehr als einem Satz bestehenden Kommentare lassen sich den diesen Büchern allerdings erst zuweisen, wenn man sie anhand der im Büchlein abgedruckten Barcodes (bzw. die diesen beigefügten ISBN-Nummern) sucht. Und tatsächlich gelingt es Belhomme dabei ein wenig, jene Stimmung eines Konzerts im Buchladen einzufangen, bei dem die Konzentration auf die Musik von den Blicken zu und in die Bücher, von der Wahrnehmung der Atmosphäre, von kurzen Reflektionen darüber, was man da aufblättert, während man zugleich zuhört, unterbrochen, aber durchaus auch bereichert wird. Ein ungewöhnliches, durchaus inspirierendes Experiment, das den Leser / Hörer quasi subkutan auf die Komplexität der Wahrnehmung von Musik aufmerksam macht.

Wolfram Knauer (März 2017)


Spirits Rejoice! Jazz and American Religion
von Jason C. Bivins
New York 2015 (Oxford University Press)
369 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-023091-3

Jazz und Spiritualität sind für viele Musiker eine zusammenhängende Einheit. Duke Ellington, John Coltrane, Albert Ayler, Rahsaan Roland Kirk, Yusef Lateef, Anthony Braxton – die Liste der Musiker, für die ihre musikalische immer auch eine spirituelle Suche war, ist lang. Der Religionswissenschaftler und Jazzgitarrist Jason Bivins beleuchtet in seinem Buch dieses Verhältnis zwischen Religion und Musik anhand zahlreicher Beispiele und legt, gerade weil er seine Studien aus der Perspektive eines Religionsforschers und mit dem Wissen eines Jazzers macht, ein wichtiges Buch vor, in dem das Thema weit fundierter angegangen wird als in vielen Biographien der bereits genannten Musiker.

In seinen “ersten Meditationen” zum Thema stellt Bivins fest, dass Jazz genauso wie Religion in ihrer jeweiligen Individualität der Wahrnehmung schwer fassbare Gebilde seien. Er weiß um die ganz unterschiedlichen Ausprägungen des Religiösen oder Spirituellen gerade in der Musik, die irgendwo zwischen Ritual und Weltforschung liegt. Er fragt, wie sich das spirituelle Umfeld, aus dem Musik heraus initiiert oder rezipiert wird, auf die Musik selbst auswirkt. Er befasst sich mit konkreten Traditionen, auf die Jazz sich immer wieder bezog. Er betrachtet Beispiele, in denen mit Jazz amerikanische Geschichte genauso wie religiöse Aspekte derselben dargestellt werden. Er befasst sich mit Jazz in religiös-musikalischer Praxis. Er hinterfragt das Klischee von Jazz als rituelle oder heilende Praxis. Er diskutiert Verweise im Jazz auf Mystizismus, Selbstlosigkeit, die klangliche Verbindung zu einem höheren Wesen. Es untersucht Kosmologien und metaphysische Theorien im Jazz. Er will damit nicht nur Aspekte der Jazzgeschichte durch ihre Verankerung in religiösen Praktiken erklären helfen, sondern zugleich die Religionsgeschichte in den USA seit den 1920er Jahren mithilfe ihres Widerhalls im Jazz beleuchten.

Bivins geht dabei weder chronologisch vor noch versucht er seine Thesen an zentralen Figuren festzumachen, wenn es auch an konkreten Beispielen nicht mangelt in seinem Buch. Natürlich spielt der Einfluss der schwarzen Kirche auf viele afro-amerikanischen Musiker eine wichtige Rolle. Er beschreibt das Zeugnis ablegende (“testifyin'”) Tenorsaxophonspiel Albert Aylers. Er findet Spiritualität in Charles Gayles Bühnen- genauso wie Straßenmusikauftritten. Er fragt nach den Gründen von Jazzmusikern zum Islam, zum Buddhismus, zum Bahá’í, zur Scientology zu konvertieren und ihre Reflektion über die jeweilige religiöse Praxis und ihre Auswirkung auf ihre Musik. Er befasst sich mit den Ausprägungen des “Radical Jewish jazz” und mit der Idee einer imaginären Folklore in den Vereinigten Staaten.

Er beschäftigt sich mit Beispielen, in denen Jazzmusiker bzw. ihre Werke religiöse Geschichte erzählen und verwebt dabei eng religiöse und politische Aussagen, etwa in den Aufnahmen von Charles Mingus, Archie Shepp, Max Roach und Abbey Lincoln. Auch der Saxophonist Fred Ho und sein Einsatz für einen Asian American Jazz kommen zur Sprache sowie Sun Ras Verweise auf weltumspannende Verbindungen, die weit über den Planeten Erde hinausreichen. Er geht auf Ellingtons “Sacred Concerts” ein und widmet eine längere Passage John Carters Komposition “Roots and Folklore”, die, wie er findet, ein würdiger Träger des Pulitzer Preises gewesen wäre, den Wynton Marsalis später für sein Oratorium “Blood On the Fields” erhielt.

Er entdeckt im Bemühen von Musikern seit den 1950er Jahren sich zu organisieren neben den politischen auch spirituelle Gründe, wie er etwa am Beispiel der AACM und der Black Artists Group zeigt. Die von Horace Tapscott gegründete Underground Musicians Association, die Saint John Coltrane African Orthodox Church und Alice Coltranes Ashram sind für ihn konkrete Beispiele, wie Jazz als spirituell-religiöses Ritual gelebt und zelebriert werden kann.

Im zweiten Teil seines Buchs beschäftigt sich Bivins mit den engen Verbindungen zwischen Ritual und Improvisation, nennt Beispiele aus dem Schaffen von Duke Ellington, Mary Lou Williams, Milford Graves, Cecil Taylor, bezieht sich aber auch auf das Feld des afro-kubanischen Jazz, auf Steve Colemans Studien zur Yoruba-Kultur und auf die Musik des Art Ensembles of Chicago.

Ein eigenes Kapitel befasst sich mit Meditation und Mystizismus und verweist dabei auf Musiker wie Steve Lacy, Arthur Blythe, William Parker und Davis S. Ware. Ornette Colemans Harmolodics und George Russells Lydian Chromatic Concept werden von Bivins nicht allein als musiktheoretische Abhandlungen verstanden, sondern als Beispiel für kosmologische und metaphysische Versuche Jazz, Improvisation, ja Musik ganz allgemein zu fassen. In dieses Kapitel gehören auch Anthony Braxtons Tri-Axium-System und Wadada Leo Smith’ Ankhrasmation.

In seinem Schlusskapitel stellt Bivins dann noch einmal klar, dass die Auseinandersetzung mit Jazz oder mit Religion notwendigerweise eine fragmentarische sein muss, dass beide Praktiken ein Versuch sind, sich der Komplexität der Welt zu nähern, unsere eigene Sicht aber immer durch das geprägt ist, was wir bereits “wissen”. Für einige sei Musik wie Religion, weiß er, das aber beinhalte weit mehr als die pure Hingabe. Wie die Religion in amerikanische (und weltweiter) Geschichte, habe auch die Musik subversive Funktionen gehabt, habe Einfluss auf die Wahrnehmung der Realität genommen und diese damit ändern können.

Bivins’ Entscheidung, keine klar strukturierte Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Jazz und verschiedenen Ausprägungen von Spiritualität zu wählen, sondern stattdessen Themen zu identifizieren und von verschiedenen Seiten zu beleuchten, führt dazu, dass man auch als Leser die Vorstellung von Religion, Spiritualität, Ritual weiter fasst. Wo man zu Beginn der Lektüre von der sehr offenen Fassung der Begriffe noch ein wenig irritiert sein mag, da ist man dem Autor am Ende genau dafür dankbar, da er es schafft, auch beim Lesen die schnellen Analogien zu vermeiden. Bivins gelingt es, diesen offenen Geist in seine Leser zu übertragen – für den europäischen Leser dann auch in Richtung all der Themen, die sich hierzulande in die verschieden Kapitel einflechten ließen.

Wolfram Knauer (März 2017)


Omniverse Sun Ra
von Hartmut Geerken & Chris Trent
Wartaweil 2015 (Waitawhile Books / Art Yard)
304 Seiten, 69 Euro
ISBN: 978-0-9933514-0-2

Von 1994 stammt das damals im LP-Schallplattenformat veröffentlichte, von Hartmut Geerken und Bernhard Hefele herausgegebene Buch “Omniverse Sun Ra”. Jetzt erschien eine Neuauflage dieses Werks, das das Universum des Meisters aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben versucht.

Geerken war in den 1960er bis 1980er Jahren Institutsleiter verschiedener Goethe-Institute. Als Perkussionist hat er daneben mit zahlreichen Musikern vor allem aus dem Bereich der improvisierten Musik zusammengearbeitet. In Jazzkreisen ist er dabei insbesondere als Kenner des Oeuvres Sun Ras bekannt und war für Konzerte des Arkestra verantwortlich, etwa 1971 in Kairo, wo er seinerzeit fürs Goethe-Institut wirkte. Sein Buch von 1994 war eine kleine Sensation für die Aufarbeitung des Ra’schen Oeuvres; die Neuauflage ist nicht weniger willkommen.

Was übernommen wurde: Amiri Baraka beginnt das coffeetable-große Buch mit einem einleitenden, sehr persönlichen Text über den Meister. Robert Campbell erzählt die irdische Biographie Herman Blounts von seiner Geburt in Birmingham, Alabama, im Jahr 1914 bis zu seinem Tod im Mai 1993 und ordnet zugleich die verschiedenen Besetzungen und musikalischen Phasen seines Schaffens zu. Sigrid Hauff untersucht die mythologische und spirituelle Welt, die Sun Ra musikalisch genauso wie in Texten oder Interviews heraufzubeschwören versuchte. Chris Cutler ordnet sein musikalisches Schaffen in den größeren Kontext von Jazz und afro-amerikanischer Musikgeschichte ein. Robert Lax versammelt mehr oder weniger unzusammenhängende Gesprächsfetzen, Bonmots und Aphorismen des Pianisten, Komponisten, Bandleaders und spirituellen Philosophen. Salah Ragab berichtet über Konzerte des Arkestra in Ägypten in den Jahren 1983 und 1984. Karlheinz Kessler hinterfragt die Verwendung von Ritualen in den Performances der Band. Gabi Geist schreibt ein Horoskop für jemanden, der immer sagte, dass sein Geburtstag und -ort höchstens irdisch seien, tatsächlich aber seiner Herkunft nicht gerecht würden. Hartmut Geerken schließlich erinnert sich an den Besuch des Arkestra in Ägypten im Dezember 1971. Zwischendrin finden sich zahlreiche Fotos, viele davon von der britischen Fotografin Val Wilmer.

Was neu ist: Ein Text Bernhard Helefes entfällt in der Neuauflage. Den ausführlichen diskographischen Teil des Buchs hat Chris Trent neu geordnet. Wieder gibt es einen umfangreichen Bildteil, der die Plattencovers zeigt.

“Omniverse Sun Ra” war schon in der ersten Ausgabe von 1994 eine labor of love. Die neue Ausgabe hat einen Hardcover-Einband, ein etwas handlicheres Format, einen Block mit Farbfotos der Band, die im früheren Buch nicht enthalten waren. Es verzichtet auf die Tapeologogy, also die Auflistung oft privater Konzertmitschnitte, sowie auf die ausführliche Bibliographie der früheren Ausgabe.

“Omniverse Sun Ra” bleibt bei alledem ein großartiges Buch, das in Wort, Bild und Tonträgerverweisen als hervorragendes Nachschlagewerk über die Welt und Weltsicht Sun Ras genauso zu nutzen ist wie als eine Dokumentation, in der auch “Nachgeborenen” die Bühnenperformance des Arkestra vor Augen geführt wird.

Wolfram Knauer (März 2017)


A City Called Heaven. Chicago and the Birth of Gospel Music
von Robert M. Marovich
Urbana/IL 2015 (University of Illinois Press)
488Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08069-2

Gospelmusik, erklärt Robert Marovich, Rundfunkmoderator, Herausgeber des Journal of Gospel Music und Musikhistoriker, sei die künstlerische Antwort auf die Great Migration gewesen, in der tausende und abertausende Afro-Amerikaner zu Beginn des 20sten Jahrhunderts aus den Südstaaten in den Norden zogen und insbesondere in Städten wie Chicago ein neues Zuhause fanden. Blues, sagte Mahalia Jackson einmal, seien Lieder der Verzweiflung gewesen, Gospel dagegen Lieder der Hoffnung. Das Genre, erklärt Makovich in seinem Buch, das sich auf die Verankerung der Musik im Chicago des 20sten Jahrhunderts fokussiert, sei wie eine soziale Organisation organisiert gewesen, die jeden, egal wie gut er oder sie singen konnte, willkommen geheißen hätte.

In seinem Buch beschreibt Marovich die Entwicklung der Gospelmusik von frühen Hymnen und Camp Meetings über die beschriebene Great Migration und die lebendige Gospelszene von Chicago bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sounds, Rhythmen und der Enthusiasmus dieser Musik Eingang in die Popmusik fanden und schließlich zur Begleitmusik der Bürgerrechtsbewegung wurden. Er greift auf Interviews und selten ausgewertete historische Quellen zurück, um die Einbettung der Musik in die Community zu beschreiben; er entdeckt die Bedeutung von Predigern, deren eindringliche Sermons ab den 1920er Jahren ja sogar auf Schallplatte veröffentlicht wurden; er berichtet von frühen Aufnahmen für das noch junge Radio genauso wie für die aufstrebende Plattenindustrie. Er geht auf weithin bekannte Gospel-Künstler ein, Thomas A. Dorsey etwa oder Mahalia Jackson, genauso aber auch auf weniger, oft nur lokal bekannte Musikerinnen und Musiker. Er weiß um die Hintergründe der Gospeltourneen, die in den 1930er Jahren große Erfolge feierten, und er beschreibt die Entwicklung des Gospelquartetts über die Jahre.

Die Zuwanderung nach Chicago aus dem Süden hielt bis in die 1940er Jahre an und vermittelte der Gospelmusik damit über lange Jahre jene wichtige Funktion des Haltgebens in der Fremde. Radio- und frühe Fernsehshows nahmen sich des Genres an, und immer mehr wurde Gospel auch zu einem kommerziellen Produkt. In seiner Übersicht über die verschiedenen Stränge des Genres kennt Marovich alle Solisten, Bands, Quartette und Chöre und beschreibt sowohl ihre Einbindung in die örtliche kirchliche Gemeinschaft wie auch ihr sehr unterschiedliches Verhältnis zur Plattenindustrie. Mitte der 1950er Jahre fiel der Gospelmusik schließlich eine neue Rolle zu, als Mahalia Jackson zu einer glühenden Vertreterin des Civil Rights Movement und einer engen Verbündeten Dr. Martin Luther Kings wurde.

Die große Zeit des Gospel war mit dem Tode Mahalia Jacksons und Roberta Martins vorbei; und hier endet auch Marovichs Buch, mit einem nur kurzen Ausblick auf die Gegenwart. “A City Called Heaven” ist ungemein detailreich, dadurch stellenweise etwas mühsam zu lesen, aber durch einen umfangreich aufgeschlüsselten Index ein gutes Nachschlagewerk zum Thema. Marovich zeigt anhand der Gospelmusik in Chicago, wie sich sich Genre- und Stadtgeschichtsschreibung miteinander verbinden lassen, weil die Nöte und Zwänge des Lebens in der Großstadt letztlich die Entwicklung einer Musik als spirituelles Gegengewicht befördert haben.

Wolfram Knauer (Januar 2017)


La Nuée. L’AACM: un jeu de société musicale
von Alexandre Pierrepont
Marseille 2015 (Éditions Parenthèses)
443 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-2-86364-669-4

2008 veröffentlichte George E. Lewis sein Buch “A Power Stronger Than Itself. The AACM and American Experimental Music”, das die musikalische und ästhetische Welt der Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago seit den 1960er Jahren aus der Ecke einer “nur” afro-amerikanischen Avantgarde holte und zeigte, wie sehr die darin Aktiven Teil eines generellen und weit über Amerika hinausreichenden künstlerischen Diskurses waren und sind.

Im Vorwort seines Buchs über die AACM schildert Alexandre Pierrepont, wie es dazu kam, dass er sich als Anthropologe entschied, eine Studie zur AACM zu schreiben, wie er mittendrin von Lewis’ Arbeit erfuhr und sofort bereit war, mit seinem eigenen Projekt zurückzustecken. Lewis aber habe ihn zum Weitermachen ermutigt: Sein Buch sei eine Innenansicht, so Lewis, ein so komplexes Thema aber brauche immer mehrere Perspektiven, und Pierreponts Arbeit könne vielleicht eine sinnvolle Außenansicht bieten. Und so ist mit “La Nuée” (“Der Schwarm”) jetzt ein zweites umfangreiches Buch auf dem Markt, das die AACM von den 1960er Jahren bis heute als einen künstlerische Ansatz beschreibt, der weit über die erklingende oder auf Tonträgern dokumentierte Musik hinausreicht, vor allem nämlich in den daran beteiligten Akteuren ein Selbstbewusstsein geschaffen hat, das sie weit über den Kreis des Jazz, der afro-amerikanischen oder sogar der amerikanischen Musik hinaus einordnen lässt.

Pierrepont präsentiert im ersten Kapitel 25 Gründe warum, und Erklärungen wie Afro-Amerikaner in den USA ausgegrenzt oder marginalisiert wurden. Er zeigt, dass Musik gerade in diesem Zusammenhang wichtige soziale Funktionen übernahm. Er schildert die Situation in Chicago und erklärt, wie sich hier ab den 1950er Jahren eine aktive experimentelle Musikszene herausbildete. Im zweiten Kapitel beschreibt er die Idee hinter der AACM, die unterschiedlichen Ensembles und Projekte, die aus dem Kreis der Musiker entstanden, die europäische Erfahrung von Mitgliedern etwa des Art Ensemble of Chicago zwischen den Jahren 1969 und 1974, die Verbindungen zwischen der Chicagoer und der New Yorker Avantgarde-Szene ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre (die viel damit zu tun hatte, dass etliche Chicagoer Musiker inzwischen an die Ostküste umgezogen waren), sowie den Einfluss der AACM und ihres Konzepts auf europäische Improvisations-Kollektive.

Im dritten Kapitel untersucht Pierrepont die AACM als Kooperative und Verein, als Geheimbund und Brüderschaft, als sozio-musikalische Bewegung und Weltschule, beschreibt ihre formale Organisation, aber auch die “respectful anarchy”, die sich aus ihren Verbindungen etwa zum Black Arts Movement und anderen auch politisch aktiven Organisationen ergaben. Dabei sei sie bis heute eine Vereinigung afro-amerikanischer Musiker geblieben. Egal ob in Tongebung, Improvisation oder Komposition sei eines der verbindenden Merkmale der aus der AACM entstandenen Musik zum einen die Betonung von Individualität, zum zweiten aber auch das Einbringen des Subjekts in kollektive Prozesse. Pierrepont beschreibt pädagogische Konzepte, die sich aus den Schulprojekten der Association ergaben, und umreißt musikalische als soziale Verbindungen und die daraus resultierenden Gruppenzugehörigkeits-Prozesse. Im vierten Kapitel beschreibt er die Offenheit der AACM-Mitglieder gegenüber Genre, kompositorischen und improvisatorischen Experimenten, der Verwendung und Aneignung im Jazz bislang eher unüblicher Instrumente, der Weiterentwicklung elektronischer Klang- (und musikalischer Reaktions)möglichkeiten, sowie der Arbeit im Solo- und großorchestralen Kontext. Das Art Ensemble of Chicago warb mit dem Slogan “Ancient to the Future”, und in dieser Haltung, dass die Formung jedweder (künstlerischen) Zukunft sich auf die eigene Interpretation der Vergangenheit beziehe, sieht Pierrepont eines der Geheimnisse hinter der Langlebigkeit der AACM als Organisation. “Ich ziehe die Mythokratie der Demokratie vor”, zitiert er Sun Ra. “Noch vor der Geschichte. Alles vor der Geschichte sind Mythen… Das ist der Ort, an dem die Schwarzen sind. Realität ist gleich Tod, weil alles, was real ist, einen Anfang und ein Ende hat. Die Mythen sprechen vom Unmöglichen, von Unsterblichkeit. Und da alles Mögliche bereits versucht wurde, müssen wir eben das Unmögliche versuchen.”

Alexandre Pierreponts Studie zur AACM bietet eine gelungene Interpretation dessen, wofür die Association for the Advancement of Creative Musicians stand und steht, eine Einordnung ästhetischer wie gesellschaftlicher Vorstellungen und Aktivitäten aus der Gruppe, und den Versuch, das alles in Verbindung zu bringen mit ästhetischen, kritischen, philosophischen und spirituellen Aspekten, die weit über die Arbeit der AACM-Mitglieder hinausgehen. Ihm ist dabei, in Gesprächen mit Musikern, in den Beschreibungen von Konzert- und Aktionssituationen, in der historischen genauso wie der anthropologischen Einordnung all dessen ein kluges Buch gelungen, das die Rolle der AACM im Jazz genauso zu verorten in der Lage ist wie in der aktuellen Musik des 20sten (und letzten Endes auch 21.) Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Jazz Tales from Jazz Legends. Oral Histories from the Fillius Jazz Archive at Hamilton College
Von Monk Rowe (& Romy Britell)
Rochester 2015 (Richard W. Couper Press)
209 Seiten, 20 US-Dollar
ISBN: 978-1-937370-17-6

Das Hamilton College ist eine relativ kleine Hochschule in Clinton, New York. Einer ihrer Absolventen, Milt Fillius Jr., zog nach seinem Diplom ans andere Ende des Landes, nach San Diego, hielt aber Kontakt zu seiner Alma Mater. Er liebte Jazz und er war ein guter Freund des Sängers Joe Williams, der 1988 die erste Ehrendoktorwürde des Hamilton College erhielt. Im Gespräch mit Williams und dem Bassisten Milt Hinton wurde Fillius bewusst, wie viel an Wissen über den Jazz tatsächlich nur in der Erinnerung der Musiker bewahrt und wie wichtig Oral History gerade in diesem Bereich ist. Er etablierte also ein umfassendes Interview-Projekt, für das mittlerweile weit über 300 Künstler/innen in Ton und Bild festgehalten wurden. Die Interviews, von denen viele der Hamilton-Archivar Monk Rowe selbst durchführte, dokumentieren die Welt des Swing genauso wie die des modernen Jazz. Die meisten dieser Erinnerungen sind auf der Website des Hamilton College nachzulesen; eine für die Jazzforschung ungemein hilfreiche Sammlung. Es handelt sich bei den Interviewten nicht unbedingt um die großen Stars der Jazzgeschichte, obwohl etwa mit Lionel Hampton, Nat Adderley, Herbie Hancock, James Moody, Oscar Peterson, Ruth Brown und anderen auch solche vertreten sind. Viele der Musikererinnerungen stammen stattdessen von Sidemen, die über ihre Zeit in den großen Bands berichten, über das Leben “on the road”, über die alltäglichen Probleme eines reisenden Musikers, über Rassismus und vieles mehr

In “Jazz Tales from Jazz Legends” zeigt Monk Rowe, was man aus diesen Interviews so alles lernen kann. Er filtert konkrete Themen heraus, für die er dann die verschiedenen Erfahrungen der Interviewten gegenüberstellt. Das Anfangskapitel widmet sich Joe Williams, dann folgt ein Abschnitt über das Schicksal der Sidemen bei Duke Ellington, Count Basie, Benny Goodman und in anderen Bigbands. Clark Terry erzählt etwa, wie der Duke ihn bei Basie abwarb, erinnert außerdem, was er bei beiden Bandleadern lernte, und Benny Powell weiß zu berichten, dass Basie ihm in den zwölf Jahren in der Band nie förmlich bestätigt habe, dass er engagiert sei. Im Kapitel “Road Travails” erzählen Eddie Bert von seiner Zeit bei Benny Goodman, Sonnie Igoe von einer Tournee mit Woody Herman, Bucky Pizzarelli vom Reisen mit dem Vaugn Monroe Orchestra, Jay McShann vom Problem mit schlechten Klavieren “on the road”, Jimmy Lewis von einem angst-machenden Flug mit der Basie-Band, Kenny Davern vom Stress, die 60 One-Nighters in 90 Tagen erzeugen können, Lanny Morgan darüber, dass die Gage oft von Hotel- und Reisekosten aufgefressen wurde, die die Musiker aus eigener Tasche zahlen mussten. “Arranging the Notes” heißt ein weiteres Kapitel, das sich mit den Ansprüchen an die Arrangeure der Bands befasst. Dick Hyman, Mike Abene, Bill Holman, Derrick Gardner, Ray Conniff, Manny Albam erzählen darin von der Arbeit eines Bandarrangeurs genauso wie von den Anforderungen an andere Arten von Musik, etwa für Hollywood; Lew Soloff erinnert sich an die Arrangements für Blood Sweat & Tears, und Dave Rivello und Maria Schneider geben einen Ausblick darauf, wie die Arbeit eines Arrangeurs im 21sten Jahrhundert funktioniert.

“Inside the Studio” ist ein Kapitel über Aufnahmeerfahrungen überschrieben, in dem sich Doc Cheatham an seine erste Platte mit Ma Raney erinnert, Richard Wyands einen typischen Aufnahmegig aus dem Jahr 1959 beschreibt, Orrin Keepnews erzählt, was Musikern für Aufnahmesitzungen üblicherweise bezahlt wurde, und Dick Hyman und Derek Smith verraten, dass sie sich natürlich auch mit Musik für Fernsehwerbung über Wasser halten mussten. Man müsse nicht alles mögen, was da im Studio produziert werde, erklärt Hyman, man müsse sich aber anstrengen, das, was von einem gefordert werde, möglichst gut zu spielen. Rassismus war für viele der interviewten Musiker ein täglich erlebtes Thema, und im Kapitel “The Color of Jazz” kommt auch dies zur Sprache. Clark Terry und Joe Williams haben genügend eigene Erlebnisse; Sonny Igoe erzählt, wie er auf einer Tournee durch den Süden, bei der er im Bus mit dem Art Tatum Trio mitreiste, als “White Trash” angepöbelt und aufgefordert wurde, er solle den Bus gefälligst verlassen. Louie Bellson und Red Rodney haben ähnliche Erinnerungen, und Frank Foster fasst zusammen, dass der Jazz zwar aus der schwarzen Erfahrung heraus geboren worden sei, dass der Melting Pot Amerika ihn aber schon seit langem zu einer amerikanischen, wenn nicht gar globalen Musik gemacht habe.

Im Kapitel “Thoughts on Improvisation” geben Marian McPartland, Clark Terry, Bill Charlap, Charles McPherson und andere Tipps, wie man sich der Improvisation nähern könne. Ken Peplowski fasst zusammen: “Lern es, dann vergiss es wieder!”, und Randy Sandke reflektiert, was während eines Solos so alles durch seinen Kopf ginge. Schließlich äußern sich Gary Smulyan, Ralph Lalama und Jan Weber über die Möglichkeit und die Chancen “falscher Töne” im Jazz. “Motivation and Inspiration” ist ein Kapitel überschrieben, das Erinnerungen an persönliche Einflüsse beinhaltet. Keter Betts etwas erzählt, dass er als Schlagzeuger begonnen habe und durch Milt Hinton (und reichlich Zufall) zum Bass gekommen sei. John Pizzarelli kam über die Beatles zur Gitarre, Kenny Davern übers Radio bei einer der Pflegefamilien, bei denen er aufwuchs, bis er sechs Jahre alt war, und auch Junior Mance war von Earl Hines begeistert, dem er spätabends heimlich im Radio lauschte. Jon Hendricks berichtet, wie er dazu kam, improvisierte Instrumentalsoli zu textieren. Und Eiji Kitamura erinnert sich, wie eine Platte von Benny Goodman in der Sammlung seines Vaters ihn zur Klarinette brachte. Schließlich gibt es im Schlusskapitel noch ein paar Haltungen zum Phänomen des Swing und zum Missverständnis des Free Jazz sowie Erinnerungen an unglücklich gelaufene Engagements und über die Arbeit mit Legenden.

“Jazz Tales from Jazz Legends” ist also ein vielfältiges Buch, das jede Menge unterschiedlicher Erfahrungen zusammenbringt. Zu Beginn der Lektüre wünscht man sich, die einzelnen Interviews im Zusammenhang zu lesen, aber das ist ja tatsächlich möglich, über die Website des Fillius Jazz Archive am Hamilton College. Und so sollte man Monk Rowes thematische Zusammenstellung als das sehen, was sie ist: ein exzellentes Beispiel, wie sich aus den gesammelten Interviews am Hamilton College Narrative zu den unterschiedlichsten Themengebieten der Jazzgeschichte exzerpieren lassen. Dann lässt sich umso interessanter verfolgen, wie die Interviews sich gegenseitig ergänzen und die unabhängig voneinander Befragten dabei fast miteinander ins Gespräch zu kommen scheinen.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Swingin’ On Central Avenue. African American Jazz in Los Angeles
von Peter Vacher
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
331 Seiten, 55 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8832-6

2015vacherJazzgeschichtsschreibung funktioniert normalerweise so: Louis Armstrong – Charlie Parker – Miles Davis – John Coltrane. Oder so: New Orleans – Chicago – Kansas City – New York. Oder so: Dixieland – Swing – Bebop – Cool Jazz – Hard Bop – Free Jazz – Fusion. Personen, Orte, Epochen… eine Geschichte der großen Männer (!), der lebendigen urbanen Szenen, der alles umwälzenden stilistischen Innovationen. Tatsächlich aber ist dieser Blick auf die Größen, die Zentren, die Stilbegriffe enorm einengend, wenn nicht gar: einfach nur falsch. Neben den großen Stilisten gibt es immer auch diejenigen, deren Kreativität entweder nicht den großen populären Erfolg hatte oder aber nicht lange genug anhielt, oder die sich einfach weniger gut “verkaufen” konnten. Neben den jazzgeschichtsmäßig bekannten Zentren gab es Städte und Landstriche, die musikalisch enorm lebendig waren, viele Musiker hervorbrachten, aber von der Geschichtsschreibung höchstens als potentielle Spielorte, nicht als Brutstätten dieser Musik dargestellt wurden. Und neben den etablierten Stilen gibt es unendlich viele Zwischenstufen, da kaum ein Musiker sich eines Stils “in Reinkultur” bediente”. Ganz davon zu schweigen, dass sich die meisten Jazzgeschichten, ja selbst die meisten Biographien an Aufnahmen entlanghangeln und dabei gern den performativen Aspekt des Jazz vergessen, die Tatsache also, dass die veröffentlichte Platte nur eine Momentaufnahme des kreativen Prozesses ist.

Peter Vacher füllt mit seinem Buch also eine Lücke. Er widmet es einer Szene, die nie so ganz im Mittelpunkt des Jazz stand (Los Angeles), und er fokussiert dabei auf Musiker, die höchstens regionale Stars blieben und kaum nationalen oder gar internationalen Erfolg einfuhren. Vacher ist Außenseiter (Brite); er kam im Laufe des Trad-Jazz-Booms der 1950er Jahre zum Jazz. In den 1980er Jahren arbeitete er mit dem Klarinettisten Joe Darensbourg an dessen Autobiographie, verbrachte währenddessen einige Zeit in Los Angeles und lernte damals Veteranen der schwarzen Musikszene der Westküstenmetropole kennen. Die Interviews, die er mit den sechzehn in diesem Buch dokumentierten Musikern führte, hatten ursprünglich nicht das Ziel einer Buchveröffentlichung, sondern dienten einzig seinem privaten Interesse an ihrer Geschichte. Wenige konnte er ein zweites Mal interviewen, bei anderen fühlte er sich im Nachhinein schlecht vorbereitet. Dennoch geben die Geschichten, die er anhand dieser 16 Musiker erzählt, einen Einblick in eine so ganz andere Musikszene als die an der Ostküste. Die Westküstenmusiker waren flexibel; sie spielten Jazz genauso wie R&B oder Dixieland. Viele von ihnen verdienten sich ihren Lebensunterhalt in den Studios Hollywoods, und viele zog es vielleicht mal für eine Tournee, selten aber für immer fort aus Kalifornien. Und wenn auch diese Szene Jazzgrößen wie Dexter Gordon, Wardell Gray, Teddy Edwards und Charles Mingus hervorbrachte, wenn auch Legenden wie Benny Carter, Red Callender und Buddy Collette von hier aus agierten, so blieb Los Angeles doch ein weitgehend ungeschriebenes Kapitel der US-amerikanischen Jazzgeschichte.

Die von Peter Vacher interviewten Musikern stammen aus der älteren Generation, und dokumentieren die Szene vor allem der 1930er bis 1950er Jahre. Noch weiter zurück geht es in den Erzählungen des Trompeters Andy Blakeney , der von seinen ersten musikalischen Erfahrungen im Chicago der 1920er Jahre berichtet, von seinem Umzug an die Westküste im Jahr 1925, von Reb Spikes, der ein Musikgeschäft in L.A. besaß und außerdem eine gut beschäftigte Band. Er erinnert an viele der Musiker in der Stadt und an Partys bei Orson Welles. Er erzählt aber auch von der Rassentrennung in der Stadt, und von den legendären Gigs, die Louis Armstrong und Duke Ellington Anfang der 1930er Jahre in Sebastian’s Cotton Club hatten, von Tagesjobs in einer Schiffswerft, von Gigs mit Kid Ory und Barney Bigard, und von verschiedenen Comebacks in den 1970er und 1980er Jahren. Beim Pianisten Gid Honoré musste Vacher erst Street Credibility beweisen (dadurch, dass er den Schlagzeuger Wallace Bishop kannte), bevor der sich zu einem Interview bereitfand. Honoré kam 1921 aus New Orleans nach Chicago und erzählt von den vielen Ensembles, mit denen er in den 1920er bis 1940er Jahren dort spielte – oft Bands alter Freunde aus New Orleans. 1948 zog er an die Westküste, wo er mit Kid Ory und Teddy Buckner spielte – seine Erinnerungen an die Szene in L.A. nehmen dabei gerade einmal ein Fünftel seines Kapitels ein. Der Trompeter George Orendorff hatte in den 1920er Jahren King Olivers Creole Jazz Band mit Louis Armstrong in Chicago gehört, kurz bevor er nach L.A. zog. Er erzählt vom Engagement in der Band von Les Hite, in der als Schlagzeuger Lionel Hampton mitwirkte, oder von einem Abend, an dem Fats Waller Bach und Beethoven spielte. 1946 war er im Billy Berg’s Club, als Dizzy Gillespie dort mit Charlie Parker spielte. Orendorff arbeitete schließlich 30 Jahre lang als Postbeamter und trat nur noch selten auf. Jeder in Los Angeles kannte den Schlagzeuger Monk Fay, den Vacher aber erst nach intensiver Suche in einem Seniorenheim fand. Der erzählt von seiner Popularität in Hawaii, von einer Gefängnisstrafe wegen Dealens mit Marihuana und von Gigs in Los Angeles in den 1940er und 1950er Jahren. Der Saxophonist Floyd Turnham erinnert sich an Britt Woodman und an Aufnahmen mit Johnny Otis; die Sängerin Betty Hall Jones weiß noch, wie Nellie Lutcher ihr einen Vertrag bei Capitol Records verschaffte. Der Trompeter Red Mack Morris war in Les Hites Band, als diese Louis Armstrong begleitete und führte später eine Weile einen eigenen Club, in dem er schwarz Alkohol ausschenkte. Der Klarinettist Caughey Roberts erzählt von seinen Lehrern und davon, wie er schließlich selbst unterrichtete, daneben aber auch von einer Reise nach China mit Buck Clayton, über seine Arbeit mit Count Basie und Fats Waller in den 1930er Jahren und über seine Dixieland-Aufnahmen in den 1950ern. Der Pianist Chester Lane war ein großer Fan von Earl Hines, arbeitete lange Zeit um St. Louis, und zog 1957 an die Westküste. Der Trompeter Monte Easter erinnert sich, wie er und Art Farmer Ende der 1940er Jahre in Jay McShanns Band saßen, berichtet über die Probleme der afro-amerikanischen Gewerkschaften und über seinen Broterwerb als Postbediensteter. Der Bassist Billy Hadnott erzählt ausführlich von seinen musikalischen Erlebnissen in Kansas City und hat seine eigene Erinnerung daran, wie Charlie Parker ins Sanatorium von Camarillo kam. Der Trompeter Norm Bowden weiß einiges über Reb Spikes und den Schlagzeuger “Boots” Douglas zu berichten, aber auch über den Club Alabam im berühmten Dunbar Hotel auf der Central Avenue. Der Posaunist John ‘Streamline’ Ewing hatte anfangs gut bezahlte Nebenjobs in den Hollywoodstudios, ging dann auf Anregung eines Musikerkollegen nach Chicago, tourte mit Bands wie denen von Horace Henderson und Earl Hines und spielte ab den 1950er Jahren mit Teddy Buckner in Disneyland. Der Saxophonist Chuck Thomas spielte vor allem in der Küstenregion (bis Las Vegas) und zuletzt ebenfalls mit Teddy Buckner. Der Schlagzeuger Jesse Sailes erinnert sich, wie all die großen Swingbands in den Theatern von Los Angeles auftraten und wie er später Platten mit Percy Mayfield, Ray Charles und B.B. King aufnahm. Der Schlagzeuger Minor Robinson spielte mit Buddy Collette und kannte Charles Mingus, als dieser vielleicht 15, 16 Jahre alt war.

Es sind persönliche Geschichten, von Sidemen-Karrieren und außermusikalischen Lebensentscheidungen. Die Namen wiederholen sich; aus den Erzählungen schält sich dabei eine Szene heraus, die zusammenhielt, auch wenn einzelne der Musiker die Stadt für kürzer oder für länger verließen. Peter Vacher beschreibt zu Beginn eines jeden der Kapitel, wie er den Musikern auf die Spur kam und erklärt einzelne der von den Interviewten mitgeteilten Anekdoten. Nebenbei erzählen diese von der Mobilität des Musikerberufs, von Karrieren, die in New Orleans oder Chicago begannen oder in Kansas City und New York Station machten, deren Protagonisten aber, nachdem sie kalifornische Luft geschnuppert hatten, von dieser nicht mehr loskamen. Es gibt schöne Geschichten über das Zusammentreffen des West-Coast-Größen mit durchreisenden Stars der großen Swingbands; es gibt Insiderberichte über alle möglichen Aspekte des Showbusiness’; es gibt immer wieder den Anruf aus der Ferne, der ihnen einen Job in einer der “name bands” anbietet, den sie entweder für kurze Zeit annehmen oder aber ablehnen. Es gibt Geschichten über Familienplanung und solche über Tagesjobs, mit denen man die Familie ernähren konnte. Central Avenue spielt eine bedeutende Rolle, jene Straße, die in Teilen zu einem kulturellen Zentrum der afro-amerikanischen Community der Stadt wurde.

Peter Vacher hat die Gespräche laufen lassen; sein ursprüngliches Interesse galt der Lebensgeschichte der Musiker, weniger dem Treiben in Los Angeles. Und so nehmen die Erinnerungen an Chicago oder Kansas City oft mehr Raum ein als die aktuelle Lebenswirklichkeit des Ortes, an dem die interviewten Musiker schließlich landeten. Doch wird eine Szene eben nicht nur durch das geprägt, was Musiker in ihr kreieren, sondern auch durch alles, was sie aus ihrer Vergangenheit mitbringen. Von daher ist Vachers Ansatz völlig richtig, die Geschichte der Central Avenue durch die Einflüsse zu erzählen, die hier zusammenkamen.

Beim Lesen wünschte man sich stellenweise entweder einen knappen biographischen Abriss vor oder nach den Kapiteln oder aber das Einstreuen von Jahreszahlen, um die Erinnerungen der Musiker besser einordnen zu können. Wer bei Los Angeles an die Westcoast-Szene denkt, sei gewarnt: alle der von Vacher interviewten Musiker sind vor allem der Swingära zuzuordnen; sie erzählen zum Teil von den jüngeren Musikern, die sie kannten, waren aber nie selbst Mitglied dieser Szene. In seinem Vorwort heb Vacher vor allem drei Interviews hervor, die besonders gut gelungen seien: jene mit Andy Blakeney, Billy Hadnott und Norman Bowden, mit Musikern also, mit denen er mehrfach sprechen und dabei mehr über ihr Leben und musikalisches Wirken lernen konnte. Tatsächlich aber sind auch jene Gespräche lesenswert, die etwas langsamer “auf den Punkt” kommen. “Swingin’ On Central Avenue” gelingt es dabei, Erhebliches zur Kulturgeschichte des afro-amerikanischen Jazz im Los Angeles der 1930er bis 1950er Jahre beizutragen. Das Buch erzählt von künstlerischen Idealen und von der Realität des alltäglichen Musikgeschäfts. Die Entscheidung, die Vacher – sicher mehr der Not gehorchend – getroffen hatte, war genau richtig: Seine Protagonisten sind eben nicht die großen Stars, weil die Szene, die er im Fokus hat, sich in keiner der stilbildenden Städte befand, weil die Community, die er in den Kapiteln seines Buchs abbildet, sich aus vielen sehr disparaten Erfahrungen zusammensetzte. Sein Buch ist auf jeden Fall eine Fundgrube für Jazzhistoriker mit vielen Anekdoten und Erinnerungen, die dieser Rezensent hier zum ersten Mal gelesen hat; zugleich ist es eine abwechslungsreiche Zeitzeugensammlung einer Szene, die bislang nur mäßig dokumentiert ist.

Wolfram Knauer (Juli 2016)


Invitation to Openness. The Jazz & Soul Photography of Les McCann, 1960-1980
herausgegeben von Pat Thomas & Alan Abrahams
Seattle 2015 (Fantagraphics Books)
200 Seiten, 39,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-60699-786-4

2015mccannMusikerfotos – es gibt eine ganze Reihe an Jazzmusikern, deren Hobby auf Tournee das Fotografieren war. Milt Hinton ist der wohl namhafteste unter ihnen, doch jetzt zeigt ein neues Buch, dass auch Les McCann nicht nur gute Ohren, sondern auch ein exzellentes Auge hat. Das nämlich gehört dazu, auf dass das Buch eines fotografierenden Musikers nicht einzig wegen der Vorteile interessant ist, die sich daraus ergeben, dass der Mann hinter der Kamera zugleich auf der Bühne sitzt und von den Objekten seiner Begierde, also anderen Musikern, nicht als Störenfried, sondern als einer der ihren anerkannt wird.

Im Vorwort von “Invitation to Openness” erzählt A. Scott Galloway kurz die biographischen Stationen Les McCanns: geboren in Lexington, Kentucky, über Tuba und Snare-Drum zum Klavier gelangt, zusammen mit Eddie Harris mit “Compared to What” über Nacht einen Welthit geschaffen, der eine Solokarriere bedingte, die bis in jüngste Zeit anhielt. Pat Thomas erzählt die Genese des Buchprojekts: Er hatte gerade eine CD-Wiederveröffentlichung des McCann-Klassikers “Invitation to Openness” organisiert und McCann zu Hause besucht, als er in einer Ecke einen Stapel zerkratzter Abzüge von Fotos entdeckte, die der Pianist in den 1960er und 1970er Jahren gemacht, aber nie veröffentlicht hatte. Im Interview mit Thomas erzählt McCann, dass es in seiner Familie immer Fotoapparate gegeben habe. Er selbst habe sich eine Nikon gekauft und begonnen, auf der Bühne und daneben Menschen abzulichten. Als er sich ein Haus in Hollywood leisten konnte, richtete er sich eine Dunkelkammer ein und begann seine Aufnahmen selbst zu entwickeln.

Das Bemerkenswerteste an den Bildern ist vielleicht die Perspektive. Gerade die Bühnenaufnahmen sind eben nicht von vorn gemacht, aus dem Bühnengraben oder der ersten Reihe, sondern oft von der Seite oder leicht von hinten. Viele Bilder zeigen die Musiker backstage, in Vorbereitung fürs Konzert, in Freizeitklamotten beim Soundcheck. Das entspannte Lächeln Count Basies zeigt die entspannte Vertrautheit. Andere eindrucksvolle Motive sind etwa: Stanley Clarke mit abwartend-konzentrierter Miene (und einer denkwürdigen Frisur); Ben Webster am Flügel; Dexter Gordon und Joe Zawinul vor einem Motel; die junge Tina Turner; das Publikum aus Gefangenen im Cook County Jail; Cannonball Addlerley, der an einer Zigarette zieht, sein Gesicht halb in Rauch gehüllt. Neben Musikern gibt es Bilder von Schauspielern (Jack Lemmon, Bill Cosby, Jerry Lewis), Politikern (Jimmy Carter, Jesse Jackson, Stokely Carmichael, Dr. Martin Luther King), Sportlern (Muhamad Ali, Pelé), sowie einige wenige Bilder, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Doch auch diese Aufnahmen, etwa das eines alten Mannes mit Fahrrad, hätten das Potential zu Plattencovers.

Les McCann gibt zu einzelnen der Bilder Kommentare ab, in denen er Kolleginnen oder Kollegen erinnert. Auch die Identifizierung der Motive basiert auf McCanns Erinnerung, wobei es Motive gibt, zu denen er nicht wirklich mehr weiß, wo oder wann sie gemacht wurden, und zumindest eine falsche Zuschreibung (nein: das ist NICHT Eberhard Weber auf den beiden Fotos mit Sarah Vaughan, sondern Bob Magnusson!). Beim Durchblättern des Bandes kommt einem immer wieder in den Sinn, dass das Leben eines Jazzmusikers eben aus mehr besteht als der Bühnenwirklichkeit. Les McCanns “Invitation to Openness” bietet damit einen lohnenswerten und allemal mit Soul gefüllten Blick hinter die Kulissen sowohl der Musiker, die er darin dokumentiert, als auch seiner eigenen Konzertarbeit.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Bitches Brew
von George Grella Jr.
New York 2015 (Bloomsbury Academic, 33 1/3)
128 Seiten, 14,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-6289-2943-0

D2015grellaie Buchreihe 33 1/3 des Bloomsbury-Verlags behandelt eigentlich Rockgeschichte. Jeder Band ist einem separaten Album gewidmet und wird historisch kontextualisiert. Miles Davis wurde jetzt die Ehre zuteil, als erster Jazzer in die Reihe aufgenommen zu werden, die immerhin schon mehr als 100 Bände umfasst. Sein Album “Bitches Brew” von 1969 schrieb eben nicht nur Jazz-, sondern genauso auch Popgeschichte.

In seinem ersten Kapitel betont George Grella, wie schwer es ist, “Bitches Brew” klar einem Genre zuzuordnen. Miles wollte weder ein klares Jazz- noch ein dezidiertes Rockalbum machen. “Bitches Brew”, meint Grella, sollte man daher am ehesten als experimentelle Musik hören, als Versuch, den überkommenen Normen von sowohl Jazz wie auch von Rock zu entkommen.

Im zweiten Kapitel erklärt Grella die seltsame Sektenhaltung, die Jazzrezeption manchmal annehmen kann und gegen die sich Miles Davis von früh an wehrte. Geht nicht gibt’s nicht, sei sein Motto gewesen, und Popsongs nahm er bereits lange vor “Time After Time” auf. Miles, fasst Grella zusammen, spielte Pop nicht um Popstar zu sein, sondern um Musik zu machen. Er erzählt von der Zeit des Trompeters mit Charlie Parker, vom Capitol-Nonet, das irgendwie die Geburtsstunde des Third Stream wurde, sowie von “Kind of Blue” und “Sketches of Spain”.

In Kapitel 3 erklärt Grella, welch völlig anderen Ansatz Miles an die Produktion eines Albums hatte, bei dem er sich ab 1968, ab dem Album “Circle in the Round”, vorbehielt, die musikalischen Versatzstücke nach Belieben zusammenzuschneiden.

In den Kapiteln 4 und 5 schließlich steht “Bitches Brew” selbst im Mittelpunkt, wenn Grella über Titel und Covergestaltung geflektiert und die einzelnen Titel beschreibt. Das liest sich stellenweise wie eine Sportreportage: wer, wann, was, Tonart, Einsatz, Intensität. Grella verweist auf die oft nicht wahrnehmbare Editiertechnik Teo Maceros und darauf, wie dies nur deshalb möglich war, weil alle Musiker immer deutlich aufeinander hörten. In “Pharoah’s Dance” benennt er eine “hippe Blueslinie bei 4:46” oder eine Coda, die “fast Beethoven’schen Charakter” habe. Im Titeltrack zeigt er auf viele der Nahtstellen, und dann verweist auf die Unterschiede der beiden Platten des Doppelalbums: “eine, um dich wegzublasen, die andere, um deinen Kopf wieder geradezurücken”.

Im letzten Kapitel widmet Grella sich den Nachwirkungen des Albums, in der Kritik genauso wie im Jazz. Mit Verweis auf Wynton Marsalis erklärt er, dass da zwei recht unterschiedliche Sichtweisen der Zukunftfähigkeit von Musik aufeinandergeprallt seien, um dann Miles’ Konzept auf dem kleinsten Nenner zusammenzufassen: “Indem er Rhythmus, Puls und Harmonien – und auf Tonband eingespielte Kompositionen – verwandte, die absichtlich nicht zu einer Auflösung fanden, organisierte Miles Zeit: und sowohl Form wie auch Zeit finden damit in der Musik zusammen”.

Eine kommentierte Diskographie beschließt das Büchlein, das sich wie ein sehr ausführlicher Plattentext mit vielen zusätzliche Informationen liest. Ja, Grella gelingt die Kontextualisierung, und doch kommt er der Musik selbst nur bedingt nahe, auch weil seine analytischen Anmerkungen etwas zu oberflächlich bleiben, weil er quasi nur parallel zur Musik beschreibt, was man eh hört, anstatt zusammenzufassen, was das alles “bedeutet”. Trotz dieser Einschränkung aber ist Grellas Büchlein ein lohnenswerter Begleiter zur nächsten abendlichen Abhörsession dieses Miles Davis-Klassikers.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Jazz Basel. Vier Jahrzehnte Stars und Szene
herausgegeben von Offbeat = Urs Ramseyer & Ruedi Ankli & Peewee Windmüller & Urs Blindenbacher
Basel 2015 (Christoph Merian Verlag)
180 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-85616-695-5

2015offbeatDie Geschichte regionaler Jazzszenen kann man auf unterschiedliche Weise erzählen. Man kann nostalgisch und sehnsuchtsvoll zurückblicken und von alten Zeiten schwärmen. Oder man kann auch Zurückliegendes vor allem aus dem Wissen um die Gegenwart verstehen.

Die Macher des offbeat-Festivals gehen in ihrem Buch über “Jazz Basel” den zweiten Weg. Das opulent bebilderte Buch widmet einzig sein Eingangskapitel (von Bruno Spoerri) den Anfängen des Jazz in Basel von den 1920er bis in die 1970er Jahre. 1974 gründete sich der Verein und die Konzertreihe jazz in basel, 1990 schließlich das Festival offbeat. Das Buch blickt auf die Musiker, die seither auf dem Festival spielten, aus skandinavische Gäste oder gesamtdeutsche Schwerpunkte, auf Jazz aus dem Mittelmeerraum und einen lateinamerikanischen Fokus, auf US-amerikanische Bands und die Schweizer Musiker, die hier auch immer zu hören waren. Es gibt Anekdoten aus dem Alltag von Festivalorganisatoren und Berichte von Backstage. Die Auswirkungen des Festivals in Stadt und Region werden thematisiert, Schulprojekte etwa oder die Präsenz im örtlichen Rundfunk. Und schließlich wird mit Stolz auf die Zusammenarbeit des offbeat Festivals mit dem Jazzcampus Basel und dem Club The Bird’s Eye berichtet.

Das alles ist kurzweilig geschrieben, vordergründig wohl vor allem für regionale Leser interessant, daneben aber genauso ein Bericht über die Verankerung einer regionalen wie internationalen Szene, aus dem auch Veranstalter anderswo etwas lernen können. Und schließlich sind da noch die 86 schwarz-weißen Abbildungen, Fotos von Bernhard Ley, Peewee Windmüller und Röné Bringold, die die Erinnerungen an die Geschichte von offbeat ungemein lebendig werden lassen.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher
von Detlef Siegfried
Göttingen 2015 (Wallstein)
455 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1673-7

2015siegfriedErnest Borneman war eine Mehrfachbegabung, so sehr, dass es genügend Menschen gaben, die dachten, es handele sich wahrscheinlich um mehrere Personen, die nur zufällig denselben Namen hätten. In den 1970er und 1980er Jahren war Borneman ein regelmäßiger Gast in deutschen Talkshows, wann immer es um das Thema Sexualität ging, hatte daneben eine Sex-Beratungskolumne in der Neuen Revue. Als Soziologe hatte er sich mit seinem Buch Das Patriarchat 1975 einen Namen gemacht. Vor seiner Beschäftigung mit Frauenbewegung und Feminismus hatte Borneman eine Karriere im Filmgeschäft gemacht, arbeitete für das National Film Board of Canada, für die UNESCO in Paris und war Programmdirektor des Freien Fernsehens, der ersten privaten Fernsehanstalt, die nach ihrem Verbot durch die Adenauer-Regierung quasi durch das ZDF abgelöst wurde. Und noch früher war Borneman nicht nur Jazzliebhaber und -experte, sondern einer der ersten Jazzforscher, ein Kenner des Jazz, der diese Musik zeitlebens als transkulturelle künstlerische Aussage verstand und 1944 mit seinem Artikelreihe “The Anthroprologist Looks at Jazz” eine der ersten übers Anekdotische hinausreichenden Kulturgeschichten des Jazz verfasste.

Borneman schied im Juni 1995 aus dem Leben. Sein Archiv ist in der Berliner Akademie der Künste untergekommen; jetzt hat der Historiker Detlef Siegfried die Biographie des vielfältigen Forschers vorgelegt. Diese hat er klar nach den verschiedenen Feldern gegliedert, in denen Borneman tätig war, überschrieben “Hören. Die Ethnologie des Jazz”, “Sehen. Das Leben auf der Leinwand” und “Berühren. Sex und Gesellschaft”.

Der 1915 in Berlin geborene Ernst Bornemann – wie er bis zu seiner Emigration 1933 hieß – hatte bereits 1930 Bertolt Brecht kennengelernt, als Mitglieder von Berliner Schulchören zu Proben des Lehrstücks Der Jasager geladen worden waren. Er und Brecht freundeten sich an, Brecht half ihm bei der Abfassung seines ersten Theaterstücks und Borneman Brecht bei einer Neuübersetzung des Dreigroschenromans ins Englische. Siegfried, der zu Beginn seines Buchs anschaulich erklärt, wie er sich durch Bornemans eigene “Autofiktionen”, wie er sie nennt arbeiten musste, durch falsche Fährten also, die Borneman aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten seiner Karriere legte, beschreibt Bornemans Exil als “nicht nur Flucht-, sondern auch Möglichkeitsraum”.

In London war Borneman regelmäßig bei Jazzkonzerten anzutreffen, verkehrte außerdem in einem Kreis linker und schwarzer Intellektueller. Bereits Mitte der 1930er Jahre hatte er einen Kriminalroman geschrieben, arbeitete bald auch an einem Drehbuch für einen möglichen eigenen Film, in dem auch der Jazz eine Rolle spielen sollte. Im Sommer 1940 wurde er als “feindlicher Ausländer” interniert, doch bereits zuvor produzierte er seine erste Rundfunksendung. Nach seiner Internierung wurde er nach Kanada deportiert, wo er nach seiner Entlassung beim National Film Board Arbeit fand.

Er knüpfte Kontakt zu Sammlern und Jazzkennern in den USA und sammelte Material für eine mögliche musikwissenschaftliche Dissertation und ein Buch zum Thema “American Negro Folk Music”, das von zwei Verlagen zur Publikation angenommen, dann aber wegen kriegsbedingten Papiermangels nicht gedruckt wurde. In seinen Jazzarbeiten, für die Borneman sich bei dem bekannten Musikethnologen Melville J. Herskovits um ein Stipendium bemühte, ging es, wie Siegfried zusammenfasst, “um zwei Themen: erstens um die Verbindungen von afroamerikanischer Volksmusik und moderner Tanzmusik der Gegenwart, und zweitens um die Verschränkungen von sozialen Verhältnissen und Populärkultur”. 1944 begann Borneman seine achtteilige Artikelserie “The Anthropologist Looks at Jazz”, die in der Zeitschrift The Record Changer erschien, der er bald auch als Mitherausgeber angehörte. Er schlug sich in der Debatte um den Bebop zwar auf die Seite des “authentischen” Jazz, konnte aber der romantischen Rückwärtsgewandtheit vieler der Traditionalisten wenig abgewinnen und versuchte daher immer wieder zwischen den Lagern zu vermitteln.

Mitte der 1940er Jahre lebte er in Paris, interviewte Louis Armstrongs Band anlässlich des ersten Jazzfestivals in Nizza im Jahr 1948, und freundete sich mit amerikanischen Expatriates und französischen Musikern wie Claude Bolling oder Boris Vian an. Er schrieb für den britischen Melody Maker und produzierte 1953 mit Betty Slow Drag einen experimentellen Kurzfilm, der seine beiden großen Interessen Jazz und Film miteinander verbinden sollte. Für den Melody Maker berichtete Borneman auch über den Jazz in Westdeutschland, konnte aber, selbst als Joachim Ernst Berendt versuchte ihn mit zeitgenössischen Musikrichtungen der 1960er Jahre anzufreunden, indem er ihn in ein Konzert John Coltranes mitnahm, mit dem modernen Jazz wenig anfangen.

Siegfried widmet Bornemans langer Auseinandersetzung mit den karibischen Wurzeln des Jazz ein eigenes Unterkapitel und berichtet davon, wie der spätere Beat Club von Radio Bremen auf Bornemans Ideen zurückzuführen gewesen sei. Er zeigt, dass Borneman in seinen Schriften einige Debatten angestoßen hatte, die in der Jazzkritik erst in den 1960er Jahren wirklich ausgetragen wurden, als er selbst an dieser Diskussion nicht mehr selbst teilnahm. Letzen Endes mag Borneman nicht mit allen seiner Thesen Recht gehabt haben, ohne Zweifel aber sei er ein Wegbereiter der internationalen Jazzforschung gewesen.

Der Jazz spielt auch in den weiteren Lebens- und Arbeitsphasen für Borneman eine wichtige Rolle, und Bornemans kritischer Geist, den Siegfried am Beispiel des Jazz ausgiebig beschrieben hat, lässt sich auch in diesen Bereichen zeigen. Detlef Siegfrieds Buch ist dabei ein faktenreicher Band, der biographische Stationen und Diskurse, an denen Borneman beteiligt war, laufend miteinander verschränkt. Ganz sicher war Borneman einer der schillerndsten Vordenker des Jazz; Siegfrieds Schilderung sowohl seines Lebens als auch der Diskussionen, an denen sich Borneman sein Leben lang beteiligte, zeigt ihn aber darüber hinaus als einen vielseitig gebildeten, einfachen Erklärungen zutiefst skeptisch gegenüberstehenden, zur Offenheit des Denkens neigenden Forscher.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Teddy Wilson. 19 Selected Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2015 (Blue Black Jazz)
44,95 Euro

Boogie Woogie, Volume 2. 17 Original Boogie Woogie and Blues Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2014 (Blue Black Jazz)
46,85 Euro
Zu beziehen über www.blueblackjazz.com

Paul Marcorelles hat bereits eine ganze Reihe an Transkriptionen von Pianisten des frühen Jazz vorgelegt, vorzugsweise von Musikern, die im Stride- oder Boogie-Woogie-Stil spielten. Seine jüngsten Veröffentlichungen widmen sich dem Swing-Stil Teddy Wilsons auf der einen und dem Repertoire einiger der Boogie-Woogie-Größen der frühen 1940er Jahre auf der anderen Seite.

2015marcorelles_wilsonFür Teddy Wilson hat Marcorelles sich Soli zwischen 1934 und 1946 ausgesucht, schnelle virtuose Titel wie “Rosetta”, den “Tiger Rag” oder “When You and I Were Young, Maggie” sowie Balladen wie “Don’t Blame Me”, “Out of Nowhere” oder “Body and Soul”. Seine Transkriptionen sind exakt, gut lesbar, reine Notationen ohne weitere Spielanweisungen oder analysierende Harmoniesymbole. Sie sind zum Nachspielen gedacht, brauchen allerdings Pianisten, die zum einen keine Probleme mit den bei Wilson so beliebten Dezimengängen der linken Hand haben und zum zweiten technisch fortgeschritten sind, um die virtuosen Arpeggien und die die Rhythmik aufbrechenden Läufe tatsächlich zum Swingen zu bringen. Wilsons linke Hand allein kann jedem Pianisten helfen, die antreibende Kraft des Swingens zu begreifen. Auch das Studium seiner Voicings lohnt, deren Alterationen den Akkorden zusätzliche Schwebungen verleihen. Wie immer bei Transkriptionen von eigentlich improvisierten Jazzsoli ist es mehr als hilfreich, sich die Soli auf Platte (oder über Streamingdienste) anzuhören.

2015marcorelles_boogieIm zweiten der beiden jüngst veröffentlichten Bände versammelt Marcorelles Transkriptionen von Hersal Thomas (“Hersal’s Blues”), Clarence ‘Pinetop’ Smith (“Pinetop’s Boogie Woogie”), Jimmy Yancey (etwa den “Five O’Clock Blues”), Pete Ammons (z.B. “Rock It Boogie”), Meade Lux Lewis (“Chicago Flyer” und “Glendale Glide”), Albert Ammons (etwa seinen “Swanee River Boogie”), Sammy Price (133rd Street Boogie”) und Pat Flowers (“Eight Mile Boogie”). Die rhythmischen Verschiebungen zwischen Bassfiguren und rechter Hand im Boogie Woogie sind dabei noch weit schwerer zu “lesen” und bedürfen noch stärker des Höreindrucks, um sie danach vom Papier in die Tasten zu übertragen und erlauben im Idealfall – und das wäre es ja eigentlich immer im Jazz – irgendwann das Loslassen und das eigene Erfinden melodischer und rhythmischer Muster, die eigene Improvisation.

Marcorelles’ neue Bände seien jedenfalls jedem interessierten Pianisten empfohlen als Übe- genauso wie Studienmaterial. Marcorelles bietet auf seiner Website übrigens alle insgesamt 202 Transkriptionen dieser wie früher erschienener Bände auch einzeln zum Download als PDF-Datei an

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Hot Music, Ragmentation, and the Bluing of American Literature
von Steven C. Tracy
Tuscaloosa 2015 (The University of Alabama Press)
537 Seiten, 64,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8173-1865-9

2015tracySteven C. Tracy ist Literaturwissenschaftler, Professor für Afro-American Studies, aber auch ein Blues-Harp-Spieler, der bereits in Vorgruppen für B.B. King, Muddy Waters und andere Stars der Szene auftrat. In seinem umfangreichen Buch stellt er die afro-amerikanische Musik der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, also Jazz und Blues, als Referenzpunkt dar, der helfen könne, die amerikanische Literaturgeschichte jener Zeit besser zu verstehen. Es geht ihm dabei nicht einzig um Romane oder Dichtung, die sich konkret und thematisch mit Musik beschäftigen, sondern auch um den Einfluss von Klanglichkeit, von Virtuosität, von improvisatorischer Haltung auf die amerikanische Literatur der Jahre bis 1930. Er greift hierfür immer wieder zurück auf konkrete Aufnahmen, um etwa Beispiele der afro-amerikanischer Stimme, des afro-amerikanischen Rhythmus, der Griot-Funktion des Bluessängers, der Bedeutung von Wiederholungen, der tiefen Doppeldeutigkeit, der politischen Untertöne herauszustreichen, die eben keine rein afro-amerikanischen Untertöne seien, sondern Befunde für den Zustand der gesamten amerikanischen Gesellschaft. Tracy verbindet die Genres, folkloristischen Blues, modernistischen Jazz, um aus dem Mix der Aufnahmen heraus, auf die er sich bezieht, neue Argumente zu entwickeln, die abseits der üblichen Beschreibung von Jazz-, Blues- oder Kulturgeschichte liegen. Er untersucht daneben auch Film- oder klassische Musikgeschichte nach Einflüssen von oder Analogien zu afro-amerikanischer Musik und findet den nachhaltigsten Widerhall außerhalb der Musik schließlich in der Literatur, bei T.S. Eliot, William Carlos Williams, Hart Crane, Gertrude Stein, Ezra Pount, und bei Abbe Niles, Langston Hughes, Countee Cullen, Zora Neale Hurston und anderen Dichtern und Schriftstellern der Harlem Renaissance.

Tracys schnelle Wechsel zwischen den Diskursen sind dabei sowohl inspirierend wie auch, da sie ein häufiges Vor- und Zurückblättern erfordern, zeitweise ermüdend. Sein intertextueller Ansatz ist auf jeden Fall ein Beispiel, wie sich aus dem Studium afro-amerikanischer Musik Aussagen über weit mehr als diese treffen lassen, wie stark tatsächlich diese Musik bereits in den ersten 30 Jahren des 20sten Jahrhunderts ihren Niederschlag im Denken, Handeln und Schreiben gefunden hat.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Friedel Keim
Das große Buch der Trompete (3)
Diskografie, Fotografien, Statistik, Nachträge
Fortsetzung des Trompeter-Lexikons, Band 3
Mainz 2015 [Eigenverlag
554 Seiten, 33,90 Euro
nur direkt zu beziehen über
Friedel Keim, e-mail: ruf.keim@t-online.de

2015keimDer Ur-Maizer Trompeter Friedel Keim hat nach den ersten beiden Auflagen von 2005 und 2009 nun den dritten Band seiner Trompeterbibel vorgelegt, ein sorgfältig recherchiertes Kompendium, das die verschiedensten Seiten des Instruments und seiner Musiker beleuchtet und dessen Spektrum von Klassik über Jazz bis zur volkstümlichen Musik reicht.

Keim kennt dabei keine Berührungsängste. Er versteht es genauso, sich über die Kunst der Barocktrompete auszulassen wie über die Probleme, die viele Jazzer mit der Ästhetik eines Wynton Marsalis haben. Und neben den großen Stars finden auch die Satzbläser wieder Erwähnung oder Musiker der aktuellen Szene.

Der lexikalische Teil von Band 3 enthält biographische Artikel von A wie “Abbott, Goivinda” bis Z wie “Zonshine, Michael”. Neben diesen teils ausführlichen Portraits gibt es Anmerkungen zur Interpretation von Werken aus Klassik, Marschmusik und anderen Genres, darunter auch analytische Anmerkungen und Notenbeispiele aus dem Jazzbereich, etwa eine Transkription des “West End Blues” in der Version von Louis Armstrong und seiner Hot Five von 1928, Dizzy Gillespies “Night in Tunisia”, oder Maynard Fergusons Version von “Body and Soul”. Korrekturen und Ergänzungen zu den beiden ersten Bänden erhalten ein eigenes Kapitel, und wieder gibt es den Block “Wissenswertes rund um die Trompete”, der etwa Informationen über das “Gansch-Horn” gibt oder über das flexibrass-Mundstück, über die Vuvuzela oder über die Trompete auf historischen Briefmarken, über den Trompetenbaum oder diverse Filme, in denen die Trompete im Mittelpunkt steht. Schließlich findet sich noch ein umfassendes Kapitel zu Horst Fischer, jenem legendären deutschen Trompeter, dessen Prolog zu einer Autobiographie Keim abdruckt, außerdem eine alphabetische Auflistung aller ihm bekannter Fischer-Aufnahmen.

Wie bereits in den vorherigen Bänden findet sich auch in Band 3 vieles, was sonst kaum irgendwo erierbar wäre. Friedel Keim weiß um Geburts- und Sterbedaten, berichtet über die Stars, aber eben genauso über die “kleinen” Vertretern des Instruments, über Satzspieler oder junge Musiker, die durchaus auch zwischen den stilistischen Welten leben und arbeiten, über Dixieland- und Swingtrompeter, die eher der Amateur- als der Profiszene angehören, aber dennoch gute Musiker sind, über Musiker von denen man noch nie gehört hat oder aber auch Musiker, die man persönlich kennt, aber nie in einem Lexikon vermutet hätte, weil ihr Arbeitsschwerpunkt doch eher regional begrenzt ist. Keim hat sich ihnen allen angenommen mit einem Vollständigkeitsanspruch, der jede Kritik an der Auswahl im Keim ersticken ließe (man entschuldige das Wortspiel). Und gerade in den Einträgen zu den kleinen Vertretern der Trompete erkennt man einmal mehr die “labor of love” dieses Buches, das zu alledem noch exzellent lesbar ist. Kein kritisches Buch vielleicht, dafür ein verlässliches Nachschlagewerk für jeden, der sich für die Trompete interessiert: eine Trompeterbibel fürwahr!

(Wolfram Knauer, Februar 2016)


 

Mein Onkel Pö
von Holger Jass
Hamburg 2015 (Offline-Verlag)
137 Seiten, 25,55 Euro
ISBN: 978-3-00-051272-8

2015jassEinen ersten Hinweis auf den Inhalt dieses Buchs gibt bereits der Preis: 25,55 Euro, entsprechend einem Cent pro Nacht im legendären Club, wie Holger Jass in der Presseankündigung zum Buch erklärt. Holger Jass hatte das Onkel Pö (Onkel Pö’s Carnegie Hall, wie es damals offiziell hieß) Anfang 1979 vom Vorbesitzer Peter Marxen übernommen, der ihn bei der Übergabe warnte: “Ich muss dich warnen. Pö-Jahre sind wie Hundejahre. Die zählen siebenfach.” Jass hielt es bis Anfang 1986 aus, führte das “Pö” im Sinne seines Kultstatus’ weiter und hat jetzt ein kurzweilig-amüsantes Buch über seine Erlebnisse mit Musikern, Medienmenschen, Kollegen und dem Publikum geschrieben, das ihm die ganzen Jahre über treu blieb, aus dessen Reihen sich aber partout kein Interessent für eine Nachfolge finden ließ.

“Jetzt macht Jass den Jazz im Onkel Pö” titelte das Hamburger Abendblatt, als Jass 1979 übernahm. Sein Buch handelt natürlich auch von Jazz. Er beschreibt, wie Michael Naura, damals Jazzredakteur des NDR viele der Jazzabende mitschnitt, die sich das Pö ansonsten kaum hätte leisten können. Den Flügel im Club hatte kein geringerer als Joachim Kühn ausgesucht und eingeweiht. Ansonsten bevölkern Jazzer wie Freddie Hubbard, Elvin Jones, Pat Metheny, Dexter Gordon die Seiten, aber auch Tom Waits, Charlie Watts, Joe Cocker, Hannes Wader, Truck Stop und natürlich Udo Lindenberg, der dem “Pö” in einem seiner Hits ein Denkmal setzte.

“Bei Onkel Pö spielt ‘ne Rentnerband”, hieß es da, “seit 20 Jahren Dixieland” – aber mit Dixieland ließ sich so ein Schuppen nicht finanzieren, bilanziert Jass trocken … obwohl man das Wort “trocken” selbst bei einer Rezension dieses Buchs nicht in den Mund nehmen sollte, denn trocken ging es ganz sicher nicht zu im Pö. Auch davon handelt das Buch, von den skurrilen Erlebnissen mit den Musikern, vom gesteigerten Alkoholkonsum, vom Pflegen einer Szene und davon, dass man, um Wirt zu sein, ein dickes Fell und viel Humor benötigt. Pineau ist das Zauberwort, jene süßliche Mischung aus Traubenmost und Cognac, die Jass als Allheilmittel vieler Probleme genauso beschreibt wie als Ursache anderer. Seine Anekdoten machen klar, dass man als Wirt und täglicher Konzertveranstalter selbst nicht ganz ohne solche “Medizin” auskommt: ein divenhafter Auftritt Freddie Hubbards etwa oder jener Abend mit Dexter Gordon, den Jass allerdings erst aus drogenbedingtem Tiefschlaf im Hotel um die Ecke wecken musste, den er für seine 57 Jahre als “bös klöterich” beschreibt, der dann aber nach einem dreifachen Whiskey ein denkwürdiges Konzert gegeben habe.

Sehr viel tiefer geht es sicher nicht in seinen Erinnerungen, die er mit viel Augenzwinkern und der humorvollen Abgeklärtheit der zeitlichen Distanz schreibt, und bei denen man schon mal über die eine oder andere schlüpfrige Anekdote hinweglesen muss. Bei all denen, die dabei waren in diesem zwischen Alternativszene und Hochkultur angesiedelten Zauberort in Eppendorf, wird er warme Erinnerungen wecken. Man meint den Fusel wieder zu schmecken und die dicke Luft wieder zu riechen, vor allem aber erinnert man sich an die musikalischen Hochgenüsse, die das Onkel Pö so oft und so viel vermittelte. Für diejenigen, die nicht dabei waren, gibt Jass ein launiges Portrait, einschließlich etlicher Fotos, ein Portrait, das stellenweise einer Filmdokumentation über verwunschene Zeiten ähnelt, bei denen man eigentlich gern dabei gewesen wäre.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Rhythm Is My Beat. Jazz Guitar Great Freddie Green and the Count Basie Sound
von Alfred Green
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
325 Seiten, 75 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4246-3

2015greenCount Basies All American Rhythm Section gilt als die swingendste Rhythmusgruppe des Jazz. Die Art, wie Pianist Basie, Gitarrist Freddie Green, Bassist Walter Page und Schlagzeuger Jo Jones rhythmisch und harmonisch ineinandergriffen, um den vorwärtstreibenden Schwung zu schaffen, der zu ihrem Markenzeichen wurde, besaß so viel an Energie, dass Rhythmusgruppen überall auf der Welt sie zum Vorbild nahmen. Den wichtigsten Anteil an dieser Energie hatte, wie Basie selbst, aber auch zahllose andere Musiker bezeugen, Freddie Green, der dem Count Basie Orchester von 1937 bis zu Basies Tod im Jahr 1983 und der Band noch ein paar Jahre danach bis zu seinem eigenen Tod 1987 angehörte. Von Nichtmusikern wurde Green schon mal dafür bemitleidet, ein ganzes Leben lang nie ein wirkliches Solo gespielt, dafür immer nur “schrumm schrumm” gemacht zu haben, vier Schläge pro Takt, durchgehend vom ersten Akkord bis zum letzten; und doch ist ihm jemand kaum in der Kunst des Rhythmus nahegekommen, den dieser Vierschlag erzeugen konnte.

Jetzt hat Alfred Green, der Sohn des Gitarristen, eine Biographie vorgelegt, die weit mehr ist als die persönliche Erinnerung eines Verwandten. Greens Buch schafft den Spagat zwischen Insiderwissen, persönlicher Betroffenheit und nüchterner Beschreibung der Lebens- und Arbeitswirklichkeit eines Musikers der Bigbandära.

Die Geschichte beginnt in Charleston, South Carolina, wo Freddie Green 1911 geboren wurde, in einer Stadt mit einer überaus lebendigen schwarzen Musikszene. Nachdem er die erste Ukulele gegen ein viersaitiges Banjo ausgetauscht hatte, sammelte er erste musikalische Erfahrungen mit Freunden aus dem Jenkins Orphanage, einem berühmten Waisenhaus in Charleston, aus dem etliche spätere Musiker hervorgingen. Mit einer dieser Bands reiste er die Küste hoch bis nach Maine, wechselte irgendwann vom Banjo zur Gitarre und spielte mit dem Saxophonisten Lonnie Simmons und dem Stride-Pianisten Willie Gant. Als der Impresario John Hammond ihn hörte, empfahl er seinem Schützling Count Basie, sich den Gitarristen für sein Orchester zu sichern. Im Januar 1937 kam es zum Vorspiel erst in kleinem Kreis, dann mit der Bigband, und am 1. Februar begann sein mehr als 45-jähriges Engagement als Motor des Count Basie Orchestra.

Alfred Green erzählt nicht nur die Lebens- und Arbeitsstationen Greens, sondern nähert sich auch seinem Stil, fragt nach Einflüssen, erklärt die Besonderheit des Green’schen Sounds. Der Autor wurde im Februar 1938 geboren, im selben Jahr beendete seine Mutter ihre Beziehung zu seinem Vater, sicher auch, weil der inzwischen eine Romanze mit Billie Holiday begonnen hatte, die für kurze Zeit mit Basie reiste.

Green beschreibt die verschiedenen Besetzungen der Basie-Band der 1930er und 1940er, die Schwierigkeiten des Musikerlebens, und die zunehmenden Probleme der Musikindustrie, die schließlich dazu führten, dass Basie sein Orchester auflöste und kurze Zeit mit einem Sextett – ohne Gitarre – auftrat. Sein Vater nahm die Entscheidung nicht hin und tauchte einfach beim nächsten Gig des Sextetts mit seiner Gitarre auf. “Was machst du denn hier?”, fragte Basie, und Green antwortete, “Was glaubst du wohl? Du hast hier einen Gig, richtig? Ich habe dir die besten Jahre meines Lebens gegeben und du glaubst, mich einfach beiseiteschieben zu können? Keine Chance!”

Während die 1930er- und 1940er-Jahre-Band insbesondere ein Solistenorchester war, wurde der Sound der 1950er Jahre-Band durch ihre Arrangeure geprägt. Alfred Green berichtet, wie Green seinen Platz in den Arrangements fand, wie er sich zu den Schlagzeugern positionierte, und wie er seine Aufgabe immer als die eines Unterstützers der anderen gesehen habe.

Neben den Einsichten in Greens Karriere sind es vor allem die technischeren Kapitel, die im Buch faszinieren. Alfred Green beschreibt etwa die Spannung der Saiten, die besondere Haltung, die Green benutzte, bei der sein Instrument fast auf seinem Schoß lag, spricht über die Tatsache, dass Green kaum je mit nicht-akkordischen Soli zu hören war, über seine wenigen Aufnahmen unter eigenem Namen, über Gigs für andere Bandleader und anderes mehr.

Einem dicken Block mit seltenen Fotos folgen schließlich noch Analysen von Michael Petterson, M.D. Allen und Trevor de Clerq sowie Zitate anderer Gitarristen über Green, schließlich eine ausführliche Diskographie aller seiner Aufnahmen.

Es gibt eine Reihe an Büchern über das Count Basie Orchester, darunter natürlich auch Basies eigene Autobiographie, verfasst mit Hilfe Albert Murrays. Keines dieser Bücher aber bietet einen so persönlichen Einblick in die Band wie das Buch Alfred Greens über seinen Vater. Der Gitarrist Freddie Green war wahrscheinlich der wichtigste Musiker des Basie Orchesters, der nicht nur für den durchgehenden Swing und eine rhythmische Verlässlichkeit stand, sondern der Band auch, was oft übersehen wird, ihren ganz spezifischen Sound verlieh, der sie aus der Menge ihrer Konkurrenten auf dem großen Bigbandmarkt hervorhob. Greens Buch gelingt in diesem Umfeld gleich dreierlei: Er schreibt eine Biographie des Gitarristen Freddie Green, er erzählt Details aus der Bandgeschichte Count Basies (und damit aus dem Alltag der Swingära), und er teilt sehr persönliche Erinnerungen an seinen Vater mit dem Leser.

Ihm gelingt dabei der schwierige Spagat, Beobachter und Sohn zur selben Zeit zu bleiben. Zu Beginn liest sich das alles wie eine interessante, aber eher distanzierte Lebensdarstellung, bis Green aus einem Gespräch zitiert, das er mit seiner Mutter geführt hatte, und bei dem einen schlagartig klar wird, dass der Autor ja Sohn des Objekts seines Berichts ist, dass er mit dem Wissen eines Familienglieds, sicher auch mit eigener Betroffenheit schreibt. Solche Perspektivwechsel gelingen ihm hervorragend, wie man in etlichen bewegenden Passagen erkennen kann. Green verschweigt macht aus seinem Vater nirgends einen Heiligen, sondern stellt ihn als Menschen dar, der nach dem Besten strebte, aber durchaus fehlbar war.

“Rhythm Is My Beat” ist ein sehr empfehlenswertes Buch, über Freddie Green, über Count Basie, über die Swingära und vieles mehr. Alfred Greens Buch gibt einen tieferen Einblick als vieles, was man sonst so liest zu diesem Thema und ist eine spannende Lektüre für Fans, genauso wie für Musiker oder Forscher über diese Musik.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Keith Jarrett. Eine Biographie
von Wolfgang Sandner
Berlin 2015 (rowohlt)
362 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-780-1

2015sandner“Mit freundlichen Künstlern ist die Welt nicht gesegnet”, beginnt Wolfgang Sandner sein Buch, das er mit Wohlwollen des Pianisten angegangen war, bis er mit diesem nach einem Konzert aneinandergerieten sei, weil es Jarrett nicht gefallen habe, dass Sandner sein “Köln Concert” als einen seiner größten Erfolge bezeichnete. “Das Ende eines Dialogs eröffnet jedoch auch eine Chance”, befindet Sandner. In der Folge nämlich habe er sich noch stärker auf die Musik konzentrieren müssen. Das Ergebnis ist ein Buch, das der Musik Jarretts als eines Künstlers gerecht wird, der seine Kraft aus der Improvisation des Jazz zieht, dessen Wirkung aber weit über dieses Genre hinausreicht.

Keith Jarrett wurde am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren, und Sandner sieht diesen Tag, Kriegsende, als symbolträchtig für die Jahrhundertkarriere des Pianisten. Ohne Europa, das durch den Krieg noch mehr für die Qualitäten des Jazz sensibilisiert war, erklärt Sandner, wäre Jarretts Karriere einerseits so nicht möglich gewesen, auf der anderen Seite habe Jarrett immer tief in den Traditionen der amerikanischen Avantgardeästhetik gestanden, in der Tradition auch eigenbrötlerischer Künstler wie Lou Harrison und Alan Hovhaness, deren Werke er Anfang der 1980er Jahre in Europa uraufführte.

Sandner zeichnet die Kindheit Jarretts in Allentown nach, die Erkenntnis seines Talents, das Trauma der Trennung seiner Eltern, dem er mit dem Rückzug in die Musik begegnete, und die musikalischen Bemühungen seiner Brüder. Jarrett spielte mit lokalen Bands, besuchte Workshops, gewann ein Stipendium fürs Berklee College, mit dessen die Musik eher regulierenden als zur Kreativität ermutigendem Lehrplan er allerdings wenig anzufangen wusste. Da war die Schule von Art Blakeys Jazz Messengers schon eine andere, in denen Jarrett ab Herbst 1965 für vier Monate mitwirkte. Von Blakey wechselte er in die Band des Saxophonisten Charles Lloyd, dem er durch dessen Schlagzeuger Jack DeJohnette empfohlen worden war. Lloyds Quartett war “die erste Supergroup des Rockjazz”, und Sandner hört sich sowohl dessen Studio- wie auch die Liveaufnahmen an. 1967 gründete Jarrett sein erstes Trio mit Charlie Haden und Paul Motian, und als ihm Miles Davis 1969 zum wiederholten Mal anbot, in seiner Band mitzuwirken, sagte Jarrett zu, obwohl Miles mit Herbie Hancock und Chick Corea bereits zwei Pianisten in der Band hatte. Bei Miles musste er elektronische Keyboards und Orgel spielen, Instrumente, die ihm eigentlich zuwider waren. Zugleich setzte er sich noch mehr mit Klang auseinander, mit dem Sound der Instrumente, die er zu bedienen hatte genauso wie den Soundmöglichkeiten der Band, die für Miles im Mittelpunkt seiner “musikalischen Großräume, Klangkunstwerke” standen.

Ein eigenes Kapitel widmet Sandner der Partnerschaft zwischen Keith Jarrett und Manfred Eicher, der weit mehr war als ein Labelgründer und Plattenproduzent. Jarrett stand Anfang der 1970er Jahre eigentlich bei ABC unter Vertrag, ihm wurde aber erlaubt, Produktionen mit “ernster Musik” und ähnliche Aufnahmen ohne Gegenleistung anderswo einzuspielen, das könne sein Ansehen schließlich nur steigern. Dass Jarretts Aufnahmen für Eichers Edition of Contemporary Music zum Zugpferd für das Label ECM werden sollten, hatte niemand vorhergesehen. Im November 1971 also ging Jarrett erstmals in Oslo ins Studio und produzierte mit “Facing You” die erste von bis heute 28 Solo-Produktionen für Eicher, ein Album, das sowohl Jarretts Ruf als Solopianist begründete als auch Eichers Ruf als einer der offenohrigsten Produzenten des Jazz. Sandner erklärt, was die Partnerschaft und das Vertrauen der beiden zueinander begründe, die Tatsache etwa, dass Eicher selbst Musiker sei oder dass sein Interesse neben dem Jazz auch anderen Formen von Musik (oder Literatur oder Kunst oder Film) gelte. Eicher, schlussfolgert Sandner auch nach dem Gespräch mit anderen ECM-Künstlern, sei bei vielen seiner Produktionen der “dritte Mann”, auch wenn man ihn weder sehe noch höre.

Es gäbe etliche Musiker und Musikliebhaber, warnt Sandner schon im Vorwort seines Buchs, die meinen, über Musik solle man nicht so viel schreiben, da diese das Wesentliche doch eh in sich berge. Und dann tut er genau das, kongenial, so nämlich, dass seine Zeilen die Musik zwar heraufbeschwört, aber nirgends zu ersetzen trachtet. Über Jarretts Klavierspiel etwa schreibt er, man könne vielleicht die verschiedenen Techniken benennen, die seinen Personalstil ausmachten, komme dabei aber vor allem an einem Charakteristikum nicht vorbei, das Sandner die “Konzentration aufs Wesentliche” nennt und das er in Jarretts musikalischem Ansatz genauso findet wie in seiner Wahl der Mitmusiker oder in der klaren Gliederung seines Repertoires in Standards, eigene Kompositionen und freie Solo-Improvisationen.

An anderer Stelle verfolgt er Jarretts Vervollkommnung der authentisch-eigenen Stimme. Er betrachtet die Aufnahmen seines amerikanischen Quartetts mit Dewey Redman und seines europäischen Quartetts mit Jan Garbarek, beschreibt, was an diesen Aufnahmen so besonders sei, obwohl sie doch weder einen unerhörten Klang hervorbrächten noch eine neue Form oder eine außergewöhnliche ästhetische Haltung. Er nennt Jarrett einen “Solist ohne Grenzen”, verfolgt die unterschiedlichen pianistischen Ansätze, die der Künstler über die Jahre entwickelte. Und Sandner ist wie wenige deutsche Autoren ein Meister darin, Musik mit Worten näher zu kommen. Ein Beispiel: Über Jarretts Album “Staircase” schreibt er: “Alles, was Jarrett in den elf Stücken erklingen lässt, besitzt Körperlichkeit. Es gibt keine flachen Töne, nur runde, eckige, kubusartige, voller Tiefenschärfe. Wenn ein Ton verklingt, wird er nicht nur leiser, er verschwindet wie in einem Tunnel, verliert nicht nur sein Volumen, sondern wird augenscheinlich kleiner.” Er benennt die Beziehungen zwischen Jarretts Aufnahmen an der Barockorgel in Ottobeuren und seiner Suche nach Klangfarben einerseits und ähnlichen Suchen europäischer oder amerikanischer Komponisten andererseits, nicht aber, um daraus Einflüsse abzuleiten, sondern um zu zeigen, dass Jarrett sich da inmitten eines breiten Diskurses befindet, in dem seine eine gewichtige Stimme ist.

Zwischen ausführliche Beschreibungen der diversen Plattenprojekte streut Sandner aber auch Informationen über die Selbstzweifel des Künstlers, über persönliche und geschäftliche Krisen, über Rückenschmerzen und das chronische Erschöpfungssyndrom, dass Jarrett für einige Jahre aus dem Verkehr zog. Er beschreibt, wie all diese außermusikalischen Ereignisse ihren Widerhall in Jarretts Musik fanden. Nach seiner Genesung, fasst Sandner zusammen, sei Jarrett ” praktisch nicht mehr in ein Aufnahmestudio zurückgekehrt. Mit Ausnahme einer Duo-Aufnahme mit Charlie Haden und einer Einspielung von Bach-Sonaten für Violine und Klavier sind alle Aufnahmen danach bei Live-Auftritten entstanden.”

Natürlich nimmt das “Köln Concert” ein wichtiges Kapitel seines Buchs ein. Sandner beschreibt die bekannt widrigen Umstände des Konzerts, Rückenschmerzen, ein schlecht intoniertes Instrument, ein Stutzflügel, den die Bühnenarbeiter statt des eigentlich geplanten Bösendorfer Imperial auf die Bühne gestellt hatten, und er erzählt, wie Jarrett aus all diesen Widrigkeiten über sich herauswuchs, die Beschränkungen des Instruments zu Stärken seiner Aufnahme machte. Das “Köln Concert” wurde zu einem Riesenerfolg bei Kritik und Publikum gleichermaßen, und selbst der Perfektionist Jarrett musste später zugeben, dass die Ideen, “diese Klangfarben und diese Stimmführungen”, die auf der Aufnahme zu hören sind, schon einzigartig waren.

In weiteren Kapiteln seziert Sandner die Herangehensweise Jarretts an die Standards des American Popular Song, die er zusammen mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette ab 1983 einspielte und bald auch bei Konzerten spielte, seine Einspielungen klassischer Musik von Bach bis Lou Harrison, sowie Jarretts eigene Kompositionstätigkeit, die sich keinesfalls in der Komposition von Themen für eigene Improvisationen erschöpfte.

Sandners letztes Kapitel heiß “Einspruch” und ist unter all den lesenswerten Kapiteln dieses Buchs vielleicht das lesenswerteste. Sandner beginnt mit einer Eloge auf den kreativen Schöpfer, auf das Genie Keith Jarrett, um dann die Reaktion hervorzuheben, mit der Jarrett so oft, auf so vieles, reagiert, seine “Manie, etwas abzulehnen”. Der wichtigste Einspruch Jarretts gelte dabei musikalischen Trends, kurzlebigen Moden oder selbsternannten Kanonikern. Sandner findet diese Veto-Haltung auch im Klavierspiel des Meisters selbst, das “allen Regeln der traditionellen Klavierkunst widerspricht und wirkt, als sei das Instrument weniger ein Partner, vielmehr ein Gegner, den man bezwingen müsse, bisweilen mit List und Tücke, bisweilen mit tänzerischem Ablenkungsmanöver, manchmal mit brachialer Gewalt, nicht selten aber, indem man sich den Flügel einverleibt, mit ihm verschmilzt.” Es ist dieses Eins-Sein mit seiner Musik, das Jarrett auch außerhalb der Jazzanhängerschaft Wirkung verschafft hat. Henry Miller schrieb ihm einen Brief, nachdem er das “Köln Concert” gehört hatte, Sergiu Celibidache und Marcel Reich-Ranicki zeigten sich begeistert. Sandner argumentiert aber auch, dass diese Verweigerungshaltung neben seinen künstlerischen Entscheidungen auch Jarretts problematisches Bühnenverhalten beeinflusst habe, seine gelegentlichen Publikumsbeschimpfungen, die, wie Sandner schreibt, fast schon zum Ritual geworden seien, das Voyeure unter den Hörern erwarten oder gar herausfordern.

Wolfgang Sandners Buch gelingt es, der Musik Keith Jarretts nahe zu kommen, gerade, weil er sich, wie er im Vorwort erklärt, mit dem Künstler entzweit hat. Sandner besitzt den Überblick nicht nur über Jarretts Schaffen und nicht nur über die Jazzgeschichte, aus der heraus Jarretts Kunst kommt, sondern über die gesamte Kulturgeschichte, in die hinein Jarretts Musik wirkt. Es gelingt ihm, die verschiedenen Positionen zu definieren, die sich in der Musik und ihrer Rezeption widerspiegeln: die musikalische, ästhetische und wirtschaftliche Position Jarretts zu verschiedenen Zeiten, die Position der Labels, der Agenten, der Produzenten, die Position Manfred Eichers, die Position der Kritiker und des Publikums, und nicht zuletzt auch seine eigene Position, die Position Wolfgang Sandners. Dass er aus eigener Begeisterung heraus schreibt, lässt er nicht unerwähnt. Er bezeichnet Jarrett wiederholt als “Genie”, nennt ihn den größten Musiker, der je aus Allentown kam. Doch dient diese eigene Positionsbestimmung letztlich auch dem Vertrauen, das wir als Leser in Sandners Wertung der Musik haben können. Er lässt uns klar wissen, wo er als Autor steht, und so können wir viel leichter unsere eigene Position beziehen, überdenken, revidieren. Wolfgang Sandner ordnet Jarretts Aufnahmen dabei nicht nur in Jazz-, Musik- und Kulturgeschichte ein, er verleitet zum neuen, zum tieferen Hören, und er ermöglicht ein Verständnis – im besten Sinne des Wortes – über die Grenzen des emotionalen Hörens hinaus.

Wolfram Knauer (Dezember 2015)

Nachtrag Februar 2021:

Keith Jarrett. A Biography
by Wolfgang Sandner, translated by Chris Jarrett
Sheffield 2020 (Equinox)
215 Seiten. 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-800500129

Sandners Jarrett-Biographie ist inzwischen auf Englisch erschienen, übersetzt von keinem Geringerem als Jarretts Bruder, dem in Deutschland lebenden Pianisten Chris Jarrett. Für die englische Ausgabe hat Sandner seinen früheren Text erweitert und aktualisiert, hat neuere Aufnahmen und neue Veröffentlichungen aus früheren Jahren berücksichtigt und neue Erkenntnisse über Jarretts familiären Background geteilt. Mit dem Abschied Jarretts von der Bühne im vergangenen Oktober scheint auch seine Karriere abgeschlossen. Sandners Buch vertieft das Wissen und ermuntert zum Nachhören – jetzt vielleicht etwas wehmütiger als bei der ersten (deutschen) Lektüre vor sechs Jahren.


 

Als der Jazz nach Kassel kam. Streifzüge durch die Szene der ersten Nachkriegsjahre
von Ulrich Riedler
Berlin 2015 (B&S Siebenhaar Verlag)
104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN: 978-3-943132-39-7

2015riedlerDie großen Jazzmetropolen – Berlin, Hamburg, Köln, München – sind weitgehend dokumentiert. Auch für kleinere Städte haben sich Historiker und Hobbyhistoriker der Aufbereitung der Jazzgeschichte angenommen. Das kann schon mal seltsam wirken, wenn Provinzzentren wie der Mittelpunkt der Welt erscheinen, wo sie doch meist nur Durchgangsstationen für aufstrebende spätere oder etablierte, sich auf Tournee befindende Jazzstars waren. Tatsächlich aber sind regionalen Szenen bis heute wichtige Brutstätten künstlerischer Ideen, auch wenn viele der Musiker, die hier ihre Anfänge nehmen, irgendwann in die großen Zentren abwandern, in Städte mit bedeutenden Hochschulen etwa oder in solche mit einer lebendigen, großen Jazzszene.

Das nordhessische Kassel, in der Mitte der Republik, und doch kulturell vor allem durch die Brüder Grimm und die documenta bekannt, besitzt bis heute eine lebendige Szene, verschiedene Spielorte für Jazz und improvisierte Musik, und ein langjähriges Festival. Die alle fünf Jahre stattfindende documenta bringt es mit sich, dass die Bürger der Stadt sich sehr bewusst mit ästhetischen Diskursen der Avantgarde auseinandersetzen.

Der Journalist und Jazzfan Ulrich Riedler hat sich in seinem Buch auf die Suche nach den Anfängen des Jazz in der nordhessischen Stadt gemacht und diese im Frühjahr 1940 entdeckt, als sich junge Jazzfreunde im Gasthaus “Ledderhose” trafen, wo sie gemeinsam die neuesten Platten hörten. Irgendwann rückte die Gestapo ihnen auf den Leib, nahm die Jungs mitsamt ihrer Schellackschätze mit und unterzog sie einer gründlichen Befragung. Die Jazzfans wurden bald wieder entlassen, und einer von ihnen kann Riedler nicht nur von damals berichten, sondern ihm sogar noch die kurzfristig konfiszierten Platten zeigen. Die “Ledderhose” blieb auch nach dem Krieg ein Jazztreffpunkt, in dem die Mitglieder zu Platten tanzten, ab und zu aber auch selbst zum Instrument griffen.

Die 1950er Jahre dokumentiert ein Gespräch mit dem späteren Spiegel-Redakteur Alfred Nemeczek, von dem Riedler außerdem einen Bericht über das Jazzkontor Kassel aus dem Jahr 1959 andruckt, den Versuch, in Nordhessen einen Liveclub nach Vorbild des Frankfurter Jazzkellers zu etablieren. In den 1950er Jahren begannen die ersten amerikanischen Stars Deutschland zu erobern. Kassel erlebte Konzerte von Duke Ellington, Louis Armstrong, Lionel Hampton oder der Jam-Session-Truppe Jazz at the Philharmonic mit Ella Fitzgerald und vielen anderen.

Einer der Stammgäste der Kasseler Jazzszene war damals der Trompeter Manfred Schoof, der zwei Jahre an der Kasseler Musikakademie studierte, bevor er nach Köln weiterzog. Riedler spricht mit ihm über die Jazzszene jener Zeit, über Musiker und Musikerlegenden der Region, unter anderem den Tenorsaxophonisten Werner Apel, den, wie man sich erzählt, sogar Duke Ellington verpflichten wollte, weil er ihn bei einer Jam Session so beeindruckt habe, und natürlich auch über die GI-Clubs, in denen Schoof die amerikanische Kultur erst richtig kennenlernte.

Die Amerikaner waren im Stadtteil Rothwesten in Fuldatal stationiert und engagierten über die Special Service Agencies jede Menge deutscher Musiker für die Unterhaltung in den verschiedenen Clubs. Riedler blickt auf Orte, aufs Repertoire, auf das Jazzprogramm des örtlichen Amerika-Hauses, beschreibt aber auch andere Veranstaltungsorte der Stadt, deren Programm großteils von Vereinen organisiert, zum Teil auch von der Stadt unterstützt wurde. Er erzählt, wie Arnold Bode, der Vater der documenta, von der Band des Vibraphonisten und Gitarristen Fritz Bönsel so angetan war, dass er im Landesmuseum ein Konzert veranstaltete, das den Jazz endgültig in der Stadt etablierte.

Die Jazzszene jener Jahre beinhaltete traditionelle genauso wie moderne Stile, und so beschreibt auf der einen Seite die Dixieland-Szene der 1950er und 1960er Jahre mit ihren Riverboatshuffles und dem musikalischen Versuch, dem Original so nah wie möglich zu kommen, auf der anderen Seite aber auch, wie andere Musiker, Schoof und Gunter Hampel unter ihnen, dem modernen Jazz in Kassel zu Gehör verhalfen. Und schließlich spricht er mit dem Pianisten Joe Pentzlin, dessen Trio quasi die Hausband des Jazzclubs in der Orangerie gewesen war.

In einem abschließenden Kapitel schlägt Riedler einen knappen Bogen in die Regenwart, zu Musikern wie Matthias Schubert und Ernst Bier, die entweder aus Kassel stammen oder aber hier über längere Zeit Station machten und die Szene der Stadt mitprägten.

Riedlers Buch ist nicht als historische Dokumentation gedacht, denn vielmehr als eine flüssig zu lesende Erinnerung an die 1940er bis 1960er Jahre, ein liebevoll bebildeter Band über die Jazzszene in der deutschen Provinz, die – ähnlich wie die Szenen vieler anderer Städte mittlerer Größe – überaus lebendig war. Die Lektüre macht dem Leser deutlich, dass der Diskurs über den Jazz als aktuelle Kunstform nicht nur in den Metropolen stattfindet.

Wolfram Knauer (November 2015)


 

Music Wars 1937-1945. Propaganda, Götterfunken, Swing. Musik im Zweiten Weltkrieg
von Patrick Bade
Hamburg 2015 (Laika Verlag)
511 Seiten, 34 Euro
ISBN: 978-3-944233-41-3

Sounds of War. Music in the United States during World War II
von Annegret Fauser
New York 2013 (Oxford University Press)
366 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-994803-1

Victory Through Harmony. The BBC and Popular Music in World War II
von Christina L. Baade
New York 2012 (Oxford University Press)
275 Seiten, 31,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-537201-4

2013fauser Musik war immer schon kriegswichtig. Ob zum Anfeuern der Truppen im Marschrhythmus, ob zum Mobilmachen der Bevölkerung durch patriotische Hymnen, ob als Beruhigung und Selbstbestätigung, ob als Instrument der psychologischen Kriegsführung oder sogar als Foltermethode: Krieg ist ohne Musik – so seltsam diese Idee auch scheinen mag – kaum vorstellbar.

Drei kürzlich erschienene Bücher untersuchen die Rolle der Musik im Zweiten Weltkrieg. Der britische Historiker Patrick Bade berichtet über die verschiedenen musikalischen Strategien und Funktionen direkt vor Ort, in den Gebieten, in denen der Krieg tobte oder die am Krieg beteiligt waren, Frankreich, Deutschland, den USA, Russland, Großbritannien, dem nördlichen Afrika und dem Mittleren Osten. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Annegret Fauser beschränkt sich in ihrem Buch auf die klassische Musikszene in den Vereinigten Staaten. Die britische Musikhistorikerin Christina Baade schließlich untersucht, wie der BBC in den Kriegsjahren auf Jazz, Tanz- und Popmusik gesetzt habe, um die Moral der gesamten britischen Öffentlichkeit in den Kriegstagen zu stärken. Baades Studie gibt dabei einen Einblick in Programmentscheidungen eines öffentlichen Rundfunksenders und thematisiert, inwieweit die Öffnung des Senders für Jazz und amerikanische Popmusik auf Widerstände gestoßen sei. Fausers Fokus liegt auf der “concert music”, also der klassischen Musik, und im Umschlagtext heißt es, dass Dinah Shore, Duke Ellington und die Andrews Sisters vielleicht die Zivilisten zuhause und die Soldaten in Übersee unterhalten hätten, es tatsächlich aber vor allem die klassische Musik gewesen sei, die die Menschen für die Kriegsanstrengungen mobilisiert habe. Patrick Bade schließlich wagt den Rundumschlag, lässt also auch die sogenannte leichte Muse, Swing und Jazz, nicht aus. Während er dabei neben dem klassischen Repertoire und dem Swing auch einen Blick auf die Funktion von Radio, Film und Plattenindustrie wirft, außerdem in einem langen Kapitel Kriegslieder aus unterschiedlichen Ländern ins Visier nimmt, finden man in Fausers Buch Informationen über Musiker in der Armee, Auftragskompositionen für den Kriegseinsatz, ein Kapitel über Musik als Beruhigung der Bevölkerung und als Therapie für traumatisierte Soldaten sowie eines über die vielen Exilkomponisten, die durch den Krieg in den USA strandeten. Christina Baade schließlich diskutiert in ihrem Buch auch das Thema von Tanzmusik und Maskulinität, die Sorge um den Erfolg der amerikanische Popmusik und die Verdrängung eigener Traditionen, und die Bedeutung von Rundfunkprogrammen, in denen afro-amerikanische Musik in den Mittelpunkt gestellt wurden, für schwarze britische Musiker. Bei allen drei Autor/innen finden sich Diskussionen der Zuschreibung moralischer Qualitäten zur Musik, der Grundlage letzten Endes dessen, was in den USA später zur “cultural diplomacy”, zur Kulturdiplomatie werden sollte.

2012baadeFür Christina Baades Argumentationslinie spielt der Jazz eine zentrale Rolle; ihr Buch erlaubt dabei Rückschlüsse auf Entwicklungen des Nachkriegsjazz in Großbritannien, einschließlich der Hinwendung vieler junger Musiker insbesondere zu traditionellen Jazzstilen. Patrick Bade hat neben einem Kapitel über Jazz und Swing im Dritten Reich, in dem er auch auf das Phänomen der Propagandaband Charlie and His Orchestra eingeht, ein eigenes Kapitel über Musik im Feldlager, im Gefangenenlager und im Konzentrationslager. Fauser wiederum diskutiert in ihrem Buch ausführlich musikalischen Ausdruck von Nationalismus, etwa in Werken von Aaron Copland und Roy Harris.

Patrick Bade gibt am Schluss seines Buchs einen Ausblick auf die Nachwirkungen, erzählt etwa, dass Wagner im Bayreuther Festspielhaus kurzzeitig Cole Porter weichen musste, berichtet, wie Sänger/innen und Musiker/innen nach dem Krieg mit ihrer Karriere im Dritten Reich konfrontiert wurden oder diese sehr bewusst aus ihrer Biographie ausblendeten. Er endet mit dem kurzen Hinweis auf Werke, die sich bis ins 21ste Jahrhundert hinein mit den Gräueltaten des Kriegs auseinandersetzen. Christina Baades Buch endet mit der Ankunft der amerikanischen Truppen im August 1944 und der Entscheidungen des BBC, die auch die amerikanischen GIs mit ihrem Programm unterhalten wollte. In der Folge kam es zu einer Diskussion der Vermischung musikalischer Werte in der populären und Tanzmusik, über “Britishness” oder “Pseudo-American”. Ihr Buch verweist zwischen den Zeilen immer wieder, etwa Kapiteln über das vom Rundfunk mitgeprägte Bild der Frau oder im Versuch, die Ausstrahlung von Musik männlicher übersentimentaler Schlagersänger im Rundfunk zu unterbinden, auf Diskurse, die auch nach dem Krieg weitergingen und auf die letzten Endes BBC-Programmentscheidungen großen Einfluss hatten. Bei Fauser geht der Blick in die Nachkriegszeit über John Cage, dessen experimentelle Ideen sie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren verortet. Sie verweist darauf, dass Cage und seine Zeitgenossen ihre Lehren aus den Erfahrungen des Kriegs gezogen hätten, sich nach Ende des Kriegs von ihren nationalistischen Kompositionen distanziert oder aber diese in neue Werke integriert hätten.

2015badeZusammengefasst bietet Patrick Bade im breiteren Ansatz seines Buchs eine Art Rundumschlag über das Thema. Christina Baade wirft Licht auf die Verflechtungen zwischen Musik, Musikindustrie, öffentlicher Meinung und Publikumsgeschmack. Fausers Studie schließlich hätte von einer Erweiterung ihres Schwerpunkts vielleicht profitiert. Fauser begründet ihren eingeschränkten Blick im Vorwort damit, dass die Jazz- und Popmusikszene jener Jahre ja schon ausgiebig genug untersucht worden sei, während Forschungen zur klassischen Musik im Krieg weitgehend fehlten, vergibt sich damit aber die Chance einer differenzierten Darstellung, was vielleicht – nehmen wir einmal an, dass der Einband-Text vom Verlag und nicht von ihr stammte –, eine wertende Aussage wie die, dass Jazz und Popmusik die Bürger zuhause und die GIs in Übersee vielleicht unterhalten hätten, es aber die klassische Musik gewesen sei, die den wirklichen Unterschied gemacht habe, verhindert hätte.

Von solchen Anmerkungen abgesehen, haben alle drei Bücher ihre Meriten. Sie helfen bei der Kontextualisierung von Musikgeschichte in der späten ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, die letzten Endes Auswirkungen auch darauf hatte, wie Musik heute klingt und wie wir sie wahrnehmen.

Wolfram Knauer (Oktober 2015)


 

 

Giving Birth to Sound. Women in Creative Music
herausgegeben von Renate Da Rin & William Parker
Köln 2015 (Buddy’s Knife)
294 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-00-049279-2

2015darinVielleicht müsste am Anfang dieser Rezension erklärt werden, welchen Weg die Bücher durchlaufen, die im Jazzinstitut Darmstadt anlangen. Bevor wir uns die Bücher aussuchen, die wir rezensieren wollen, erfassen wir sie in unserem Jazz Index, einer computergestützten bibliographischen Datenbank, die von Forschern und Journalisten (und Fans) aus aller Welt genutzt wird. Das heißt, wir gehen das Buch von vorn bis hinten durch, ordnen jedes einzelne Kapitel einem Stichwort oder einem Musikernamen zu, tragen biographische Notizen wie etwa Geburtstag oder Geburtsort, nach, sofern sie in unserer Datenbank noch fehlen. Erst dann machen wir uns ans Lesen.

Aber schon bei diesem ersten Schritt des Erfassens fiel einiges auf beim Buch “Giving Birth to Sound”. Etliche der darin befragten Musikerinnen waren nämlich noch gar nicht in unserer Datenbank erfasst oder aber nur mit relativ kurzen bibliographischen Listen. Über sie wurde in der Jazzpresse bislang also nur wenig berichtet. Nun ja, mag man meinen, das hat sicher auch damit zu tun, dass Frauen ja so richtig erst in den letzten Jahren ins Rampenlicht des Jazz getreten sind. Weit gefehlt aber, und das war die zweite Überraschung: Viele Musikerinnen, die im Buch zu Worte kommen, gehören nämlich gar nicht der jungen (sagen wir: unter 40-jährigen) Generation an, sondern sind weit länger auf der Szene unterwegs. Die Gründe für ihre Unsichtbarkeit in der Jazzpresse mögen also doch woanders liegen.

Eine dritte Erkenntnis, die sich beim Durchblättern schnell ergibt, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Jede der Musikerinnen hat einen völlig anderen Zugang zum Thema. Mal analytisch, mal diskursiv, mal ausweichend, mal ablehnend, mal nüchtern gefasst, mal poetisch überhöht, mal kämpferisch, mal verteidigend. Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich schon in den Überschriften der Kapitel, die Renata Da Rin und William Parker aus der Frage “Was bedeutet Musik für Dich” abgeleitet hat. “Jeder Sound und jede Stille”, antwortet Renée Baker; “die Gründe für mein Leben”, sagt Amy Fraser; “ein abstrakter Ort, um das Leben zu teilen und zu fühlen”, meint Marilyn Mazur; “ein Lager der Erinnerungen”, findet Shelley Hirsch, “Leben, Magie, Geist”, beschreibt Maggie Nicols, oder aber, so Erika Stucky, “serious fun – a ‘Schnaps'”.

Oder aber die Einleitung: Nach dem Vorwort von Amina Claudine Myers haben die Herausgeber eine Anzahl von Reaktionen auf den Buchtitel zusammengefasst. “Giving Birth to Sound”? Schrecklicher Titel: Frauen wurden schließlich immer wieder aufs Gebären reduziert, meint eine der Gesprächspartnerinnen, während eine andere findet, der Titel passe, sei auch angenehm mehrdeutig. Naja, und bei allen Bedenken spräche der Titel ja auch vom Schaffen von etwas Neuem. Blödsinn, widerspricht eine weitere Stimme, Gebären sei doch eine passive, rein physische Tätigkeit, jede Kuh könne das. Musik zu erschaffen sei dagegen ein aktiver intellektueller Prozess und damit das exakte Gegenteil.

Das Konzept des Buchs: Ohne weitere Vorgaben schickten die Herausgeber den 48 Musikerinnen 20 Fragen, die vom Faktischen zum Nachdenken über den Prozess des Kreativen gehen, sich dabei immer wieder danach erkundigen, inwieweit das eigene Geschlecht bei musikalischen, ästhetischen oder beruflichen Entscheidungen eine Rolle gespielt habe. Tatsächlich sind nur sechs der Fragen konkret aufs Frau-Sein der Musikerinnen abgezielt: Wie hast Du deine Kreativität als kleines Mädchen ausgelebt? Wie hat die Tatsache, dass Du eine Frau bist, die Entwicklung Deiner musikalischen Karriere behindert? Wie siehst Du Deine Position als Frau in der Musikszene? Hat diese Position Dein Verhältnis zum Sound beeinflusst? Siehst oder spürst Du einen Unterschied im weiblichen und im männlichen Ansatz an Kreativität? Was würdest Du anderen / jungen Frauen empfehlen, die sich bemühen ein kreatives Leben zu führen?

Die Antworten auf diese und allgemeiner gehaltene Fragen fallen so unterschiedlich aus wie die Lebenswege der 48 Interviewten. Es macht nun mal einen Unterschied, ob man Ende der 1970er Jahre in Dänemark zum Jazz kommt wie Lotte Anker oder 1941 in Oklahoma wie Jay Clayton. Haben Männer und Frauen einen anderen kreativen Approach?, fragen die Herausgeber. “NEIN!” ruft Jay Clayton, in Großbuchstaben, keine weitere Diskussion duldend, während Marilyn Mazur einwirft, Frauen würden vielleicht weniger in Wettstreit treten, mehr ans Ganze und Kollektive denken. “Nein, ich sehe da keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen”, findet wiederum Amy X. Neuberg, um gleich anzuschließen, “das heißt aber nicht, dass es keine gäbe.” Klar gibt es einen Unterschied”, erklärt Kali Z. Fasteau, etwa, dass Männer in hierarchischen Systemen besser funktionierten als Frauen. Andererseits, urteilt Nicole Johänntgen, sei diese Frage ziemlich schwer zu beantworten, weil es nun mal so sehr viel mehr Männer als Frauen auf der Szene gäbe.

Nicole Mitchell beantwortet ihre Fragen in poetischen Erinnerungen und Reflexionen über schwarze Musik, den langen Atem der Bürgerrechtsbewegung und ihren eigenen Weg. Maggie Nicols auf der anderen Seite streicht heraus, dass ihre Musik immer sowohl politische wie auch spirituelle Untertöne besessen habe. Ob sie einen Preis bezahlt habe dafür, dass sie Musik mache, fragen die Herausgeber, und Angelika Niescier findet: Im Gegenteil, sie habe daraus sehr viel für sich gewonnen. Musikerin zu werden, sei nun mal eine Lebensentscheidung, finden auch viele ihrer Kolleginnen, niemand zwinge einen schließlich diesen Weg einzuschlagen.

Die weibliche Kreativität erlaube mehr “Raum”, meint Fay Victor, und zwar “sowohl mehr Raum im Sinn von Zeit und Raum wie auch mehr Raum für die Akzeptanz von Fehlern und Intuition”. Klar habe die Tatsache, dass sie eine Frau sei, ihr Verhältnis zum Sound beeinflusst, erklärt Joëlle Léandre. Frauen seien nun mal anders, sie hätten die Fähigkeit zur Distanz, die in diesem Geschäft wichtig sei, außerdem könne man mit ihnen viel besser lachen.

Sie sehen in dieser springend-vergleichenden Zusammenfassung einzelner Antworten bereits, wie ungemein gewinnbringend sich dieses Buch lesen lässt, wenn man blättert, Themen identifiziert, die die Herausgeber durch ihre Fragen ja nicht festgeklopft, sondern nur angestoßen haben, um dann zu sehen, welchen Kontext die verschiedenen Antworten beleuchten. Man erlebt die ja unabhängig voneinander befragten Musikerinnen bald wie in einer respekt- und kraftvollen Diskussion neugieriger, andere Meinungen (meistens) zulassender, vor allem aber ungemein selbstbewusster Musikerinnen.

Das Fazit des Buchs wusste man vielleicht schon vor der Lektüre: Eine einzelne Antwort auf die Frage nach dem kreativen Unterschied nämlich gibt es nicht. Der künstlerische Ansatz zwischen Männern und Frauen ist genauso unterschiedlich wie jener zwischen Männern und Männern oder zwischen Frauen und Frauen. Es gibt jedoch, und das wird in diesem Buch sehr deutlich, ein anderes Diskursverhalten, eine klare Selbstwahrnehmung der Rolle, in die man gesellschaftlich gedrängt wurde.

Unbedingt lesenswert also, ob von Buchdeckel zu Buchdeckel oder im laufenden Vor- und Zurückblättern. “Giving Birth to Sound” erklärt dem interessierten Leser nämlich in der persönlichen Selbstbefragung der Protagonistinnen und oft auch zwischen den Zeilen weit mehr über die Thematik, als man es etwa von wissenschaftlichen Studien erwarten dürfte.

[Naja, wir empfehlen dennoch den Besuch unseres Darmstädter Jazzforums zum Thema “Gender and Identity in Jazz” vom 1.-3. Oktober 2015 oder die spätere Lektüre unserer Beiträge zur Jazzforschung mit den referaten dieser Konferenz. Aber das ist natürlich nur Eigenwerbung…]

Wolfram Knauer (September 2015)


 

Beyond Jazz. Plink, Plonk & Scratch. The Golden Age of Free Music in London 1966-1972
von Trevor Barre
London 2015 (Compass Publishing)
330 Seiten, 12,99 Britische Pfund
ISBN 978-1-907308-84-0
Zu bestellen über trevorbarre@aol.com

Ekkehard Jost hat die Jahre zwischen 1960 und 1980 als eine Zeit beschrieben, in der Europas Jazz zu sich selbst fand, in der Musiker sich von ihren amerikanischen Vorbildern lösten und eigene Wege gingen. Einige dieser Wege führten fort vom, gingen also “beyond jazz”, und diese Entwicklung will Trevor Barre in seinem Buch mit demselben Titel nachzeichnen. Der Gitarrist Derek Bailey forderte eine Improvisation, die sich aus den idiomatischen Bezügen befreien, und auch andere Musiker begannen statt des Begriffs “Free Jazz” von “improvised music” zu sprechen. Barre interessiert, wie es überhaupt dazu kam, dass eine solch sperrige und alles andere als publikumsfreundliche Musik entstehen konnte und warum sie nicht angesichts ihres kommerziellen Misserfolgs einfach nach ein paar Jahren ausstarb. In seinem Fokus steht dabei die erste Generation der freien Improvisatoren, also Musiker wie Evan Parker, Derek Bailey, John Stevens, Kenny Wheeler, Barry Guy, Dave Holland, Trevor Watts, Tony Oxley, Paul Rutherford, Howard Riley, Eddie Prévost, Keith Rowe, Gavin Bryars und Cornelius Cardew.

Barre beginnt mit einer Definition seines Themas: Wo die meisten Jazzbücher den Jazz durch seine improvisatorischen Parameter beschreiben würden, sei Free Music, schreibt er, einzig durch den improvisatorischen Gehalt definiert. Er stellt unterschiedliche Formen freier Improvisation vor, solche, die näher am Jazz bleiben und solche, die eher der europäischen Avantgardetradition verpflichtet scheinen. Die beiden Hauptensembles seines Buchs sind das Spontaneous Music Ensemble und die Gruppe AMM. Barre ordnet deren Auftritte in die Jugend- und Protestkultur der 1960er Jahre ein und schildert, wie die globalen Entwicklungen von Pop, Rock und Folk jungen Musikern ein völlig neues Vokabularium an die Hand gab, sie auch zu neuen Herangehensweisen zwischen tiefer Ernsthaftigkeit und unbändigem Humor bewegten. Er beschreibt auch, welchen Platz sie in die Bandbreite des britischen Jazz jener Jahre zwischen Dixieland und Free Jazz hatten.

Barre zeichnet den Weg einzelner Protagonisten zur freien Improvisation nach, schildert insbesondere die Bedeutung des Little Theatre Club, in dem die jungen Musiker mit Kollegen auch aus dem europäischen Ausland experimentieren konnten. Er beschreibt, wie sie nach und nach merkten, dass es außer dem afro-amerikanischen Jazz auch anderes gab, dass beispielsweise südafrikanische Musiker um Chris McGregor dieser Musik eine neue Farbe geben konnten und dass sich Freiheit, wie sie der Free Jazz implizierte, auch ganz mit anderen Mitteln umsetzen ließ. Er diskutiert wichtige Aufnahmen der Zeit, wobei ihn vor allem die interaktiven Prozesse interessieren, die ästhetischen Diskurse, die sich aus der Improvisation der Aufnahmen ergaben. Das alles beleuchtet er anhand von zeitgenössischen genauso wie selbst geführten Interviews mit beteiligten Musikern. Das Spontaneous Music Ensemble und AMM nehmen zwei der umfangreichsten Kapitel ein, in denen Barre neben dein Einflüssen und den ästhetischen Diskussionen auch über Nachwirkungen schreibt, bewusste oder unbewusste Reaktionen auf die Klangexperimente in weit jüngerer Musik, der 1980er, 1990er Jahre und danach. Er betrachtet den Einfluss der Technologie, schaut auch auf die Bedeutung der visuellen Covergestaltung oder der Plattentexte. Das Label Incus nimmt ein eigenes Kapitel ein, wie FMP in Deutschland oder ICP in Holland ein von Musikern gegründetes Label, das Musik seiner Mitglieder nicht so sehr vermarkten als vielmehr dokumentieren wollte. Improvisation ist schließlich weit mehr als komponierte Musik auf das Medium der Tonaufzeichnung angewiesen – sonst verklingt sie.

In seinem Schlusskapitel betrachtet Barre kurz die “zweite Generation” der Free Music in London um das London Musicians’ Collective sowie eine “dritte Generation” um John Edwards, John Butcher und andere und setzt beide Entwicklungen mit jenem von ihm als “erste Generation” betrachteten Grundthema seines Buchs in Beziehung. Im Nachwort schließlich verfolgt er die Aktivitäten seiner Protagonisten bis in die Gegenwart.

Trevor Barres Buch ordnet die Entwicklung der Free Music der späten 1960er, frühen 1970er Jahre in die kulturelle Szene des “Swinging London” ein. Ihm gelingt dabei vor allem der Blick auf sich wandelnde ästhetische Ideale und eine Begründung derselben aus gesellschaftlichen und politischen Diskussionen heraus. Der Musik selbst kommt er vor allem in Interviews mit den beteiligten Musikern nahe. Die inhaltliche wie organisatorische Unabhängigkeit der britischen Improvisationsszene jener Jahre hat Auswirkungen bis heute. Initiativen wir F-Ire Collective wären ohne das Vordenken und Vormachen der hier beschriebenen Musiker und Gruppen nicht möglich gewesen. Von daher füllt Barres Buch eine Lücke. Dass er bestimmte Themen weitgehend außer Acht lässt – die Auseinandersetzung dieser Szene mit ihrem Publikum beispielsweise oder mit den Mainstream-Medien, der tatsächliche Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Szenen oder die Reaktion amerikanischer Musiker, zeigt nur, wie viele Perspektiven das Thema tatsächlich hat, die bislang kaum beleuchtet wurden. Barre jedenfalls stößt mit “Beyond Jazz” die Tür zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der musikalischen Freiheitsbewegung jener Zeit weit auf.

Wolfram Knauer (August 2015)


 

Little Satchmo. Living in the Shadow of my Father, Louis Daniel Armstrong
von Sharon Preston-Folta (mit Denene Millner)
Charleston/SC 2015 (self published)
112 Seiten, 12 US-Dollar
ISBN: 978-1-481227-23-7
Zu beziehen über www.littlesatchmo.com

2015prestonfoltaDie offizielle Version lautet: Louis Armstrong hatte nie Kinder. Er hätte immer gern welche gehabt, sagte seine letzte Frau und Witwe, Lucille Armstrong, aber er sei zeugungsunfähig gewesen. Nun kommt, 34 Jahre nach Satchmos Tod, Sharon Preston-Folta mit einem Buch heraus, in dem sie kundtut, sie sei die Tochter Louis Armstrongs aus einer außerehelichen Beziehung, die Satchmo in den 1950er Jahren hatte.

Ihr Leben lang habe sie diese Wahrheit herunterschlucken müssen. Sie wolle kein Geld, keinen Ruhm, aber immer selbst auf das öffentliche Wissen um ihren Vater verzichten zu müssen, sei einfach zu viel. In ihren Recherchen habe sie nur einen einzigen schriftlichen Hinweis auf Satchmos Vaterschaft gefunden, einen Brief des Trompeter an seinen Manager, Joe Glaser, aus dem Jahr 1955, in dem er diesen bat, vor der Ankunft seiner Frau Lucille in Las Vegas ein paar Geschäftsdinge zu klären, darunter Zahlungen an eine Freundin, von der er glaubt, dass sie ein Kind von ihm habe. Ihre Mutter habe sie immer beschworen, ihren Vater geheim zu halten, und so habe sie letzten Endes gehorcht und damit auch keine Ansprüche geltend gemacht auf sein physisches, historisches und finanzielles Erbe. Wenn sie etwas gekränkt habe bei ihren Recherchen, sei es, dass Louis Armstrong in seinen Briefen so offen über alles geredet habe, seine Musik, seine Kindheit, seine Liebe zum Essen und zu den Frauen, über Sex, sogar über seine Darmtätigkeit, dass er über seine Tochter aber sein Leben lang geschwiegen habe.

Warum er ihre Existenz verleugnet habe? Nun, erklärt Preston-Folta, Louis Armstrong sei ein gefeierter Künstler seiner Zeit gewesen und habe sich in der besten (weißen) Gesellschaft aufgehalten. Es habe einfach nicht gepasst, in dieser Zeit, wenn Nachrichten über ein uneheliches Kind mit einer Geliebten in die Schlagzeilen gekommen wären.

Prestons Mutter wurde 1921 in New York geboren und arbeitete bereits als 16-Jährige als Chorus Girl in diversen Shows. 1941 heiratete sie einen Tänzerkollegen; 1946 arbeiteten die beiden als Tanzpaar “Slim & Sweets” als Vorgruppen für große Swingorchester, unter ihnen auch Louis Armstrong, der sich mit ihnen anfreundete und in einen launigen Briefwechsel einstieg. 1950 starb Slim, und bei der Trauerfeier war auch Louis Armstrong dabei, der Lucille Preston in den Arm nahm und versprach: “Ich werde mich um dich kümmern.” In den nächsten vier Jahren reiste sie Pops hinterher und tauchte auf, wann immer Armstrongs in New York spielte. 1954 wurde Preston schwanger, und im November schrieb Satchmo ihr einen Brief, in dem er erklärt, wie sehr er sich auf das Kind freue und sogar vorschlägt, sie zu heiraten, sollte seine Frau (mit gleichem Namen Lucille) sich von ihm scheiden lassen. Armstrong war dann aber nicht dabei, als Sharon Louise (nach Louis) Preston am 24. Juni 1955 das Licht der Welt erblickte. Armstrongs rechtmäßige Ehefrau war “not amused” und habe ihm nach der Geburt der Tochter sogar vorgeschlagen, diese zu adoptieren, was ihre leibliche Mutter aber vehement ablehnte. Lucille (die Ehefrau) habe sogar die Alimente überwiesen, bis sie diese Aufgabe irgendwann Joe Glaser übertrug.

In ihrem Buch berichtet Sharon von den viel zu seltenen, sorgfältig geplanten und sehnsuchtsvoll erwarteten Treffen. Sie und ihre Mutter lebten eine Weile bei ihrem Onkel Kenny, der nach außen schon mal als Lucilles Ehemann auftrat und immer wieder auf seine Schwester eindrang, bei Satchmo mehr einzufordern: mehr Geld, mehr Fürsorge, am besten seinen Namen. Bei einzelnen Sommertourneen durfte Sharon mitreisen. Ansonsten aber war Satchmo vor allem durch die monatlichen Unterhaltszahlungen präsent, durch Broadway-Tickets, 1962 durch den Kauf eines Hauses in Mount Vernon, New York. In Harlem hatte sich niemand wirklich darum gekümmert, wie ihre Familienverhältnisse aussahen, erzählt Preston-Folta, in Mount Vernon aber begann eine Zeit der Lügen. Die Liaison dauerte ja bereits 12 Jahre, aber nach wie vor war nicht in Sicht, dass Armstrong auch öffentlich zu seiner Familie stehen würde. Mit zehn Jahren begriff Sharon erstmals, dass ihr Vater eine “andere Lucille” hatte, ein anderes Leben, das mit ihrem aber auch gar nichts zu tun hatte.

Etwas später seien sie gemeinsam in Atlantic City zu einem Auftritt Marvin Gayes gegangen, es habe einen Streit zwischen den Erwachsenen gegeben, bei dem ihre Mutter Satchmo fragte, wann er sie nun endlich zu heiraten gedachte, worauf er laut wurde: “Ich werde dich niemals heiraten” und mit Fingerzeig auf die Tochter fragte: “Sag mir einfach, was es kostet, für sie zu sorgen!” Das war das Ende der Beziehung.

Kaum war Armstrong gestorben, kamen auch die monatlichen Schecks nicht mehr. Ein paar im Voraus geleistete Zahlungen für Sharons Erziehung hielten sie und ihre Mutter über Wasser, mussten bald auch den Zuwachs zur Familie finanzieren, denn Sharon wurde mit 16 selbst Mutter. Sharon erzählt, wie ihr Leben weiterging, immer gezeichnet durch die Narben, die der fehlende Vater hinterlassen hatte. Irgendwann rebellierte sie gegen die eigene Bitterkeit und versuchte, das emotionale Band, das sie mit der verlorenen, nie gehabten Vergangenheit hatte, zu zerschneiden.

Sharon Preston-Foltas Buch endet mit einem Besuch im Armstrong House in Queens. Ein Anwalt hatte ihr empfohlen, einen Blick in Satchmos Testament zu werfen, das eine eidesstattliche Erklärung von Lucille, Armstrongs Frau, enthielt, Armstrong habe nie Kinder gehabt. Als Sharon diese Zeilen las, von Lucille eigenhändig korrigiert von “Der Verstorbene und ich hatten keine Kinder” in “Der Verstorbene hatte keine Kinder”, entschied sie sich, jetzt ihr Geschichte zu erzählen. Ihre Mutter, die sie immer zur Geheimhaltung gedrängt hatte, willigte endlich ein: “Mach, was Du meinst, dass du tun musst.”

Sharon Preston-Foltas Buch ist als eine Liebeserklärung an die von ihr immer vermisste Vaterfigur Louis Armstrong geschrieben, aber es ist eben auch eine leicht verbitterte Liebeserklärung geworden. An genügend Stellen legt man es zur Seite, unterschiedlich berührt von den Schuldzuweisungen, mit denen Preston-Folta ihre eigenen Lebensentscheidungen aus ihrer vaterlosen Kindheit und Jugend ableitet. Ein bedrückendes Schicksal, denkt man, und fragt sich zugleich, warum sie, die immer wieder von der DNA ihres Vaters schreibt, die in ihr fortlebe, nicht irgendwann, spätestens vor der Veröffentlichung dieses Buchs, auf einem DNA-Test bestanden habe. Doch ist es einem Kind, das sein Leben lang sicher ist, seine Eltern zu kennen, überhaupt zuzumuten, von einem auf den anderen Tag an der Tatsache der Vaterschaft zu zweifeln? Auch als skeptischer Leser sollte man jedenfalls für die Zeit der Lektüre erst einmal die Grundbehauptung der Vaterschaft Louis Armstrongs akzeptieren, sonst hat man wenig Spaß am Buch. Armstrong selbst schließlich scheint bis zu seinem Tod überzeugt davon gewesen zu sein, in Sharon eine Tochter gehabt zu haben.

Allen Fragen und sicher auch allen möglichen Zweifeln zum Trotz, die einem bei der überraschenden Enthüllung Sharon Preston-Foltas kommen mögen, lernt man einiges bei der Lektüre, und wenn nur, dass Scheinwerferlicht auch Schatten wirft, dass Stars wie Louis Armstrong das Leben vieler Menschen zum Teil viel direkter berührten, als man es wahrhaben mag, und nicht zuletzt, dass die Persönlichkeit großer Stars aus ihren emotionalen Stärken genauso besteht wie aus ihren emotionalen Unzulänglichkeiten. Am Glorienschein des großen Meisters mag das alles ein wenig kratzen; der Kraft seiner Musik tut es keinen Abbruch.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Theatrical Jazz. Performance, Àṣẹ, and the Power of the Present Moment
von Omi Osun Joni L. Jones
Columbus/OH 2015 (The Ohio State University Press)
270 Seiten, 99,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8142-1282-0

2015jonesDer Blick über den Tellerrand kann das Wesentliche erhellen, der Blick von außen Dinge erkennen lassen, die man im internen Diskurs oft nicht mehr sieht. Das ist einer der Hintergründe für die sogenannten “new jazz studies”, ein Konzept in der jüngeren Jazzforschung, das sich der untersuchten Materie neben der musikwissenschaftlichen Betrachtung interdisziplinär nähert. Die Feministin Omi Osun Joni L. Jones versucht in ihrem Buch eine Verbindung zwischen Jazzästhetik , theatralischer Performance und auf Yoruba basierender afrikanischer Theologie. Dabei beschreibt sie als eine der zentralen Prinzipien der Jazzästhetik die Fähigkeit, die eigenen intuitiven Kräfte freizusetzen. In ihrer Beschäftigung mit afrikanischer Spiritualität habe sie gelernt, dass auch in wissenschaftlichen Büchern die Auseinandersetzung mit spirituellen Impulsen nicht zu kurz kommen dürfte, ganz ähnlich wie dies auch Jazzgrößen wie John und Alice Coltrane immer gesehen hätten. Sie will mit ihrem Buch den Jazz gegen den Strich bürsten, seine Begriffe, Handlungen, Ausformungen kritisch hinterfragen, und zwar aus der Perspektive aller seiner unterschiedlichen Bedeutungen in musikalischer Ästhetik, Performance, gesellschaftlichem Spiegel, ethnischer Identität oder politischer Haltung. Es gäbe Kollegen, schreibt sie in ihrer Einleitung, die den Jazz als eine polyglotte Form ansähen und damit Gefahr liefen seine Wurzeln in der afro-amerikanischen Kultur zu leugnen. Tatsächlich aber sei die spirituelle Kraft nicht an irgendwelche Identitätsregeln gebunden. Die spirituelle Transzendenz des Jazz brauche keine Abwesenheit ethnischer Identität (“race”), sondern höchstens Abwesenheit solch einer ethnischen Identität (“race”) als Restriktion oder als Prognose.

Tatsächlich handelt ihr Buch allerdings zentral gar nicht von Musik, sondern vom Theater, und hier insbesondere von den drei Theaterautoren Laurie Carlos, Daniel Alexander Jones und Sharon Bridgforth. Jones bedient sich in ihrer Herangehensweisen an das Thema der feministischen und queeren Theorie, erklärt Wirkungen der Theaterperformance aus der Haltung des Jazz heraus und zugleich aus ihrer Interpretation von Yoruba-Traditionen. Als übergeordneten Approach versucht sie ihrem wissenschaftlichen Buch darüber hinaus aber auch improvisatorische Strukturen zu geben, indem sie Bilder, Fotos, Zeichnungen, Zitate einfließen lässt, die wie kurze solistische Kommentare neben ihrem Text stehen.

In ihrer Einleitung zitiert Jones einige Beispiele direkter Bezugnahme von Jazzmusikern wie Dizzy Gillespie und John Coltrane auf Yoruba-Beschwörungen, erinnert außerdem an die lebendige Avantgarde-Theaterszene von Austin, Texas, in der in den 190er Jahren die Verbindungen von Theater und Jazz besonders entwickelt wurden. Im ersten Kapitel betrachtet sie, wie biographische Erfahrungen die drei von ihr untersuchten Autoren prägten, Carlos’ Jugend im New Yorker East Village, Jones’ Aufwachsen im Arbeiterklasse-Milieu von Springfield, Massachusetts, Bridgforths Bustrips durch die verschiedenen Viertel von Los Angeles. Sie analysiert die dem Jazz nahestehenden Praktiken von Lehrer und Schüler im Theater, deren Lernprozesse dabei immer gegenseitig sind. Das zweite Kapitel untersucht Performance-Methoden, Ansätze an Regie, Probenphasen, das Beziehung-Herstellen zum Publikum, die Auswahl der Schauspieler, aber auch das Zulassen spiritueller Erfahrung im Verlauf der Performance. Im dritten Kapitel schließlich fragt sie danach, was die Performance beim Publikum (sie spricht gern von “witnesses” = Zeugen) auslöst, wie sie zu einer Perspektivverschiebung führen kann, einer aktiven Partizipation des Publikums, die das eigentliche Ziel aller Beteiligten sei.

Wenn ich Jones zu Beginn dieser Rezension in die Nähe der “new jazz studies” gestellt habe, so muss ich diese Aussage zumindest zum Teil revidieren. In den New Jazz Studies werden Aspekte des Jazz möglichst von vielen Seiten (und mit unterschiedlichen Methoden) betrachtet. Jones geht den entgegengesetzten Weg: Sie nutzt, was sie vom Jazz gelernt hat, um ihr eigentliches Thema, die Performance im Theater genauer zu definieren. Sie erkennt im Jazz Kommunikations- und Tradierungsmodelle, die so beispielhaft sind, dass sie ein anderes Genre besser verstehen lassen, vielleicht sogar Modell stehen können für neue, weitreichendere Regie- oder Performance-Ansätze. Ihr Buch ist darin so weitsichtig wie der Versuch früherer Literaturwissenschaftler wie Houston Baker, insbesondere den Bereich der afro-amerikanischen Literatur (aber durchaus darüber hinaus) durch die schon von Ralph Ellison oder Albert Murray identifizierte Blues Aesthetic zu beschreiben. Beide nahmen dabei sehr bewusst auf westafrikanische kulturelle Traditionen, Praktiken und Symbole Bezug, für den ungeübten Leser einerseits manchmal etwas schwer nachvollziehbar, gerade dadurch aber die Argumentation auch angenehm schnell aufbrechend und Rückschlüsse erlaubend.

Wenn nämlich die Praxis des Jazz als Erklärungsmodell für andere künstlerische Praktiken taugt, dann wirft das ein ganz anderes Licht auch auf den Stellenwert von Jazz und Improvisation.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


The Long Shadow of the Little Giant. The Life, Work and Legacy of Tubby Hayes
von Simon Spillett
Sheffield 2015 (Equinox)
377 Seiten, 19,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78179-173-8

2015spillettWie Hans Koller oder Lars Gullin war der britische saxophonist Tubby Hayes eine der europäischen Jazzgrößen, die ihren Kollegen genauso wie ihrem Publikum klar machten, dass der Jazz zwar eine afro-amerikanische Musik war, dass aber Europäer das Idiom durchaus beherrschten und ihre eigenen Beiträge zur Tradition des Jazz leisten konnten. Hayes kam aus der Swing-Mainstream-Tradition des Jazz, nahm erst Bebop, Hardbop, schließlich Einflüsse des Spiels John Coltranes in seinen Stil auf und starb 1973, gerademal 38 Jahre alt, in Folge einer Herz-Operation.

Dem Autor und Saxophonisten Simon Spillett gelingt es in seinem Buch “The Long Shadow of the Little Giant” mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews und Material aus Hayes’ persönlichem Archiv das Leben und die musikalische Karriere des Saxophonisten in den Jahren vom bombenerschütterten London der Nachkriegszeit über die jazzigen 1950er Jahre und die Swinging Sixties bis hin zur großen Krise des Jazz Anfang der 1970er Jahre nachzuzeichnen.

Hayes wurde in eine musikalische Familie geboren – sein Vater leitete in den 1930er Jahren verschiedene Tanzorchester, seine Mutter war Revuesängerin und -tänzerin. Schon früh war er vom Saxophon fasziniert, begann aber im Alter von acht Jahren erst einmal mit Geigenunterricht, und bekam schließlich zum elften Geburtstag das langersehnte Saxophon, das er größtenteils autodidaktisch meisterte. Er hatte ein gutes Gehör, und der Geigenunterricht hatte ihn zu einem exzellenten Notisten gemacht. Er hörte Charlie-Parker-Platten und bewegte sich in Kreisen Gleichgesinnter, spielte bald mit Ronnie Scott, Alan Skidmore und Kenny Baker, mit dem er im Juli 1951 auch seine ersten Aufnahmen machte.

Die Baker Band hatte jede Menge Fans, und die Presse wurde schnell auf Hayes aufmerksam, der bald als “boy wonder tenorist” vermarktet wurde und, noch nicht einmal 20 Jahre alt, mit den Modernisten der britischen Jazzszene spielte. Mit 18 heiratete er zum ersten Mal, hatte schon zuvor alle möglichen Drogen ausprobiert. Er spielte in den populären Bands von Vic Lewis, Jack Parnell, Tony Hall und hatte schließlich auch mit seiner eigenen Band einen vollen Terminkalender.

Spillett beschreibt, wie britische Musiker in jenen Jahren das US-amerikanische Idiom des Hardbop gemeistert hatten, die Musik von Art Blakey und Horace Silver, und wie Kollegen wie Sonny Rollins oder Hank Mobley ihre stilistischen Spuren in Hayes’ Spiel hinterließen. 1958 traten Hayes’ Jazz Couriers neben dem Dave Brubeck Quartet bei einer Tournee durch sechzehn Städte des Vereinigten Königreichs auf; 1959 wurde Hayes vom Melody Maker zum besten Tenorsaxphonisten gewählt.

Andere Musiker hatten die Entwicklung des amerikanischen Jazz genauso interessiert mit verfolgt; und um 1960 kamen erste Versuche “freier Form” auch in England an. Joe Harriott war einer der ersten, die sich an freieren Spielweisen versuchten; Hayes aber blieb skeptisch. Die Eröffnung von Ronnie Scott’s, bis heute einem der wichtigsten Clubs des Königreichs, war sowohl für die Präsenz des amerikanischen Jazz in England wichtig als auch für das Selbstbewusstsein der eigenen Szene. Der BBC schnitt Konzerte mit, und Plattenfirmen widmeten dem heimischen Jazz eigene Alben. 1961 trat Hayes erstmals in New York auf, wo ihn die Größen des amerikanischen Jazz hörten, unter ihnen Zoot Sims, Al Cohn und Miles Davis. Zurück in England erhielt er einerseits eine eigene Fernsehshow, “Tubby Plays Hayes”, hörte er andererseits erstmals John Coltrane, der sein Bild von den Möglichkeiten im Jazz genau wie das vieler anderer Kollegen völlig veränderte.

Als Duke Ellington 1964 in England auftrat, jammte Hayes mit Bandmitgliedern und wurde vom Duke gebeten für Paul Gonsalves einzuspringen, als dieser unpässlich war. In den nächsten Jahren war Hayes international unterwegs, trat im New Yorker Half Note genauso auf wie beim NDR Jazz Workshop in Hamburg. Er arbeitete wie besessen, hatte zugleich gesundheitliche Rückschläge, darunter eine Thrombose, die auch seine Lungenfunktion herabgesetzt hatte.

Ende der 1960er Jahre hatte der britische Jazz zwei Probleme: die Macht der Rockmusik auf der einen Seite und das Verlangen des Publikums nach amerikanischen Künstlern auf der anderen Seite. Hayes erlitt auch persönliche Rückschläge, etwa als seine Freundin starb und er daraufhin noch stärker zu Drogen griff. Er musste wegen Herzproblemen immer häufiger in ärztliche Behandlung, begann aber trotz aller gesundheitlichen Probleme ein musikalisches Comeback. Er spielte mit Musikern der britischen Avantgarde, John Stevens, Trevor Watts, Kenny Wheeler, beteiligte sich bei einem Benefizkonzert für Alan Skidmore, der nach einem Autounfall im Krankenhaus lag, starb aber schließlich nach einer Operation, bei der eine Herzklappe ausgetauscht werden sollte.

“The Long Shadow” heißt das Buch, und so widmet Spillett sein letztes Kapitel der kritischen Aufbereitung seiner musikalischen Bedeutung nach seinem Tod sowie dem Nachwirken Hayes’ auf der britischen Szene. Er schließt mit einer Diskographie die Aufnahmen des Saxophonisten zwischen 1951 bis 1973 verzeichnet.

Simon Spillett hat viel Sorgfalt in seine Recherchen gesteckt. Nebenbei wirft er immer wieder aufschlussreiche Blicke auf die Musik selbst, auf die Aufnahmen, die Hayes’ musikalische Entwicklung dokumentieren. Wenn überhaupt, so mangelt es dem Buch insbesondere in diesem Segment an Tiefe, etwa an Erklärungen, wo sich Einflüsse, ästhetische Umbrüche und anderes konkret festmachen lassen. Eingehend aber beschreibt er den Lebensweg, die persönlichen Probleme, die musikalischen und ästhetischen Entscheidungen und zieht die Verbindungen zu den allgemeinen Entwicklungen des Jazz in Großbritannien, in Europa und in den Vereinigten Staaten. Spillett konnte mit Zeitzeugen sprechen und hatte Zugriff auf Hayes’ persönliche Papiere. Sein Buch ist eine definitive Biographie, die viele Fragen beantwortet und dabei im umfassenden Apparat all die Dokumente benennt, die für eine solche Arbeit notwendig sind.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Musiktraumzimmer Jazzcampus
herausgegeben von Peter Rüedi & Steff Rohrbach
Basel 2015 (Jazzcampus / Echtzeit Verlag)
212 Seiten, 32 Euro
ISBN: 978-3-905800-78-4

B2015rueediasels Jazzschule ist zum Jazzcampus geworden, zu einer Hochschule für improvisierte Musik, in der, wie der Titel dieses Buchs suggeriert, jede Menge an Träumen und Visionen wahrgeworden sind. Da ist zuallererst die Vision des Gründers und Gitarristen Bernhard Ley, der erzählt, wie er die Schule in den Räumen eines Jugendkulturzentrums gründete und wie er es dann durch pädagogisches wie politisches Geschick, aber auch durch das Talent der Vernetzung, das die Schule zum Teil des Basler Kulturlebens werden ließ, erreichte, sie zu einem Kompetenzzentrum zu machen, in dem der musikalische Gehalt, die Arbeit von Lehrenden und Schüler/innen, sich auch in der architektonischen Umsetzung spiegelt.

Davon nämlich handelt dieses Buch, vom glücklichen Unterfangen, auf den Grundrissen einer ehemaligen Maschinenfabrik eine Musikschule zu bauen mit all der für eine solche notwendigen Infrastruktur, Club, Konzertsaal, Tonstudio, Probenräume etc. Ein Musiktraumzimmer sei das ganze geworden, eine Raumrealisation also, die dem Thema “Jazz” angemessen sei. Mitgeholfen hätten alle, die Architekten Lukas Buol und Marco Zünd, der Bauherr Georg Hasler von der Stiftung Levedo sowie Bernhard Ley, der als Studiengangsleiter den zukünftig alltäglichen Gebrauch im Blick behielt. Das Gespräch mit diesen vieren erklärt Fragen der Akustik, Diskussionen im Planungsverlauf, die Außenwirkung genauso wie den inneren Glanz (sprich: Farben, Bodenbeläde, Beleuchtung).

Solch eine theoretische Diskussion lässt sich nur durch Fotos und Raumpläne in Buchform einfangen. Eigentlich gehört Musik dazu, noch wichtiger wäre der tatsächliche Raumeindruck, der aber in der Architektur immer noch einzig durch einen Besuch ermöglicht wird.

Um die tatsächliche musikalische und pädagogische Nutzung der Räume geht es im zweiten, noch umfassenderen Teil des Buchs: um Konzepte der Jazzpädagogik, persönliche Herangehensweisen an Musik, ästhetische Vorstellungen, die Rückwirkung von Unterricht auf die eigene Kunst der unterrichtenden Musiker.

Wolfgang Muthspiel etwa betont, wie wichtig es neben einem festen Lehrerstamm sei, großartige internationale Kollegen als Gastdozenten an die Schule zu holen. Andy Scherrer erzählt, wie er zum Unterrichten wie die Jungfrau zum Kind gekommen sei, und wie er trotz vieler Schüler immer eine gesunde Skepsis gegenüber des Unterrichtens beibehalten habe. Malcolm Braff erklärt, dass er nicht so sehr das Klavier denn vielmehr sich selbst als das wirkliche Instrument empfinde und wie er in den letzten Jahren eine rhythmische Theorie entwickelt habe, die auch Grundlage seines Unterrichts an der Hochschule sei. Lisette Spinnler versteht die Stimme als Instrument und Texte als Ausgangspunkt für musikalische Erkundungen. Adrian Mears plädiert auch beim Lernen für Spielpraxis, egal mit was für Besetzungen. Bänz Oester vertraut auf die Motivation zukünftiger Musiker/innen, auf die Verantwortung für das Selbst, das Eigene. Domenic Landolf mag sich weder verbiegen noch sonderlich in den Vordergrund spielen. Jorge Rossy spricht über die Standards als Basis und über seine Arbeit mit Carla Bley und Steve Swallow. Matthieu Michel überlegt, wie man als junger Musiker neben der Technik vor allem zu einer eigenen Stimme gelangt. Hans Feigenwinter sieht seine analytischen Fähigkeiten als eine Grundlage seines Musikmachens, zugleich aber die Musik auch als laufenden Ansporn, sie analytisch zu begreifen. Gregor Hilbe berichtet über die Bedeutung des Schlagzeugers in einer rhythmischen Kultur, und zugleich über die Idee des Producing / Performance-Studiengangs am Jazzcampus Basel. Daniel Dettmeister hatte die Chance, als Tonmeister selbst Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung des Aufnahmesaals der Hochschule. Mit Martin Lachmann kommt zum Schluss auch noch der Akustiker selbst zu Wort, der die Räume eingerichtet hat.

Eine bunte Abfolge von Interviews, Reflexionen und Fotos also, die sehr umfassend das Konzept klarmachen, dass hinter dem Jazzcampus Basel steckt: Freiräume schaffen und beste akustische Möglichkeiten. “Musiktraumzimmer Jazzcampus” ist damit zwar vordergründig eine in Buchform gepresste Imagebroschüre der Hochschule, zugleich aber erheblich mehr: ein Manifest für eine Jazzausbildung, in der Kunst und Wirklichkeit, Klang und Akustik, Pädagogik und Freiheit sinnvoll miteinander in Beziehung stehen.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Résume. Eine deutsche Jazz-Geschichte
von Eberhard Weber
Stuttgart 2015 (sagas.edition)
252 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-944660-04-2

2015weberDer Autor kommt gleich zur Sache: Der Leser wisse ja bereits, dass er, Eberhard Weber, gut 40 Jahre lang als Jazzbassist aktiv war, vielleicht auch, dass er seine aktive Karriere nach einem Schlaganfall 2007 beenden musste. Der Leser wisse wahrscheinlich etliches über seine Karriere, wahrscheinlich auch über den Jazz – was könne er dazu noch beitragen…? Nun, wenn überhaupt, dann könne er aus seinen eigenen Erinnerungen erzählen, sehr persönliche Geschichten, die sich um die Musik drehen, die aber auch sein ästhetisches Weltbild und vieles darüber hinaus berühren. Webers Buch wird so zu seinem “Resumé”. Und es mag vielleicht nicht “die” deutsche Jazzgeschichte sein, aber es ist auf jeden Fall, wie der Untertitel verspricht, “eine deutsche Jazz-Geschichte”, ein Beispiel dafür, wieso ein junger Mann zu dieser Musik kommt, was ihn über all die Jahrzehnte an ihr faszinierte und wie er lernte, in ihr sich selbst auszudrücken.

Eberhard Weber, dem musikalischen Geschichtenerzähler, gelingt der narrative Bogen auch in Worten. Bereits das Eingangskapitel, das vom “Schlag” handelt, der ihn kurz vor einem Konzert mit Jan Garbarek in der Berliner Philharmonie traf, von der Unsicherheit über seinen Gesundheitszustand, von der Hoffnung, wieder spielen zu können, zeigt seine erzählerischen, auch zur Selbstironie fähigen schriftstellerischen Qualitäten.

Im zweiten Kapitel widmet sich Weber seiner eigenen Vorstellung von Jazz. “Jazz”, schreibt er ironisch, doch nicht ganz falsch, “ist, wenn es der Komponist, der Arrangeur oder der ausführende Musiker dem Hörer so schwer wie möglich macht, der Musik zu folgen – und trotzdem alle Spaß daran haben. Das unterscheidet ihn von der vermeintlich ‘Neuen Musik’.” Doch neben dem Jazz als großer Kunst will Weber in diesem Kapitel auch seiner eigenen Ästhetik auf die Schliche kommen. Wiederholungen, erkennt er, langweilen ihn in der Regel; die Schlüsse von Stücken, findet er, misslingen meist. Er weiß, dass Solisten auch mal ohne Inspiration sein können und weiterspielen müssen. Er weiß auch um seine eigenen Schwächen als Bassist und beschreibt, wie man nur, wenn man um die technischen Probleme des eigenen Spiels oder des eigenen Instruments weiß, diese überkommen und kreativ mit ihnen umgehen könne.

Weber selbst wurde die Musik in die Wiege gelegt. Sein Vater, erzählt er, hatte als Cellist klassische Musik gemacht, daneben aber auch Cello und Banjo im Tanzorchester von Bernard Etté gespielt. Weber kam mitten im Krieg in Esslingen zur Welt. Seine Mutter sang, und “im häuslichen Weber’schen Freundeskreis”, erinnert er sich, “triumphierte Gesang über Instrumentales”– vielleicht eine Vorbereitung auf seine eigene sangliche Haltung beim Instrumentalspiel? Gehörbildung fand im Kinderzimmer statt, wenn seine Schwester und er Automarken am Klang unterschieden und dabei lernten zuzuhören und zu differenzieren. Ein Vetter quartierte sich nach der Kriegsgefangenschaft bei ihnen ein und begann Flöte zu lernen. Man diskutierte über Wagner und spielte Kammermusik. Weber bekam Cellounterricht, dann entdeckte er den Jazz und mit ihm wechselte er zum Kontrabass.

Im Jazz brachte er sich das meiste selbst bei, berichtet von ersten Bühnenerfahrungen, von Stuttgarter Jazzern wie Horst Fischer und Ernst Mosch, vom ersten Einsatz in Erwin Lehns Orchester als Vertretung für dessen regulären Bassisten. Seine musikalische Leidenschaft führte dazu, dass Weber durchs Abitur rasselte, eine Lehre als Fotograf begann und Kameraassistent bei einer Fernsehfirma wurde. Nebenbei spielte er mit gleichaltrigen Musikern, lernte Anfang der 1960er Wolfgang Dauner kennen und wurde bald Mitglied in dessen Trio. Er erzählt von den unterschiedlichsten Auftrittsorten zwischen Nachtclub, Café, Tanz und Ami-Kaserne, von Einflüssen auf sein Bassspiel, davon, wie das Dauner-Trio seinen eigenen Stil fand. Zwischendurch gibt es reichlich Anekdoten, aber auch Einblicke in die technischen Seiten seiner Kunst: Instrumentenwahl, Akustik, Pickups, Verstärker, elektronische Spielereien.

Ende der 1960er Jahre wandten Dauner und Weber sich freieren Spielweisen zu. Weber weiß um seine Beobachtungsgabe, weiß auch, dass er sich gern mal zur Polemik hinreißen lässt. Doch er besitzt eben auch die Erfahrung, Beobachtetes, insbesondere, wenn es um Musik geht, passend einordnen zu können. Und so mag man mit mancher polemischen Äußerung, die seinem eigenen musikalischen Geschmack zuzuschreiben ist, nicht übereinstimmen, wird aber an richtiger Stelle durch ein Augenzwinkern darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor zwar eine feste Meinung hat, sich selbst aber auch nicht immer ganz so ernst nimmt.

Weber stand in seiner Karriere bei zwei Plattenfirmen unter Vertrag, die Weltgeltung besaßen, Hans-Georg Brunner Schwers MPS und Manfred Eichers ECM. Er beschreibt die Arbeiten zu “The Colours of Chloë” und den folgenden internationalen Erfolg. Er erzählt vom Zusammenspiel mit Gary Burton, von den Unterschieden zwischen amerikanischen und europäischen Gepflogenheiten in der Jazzszene, von Tourneen mit seiner eigenen Band Colours, durch Deutschland – Ost und West –, die USA und Australien. Er berichtet von seiner Zusammenarbeit mit Jan Garbarek, mit dem er auch offizielle Empfänge spielte, bei denen Politiker, Botschafter, Bundespräsidenten, gekrönte Häupter begeistert waren, “endlich mal kein Streichquartett hören zu müssen”.

Eberhard Weber ist ein vielgereister Musiker. Seine Berichte von Zollformalitäten, Einreisebestimmungen, fasst verpassten Flügen und sonstigen Widrigkeiten sind amüsante Anekdoten, die vor Augen führen, dass das Musikerdasein nicht nur der aus musikalischer Kreativität besteht, die das Publikum erwartet und zumeist auch bekommt. Eine Professur für Musik hatte er nie annehmen wollen. Seine Begründung, die wie ein Tenor seine ungemein flüssige und lesenswerte Autobiographie beendet: “Ich kann nicht Bass spielen. Aber ich weiß, wie’s geht.”

Wolfram Knauer (Juni 2015)


Coltrane sur le Vif
von Luc Bouquet
Nantes 2015 (Lenka Lente)
146 Seiten, 13 Euro
ISBN: 978-2-9545845-8-4

2015bouquetDie Großen des Jazz waren zumeist auch die Meistaufgenommenen, und neben den offiziellen Einspielungen im Studio gehörten über die Jahre Bootlegs dazu, Schwarzpressungen von legalen oder illegalen Mitschnitten, die in mal besserer, mal schlechterer Qualität auf den Markt kamen. Solche Bootlegs haben naturgemäß keine Studioqualität; zum Teil sogar einen unsäglich schlechten Sound. Aber sie sind nicht nur für den Fan, sondern auch für den Experten ein immens wichtiger Teil der Aufnahmegeschichte dieser Musiker. Sie dokumentieren nicht die perfekte Abmischung, sondern den Alltag des Konzerts, in dem das Solo völlig anders klingen kann, in dem die Künstler mit dem Material oder auch mit sich selbst zu kämpfen haben, in dem mal bessere, mal schlechtere Fassungen der großen Titel erklingen, vergleichen mit den auf den im Studio gefertigten Referenzaufnahmen.

Luc Bouquet hatte im französischen Magazin Improjazz eine Reihe über die Liveaufnahmen John Coltranes veröffentlicht und diese jetzt in die zwölf Kapitel des vorliegenden Buchs einfließen lassen. Ein erstes Kapitel beschreibt Coltranes erste Aufnahmen aus dem Jahr 1946 sowie zwei Sessions mit Dizzy Gillespie bzw. Johnny Hodges. Kapitel 2 widmet sich den Jahren 1955-57 und Livemitschnitten mit Miles Davis, Kapitel 3 der Zeit von 1957-58 und den erst jüngst entdeckten und doch schon legendären Aufnahmen Coltranes mit dem Thelonious Monk Quartet. Zwei weitere Miles Davis-Kapitel schließen sich an, 1958-59 in den USA sowie 1960 in Europa, dann beginnt mit Kapitel 6 die Aufnahmegeschichte von Coltranes eigenen Bands: sein klassisches Quartett, Trane und Dolphy, die diversen Besetzungen von 1962, 1963, 1964-65 bis hin zu seiner letzten Liveaufnahme, dem “Olatunji”-Konzert vom April 1967. Jede der Platten wird mit Besetzungs- und Inhaltsangaben gelistet, dazu kommt eine kurze Beschreibung dessen, was auf ihr zu hören ist. Allzu tief versteigt sich Bouquet dabei weder in die Musik noch in die Begleitumstände der Aufnahmen – so wäre etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Entdeckungsgeschichte der Bänder von Tranes Carnegie-Hall-Konzerts mit Thelonious Monk durchaus berichtenswert gewesen.

Bouquets Buch ist als eine Art annotierte Diskographie der Liveaufnahmen John Coltranes ein nützliches Handbuch sowohl beim Hören wie auch bei der Entscheidungsfindung, was man sich vielleicht noch zulegen könnte.

Wolfram Knauer, April 2015[:][:en]Rencontres du jazz et de la musique contemporaine
herausgegeben von Jean-Michel Court & Ludovic Florin
Toulouse 2015 (Presses Universitaires du Midi)
184 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-2-8107-0374-6

Das vorliegende Buch ist die Dokumentation einer Tagung, die im Oktober 2013 in Toulouse stattfand und sich mit aktuellen Beziehungen zwischen Jazz und Zeitgenössischer (sogenannter “Neuer”) Musik beschäftigte. Im Vorwort stecken die beiden Herausgeber das Feld ab, das irgendwo zwischen Anthony Braxton und IRCAM-Experimenten angesiedelt ist und bei dem oft die Genrebezeichnung, ob “Jazz” oder “Neue Musik”, im Weg steht, da die Musik selbst solche Grenzen inzwischen gern und oft überschreitet.

Die Beiträge selbst sind theoretisch-musikwissenschaftlicher Natur. Im ersten Teil findet Vincenzo Caporaletti, dass die jüngere Entwicklung im Kunstmusikbereich neue wissenschaftliche Ansätze benötigt und stellt sein “principe autiotactile” vor, durch das sich sowohl für komponierte wie auch für improvisierte Musik die performativen Prozesse genauso analysieren ließen wie die ästhetischen Prozesse, die durch die Musik wie auch durch äußere, etwa mediale Einwirkungen mitbestimmt werden. Alexandre Pierrepont nähert sich der Frage, inwieweit die genre-spezifische Einordnung und Wertung von Musik aus den Bereichen europäischer klassischer Musik und des afro-amerikanischen Jazz nicht auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser zu Missverständnissen führt, wenn die Querverbindungen, die ja zwischen den Genres bestehen, oft und gern mit kulturellen Konnotationen versehen werden. Pierre Sauvanet betrachtet, wie das Moment der “Tradition” von Musikern im Jazz, der Neuen Musik und in tatsächlich “traditionellen” Musikrichtungen unterschiedlich behandelt wird.

Im zweiten Teil des Buchs geht es an konkrete Analysen. Pierre Fargeton befasst sich mit Franz Koglmanns langjähriger Auseinandersetzung mit dem Third Stream, der Neuen Musik und anderen Kunstrichtungen. Konkret untersucht er Koglmanns “Join!” eine “Oper” aus dem Jahr 2013 auf diverse Bezüge (1.) zum Jazz und (2.) zur Zeitgenössischen Musik. Martin Guerpin analysiert die Komposition “Unisono” des israelischen Komponisten Ofer Pelz und identifiziert darin insbesondere die Jazzverweise. Wataru Miyakawa untersucht das Werk des japanischen Komponisten Toru Takemitsu, in dem ihn vor allem der Einfluss des Lyrian Chromatic Concept von George Russell interessiert.

Im dritten Teil des Bandes berichtet der Gitarrist Frédéric Maurin darüber, wie er Methoden der Spektralmusik, die in den 1970er Jahren im Kreis der IRCAM in Paris entwickelt wurde, etwa für seine Band Ping Machine nutzbar macht. Cécile Auzolle untersucht das “Wintermärchen” des belgischen Komponisten Philippe Boesmans von 1999 und hat dabei Einflüsse aus dem jazz sowie improvisatorische Passagen im Fokus, die in der Oper vom Ensemble Aka Moon ausgeführt wurden. Henri Fourès hinterfragt die Begriffe Jazz, Zeitgenössische Musik, Komposition, Notation und Improvisation auf ihre Wertigkeit in der Hochschullehre. Zum Schluss berichten die Bassistin Joëlle Léandre, der Saxophonist Douglas Ewart und der Trompeter Mike Mantler über ihre eigenen Erfahrungen im Feld zwischen den Welten von Jazz und Neuer Musik.

“Rencontres du jazz et de la musique contemporaine” wirft ein Schlaglicht auf eine offenbar immer noch wichtige Diskussion in den beiden darin angesprochenen Welten. Der einleitende Überblick listet frühere Beschäftigungen mit dem Thema auf (hier fehlt allerdings der Band “Jazz und Komposition”, der das 2. Darmstädter Jazzforum von 1991 dokumentiert und in dem dieses Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet wurde). Sowohl in den allgemein theoretischen wie auch den konkreter praktischen Kapiteln fehlt ein wenig – aber das ist bei einer Tagung, die das nicht ausdrücklich zum Thema machte, vielleicht auch kaum zu leisten – die grundlegende Diskussion einer anders als aus dem europäischem Wissenschaftsdiskurs entstandenen Reflexion über Musik, eine Perspektive also, die sowohl Jazz wie auch die in europäischer Tradition stehende Neue Musik etwa aus dem Blickwinkel von Community, von Macht, von Geschlechterungleichheit oder ähnlichem betrachtet, sich dabei nicht auf die bestehenden meist europäisch gefärbten und genormten Diskurstraditionen einlässt, sondern mutig nach neuen sucht. Das von George Lewis und Benjamin Piekut 2016 herausgegebene Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies geht da einen anderen Weg, braucht, um das Thema abzudecken allerdings auch über 1000 Seiten.

Wolfram Knauer (März 2018)


Bunk Monk & Funk – and other attractions
von Anders Stefansen (& Jan Søttrup)
Kopenhagen 2012 (People’s Press)
248 Seiten, 249 Dänische Kronen
ISBN: 978-8771-37035-5

Anders Stefansen ist ein bisschen der Fritz Rau Dänemarks: ein Konzertveranstalter, der eher zufällig ins Geschäft kam, in den frühen 1960er Jahren für Norman Granz dessen Skandinavien-Tourneen organisierte (so wie dies Lippmann + Rau in Deutschland taten), später auch populärere Acts betreute, von den Beatles bis zu den Rolling Stones. In seiner Autobiographie erinnert sich Stefansen an die vielen Freundschaften zu Musikern, die er in seinem Berufsleben schließen konnte, an das Tourleben, an Probleme und ihre jeweilige Lösung, und an Begegnungen wie die mit John Coltrane, Andrés Segovia, Count Basie, Duke Ellington, Ben Webster, Cecil Taylor und vielen anderen. Er beleuchtet die Realitäten des Business, schwelgt aber vor allem in Erinnerungen. Wenn es dabei auch mehr um die Menschen geht als um die Musik, so ist die Lektüre seines Buchs dennoch erhellend nicht nur für diejenigen, die von seiner Arbeit als Konzertveranstalter profitierten, etwa weil sie selbst im Publikum saßen. Seine Anekdoten beleuchtet zugleich eine ungewöhnliche Karriere zwischen Musik und guter Küche (Stefansen eröffnete eines der ersten French Cuisine Restaurants in Dänemark). Und seine Anekdoten über Henry Miller, den er traf, als er den Film “Ruhige Tage in Clichy” produzierte, sind besondere Zugaben der Lektüre.

Wolfram Knauer (Januar 2018)


Fashion and Jazz. Dress, Identity and Subcultural Improvisation
von Alphonso D. McClendon
London 2015 (Bloomsbury Academic)
194 Seiten, 24,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-85785-127-7

Von den Banduniformen der Swingorchester über die Gardenie im Haar von Billie Holiday bis zu Wynton Marsalis’ in Brooks Brothers-Anzüge gekleidetes Lincoln Center Jazz Orchestra: Jazzmusiker waren immer auch Mode-Ikonen. Miles Davis mag diese Facette seines Bühnenlebens am stärksten ausgelebt haben, doch findet sich das Bewusstsein für die Bühnengarderobe durch die Jazzgeschichte. Als Art Blakey seiner Band in den 1970er Jahren für eine Weile erlaubte, in Straßenklamotten aufzutreten, war das eine Ausnahme. Er wie andere Musiker wussten, dass sie als afro-amerikanische Künstler Vorbildfunktion hatten.

Alphonso D. McClendon ist Modeforscher und hat sich in seinem Buch “Fashion and Jazz” dem Subtext der Musikergarderobe durch die Jazzgeschichte angenommen. Ihm ist wichtig, auf die gegenseitigen Einflüsse zwischen Jazz und Mode hinzuweisen, wie er gleich im ersten Kapitel deutlich macht, in dem er Parallelen und Einflusswege nennt, dass nämlich sowohl Mode wie auch Jazz auf ihre jeweilige Art und Weise vom Freiheit des Ausdrucks handeln. Es habe im Jazz durchaus eine “Sprache der Kleidung” gegeben, sagt er – will heißen: die Bühnenpräsentation hatte immer auch etwas zu bedeuten, und Kleidung habe zur visuellen Ästhetik von Jazzmusikern beigetragen, ob in der Performance auf der Bühne oder in Abbildungen.

Im zweiten Kapitel geht McClendon das Thema dann chronologisch an. Er beschreibt die Mode der Ragtime-Ära und der Bluesmusiker, die Bühnenkostüme von Swing-Musikern und die Selbstdarstellung der Bebopper, die zugleich “die Konstruktion eines subkulturellen Stils” gewesen sei, und stellt schließlich fest, das sowohl Mode wie auch Jazz ähnliche Perioden von Konformität (1900-1920), populärem Einfluss (1920-1940) und Widerstand (1940-1960) durchgemacht hätten.

Kapitel 3 diskutiert Momente “der Moderne” bzw. “des Modernen” und die Kommunikation beider durch Mode und Spielpraktiken im Jazz. Im vierten Kapitel beschreibt McClendon Strategien der Distinktion durch Jazz und Mode, um sich im fünften Kapitel etwa auf die Darstellung von Frauen und Männern in frühen Sheet-Music-Covers zu konzentrieren. Kapitel 6 diskutiert subversive Konnotationen, die sich etwa in Texten von Bluessängerinnen finden oder im Eingang von Jazzthemen in die Literatur oder den Film. Kapitel 7 ist überschrieben “Narcotics and Jazz: A Fashionable Addiction” und beschreibt unter anderem, wie elegante Kleidung auch helfen konnte ein Leben im Schatten der Drogensucht zu verschleiern. Kapitel 8 fokussiert auf Billie Holiday als Musik- wie Mode-Ikone; Kapitel 9 beschreibt Duke Ellington und Benny Carter als “traditionellen Dandy” sowie Dizzy Gillespie und Gerry Mulligan als “modernen Dandy” und blickt kurz darauf, wie amerikanische Präsidenten wie Bill Clinton und Barack Obama ihre Nähe zum Jazz als Imagefaktor ausnutzten.

McClendons Buch reicht leider nur bis ins Jahr 1960 und verpasst damit die politische Garderobe von Dashikis, schwarzen Lederjacken oder soul-beeinflusster Hipstermode der 1960er und 1970er Jahre, thematisiert also auch nicht die Rückkehr zur ordentlichen Garderobe mit Aufkommen der Young Lions der 1980er Jahre. Er thematisiert damit weder die modetechnische Annäherung zwischen den Genres, etwa in Richtung Rock oder auch Neue Musik, noch die Unterschiede etwa in im Modeverhalten amerikanischer und europäischer Musiker. Doch gelingt ihm in diesem eigentlich auf der Hand liegenden und doch so ganz anderen Blick auf Jazzgeschichte eine Perspektive, die Aufschluss über Imagebildung, Selbstverständnis der Künstler und die gegenseitige Beeinflussung von Image und künstlerischem Anspruch erlaubt. Etliche Bilder, eine ausführliche Bibliographie und ein Namensindex schließen das Buch ab.

Wolfram Knauer (August 2017)


Sales Rectangles. Daunik Lazro. Vieux Carré
von Guillaume Belhomme
Nantes 2015 (Lenka Lente)
44 Seiten, 1 Mini-CD, 9 Euro
ISBN: 978-2-9545845-9-1

Am 21. Mai 2011 spielte der Saxophonist Daunik Lazro ein inspiriertes unbegleitetes Solokonzert in einen Buchladen in Rouen. Guillaume Belhomme versucht die Stimmung des Konzerts einzufangen, indem er eines der Stücke Lazros, eine lange Improvisation über Joe McPhees “Vieux Carré” mit kurzen Blicken in die Bücher, die um ihn herum stehen und liegen, verbindet. Seine knappen, aus jeweils nicht mehr als einem Satz bestehenden Kommentare lassen sich den diesen Büchern allerdings erst zuweisen, wenn man sie anhand der im Büchlein abgedruckten Barcodes (bzw. die diesen beigefügten ISBN-Nummern) sucht. Und tatsächlich gelingt es Belhomme dabei ein wenig, jene Stimmung eines Konzerts im Buchladen einzufangen, bei dem die Konzentration auf die Musik von den Blicken zu und in die Bücher, von der Wahrnehmung der Atmosphäre, von kurzen Reflektionen darüber, was man da aufblättert, während man zugleich zuhört, unterbrochen, aber durchaus auch bereichert wird. Ein ungewöhnliches, durchaus inspirierendes Experiment, das den Leser / Hörer quasi subkutan auf die Komplexität der Wahrnehmung von Musik aufmerksam macht.

Wolfram Knauer (März 2017)


Spirits Rejoice! Jazz and American Religion
von Jason C. Bivins
New York 2015 (Oxford University Press)
369 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-023091-3

Jazz und Spiritualität sind für viele Musiker eine zusammenhängende Einheit. Duke Ellington, John Coltrane, Albert Ayler, Rahsaan Roland Kirk, Yusef Lateef, Anthony Braxton – die Liste der Musiker, für die ihre musikalische immer auch eine spirituelle Suche war, ist lang. Der Religionswissenschaftler und Jazzgitarrist Jason Bivins beleuchtet in seinem Buch dieses Verhältnis zwischen Religion und Musik anhand zahlreicher Beispiele und legt, gerade weil er seine Studien aus der Perspektive eines Religionsforschers und mit dem Wissen eines Jazzers macht, ein wichtiges Buch vor, in dem das Thema weit fundierter angegangen wird als in vielen Biographien der bereits genannten Musiker.

In seinen “ersten Meditationen” zum Thema stellt Bivins fest, dass Jazz genauso wie Religion in ihrer jeweiligen Individualität der Wahrnehmung schwer fassbare Gebilde seien. Er weiß um die ganz unterschiedlichen Ausprägungen des Religiösen oder Spirituellen gerade in der Musik, die irgendwo zwischen Ritual und Weltforschung liegt. Er fragt, wie sich das spirituelle Umfeld, aus dem Musik heraus initiiert oder rezipiert wird, auf die Musik selbst auswirkt. Er befasst sich mit konkreten Traditionen, auf die Jazz sich immer wieder bezog. Er betrachtet Beispiele, in denen mit Jazz amerikanische Geschichte genauso wie religiöse Aspekte derselben dargestellt werden. Er befasst sich mit Jazz in religiös-musikalischer Praxis. Er hinterfragt das Klischee von Jazz als rituelle oder heilende Praxis. Er diskutiert Verweise im Jazz auf Mystizismus, Selbstlosigkeit, die klangliche Verbindung zu einem höheren Wesen. Es untersucht Kosmologien und metaphysische Theorien im Jazz. Er will damit nicht nur Aspekte der Jazzgeschichte durch ihre Verankerung in religiösen Praktiken erklären helfen, sondern zugleich die Religionsgeschichte in den USA seit den 1920er Jahren mithilfe ihres Widerhalls im Jazz beleuchten.

Bivins geht dabei weder chronologisch vor noch versucht er seine Thesen an zentralen Figuren festzumachen, wenn es auch an konkreten Beispielen nicht mangelt in seinem Buch. Natürlich spielt der Einfluss der schwarzen Kirche auf viele afro-amerikanischen Musiker eine wichtige Rolle. Er beschreibt das Zeugnis ablegende (“testifyin'”) Tenorsaxophonspiel Albert Aylers. Er findet Spiritualität in Charles Gayles Bühnen- genauso wie Straßenmusikauftritten. Er fragt nach den Gründen von Jazzmusikern zum Islam, zum Buddhismus, zum Bahá’í, zur Scientology zu konvertieren und ihre Reflektion über die jeweilige religiöse Praxis und ihre Auswirkung auf ihre Musik. Er befasst sich mit den Ausprägungen des “Radical Jewish jazz” und mit der Idee einer imaginären Folklore in den Vereinigten Staaten.

Er beschäftigt sich mit Beispielen, in denen Jazzmusiker bzw. ihre Werke religiöse Geschichte erzählen und verwebt dabei eng religiöse und politische Aussagen, etwa in den Aufnahmen von Charles Mingus, Archie Shepp, Max Roach und Abbey Lincoln. Auch der Saxophonist Fred Ho und sein Einsatz für einen Asian American Jazz kommen zur Sprache sowie Sun Ras Verweise auf weltumspannende Verbindungen, die weit über den Planeten Erde hinausreichen. Er geht auf Ellingtons “Sacred Concerts” ein und widmet eine längere Passage John Carters Komposition “Roots and Folklore”, die, wie er findet, ein würdiger Träger des Pulitzer Preises gewesen wäre, den Wynton Marsalis später für sein Oratorium “Blood On the Fields” erhielt.

Er entdeckt im Bemühen von Musikern seit den 1950er Jahren sich zu organisieren neben den politischen auch spirituelle Gründe, wie er etwa am Beispiel der AACM und der Black Artists Group zeigt. Die von Horace Tapscott gegründete Underground Musicians Association, die Saint John Coltrane African Orthodox Church und Alice Coltranes Ashram sind für ihn konkrete Beispiele, wie Jazz als spirituell-religiöses Ritual gelebt und zelebriert werden kann.

Im zweiten Teil seines Buchs beschäftigt sich Bivins mit den engen Verbindungen zwischen Ritual und Improvisation, nennt Beispiele aus dem Schaffen von Duke Ellington, Mary Lou Williams, Milford Graves, Cecil Taylor, bezieht sich aber auch auf das Feld des afro-kubanischen Jazz, auf Steve Colemans Studien zur Yoruba-Kultur und auf die Musik des Art Ensembles of Chicago.

Ein eigenes Kapitel befasst sich mit Meditation und Mystizismus und verweist dabei auf Musiker wie Steve Lacy, Arthur Blythe, William Parker und Davis S. Ware. Ornette Colemans Harmolodics und George Russells Lydian Chromatic Concept werden von Bivins nicht allein als musiktheoretische Abhandlungen verstanden, sondern als Beispiel für kosmologische und metaphysische Versuche Jazz, Improvisation, ja Musik ganz allgemein zu fassen. In dieses Kapitel gehören auch Anthony Braxtons Tri-Axium-System und Wadada Leo Smith’ Ankhrasmation.

In seinem Schlusskapitel stellt Bivins dann noch einmal klar, dass die Auseinandersetzung mit Jazz oder mit Religion notwendigerweise eine fragmentarische sein muss, dass beide Praktiken ein Versuch sind, sich der Komplexität der Welt zu nähern, unsere eigene Sicht aber immer durch das geprägt ist, was wir bereits “wissen”. Für einige sei Musik wie Religion, weiß er, das aber beinhalte weit mehr als die pure Hingabe. Wie die Religion in amerikanische (und weltweiter) Geschichte, habe auch die Musik subversive Funktionen gehabt, habe Einfluss auf die Wahrnehmung der Realität genommen und diese damit ändern können.

Bivins’ Entscheidung, keine klar strukturierte Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Jazz und verschiedenen Ausprägungen von Spiritualität zu wählen, sondern stattdessen Themen zu identifizieren und von verschiedenen Seiten zu beleuchten, führt dazu, dass man auch als Leser die Vorstellung von Religion, Spiritualität, Ritual weiter fasst. Wo man zu Beginn der Lektüre von der sehr offenen Fassung der Begriffe noch ein wenig irritiert sein mag, da ist man dem Autor am Ende genau dafür dankbar, da er es schafft, auch beim Lesen die schnellen Analogien zu vermeiden. Bivins gelingt es, diesen offenen Geist in seine Leser zu übertragen – für den europäischen Leser dann auch in Richtung all der Themen, die sich hierzulande in die verschieden Kapitel einflechten ließen.

Wolfram Knauer (März 2017)


Omniverse Sun Ra
von Hartmut Geerken & Chris Trent
Wartaweil 2015 (Waitawhile Books / Art Yard)
304 Seiten, 69 Euro
ISBN: 978-0-9933514-0-2

Von 1994 stammt das damals im LP-Schallplattenformat veröffentlichte, von Hartmut Geerken und Bernhard Hefele herausgegebene Buch “Omniverse Sun Ra”. Jetzt erschien eine Neuauflage dieses Werks, das das Universum des Meisters aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben versucht.

Geerken war in den 1960er bis 1980er Jahren Institutsleiter verschiedener Goethe-Institute. Als Perkussionist hat er daneben mit zahlreichen Musikern vor allem aus dem Bereich der improvisierten Musik zusammengearbeitet. In Jazzkreisen ist er dabei insbesondere als Kenner des Oeuvres Sun Ras bekannt und war für Konzerte des Arkestra verantwortlich, etwa 1971 in Kairo, wo er seinerzeit fürs Goethe-Institut wirkte. Sein Buch von 1994 war eine kleine Sensation für die Aufarbeitung des Ra’schen Oeuvres; die Neuauflage ist nicht weniger willkommen.

Was übernommen wurde: Amiri Baraka beginnt das coffeetable-große Buch mit einem einleitenden, sehr persönlichen Text über den Meister. Robert Campbell erzählt die irdische Biographie Herman Blounts von seiner Geburt in Birmingham, Alabama, im Jahr 1914 bis zu seinem Tod im Mai 1993 und ordnet zugleich die verschiedenen Besetzungen und musikalischen Phasen seines Schaffens zu. Sigrid Hauff untersucht die mythologische und spirituelle Welt, die Sun Ra musikalisch genauso wie in Texten oder Interviews heraufzubeschwören versuchte. Chris Cutler ordnet sein musikalisches Schaffen in den größeren Kontext von Jazz und afro-amerikanischer Musikgeschichte ein. Robert Lax versammelt mehr oder weniger unzusammenhängende Gesprächsfetzen, Bonmots und Aphorismen des Pianisten, Komponisten, Bandleaders und spirituellen Philosophen. Salah Ragab berichtet über Konzerte des Arkestra in Ägypten in den Jahren 1983 und 1984. Karlheinz Kessler hinterfragt die Verwendung von Ritualen in den Performances der Band. Gabi Geist schreibt ein Horoskop für jemanden, der immer sagte, dass sein Geburtstag und -ort höchstens irdisch seien, tatsächlich aber seiner Herkunft nicht gerecht würden. Hartmut Geerken schließlich erinnert sich an den Besuch des Arkestra in Ägypten im Dezember 1971. Zwischendrin finden sich zahlreiche Fotos, viele davon von der britischen Fotografin Val Wilmer.

Was neu ist: Ein Text Bernhard Helefes entfällt in der Neuauflage. Den ausführlichen diskographischen Teil des Buchs hat Chris Trent neu geordnet. Wieder gibt es einen umfangreichen Bildteil, der die Plattencovers zeigt.

“Omniverse Sun Ra” war schon in der ersten Ausgabe von 1994 eine labor of love. Die neue Ausgabe hat einen Hardcover-Einband, ein etwas handlicheres Format, einen Block mit Farbfotos der Band, die im früheren Buch nicht enthalten waren. Es verzichtet auf die Tapeologogy, also die Auflistung oft privater Konzertmitschnitte, sowie auf die ausführliche Bibliographie der früheren Ausgabe.

“Omniverse Sun Ra” bleibt bei alledem ein großartiges Buch, das in Wort, Bild und Tonträgerverweisen als hervorragendes Nachschlagewerk über die Welt und Weltsicht Sun Ras genauso zu nutzen ist wie als eine Dokumentation, in der auch “Nachgeborenen” die Bühnenperformance des Arkestra vor Augen geführt wird.

Wolfram Knauer (März 2017)


A City Called Heaven. Chicago and the Birth of Gospel Music
von Robert M. Marovich
Urbana/IL 2015 (University of Illinois Press)
488Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08069-2

Gospelmusik, erklärt Robert Marovich, Rundfunkmoderator, Herausgeber des Journal of Gospel Music und Musikhistoriker, sei die künstlerische Antwort auf die Great Migration gewesen, in der tausende und abertausende Afro-Amerikaner zu Beginn des 20sten Jahrhunderts aus den Südstaaten in den Norden zogen und insbesondere in Städten wie Chicago ein neues Zuhause fanden. Blues, sagte Mahalia Jackson einmal, seien Lieder der Verzweiflung gewesen, Gospel dagegen Lieder der Hoffnung. Das Genre, erklärt Makovich in seinem Buch, das sich auf die Verankerung der Musik im Chicago des 20sten Jahrhunderts fokussiert, sei wie eine soziale Organisation organisiert gewesen, die jeden, egal wie gut er oder sie singen konnte, willkommen geheißen hätte.

In seinem Buch beschreibt Marovich die Entwicklung der Gospelmusik von frühen Hymnen und Camp Meetings über die beschriebene Great Migration und die lebendige Gospelszene von Chicago bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sounds, Rhythmen und der Enthusiasmus dieser Musik Eingang in die Popmusik fanden und schließlich zur Begleitmusik der Bürgerrechtsbewegung wurden. Er greift auf Interviews und selten ausgewertete historische Quellen zurück, um die Einbettung der Musik in die Community zu beschreiben; er entdeckt die Bedeutung von Predigern, deren eindringliche Sermons ab den 1920er Jahren ja sogar auf Schallplatte veröffentlicht wurden; er berichtet von frühen Aufnahmen für das noch junge Radio genauso wie für die aufstrebende Plattenindustrie. Er geht auf weithin bekannte Gospel-Künstler ein, Thomas A. Dorsey etwa oder Mahalia Jackson, genauso aber auch auf weniger, oft nur lokal bekannte Musikerinnen und Musiker. Er weiß um die Hintergründe der Gospeltourneen, die in den 1930er Jahren große Erfolge feierten, und er beschreibt die Entwicklung des Gospelquartetts über die Jahre.

Die Zuwanderung nach Chicago aus dem Süden hielt bis in die 1940er Jahre an und vermittelte der Gospelmusik damit über lange Jahre jene wichtige Funktion des Haltgebens in der Fremde. Radio- und frühe Fernsehshows nahmen sich des Genres an, und immer mehr wurde Gospel auch zu einem kommerziellen Produkt. In seiner Übersicht über die verschiedenen Stränge des Genres kennt Marovich alle Solisten, Bands, Quartette und Chöre und beschreibt sowohl ihre Einbindung in die örtliche kirchliche Gemeinschaft wie auch ihr sehr unterschiedliches Verhältnis zur Plattenindustrie. Mitte der 1950er Jahre fiel der Gospelmusik schließlich eine neue Rolle zu, als Mahalia Jackson zu einer glühenden Vertreterin des Civil Rights Movement und einer engen Verbündeten Dr. Martin Luther Kings wurde.

Die große Zeit des Gospel war mit dem Tode Mahalia Jacksons und Roberta Martins vorbei; und hier endet auch Marovichs Buch, mit einem nur kurzen Ausblick auf die Gegenwart. “A City Called Heaven” ist ungemein detailreich, dadurch stellenweise etwas mühsam zu lesen, aber durch einen umfangreich aufgeschlüsselten Index ein gutes Nachschlagewerk zum Thema. Marovich zeigt anhand der Gospelmusik in Chicago, wie sich sich Genre- und Stadtgeschichtsschreibung miteinander verbinden lassen, weil die Nöte und Zwänge des Lebens in der Großstadt letztlich die Entwicklung einer Musik als spirituelles Gegengewicht befördert haben.

Wolfram Knauer (Januar 2017)


La Nuée. L’AACM: un jeu de société musicale
von Alexandre Pierrepont
Marseille 2015 (Éditions Parenthèses)
443 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-2-86364-669-4

2008 veröffentlichte George E. Lewis sein Buch “A Power Stronger Than Itself. The AACM and American Experimental Music”, das die musikalische und ästhetische Welt der Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago seit den 1960er Jahren aus der Ecke einer “nur” afro-amerikanischen Avantgarde holte und zeigte, wie sehr die darin Aktiven Teil eines generellen und weit über Amerika hinausreichenden künstlerischen Diskurses waren und sind.

Im Vorwort seines Buchs über die AACM schildert Alexandre Pierrepont, wie es dazu kam, dass er sich als Anthropologe entschied, eine Studie zur AACM zu schreiben, wie er mittendrin von Lewis’ Arbeit erfuhr und sofort bereit war, mit seinem eigenen Projekt zurückzustecken. Lewis aber habe ihn zum Weitermachen ermutigt: Sein Buch sei eine Innenansicht, so Lewis, ein so komplexes Thema aber brauche immer mehrere Perspektiven, und Pierreponts Arbeit könne vielleicht eine sinnvolle Außenansicht bieten. Und so ist mit “La Nuée” (“Der Schwarm”) jetzt ein zweites umfangreiches Buch auf dem Markt, das die AACM von den 1960er Jahren bis heute als einen künstlerische Ansatz beschreibt, der weit über die erklingende oder auf Tonträgern dokumentierte Musik hinausreicht, vor allem nämlich in den daran beteiligten Akteuren ein Selbstbewusstsein geschaffen hat, das sie weit über den Kreis des Jazz, der afro-amerikanischen oder sogar der amerikanischen Musik hinaus einordnen lässt.

Pierrepont präsentiert im ersten Kapitel 25 Gründe warum, und Erklärungen wie Afro-Amerikaner in den USA ausgegrenzt oder marginalisiert wurden. Er zeigt, dass Musik gerade in diesem Zusammenhang wichtige soziale Funktionen übernahm. Er schildert die Situation in Chicago und erklärt, wie sich hier ab den 1950er Jahren eine aktive experimentelle Musikszene herausbildete. Im zweiten Kapitel beschreibt er die Idee hinter der AACM, die unterschiedlichen Ensembles und Projekte, die aus dem Kreis der Musiker entstanden, die europäische Erfahrung von Mitgliedern etwa des Art Ensemble of Chicago zwischen den Jahren 1969 und 1974, die Verbindungen zwischen der Chicagoer und der New Yorker Avantgarde-Szene ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre (die viel damit zu tun hatte, dass etliche Chicagoer Musiker inzwischen an die Ostküste umgezogen waren), sowie den Einfluss der AACM und ihres Konzepts auf europäische Improvisations-Kollektive.

Im dritten Kapitel untersucht Pierrepont die AACM als Kooperative und Verein, als Geheimbund und Brüderschaft, als sozio-musikalische Bewegung und Weltschule, beschreibt ihre formale Organisation, aber auch die “respectful anarchy”, die sich aus ihren Verbindungen etwa zum Black Arts Movement und anderen auch politisch aktiven Organisationen ergaben. Dabei sei sie bis heute eine Vereinigung afro-amerikanischer Musiker geblieben. Egal ob in Tongebung, Improvisation oder Komposition sei eines der verbindenden Merkmale der aus der AACM entstandenen Musik zum einen die Betonung von Individualität, zum zweiten aber auch das Einbringen des Subjekts in kollektive Prozesse. Pierrepont beschreibt pädagogische Konzepte, die sich aus den Schulprojekten der Association ergaben, und umreißt musikalische als soziale Verbindungen und die daraus resultierenden Gruppenzugehörigkeits-Prozesse. Im vierten Kapitel beschreibt er die Offenheit der AACM-Mitglieder gegenüber Genre, kompositorischen und improvisatorischen Experimenten, der Verwendung und Aneignung im Jazz bislang eher unüblicher Instrumente, der Weiterentwicklung elektronischer Klang- (und musikalischer Reaktions)möglichkeiten, sowie der Arbeit im Solo- und großorchestralen Kontext. Das Art Ensemble of Chicago warb mit dem Slogan “Ancient to the Future”, und in dieser Haltung, dass die Formung jedweder (künstlerischen) Zukunft sich auf die eigene Interpretation der Vergangenheit beziehe, sieht Pierrepont eines der Geheimnisse hinter der Langlebigkeit der AACM als Organisation. “Ich ziehe die Mythokratie der Demokratie vor”, zitiert er Sun Ra. “Noch vor der Geschichte. Alles vor der Geschichte sind Mythen… Das ist der Ort, an dem die Schwarzen sind. Realität ist gleich Tod, weil alles, was real ist, einen Anfang und ein Ende hat. Die Mythen sprechen vom Unmöglichen, von Unsterblichkeit. Und da alles Mögliche bereits versucht wurde, müssen wir eben das Unmögliche versuchen.”

Alexandre Pierreponts Studie zur AACM bietet eine gelungene Interpretation dessen, wofür die Association for the Advancement of Creative Musicians stand und steht, eine Einordnung ästhetischer wie gesellschaftlicher Vorstellungen und Aktivitäten aus der Gruppe, und den Versuch, das alles in Verbindung zu bringen mit ästhetischen, kritischen, philosophischen und spirituellen Aspekten, die weit über die Arbeit der AACM-Mitglieder hinausgehen. Ihm ist dabei, in Gesprächen mit Musikern, in den Beschreibungen von Konzert- und Aktionssituationen, in der historischen genauso wie der anthropologischen Einordnung all dessen ein kluges Buch gelungen, das die Rolle der AACM im Jazz genauso zu verorten in der Lage ist wie in der aktuellen Musik des 20sten (und letzten Endes auch 21.) Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Jazz Tales from Jazz Legends. Oral Histories from the Fillius Jazz Archive at Hamilton College
Von Monk Rowe (& Romy Britell)
Rochester 2015 (Richard W. Couper Press)
209 Seiten, 20 US-Dollar
ISBN: 978-1-937370-17-6

Das Hamilton College ist eine relativ kleine Hochschule in Clinton, New York. Einer ihrer Absolventen, Milt Fillius Jr., zog nach seinem Diplom ans andere Ende des Landes, nach San Diego, hielt aber Kontakt zu seiner Alma Mater. Er liebte Jazz und er war ein guter Freund des Sängers Joe Williams, der 1988 die erste Ehrendoktorwürde des Hamilton College erhielt. Im Gespräch mit Williams und dem Bassisten Milt Hinton wurde Fillius bewusst, wie viel an Wissen über den Jazz tatsächlich nur in der Erinnerung der Musiker bewahrt und wie wichtig Oral History gerade in diesem Bereich ist. Er etablierte also ein umfassendes Interview-Projekt, für das mittlerweile weit über 300 Künstler/innen in Ton und Bild festgehalten wurden. Die Interviews, von denen viele der Hamilton-Archivar Monk Rowe selbst durchführte, dokumentieren die Welt des Swing genauso wie die des modernen Jazz. Die meisten dieser Erinnerungen sind auf der Website des Hamilton College nachzulesen; eine für die Jazzforschung ungemein hilfreiche Sammlung. Es handelt sich bei den Interviewten nicht unbedingt um die großen Stars der Jazzgeschichte, obwohl etwa mit Lionel Hampton, Nat Adderley, Herbie Hancock, James Moody, Oscar Peterson, Ruth Brown und anderen auch solche vertreten sind. Viele der Musikererinnerungen stammen stattdessen von Sidemen, die über ihre Zeit in den großen Bands berichten, über das Leben “on the road”, über die alltäglichen Probleme eines reisenden Musikers, über Rassismus und vieles mehr

In “Jazz Tales from Jazz Legends” zeigt Monk Rowe, was man aus diesen Interviews so alles lernen kann. Er filtert konkrete Themen heraus, für die er dann die verschiedenen Erfahrungen der Interviewten gegenüberstellt. Das Anfangskapitel widmet sich Joe Williams, dann folgt ein Abschnitt über das Schicksal der Sidemen bei Duke Ellington, Count Basie, Benny Goodman und in anderen Bigbands. Clark Terry erzählt etwa, wie der Duke ihn bei Basie abwarb, erinnert außerdem, was er bei beiden Bandleadern lernte, und Benny Powell weiß zu berichten, dass Basie ihm in den zwölf Jahren in der Band nie förmlich bestätigt habe, dass er engagiert sei. Im Kapitel “Road Travails” erzählen Eddie Bert von seiner Zeit bei Benny Goodman, Sonnie Igoe von einer Tournee mit Woody Herman, Bucky Pizzarelli vom Reisen mit dem Vaugn Monroe Orchestra, Jay McShann vom Problem mit schlechten Klavieren “on the road”, Jimmy Lewis von einem angst-machenden Flug mit der Basie-Band, Kenny Davern vom Stress, die 60 One-Nighters in 90 Tagen erzeugen können, Lanny Morgan darüber, dass die Gage oft von Hotel- und Reisekosten aufgefressen wurde, die die Musiker aus eigener Tasche zahlen mussten. “Arranging the Notes” heißt ein weiteres Kapitel, das sich mit den Ansprüchen an die Arrangeure der Bands befasst. Dick Hyman, Mike Abene, Bill Holman, Derrick Gardner, Ray Conniff, Manny Albam erzählen darin von der Arbeit eines Bandarrangeurs genauso wie von den Anforderungen an andere Arten von Musik, etwa für Hollywood; Lew Soloff erinnert sich an die Arrangements für Blood Sweat & Tears, und Dave Rivello und Maria Schneider geben einen Ausblick darauf, wie die Arbeit eines Arrangeurs im 21sten Jahrhundert funktioniert.

“Inside the Studio” ist ein Kapitel über Aufnahmeerfahrungen überschrieben, in dem sich Doc Cheatham an seine erste Platte mit Ma Raney erinnert, Richard Wyands einen typischen Aufnahmegig aus dem Jahr 1959 beschreibt, Orrin Keepnews erzählt, was Musikern für Aufnahmesitzungen üblicherweise bezahlt wurde, und Dick Hyman und Derek Smith verraten, dass sie sich natürlich auch mit Musik für Fernsehwerbung über Wasser halten mussten. Man müsse nicht alles mögen, was da im Studio produziert werde, erklärt Hyman, man müsse sich aber anstrengen, das, was von einem gefordert werde, möglichst gut zu spielen. Rassismus war für viele der interviewten Musiker ein täglich erlebtes Thema, und im Kapitel “The Color of Jazz” kommt auch dies zur Sprache. Clark Terry und Joe Williams haben genügend eigene Erlebnisse; Sonny Igoe erzählt, wie er auf einer Tournee durch den Süden, bei der er im Bus mit dem Art Tatum Trio mitreiste, als “White Trash” angepöbelt und aufgefordert wurde, er solle den Bus gefälligst verlassen. Louie Bellson und Red Rodney haben ähnliche Erinnerungen, und Frank Foster fasst zusammen, dass der Jazz zwar aus der schwarzen Erfahrung heraus geboren worden sei, dass der Melting Pot Amerika ihn aber schon seit langem zu einer amerikanischen, wenn nicht gar globalen Musik gemacht habe.

Im Kapitel “Thoughts on Improvisation” geben Marian McPartland, Clark Terry, Bill Charlap, Charles McPherson und andere Tipps, wie man sich der Improvisation nähern könne. Ken Peplowski fasst zusammen: “Lern es, dann vergiss es wieder!”, und Randy Sandke reflektiert, was während eines Solos so alles durch seinen Kopf ginge. Schließlich äußern sich Gary Smulyan, Ralph Lalama und Jan Weber über die Möglichkeit und die Chancen “falscher Töne” im Jazz. “Motivation and Inspiration” ist ein Kapitel überschrieben, das Erinnerungen an persönliche Einflüsse beinhaltet. Keter Betts etwas erzählt, dass er als Schlagzeuger begonnen habe und durch Milt Hinton (und reichlich Zufall) zum Bass gekommen sei. John Pizzarelli kam über die Beatles zur Gitarre, Kenny Davern übers Radio bei einer der Pflegefamilien, bei denen er aufwuchs, bis er sechs Jahre alt war, und auch Junior Mance war von Earl Hines begeistert, dem er spätabends heimlich im Radio lauschte. Jon Hendricks berichtet, wie er dazu kam, improvisierte Instrumentalsoli zu textieren. Und Eiji Kitamura erinnert sich, wie eine Platte von Benny Goodman in der Sammlung seines Vaters ihn zur Klarinette brachte. Schließlich gibt es im Schlusskapitel noch ein paar Haltungen zum Phänomen des Swing und zum Missverständnis des Free Jazz sowie Erinnerungen an unglücklich gelaufene Engagements und über die Arbeit mit Legenden.

“Jazz Tales from Jazz Legends” ist also ein vielfältiges Buch, das jede Menge unterschiedlicher Erfahrungen zusammenbringt. Zu Beginn der Lektüre wünscht man sich, die einzelnen Interviews im Zusammenhang zu lesen, aber das ist ja tatsächlich möglich, über die Website des Fillius Jazz Archive am Hamilton College. Und so sollte man Monk Rowes thematische Zusammenstellung als das sehen, was sie ist: ein exzellentes Beispiel, wie sich aus den gesammelten Interviews am Hamilton College Narrative zu den unterschiedlichsten Themengebieten der Jazzgeschichte exzerpieren lassen. Dann lässt sich umso interessanter verfolgen, wie die Interviews sich gegenseitig ergänzen und die unabhängig voneinander Befragten dabei fast miteinander ins Gespräch zu kommen scheinen.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Swingin’ On Central Avenue. African American Jazz in Los Angeles
von Peter Vacher
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
331 Seiten, 55 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8832-6

2015vacherJazzgeschichtsschreibung funktioniert normalerweise so: Louis Armstrong – Charlie Parker – Miles Davis – John Coltrane. Oder so: New Orleans – Chicago – Kansas City – New York. Oder so: Dixieland – Swing – Bebop – Cool Jazz – Hard Bop – Free Jazz – Fusion. Personen, Orte, Epochen… eine Geschichte der großen Männer (!), der lebendigen urbanen Szenen, der alles umwälzenden stilistischen Innovationen. Tatsächlich aber ist dieser Blick auf die Größen, die Zentren, die Stilbegriffe enorm einengend, wenn nicht gar: einfach nur falsch. Neben den großen Stilisten gibt es immer auch diejenigen, deren Kreativität entweder nicht den großen populären Erfolg hatte oder aber nicht lange genug anhielt, oder die sich einfach weniger gut “verkaufen” konnten. Neben den jazzgeschichtsmäßig bekannten Zentren gab es Städte und Landstriche, die musikalisch enorm lebendig waren, viele Musiker hervorbrachten, aber von der Geschichtsschreibung höchstens als potentielle Spielorte, nicht als Brutstätten dieser Musik dargestellt wurden. Und neben den etablierten Stilen gibt es unendlich viele Zwischenstufen, da kaum ein Musiker sich eines Stils “in Reinkultur” bediente”. Ganz davon zu schweigen, dass sich die meisten Jazzgeschichten, ja selbst die meisten Biographien an Aufnahmen entlanghangeln und dabei gern den performativen Aspekt des Jazz vergessen, die Tatsache also, dass die veröffentlichte Platte nur eine Momentaufnahme des kreativen Prozesses ist.

Peter Vacher füllt mit seinem Buch also eine Lücke. Er widmet es einer Szene, die nie so ganz im Mittelpunkt des Jazz stand (Los Angeles), und er fokussiert dabei auf Musiker, die höchstens regionale Stars blieben und kaum nationalen oder gar internationalen Erfolg einfuhren. Vacher ist Außenseiter (Brite); er kam im Laufe des Trad-Jazz-Booms der 1950er Jahre zum Jazz. In den 1980er Jahren arbeitete er mit dem Klarinettisten Joe Darensbourg an dessen Autobiographie, verbrachte währenddessen einige Zeit in Los Angeles und lernte damals Veteranen der schwarzen Musikszene der Westküstenmetropole kennen. Die Interviews, die er mit den sechzehn in diesem Buch dokumentierten Musikern führte, hatten ursprünglich nicht das Ziel einer Buchveröffentlichung, sondern dienten einzig seinem privaten Interesse an ihrer Geschichte. Wenige konnte er ein zweites Mal interviewen, bei anderen fühlte er sich im Nachhinein schlecht vorbereitet. Dennoch geben die Geschichten, die er anhand dieser 16 Musiker erzählt, einen Einblick in eine so ganz andere Musikszene als die an der Ostküste. Die Westküstenmusiker waren flexibel; sie spielten Jazz genauso wie R&B oder Dixieland. Viele von ihnen verdienten sich ihren Lebensunterhalt in den Studios Hollywoods, und viele zog es vielleicht mal für eine Tournee, selten aber für immer fort aus Kalifornien. Und wenn auch diese Szene Jazzgrößen wie Dexter Gordon, Wardell Gray, Teddy Edwards und Charles Mingus hervorbrachte, wenn auch Legenden wie Benny Carter, Red Callender und Buddy Collette von hier aus agierten, so blieb Los Angeles doch ein weitgehend ungeschriebenes Kapitel der US-amerikanischen Jazzgeschichte.

Die von Peter Vacher interviewten Musikern stammen aus der älteren Generation, und dokumentieren die Szene vor allem der 1930er bis 1950er Jahre. Noch weiter zurück geht es in den Erzählungen des Trompeters Andy Blakeney , der von seinen ersten musikalischen Erfahrungen im Chicago der 1920er Jahre berichtet, von seinem Umzug an die Westküste im Jahr 1925, von Reb Spikes, der ein Musikgeschäft in L.A. besaß und außerdem eine gut beschäftigte Band. Er erinnert an viele der Musiker in der Stadt und an Partys bei Orson Welles. Er erzählt aber auch von der Rassentrennung in der Stadt, und von den legendären Gigs, die Louis Armstrong und Duke Ellington Anfang der 1930er Jahre in Sebastian’s Cotton Club hatten, von Tagesjobs in einer Schiffswerft, von Gigs mit Kid Ory und Barney Bigard, und von verschiedenen Comebacks in den 1970er und 1980er Jahren. Beim Pianisten Gid Honoré musste Vacher erst Street Credibility beweisen (dadurch, dass er den Schlagzeuger Wallace Bishop kannte), bevor der sich zu einem Interview bereitfand. Honoré kam 1921 aus New Orleans nach Chicago und erzählt von den vielen Ensembles, mit denen er in den 1920er bis 1940er Jahren dort spielte – oft Bands alter Freunde aus New Orleans. 1948 zog er an die Westküste, wo er mit Kid Ory und Teddy Buckner spielte – seine Erinnerungen an die Szene in L.A. nehmen dabei gerade einmal ein Fünftel seines Kapitels ein. Der Trompeter George Orendorff hatte in den 1920er Jahren King Olivers Creole Jazz Band mit Louis Armstrong in Chicago gehört, kurz bevor er nach L.A. zog. Er erzählt vom Engagement in der Band von Les Hite, in der als Schlagzeuger Lionel Hampton mitwirkte, oder von einem Abend, an dem Fats Waller Bach und Beethoven spielte. 1946 war er im Billy Berg’s Club, als Dizzy Gillespie dort mit Charlie Parker spielte. Orendorff arbeitete schließlich 30 Jahre lang als Postbeamter und trat nur noch selten auf. Jeder in Los Angeles kannte den Schlagzeuger Monk Fay, den Vacher aber erst nach intensiver Suche in einem Seniorenheim fand. Der erzählt von seiner Popularität in Hawaii, von einer Gefängnisstrafe wegen Dealens mit Marihuana und von Gigs in Los Angeles in den 1940er und 1950er Jahren. Der Saxophonist Floyd Turnham erinnert sich an Britt Woodman und an Aufnahmen mit Johnny Otis; die Sängerin Betty Hall Jones weiß noch, wie Nellie Lutcher ihr einen Vertrag bei Capitol Records verschaffte. Der Trompeter Red Mack Morris war in Les Hites Band, als diese Louis Armstrong begleitete und führte später eine Weile einen eigenen Club, in dem er schwarz Alkohol ausschenkte. Der Klarinettist Caughey Roberts erzählt von seinen Lehrern und davon, wie er schließlich selbst unterrichtete, daneben aber auch von einer Reise nach China mit Buck Clayton, über seine Arbeit mit Count Basie und Fats Waller in den 1930er Jahren und über seine Dixieland-Aufnahmen in den 1950ern. Der Pianist Chester Lane war ein großer Fan von Earl Hines, arbeitete lange Zeit um St. Louis, und zog 1957 an die Westküste. Der Trompeter Monte Easter erinnert sich, wie er und Art Farmer Ende der 1940er Jahre in Jay McShanns Band saßen, berichtet über die Probleme der afro-amerikanischen Gewerkschaften und über seinen Broterwerb als Postbediensteter. Der Bassist Billy Hadnott erzählt ausführlich von seinen musikalischen Erlebnissen in Kansas City und hat seine eigene Erinnerung daran, wie Charlie Parker ins Sanatorium von Camarillo kam. Der Trompeter Norm Bowden weiß einiges über Reb Spikes und den Schlagzeuger “Boots” Douglas zu berichten, aber auch über den Club Alabam im berühmten Dunbar Hotel auf der Central Avenue. Der Posaunist John ‘Streamline’ Ewing hatte anfangs gut bezahlte Nebenjobs in den Hollywoodstudios, ging dann auf Anregung eines Musikerkollegen nach Chicago, tourte mit Bands wie denen von Horace Henderson und Earl Hines und spielte ab den 1950er Jahren mit Teddy Buckner in Disneyland. Der Saxophonist Chuck Thomas spielte vor allem in der Küstenregion (bis Las Vegas) und zuletzt ebenfalls mit Teddy Buckner. Der Schlagzeuger Jesse Sailes erinnert sich, wie all die großen Swingbands in den Theatern von Los Angeles auftraten und wie er später Platten mit Percy Mayfield, Ray Charles und B.B. King aufnahm. Der Schlagzeuger Minor Robinson spielte mit Buddy Collette und kannte Charles Mingus, als dieser vielleicht 15, 16 Jahre alt war.

Es sind persönliche Geschichten, von Sidemen-Karrieren und außermusikalischen Lebensentscheidungen. Die Namen wiederholen sich; aus den Erzählungen schält sich dabei eine Szene heraus, die zusammenhielt, auch wenn einzelne der Musiker die Stadt für kürzer oder für länger verließen. Peter Vacher beschreibt zu Beginn eines jeden der Kapitel, wie er den Musikern auf die Spur kam und erklärt einzelne der von den Interviewten mitgeteilten Anekdoten. Nebenbei erzählen diese von der Mobilität des Musikerberufs, von Karrieren, die in New Orleans oder Chicago begannen oder in Kansas City und New York Station machten, deren Protagonisten aber, nachdem sie kalifornische Luft geschnuppert hatten, von dieser nicht mehr loskamen. Es gibt schöne Geschichten über das Zusammentreffen des West-Coast-Größen mit durchreisenden Stars der großen Swingbands; es gibt Insiderberichte über alle möglichen Aspekte des Showbusiness’; es gibt immer wieder den Anruf aus der Ferne, der ihnen einen Job in einer der “name bands” anbietet, den sie entweder für kurze Zeit annehmen oder aber ablehnen. Es gibt Geschichten über Familienplanung und solche über Tagesjobs, mit denen man die Familie ernähren konnte. Central Avenue spielt eine bedeutende Rolle, jene Straße, die in Teilen zu einem kulturellen Zentrum der afro-amerikanischen Community der Stadt wurde.

Peter Vacher hat die Gespräche laufen lassen; sein ursprüngliches Interesse galt der Lebensgeschichte der Musiker, weniger dem Treiben in Los Angeles. Und so nehmen die Erinnerungen an Chicago oder Kansas City oft mehr Raum ein als die aktuelle Lebenswirklichkeit des Ortes, an dem die interviewten Musiker schließlich landeten. Doch wird eine Szene eben nicht nur durch das geprägt, was Musiker in ihr kreieren, sondern auch durch alles, was sie aus ihrer Vergangenheit mitbringen. Von daher ist Vachers Ansatz völlig richtig, die Geschichte der Central Avenue durch die Einflüsse zu erzählen, die hier zusammenkamen.

Beim Lesen wünschte man sich stellenweise entweder einen knappen biographischen Abriss vor oder nach den Kapiteln oder aber das Einstreuen von Jahreszahlen, um die Erinnerungen der Musiker besser einordnen zu können. Wer bei Los Angeles an die Westcoast-Szene denkt, sei gewarnt: alle der von Vacher interviewten Musiker sind vor allem der Swingära zuzuordnen; sie erzählen zum Teil von den jüngeren Musikern, die sie kannten, waren aber nie selbst Mitglied dieser Szene. In seinem Vorwort heb Vacher vor allem drei Interviews hervor, die besonders gut gelungen seien: jene mit Andy Blakeney, Billy Hadnott und Norman Bowden, mit Musikern also, mit denen er mehrfach sprechen und dabei mehr über ihr Leben und musikalisches Wirken lernen konnte. Tatsächlich aber sind auch jene Gespräche lesenswert, die etwas langsamer “auf den Punkt” kommen. “Swingin’ On Central Avenue” gelingt es dabei, Erhebliches zur Kulturgeschichte des afro-amerikanischen Jazz im Los Angeles der 1930er bis 1950er Jahre beizutragen. Das Buch erzählt von künstlerischen Idealen und von der Realität des alltäglichen Musikgeschäfts. Die Entscheidung, die Vacher – sicher mehr der Not gehorchend – getroffen hatte, war genau richtig: Seine Protagonisten sind eben nicht die großen Stars, weil die Szene, die er im Fokus hat, sich in keiner der stilbildenden Städte befand, weil die Community, die er in den Kapiteln seines Buchs abbildet, sich aus vielen sehr disparaten Erfahrungen zusammensetzte. Sein Buch ist auf jeden Fall eine Fundgrube für Jazzhistoriker mit vielen Anekdoten und Erinnerungen, die dieser Rezensent hier zum ersten Mal gelesen hat; zugleich ist es eine abwechslungsreiche Zeitzeugensammlung einer Szene, die bislang nur mäßig dokumentiert ist.

Wolfram Knauer (Juli 2016)


Invitation to Openness. The Jazz & Soul Photography of Les McCann, 1960-1980
herausgegeben von Pat Thomas & Alan Abrahams
Seattle 2015 (Fantagraphics Books)
200 Seiten, 39,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-60699-786-4

2015mccannMusikerfotos – es gibt eine ganze Reihe an Jazzmusikern, deren Hobby auf Tournee das Fotografieren war. Milt Hinton ist der wohl namhafteste unter ihnen, doch jetzt zeigt ein neues Buch, dass auch Les McCann nicht nur gute Ohren, sondern auch ein exzellentes Auge hat. Das nämlich gehört dazu, auf dass das Buch eines fotografierenden Musikers nicht einzig wegen der Vorteile interessant ist, die sich daraus ergeben, dass der Mann hinter der Kamera zugleich auf der Bühne sitzt und von den Objekten seiner Begierde, also anderen Musikern, nicht als Störenfried, sondern als einer der ihren anerkannt wird.

Im Vorwort von “Invitation to Openness” erzählt A. Scott Galloway kurz die biographischen Stationen Les McCanns: geboren in Lexington, Kentucky, über Tuba und Snare-Drum zum Klavier gelangt, zusammen mit Eddie Harris mit “Compared to What” über Nacht einen Welthit geschaffen, der eine Solokarriere bedingte, die bis in jüngste Zeit anhielt. Pat Thomas erzählt die Genese des Buchprojekts: Er hatte gerade eine CD-Wiederveröffentlichung des McCann-Klassikers “Invitation to Openness” organisiert und McCann zu Hause besucht, als er in einer Ecke einen Stapel zerkratzter Abzüge von Fotos entdeckte, die der Pianist in den 1960er und 1970er Jahren gemacht, aber nie veröffentlicht hatte. Im Interview mit Thomas erzählt McCann, dass es in seiner Familie immer Fotoapparate gegeben habe. Er selbst habe sich eine Nikon gekauft und begonnen, auf der Bühne und daneben Menschen abzulichten. Als er sich ein Haus in Hollywood leisten konnte, richtete er sich eine Dunkelkammer ein und begann seine Aufnahmen selbst zu entwickeln.

Das Bemerkenswerteste an den Bildern ist vielleicht die Perspektive. Gerade die Bühnenaufnahmen sind eben nicht von vorn gemacht, aus dem Bühnengraben oder der ersten Reihe, sondern oft von der Seite oder leicht von hinten. Viele Bilder zeigen die Musiker backstage, in Vorbereitung fürs Konzert, in Freizeitklamotten beim Soundcheck. Das entspannte Lächeln Count Basies zeigt die entspannte Vertrautheit. Andere eindrucksvolle Motive sind etwa: Stanley Clarke mit abwartend-konzentrierter Miene (und einer denkwürdigen Frisur); Ben Webster am Flügel; Dexter Gordon und Joe Zawinul vor einem Motel; die junge Tina Turner; das Publikum aus Gefangenen im Cook County Jail; Cannonball Addlerley, der an einer Zigarette zieht, sein Gesicht halb in Rauch gehüllt. Neben Musikern gibt es Bilder von Schauspielern (Jack Lemmon, Bill Cosby, Jerry Lewis), Politikern (Jimmy Carter, Jesse Jackson, Stokely Carmichael, Dr. Martin Luther King), Sportlern (Muhamad Ali, Pelé), sowie einige wenige Bilder, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Doch auch diese Aufnahmen, etwa das eines alten Mannes mit Fahrrad, hätten das Potential zu Plattencovers.

Les McCann gibt zu einzelnen der Bilder Kommentare ab, in denen er Kolleginnen oder Kollegen erinnert. Auch die Identifizierung der Motive basiert auf McCanns Erinnerung, wobei es Motive gibt, zu denen er nicht wirklich mehr weiß, wo oder wann sie gemacht wurden, und zumindest eine falsche Zuschreibung (nein: das ist NICHT Eberhard Weber auf den beiden Fotos mit Sarah Vaughan, sondern Bob Magnusson!). Beim Durchblättern des Bandes kommt einem immer wieder in den Sinn, dass das Leben eines Jazzmusikers eben aus mehr besteht als der Bühnenwirklichkeit. Les McCanns “Invitation to Openness” bietet damit einen lohnenswerten und allemal mit Soul gefüllten Blick hinter die Kulissen sowohl der Musiker, die er darin dokumentiert, als auch seiner eigenen Konzertarbeit.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Bitches Brew
von George Grella Jr.
New York 2015 (Bloomsbury Academic, 33 1/3)
128 Seiten, 14,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-6289-2943-0

D2015grellaie Buchreihe 33 1/3 des Bloomsbury-Verlags behandelt eigentlich Rockgeschichte. Jeder Band ist einem separaten Album gewidmet und wird historisch kontextualisiert. Miles Davis wurde jetzt die Ehre zuteil, als erster Jazzer in die Reihe aufgenommen zu werden, die immerhin schon mehr als 100 Bände umfasst. Sein Album “Bitches Brew” von 1969 schrieb eben nicht nur Jazz-, sondern genauso auch Popgeschichte.

In seinem ersten Kapitel betont George Grella, wie schwer es ist, “Bitches Brew” klar einem Genre zuzuordnen. Miles wollte weder ein klares Jazz- noch ein dezidiertes Rockalbum machen. “Bitches Brew”, meint Grella, sollte man daher am ehesten als experimentelle Musik hören, als Versuch, den überkommenen Normen von sowohl Jazz wie auch von Rock zu entkommen.

Im zweiten Kapitel erklärt Grella die seltsame Sektenhaltung, die Jazzrezeption manchmal annehmen kann und gegen die sich Miles Davis von früh an wehrte. Geht nicht gibt’s nicht, sei sein Motto gewesen, und Popsongs nahm er bereits lange vor “Time After Time” auf. Miles, fasst Grella zusammen, spielte Pop nicht um Popstar zu sein, sondern um Musik zu machen. Er erzählt von der Zeit des Trompeters mit Charlie Parker, vom Capitol-Nonet, das irgendwie die Geburtsstunde des Third Stream wurde, sowie von “Kind of Blue” und “Sketches of Spain”.

In Kapitel 3 erklärt Grella, welch völlig anderen Ansatz Miles an die Produktion eines Albums hatte, bei dem er sich ab 1968, ab dem Album “Circle in the Round”, vorbehielt, die musikalischen Versatzstücke nach Belieben zusammenzuschneiden.

In den Kapiteln 4 und 5 schließlich steht “Bitches Brew” selbst im Mittelpunkt, wenn Grella über Titel und Covergestaltung geflektiert und die einzelnen Titel beschreibt. Das liest sich stellenweise wie eine Sportreportage: wer, wann, was, Tonart, Einsatz, Intensität. Grella verweist auf die oft nicht wahrnehmbare Editiertechnik Teo Maceros und darauf, wie dies nur deshalb möglich war, weil alle Musiker immer deutlich aufeinander hörten. In “Pharoah’s Dance” benennt er eine “hippe Blueslinie bei 4:46” oder eine Coda, die “fast Beethoven’schen Charakter” habe. Im Titeltrack zeigt er auf viele der Nahtstellen, und dann verweist auf die Unterschiede der beiden Platten des Doppelalbums: “eine, um dich wegzublasen, die andere, um deinen Kopf wieder geradezurücken”.

Im letzten Kapitel widmet Grella sich den Nachwirkungen des Albums, in der Kritik genauso wie im Jazz. Mit Verweis auf Wynton Marsalis erklärt er, dass da zwei recht unterschiedliche Sichtweisen der Zukunftfähigkeit von Musik aufeinandergeprallt seien, um dann Miles’ Konzept auf dem kleinsten Nenner zusammenzufassen: “Indem er Rhythmus, Puls und Harmonien – und auf Tonband eingespielte Kompositionen – verwandte, die absichtlich nicht zu einer Auflösung fanden, organisierte Miles Zeit: und sowohl Form wie auch Zeit finden damit in der Musik zusammen”.

Eine kommentierte Diskographie beschließt das Büchlein, das sich wie ein sehr ausführlicher Plattentext mit vielen zusätzliche Informationen liest. Ja, Grella gelingt die Kontextualisierung, und doch kommt er der Musik selbst nur bedingt nahe, auch weil seine analytischen Anmerkungen etwas zu oberflächlich bleiben, weil er quasi nur parallel zur Musik beschreibt, was man eh hört, anstatt zusammenzufassen, was das alles “bedeutet”. Trotz dieser Einschränkung aber ist Grellas Büchlein ein lohnenswerter Begleiter zur nächsten abendlichen Abhörsession dieses Miles Davis-Klassikers.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Jazz Basel. Vier Jahrzehnte Stars und Szene
herausgegeben von Offbeat = Urs Ramseyer & Ruedi Ankli & Peewee Windmüller & Urs Blindenbacher
Basel 2015 (Christoph Merian Verlag)
180 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-85616-695-5

2015offbeatDie Geschichte regionaler Jazzszenen kann man auf unterschiedliche Weise erzählen. Man kann nostalgisch und sehnsuchtsvoll zurückblicken und von alten Zeiten schwärmen. Oder man kann auch Zurückliegendes vor allem aus dem Wissen um die Gegenwart verstehen.

Die Macher des offbeat-Festivals gehen in ihrem Buch über “Jazz Basel” den zweiten Weg. Das opulent bebilderte Buch widmet einzig sein Eingangskapitel (von Bruno Spoerri) den Anfängen des Jazz in Basel von den 1920er bis in die 1970er Jahre. 1974 gründete sich der Verein und die Konzertreihe jazz in basel, 1990 schließlich das Festival offbeat. Das Buch blickt auf die Musiker, die seither auf dem Festival spielten, aus skandinavische Gäste oder gesamtdeutsche Schwerpunkte, auf Jazz aus dem Mittelmeerraum und einen lateinamerikanischen Fokus, auf US-amerikanische Bands und die Schweizer Musiker, die hier auch immer zu hören waren. Es gibt Anekdoten aus dem Alltag von Festivalorganisatoren und Berichte von Backstage. Die Auswirkungen des Festivals in Stadt und Region werden thematisiert, Schulprojekte etwa oder die Präsenz im örtlichen Rundfunk. Und schließlich wird mit Stolz auf die Zusammenarbeit des offbeat Festivals mit dem Jazzcampus Basel und dem Club The Bird’s Eye berichtet.

Das alles ist kurzweilig geschrieben, vordergründig wohl vor allem für regionale Leser interessant, daneben aber genauso ein Bericht über die Verankerung einer regionalen wie internationalen Szene, aus dem auch Veranstalter anderswo etwas lernen können. Und schließlich sind da noch die 86 schwarz-weißen Abbildungen, Fotos von Bernhard Ley, Peewee Windmüller und Röné Bringold, die die Erinnerungen an die Geschichte von offbeat ungemein lebendig werden lassen.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher
von Detlef Siegfried
Göttingen 2015 (Wallstein)
455 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1673-7

2015siegfriedErnest Borneman war eine Mehrfachbegabung, so sehr, dass es genügend Menschen gaben, die dachten, es handele sich wahrscheinlich um mehrere Personen, die nur zufällig denselben Namen hätten. In den 1970er und 1980er Jahren war Borneman ein regelmäßiger Gast in deutschen Talkshows, wann immer es um das Thema Sexualität ging, hatte daneben eine Sex-Beratungskolumne in der Neuen Revue. Als Soziologe hatte er sich mit seinem Buch Das Patriarchat 1975 einen Namen gemacht. Vor seiner Beschäftigung mit Frauenbewegung und Feminismus hatte Borneman eine Karriere im Filmgeschäft gemacht, arbeitete für das National Film Board of Canada, für die UNESCO in Paris und war Programmdirektor des Freien Fernsehens, der ersten privaten Fernsehanstalt, die nach ihrem Verbot durch die Adenauer-Regierung quasi durch das ZDF abgelöst wurde. Und noch früher war Borneman nicht nur Jazzliebhaber und -experte, sondern einer der ersten Jazzforscher, ein Kenner des Jazz, der diese Musik zeitlebens als transkulturelle künstlerische Aussage verstand und 1944 mit seinem Artikelreihe “The Anthroprologist Looks at Jazz” eine der ersten übers Anekdotische hinausreichenden Kulturgeschichten des Jazz verfasste.

Borneman schied im Juni 1995 aus dem Leben. Sein Archiv ist in der Berliner Akademie der Künste untergekommen; jetzt hat der Historiker Detlef Siegfried die Biographie des vielfältigen Forschers vorgelegt. Diese hat er klar nach den verschiedenen Feldern gegliedert, in denen Borneman tätig war, überschrieben “Hören. Die Ethnologie des Jazz”, “Sehen. Das Leben auf der Leinwand” und “Berühren. Sex und Gesellschaft”.

Der 1915 in Berlin geborene Ernst Bornemann – wie er bis zu seiner Emigration 1933 hieß – hatte bereits 1930 Bertolt Brecht kennengelernt, als Mitglieder von Berliner Schulchören zu Proben des Lehrstücks Der Jasager geladen worden waren. Er und Brecht freundeten sich an, Brecht half ihm bei der Abfassung seines ersten Theaterstücks und Borneman Brecht bei einer Neuübersetzung des Dreigroschenromans ins Englische. Siegfried, der zu Beginn seines Buchs anschaulich erklärt, wie er sich durch Bornemans eigene “Autofiktionen”, wie er sie nennt arbeiten musste, durch falsche Fährten also, die Borneman aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten seiner Karriere legte, beschreibt Bornemans Exil als “nicht nur Flucht-, sondern auch Möglichkeitsraum”.

In London war Borneman regelmäßig bei Jazzkonzerten anzutreffen, verkehrte außerdem in einem Kreis linker und schwarzer Intellektueller. Bereits Mitte der 1930er Jahre hatte er einen Kriminalroman geschrieben, arbeitete bald auch an einem Drehbuch für einen möglichen eigenen Film, in dem auch der Jazz eine Rolle spielen sollte. Im Sommer 1940 wurde er als “feindlicher Ausländer” interniert, doch bereits zuvor produzierte er seine erste Rundfunksendung. Nach seiner Internierung wurde er nach Kanada deportiert, wo er nach seiner Entlassung beim National Film Board Arbeit fand.

Er knüpfte Kontakt zu Sammlern und Jazzkennern in den USA und sammelte Material für eine mögliche musikwissenschaftliche Dissertation und ein Buch zum Thema “American Negro Folk Music”, das von zwei Verlagen zur Publikation angenommen, dann aber wegen kriegsbedingten Papiermangels nicht gedruckt wurde. In seinen Jazzarbeiten, für die Borneman sich bei dem bekannten Musikethnologen Melville J. Herskovits um ein Stipendium bemühte, ging es, wie Siegfried zusammenfasst, “um zwei Themen: erstens um die Verbindungen von afroamerikanischer Volksmusik und moderner Tanzmusik der Gegenwart, und zweitens um die Verschränkungen von sozialen Verhältnissen und Populärkultur”. 1944 begann Borneman seine achtteilige Artikelserie “The Anthropologist Looks at Jazz”, die in der Zeitschrift The Record Changer erschien, der er bald auch als Mitherausgeber angehörte. Er schlug sich in der Debatte um den Bebop zwar auf die Seite des “authentischen” Jazz, konnte aber der romantischen Rückwärtsgewandtheit vieler der Traditionalisten wenig abgewinnen und versuchte daher immer wieder zwischen den Lagern zu vermitteln.

Mitte der 1940er Jahre lebte er in Paris, interviewte Louis Armstrongs Band anlässlich des ersten Jazzfestivals in Nizza im Jahr 1948, und freundete sich mit amerikanischen Expatriates und französischen Musikern wie Claude Bolling oder Boris Vian an. Er schrieb für den britischen Melody Maker und produzierte 1953 mit Betty Slow Drag einen experimentellen Kurzfilm, der seine beiden großen Interessen Jazz und Film miteinander verbinden sollte. Für den Melody Maker berichtete Borneman auch über den Jazz in Westdeutschland, konnte aber, selbst als Joachim Ernst Berendt versuchte ihn mit zeitgenössischen Musikrichtungen der 1960er Jahre anzufreunden, indem er ihn in ein Konzert John Coltranes mitnahm, mit dem modernen Jazz wenig anfangen.

Siegfried widmet Bornemans langer Auseinandersetzung mit den karibischen Wurzeln des Jazz ein eigenes Unterkapitel und berichtet davon, wie der spätere Beat Club von Radio Bremen auf Bornemans Ideen zurückzuführen gewesen sei. Er zeigt, dass Borneman in seinen Schriften einige Debatten angestoßen hatte, die in der Jazzkritik erst in den 1960er Jahren wirklich ausgetragen wurden, als er selbst an dieser Diskussion nicht mehr selbst teilnahm. Letzen Endes mag Borneman nicht mit allen seiner Thesen Recht gehabt haben, ohne Zweifel aber sei er ein Wegbereiter der internationalen Jazzforschung gewesen.

Der Jazz spielt auch in den weiteren Lebens- und Arbeitsphasen für Borneman eine wichtige Rolle, und Bornemans kritischer Geist, den Siegfried am Beispiel des Jazz ausgiebig beschrieben hat, lässt sich auch in diesen Bereichen zeigen. Detlef Siegfrieds Buch ist dabei ein faktenreicher Band, der biographische Stationen und Diskurse, an denen Borneman beteiligt war, laufend miteinander verschränkt. Ganz sicher war Borneman einer der schillerndsten Vordenker des Jazz; Siegfrieds Schilderung sowohl seines Lebens als auch der Diskussionen, an denen sich Borneman sein Leben lang beteiligte, zeigt ihn aber darüber hinaus als einen vielseitig gebildeten, einfachen Erklärungen zutiefst skeptisch gegenüberstehenden, zur Offenheit des Denkens neigenden Forscher.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Teddy Wilson. 19 Selected Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2015 (Blue Black Jazz)
44,95 Euro

Boogie Woogie, Volume 2. 17 Original Boogie Woogie and Blues Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2014 (Blue Black Jazz)
46,85 Euro
Zu beziehen über www.blueblackjazz.com

Paul Marcorelles hat bereits eine ganze Reihe an Transkriptionen von Pianisten des frühen Jazz vorgelegt, vorzugsweise von Musikern, die im Stride- oder Boogie-Woogie-Stil spielten. Seine jüngsten Veröffentlichungen widmen sich dem Swing-Stil Teddy Wilsons auf der einen und dem Repertoire einiger der Boogie-Woogie-Größen der frühen 1940er Jahre auf der anderen Seite.

2015marcorelles_wilsonFür Teddy Wilson hat Marcorelles sich Soli zwischen 1934 und 1946 ausgesucht, schnelle virtuose Titel wie “Rosetta”, den “Tiger Rag” oder “When You and I Were Young, Maggie” sowie Balladen wie “Don’t Blame Me”, “Out of Nowhere” oder “Body and Soul”. Seine Transkriptionen sind exakt, gut lesbar, reine Notationen ohne weitere Spielanweisungen oder analysierende Harmoniesymbole. Sie sind zum Nachspielen gedacht, brauchen allerdings Pianisten, die zum einen keine Probleme mit den bei Wilson so beliebten Dezimengängen der linken Hand haben und zum zweiten technisch fortgeschritten sind, um die virtuosen Arpeggien und die die Rhythmik aufbrechenden Läufe tatsächlich zum Swingen zu bringen. Wilsons linke Hand allein kann jedem Pianisten helfen, die antreibende Kraft des Swingens zu begreifen. Auch das Studium seiner Voicings lohnt, deren Alterationen den Akkorden zusätzliche Schwebungen verleihen. Wie immer bei Transkriptionen von eigentlich improvisierten Jazzsoli ist es mehr als hilfreich, sich die Soli auf Platte (oder über Streamingdienste) anzuhören.

2015marcorelles_boogieIm zweiten der beiden jüngst veröffentlichten Bände versammelt Marcorelles Transkriptionen von Hersal Thomas (“Hersal’s Blues”), Clarence ‘Pinetop’ Smith (“Pinetop’s Boogie Woogie”), Jimmy Yancey (etwa den “Five O’Clock Blues”), Pete Ammons (z.B. “Rock It Boogie”), Meade Lux Lewis (“Chicago Flyer” und “Glendale Glide”), Albert Ammons (etwa seinen “Swanee River Boogie”), Sammy Price (133rd Street Boogie”) und Pat Flowers (“Eight Mile Boogie”). Die rhythmischen Verschiebungen zwischen Bassfiguren und rechter Hand im Boogie Woogie sind dabei noch weit schwerer zu “lesen” und bedürfen noch stärker des Höreindrucks, um sie danach vom Papier in die Tasten zu übertragen und erlauben im Idealfall – und das wäre es ja eigentlich immer im Jazz – irgendwann das Loslassen und das eigene Erfinden melodischer und rhythmischer Muster, die eigene Improvisation.

Marcorelles’ neue Bände seien jedenfalls jedem interessierten Pianisten empfohlen als Übe- genauso wie Studienmaterial. Marcorelles bietet auf seiner Website übrigens alle insgesamt 202 Transkriptionen dieser wie früher erschienener Bände auch einzeln zum Download als PDF-Datei an

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Hot Music, Ragmentation, and the Bluing of American Literature
von Steven C. Tracy
Tuscaloosa 2015 (The University of Alabama Press)
537 Seiten, 64,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8173-1865-9

2015tracySteven C. Tracy ist Literaturwissenschaftler, Professor für Afro-American Studies, aber auch ein Blues-Harp-Spieler, der bereits in Vorgruppen für B.B. King, Muddy Waters und andere Stars der Szene auftrat. In seinem umfangreichen Buch stellt er die afro-amerikanische Musik der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, also Jazz und Blues, als Referenzpunkt dar, der helfen könne, die amerikanische Literaturgeschichte jener Zeit besser zu verstehen. Es geht ihm dabei nicht einzig um Romane oder Dichtung, die sich konkret und thematisch mit Musik beschäftigen, sondern auch um den Einfluss von Klanglichkeit, von Virtuosität, von improvisatorischer Haltung auf die amerikanische Literatur der Jahre bis 1930. Er greift hierfür immer wieder zurück auf konkrete Aufnahmen, um etwa Beispiele der afro-amerikanischer Stimme, des afro-amerikanischen Rhythmus, der Griot-Funktion des Bluessängers, der Bedeutung von Wiederholungen, der tiefen Doppeldeutigkeit, der politischen Untertöne herauszustreichen, die eben keine rein afro-amerikanischen Untertöne seien, sondern Befunde für den Zustand der gesamten amerikanischen Gesellschaft. Tracy verbindet die Genres, folkloristischen Blues, modernistischen Jazz, um aus dem Mix der Aufnahmen heraus, auf die er sich bezieht, neue Argumente zu entwickeln, die abseits der üblichen Beschreibung von Jazz-, Blues- oder Kulturgeschichte liegen. Er untersucht daneben auch Film- oder klassische Musikgeschichte nach Einflüssen von oder Analogien zu afro-amerikanischer Musik und findet den nachhaltigsten Widerhall außerhalb der Musik schließlich in der Literatur, bei T.S. Eliot, William Carlos Williams, Hart Crane, Gertrude Stein, Ezra Pount, und bei Abbe Niles, Langston Hughes, Countee Cullen, Zora Neale Hurston und anderen Dichtern und Schriftstellern der Harlem Renaissance.

Tracys schnelle Wechsel zwischen den Diskursen sind dabei sowohl inspirierend wie auch, da sie ein häufiges Vor- und Zurückblättern erfordern, zeitweise ermüdend. Sein intertextueller Ansatz ist auf jeden Fall ein Beispiel, wie sich aus dem Studium afro-amerikanischer Musik Aussagen über weit mehr als diese treffen lassen, wie stark tatsächlich diese Musik bereits in den ersten 30 Jahren des 20sten Jahrhunderts ihren Niederschlag im Denken, Handeln und Schreiben gefunden hat.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Friedel Keim
Das große Buch der Trompete (3)
Diskografie, Fotografien, Statistik, Nachträge
Fortsetzung des Trompeter-Lexikons, Band 3
Mainz 2015 [Eigenverlag
554 Seiten, 33,90 Euro
nur direkt zu beziehen über
Friedel Keim, e-mail: ruf.keim@t-online.de

2015keimDer Ur-Maizer Trompeter Friedel Keim hat nach den ersten beiden Auflagen von 2005 und 2009 nun den dritten Band seiner Trompeterbibel vorgelegt, ein sorgfältig recherchiertes Kompendium, das die verschiedensten Seiten des Instruments und seiner Musiker beleuchtet und dessen Spektrum von Klassik über Jazz bis zur volkstümlichen Musik reicht.

Keim kennt dabei keine Berührungsängste. Er versteht es genauso, sich über die Kunst der Barocktrompete auszulassen wie über die Probleme, die viele Jazzer mit der Ästhetik eines Wynton Marsalis haben. Und neben den großen Stars finden auch die Satzbläser wieder Erwähnung oder Musiker der aktuellen Szene.

Der lexikalische Teil von Band 3 enthält biographische Artikel von A wie “Abbott, Goivinda” bis Z wie “Zonshine, Michael”. Neben diesen teils ausführlichen Portraits gibt es Anmerkungen zur Interpretation von Werken aus Klassik, Marschmusik und anderen Genres, darunter auch analytische Anmerkungen und Notenbeispiele aus dem Jazzbereich, etwa eine Transkription des “West End Blues” in der Version von Louis Armstrong und seiner Hot Five von 1928, Dizzy Gillespies “Night in Tunisia”, oder Maynard Fergusons Version von “Body and Soul”. Korrekturen und Ergänzungen zu den beiden ersten Bänden erhalten ein eigenes Kapitel, und wieder gibt es den Block “Wissenswertes rund um die Trompete”, der etwa Informationen über das “Gansch-Horn” gibt oder über das flexibrass-Mundstück, über die Vuvuzela oder über die Trompete auf historischen Briefmarken, über den Trompetenbaum oder diverse Filme, in denen die Trompete im Mittelpunkt steht. Schließlich findet sich noch ein umfassendes Kapitel zu Horst Fischer, jenem legendären deutschen Trompeter, dessen Prolog zu einer Autobiographie Keim abdruckt, außerdem eine alphabetische Auflistung aller ihm bekannter Fischer-Aufnahmen.

Wie bereits in den vorherigen Bänden findet sich auch in Band 3 vieles, was sonst kaum irgendwo erierbar wäre. Friedel Keim weiß um Geburts- und Sterbedaten, berichtet über die Stars, aber eben genauso über die “kleinen” Vertretern des Instruments, über Satzspieler oder junge Musiker, die durchaus auch zwischen den stilistischen Welten leben und arbeiten, über Dixieland- und Swingtrompeter, die eher der Amateur- als der Profiszene angehören, aber dennoch gute Musiker sind, über Musiker von denen man noch nie gehört hat oder aber auch Musiker, die man persönlich kennt, aber nie in einem Lexikon vermutet hätte, weil ihr Arbeitsschwerpunkt doch eher regional begrenzt ist. Keim hat sich ihnen allen angenommen mit einem Vollständigkeitsanspruch, der jede Kritik an der Auswahl im Keim ersticken ließe (man entschuldige das Wortspiel). Und gerade in den Einträgen zu den kleinen Vertretern der Trompete erkennt man einmal mehr die “labor of love” dieses Buches, das zu alledem noch exzellent lesbar ist. Kein kritisches Buch vielleicht, dafür ein verlässliches Nachschlagewerk für jeden, der sich für die Trompete interessiert: eine Trompeterbibel fürwahr!

(Wolfram Knauer, Februar 2016)


 

Mein Onkel Pö
von Holger Jass
Hamburg 2015 (Offline-Verlag)
137 Seiten, 25,55 Euro
ISBN: 978-3-00-051272-8

2015jassEinen ersten Hinweis auf den Inhalt dieses Buchs gibt bereits der Preis: 25,55 Euro, entsprechend einem Cent pro Nacht im legendären Club, wie Holger Jass in der Presseankündigung zum Buch erklärt. Holger Jass hatte das Onkel Pö (Onkel Pö’s Carnegie Hall, wie es damals offiziell hieß) Anfang 1979 vom Vorbesitzer Peter Marxen übernommen, der ihn bei der Übergabe warnte: “Ich muss dich warnen. Pö-Jahre sind wie Hundejahre. Die zählen siebenfach.” Jass hielt es bis Anfang 1986 aus, führte das “Pö” im Sinne seines Kultstatus’ weiter und hat jetzt ein kurzweilig-amüsantes Buch über seine Erlebnisse mit Musikern, Medienmenschen, Kollegen und dem Publikum geschrieben, das ihm die ganzen Jahre über treu blieb, aus dessen Reihen sich aber partout kein Interessent für eine Nachfolge finden ließ.

“Jetzt macht Jass den Jazz im Onkel Pö” titelte das Hamburger Abendblatt, als Jass 1979 übernahm. Sein Buch handelt natürlich auch von Jazz. Er beschreibt, wie Michael Naura, damals Jazzredakteur des NDR viele der Jazzabende mitschnitt, die sich das Pö ansonsten kaum hätte leisten können. Den Flügel im Club hatte kein geringerer als Joachim Kühn ausgesucht und eingeweiht. Ansonsten bevölkern Jazzer wie Freddie Hubbard, Elvin Jones, Pat Metheny, Dexter Gordon die Seiten, aber auch Tom Waits, Charlie Watts, Joe Cocker, Hannes Wader, Truck Stop und natürlich Udo Lindenberg, der dem “Pö” in einem seiner Hits ein Denkmal setzte.

“Bei Onkel Pö spielt ‘ne Rentnerband”, hieß es da, “seit 20 Jahren Dixieland” – aber mit Dixieland ließ sich so ein Schuppen nicht finanzieren, bilanziert Jass trocken … obwohl man das Wort “trocken” selbst bei einer Rezension dieses Buchs nicht in den Mund nehmen sollte, denn trocken ging es ganz sicher nicht zu im Pö. Auch davon handelt das Buch, von den skurrilen Erlebnissen mit den Musikern, vom gesteigerten Alkoholkonsum, vom Pflegen einer Szene und davon, dass man, um Wirt zu sein, ein dickes Fell und viel Humor benötigt. Pineau ist das Zauberwort, jene süßliche Mischung aus Traubenmost und Cognac, die Jass als Allheilmittel vieler Probleme genauso beschreibt wie als Ursache anderer. Seine Anekdoten machen klar, dass man als Wirt und täglicher Konzertveranstalter selbst nicht ganz ohne solche “Medizin” auskommt: ein divenhafter Auftritt Freddie Hubbards etwa oder jener Abend mit Dexter Gordon, den Jass allerdings erst aus drogenbedingtem Tiefschlaf im Hotel um die Ecke wecken musste, den er für seine 57 Jahre als “bös klöterich” beschreibt, der dann aber nach einem dreifachen Whiskey ein denkwürdiges Konzert gegeben habe.

Sehr viel tiefer geht es sicher nicht in seinen Erinnerungen, die er mit viel Augenzwinkern und der humorvollen Abgeklärtheit der zeitlichen Distanz schreibt, und bei denen man schon mal über die eine oder andere schlüpfrige Anekdote hinweglesen muss. Bei all denen, die dabei waren in diesem zwischen Alternativszene und Hochkultur angesiedelten Zauberort in Eppendorf, wird er warme Erinnerungen wecken. Man meint den Fusel wieder zu schmecken und die dicke Luft wieder zu riechen, vor allem aber erinnert man sich an die musikalischen Hochgenüsse, die das Onkel Pö so oft und so viel vermittelte. Für diejenigen, die nicht dabei waren, gibt Jass ein launiges Portrait, einschließlich etlicher Fotos, ein Portrait, das stellenweise einer Filmdokumentation über verwunschene Zeiten ähnelt, bei denen man eigentlich gern dabei gewesen wäre.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Rhythm Is My Beat. Jazz Guitar Great Freddie Green and the Count Basie Sound
von Alfred Green
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
325 Seiten, 75 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4246-3

2015greenCount Basies All American Rhythm Section gilt als die swingendste Rhythmusgruppe des Jazz. Die Art, wie Pianist Basie, Gitarrist Freddie Green, Bassist Walter Page und Schlagzeuger Jo Jones rhythmisch und harmonisch ineinandergriffen, um den vorwärtstreibenden Schwung zu schaffen, der zu ihrem Markenzeichen wurde, besaß so viel an Energie, dass Rhythmusgruppen überall auf der Welt sie zum Vorbild nahmen. Den wichtigsten Anteil an dieser Energie hatte, wie Basie selbst, aber auch zahllose andere Musiker bezeugen, Freddie Green, der dem Count Basie Orchester von 1937 bis zu Basies Tod im Jahr 1983 und der Band noch ein paar Jahre danach bis zu seinem eigenen Tod 1987 angehörte. Von Nichtmusikern wurde Green schon mal dafür bemitleidet, ein ganzes Leben lang nie ein wirkliches Solo gespielt, dafür immer nur “schrumm schrumm” gemacht zu haben, vier Schläge pro Takt, durchgehend vom ersten Akkord bis zum letzten; und doch ist ihm jemand kaum in der Kunst des Rhythmus nahegekommen, den dieser Vierschlag erzeugen konnte.

Jetzt hat Alfred Green, der Sohn des Gitarristen, eine Biographie vorgelegt, die weit mehr ist als die persönliche Erinnerung eines Verwandten. Greens Buch schafft den Spagat zwischen Insiderwissen, persönlicher Betroffenheit und nüchterner Beschreibung der Lebens- und Arbeitswirklichkeit eines Musikers der Bigbandära.

Die Geschichte beginnt in Charleston, South Carolina, wo Freddie Green 1911 geboren wurde, in einer Stadt mit einer überaus lebendigen schwarzen Musikszene. Nachdem er die erste Ukulele gegen ein viersaitiges Banjo ausgetauscht hatte, sammelte er erste musikalische Erfahrungen mit Freunden aus dem Jenkins Orphanage, einem berühmten Waisenhaus in Charleston, aus dem etliche spätere Musiker hervorgingen. Mit einer dieser Bands reiste er die Küste hoch bis nach Maine, wechselte irgendwann vom Banjo zur Gitarre und spielte mit dem Saxophonisten Lonnie Simmons und dem Stride-Pianisten Willie Gant. Als der Impresario John Hammond ihn hörte, empfahl er seinem Schützling Count Basie, sich den Gitarristen für sein Orchester zu sichern. Im Januar 1937 kam es zum Vorspiel erst in kleinem Kreis, dann mit der Bigband, und am 1. Februar begann sein mehr als 45-jähriges Engagement als Motor des Count Basie Orchestra.

Alfred Green erzählt nicht nur die Lebens- und Arbeitsstationen Greens, sondern nähert sich auch seinem Stil, fragt nach Einflüssen, erklärt die Besonderheit des Green’schen Sounds. Der Autor wurde im Februar 1938 geboren, im selben Jahr beendete seine Mutter ihre Beziehung zu seinem Vater, sicher auch, weil der inzwischen eine Romanze mit Billie Holiday begonnen hatte, die für kurze Zeit mit Basie reiste.

Green beschreibt die verschiedenen Besetzungen der Basie-Band der 1930er und 1940er, die Schwierigkeiten des Musikerlebens, und die zunehmenden Probleme der Musikindustrie, die schließlich dazu führten, dass Basie sein Orchester auflöste und kurze Zeit mit einem Sextett – ohne Gitarre – auftrat. Sein Vater nahm die Entscheidung nicht hin und tauchte einfach beim nächsten Gig des Sextetts mit seiner Gitarre auf. “Was machst du denn hier?”, fragte Basie, und Green antwortete, “Was glaubst du wohl? Du hast hier einen Gig, richtig? Ich habe dir die besten Jahre meines Lebens gegeben und du glaubst, mich einfach beiseiteschieben zu können? Keine Chance!”

Während die 1930er- und 1940er-Jahre-Band insbesondere ein Solistenorchester war, wurde der Sound der 1950er Jahre-Band durch ihre Arrangeure geprägt. Alfred Green berichtet, wie Green seinen Platz in den Arrangements fand, wie er sich zu den Schlagzeugern positionierte, und wie er seine Aufgabe immer als die eines Unterstützers der anderen gesehen habe.

Neben den Einsichten in Greens Karriere sind es vor allem die technischeren Kapitel, die im Buch faszinieren. Alfred Green beschreibt etwa die Spannung der Saiten, die besondere Haltung, die Green benutzte, bei der sein Instrument fast auf seinem Schoß lag, spricht über die Tatsache, dass Green kaum je mit nicht-akkordischen Soli zu hören war, über seine wenigen Aufnahmen unter eigenem Namen, über Gigs für andere Bandleader und anderes mehr.

Einem dicken Block mit seltenen Fotos folgen schließlich noch Analysen von Michael Petterson, M.D. Allen und Trevor de Clerq sowie Zitate anderer Gitarristen über Green, schließlich eine ausführliche Diskographie aller seiner Aufnahmen.

Es gibt eine Reihe an Büchern über das Count Basie Orchester, darunter natürlich auch Basies eigene Autobiographie, verfasst mit Hilfe Albert Murrays. Keines dieser Bücher aber bietet einen so persönlichen Einblick in die Band wie das Buch Alfred Greens über seinen Vater. Der Gitarrist Freddie Green war wahrscheinlich der wichtigste Musiker des Basie Orchesters, der nicht nur für den durchgehenden Swing und eine rhythmische Verlässlichkeit stand, sondern der Band auch, was oft übersehen wird, ihren ganz spezifischen Sound verlieh, der sie aus der Menge ihrer Konkurrenten auf dem großen Bigbandmarkt hervorhob. Greens Buch gelingt in diesem Umfeld gleich dreierlei: Er schreibt eine Biographie des Gitarristen Freddie Green, er erzählt Details aus der Bandgeschichte Count Basies (und damit aus dem Alltag der Swingära), und er teilt sehr persönliche Erinnerungen an seinen Vater mit dem Leser.

Ihm gelingt dabei der schwierige Spagat, Beobachter und Sohn zur selben Zeit zu bleiben. Zu Beginn liest sich das alles wie eine interessante, aber eher distanzierte Lebensdarstellung, bis Green aus einem Gespräch zitiert, das er mit seiner Mutter geführt hatte, und bei dem einen schlagartig klar wird, dass der Autor ja Sohn des Objekts seines Berichts ist, dass er mit dem Wissen eines Familienglieds, sicher auch mit eigener Betroffenheit schreibt. Solche Perspektivwechsel gelingen ihm hervorragend, wie man in etlichen bewegenden Passagen erkennen kann. Green verschweigt macht aus seinem Vater nirgends einen Heiligen, sondern stellt ihn als Menschen dar, der nach dem Besten strebte, aber durchaus fehlbar war.

“Rhythm Is My Beat” ist ein sehr empfehlenswertes Buch, über Freddie Green, über Count Basie, über die Swingära und vieles mehr. Alfred Greens Buch gibt einen tieferen Einblick als vieles, was man sonst so liest zu diesem Thema und ist eine spannende Lektüre für Fans, genauso wie für Musiker oder Forscher über diese Musik.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Keith Jarrett. Eine Biographie
von Wolfgang Sandner
Berlin 2015 (rowohlt)
362 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-780-1

2015sandner“Mit freundlichen Künstlern ist die Welt nicht gesegnet”, beginnt Wolfgang Sandner sein Buch, das er mit Wohlwollen des Pianisten angegangen war, bis er mit diesem nach einem Konzert aneinandergerieten sei, weil es Jarrett nicht gefallen habe, dass Sandner sein “Köln Concert” als einen seiner größten Erfolge bezeichnete. “Das Ende eines Dialogs eröffnet jedoch auch eine Chance”, befindet Sandner. In der Folge nämlich habe er sich noch stärker auf die Musik konzentrieren müssen. Das Ergebnis ist ein Buch, das der Musik Jarretts als eines Künstlers gerecht wird, der seine Kraft aus der Improvisation des Jazz zieht, dessen Wirkung aber weit über dieses Genre hinausreicht.

Keith Jarrett wurde am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren, und Sandner sieht diesen Tag, Kriegsende, als symbolträchtig für die Jahrhundertkarriere des Pianisten. Ohne Europa, das durch den Krieg noch mehr für die Qualitäten des Jazz sensibilisiert war, erklärt Sandner, wäre Jarretts Karriere einerseits so nicht möglich gewesen, auf der anderen Seite habe Jarrett immer tief in den Traditionen der amerikanischen Avantgardeästhetik gestanden, in der Tradition auch eigenbrötlerischer Künstler wie Lou Harrison und Alan Hovhaness, deren Werke er Anfang der 1980er Jahre in Europa uraufführte.

Sandner zeichnet die Kindheit Jarretts in Allentown nach, die Erkenntnis seines Talents, das Trauma der Trennung seiner Eltern, dem er mit dem Rückzug in die Musik begegnete, und die musikalischen Bemühungen seiner Brüder. Jarrett spielte mit lokalen Bands, besuchte Workshops, gewann ein Stipendium fürs Berklee College, mit dessen die Musik eher regulierenden als zur Kreativität ermutigendem Lehrplan er allerdings wenig anzufangen wusste. Da war die Schule von Art Blakeys Jazz Messengers schon eine andere, in denen Jarrett ab Herbst 1965 für vier Monate mitwirkte. Von Blakey wechselte er in die Band des Saxophonisten Charles Lloyd, dem er durch dessen Schlagzeuger Jack DeJohnette empfohlen worden war. Lloyds Quartett war “die erste Supergroup des Rockjazz”, und Sandner hört sich sowohl dessen Studio- wie auch die Liveaufnahmen an. 1967 gründete Jarrett sein erstes Trio mit Charlie Haden und Paul Motian, und als ihm Miles Davis 1969 zum wiederholten Mal anbot, in seiner Band mitzuwirken, sagte Jarrett zu, obwohl Miles mit Herbie Hancock und Chick Corea bereits zwei Pianisten in der Band hatte. Bei Miles musste er elektronische Keyboards und Orgel spielen, Instrumente, die ihm eigentlich zuwider waren. Zugleich setzte er sich noch mehr mit Klang auseinander, mit dem Sound der Instrumente, die er zu bedienen hatte genauso wie den Soundmöglichkeiten der Band, die für Miles im Mittelpunkt seiner “musikalischen Großräume, Klangkunstwerke” standen.

Ein eigenes Kapitel widmet Sandner der Partnerschaft zwischen Keith Jarrett und Manfred Eicher, der weit mehr war als ein Labelgründer und Plattenproduzent. Jarrett stand Anfang der 1970er Jahre eigentlich bei ABC unter Vertrag, ihm wurde aber erlaubt, Produktionen mit “ernster Musik” und ähnliche Aufnahmen ohne Gegenleistung anderswo einzuspielen, das könne sein Ansehen schließlich nur steigern. Dass Jarretts Aufnahmen für Eichers Edition of Contemporary Music zum Zugpferd für das Label ECM werden sollten, hatte niemand vorhergesehen. Im November 1971 also ging Jarrett erstmals in Oslo ins Studio und produzierte mit “Facing You” die erste von bis heute 28 Solo-Produktionen für Eicher, ein Album, das sowohl Jarretts Ruf als Solopianist begründete als auch Eichers Ruf als einer der offenohrigsten Produzenten des Jazz. Sandner erklärt, was die Partnerschaft und das Vertrauen der beiden zueinander begründe, die Tatsache etwa, dass Eicher selbst Musiker sei oder dass sein Interesse neben dem Jazz auch anderen Formen von Musik (oder Literatur oder Kunst oder Film) gelte. Eicher, schlussfolgert Sandner auch nach dem Gespräch mit anderen ECM-Künstlern, sei bei vielen seiner Produktionen der “dritte Mann”, auch wenn man ihn weder sehe noch höre.

Es gäbe etliche Musiker und Musikliebhaber, warnt Sandner schon im Vorwort seines Buchs, die meinen, über Musik solle man nicht so viel schreiben, da diese das Wesentliche doch eh in sich berge. Und dann tut er genau das, kongenial, so nämlich, dass seine Zeilen die Musik zwar heraufbeschwört, aber nirgends zu ersetzen trachtet. Über Jarretts Klavierspiel etwa schreibt er, man könne vielleicht die verschiedenen Techniken benennen, die seinen Personalstil ausmachten, komme dabei aber vor allem an einem Charakteristikum nicht vorbei, das Sandner die “Konzentration aufs Wesentliche” nennt und das er in Jarretts musikalischem Ansatz genauso findet wie in seiner Wahl der Mitmusiker oder in der klaren Gliederung seines Repertoires in Standards, eigene Kompositionen und freie Solo-Improvisationen.

An anderer Stelle verfolgt er Jarretts Vervollkommnung der authentisch-eigenen Stimme. Er betrachtet die Aufnahmen seines amerikanischen Quartetts mit Dewey Redman und seines europäischen Quartetts mit Jan Garbarek, beschreibt, was an diesen Aufnahmen so besonders sei, obwohl sie doch weder einen unerhörten Klang hervorbrächten noch eine neue Form oder eine außergewöhnliche ästhetische Haltung. Er nennt Jarrett einen “Solist ohne Grenzen”, verfolgt die unterschiedlichen pianistischen Ansätze, die der Künstler über die Jahre entwickelte. Und Sandner ist wie wenige deutsche Autoren ein Meister darin, Musik mit Worten näher zu kommen. Ein Beispiel: Über Jarretts Album “Staircase” schreibt er: “Alles, was Jarrett in den elf Stücken erklingen lässt, besitzt Körperlichkeit. Es gibt keine flachen Töne, nur runde, eckige, kubusartige, voller Tiefenschärfe. Wenn ein Ton verklingt, wird er nicht nur leiser, er verschwindet wie in einem Tunnel, verliert nicht nur sein Volumen, sondern wird augenscheinlich kleiner.” Er benennt die Beziehungen zwischen Jarretts Aufnahmen an der Barockorgel in Ottobeuren und seiner Suche nach Klangfarben einerseits und ähnlichen Suchen europäischer oder amerikanischer Komponisten andererseits, nicht aber, um daraus Einflüsse abzuleiten, sondern um zu zeigen, dass Jarrett sich da inmitten eines breiten Diskurses befindet, in dem seine eine gewichtige Stimme ist.

Zwischen ausführliche Beschreibungen der diversen Plattenprojekte streut Sandner aber auch Informationen über die Selbstzweifel des Künstlers, über persönliche und geschäftliche Krisen, über Rückenschmerzen und das chronische Erschöpfungssyndrom, dass Jarrett für einige Jahre aus dem Verkehr zog. Er beschreibt, wie all diese außermusikalischen Ereignisse ihren Widerhall in Jarretts Musik fanden. Nach seiner Genesung, fasst Sandner zusammen, sei Jarrett ” praktisch nicht mehr in ein Aufnahmestudio zurückgekehrt. Mit Ausnahme einer Duo-Aufnahme mit Charlie Haden und einer Einspielung von Bach-Sonaten für Violine und Klavier sind alle Aufnahmen danach bei Live-Auftritten entstanden.”

Natürlich nimmt das “Köln Concert” ein wichtiges Kapitel seines Buchs ein. Sandner beschreibt die bekannt widrigen Umstände des Konzerts, Rückenschmerzen, ein schlecht intoniertes Instrument, ein Stutzflügel, den die Bühnenarbeiter statt des eigentlich geplanten Bösendorfer Imperial auf die Bühne gestellt hatten, und er erzählt, wie Jarrett aus all diesen Widrigkeiten über sich herauswuchs, die Beschränkungen des Instruments zu Stärken seiner Aufnahme machte. Das “Köln Concert” wurde zu einem Riesenerfolg bei Kritik und Publikum gleichermaßen, und selbst der Perfektionist Jarrett musste später zugeben, dass die Ideen, “diese Klangfarben und diese Stimmführungen”, die auf der Aufnahme zu hören sind, schon einzigartig waren.

In weiteren Kapiteln seziert Sandner die Herangehensweise Jarretts an die Standards des American Popular Song, die er zusammen mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette ab 1983 einspielte und bald auch bei Konzerten spielte, seine Einspielungen klassischer Musik von Bach bis Lou Harrison, sowie Jarretts eigene Kompositionstätigkeit, die sich keinesfalls in der Komposition von Themen für eigene Improvisationen erschöpfte.

Sandners letztes Kapitel heiß “Einspruch” und ist unter all den lesenswerten Kapiteln dieses Buchs vielleicht das lesenswerteste. Sandner beginnt mit einer Eloge auf den kreativen Schöpfer, auf das Genie Keith Jarrett, um dann die Reaktion hervorzuheben, mit der Jarrett so oft, auf so vieles, reagiert, seine “Manie, etwas abzulehnen”. Der wichtigste Einspruch Jarretts gelte dabei musikalischen Trends, kurzlebigen Moden oder selbsternannten Kanonikern. Sandner findet diese Veto-Haltung auch im Klavierspiel des Meisters selbst, das “allen Regeln der traditionellen Klavierkunst widerspricht und wirkt, als sei das Instrument weniger ein Partner, vielmehr ein Gegner, den man bezwingen müsse, bisweilen mit List und Tücke, bisweilen mit tänzerischem Ablenkungsmanöver, manchmal mit brachialer Gewalt, nicht selten aber, indem man sich den Flügel einverleibt, mit ihm verschmilzt.” Es ist dieses Eins-Sein mit seiner Musik, das Jarrett auch außerhalb der Jazzanhängerschaft Wirkung verschafft hat. Henry Miller schrieb ihm einen Brief, nachdem er das “Köln Concert” gehört hatte, Sergiu Celibidache und Marcel Reich-Ranicki zeigten sich begeistert. Sandner argumentiert aber auch, dass diese Verweigerungshaltung neben seinen künstlerischen Entscheidungen auch Jarretts problematisches Bühnenverhalten beeinflusst habe, seine gelegentlichen Publikumsbeschimpfungen, die, wie Sandner schreibt, fast schon zum Ritual geworden seien, das Voyeure unter den Hörern erwarten oder gar herausfordern.

Wolfgang Sandners Buch gelingt es, der Musik Keith Jarretts nahe zu kommen, gerade, weil er sich, wie er im Vorwort erklärt, mit dem Künstler entzweit hat. Sandner besitzt den Überblick nicht nur über Jarretts Schaffen und nicht nur über die Jazzgeschichte, aus der heraus Jarretts Kunst kommt, sondern über die gesamte Kulturgeschichte, in die hinein Jarretts Musik wirkt. Es gelingt ihm, die verschiedenen Positionen zu definieren, die sich in der Musik und ihrer Rezeption widerspiegeln: die musikalische, ästhetische und wirtschaftliche Position Jarretts zu verschiedenen Zeiten, die Position der Labels, der Agenten, der Produzenten, die Position Manfred Eichers, die Position der Kritiker und des Publikums, und nicht zuletzt auch seine eigene Position, die Position Wolfgang Sandners. Dass er aus eigener Begeisterung heraus schreibt, lässt er nicht unerwähnt. Er bezeichnet Jarrett wiederholt als “Genie”, nennt ihn den größten Musiker, der je aus Allentown kam. Doch dient diese eigene Positionsbestimmung letztlich auch dem Vertrauen, das wir als Leser in Sandners Wertung der Musik haben können. Er lässt uns klar wissen, wo er als Autor steht, und so können wir viel leichter unsere eigene Position beziehen, überdenken, revidieren. Wolfgang Sandner ordnet Jarretts Aufnahmen dabei nicht nur in Jazz-, Musik- und Kulturgeschichte ein, er verleitet zum neuen, zum tieferen Hören, und er ermöglicht ein Verständnis – im besten Sinne des Wortes – über die Grenzen des emotionalen Hörens hinaus.

Wolfram Knauer (Dezember 2015)

Nachtrag Februar 2021:

Keith Jarrett. A Biography
by Wolfgang Sandner, translated by Chris Jarrett
Sheffield 2020 (Equinox)
215 Seiten. 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-800500129

Sandners Jarrett-Biographie ist inzwischen auf Englisch erschienen, übersetzt von keinem Geringerem als Jarretts Bruder, dem in Deutschland lebenden Pianisten Chris Jarrett. Für die englische Ausgabe hat Sandner seinen früheren Text erweitert und aktualisiert, hat neuere Aufnahmen und neue Veröffentlichungen aus früheren Jahren berücksichtigt und neue Erkenntnisse über Jarretts familiären Background geteilt. Mit dem Abschied Jarretts von der Bühne im vergangenen Oktober scheint auch seine Karriere abgeschlossen. Sandners Buch vertieft das Wissen und ermuntert zum Nachhören – jetzt vielleicht etwas wehmütiger als bei der ersten (deutschen) Lektüre vor sechs Jahren.


 

Als der Jazz nach Kassel kam. Streifzüge durch die Szene der ersten Nachkriegsjahre
von Ulrich Riedler
Berlin 2015 (B&S Siebenhaar Verlag)
104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN: 978-3-943132-39-7

2015riedlerDie großen Jazzmetropolen – Berlin, Hamburg, Köln, München – sind weitgehend dokumentiert. Auch für kleinere Städte haben sich Historiker und Hobbyhistoriker der Aufbereitung der Jazzgeschichte angenommen. Das kann schon mal seltsam wirken, wenn Provinzzentren wie der Mittelpunkt der Welt erscheinen, wo sie doch meist nur Durchgangsstationen für aufstrebende spätere oder etablierte, sich auf Tournee befindende Jazzstars waren. Tatsächlich aber sind regionalen Szenen bis heute wichtige Brutstätten künstlerischer Ideen, auch wenn viele der Musiker, die hier ihre Anfänge nehmen, irgendwann in die großen Zentren abwandern, in Städte mit bedeutenden Hochschulen etwa oder in solche mit einer lebendigen, großen Jazzszene.

Das nordhessische Kassel, in der Mitte der Republik, und doch kulturell vor allem durch die Brüder Grimm und die documenta bekannt, besitzt bis heute eine lebendige Szene, verschiedene Spielorte für Jazz und improvisierte Musik, und ein langjähriges Festival. Die alle fünf Jahre stattfindende documenta bringt es mit sich, dass die Bürger der Stadt sich sehr bewusst mit ästhetischen Diskursen der Avantgarde auseinandersetzen.

Der Journalist und Jazzfan Ulrich Riedler hat sich in seinem Buch auf die Suche nach den Anfängen des Jazz in der nordhessischen Stadt gemacht und diese im Frühjahr 1940 entdeckt, als sich junge Jazzfreunde im Gasthaus “Ledderhose” trafen, wo sie gemeinsam die neuesten Platten hörten. Irgendwann rückte die Gestapo ihnen auf den Leib, nahm die Jungs mitsamt ihrer Schellackschätze mit und unterzog sie einer gründlichen Befragung. Die Jazzfans wurden bald wieder entlassen, und einer von ihnen kann Riedler nicht nur von damals berichten, sondern ihm sogar noch die kurzfristig konfiszierten Platten zeigen. Die “Ledderhose” blieb auch nach dem Krieg ein Jazztreffpunkt, in dem die Mitglieder zu Platten tanzten, ab und zu aber auch selbst zum Instrument griffen.

Die 1950er Jahre dokumentiert ein Gespräch mit dem späteren Spiegel-Redakteur Alfred Nemeczek, von dem Riedler außerdem einen Bericht über das Jazzkontor Kassel aus dem Jahr 1959 andruckt, den Versuch, in Nordhessen einen Liveclub nach Vorbild des Frankfurter Jazzkellers zu etablieren. In den 1950er Jahren begannen die ersten amerikanischen Stars Deutschland zu erobern. Kassel erlebte Konzerte von Duke Ellington, Louis Armstrong, Lionel Hampton oder der Jam-Session-Truppe Jazz at the Philharmonic mit Ella Fitzgerald und vielen anderen.

Einer der Stammgäste der Kasseler Jazzszene war damals der Trompeter Manfred Schoof, der zwei Jahre an der Kasseler Musikakademie studierte, bevor er nach Köln weiterzog. Riedler spricht mit ihm über die Jazzszene jener Zeit, über Musiker und Musikerlegenden der Region, unter anderem den Tenorsaxophonisten Werner Apel, den, wie man sich erzählt, sogar Duke Ellington verpflichten wollte, weil er ihn bei einer Jam Session so beeindruckt habe, und natürlich auch über die GI-Clubs, in denen Schoof die amerikanische Kultur erst richtig kennenlernte.

Die Amerikaner waren im Stadtteil Rothwesten in Fuldatal stationiert und engagierten über die Special Service Agencies jede Menge deutscher Musiker für die Unterhaltung in den verschiedenen Clubs. Riedler blickt auf Orte, aufs Repertoire, auf das Jazzprogramm des örtlichen Amerika-Hauses, beschreibt aber auch andere Veranstaltungsorte der Stadt, deren Programm großteils von Vereinen organisiert, zum Teil auch von der Stadt unterstützt wurde. Er erzählt, wie Arnold Bode, der Vater der documenta, von der Band des Vibraphonisten und Gitarristen Fritz Bönsel so angetan war, dass er im Landesmuseum ein Konzert veranstaltete, das den Jazz endgültig in der Stadt etablierte.

Die Jazzszene jener Jahre beinhaltete traditionelle genauso wie moderne Stile, und so beschreibt auf der einen Seite die Dixieland-Szene der 1950er und 1960er Jahre mit ihren Riverboatshuffles und dem musikalischen Versuch, dem Original so nah wie möglich zu kommen, auf der anderen Seite aber auch, wie andere Musiker, Schoof und Gunter Hampel unter ihnen, dem modernen Jazz in Kassel zu Gehör verhalfen. Und schließlich spricht er mit dem Pianisten Joe Pentzlin, dessen Trio quasi die Hausband des Jazzclubs in der Orangerie gewesen war.

In einem abschließenden Kapitel schlägt Riedler einen knappen Bogen in die Regenwart, zu Musikern wie Matthias Schubert und Ernst Bier, die entweder aus Kassel stammen oder aber hier über längere Zeit Station machten und die Szene der Stadt mitprägten.

Riedlers Buch ist nicht als historische Dokumentation gedacht, denn vielmehr als eine flüssig zu lesende Erinnerung an die 1940er bis 1960er Jahre, ein liebevoll bebildeter Band über die Jazzszene in der deutschen Provinz, die – ähnlich wie die Szenen vieler anderer Städte mittlerer Größe – überaus lebendig war. Die Lektüre macht dem Leser deutlich, dass der Diskurs über den Jazz als aktuelle Kunstform nicht nur in den Metropolen stattfindet.

Wolfram Knauer (November 2015)


 

Music Wars 1937-1945. Propaganda, Götterfunken, Swing. Musik im Zweiten Weltkrieg
von Patrick Bade
Hamburg 2015 (Laika Verlag)
511 Seiten, 34 Euro
ISBN: 978-3-944233-41-3

Sounds of War. Music in the United States during World War II
von Annegret Fauser
New York 2013 (Oxford University Press)
366 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-994803-1

Victory Through Harmony. The BBC and Popular Music in World War II
von Christina L. Baade
New York 2012 (Oxford University Press)
275 Seiten, 31,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-537201-4

2013fauser Musik war immer schon kriegswichtig. Ob zum Anfeuern der Truppen im Marschrhythmus, ob zum Mobilmachen der Bevölkerung durch patriotische Hymnen, ob als Beruhigung und Selbstbestätigung, ob als Instrument der psychologischen Kriegsführung oder sogar als Foltermethode: Krieg ist ohne Musik – so seltsam diese Idee auch scheinen mag – kaum vorstellbar.

Drei kürzlich erschienene Bücher untersuchen die Rolle der Musik im Zweiten Weltkrieg. Der britische Historiker Patrick Bade berichtet über die verschiedenen musikalischen Strategien und Funktionen direkt vor Ort, in den Gebieten, in denen der Krieg tobte oder die am Krieg beteiligt waren, Frankreich, Deutschland, den USA, Russland, Großbritannien, dem nördlichen Afrika und dem Mittleren Osten. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Annegret Fauser beschränkt sich in ihrem Buch auf die klassische Musikszene in den Vereinigten Staaten. Die britische Musikhistorikerin Christina Baade schließlich untersucht, wie der BBC in den Kriegsjahren auf Jazz, Tanz- und Popmusik gesetzt habe, um die Moral der gesamten britischen Öffentlichkeit in den Kriegstagen zu stärken. Baades Studie gibt dabei einen Einblick in Programmentscheidungen eines öffentlichen Rundfunksenders und thematisiert, inwieweit die Öffnung des Senders für Jazz und amerikanische Popmusik auf Widerstände gestoßen sei. Fausers Fokus liegt auf der “concert music”, also der klassischen Musik, und im Umschlagtext heißt es, dass Dinah Shore, Duke Ellington und die Andrews Sisters vielleicht die Zivilisten zuhause und die Soldaten in Übersee unterhalten hätten, es tatsächlich aber vor allem die klassische Musik gewesen sei, die die Menschen für die Kriegsanstrengungen mobilisiert habe. Patrick Bade schließlich wagt den Rundumschlag, lässt also auch die sogenannte leichte Muse, Swing und Jazz, nicht aus. Während er dabei neben dem klassischen Repertoire und dem Swing auch einen Blick auf die Funktion von Radio, Film und Plattenindustrie wirft, außerdem in einem langen Kapitel Kriegslieder aus unterschiedlichen Ländern ins Visier nimmt, finden man in Fausers Buch Informationen über Musiker in der Armee, Auftragskompositionen für den Kriegseinsatz, ein Kapitel über Musik als Beruhigung der Bevölkerung und als Therapie für traumatisierte Soldaten sowie eines über die vielen Exilkomponisten, die durch den Krieg in den USA strandeten. Christina Baade schließlich diskutiert in ihrem Buch auch das Thema von Tanzmusik und Maskulinität, die Sorge um den Erfolg der amerikanische Popmusik und die Verdrängung eigener Traditionen, und die Bedeutung von Rundfunkprogrammen, in denen afro-amerikanische Musik in den Mittelpunkt gestellt wurden, für schwarze britische Musiker. Bei allen drei Autor/innen finden sich Diskussionen der Zuschreibung moralischer Qualitäten zur Musik, der Grundlage letzten Endes dessen, was in den USA später zur “cultural diplomacy”, zur Kulturdiplomatie werden sollte.

2012baadeFür Christina Baades Argumentationslinie spielt der Jazz eine zentrale Rolle; ihr Buch erlaubt dabei Rückschlüsse auf Entwicklungen des Nachkriegsjazz in Großbritannien, einschließlich der Hinwendung vieler junger Musiker insbesondere zu traditionellen Jazzstilen. Patrick Bade hat neben einem Kapitel über Jazz und Swing im Dritten Reich, in dem er auch auf das Phänomen der Propagandaband Charlie and His Orchestra eingeht, ein eigenes Kapitel über Musik im Feldlager, im Gefangenenlager und im Konzentrationslager. Fauser wiederum diskutiert in ihrem Buch ausführlich musikalischen Ausdruck von Nationalismus, etwa in Werken von Aaron Copland und Roy Harris.

Patrick Bade gibt am Schluss seines Buchs einen Ausblick auf die Nachwirkungen, erzählt etwa, dass Wagner im Bayreuther Festspielhaus kurzzeitig Cole Porter weichen musste, berichtet, wie Sänger/innen und Musiker/innen nach dem Krieg mit ihrer Karriere im Dritten Reich konfrontiert wurden oder diese sehr bewusst aus ihrer Biographie ausblendeten. Er endet mit dem kurzen Hinweis auf Werke, die sich bis ins 21ste Jahrhundert hinein mit den Gräueltaten des Kriegs auseinandersetzen. Christina Baades Buch endet mit der Ankunft der amerikanischen Truppen im August 1944 und der Entscheidungen des BBC, die auch die amerikanischen GIs mit ihrem Programm unterhalten wollte. In der Folge kam es zu einer Diskussion der Vermischung musikalischer Werte in der populären und Tanzmusik, über “Britishness” oder “Pseudo-American”. Ihr Buch verweist zwischen den Zeilen immer wieder, etwa Kapiteln über das vom Rundfunk mitgeprägte Bild der Frau oder im Versuch, die Ausstrahlung von Musik männlicher übersentimentaler Schlagersänger im Rundfunk zu unterbinden, auf Diskurse, die auch nach dem Krieg weitergingen und auf die letzten Endes BBC-Programmentscheidungen großen Einfluss hatten. Bei Fauser geht der Blick in die Nachkriegszeit über John Cage, dessen experimentelle Ideen sie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren verortet. Sie verweist darauf, dass Cage und seine Zeitgenossen ihre Lehren aus den Erfahrungen des Kriegs gezogen hätten, sich nach Ende des Kriegs von ihren nationalistischen Kompositionen distanziert oder aber diese in neue Werke integriert hätten.

2015badeZusammengefasst bietet Patrick Bade im breiteren Ansatz seines Buchs eine Art Rundumschlag über das Thema. Christina Baade wirft Licht auf die Verflechtungen zwischen Musik, Musikindustrie, öffentlicher Meinung und Publikumsgeschmack. Fausers Studie schließlich hätte von einer Erweiterung ihres Schwerpunkts vielleicht profitiert. Fauser begründet ihren eingeschränkten Blick im Vorwort damit, dass die Jazz- und Popmusikszene jener Jahre ja schon ausgiebig genug untersucht worden sei, während Forschungen zur klassischen Musik im Krieg weitgehend fehlten, vergibt sich damit aber die Chance einer differenzierten Darstellung, was vielleicht – nehmen wir einmal an, dass der Einband-Text vom Verlag und nicht von ihr stammte –, eine wertende Aussage wie die, dass Jazz und Popmusik die Bürger zuhause und die GIs in Übersee vielleicht unterhalten hätten, es aber die klassische Musik gewesen sei, die den wirklichen Unterschied gemacht habe, verhindert hätte.

Von solchen Anmerkungen abgesehen, haben alle drei Bücher ihre Meriten. Sie helfen bei der Kontextualisierung von Musikgeschichte in der späten ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, die letzten Endes Auswirkungen auch darauf hatte, wie Musik heute klingt und wie wir sie wahrnehmen.

Wolfram Knauer (Oktober 2015)


 

 

Giving Birth to Sound. Women in Creative Music
herausgegeben von Renate Da Rin & William Parker
Köln 2015 (Buddy’s Knife)
294 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-00-049279-2

2015darinVielleicht müsste am Anfang dieser Rezension erklärt werden, welchen Weg die Bücher durchlaufen, die im Jazzinstitut Darmstadt anlangen. Bevor wir uns die Bücher aussuchen, die wir rezensieren wollen, erfassen wir sie in unserem Jazz Index, einer computergestützten bibliographischen Datenbank, die von Forschern und Journalisten (und Fans) aus aller Welt genutzt wird. Das heißt, wir gehen das Buch von vorn bis hinten durch, ordnen jedes einzelne Kapitel einem Stichwort oder einem Musikernamen zu, tragen biographische Notizen wie etwa Geburtstag oder Geburtsort, nach, sofern sie in unserer Datenbank noch fehlen. Erst dann machen wir uns ans Lesen.

Aber schon bei diesem ersten Schritt des Erfassens fiel einiges auf beim Buch “Giving Birth to Sound”. Etliche der darin befragten Musikerinnen waren nämlich noch gar nicht in unserer Datenbank erfasst oder aber nur mit relativ kurzen bibliographischen Listen. Über sie wurde in der Jazzpresse bislang also nur wenig berichtet. Nun ja, mag man meinen, das hat sicher auch damit zu tun, dass Frauen ja so richtig erst in den letzten Jahren ins Rampenlicht des Jazz getreten sind. Weit gefehlt aber, und das war die zweite Überraschung: Viele Musikerinnen, die im Buch zu Worte kommen, gehören nämlich gar nicht der jungen (sagen wir: unter 40-jährigen) Generation an, sondern sind weit länger auf der Szene unterwegs. Die Gründe für ihre Unsichtbarkeit in der Jazzpresse mögen also doch woanders liegen.

Eine dritte Erkenntnis, die sich beim Durchblättern schnell ergibt, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Jede der Musikerinnen hat einen völlig anderen Zugang zum Thema. Mal analytisch, mal diskursiv, mal ausweichend, mal ablehnend, mal nüchtern gefasst, mal poetisch überhöht, mal kämpferisch, mal verteidigend. Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich schon in den Überschriften der Kapitel, die Renata Da Rin und William Parker aus der Frage “Was bedeutet Musik für Dich” abgeleitet hat. “Jeder Sound und jede Stille”, antwortet Renée Baker; “die Gründe für mein Leben”, sagt Amy Fraser; “ein abstrakter Ort, um das Leben zu teilen und zu fühlen”, meint Marilyn Mazur; “ein Lager der Erinnerungen”, findet Shelley Hirsch, “Leben, Magie, Geist”, beschreibt Maggie Nicols, oder aber, so Erika Stucky, “serious fun – a ‘Schnaps'”.

Oder aber die Einleitung: Nach dem Vorwort von Amina Claudine Myers haben die Herausgeber eine Anzahl von Reaktionen auf den Buchtitel zusammengefasst. “Giving Birth to Sound”? Schrecklicher Titel: Frauen wurden schließlich immer wieder aufs Gebären reduziert, meint eine der Gesprächspartnerinnen, während eine andere findet, der Titel passe, sei auch angenehm mehrdeutig. Naja, und bei allen Bedenken spräche der Titel ja auch vom Schaffen von etwas Neuem. Blödsinn, widerspricht eine weitere Stimme, Gebären sei doch eine passive, rein physische Tätigkeit, jede Kuh könne das. Musik zu erschaffen sei dagegen ein aktiver intellektueller Prozess und damit das exakte Gegenteil.

Das Konzept des Buchs: Ohne weitere Vorgaben schickten die Herausgeber den 48 Musikerinnen 20 Fragen, die vom Faktischen zum Nachdenken über den Prozess des Kreativen gehen, sich dabei immer wieder danach erkundigen, inwieweit das eigene Geschlecht bei musikalischen, ästhetischen oder beruflichen Entscheidungen eine Rolle gespielt habe. Tatsächlich sind nur sechs der Fragen konkret aufs Frau-Sein der Musikerinnen abgezielt: Wie hast Du deine Kreativität als kleines Mädchen ausgelebt? Wie hat die Tatsache, dass Du eine Frau bist, die Entwicklung Deiner musikalischen Karriere behindert? Wie siehst Du Deine Position als Frau in der Musikszene? Hat diese Position Dein Verhältnis zum Sound beeinflusst? Siehst oder spürst Du einen Unterschied im weiblichen und im männlichen Ansatz an Kreativität? Was würdest Du anderen / jungen Frauen empfehlen, die sich bemühen ein kreatives Leben zu führen?

Die Antworten auf diese und allgemeiner gehaltene Fragen fallen so unterschiedlich aus wie die Lebenswege der 48 Interviewten. Es macht nun mal einen Unterschied, ob man Ende der 1970er Jahre in Dänemark zum Jazz kommt wie Lotte Anker oder 1941 in Oklahoma wie Jay Clayton. Haben Männer und Frauen einen anderen kreativen Approach?, fragen die Herausgeber. “NEIN!” ruft Jay Clayton, in Großbuchstaben, keine weitere Diskussion duldend, während Marilyn Mazur einwirft, Frauen würden vielleicht weniger in Wettstreit treten, mehr ans Ganze und Kollektive denken. “Nein, ich sehe da keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen”, findet wiederum Amy X. Neuberg, um gleich anzuschließen, “das heißt aber nicht, dass es keine gäbe.” Klar gibt es einen Unterschied”, erklärt Kali Z. Fasteau, etwa, dass Männer in hierarchischen Systemen besser funktionierten als Frauen. Andererseits, urteilt Nicole Johänntgen, sei diese Frage ziemlich schwer zu beantworten, weil es nun mal so sehr viel mehr Männer als Frauen auf der Szene gäbe.

Nicole Mitchell beantwortet ihre Fragen in poetischen Erinnerungen und Reflexionen über schwarze Musik, den langen Atem der Bürgerrechtsbewegung und ihren eigenen Weg. Maggie Nicols auf der anderen Seite streicht heraus, dass ihre Musik immer sowohl politische wie auch spirituelle Untertöne besessen habe. Ob sie einen Preis bezahlt habe dafür, dass sie Musik mache, fragen die Herausgeber, und Angelika Niescier findet: Im Gegenteil, sie habe daraus sehr viel für sich gewonnen. Musikerin zu werden, sei nun mal eine Lebensentscheidung, finden auch viele ihrer Kolleginnen, niemand zwinge einen schließlich diesen Weg einzuschlagen.

Die weibliche Kreativität erlaube mehr “Raum”, meint Fay Victor, und zwar “sowohl mehr Raum im Sinn von Zeit und Raum wie auch mehr Raum für die Akzeptanz von Fehlern und Intuition”. Klar habe die Tatsache, dass sie eine Frau sei, ihr Verhältnis zum Sound beeinflusst, erklärt Joëlle Léandre. Frauen seien nun mal anders, sie hätten die Fähigkeit zur Distanz, die in diesem Geschäft wichtig sei, außerdem könne man mit ihnen viel besser lachen.

Sie sehen in dieser springend-vergleichenden Zusammenfassung einzelner Antworten bereits, wie ungemein gewinnbringend sich dieses Buch lesen lässt, wenn man blättert, Themen identifiziert, die die Herausgeber durch ihre Fragen ja nicht festgeklopft, sondern nur angestoßen haben, um dann zu sehen, welchen Kontext die verschiedenen Antworten beleuchten. Man erlebt die ja unabhängig voneinander befragten Musikerinnen bald wie in einer respekt- und kraftvollen Diskussion neugieriger, andere Meinungen (meistens) zulassender, vor allem aber ungemein selbstbewusster Musikerinnen.

Das Fazit des Buchs wusste man vielleicht schon vor der Lektüre: Eine einzelne Antwort auf die Frage nach dem kreativen Unterschied nämlich gibt es nicht. Der künstlerische Ansatz zwischen Männern und Frauen ist genauso unterschiedlich wie jener zwischen Männern und Männern oder zwischen Frauen und Frauen. Es gibt jedoch, und das wird in diesem Buch sehr deutlich, ein anderes Diskursverhalten, eine klare Selbstwahrnehmung der Rolle, in die man gesellschaftlich gedrängt wurde.

Unbedingt lesenswert also, ob von Buchdeckel zu Buchdeckel oder im laufenden Vor- und Zurückblättern. “Giving Birth to Sound” erklärt dem interessierten Leser nämlich in der persönlichen Selbstbefragung der Protagonistinnen und oft auch zwischen den Zeilen weit mehr über die Thematik, als man es etwa von wissenschaftlichen Studien erwarten dürfte.

[Naja, wir empfehlen dennoch den Besuch unseres Darmstädter Jazzforums zum Thema “Gender and Identity in Jazz” vom 1.-3. Oktober 2015 oder die spätere Lektüre unserer Beiträge zur Jazzforschung mit den referaten dieser Konferenz. Aber das ist natürlich nur Eigenwerbung…]

Wolfram Knauer (September 2015)


 

Beyond Jazz. Plink, Plonk & Scratch. The Golden Age of Free Music in London 1966-1972
von Trevor Barre
London 2015 (Compass Publishing)
330 Seiten, 12,99 Britische Pfund
ISBN 978-1-907308-84-0
Zu bestellen über trevorbarre@aol.com

Ekkehard Jost hat die Jahre zwischen 1960 und 1980 als eine Zeit beschrieben, in der Europas Jazz zu sich selbst fand, in der Musiker sich von ihren amerikanischen Vorbildern lösten und eigene Wege gingen. Einige dieser Wege führten fort vom, gingen also “beyond jazz”, und diese Entwicklung will Trevor Barre in seinem Buch mit demselben Titel nachzeichnen. Der Gitarrist Derek Bailey forderte eine Improvisation, die sich aus den idiomatischen Bezügen befreien, und auch andere Musiker begannen statt des Begriffs “Free Jazz” von “improvised music” zu sprechen. Barre interessiert, wie es überhaupt dazu kam, dass eine solch sperrige und alles andere als publikumsfreundliche Musik entstehen konnte und warum sie nicht angesichts ihres kommerziellen Misserfolgs einfach nach ein paar Jahren ausstarb. In seinem Fokus steht dabei die erste Generation der freien Improvisatoren, also Musiker wie Evan Parker, Derek Bailey, John Stevens, Kenny Wheeler, Barry Guy, Dave Holland, Trevor Watts, Tony Oxley, Paul Rutherford, Howard Riley, Eddie Prévost, Keith Rowe, Gavin Bryars und Cornelius Cardew.

Barre beginnt mit einer Definition seines Themas: Wo die meisten Jazzbücher den Jazz durch seine improvisatorischen Parameter beschreiben würden, sei Free Music, schreibt er, einzig durch den improvisatorischen Gehalt definiert. Er stellt unterschiedliche Formen freier Improvisation vor, solche, die näher am Jazz bleiben und solche, die eher der europäischen Avantgardetradition verpflichtet scheinen. Die beiden Hauptensembles seines Buchs sind das Spontaneous Music Ensemble und die Gruppe AMM. Barre ordnet deren Auftritte in die Jugend- und Protestkultur der 1960er Jahre ein und schildert, wie die globalen Entwicklungen von Pop, Rock und Folk jungen Musikern ein völlig neues Vokabularium an die Hand gab, sie auch zu neuen Herangehensweisen zwischen tiefer Ernsthaftigkeit und unbändigem Humor bewegten. Er beschreibt auch, welchen Platz sie in die Bandbreite des britischen Jazz jener Jahre zwischen Dixieland und Free Jazz hatten.

Barre zeichnet den Weg einzelner Protagonisten zur freien Improvisation nach, schildert insbesondere die Bedeutung des Little Theatre Club, in dem die jungen Musiker mit Kollegen auch aus dem europäischen Ausland experimentieren konnten. Er beschreibt, wie sie nach und nach merkten, dass es außer dem afro-amerikanischen Jazz auch anderes gab, dass beispielsweise südafrikanische Musiker um Chris McGregor dieser Musik eine neue Farbe geben konnten und dass sich Freiheit, wie sie der Free Jazz implizierte, auch ganz mit anderen Mitteln umsetzen ließ. Er diskutiert wichtige Aufnahmen der Zeit, wobei ihn vor allem die interaktiven Prozesse interessieren, die ästhetischen Diskurse, die sich aus der Improvisation der Aufnahmen ergaben. Das alles beleuchtet er anhand von zeitgenössischen genauso wie selbst geführten Interviews mit beteiligten Musikern. Das Spontaneous Music Ensemble und AMM nehmen zwei der umfangreichsten Kapitel ein, in denen Barre neben dein Einflüssen und den ästhetischen Diskussionen auch über Nachwirkungen schreibt, bewusste oder unbewusste Reaktionen auf die Klangexperimente in weit jüngerer Musik, der 1980er, 1990er Jahre und danach. Er betrachtet den Einfluss der Technologie, schaut auch auf die Bedeutung der visuellen Covergestaltung oder der Plattentexte. Das Label Incus nimmt ein eigenes Kapitel ein, wie FMP in Deutschland oder ICP in Holland ein von Musikern gegründetes Label, das Musik seiner Mitglieder nicht so sehr vermarkten als vielmehr dokumentieren wollte. Improvisation ist schließlich weit mehr als komponierte Musik auf das Medium der Tonaufzeichnung angewiesen – sonst verklingt sie.

In seinem Schlusskapitel betrachtet Barre kurz die “zweite Generation” der Free Music in London um das London Musicians’ Collective sowie eine “dritte Generation” um John Edwards, John Butcher und andere und setzt beide Entwicklungen mit jenem von ihm als “erste Generation” betrachteten Grundthema seines Buchs in Beziehung. Im Nachwort schließlich verfolgt er die Aktivitäten seiner Protagonisten bis in die Gegenwart.

Trevor Barres Buch ordnet die Entwicklung der Free Music der späten 1960er, frühen 1970er Jahre in die kulturelle Szene des “Swinging London” ein. Ihm gelingt dabei vor allem der Blick auf sich wandelnde ästhetische Ideale und eine Begründung derselben aus gesellschaftlichen und politischen Diskussionen heraus. Der Musik selbst kommt er vor allem in Interviews mit den beteiligten Musikern nahe. Die inhaltliche wie organisatorische Unabhängigkeit der britischen Improvisationsszene jener Jahre hat Auswirkungen bis heute. Initiativen wir F-Ire Collective wären ohne das Vordenken und Vormachen der hier beschriebenen Musiker und Gruppen nicht möglich gewesen. Von daher füllt Barres Buch eine Lücke. Dass er bestimmte Themen weitgehend außer Acht lässt – die Auseinandersetzung dieser Szene mit ihrem Publikum beispielsweise oder mit den Mainstream-Medien, der tatsächliche Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Szenen oder die Reaktion amerikanischer Musiker, zeigt nur, wie viele Perspektiven das Thema tatsächlich hat, die bislang kaum beleuchtet wurden. Barre jedenfalls stößt mit “Beyond Jazz” die Tür zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der musikalischen Freiheitsbewegung jener Zeit weit auf.

Wolfram Knauer (August 2015)


 

Little Satchmo. Living in the Shadow of my Father, Louis Daniel Armstrong
von Sharon Preston-Folta (mit Denene Millner)
Charleston/SC 2015 (self published)
112 Seiten, 12 US-Dollar
ISBN: 978-1-481227-23-7
Zu beziehen über www.littlesatchmo.com

2015prestonfoltaDie offizielle Version lautet: Louis Armstrong hatte nie Kinder. Er hätte immer gern welche gehabt, sagte seine letzte Frau und Witwe, Lucille Armstrong, aber er sei zeugungsunfähig gewesen. Nun kommt, 34 Jahre nach Satchmos Tod, Sharon Preston-Folta mit einem Buch heraus, in dem sie kundtut, sie sei die Tochter Louis Armstrongs aus einer außerehelichen Beziehung, die Satchmo in den 1950er Jahren hatte.

Ihr Leben lang habe sie diese Wahrheit herunterschlucken müssen. Sie wolle kein Geld, keinen Ruhm, aber immer selbst auf das öffentliche Wissen um ihren Vater verzichten zu müssen, sei einfach zu viel. In ihren Recherchen habe sie nur einen einzigen schriftlichen Hinweis auf Satchmos Vaterschaft gefunden, einen Brief des Trompeter an seinen Manager, Joe Glaser, aus dem Jahr 1955, in dem er diesen bat, vor der Ankunft seiner Frau Lucille in Las Vegas ein paar Geschäftsdinge zu klären, darunter Zahlungen an eine Freundin, von der er glaubt, dass sie ein Kind von ihm habe. Ihre Mutter habe sie immer beschworen, ihren Vater geheim zu halten, und so habe sie letzten Endes gehorcht und damit auch keine Ansprüche geltend gemacht auf sein physisches, historisches und finanzielles Erbe. Wenn sie etwas gekränkt habe bei ihren Recherchen, sei es, dass Louis Armstrong in seinen Briefen so offen über alles geredet habe, seine Musik, seine Kindheit, seine Liebe zum Essen und zu den Frauen, über Sex, sogar über seine Darmtätigkeit, dass er über seine Tochter aber sein Leben lang geschwiegen habe.

Warum er ihre Existenz verleugnet habe? Nun, erklärt Preston-Folta, Louis Armstrong sei ein gefeierter Künstler seiner Zeit gewesen und habe sich in der besten (weißen) Gesellschaft aufgehalten. Es habe einfach nicht gepasst, in dieser Zeit, wenn Nachrichten über ein uneheliches Kind mit einer Geliebten in die Schlagzeilen gekommen wären.

Prestons Mutter wurde 1921 in New York geboren und arbeitete bereits als 16-Jährige als Chorus Girl in diversen Shows. 1941 heiratete sie einen Tänzerkollegen; 1946 arbeiteten die beiden als Tanzpaar “Slim & Sweets” als Vorgruppen für große Swingorchester, unter ihnen auch Louis Armstrong, der sich mit ihnen anfreundete und in einen launigen Briefwechsel einstieg. 1950 starb Slim, und bei der Trauerfeier war auch Louis Armstrong dabei, der Lucille Preston in den Arm nahm und versprach: “Ich werde mich um dich kümmern.” In den nächsten vier Jahren reiste sie Pops hinterher und tauchte auf, wann immer Armstrongs in New York spielte. 1954 wurde Preston schwanger, und im November schrieb Satchmo ihr einen Brief, in dem er erklärt, wie sehr er sich auf das Kind freue und sogar vorschlägt, sie zu heiraten, sollte seine Frau (mit gleichem Namen Lucille) sich von ihm scheiden lassen. Armstrong war dann aber nicht dabei, als Sharon Louise (nach Louis) Preston am 24. Juni 1955 das Licht der Welt erblickte. Armstrongs rechtmäßige Ehefrau war “not amused” und habe ihm nach der Geburt der Tochter sogar vorgeschlagen, diese zu adoptieren, was ihre leibliche Mutter aber vehement ablehnte. Lucille (die Ehefrau) habe sogar die Alimente überwiesen, bis sie diese Aufgabe irgendwann Joe Glaser übertrug.

In ihrem Buch berichtet Sharon von den viel zu seltenen, sorgfältig geplanten und sehnsuchtsvoll erwarteten Treffen. Sie und ihre Mutter lebten eine Weile bei ihrem Onkel Kenny, der nach außen schon mal als Lucilles Ehemann auftrat und immer wieder auf seine Schwester eindrang, bei Satchmo mehr einzufordern: mehr Geld, mehr Fürsorge, am besten seinen Namen. Bei einzelnen Sommertourneen durfte Sharon mitreisen. Ansonsten aber war Satchmo vor allem durch die monatlichen Unterhaltszahlungen präsent, durch Broadway-Tickets, 1962 durch den Kauf eines Hauses in Mount Vernon, New York. In Harlem hatte sich niemand wirklich darum gekümmert, wie ihre Familienverhältnisse aussahen, erzählt Preston-Folta, in Mount Vernon aber begann eine Zeit der Lügen. Die Liaison dauerte ja bereits 12 Jahre, aber nach wie vor war nicht in Sicht, dass Armstrong auch öffentlich zu seiner Familie stehen würde. Mit zehn Jahren begriff Sharon erstmals, dass ihr Vater eine “andere Lucille” hatte, ein anderes Leben, das mit ihrem aber auch gar nichts zu tun hatte.

Etwas später seien sie gemeinsam in Atlantic City zu einem Auftritt Marvin Gayes gegangen, es habe einen Streit zwischen den Erwachsenen gegeben, bei dem ihre Mutter Satchmo fragte, wann er sie nun endlich zu heiraten gedachte, worauf er laut wurde: “Ich werde dich niemals heiraten” und mit Fingerzeig auf die Tochter fragte: “Sag mir einfach, was es kostet, für sie zu sorgen!” Das war das Ende der Beziehung.

Kaum war Armstrong gestorben, kamen auch die monatlichen Schecks nicht mehr. Ein paar im Voraus geleistete Zahlungen für Sharons Erziehung hielten sie und ihre Mutter über Wasser, mussten bald auch den Zuwachs zur Familie finanzieren, denn Sharon wurde mit 16 selbst Mutter. Sharon erzählt, wie ihr Leben weiterging, immer gezeichnet durch die Narben, die der fehlende Vater hinterlassen hatte. Irgendwann rebellierte sie gegen die eigene Bitterkeit und versuchte, das emotionale Band, das sie mit der verlorenen, nie gehabten Vergangenheit hatte, zu zerschneiden.

Sharon Preston-Foltas Buch endet mit einem Besuch im Armstrong House in Queens. Ein Anwalt hatte ihr empfohlen, einen Blick in Satchmos Testament zu werfen, das eine eidesstattliche Erklärung von Lucille, Armstrongs Frau, enthielt, Armstrong habe nie Kinder gehabt. Als Sharon diese Zeilen las, von Lucille eigenhändig korrigiert von “Der Verstorbene und ich hatten keine Kinder” in “Der Verstorbene hatte keine Kinder”, entschied sie sich, jetzt ihr Geschichte zu erzählen. Ihre Mutter, die sie immer zur Geheimhaltung gedrängt hatte, willigte endlich ein: “Mach, was Du meinst, dass du tun musst.”

Sharon Preston-Foltas Buch ist als eine Liebeserklärung an die von ihr immer vermisste Vaterfigur Louis Armstrong geschrieben, aber es ist eben auch eine leicht verbitterte Liebeserklärung geworden. An genügend Stellen legt man es zur Seite, unterschiedlich berührt von den Schuldzuweisungen, mit denen Preston-Folta ihre eigenen Lebensentscheidungen aus ihrer vaterlosen Kindheit und Jugend ableitet. Ein bedrückendes Schicksal, denkt man, und fragt sich zugleich, warum sie, die immer wieder von der DNA ihres Vaters schreibt, die in ihr fortlebe, nicht irgendwann, spätestens vor der Veröffentlichung dieses Buchs, auf einem DNA-Test bestanden habe. Doch ist es einem Kind, das sein Leben lang sicher ist, seine Eltern zu kennen, überhaupt zuzumuten, von einem auf den anderen Tag an der Tatsache der Vaterschaft zu zweifeln? Auch als skeptischer Leser sollte man jedenfalls für die Zeit der Lektüre erst einmal die Grundbehauptung der Vaterschaft Louis Armstrongs akzeptieren, sonst hat man wenig Spaß am Buch. Armstrong selbst schließlich scheint bis zu seinem Tod überzeugt davon gewesen zu sein, in Sharon eine Tochter gehabt zu haben.

Allen Fragen und sicher auch allen möglichen Zweifeln zum Trotz, die einem bei der überraschenden Enthüllung Sharon Preston-Foltas kommen mögen, lernt man einiges bei der Lektüre, und wenn nur, dass Scheinwerferlicht auch Schatten wirft, dass Stars wie Louis Armstrong das Leben vieler Menschen zum Teil viel direkter berührten, als man es wahrhaben mag, und nicht zuletzt, dass die Persönlichkeit großer Stars aus ihren emotionalen Stärken genauso besteht wie aus ihren emotionalen Unzulänglichkeiten. Am Glorienschein des großen Meisters mag das alles ein wenig kratzen; der Kraft seiner Musik tut es keinen Abbruch.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Theatrical Jazz. Performance, Àṣẹ, and the Power of the Present Moment
von Omi Osun Joni L. Jones
Columbus/OH 2015 (The Ohio State University Press)
270 Seiten, 99,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8142-1282-0

2015jonesDer Blick über den Tellerrand kann das Wesentliche erhellen, der Blick von außen Dinge erkennen lassen, die man im internen Diskurs oft nicht mehr sieht. Das ist einer der Hintergründe für die sogenannten “new jazz studies”, ein Konzept in der jüngeren Jazzforschung, das sich der untersuchten Materie neben der musikwissenschaftlichen Betrachtung interdisziplinär nähert. Die Feministin Omi Osun Joni L. Jones versucht in ihrem Buch eine Verbindung zwischen Jazzästhetik , theatralischer Performance und auf Yoruba basierender afrikanischer Theologie. Dabei beschreibt sie als eine der zentralen Prinzipien der Jazzästhetik die Fähigkeit, die eigenen intuitiven Kräfte freizusetzen. In ihrer Beschäftigung mit afrikanischer Spiritualität habe sie gelernt, dass auch in wissenschaftlichen Büchern die Auseinandersetzung mit spirituellen Impulsen nicht zu kurz kommen dürfte, ganz ähnlich wie dies auch Jazzgrößen wie John und Alice Coltrane immer gesehen hätten. Sie will mit ihrem Buch den Jazz gegen den Strich bürsten, seine Begriffe, Handlungen, Ausformungen kritisch hinterfragen, und zwar aus der Perspektive aller seiner unterschiedlichen Bedeutungen in musikalischer Ästhetik, Performance, gesellschaftlichem Spiegel, ethnischer Identität oder politischer Haltung. Es gäbe Kollegen, schreibt sie in ihrer Einleitung, die den Jazz als eine polyglotte Form ansähen und damit Gefahr liefen seine Wurzeln in der afro-amerikanischen Kultur zu leugnen. Tatsächlich aber sei die spirituelle Kraft nicht an irgendwelche Identitätsregeln gebunden. Die spirituelle Transzendenz des Jazz brauche keine Abwesenheit ethnischer Identität (“race”), sondern höchstens Abwesenheit solch einer ethnischen Identität (“race”) als Restriktion oder als Prognose.

Tatsächlich handelt ihr Buch allerdings zentral gar nicht von Musik, sondern vom Theater, und hier insbesondere von den drei Theaterautoren Laurie Carlos, Daniel Alexander Jones und Sharon Bridgforth. Jones bedient sich in ihrer Herangehensweisen an das Thema der feministischen und queeren Theorie, erklärt Wirkungen der Theaterperformance aus der Haltung des Jazz heraus und zugleich aus ihrer Interpretation von Yoruba-Traditionen. Als übergeordneten Approach versucht sie ihrem wissenschaftlichen Buch darüber hinaus aber auch improvisatorische Strukturen zu geben, indem sie Bilder, Fotos, Zeichnungen, Zitate einfließen lässt, die wie kurze solistische Kommentare neben ihrem Text stehen.

In ihrer Einleitung zitiert Jones einige Beispiele direkter Bezugnahme von Jazzmusikern wie Dizzy Gillespie und John Coltrane auf Yoruba-Beschwörungen, erinnert außerdem an die lebendige Avantgarde-Theaterszene von Austin, Texas, in der in den 190er Jahren die Verbindungen von Theater und Jazz besonders entwickelt wurden. Im ersten Kapitel betrachtet sie, wie biographische Erfahrungen die drei von ihr untersuchten Autoren prägten, Carlos’ Jugend im New Yorker East Village, Jones’ Aufwachsen im Arbeiterklasse-Milieu von Springfield, Massachusetts, Bridgforths Bustrips durch die verschiedenen Viertel von Los Angeles. Sie analysiert die dem Jazz nahestehenden Praktiken von Lehrer und Schüler im Theater, deren Lernprozesse dabei immer gegenseitig sind. Das zweite Kapitel untersucht Performance-Methoden, Ansätze an Regie, Probenphasen, das Beziehung-Herstellen zum Publikum, die Auswahl der Schauspieler, aber auch das Zulassen spiritueller Erfahrung im Verlauf der Performance. Im dritten Kapitel schließlich fragt sie danach, was die Performance beim Publikum (sie spricht gern von “witnesses” = Zeugen) auslöst, wie sie zu einer Perspektivverschiebung führen kann, einer aktiven Partizipation des Publikums, die das eigentliche Ziel aller Beteiligten sei.

Wenn ich Jones zu Beginn dieser Rezension in die Nähe der “new jazz studies” gestellt habe, so muss ich diese Aussage zumindest zum Teil revidieren. In den New Jazz Studies werden Aspekte des Jazz möglichst von vielen Seiten (und mit unterschiedlichen Methoden) betrachtet. Jones geht den entgegengesetzten Weg: Sie nutzt, was sie vom Jazz gelernt hat, um ihr eigentliches Thema, die Performance im Theater genauer zu definieren. Sie erkennt im Jazz Kommunikations- und Tradierungsmodelle, die so beispielhaft sind, dass sie ein anderes Genre besser verstehen lassen, vielleicht sogar Modell stehen können für neue, weitreichendere Regie- oder Performance-Ansätze. Ihr Buch ist darin so weitsichtig wie der Versuch früherer Literaturwissenschaftler wie Houston Baker, insbesondere den Bereich der afro-amerikanischen Literatur (aber durchaus darüber hinaus) durch die schon von Ralph Ellison oder Albert Murray identifizierte Blues Aesthetic zu beschreiben. Beide nahmen dabei sehr bewusst auf westafrikanische kulturelle Traditionen, Praktiken und Symbole Bezug, für den ungeübten Leser einerseits manchmal etwas schwer nachvollziehbar, gerade dadurch aber die Argumentation auch angenehm schnell aufbrechend und Rückschlüsse erlaubend.

Wenn nämlich die Praxis des Jazz als Erklärungsmodell für andere künstlerische Praktiken taugt, dann wirft das ein ganz anderes Licht auch auf den Stellenwert von Jazz und Improvisation.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


The Long Shadow of the Little Giant. The Life, Work and Legacy of Tubby Hayes
von Simon Spillett
Sheffield 2015 (Equinox)
377 Seiten, 19,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78179-173-8

2015spillettWie Hans Koller oder Lars Gullin war der britische saxophonist Tubby Hayes eine der europäischen Jazzgrößen, die ihren Kollegen genauso wie ihrem Publikum klar machten, dass der Jazz zwar eine afro-amerikanische Musik war, dass aber Europäer das Idiom durchaus beherrschten und ihre eigenen Beiträge zur Tradition des Jazz leisten konnten. Hayes kam aus der Swing-Mainstream-Tradition des Jazz, nahm erst Bebop, Hardbop, schließlich Einflüsse des Spiels John Coltranes in seinen Stil auf und starb 1973, gerademal 38 Jahre alt, in Folge einer Herz-Operation.

Dem Autor und Saxophonisten Simon Spillett gelingt es in seinem Buch “The Long Shadow of the Little Giant” mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews und Material aus Hayes’ persönlichem Archiv das Leben und die musikalische Karriere des Saxophonisten in den Jahren vom bombenerschütterten London der Nachkriegszeit über die jazzigen 1950er Jahre und die Swinging Sixties bis hin zur großen Krise des Jazz Anfang der 1970er Jahre nachzuzeichnen.

Hayes wurde in eine musikalische Familie geboren – sein Vater leitete in den 1930er Jahren verschiedene Tanzorchester, seine Mutter war Revuesängerin und -tänzerin. Schon früh war er vom Saxophon fasziniert, begann aber im Alter von acht Jahren erst einmal mit Geigenunterricht, und bekam schließlich zum elften Geburtstag das langersehnte Saxophon, das er größtenteils autodidaktisch meisterte. Er hatte ein gutes Gehör, und der Geigenunterricht hatte ihn zu einem exzellenten Notisten gemacht. Er hörte Charlie-Parker-Platten und bewegte sich in Kreisen Gleichgesinnter, spielte bald mit Ronnie Scott, Alan Skidmore und Kenny Baker, mit dem er im Juli 1951 auch seine ersten Aufnahmen machte.

Die Baker Band hatte jede Menge Fans, und die Presse wurde schnell auf Hayes aufmerksam, der bald als “boy wonder tenorist” vermarktet wurde und, noch nicht einmal 20 Jahre alt, mit den Modernisten der britischen Jazzszene spielte. Mit 18 heiratete er zum ersten Mal, hatte schon zuvor alle möglichen Drogen ausprobiert. Er spielte in den populären Bands von Vic Lewis, Jack Parnell, Tony Hall und hatte schließlich auch mit seiner eigenen Band einen vollen Terminkalender.

Spillett beschreibt, wie britische Musiker in jenen Jahren das US-amerikanische Idiom des Hardbop gemeistert hatten, die Musik von Art Blakey und Horace Silver, und wie Kollegen wie Sonny Rollins oder Hank Mobley ihre stilistischen Spuren in Hayes’ Spiel hinterließen. 1958 traten Hayes’ Jazz Couriers neben dem Dave Brubeck Quartet bei einer Tournee durch sechzehn Städte des Vereinigten Königreichs auf; 1959 wurde Hayes vom Melody Maker zum besten Tenorsaxphonisten gewählt.

Andere Musiker hatten die Entwicklung des amerikanischen Jazz genauso interessiert mit verfolgt; und um 1960 kamen erste Versuche “freier Form” auch in England an. Joe Harriott war einer der ersten, die sich an freieren Spielweisen versuchten; Hayes aber blieb skeptisch. Die Eröffnung von Ronnie Scott’s, bis heute einem der wichtigsten Clubs des Königreichs, war sowohl für die Präsenz des amerikanischen Jazz in England wichtig als auch für das Selbstbewusstsein der eigenen Szene. Der BBC schnitt Konzerte mit, und Plattenfirmen widmeten dem heimischen Jazz eigene Alben. 1961 trat Hayes erstmals in New York auf, wo ihn die Größen des amerikanischen Jazz hörten, unter ihnen Zoot Sims, Al Cohn und Miles Davis. Zurück in England erhielt er einerseits eine eigene Fernsehshow, “Tubby Plays Hayes”, hörte er andererseits erstmals John Coltrane, der sein Bild von den Möglichkeiten im Jazz genau wie das vieler anderer Kollegen völlig veränderte.

Als Duke Ellington 1964 in England auftrat, jammte Hayes mit Bandmitgliedern und wurde vom Duke gebeten für Paul Gonsalves einzuspringen, als dieser unpässlich war. In den nächsten Jahren war Hayes international unterwegs, trat im New Yorker Half Note genauso auf wie beim NDR Jazz Workshop in Hamburg. Er arbeitete wie besessen, hatte zugleich gesundheitliche Rückschläge, darunter eine Thrombose, die auch seine Lungenfunktion herabgesetzt hatte.

Ende der 1960er Jahre hatte der britische Jazz zwei Probleme: die Macht der Rockmusik auf der einen Seite und das Verlangen des Publikums nach amerikanischen Künstlern auf der anderen Seite. Hayes erlitt auch persönliche Rückschläge, etwa als seine Freundin starb und er daraufhin noch stärker zu Drogen griff. Er musste wegen Herzproblemen immer häufiger in ärztliche Behandlung, begann aber trotz aller gesundheitlichen Probleme ein musikalisches Comeback. Er spielte mit Musikern der britischen Avantgarde, John Stevens, Trevor Watts, Kenny Wheeler, beteiligte sich bei einem Benefizkonzert für Alan Skidmore, der nach einem Autounfall im Krankenhaus lag, starb aber schließlich nach einer Operation, bei der eine Herzklappe ausgetauscht werden sollte.

“The Long Shadow” heißt das Buch, und so widmet Spillett sein letztes Kapitel der kritischen Aufbereitung seiner musikalischen Bedeutung nach seinem Tod sowie dem Nachwirken Hayes’ auf der britischen Szene. Er schließt mit einer Diskographie die Aufnahmen des Saxophonisten zwischen 1951 bis 1973 verzeichnet.

Simon Spillett hat viel Sorgfalt in seine Recherchen gesteckt. Nebenbei wirft er immer wieder aufschlussreiche Blicke auf die Musik selbst, auf die Aufnahmen, die Hayes’ musikalische Entwicklung dokumentieren. Wenn überhaupt, so mangelt es dem Buch insbesondere in diesem Segment an Tiefe, etwa an Erklärungen, wo sich Einflüsse, ästhetische Umbrüche und anderes konkret festmachen lassen. Eingehend aber beschreibt er den Lebensweg, die persönlichen Probleme, die musikalischen und ästhetischen Entscheidungen und zieht die Verbindungen zu den allgemeinen Entwicklungen des Jazz in Großbritannien, in Europa und in den Vereinigten Staaten. Spillett konnte mit Zeitzeugen sprechen und hatte Zugriff auf Hayes’ persönliche Papiere. Sein Buch ist eine definitive Biographie, die viele Fragen beantwortet und dabei im umfassenden Apparat all die Dokumente benennt, die für eine solche Arbeit notwendig sind.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Musiktraumzimmer Jazzcampus
herausgegeben von Peter Rüedi & Steff Rohrbach
Basel 2015 (Jazzcampus / Echtzeit Verlag)
212 Seiten, 32 Euro
ISBN: 978-3-905800-78-4

B2015rueediasels Jazzschule ist zum Jazzcampus geworden, zu einer Hochschule für improvisierte Musik, in der, wie der Titel dieses Buchs suggeriert, jede Menge an Träumen und Visionen wahrgeworden sind. Da ist zuallererst die Vision des Gründers und Gitarristen Bernhard Ley, der erzählt, wie er die Schule in den Räumen eines Jugendkulturzentrums gründete und wie er es dann durch pädagogisches wie politisches Geschick, aber auch durch das Talent der Vernetzung, das die Schule zum Teil des Basler Kulturlebens werden ließ, erreichte, sie zu einem Kompetenzzentrum zu machen, in dem der musikalische Gehalt, die Arbeit von Lehrenden und Schüler/innen, sich auch in der architektonischen Umsetzung spiegelt.

Davon nämlich handelt dieses Buch, vom glücklichen Unterfangen, auf den Grundrissen einer ehemaligen Maschinenfabrik eine Musikschule zu bauen mit all der für eine solche notwendigen Infrastruktur, Club, Konzertsaal, Tonstudio, Probenräume etc. Ein Musiktraumzimmer sei das ganze geworden, eine Raumrealisation also, die dem Thema “Jazz” angemessen sei. Mitgeholfen hätten alle, die Architekten Lukas Buol und Marco Zünd, der Bauherr Georg Hasler von der Stiftung Levedo sowie Bernhard Ley, der als Studiengangsleiter den zukünftig alltäglichen Gebrauch im Blick behielt. Das Gespräch mit diesen vieren erklärt Fragen der Akustik, Diskussionen im Planungsverlauf, die Außenwirkung genauso wie den inneren Glanz (sprich: Farben, Bodenbeläde, Beleuchtung).

Solch eine theoretische Diskussion lässt sich nur durch Fotos und Raumpläne in Buchform einfangen. Eigentlich gehört Musik dazu, noch wichtiger wäre der tatsächliche Raumeindruck, der aber in der Architektur immer noch einzig durch einen Besuch ermöglicht wird.

Um die tatsächliche musikalische und pädagogische Nutzung der Räume geht es im zweiten, noch umfassenderen Teil des Buchs: um Konzepte der Jazzpädagogik, persönliche Herangehensweisen an Musik, ästhetische Vorstellungen, die Rückwirkung von Unterricht auf die eigene Kunst der unterrichtenden Musiker.

Wolfgang Muthspiel etwa betont, wie wichtig es neben einem festen Lehrerstamm sei, großartige internationale Kollegen als Gastdozenten an die Schule zu holen. Andy Scherrer erzählt, wie er zum Unterrichten wie die Jungfrau zum Kind gekommen sei, und wie er trotz vieler Schüler immer eine gesunde Skepsis gegenüber des Unterrichtens beibehalten habe. Malcolm Braff erklärt, dass er nicht so sehr das Klavier denn vielmehr sich selbst als das wirkliche Instrument empfinde und wie er in den letzten Jahren eine rhythmische Theorie entwickelt habe, die auch Grundlage seines Unterrichts an der Hochschule sei. Lisette Spinnler versteht die Stimme als Instrument und Texte als Ausgangspunkt für musikalische Erkundungen. Adrian Mears plädiert auch beim Lernen für Spielpraxis, egal mit was für Besetzungen. Bänz Oester vertraut auf die Motivation zukünftiger Musiker/innen, auf die Verantwortung für das Selbst, das Eigene. Domenic Landolf mag sich weder verbiegen noch sonderlich in den Vordergrund spielen. Jorge Rossy spricht über die Standards als Basis und über seine Arbeit mit Carla Bley und Steve Swallow. Matthieu Michel überlegt, wie man als junger Musiker neben der Technik vor allem zu einer eigenen Stimme gelangt. Hans Feigenwinter sieht seine analytischen Fähigkeiten als eine Grundlage seines Musikmachens, zugleich aber die Musik auch als laufenden Ansporn, sie analytisch zu begreifen. Gregor Hilbe berichtet über die Bedeutung des Schlagzeugers in einer rhythmischen Kultur, und zugleich über die Idee des Producing / Performance-Studiengangs am Jazzcampus Basel. Daniel Dettmeister hatte die Chance, als Tonmeister selbst Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung des Aufnahmesaals der Hochschule. Mit Martin Lachmann kommt zum Schluss auch noch der Akustiker selbst zu Wort, der die Räume eingerichtet hat.

Eine bunte Abfolge von Interviews, Reflexionen und Fotos also, die sehr umfassend das Konzept klarmachen, dass hinter dem Jazzcampus Basel steckt: Freiräume schaffen und beste akustische Möglichkeiten. “Musiktraumzimmer Jazzcampus” ist damit zwar vordergründig eine in Buchform gepresste Imagebroschüre der Hochschule, zugleich aber erheblich mehr: ein Manifest für eine Jazzausbildung, in der Kunst und Wirklichkeit, Klang und Akustik, Pädagogik und Freiheit sinnvoll miteinander in Beziehung stehen.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Résume. Eine deutsche Jazz-Geschichte
von Eberhard Weber
Stuttgart 2015 (sagas.edition)
252 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-944660-04-2

2015weberDer Autor kommt gleich zur Sache: Der Leser wisse ja bereits, dass er, Eberhard Weber, gut 40 Jahre lang als Jazzbassist aktiv war, vielleicht auch, dass er seine aktive Karriere nach einem Schlaganfall 2007 beenden musste. Der Leser wisse wahrscheinlich etliches über seine Karriere, wahrscheinlich auch über den Jazz – was könne er dazu noch beitragen…? Nun, wenn überhaupt, dann könne er aus seinen eigenen Erinnerungen erzählen, sehr persönliche Geschichten, die sich um die Musik drehen, die aber auch sein ästhetisches Weltbild und vieles darüber hinaus berühren. Webers Buch wird so zu seinem “Resumé”. Und es mag vielleicht nicht “die” deutsche Jazzgeschichte sein, aber es ist auf jeden Fall, wie der Untertitel verspricht, “eine deutsche Jazz-Geschichte”, ein Beispiel dafür, wieso ein junger Mann zu dieser Musik kommt, was ihn über all die Jahrzehnte an ihr faszinierte und wie er lernte, in ihr sich selbst auszudrücken.

Eberhard Weber, dem musikalischen Geschichtenerzähler, gelingt der narrative Bogen auch in Worten. Bereits das Eingangskapitel, das vom “Schlag” handelt, der ihn kurz vor einem Konzert mit Jan Garbarek in der Berliner Philharmonie traf, von der Unsicherheit über seinen Gesundheitszustand, von der Hoffnung, wieder spielen zu können, zeigt seine erzählerischen, auch zur Selbstironie fähigen schriftstellerischen Qualitäten.

Im zweiten Kapitel widmet sich Weber seiner eigenen Vorstellung von Jazz. “Jazz”, schreibt er ironisch, doch nicht ganz falsch, “ist, wenn es der Komponist, der Arrangeur oder der ausführende Musiker dem Hörer so schwer wie möglich macht, der Musik zu folgen – und trotzdem alle Spaß daran haben. Das unterscheidet ihn von der vermeintlich ‘Neuen Musik’.” Doch neben dem Jazz als großer Kunst will Weber in diesem Kapitel auch seiner eigenen Ästhetik auf die Schliche kommen. Wiederholungen, erkennt er, langweilen ihn in der Regel; die Schlüsse von Stücken, findet er, misslingen meist. Er weiß, dass Solisten auch mal ohne Inspiration sein können und weiterspielen müssen. Er weiß auch um seine eigenen Schwächen als Bassist und beschreibt, wie man nur, wenn man um die technischen Probleme des eigenen Spiels oder des eigenen Instruments weiß, diese überkommen und kreativ mit ihnen umgehen könne.

Weber selbst wurde die Musik in die Wiege gelegt. Sein Vater, erzählt er, hatte als Cellist klassische Musik gemacht, daneben aber auch Cello und Banjo im Tanzorchester von Bernard Etté gespielt. Weber kam mitten im Krieg in Esslingen zur Welt. Seine Mutter sang, und “im häuslichen Weber’schen Freundeskreis”, erinnert er sich, “triumphierte Gesang über Instrumentales”– vielleicht eine Vorbereitung auf seine eigene sangliche Haltung beim Instrumentalspiel? Gehörbildung fand im Kinderzimmer statt, wenn seine Schwester und er Automarken am Klang unterschieden und dabei lernten zuzuhören und zu differenzieren. Ein Vetter quartierte sich nach der Kriegsgefangenschaft bei ihnen ein und begann Flöte zu lernen. Man diskutierte über Wagner und spielte Kammermusik. Weber bekam Cellounterricht, dann entdeckte er den Jazz und mit ihm wechselte er zum Kontrabass.

Im Jazz brachte er sich das meiste selbst bei, berichtet von ersten Bühnenerfahrungen, von Stuttgarter Jazzern wie Horst Fischer und Ernst Mosch, vom ersten Einsatz in Erwin Lehns Orchester als Vertretung für dessen regulären Bassisten. Seine musikalische Leidenschaft führte dazu, dass Weber durchs Abitur rasselte, eine Lehre als Fotograf begann und Kameraassistent bei einer Fernsehfirma wurde. Nebenbei spielte er mit gleichaltrigen Musikern, lernte Anfang der 1960er Wolfgang Dauner kennen und wurde bald Mitglied in dessen Trio. Er erzählt von den unterschiedlichsten Auftrittsorten zwischen Nachtclub, Café, Tanz und Ami-Kaserne, von Einflüssen auf sein Bassspiel, davon, wie das Dauner-Trio seinen eigenen Stil fand. Zwischendurch gibt es reichlich Anekdoten, aber auch Einblicke in die technischen Seiten seiner Kunst: Instrumentenwahl, Akustik, Pickups, Verstärker, elektronische Spielereien.

Ende der 1960er Jahre wandten Dauner und Weber sich freieren Spielweisen zu. Weber weiß um seine Beobachtungsgabe, weiß auch, dass er sich gern mal zur Polemik hinreißen lässt. Doch er besitzt eben auch die Erfahrung, Beobachtetes, insbesondere, wenn es um Musik geht, passend einordnen zu können. Und so mag man mit mancher polemischen Äußerung, die seinem eigenen musikalischen Geschmack zuzuschreiben ist, nicht übereinstimmen, wird aber an richtiger Stelle durch ein Augenzwinkern darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor zwar eine feste Meinung hat, sich selbst aber auch nicht immer ganz so ernst nimmt.

Weber stand in seiner Karriere bei zwei Plattenfirmen unter Vertrag, die Weltgeltung besaßen, Hans-Georg Brunner Schwers MPS und Manfred Eichers ECM. Er beschreibt die Arbeiten zu “The Colours of Chloë” und den folgenden internationalen Erfolg. Er erzählt vom Zusammenspiel mit Gary Burton, von den Unterschieden zwischen amerikanischen und europäischen Gepflogenheiten in der Jazzszene, von Tourneen mit seiner eigenen Band Colours, durch Deutschland – Ost und West –, die USA und Australien. Er berichtet von seiner Zusammenarbeit mit Jan Garbarek, mit dem er auch offizielle Empfänge spielte, bei denen Politiker, Botschafter, Bundespräsidenten, gekrönte Häupter begeistert waren, “endlich mal kein Streichquartett hören zu müssen”.

Eberhard Weber ist ein vielgereister Musiker. Seine Berichte von Zollformalitäten, Einreisebestimmungen, fasst verpassten Flügen und sonstigen Widrigkeiten sind amüsante Anekdoten, die vor Augen führen, dass das Musikerdasein nicht nur der aus musikalischer Kreativität besteht, die das Publikum erwartet und zumeist auch bekommt. Eine Professur für Musik hatte er nie annehmen wollen. Seine Begründung, die wie ein Tenor seine ungemein flüssige und lesenswerte Autobiographie beendet: “Ich kann nicht Bass spielen. Aber ich weiß, wie’s geht.”

Wolfram Knauer (Juni 2015)


Coltrane sur le Vif
von Luc Bouquet
Nantes 2015 (Lenka Lente)
146 Seiten, 13 Euro
ISBN: 978-2-9545845-8-4

2015bouquetDie Großen des Jazz waren zumeist auch die Meistaufgenommenen, und neben den offiziellen Einspielungen im Studio gehörten über die Jahre Bootlegs dazu, Schwarzpressungen von legalen oder illegalen Mitschnitten, die in mal besserer, mal schlechterer Qualität auf den Markt kamen. Solche Bootlegs haben naturgemäß keine Studioqualität; zum Teil sogar einen unsäglich schlechten Sound. Aber sie sind nicht nur für den Fan, sondern auch für den Experten ein immens wichtiger Teil der Aufnahmegeschichte dieser Musiker. Sie dokumentieren nicht die perfekte Abmischung, sondern den Alltag des Konzerts, in dem das Solo völlig anders klingen kann, in dem die Künstler mit dem Material oder auch mit sich selbst zu kämpfen haben, in dem mal bessere, mal schlechtere Fassungen der großen Titel erklingen, vergleichen mit den auf den im Studio gefertigten Referenzaufnahmen.

Luc Bouquet hatte im französischen Magazin Improjazz eine Reihe über die Liveaufnahmen John Coltranes veröffentlicht und diese jetzt in die zwölf Kapitel des vorliegenden Buchs einfließen lassen. Ein erstes Kapitel beschreibt Coltranes erste Aufnahmen aus dem Jahr 1946 sowie zwei Sessions mit Dizzy Gillespie bzw. Johnny Hodges. Kapitel 2 widmet sich den Jahren 1955-57 und Livemitschnitten mit Miles Davis, Kapitel 3 der Zeit von 1957-58 und den erst jüngst entdeckten und doch schon legendären Aufnahmen Coltranes mit dem Thelonious Monk Quartet. Zwei weitere Miles Davis-Kapitel schließen sich an, 1958-59 in den USA sowie 1960 in Europa, dann beginnt mit Kapitel 6 die Aufnahmegeschichte von Coltranes eigenen Bands: sein klassisches Quartett, Trane und Dolphy, die diversen Besetzungen von 1962, 1963, 1964-65 bis hin zu seiner letzten Liveaufnahme, dem “Olatunji”-Konzert vom April 1967. Jede der Platten wird mit Besetzungs- und Inhaltsangaben gelistet, dazu kommt eine kurze Beschreibung dessen, was auf ihr zu hören ist. Allzu tief versteigt sich Bouquet dabei weder in die Musik noch in die Begleitumstände der Aufnahmen – so wäre etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Entdeckungsgeschichte der Bänder von Tranes Carnegie-Hall-Konzerts mit Thelonious Monk durchaus berichtenswert gewesen.

Bouquets Buch ist als eine Art annotierte Diskographie der Liveaufnahmen John Coltranes ein nützliches Handbuch sowohl beim Hören wie auch bei der Entscheidungsfindung, was man sich vielleicht noch zulegen könnte.

Wolfram Knauer, April 2015Rencontres du jazz et de la musique contemporaine
herausgegeben von Jean-Michel Court & Ludovic Florin
Toulouse 2015 (Presses Universitaires du Midi)
184 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-2-8107-0374-6

Das vorliegende Buch ist die Dokumentation einer Tagung, die im Oktober 2013 in Toulouse stattfand und sich mit aktuellen Beziehungen zwischen Jazz und Zeitgenössischer (sogenannter “Neuer”) Musik beschäftigte. Im Vorwort stecken die beiden Herausgeber das Feld ab, das irgendwo zwischen Anthony Braxton und IRCAM-Experimenten angesiedelt ist und bei dem oft die Genrebezeichnung, ob “Jazz” oder “Neue Musik”, im Weg steht, da die Musik selbst solche Grenzen inzwischen gern und oft überschreitet.

Die Beiträge selbst sind theoretisch-musikwissenschaftlicher Natur. Im ersten Teil findet Vincenzo Caporaletti, dass die jüngere Entwicklung im Kunstmusikbereich neue wissenschaftliche Ansätze benötigt und stellt sein “principe autiotactile” vor, durch das sich sowohl für komponierte wie auch für improvisierte Musik die performativen Prozesse genauso analysieren ließen wie die ästhetischen Prozesse, die durch die Musik wie auch durch äußere, etwa mediale Einwirkungen mitbestimmt werden. Alexandre Pierrepont nähert sich der Frage, inwieweit die genre-spezifische Einordnung und Wertung von Musik aus den Bereichen europäischer klassischer Musik und des afro-amerikanischen Jazz nicht auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser zu Missverständnissen führt, wenn die Querverbindungen, die ja zwischen den Genres bestehen, oft und gern mit kulturellen Konnotationen versehen werden. Pierre Sauvanet betrachtet, wie das Moment der “Tradition” von Musikern im Jazz, der Neuen Musik und in tatsächlich “traditionellen” Musikrichtungen unterschiedlich behandelt wird.

Im zweiten Teil des Buchs geht es an konkrete Analysen. Pierre Fargeton befasst sich mit Franz Koglmanns langjähriger Auseinandersetzung mit dem Third Stream, der Neuen Musik und anderen Kunstrichtungen. Konkret untersucht er Koglmanns “Join!” eine “Oper” aus dem Jahr 2013 auf diverse Bezüge (1.) zum Jazz und (2.) zur Zeitgenössischen Musik. Martin Guerpin analysiert die Komposition “Unisono” des israelischen Komponisten Ofer Pelz und identifiziert darin insbesondere die Jazzverweise. Wataru Miyakawa untersucht das Werk des japanischen Komponisten Toru Takemitsu, in dem ihn vor allem der Einfluss des Lyrian Chromatic Concept von George Russell interessiert.

Im dritten Teil des Bandes berichtet der Gitarrist Frédéric Maurin darüber, wie er Methoden der Spektralmusik, die in den 1970er Jahren im Kreis der IRCAM in Paris entwickelt wurde, etwa für seine Band Ping Machine nutzbar macht. Cécile Auzolle untersucht das “Wintermärchen” des belgischen Komponisten Philippe Boesmans von 1999 und hat dabei Einflüsse aus dem jazz sowie improvisatorische Passagen im Fokus, die in der Oper vom Ensemble Aka Moon ausgeführt wurden. Henri Fourès hinterfragt die Begriffe Jazz, Zeitgenössische Musik, Komposition, Notation und Improvisation auf ihre Wertigkeit in der Hochschullehre. Zum Schluss berichten die Bassistin Joëlle Léandre, der Saxophonist Douglas Ewart und der Trompeter Mike Mantler über ihre eigenen Erfahrungen im Feld zwischen den Welten von Jazz und Neuer Musik.

“Rencontres du jazz et de la musique contemporaine” wirft ein Schlaglicht auf eine offenbar immer noch wichtige Diskussion in den beiden darin angesprochenen Welten. Der einleitende Überblick listet frühere Beschäftigungen mit dem Thema auf (hier fehlt allerdings der Band “Jazz und Komposition”, der das 2. Darmstädter Jazzforum von 1991 dokumentiert und in dem dieses Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet wurde). Sowohl in den allgemein theoretischen wie auch den konkreter praktischen Kapiteln fehlt ein wenig – aber das ist bei einer Tagung, die das nicht ausdrücklich zum Thema machte, vielleicht auch kaum zu leisten – die grundlegende Diskussion einer anders als aus dem europäischem Wissenschaftsdiskurs entstandenen Reflexion über Musik, eine Perspektive also, die sowohl Jazz wie auch die in europäischer Tradition stehende Neue Musik etwa aus dem Blickwinkel von Community, von Macht, von Geschlechterungleichheit oder ähnlichem betrachtet, sich dabei nicht auf die bestehenden meist europäisch gefärbten und genormten Diskurstraditionen einlässt, sondern mutig nach neuen sucht. Das von George Lewis und Benjamin Piekut 2016 herausgegebene Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies geht da einen anderen Weg, braucht, um das Thema abzudecken allerdings auch über 1000 Seiten.

Wolfram Knauer (März 2018)


Bunk Monk & Funk – and other attractions
von Anders Stefansen (& Jan Søttrup)
Kopenhagen 2012 (People’s Press)
248 Seiten, 249 Dänische Kronen
ISBN: 978-8771-37035-5

Anders Stefansen ist ein bisschen der Fritz Rau Dänemarks: ein Konzertveranstalter, der eher zufällig ins Geschäft kam, in den frühen 1960er Jahren für Norman Granz dessen Skandinavien-Tourneen organisierte (so wie dies Lippmann + Rau in Deutschland taten), später auch populärere Acts betreute, von den Beatles bis zu den Rolling Stones. In seiner Autobiographie erinnert sich Stefansen an die vielen Freundschaften zu Musikern, die er in seinem Berufsleben schließen konnte, an das Tourleben, an Probleme und ihre jeweilige Lösung, und an Begegnungen wie die mit John Coltrane, Andrés Segovia, Count Basie, Duke Ellington, Ben Webster, Cecil Taylor und vielen anderen. Er beleuchtet die Realitäten des Business, schwelgt aber vor allem in Erinnerungen. Wenn es dabei auch mehr um die Menschen geht als um die Musik, so ist die Lektüre seines Buchs dennoch erhellend nicht nur für diejenigen, die von seiner Arbeit als Konzertveranstalter profitierten, etwa weil sie selbst im Publikum saßen. Seine Anekdoten beleuchtet zugleich eine ungewöhnliche Karriere zwischen Musik und guter Küche (Stefansen eröffnete eines der ersten French Cuisine Restaurants in Dänemark). Und seine Anekdoten über Henry Miller, den er traf, als er den Film “Ruhige Tage in Clichy” produzierte, sind besondere Zugaben der Lektüre.

Wolfram Knauer (Januar 2018)


Fashion and Jazz. Dress, Identity and Subcultural Improvisation
von Alphonso D. McClendon
London 2015 (Bloomsbury Academic)
194 Seiten, 24,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-85785-127-7

Von den Banduniformen der Swingorchester über die Gardenie im Haar von Billie Holiday bis zu Wynton Marsalis’ in Brooks Brothers-Anzüge gekleidetes Lincoln Center Jazz Orchestra: Jazzmusiker waren immer auch Mode-Ikonen. Miles Davis mag diese Facette seines Bühnenlebens am stärksten ausgelebt haben, doch findet sich das Bewusstsein für die Bühnengarderobe durch die Jazzgeschichte. Als Art Blakey seiner Band in den 1970er Jahren für eine Weile erlaubte, in Straßenklamotten aufzutreten, war das eine Ausnahme. Er wie andere Musiker wussten, dass sie als afro-amerikanische Künstler Vorbildfunktion hatten.

Alphonso D. McClendon ist Modeforscher und hat sich in seinem Buch “Fashion and Jazz” dem Subtext der Musikergarderobe durch die Jazzgeschichte angenommen. Ihm ist wichtig, auf die gegenseitigen Einflüsse zwischen Jazz und Mode hinzuweisen, wie er gleich im ersten Kapitel deutlich macht, in dem er Parallelen und Einflusswege nennt, dass nämlich sowohl Mode wie auch Jazz auf ihre jeweilige Art und Weise vom Freiheit des Ausdrucks handeln. Es habe im Jazz durchaus eine “Sprache der Kleidung” gegeben, sagt er – will heißen: die Bühnenpräsentation hatte immer auch etwas zu bedeuten, und Kleidung habe zur visuellen Ästhetik von Jazzmusikern beigetragen, ob in der Performance auf der Bühne oder in Abbildungen.

Im zweiten Kapitel geht McClendon das Thema dann chronologisch an. Er beschreibt die Mode der Ragtime-Ära und der Bluesmusiker, die Bühnenkostüme von Swing-Musikern und die Selbstdarstellung der Bebopper, die zugleich “die Konstruktion eines subkulturellen Stils” gewesen sei, und stellt schließlich fest, das sowohl Mode wie auch Jazz ähnliche Perioden von Konformität (1900-1920), populärem Einfluss (1920-1940) und Widerstand (1940-1960) durchgemacht hätten.

Kapitel 3 diskutiert Momente “der Moderne” bzw. “des Modernen” und die Kommunikation beider durch Mode und Spielpraktiken im Jazz. Im vierten Kapitel beschreibt McClendon Strategien der Distinktion durch Jazz und Mode, um sich im fünften Kapitel etwa auf die Darstellung von Frauen und Männern in frühen Sheet-Music-Covers zu konzentrieren. Kapitel 6 diskutiert subversive Konnotationen, die sich etwa in Texten von Bluessängerinnen finden oder im Eingang von Jazzthemen in die Literatur oder den Film. Kapitel 7 ist überschrieben “Narcotics and Jazz: A Fashionable Addiction” und beschreibt unter anderem, wie elegante Kleidung auch helfen konnte ein Leben im Schatten der Drogensucht zu verschleiern. Kapitel 8 fokussiert auf Billie Holiday als Musik- wie Mode-Ikone; Kapitel 9 beschreibt Duke Ellington und Benny Carter als “traditionellen Dandy” sowie Dizzy Gillespie und Gerry Mulligan als “modernen Dandy” und blickt kurz darauf, wie amerikanische Präsidenten wie Bill Clinton und Barack Obama ihre Nähe zum Jazz als Imagefaktor ausnutzten.

McClendons Buch reicht leider nur bis ins Jahr 1960 und verpasst damit die politische Garderobe von Dashikis, schwarzen Lederjacken oder soul-beeinflusster Hipstermode der 1960er und 1970er Jahre, thematisiert also auch nicht die Rückkehr zur ordentlichen Garderobe mit Aufkommen der Young Lions der 1980er Jahre. Er thematisiert damit weder die modetechnische Annäherung zwischen den Genres, etwa in Richtung Rock oder auch Neue Musik, noch die Unterschiede etwa in im Modeverhalten amerikanischer und europäischer Musiker. Doch gelingt ihm in diesem eigentlich auf der Hand liegenden und doch so ganz anderen Blick auf Jazzgeschichte eine Perspektive, die Aufschluss über Imagebildung, Selbstverständnis der Künstler und die gegenseitige Beeinflussung von Image und künstlerischem Anspruch erlaubt. Etliche Bilder, eine ausführliche Bibliographie und ein Namensindex schließen das Buch ab.

Wolfram Knauer (August 2017)


Sales Rectangles. Daunik Lazro. Vieux Carré
von Guillaume Belhomme
Nantes 2015 (Lenka Lente)
44 Seiten, 1 Mini-CD, 9 Euro
ISBN: 978-2-9545845-9-1

Am 21. Mai 2011 spielte der Saxophonist Daunik Lazro ein inspiriertes unbegleitetes Solokonzert in einen Buchladen in Rouen. Guillaume Belhomme versucht die Stimmung des Konzerts einzufangen, indem er eines der Stücke Lazros, eine lange Improvisation über Joe McPhees “Vieux Carré” mit kurzen Blicken in die Bücher, die um ihn herum stehen und liegen, verbindet. Seine knappen, aus jeweils nicht mehr als einem Satz bestehenden Kommentare lassen sich den diesen Büchern allerdings erst zuweisen, wenn man sie anhand der im Büchlein abgedruckten Barcodes (bzw. die diesen beigefügten ISBN-Nummern) sucht. Und tatsächlich gelingt es Belhomme dabei ein wenig, jene Stimmung eines Konzerts im Buchladen einzufangen, bei dem die Konzentration auf die Musik von den Blicken zu und in die Bücher, von der Wahrnehmung der Atmosphäre, von kurzen Reflektionen darüber, was man da aufblättert, während man zugleich zuhört, unterbrochen, aber durchaus auch bereichert wird. Ein ungewöhnliches, durchaus inspirierendes Experiment, das den Leser / Hörer quasi subkutan auf die Komplexität der Wahrnehmung von Musik aufmerksam macht.

Wolfram Knauer (März 2017)


Spirits Rejoice! Jazz and American Religion
von Jason C. Bivins
New York 2015 (Oxford University Press)
369 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-023091-3

Jazz und Spiritualität sind für viele Musiker eine zusammenhängende Einheit. Duke Ellington, John Coltrane, Albert Ayler, Rahsaan Roland Kirk, Yusef Lateef, Anthony Braxton – die Liste der Musiker, für die ihre musikalische immer auch eine spirituelle Suche war, ist lang. Der Religionswissenschaftler und Jazzgitarrist Jason Bivins beleuchtet in seinem Buch dieses Verhältnis zwischen Religion und Musik anhand zahlreicher Beispiele und legt, gerade weil er seine Studien aus der Perspektive eines Religionsforschers und mit dem Wissen eines Jazzers macht, ein wichtiges Buch vor, in dem das Thema weit fundierter angegangen wird als in vielen Biographien der bereits genannten Musiker.

In seinen “ersten Meditationen” zum Thema stellt Bivins fest, dass Jazz genauso wie Religion in ihrer jeweiligen Individualität der Wahrnehmung schwer fassbare Gebilde seien. Er weiß um die ganz unterschiedlichen Ausprägungen des Religiösen oder Spirituellen gerade in der Musik, die irgendwo zwischen Ritual und Weltforschung liegt. Er fragt, wie sich das spirituelle Umfeld, aus dem Musik heraus initiiert oder rezipiert wird, auf die Musik selbst auswirkt. Er befasst sich mit konkreten Traditionen, auf die Jazz sich immer wieder bezog. Er betrachtet Beispiele, in denen mit Jazz amerikanische Geschichte genauso wie religiöse Aspekte derselben dargestellt werden. Er befasst sich mit Jazz in religiös-musikalischer Praxis. Er hinterfragt das Klischee von Jazz als rituelle oder heilende Praxis. Er diskutiert Verweise im Jazz auf Mystizismus, Selbstlosigkeit, die klangliche Verbindung zu einem höheren Wesen. Es untersucht Kosmologien und metaphysische Theorien im Jazz. Er will damit nicht nur Aspekte der Jazzgeschichte durch ihre Verankerung in religiösen Praktiken erklären helfen, sondern zugleich die Religionsgeschichte in den USA seit den 1920er Jahren mithilfe ihres Widerhalls im Jazz beleuchten.

Bivins geht dabei weder chronologisch vor noch versucht er seine Thesen an zentralen Figuren festzumachen, wenn es auch an konkreten Beispielen nicht mangelt in seinem Buch. Natürlich spielt der Einfluss der schwarzen Kirche auf viele afro-amerikanischen Musiker eine wichtige Rolle. Er beschreibt das Zeugnis ablegende (“testifyin'”) Tenorsaxophonspiel Albert Aylers. Er findet Spiritualität in Charles Gayles Bühnen- genauso wie Straßenmusikauftritten. Er fragt nach den Gründen von Jazzmusikern zum Islam, zum Buddhismus, zum Bahá’í, zur Scientology zu konvertieren und ihre Reflektion über die jeweilige religiöse Praxis und ihre Auswirkung auf ihre Musik. Er befasst sich mit den Ausprägungen des “Radical Jewish jazz” und mit der Idee einer imaginären Folklore in den Vereinigten Staaten.

Er beschäftigt sich mit Beispielen, in denen Jazzmusiker bzw. ihre Werke religiöse Geschichte erzählen und verwebt dabei eng religiöse und politische Aussagen, etwa in den Aufnahmen von Charles Mingus, Archie Shepp, Max Roach und Abbey Lincoln. Auch der Saxophonist Fred Ho und sein Einsatz für einen Asian American Jazz kommen zur Sprache sowie Sun Ras Verweise auf weltumspannende Verbindungen, die weit über den Planeten Erde hinausreichen. Er geht auf Ellingtons “Sacred Concerts” ein und widmet eine längere Passage John Carters Komposition “Roots and Folklore”, die, wie er findet, ein würdiger Träger des Pulitzer Preises gewesen wäre, den Wynton Marsalis später für sein Oratorium “Blood On the Fields” erhielt.

Er entdeckt im Bemühen von Musikern seit den 1950er Jahren sich zu organisieren neben den politischen auch spirituelle Gründe, wie er etwa am Beispiel der AACM und der Black Artists Group zeigt. Die von Horace Tapscott gegründete Underground Musicians Association, die Saint John Coltrane African Orthodox Church und Alice Coltranes Ashram sind für ihn konkrete Beispiele, wie Jazz als spirituell-religiöses Ritual gelebt und zelebriert werden kann.

Im zweiten Teil seines Buchs beschäftigt sich Bivins mit den engen Verbindungen zwischen Ritual und Improvisation, nennt Beispiele aus dem Schaffen von Duke Ellington, Mary Lou Williams, Milford Graves, Cecil Taylor, bezieht sich aber auch auf das Feld des afro-kubanischen Jazz, auf Steve Colemans Studien zur Yoruba-Kultur und auf die Musik des Art Ensembles of Chicago.

Ein eigenes Kapitel befasst sich mit Meditation und Mystizismus und verweist dabei auf Musiker wie Steve Lacy, Arthur Blythe, William Parker und Davis S. Ware. Ornette Colemans Harmolodics und George Russells Lydian Chromatic Concept werden von Bivins nicht allein als musiktheoretische Abhandlungen verstanden, sondern als Beispiel für kosmologische und metaphysische Versuche Jazz, Improvisation, ja Musik ganz allgemein zu fassen. In dieses Kapitel gehören auch Anthony Braxtons Tri-Axium-System und Wadada Leo Smith’ Ankhrasmation.

In seinem Schlusskapitel stellt Bivins dann noch einmal klar, dass die Auseinandersetzung mit Jazz oder mit Religion notwendigerweise eine fragmentarische sein muss, dass beide Praktiken ein Versuch sind, sich der Komplexität der Welt zu nähern, unsere eigene Sicht aber immer durch das geprägt ist, was wir bereits “wissen”. Für einige sei Musik wie Religion, weiß er, das aber beinhalte weit mehr als die pure Hingabe. Wie die Religion in amerikanische (und weltweiter) Geschichte, habe auch die Musik subversive Funktionen gehabt, habe Einfluss auf die Wahrnehmung der Realität genommen und diese damit ändern können.

Bivins’ Entscheidung, keine klar strukturierte Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Jazz und verschiedenen Ausprägungen von Spiritualität zu wählen, sondern stattdessen Themen zu identifizieren und von verschiedenen Seiten zu beleuchten, führt dazu, dass man auch als Leser die Vorstellung von Religion, Spiritualität, Ritual weiter fasst. Wo man zu Beginn der Lektüre von der sehr offenen Fassung der Begriffe noch ein wenig irritiert sein mag, da ist man dem Autor am Ende genau dafür dankbar, da er es schafft, auch beim Lesen die schnellen Analogien zu vermeiden. Bivins gelingt es, diesen offenen Geist in seine Leser zu übertragen – für den europäischen Leser dann auch in Richtung all der Themen, die sich hierzulande in die verschieden Kapitel einflechten ließen.

Wolfram Knauer (März 2017)


Omniverse Sun Ra
von Hartmut Geerken & Chris Trent
Wartaweil 2015 (Waitawhile Books / Art Yard)
304 Seiten, 69 Euro
ISBN: 978-0-9933514-0-2

Von 1994 stammt das damals im LP-Schallplattenformat veröffentlichte, von Hartmut Geerken und Bernhard Hefele herausgegebene Buch “Omniverse Sun Ra”. Jetzt erschien eine Neuauflage dieses Werks, das das Universum des Meisters aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben versucht.

Geerken war in den 1960er bis 1980er Jahren Institutsleiter verschiedener Goethe-Institute. Als Perkussionist hat er daneben mit zahlreichen Musikern vor allem aus dem Bereich der improvisierten Musik zusammengearbeitet. In Jazzkreisen ist er dabei insbesondere als Kenner des Oeuvres Sun Ras bekannt und war für Konzerte des Arkestra verantwortlich, etwa 1971 in Kairo, wo er seinerzeit fürs Goethe-Institut wirkte. Sein Buch von 1994 war eine kleine Sensation für die Aufarbeitung des Ra’schen Oeuvres; die Neuauflage ist nicht weniger willkommen.

Was übernommen wurde: Amiri Baraka beginnt das coffeetable-große Buch mit einem einleitenden, sehr persönlichen Text über den Meister. Robert Campbell erzählt die irdische Biographie Herman Blounts von seiner Geburt in Birmingham, Alabama, im Jahr 1914 bis zu seinem Tod im Mai 1993 und ordnet zugleich die verschiedenen Besetzungen und musikalischen Phasen seines Schaffens zu. Sigrid Hauff untersucht die mythologische und spirituelle Welt, die Sun Ra musikalisch genauso wie in Texten oder Interviews heraufzubeschwören versuchte. Chris Cutler ordnet sein musikalisches Schaffen in den größeren Kontext von Jazz und afro-amerikanischer Musikgeschichte ein. Robert Lax versammelt mehr oder weniger unzusammenhängende Gesprächsfetzen, Bonmots und Aphorismen des Pianisten, Komponisten, Bandleaders und spirituellen Philosophen. Salah Ragab berichtet über Konzerte des Arkestra in Ägypten in den Jahren 1983 und 1984. Karlheinz Kessler hinterfragt die Verwendung von Ritualen in den Performances der Band. Gabi Geist schreibt ein Horoskop für jemanden, der immer sagte, dass sein Geburtstag und -ort höchstens irdisch seien, tatsächlich aber seiner Herkunft nicht gerecht würden. Hartmut Geerken schließlich erinnert sich an den Besuch des Arkestra in Ägypten im Dezember 1971. Zwischendrin finden sich zahlreiche Fotos, viele davon von der britischen Fotografin Val Wilmer.

Was neu ist: Ein Text Bernhard Helefes entfällt in der Neuauflage. Den ausführlichen diskographischen Teil des Buchs hat Chris Trent neu geordnet. Wieder gibt es einen umfangreichen Bildteil, der die Plattencovers zeigt.

“Omniverse Sun Ra” war schon in der ersten Ausgabe von 1994 eine labor of love. Die neue Ausgabe hat einen Hardcover-Einband, ein etwas handlicheres Format, einen Block mit Farbfotos der Band, die im früheren Buch nicht enthalten waren. Es verzichtet auf die Tapeologogy, also die Auflistung oft privater Konzertmitschnitte, sowie auf die ausführliche Bibliographie der früheren Ausgabe.

“Omniverse Sun Ra” bleibt bei alledem ein großartiges Buch, das in Wort, Bild und Tonträgerverweisen als hervorragendes Nachschlagewerk über die Welt und Weltsicht Sun Ras genauso zu nutzen ist wie als eine Dokumentation, in der auch “Nachgeborenen” die Bühnenperformance des Arkestra vor Augen geführt wird.

Wolfram Knauer (März 2017)


A City Called Heaven. Chicago and the Birth of Gospel Music
von Robert M. Marovich
Urbana/IL 2015 (University of Illinois Press)
488Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08069-2

Gospelmusik, erklärt Robert Marovich, Rundfunkmoderator, Herausgeber des Journal of Gospel Music und Musikhistoriker, sei die künstlerische Antwort auf die Great Migration gewesen, in der tausende und abertausende Afro-Amerikaner zu Beginn des 20sten Jahrhunderts aus den Südstaaten in den Norden zogen und insbesondere in Städten wie Chicago ein neues Zuhause fanden. Blues, sagte Mahalia Jackson einmal, seien Lieder der Verzweiflung gewesen, Gospel dagegen Lieder der Hoffnung. Das Genre, erklärt Makovich in seinem Buch, das sich auf die Verankerung der Musik im Chicago des 20sten Jahrhunderts fokussiert, sei wie eine soziale Organisation organisiert gewesen, die jeden, egal wie gut er oder sie singen konnte, willkommen geheißen hätte.

In seinem Buch beschreibt Marovich die Entwicklung der Gospelmusik von frühen Hymnen und Camp Meetings über die beschriebene Great Migration und die lebendige Gospelszene von Chicago bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sounds, Rhythmen und der Enthusiasmus dieser Musik Eingang in die Popmusik fanden und schließlich zur Begleitmusik der Bürgerrechtsbewegung wurden. Er greift auf Interviews und selten ausgewertete historische Quellen zurück, um die Einbettung der Musik in die Community zu beschreiben; er entdeckt die Bedeutung von Predigern, deren eindringliche Sermons ab den 1920er Jahren ja sogar auf Schallplatte veröffentlicht wurden; er berichtet von frühen Aufnahmen für das noch junge Radio genauso wie für die aufstrebende Plattenindustrie. Er geht auf weithin bekannte Gospel-Künstler ein, Thomas A. Dorsey etwa oder Mahalia Jackson, genauso aber auch auf weniger, oft nur lokal bekannte Musikerinnen und Musiker. Er weiß um die Hintergründe der Gospeltourneen, die in den 1930er Jahren große Erfolge feierten, und er beschreibt die Entwicklung des Gospelquartetts über die Jahre.

Die Zuwanderung nach Chicago aus dem Süden hielt bis in die 1940er Jahre an und vermittelte der Gospelmusik damit über lange Jahre jene wichtige Funktion des Haltgebens in der Fremde. Radio- und frühe Fernsehshows nahmen sich des Genres an, und immer mehr wurde Gospel auch zu einem kommerziellen Produkt. In seiner Übersicht über die verschiedenen Stränge des Genres kennt Marovich alle Solisten, Bands, Quartette und Chöre und beschreibt sowohl ihre Einbindung in die örtliche kirchliche Gemeinschaft wie auch ihr sehr unterschiedliches Verhältnis zur Plattenindustrie. Mitte der 1950er Jahre fiel der Gospelmusik schließlich eine neue Rolle zu, als Mahalia Jackson zu einer glühenden Vertreterin des Civil Rights Movement und einer engen Verbündeten Dr. Martin Luther Kings wurde.

Die große Zeit des Gospel war mit dem Tode Mahalia Jacksons und Roberta Martins vorbei; und hier endet auch Marovichs Buch, mit einem nur kurzen Ausblick auf die Gegenwart. “A City Called Heaven” ist ungemein detailreich, dadurch stellenweise etwas mühsam zu lesen, aber durch einen umfangreich aufgeschlüsselten Index ein gutes Nachschlagewerk zum Thema. Marovich zeigt anhand der Gospelmusik in Chicago, wie sich sich Genre- und Stadtgeschichtsschreibung miteinander verbinden lassen, weil die Nöte und Zwänge des Lebens in der Großstadt letztlich die Entwicklung einer Musik als spirituelles Gegengewicht befördert haben.

Wolfram Knauer (Januar 2017)


La Nuée. L’AACM: un jeu de société musicale
von Alexandre Pierrepont
Marseille 2015 (Éditions Parenthèses)
443 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-2-86364-669-4

2008 veröffentlichte George E. Lewis sein Buch “A Power Stronger Than Itself. The AACM and American Experimental Music”, das die musikalische und ästhetische Welt der Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago seit den 1960er Jahren aus der Ecke einer “nur” afro-amerikanischen Avantgarde holte und zeigte, wie sehr die darin Aktiven Teil eines generellen und weit über Amerika hinausreichenden künstlerischen Diskurses waren und sind.

Im Vorwort seines Buchs über die AACM schildert Alexandre Pierrepont, wie es dazu kam, dass er sich als Anthropologe entschied, eine Studie zur AACM zu schreiben, wie er mittendrin von Lewis’ Arbeit erfuhr und sofort bereit war, mit seinem eigenen Projekt zurückzustecken. Lewis aber habe ihn zum Weitermachen ermutigt: Sein Buch sei eine Innenansicht, so Lewis, ein so komplexes Thema aber brauche immer mehrere Perspektiven, und Pierreponts Arbeit könne vielleicht eine sinnvolle Außenansicht bieten. Und so ist mit “La Nuée” (“Der Schwarm”) jetzt ein zweites umfangreiches Buch auf dem Markt, das die AACM von den 1960er Jahren bis heute als einen künstlerische Ansatz beschreibt, der weit über die erklingende oder auf Tonträgern dokumentierte Musik hinausreicht, vor allem nämlich in den daran beteiligten Akteuren ein Selbstbewusstsein geschaffen hat, das sie weit über den Kreis des Jazz, der afro-amerikanischen oder sogar der amerikanischen Musik hinaus einordnen lässt.

Pierrepont präsentiert im ersten Kapitel 25 Gründe warum, und Erklärungen wie Afro-Amerikaner in den USA ausgegrenzt oder marginalisiert wurden. Er zeigt, dass Musik gerade in diesem Zusammenhang wichtige soziale Funktionen übernahm. Er schildert die Situation in Chicago und erklärt, wie sich hier ab den 1950er Jahren eine aktive experimentelle Musikszene herausbildete. Im zweiten Kapitel beschreibt er die Idee hinter der AACM, die unterschiedlichen Ensembles und Projekte, die aus dem Kreis der Musiker entstanden, die europäische Erfahrung von Mitgliedern etwa des Art Ensemble of Chicago zwischen den Jahren 1969 und 1974, die Verbindungen zwischen der Chicagoer und der New Yorker Avantgarde-Szene ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre (die viel damit zu tun hatte, dass etliche Chicagoer Musiker inzwischen an die Ostküste umgezogen waren), sowie den Einfluss der AACM und ihres Konzepts auf europäische Improvisations-Kollektive.

Im dritten Kapitel untersucht Pierrepont die AACM als Kooperative und Verein, als Geheimbund und Brüderschaft, als sozio-musikalische Bewegung und Weltschule, beschreibt ihre formale Organisation, aber auch die “respectful anarchy”, die sich aus ihren Verbindungen etwa zum Black Arts Movement und anderen auch politisch aktiven Organisationen ergaben. Dabei sei sie bis heute eine Vereinigung afro-amerikanischer Musiker geblieben. Egal ob in Tongebung, Improvisation oder Komposition sei eines der verbindenden Merkmale der aus der AACM entstandenen Musik zum einen die Betonung von Individualität, zum zweiten aber auch das Einbringen des Subjekts in kollektive Prozesse. Pierrepont beschreibt pädagogische Konzepte, die sich aus den Schulprojekten der Association ergaben, und umreißt musikalische als soziale Verbindungen und die daraus resultierenden Gruppenzugehörigkeits-Prozesse. Im vierten Kapitel beschreibt er die Offenheit der AACM-Mitglieder gegenüber Genre, kompositorischen und improvisatorischen Experimenten, der Verwendung und Aneignung im Jazz bislang eher unüblicher Instrumente, der Weiterentwicklung elektronischer Klang- (und musikalischer Reaktions)möglichkeiten, sowie der Arbeit im Solo- und großorchestralen Kontext. Das Art Ensemble of Chicago warb mit dem Slogan “Ancient to the Future”, und in dieser Haltung, dass die Formung jedweder (künstlerischen) Zukunft sich auf die eigene Interpretation der Vergangenheit beziehe, sieht Pierrepont eines der Geheimnisse hinter der Langlebigkeit der AACM als Organisation. “Ich ziehe die Mythokratie der Demokratie vor”, zitiert er Sun Ra. “Noch vor der Geschichte. Alles vor der Geschichte sind Mythen… Das ist der Ort, an dem die Schwarzen sind. Realität ist gleich Tod, weil alles, was real ist, einen Anfang und ein Ende hat. Die Mythen sprechen vom Unmöglichen, von Unsterblichkeit. Und da alles Mögliche bereits versucht wurde, müssen wir eben das Unmögliche versuchen.”

Alexandre Pierreponts Studie zur AACM bietet eine gelungene Interpretation dessen, wofür die Association for the Advancement of Creative Musicians stand und steht, eine Einordnung ästhetischer wie gesellschaftlicher Vorstellungen und Aktivitäten aus der Gruppe, und den Versuch, das alles in Verbindung zu bringen mit ästhetischen, kritischen, philosophischen und spirituellen Aspekten, die weit über die Arbeit der AACM-Mitglieder hinausgehen. Ihm ist dabei, in Gesprächen mit Musikern, in den Beschreibungen von Konzert- und Aktionssituationen, in der historischen genauso wie der anthropologischen Einordnung all dessen ein kluges Buch gelungen, das die Rolle der AACM im Jazz genauso zu verorten in der Lage ist wie in der aktuellen Musik des 20sten (und letzten Endes auch 21.) Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Jazz Tales from Jazz Legends. Oral Histories from the Fillius Jazz Archive at Hamilton College
Von Monk Rowe (& Romy Britell)
Rochester 2015 (Richard W. Couper Press)
209 Seiten, 20 US-Dollar
ISBN: 978-1-937370-17-6

Das Hamilton College ist eine relativ kleine Hochschule in Clinton, New York. Einer ihrer Absolventen, Milt Fillius Jr., zog nach seinem Diplom ans andere Ende des Landes, nach San Diego, hielt aber Kontakt zu seiner Alma Mater. Er liebte Jazz und er war ein guter Freund des Sängers Joe Williams, der 1988 die erste Ehrendoktorwürde des Hamilton College erhielt. Im Gespräch mit Williams und dem Bassisten Milt Hinton wurde Fillius bewusst, wie viel an Wissen über den Jazz tatsächlich nur in der Erinnerung der Musiker bewahrt und wie wichtig Oral History gerade in diesem Bereich ist. Er etablierte also ein umfassendes Interview-Projekt, für das mittlerweile weit über 300 Künstler/innen in Ton und Bild festgehalten wurden. Die Interviews, von denen viele der Hamilton-Archivar Monk Rowe selbst durchführte, dokumentieren die Welt des Swing genauso wie die des modernen Jazz. Die meisten dieser Erinnerungen sind auf der Website des Hamilton College nachzulesen; eine für die Jazzforschung ungemein hilfreiche Sammlung. Es handelt sich bei den Interviewten nicht unbedingt um die großen Stars der Jazzgeschichte, obwohl etwa mit Lionel Hampton, Nat Adderley, Herbie Hancock, James Moody, Oscar Peterson, Ruth Brown und anderen auch solche vertreten sind. Viele der Musikererinnerungen stammen stattdessen von Sidemen, die über ihre Zeit in den großen Bands berichten, über das Leben “on the road”, über die alltäglichen Probleme eines reisenden Musikers, über Rassismus und vieles mehr

In “Jazz Tales from Jazz Legends” zeigt Monk Rowe, was man aus diesen Interviews so alles lernen kann. Er filtert konkrete Themen heraus, für die er dann die verschiedenen Erfahrungen der Interviewten gegenüberstellt. Das Anfangskapitel widmet sich Joe Williams, dann folgt ein Abschnitt über das Schicksal der Sidemen bei Duke Ellington, Count Basie, Benny Goodman und in anderen Bigbands. Clark Terry erzählt etwa, wie der Duke ihn bei Basie abwarb, erinnert außerdem, was er bei beiden Bandleadern lernte, und Benny Powell weiß zu berichten, dass Basie ihm in den zwölf Jahren in der Band nie förmlich bestätigt habe, dass er engagiert sei. Im Kapitel “Road Travails” erzählen Eddie Bert von seiner Zeit bei Benny Goodman, Sonnie Igoe von einer Tournee mit Woody Herman, Bucky Pizzarelli vom Reisen mit dem Vaugn Monroe Orchestra, Jay McShann vom Problem mit schlechten Klavieren “on the road”, Jimmy Lewis von einem angst-machenden Flug mit der Basie-Band, Kenny Davern vom Stress, die 60 One-Nighters in 90 Tagen erzeugen können, Lanny Morgan darüber, dass die Gage oft von Hotel- und Reisekosten aufgefressen wurde, die die Musiker aus eigener Tasche zahlen mussten. “Arranging the Notes” heißt ein weiteres Kapitel, das sich mit den Ansprüchen an die Arrangeure der Bands befasst. Dick Hyman, Mike Abene, Bill Holman, Derrick Gardner, Ray Conniff, Manny Albam erzählen darin von der Arbeit eines Bandarrangeurs genauso wie von den Anforderungen an andere Arten von Musik, etwa für Hollywood; Lew Soloff erinnert sich an die Arrangements für Blood Sweat & Tears, und Dave Rivello und Maria Schneider geben einen Ausblick darauf, wie die Arbeit eines Arrangeurs im 21sten Jahrhundert funktioniert.

“Inside the Studio” ist ein Kapitel über Aufnahmeerfahrungen überschrieben, in dem sich Doc Cheatham an seine erste Platte mit Ma Raney erinnert, Richard Wyands einen typischen Aufnahmegig aus dem Jahr 1959 beschreibt, Orrin Keepnews erzählt, was Musikern für Aufnahmesitzungen üblicherweise bezahlt wurde, und Dick Hyman und Derek Smith verraten, dass sie sich natürlich auch mit Musik für Fernsehwerbung über Wasser halten mussten. Man müsse nicht alles mögen, was da im Studio produziert werde, erklärt Hyman, man müsse sich aber anstrengen, das, was von einem gefordert werde, möglichst gut zu spielen. Rassismus war für viele der interviewten Musiker ein täglich erlebtes Thema, und im Kapitel “The Color of Jazz” kommt auch dies zur Sprache. Clark Terry und Joe Williams haben genügend eigene Erlebnisse; Sonny Igoe erzählt, wie er auf einer Tournee durch den Süden, bei der er im Bus mit dem Art Tatum Trio mitreiste, als “White Trash” angepöbelt und aufgefordert wurde, er solle den Bus gefälligst verlassen. Louie Bellson und Red Rodney haben ähnliche Erinnerungen, und Frank Foster fasst zusammen, dass der Jazz zwar aus der schwarzen Erfahrung heraus geboren worden sei, dass der Melting Pot Amerika ihn aber schon seit langem zu einer amerikanischen, wenn nicht gar globalen Musik gemacht habe.

Im Kapitel “Thoughts on Improvisation” geben Marian McPartland, Clark Terry, Bill Charlap, Charles McPherson und andere Tipps, wie man sich der Improvisation nähern könne. Ken Peplowski fasst zusammen: “Lern es, dann vergiss es wieder!”, und Randy Sandke reflektiert, was während eines Solos so alles durch seinen Kopf ginge. Schließlich äußern sich Gary Smulyan, Ralph Lalama und Jan Weber über die Möglichkeit und die Chancen “falscher Töne” im Jazz. “Motivation and Inspiration” ist ein Kapitel überschrieben, das Erinnerungen an persönliche Einflüsse beinhaltet. Keter Betts etwas erzählt, dass er als Schlagzeuger begonnen habe und durch Milt Hinton (und reichlich Zufall) zum Bass gekommen sei. John Pizzarelli kam über die Beatles zur Gitarre, Kenny Davern übers Radio bei einer der Pflegefamilien, bei denen er aufwuchs, bis er sechs Jahre alt war, und auch Junior Mance war von Earl Hines begeistert, dem er spätabends heimlich im Radio lauschte. Jon Hendricks berichtet, wie er dazu kam, improvisierte Instrumentalsoli zu textieren. Und Eiji Kitamura erinnert sich, wie eine Platte von Benny Goodman in der Sammlung seines Vaters ihn zur Klarinette brachte. Schließlich gibt es im Schlusskapitel noch ein paar Haltungen zum Phänomen des Swing und zum Missverständnis des Free Jazz sowie Erinnerungen an unglücklich gelaufene Engagements und über die Arbeit mit Legenden.

“Jazz Tales from Jazz Legends” ist also ein vielfältiges Buch, das jede Menge unterschiedlicher Erfahrungen zusammenbringt. Zu Beginn der Lektüre wünscht man sich, die einzelnen Interviews im Zusammenhang zu lesen, aber das ist ja tatsächlich möglich, über die Website des Fillius Jazz Archive am Hamilton College. Und so sollte man Monk Rowes thematische Zusammenstellung als das sehen, was sie ist: ein exzellentes Beispiel, wie sich aus den gesammelten Interviews am Hamilton College Narrative zu den unterschiedlichsten Themengebieten der Jazzgeschichte exzerpieren lassen. Dann lässt sich umso interessanter verfolgen, wie die Interviews sich gegenseitig ergänzen und die unabhängig voneinander Befragten dabei fast miteinander ins Gespräch zu kommen scheinen.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Swingin’ On Central Avenue. African American Jazz in Los Angeles
von Peter Vacher
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
331 Seiten, 55 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8832-6

2015vacherJazzgeschichtsschreibung funktioniert normalerweise so: Louis Armstrong – Charlie Parker – Miles Davis – John Coltrane. Oder so: New Orleans – Chicago – Kansas City – New York. Oder so: Dixieland – Swing – Bebop – Cool Jazz – Hard Bop – Free Jazz – Fusion. Personen, Orte, Epochen… eine Geschichte der großen Männer (!), der lebendigen urbanen Szenen, der alles umwälzenden stilistischen Innovationen. Tatsächlich aber ist dieser Blick auf die Größen, die Zentren, die Stilbegriffe enorm einengend, wenn nicht gar: einfach nur falsch. Neben den großen Stilisten gibt es immer auch diejenigen, deren Kreativität entweder nicht den großen populären Erfolg hatte oder aber nicht lange genug anhielt, oder die sich einfach weniger gut “verkaufen” konnten. Neben den jazzgeschichtsmäßig bekannten Zentren gab es Städte und Landstriche, die musikalisch enorm lebendig waren, viele Musiker hervorbrachten, aber von der Geschichtsschreibung höchstens als potentielle Spielorte, nicht als Brutstätten dieser Musik dargestellt wurden. Und neben den etablierten Stilen gibt es unendlich viele Zwischenstufen, da kaum ein Musiker sich eines Stils “in Reinkultur” bediente”. Ganz davon zu schweigen, dass sich die meisten Jazzgeschichten, ja selbst die meisten Biographien an Aufnahmen entlanghangeln und dabei gern den performativen Aspekt des Jazz vergessen, die Tatsache also, dass die veröffentlichte Platte nur eine Momentaufnahme des kreativen Prozesses ist.

Peter Vacher füllt mit seinem Buch also eine Lücke. Er widmet es einer Szene, die nie so ganz im Mittelpunkt des Jazz stand (Los Angeles), und er fokussiert dabei auf Musiker, die höchstens regionale Stars blieben und kaum nationalen oder gar internationalen Erfolg einfuhren. Vacher ist Außenseiter (Brite); er kam im Laufe des Trad-Jazz-Booms der 1950er Jahre zum Jazz. In den 1980er Jahren arbeitete er mit dem Klarinettisten Joe Darensbourg an dessen Autobiographie, verbrachte währenddessen einige Zeit in Los Angeles und lernte damals Veteranen der schwarzen Musikszene der Westküstenmetropole kennen. Die Interviews, die er mit den sechzehn in diesem Buch dokumentierten Musikern führte, hatten ursprünglich nicht das Ziel einer Buchveröffentlichung, sondern dienten einzig seinem privaten Interesse an ihrer Geschichte. Wenige konnte er ein zweites Mal interviewen, bei anderen fühlte er sich im Nachhinein schlecht vorbereitet. Dennoch geben die Geschichten, die er anhand dieser 16 Musiker erzählt, einen Einblick in eine so ganz andere Musikszene als die an der Ostküste. Die Westküstenmusiker waren flexibel; sie spielten Jazz genauso wie R&B oder Dixieland. Viele von ihnen verdienten sich ihren Lebensunterhalt in den Studios Hollywoods, und viele zog es vielleicht mal für eine Tournee, selten aber für immer fort aus Kalifornien. Und wenn auch diese Szene Jazzgrößen wie Dexter Gordon, Wardell Gray, Teddy Edwards und Charles Mingus hervorbrachte, wenn auch Legenden wie Benny Carter, Red Callender und Buddy Collette von hier aus agierten, so blieb Los Angeles doch ein weitgehend ungeschriebenes Kapitel der US-amerikanischen Jazzgeschichte.

Die von Peter Vacher interviewten Musikern stammen aus der älteren Generation, und dokumentieren die Szene vor allem der 1930er bis 1950er Jahre. Noch weiter zurück geht es in den Erzählungen des Trompeters Andy Blakeney , der von seinen ersten musikalischen Erfahrungen im Chicago der 1920er Jahre berichtet, von seinem Umzug an die Westküste im Jahr 1925, von Reb Spikes, der ein Musikgeschäft in L.A. besaß und außerdem eine gut beschäftigte Band. Er erinnert an viele der Musiker in der Stadt und an Partys bei Orson Welles. Er erzählt aber auch von der Rassentrennung in der Stadt, und von den legendären Gigs, die Louis Armstrong und Duke Ellington Anfang der 1930er Jahre in Sebastian’s Cotton Club hatten, von Tagesjobs in einer Schiffswerft, von Gigs mit Kid Ory und Barney Bigard, und von verschiedenen Comebacks in den 1970er und 1980er Jahren. Beim Pianisten Gid Honoré musste Vacher erst Street Credibility beweisen (dadurch, dass er den Schlagzeuger Wallace Bishop kannte), bevor der sich zu einem Interview bereitfand. Honoré kam 1921 aus New Orleans nach Chicago und erzählt von den vielen Ensembles, mit denen er in den 1920er bis 1940er Jahren dort spielte – oft Bands alter Freunde aus New Orleans. 1948 zog er an die Westküste, wo er mit Kid Ory und Teddy Buckner spielte – seine Erinnerungen an die Szene in L.A. nehmen dabei gerade einmal ein Fünftel seines Kapitels ein. Der Trompeter George Orendorff hatte in den 1920er Jahren King Olivers Creole Jazz Band mit Louis Armstrong in Chicago gehört, kurz bevor er nach L.A. zog. Er erzählt vom Engagement in der Band von Les Hite, in der als Schlagzeuger Lionel Hampton mitwirkte, oder von einem Abend, an dem Fats Waller Bach und Beethoven spielte. 1946 war er im Billy Berg’s Club, als Dizzy Gillespie dort mit Charlie Parker spielte. Orendorff arbeitete schließlich 30 Jahre lang als Postbeamter und trat nur noch selten auf. Jeder in Los Angeles kannte den Schlagzeuger Monk Fay, den Vacher aber erst nach intensiver Suche in einem Seniorenheim fand. Der erzählt von seiner Popularität in Hawaii, von einer Gefängnisstrafe wegen Dealens mit Marihuana und von Gigs in Los Angeles in den 1940er und 1950er Jahren. Der Saxophonist Floyd Turnham erinnert sich an Britt Woodman und an Aufnahmen mit Johnny Otis; die Sängerin Betty Hall Jones weiß noch, wie Nellie Lutcher ihr einen Vertrag bei Capitol Records verschaffte. Der Trompeter Red Mack Morris war in Les Hites Band, als diese Louis Armstrong begleitete und führte später eine Weile einen eigenen Club, in dem er schwarz Alkohol ausschenkte. Der Klarinettist Caughey Roberts erzählt von seinen Lehrern und davon, wie er schließlich selbst unterrichtete, daneben aber auch von einer Reise nach China mit Buck Clayton, über seine Arbeit mit Count Basie und Fats Waller in den 1930er Jahren und über seine Dixieland-Aufnahmen in den 1950ern. Der Pianist Chester Lane war ein großer Fan von Earl Hines, arbeitete lange Zeit um St. Louis, und zog 1957 an die Westküste. Der Trompeter Monte Easter erinnert sich, wie er und Art Farmer Ende der 1940er Jahre in Jay McShanns Band saßen, berichtet über die Probleme der afro-amerikanischen Gewerkschaften und über seinen Broterwerb als Postbediensteter. Der Bassist Billy Hadnott erzählt ausführlich von seinen musikalischen Erlebnissen in Kansas City und hat seine eigene Erinnerung daran, wie Charlie Parker ins Sanatorium von Camarillo kam. Der Trompeter Norm Bowden weiß einiges über Reb Spikes und den Schlagzeuger “Boots” Douglas zu berichten, aber auch über den Club Alabam im berühmten Dunbar Hotel auf der Central Avenue. Der Posaunist John ‘Streamline’ Ewing hatte anfangs gut bezahlte Nebenjobs in den Hollywoodstudios, ging dann auf Anregung eines Musikerkollegen nach Chicago, tourte mit Bands wie denen von Horace Henderson und Earl Hines und spielte ab den 1950er Jahren mit Teddy Buckner in Disneyland. Der Saxophonist Chuck Thomas spielte vor allem in der Küstenregion (bis Las Vegas) und zuletzt ebenfalls mit Teddy Buckner. Der Schlagzeuger Jesse Sailes erinnert sich, wie all die großen Swingbands in den Theatern von Los Angeles auftraten und wie er später Platten mit Percy Mayfield, Ray Charles und B.B. King aufnahm. Der Schlagzeuger Minor Robinson spielte mit Buddy Collette und kannte Charles Mingus, als dieser vielleicht 15, 16 Jahre alt war.

Es sind persönliche Geschichten, von Sidemen-Karrieren und außermusikalischen Lebensentscheidungen. Die Namen wiederholen sich; aus den Erzählungen schält sich dabei eine Szene heraus, die zusammenhielt, auch wenn einzelne der Musiker die Stadt für kürzer oder für länger verließen. Peter Vacher beschreibt zu Beginn eines jeden der Kapitel, wie er den Musikern auf die Spur kam und erklärt einzelne der von den Interviewten mitgeteilten Anekdoten. Nebenbei erzählen diese von der Mobilität des Musikerberufs, von Karrieren, die in New Orleans oder Chicago begannen oder in Kansas City und New York Station machten, deren Protagonisten aber, nachdem sie kalifornische Luft geschnuppert hatten, von dieser nicht mehr loskamen. Es gibt schöne Geschichten über das Zusammentreffen des West-Coast-Größen mit durchreisenden Stars der großen Swingbands; es gibt Insiderberichte über alle möglichen Aspekte des Showbusiness’; es gibt immer wieder den Anruf aus der Ferne, der ihnen einen Job in einer der “name bands” anbietet, den sie entweder für kurze Zeit annehmen oder aber ablehnen. Es gibt Geschichten über Familienplanung und solche über Tagesjobs, mit denen man die Familie ernähren konnte. Central Avenue spielt eine bedeutende Rolle, jene Straße, die in Teilen zu einem kulturellen Zentrum der afro-amerikanischen Community der Stadt wurde.

Peter Vacher hat die Gespräche laufen lassen; sein ursprüngliches Interesse galt der Lebensgeschichte der Musiker, weniger dem Treiben in Los Angeles. Und so nehmen die Erinnerungen an Chicago oder Kansas City oft mehr Raum ein als die aktuelle Lebenswirklichkeit des Ortes, an dem die interviewten Musiker schließlich landeten. Doch wird eine Szene eben nicht nur durch das geprägt, was Musiker in ihr kreieren, sondern auch durch alles, was sie aus ihrer Vergangenheit mitbringen. Von daher ist Vachers Ansatz völlig richtig, die Geschichte der Central Avenue durch die Einflüsse zu erzählen, die hier zusammenkamen.

Beim Lesen wünschte man sich stellenweise entweder einen knappen biographischen Abriss vor oder nach den Kapiteln oder aber das Einstreuen von Jahreszahlen, um die Erinnerungen der Musiker besser einordnen zu können. Wer bei Los Angeles an die Westcoast-Szene denkt, sei gewarnt: alle der von Vacher interviewten Musiker sind vor allem der Swingära zuzuordnen; sie erzählen zum Teil von den jüngeren Musikern, die sie kannten, waren aber nie selbst Mitglied dieser Szene. In seinem Vorwort heb Vacher vor allem drei Interviews hervor, die besonders gut gelungen seien: jene mit Andy Blakeney, Billy Hadnott und Norman Bowden, mit Musikern also, mit denen er mehrfach sprechen und dabei mehr über ihr Leben und musikalisches Wirken lernen konnte. Tatsächlich aber sind auch jene Gespräche lesenswert, die etwas langsamer “auf den Punkt” kommen. “Swingin’ On Central Avenue” gelingt es dabei, Erhebliches zur Kulturgeschichte des afro-amerikanischen Jazz im Los Angeles der 1930er bis 1950er Jahre beizutragen. Das Buch erzählt von künstlerischen Idealen und von der Realität des alltäglichen Musikgeschäfts. Die Entscheidung, die Vacher – sicher mehr der Not gehorchend – getroffen hatte, war genau richtig: Seine Protagonisten sind eben nicht die großen Stars, weil die Szene, die er im Fokus hat, sich in keiner der stilbildenden Städte befand, weil die Community, die er in den Kapiteln seines Buchs abbildet, sich aus vielen sehr disparaten Erfahrungen zusammensetzte. Sein Buch ist auf jeden Fall eine Fundgrube für Jazzhistoriker mit vielen Anekdoten und Erinnerungen, die dieser Rezensent hier zum ersten Mal gelesen hat; zugleich ist es eine abwechslungsreiche Zeitzeugensammlung einer Szene, die bislang nur mäßig dokumentiert ist.

Wolfram Knauer (Juli 2016)


Invitation to Openness. The Jazz & Soul Photography of Les McCann, 1960-1980
herausgegeben von Pat Thomas & Alan Abrahams
Seattle 2015 (Fantagraphics Books)
200 Seiten, 39,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-60699-786-4

2015mccannMusikerfotos – es gibt eine ganze Reihe an Jazzmusikern, deren Hobby auf Tournee das Fotografieren war. Milt Hinton ist der wohl namhafteste unter ihnen, doch jetzt zeigt ein neues Buch, dass auch Les McCann nicht nur gute Ohren, sondern auch ein exzellentes Auge hat. Das nämlich gehört dazu, auf dass das Buch eines fotografierenden Musikers nicht einzig wegen der Vorteile interessant ist, die sich daraus ergeben, dass der Mann hinter der Kamera zugleich auf der Bühne sitzt und von den Objekten seiner Begierde, also anderen Musikern, nicht als Störenfried, sondern als einer der ihren anerkannt wird.

Im Vorwort von “Invitation to Openness” erzählt A. Scott Galloway kurz die biographischen Stationen Les McCanns: geboren in Lexington, Kentucky, über Tuba und Snare-Drum zum Klavier gelangt, zusammen mit Eddie Harris mit “Compared to What” über Nacht einen Welthit geschaffen, der eine Solokarriere bedingte, die bis in jüngste Zeit anhielt. Pat Thomas erzählt die Genese des Buchprojekts: Er hatte gerade eine CD-Wiederveröffentlichung des McCann-Klassikers “Invitation to Openness” organisiert und McCann zu Hause besucht, als er in einer Ecke einen Stapel zerkratzter Abzüge von Fotos entdeckte, die der Pianist in den 1960er und 1970er Jahren gemacht, aber nie veröffentlicht hatte. Im Interview mit Thomas erzählt McCann, dass es in seiner Familie immer Fotoapparate gegeben habe. Er selbst habe sich eine Nikon gekauft und begonnen, auf der Bühne und daneben Menschen abzulichten. Als er sich ein Haus in Hollywood leisten konnte, richtete er sich eine Dunkelkammer ein und begann seine Aufnahmen selbst zu entwickeln.

Das Bemerkenswerteste an den Bildern ist vielleicht die Perspektive. Gerade die Bühnenaufnahmen sind eben nicht von vorn gemacht, aus dem Bühnengraben oder der ersten Reihe, sondern oft von der Seite oder leicht von hinten. Viele Bilder zeigen die Musiker backstage, in Vorbereitung fürs Konzert, in Freizeitklamotten beim Soundcheck. Das entspannte Lächeln Count Basies zeigt die entspannte Vertrautheit. Andere eindrucksvolle Motive sind etwa: Stanley Clarke mit abwartend-konzentrierter Miene (und einer denkwürdigen Frisur); Ben Webster am Flügel; Dexter Gordon und Joe Zawinul vor einem Motel; die junge Tina Turner; das Publikum aus Gefangenen im Cook County Jail; Cannonball Addlerley, der an einer Zigarette zieht, sein Gesicht halb in Rauch gehüllt. Neben Musikern gibt es Bilder von Schauspielern (Jack Lemmon, Bill Cosby, Jerry Lewis), Politikern (Jimmy Carter, Jesse Jackson, Stokely Carmichael, Dr. Martin Luther King), Sportlern (Muhamad Ali, Pelé), sowie einige wenige Bilder, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Doch auch diese Aufnahmen, etwa das eines alten Mannes mit Fahrrad, hätten das Potential zu Plattencovers.

Les McCann gibt zu einzelnen der Bilder Kommentare ab, in denen er Kolleginnen oder Kollegen erinnert. Auch die Identifizierung der Motive basiert auf McCanns Erinnerung, wobei es Motive gibt, zu denen er nicht wirklich mehr weiß, wo oder wann sie gemacht wurden, und zumindest eine falsche Zuschreibung (nein: das ist NICHT Eberhard Weber auf den beiden Fotos mit Sarah Vaughan, sondern Bob Magnusson!). Beim Durchblättern des Bandes kommt einem immer wieder in den Sinn, dass das Leben eines Jazzmusikers eben aus mehr besteht als der Bühnenwirklichkeit. Les McCanns “Invitation to Openness” bietet damit einen lohnenswerten und allemal mit Soul gefüllten Blick hinter die Kulissen sowohl der Musiker, die er darin dokumentiert, als auch seiner eigenen Konzertarbeit.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Bitches Brew
von George Grella Jr.
New York 2015 (Bloomsbury Academic, 33 1/3)
128 Seiten, 14,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-6289-2943-0

D2015grellaie Buchreihe 33 1/3 des Bloomsbury-Verlags behandelt eigentlich Rockgeschichte. Jeder Band ist einem separaten Album gewidmet und wird historisch kontextualisiert. Miles Davis wurde jetzt die Ehre zuteil, als erster Jazzer in die Reihe aufgenommen zu werden, die immerhin schon mehr als 100 Bände umfasst. Sein Album “Bitches Brew” von 1969 schrieb eben nicht nur Jazz-, sondern genauso auch Popgeschichte.

In seinem ersten Kapitel betont George Grella, wie schwer es ist, “Bitches Brew” klar einem Genre zuzuordnen. Miles wollte weder ein klares Jazz- noch ein dezidiertes Rockalbum machen. “Bitches Brew”, meint Grella, sollte man daher am ehesten als experimentelle Musik hören, als Versuch, den überkommenen Normen von sowohl Jazz wie auch von Rock zu entkommen.

Im zweiten Kapitel erklärt Grella die seltsame Sektenhaltung, die Jazzrezeption manchmal annehmen kann und gegen die sich Miles Davis von früh an wehrte. Geht nicht gibt’s nicht, sei sein Motto gewesen, und Popsongs nahm er bereits lange vor “Time After Time” auf. Miles, fasst Grella zusammen, spielte Pop nicht um Popstar zu sein, sondern um Musik zu machen. Er erzählt von der Zeit des Trompeters mit Charlie Parker, vom Capitol-Nonet, das irgendwie die Geburtsstunde des Third Stream wurde, sowie von “Kind of Blue” und “Sketches of Spain”.

In Kapitel 3 erklärt Grella, welch völlig anderen Ansatz Miles an die Produktion eines Albums hatte, bei dem er sich ab 1968, ab dem Album “Circle in the Round”, vorbehielt, die musikalischen Versatzstücke nach Belieben zusammenzuschneiden.

In den Kapiteln 4 und 5 schließlich steht “Bitches Brew” selbst im Mittelpunkt, wenn Grella über Titel und Covergestaltung geflektiert und die einzelnen Titel beschreibt. Das liest sich stellenweise wie eine Sportreportage: wer, wann, was, Tonart, Einsatz, Intensität. Grella verweist auf die oft nicht wahrnehmbare Editiertechnik Teo Maceros und darauf, wie dies nur deshalb möglich war, weil alle Musiker immer deutlich aufeinander hörten. In “Pharoah’s Dance” benennt er eine “hippe Blueslinie bei 4:46” oder eine Coda, die “fast Beethoven’schen Charakter” habe. Im Titeltrack zeigt er auf viele der Nahtstellen, und dann verweist auf die Unterschiede der beiden Platten des Doppelalbums: “eine, um dich wegzublasen, die andere, um deinen Kopf wieder geradezurücken”.

Im letzten Kapitel widmet Grella sich den Nachwirkungen des Albums, in der Kritik genauso wie im Jazz. Mit Verweis auf Wynton Marsalis erklärt er, dass da zwei recht unterschiedliche Sichtweisen der Zukunftfähigkeit von Musik aufeinandergeprallt seien, um dann Miles’ Konzept auf dem kleinsten Nenner zusammenzufassen: “Indem er Rhythmus, Puls und Harmonien – und auf Tonband eingespielte Kompositionen – verwandte, die absichtlich nicht zu einer Auflösung fanden, organisierte Miles Zeit: und sowohl Form wie auch Zeit finden damit in der Musik zusammen”.

Eine kommentierte Diskographie beschließt das Büchlein, das sich wie ein sehr ausführlicher Plattentext mit vielen zusätzliche Informationen liest. Ja, Grella gelingt die Kontextualisierung, und doch kommt er der Musik selbst nur bedingt nahe, auch weil seine analytischen Anmerkungen etwas zu oberflächlich bleiben, weil er quasi nur parallel zur Musik beschreibt, was man eh hört, anstatt zusammenzufassen, was das alles “bedeutet”. Trotz dieser Einschränkung aber ist Grellas Büchlein ein lohnenswerter Begleiter zur nächsten abendlichen Abhörsession dieses Miles Davis-Klassikers.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Jazz Basel. Vier Jahrzehnte Stars und Szene
herausgegeben von Offbeat = Urs Ramseyer & Ruedi Ankli & Peewee Windmüller & Urs Blindenbacher
Basel 2015 (Christoph Merian Verlag)
180 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-85616-695-5

2015offbeatDie Geschichte regionaler Jazzszenen kann man auf unterschiedliche Weise erzählen. Man kann nostalgisch und sehnsuchtsvoll zurückblicken und von alten Zeiten schwärmen. Oder man kann auch Zurückliegendes vor allem aus dem Wissen um die Gegenwart verstehen.

Die Macher des offbeat-Festivals gehen in ihrem Buch über “Jazz Basel” den zweiten Weg. Das opulent bebilderte Buch widmet einzig sein Eingangskapitel (von Bruno Spoerri) den Anfängen des Jazz in Basel von den 1920er bis in die 1970er Jahre. 1974 gründete sich der Verein und die Konzertreihe jazz in basel, 1990 schließlich das Festival offbeat. Das Buch blickt auf die Musiker, die seither auf dem Festival spielten, aus skandinavische Gäste oder gesamtdeutsche Schwerpunkte, auf Jazz aus dem Mittelmeerraum und einen lateinamerikanischen Fokus, auf US-amerikanische Bands und die Schweizer Musiker, die hier auch immer zu hören waren. Es gibt Anekdoten aus dem Alltag von Festivalorganisatoren und Berichte von Backstage. Die Auswirkungen des Festivals in Stadt und Region werden thematisiert, Schulprojekte etwa oder die Präsenz im örtlichen Rundfunk. Und schließlich wird mit Stolz auf die Zusammenarbeit des offbeat Festivals mit dem Jazzcampus Basel und dem Club The Bird’s Eye berichtet.

Das alles ist kurzweilig geschrieben, vordergründig wohl vor allem für regionale Leser interessant, daneben aber genauso ein Bericht über die Verankerung einer regionalen wie internationalen Szene, aus dem auch Veranstalter anderswo etwas lernen können. Und schließlich sind da noch die 86 schwarz-weißen Abbildungen, Fotos von Bernhard Ley, Peewee Windmüller und Röné Bringold, die die Erinnerungen an die Geschichte von offbeat ungemein lebendig werden lassen.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher
von Detlef Siegfried
Göttingen 2015 (Wallstein)
455 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1673-7

2015siegfriedErnest Borneman war eine Mehrfachbegabung, so sehr, dass es genügend Menschen gaben, die dachten, es handele sich wahrscheinlich um mehrere Personen, die nur zufällig denselben Namen hätten. In den 1970er und 1980er Jahren war Borneman ein regelmäßiger Gast in deutschen Talkshows, wann immer es um das Thema Sexualität ging, hatte daneben eine Sex-Beratungskolumne in der Neuen Revue. Als Soziologe hatte er sich mit seinem Buch Das Patriarchat 1975 einen Namen gemacht. Vor seiner Beschäftigung mit Frauenbewegung und Feminismus hatte Borneman eine Karriere im Filmgeschäft gemacht, arbeitete für das National Film Board of Canada, für die UNESCO in Paris und war Programmdirektor des Freien Fernsehens, der ersten privaten Fernsehanstalt, die nach ihrem Verbot durch die Adenauer-Regierung quasi durch das ZDF abgelöst wurde. Und noch früher war Borneman nicht nur Jazzliebhaber und -experte, sondern einer der ersten Jazzforscher, ein Kenner des Jazz, der diese Musik zeitlebens als transkulturelle künstlerische Aussage verstand und 1944 mit seinem Artikelreihe “The Anthroprologist Looks at Jazz” eine der ersten übers Anekdotische hinausreichenden Kulturgeschichten des Jazz verfasste.

Borneman schied im Juni 1995 aus dem Leben. Sein Archiv ist in der Berliner Akademie der Künste untergekommen; jetzt hat der Historiker Detlef Siegfried die Biographie des vielfältigen Forschers vorgelegt. Diese hat er klar nach den verschiedenen Feldern gegliedert, in denen Borneman tätig war, überschrieben “Hören. Die Ethnologie des Jazz”, “Sehen. Das Leben auf der Leinwand” und “Berühren. Sex und Gesellschaft”.

Der 1915 in Berlin geborene Ernst Bornemann – wie er bis zu seiner Emigration 1933 hieß – hatte bereits 1930 Bertolt Brecht kennengelernt, als Mitglieder von Berliner Schulchören zu Proben des Lehrstücks Der Jasager geladen worden waren. Er und Brecht freundeten sich an, Brecht half ihm bei der Abfassung seines ersten Theaterstücks und Borneman Brecht bei einer Neuübersetzung des Dreigroschenromans ins Englische. Siegfried, der zu Beginn seines Buchs anschaulich erklärt, wie er sich durch Bornemans eigene “Autofiktionen”, wie er sie nennt arbeiten musste, durch falsche Fährten also, die Borneman aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten seiner Karriere legte, beschreibt Bornemans Exil als “nicht nur Flucht-, sondern auch Möglichkeitsraum”.

In London war Borneman regelmäßig bei Jazzkonzerten anzutreffen, verkehrte außerdem in einem Kreis linker und schwarzer Intellektueller. Bereits Mitte der 1930er Jahre hatte er einen Kriminalroman geschrieben, arbeitete bald auch an einem Drehbuch für einen möglichen eigenen Film, in dem auch der Jazz eine Rolle spielen sollte. Im Sommer 1940 wurde er als “feindlicher Ausländer” interniert, doch bereits zuvor produzierte er seine erste Rundfunksendung. Nach seiner Internierung wurde er nach Kanada deportiert, wo er nach seiner Entlassung beim National Film Board Arbeit fand.

Er knüpfte Kontakt zu Sammlern und Jazzkennern in den USA und sammelte Material für eine mögliche musikwissenschaftliche Dissertation und ein Buch zum Thema “American Negro Folk Music”, das von zwei Verlagen zur Publikation angenommen, dann aber wegen kriegsbedingten Papiermangels nicht gedruckt wurde. In seinen Jazzarbeiten, für die Borneman sich bei dem bekannten Musikethnologen Melville J. Herskovits um ein Stipendium bemühte, ging es, wie Siegfried zusammenfasst, “um zwei Themen: erstens um die Verbindungen von afroamerikanischer Volksmusik und moderner Tanzmusik der Gegenwart, und zweitens um die Verschränkungen von sozialen Verhältnissen und Populärkultur”. 1944 begann Borneman seine achtteilige Artikelserie “The Anthropologist Looks at Jazz”, die in der Zeitschrift The Record Changer erschien, der er bald auch als Mitherausgeber angehörte. Er schlug sich in der Debatte um den Bebop zwar auf die Seite des “authentischen” Jazz, konnte aber der romantischen Rückwärtsgewandtheit vieler der Traditionalisten wenig abgewinnen und versuchte daher immer wieder zwischen den Lagern zu vermitteln.

Mitte der 1940er Jahre lebte er in Paris, interviewte Louis Armstrongs Band anlässlich des ersten Jazzfestivals in Nizza im Jahr 1948, und freundete sich mit amerikanischen Expatriates und französischen Musikern wie Claude Bolling oder Boris Vian an. Er schrieb für den britischen Melody Maker und produzierte 1953 mit Betty Slow Drag einen experimentellen Kurzfilm, der seine beiden großen Interessen Jazz und Film miteinander verbinden sollte. Für den Melody Maker berichtete Borneman auch über den Jazz in Westdeutschland, konnte aber, selbst als Joachim Ernst Berendt versuchte ihn mit zeitgenössischen Musikrichtungen der 1960er Jahre anzufreunden, indem er ihn in ein Konzert John Coltranes mitnahm, mit dem modernen Jazz wenig anfangen.

Siegfried widmet Bornemans langer Auseinandersetzung mit den karibischen Wurzeln des Jazz ein eigenes Unterkapitel und berichtet davon, wie der spätere Beat Club von Radio Bremen auf Bornemans Ideen zurückzuführen gewesen sei. Er zeigt, dass Borneman in seinen Schriften einige Debatten angestoßen hatte, die in der Jazzkritik erst in den 1960er Jahren wirklich ausgetragen wurden, als er selbst an dieser Diskussion nicht mehr selbst teilnahm. Letzen Endes mag Borneman nicht mit allen seiner Thesen Recht gehabt haben, ohne Zweifel aber sei er ein Wegbereiter der internationalen Jazzforschung gewesen.

Der Jazz spielt auch in den weiteren Lebens- und Arbeitsphasen für Borneman eine wichtige Rolle, und Bornemans kritischer Geist, den Siegfried am Beispiel des Jazz ausgiebig beschrieben hat, lässt sich auch in diesen Bereichen zeigen. Detlef Siegfrieds Buch ist dabei ein faktenreicher Band, der biographische Stationen und Diskurse, an denen Borneman beteiligt war, laufend miteinander verschränkt. Ganz sicher war Borneman einer der schillerndsten Vordenker des Jazz; Siegfrieds Schilderung sowohl seines Lebens als auch der Diskussionen, an denen sich Borneman sein Leben lang beteiligte, zeigt ihn aber darüber hinaus als einen vielseitig gebildeten, einfachen Erklärungen zutiefst skeptisch gegenüberstehenden, zur Offenheit des Denkens neigenden Forscher.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Teddy Wilson. 19 Selected Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2015 (Blue Black Jazz)
44,95 Euro

Boogie Woogie, Volume 2. 17 Original Boogie Woogie and Blues Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2014 (Blue Black Jazz)
46,85 Euro
Zu beziehen über www.blueblackjazz.com

Paul Marcorelles hat bereits eine ganze Reihe an Transkriptionen von Pianisten des frühen Jazz vorgelegt, vorzugsweise von Musikern, die im Stride- oder Boogie-Woogie-Stil spielten. Seine jüngsten Veröffentlichungen widmen sich dem Swing-Stil Teddy Wilsons auf der einen und dem Repertoire einiger der Boogie-Woogie-Größen der frühen 1940er Jahre auf der anderen Seite.

2015marcorelles_wilsonFür Teddy Wilson hat Marcorelles sich Soli zwischen 1934 und 1946 ausgesucht, schnelle virtuose Titel wie “Rosetta”, den “Tiger Rag” oder “When You and I Were Young, Maggie” sowie Balladen wie “Don’t Blame Me”, “Out of Nowhere” oder “Body and Soul”. Seine Transkriptionen sind exakt, gut lesbar, reine Notationen ohne weitere Spielanweisungen oder analysierende Harmoniesymbole. Sie sind zum Nachspielen gedacht, brauchen allerdings Pianisten, die zum einen keine Probleme mit den bei Wilson so beliebten Dezimengängen der linken Hand haben und zum zweiten technisch fortgeschritten sind, um die virtuosen Arpeggien und die die Rhythmik aufbrechenden Läufe tatsächlich zum Swingen zu bringen. Wilsons linke Hand allein kann jedem Pianisten helfen, die antreibende Kraft des Swingens zu begreifen. Auch das Studium seiner Voicings lohnt, deren Alterationen den Akkorden zusätzliche Schwebungen verleihen. Wie immer bei Transkriptionen von eigentlich improvisierten Jazzsoli ist es mehr als hilfreich, sich die Soli auf Platte (oder über Streamingdienste) anzuhören.

2015marcorelles_boogieIm zweiten der beiden jüngst veröffentlichten Bände versammelt Marcorelles Transkriptionen von Hersal Thomas (“Hersal’s Blues”), Clarence ‘Pinetop’ Smith (“Pinetop’s Boogie Woogie”), Jimmy Yancey (etwa den “Five O’Clock Blues”), Pete Ammons (z.B. “Rock It Boogie”), Meade Lux Lewis (“Chicago Flyer” und “Glendale Glide”), Albert Ammons (etwa seinen “Swanee River Boogie”), Sammy Price (133rd Street Boogie”) und Pat Flowers (“Eight Mile Boogie”). Die rhythmischen Verschiebungen zwischen Bassfiguren und rechter Hand im Boogie Woogie sind dabei noch weit schwerer zu “lesen” und bedürfen noch stärker des Höreindrucks, um sie danach vom Papier in die Tasten zu übertragen und erlauben im Idealfall – und das wäre es ja eigentlich immer im Jazz – irgendwann das Loslassen und das eigene Erfinden melodischer und rhythmischer Muster, die eigene Improvisation.

Marcorelles’ neue Bände seien jedenfalls jedem interessierten Pianisten empfohlen als Übe- genauso wie Studienmaterial. Marcorelles bietet auf seiner Website übrigens alle insgesamt 202 Transkriptionen dieser wie früher erschienener Bände auch einzeln zum Download als PDF-Datei an

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Hot Music, Ragmentation, and the Bluing of American Literature
von Steven C. Tracy
Tuscaloosa 2015 (The University of Alabama Press)
537 Seiten, 64,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8173-1865-9

2015tracySteven C. Tracy ist Literaturwissenschaftler, Professor für Afro-American Studies, aber auch ein Blues-Harp-Spieler, der bereits in Vorgruppen für B.B. King, Muddy Waters und andere Stars der Szene auftrat. In seinem umfangreichen Buch stellt er die afro-amerikanische Musik der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, also Jazz und Blues, als Referenzpunkt dar, der helfen könne, die amerikanische Literaturgeschichte jener Zeit besser zu verstehen. Es geht ihm dabei nicht einzig um Romane oder Dichtung, die sich konkret und thematisch mit Musik beschäftigen, sondern auch um den Einfluss von Klanglichkeit, von Virtuosität, von improvisatorischer Haltung auf die amerikanische Literatur der Jahre bis 1930. Er greift hierfür immer wieder zurück auf konkrete Aufnahmen, um etwa Beispiele der afro-amerikanischer Stimme, des afro-amerikanischen Rhythmus, der Griot-Funktion des Bluessängers, der Bedeutung von Wiederholungen, der tiefen Doppeldeutigkeit, der politischen Untertöne herauszustreichen, die eben keine rein afro-amerikanischen Untertöne seien, sondern Befunde für den Zustand der gesamten amerikanischen Gesellschaft. Tracy verbindet die Genres, folkloristischen Blues, modernistischen Jazz, um aus dem Mix der Aufnahmen heraus, auf die er sich bezieht, neue Argumente zu entwickeln, die abseits der üblichen Beschreibung von Jazz-, Blues- oder Kulturgeschichte liegen. Er untersucht daneben auch Film- oder klassische Musikgeschichte nach Einflüssen von oder Analogien zu afro-amerikanischer Musik und findet den nachhaltigsten Widerhall außerhalb der Musik schließlich in der Literatur, bei T.S. Eliot, William Carlos Williams, Hart Crane, Gertrude Stein, Ezra Pount, und bei Abbe Niles, Langston Hughes, Countee Cullen, Zora Neale Hurston und anderen Dichtern und Schriftstellern der Harlem Renaissance.

Tracys schnelle Wechsel zwischen den Diskursen sind dabei sowohl inspirierend wie auch, da sie ein häufiges Vor- und Zurückblättern erfordern, zeitweise ermüdend. Sein intertextueller Ansatz ist auf jeden Fall ein Beispiel, wie sich aus dem Studium afro-amerikanischer Musik Aussagen über weit mehr als diese treffen lassen, wie stark tatsächlich diese Musik bereits in den ersten 30 Jahren des 20sten Jahrhunderts ihren Niederschlag im Denken, Handeln und Schreiben gefunden hat.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Friedel Keim
Das große Buch der Trompete (3)
Diskografie, Fotografien, Statistik, Nachträge
Fortsetzung des Trompeter-Lexikons, Band 3
Mainz 2015 [Eigenverlag
554 Seiten, 33,90 Euro
nur direkt zu beziehen über
Friedel Keim, e-mail: ruf.keim@t-online.de

2015keimDer Ur-Maizer Trompeter Friedel Keim hat nach den ersten beiden Auflagen von 2005 und 2009 nun den dritten Band seiner Trompeterbibel vorgelegt, ein sorgfältig recherchiertes Kompendium, das die verschiedensten Seiten des Instruments und seiner Musiker beleuchtet und dessen Spektrum von Klassik über Jazz bis zur volkstümlichen Musik reicht.

Keim kennt dabei keine Berührungsängste. Er versteht es genauso, sich über die Kunst der Barocktrompete auszulassen wie über die Probleme, die viele Jazzer mit der Ästhetik eines Wynton Marsalis haben. Und neben den großen Stars finden auch die Satzbläser wieder Erwähnung oder Musiker der aktuellen Szene.

Der lexikalische Teil von Band 3 enthält biographische Artikel von A wie “Abbott, Goivinda” bis Z wie “Zonshine, Michael”. Neben diesen teils ausführlichen Portraits gibt es Anmerkungen zur Interpretation von Werken aus Klassik, Marschmusik und anderen Genres, darunter auch analytische Anmerkungen und Notenbeispiele aus dem Jazzbereich, etwa eine Transkription des “West End Blues” in der Version von Louis Armstrong und seiner Hot Five von 1928, Dizzy Gillespies “Night in Tunisia”, oder Maynard Fergusons Version von “Body and Soul”. Korrekturen und Ergänzungen zu den beiden ersten Bänden erhalten ein eigenes Kapitel, und wieder gibt es den Block “Wissenswertes rund um die Trompete”, der etwa Informationen über das “Gansch-Horn” gibt oder über das flexibrass-Mundstück, über die Vuvuzela oder über die Trompete auf historischen Briefmarken, über den Trompetenbaum oder diverse Filme, in denen die Trompete im Mittelpunkt steht. Schließlich findet sich noch ein umfassendes Kapitel zu Horst Fischer, jenem legendären deutschen Trompeter, dessen Prolog zu einer Autobiographie Keim abdruckt, außerdem eine alphabetische Auflistung aller ihm bekannter Fischer-Aufnahmen.

Wie bereits in den vorherigen Bänden findet sich auch in Band 3 vieles, was sonst kaum irgendwo erierbar wäre. Friedel Keim weiß um Geburts- und Sterbedaten, berichtet über die Stars, aber eben genauso über die “kleinen” Vertretern des Instruments, über Satzspieler oder junge Musiker, die durchaus auch zwischen den stilistischen Welten leben und arbeiten, über Dixieland- und Swingtrompeter, die eher der Amateur- als der Profiszene angehören, aber dennoch gute Musiker sind, über Musiker von denen man noch nie gehört hat oder aber auch Musiker, die man persönlich kennt, aber nie in einem Lexikon vermutet hätte, weil ihr Arbeitsschwerpunkt doch eher regional begrenzt ist. Keim hat sich ihnen allen angenommen mit einem Vollständigkeitsanspruch, der jede Kritik an der Auswahl im Keim ersticken ließe (man entschuldige das Wortspiel). Und gerade in den Einträgen zu den kleinen Vertretern der Trompete erkennt man einmal mehr die “labor of love” dieses Buches, das zu alledem noch exzellent lesbar ist. Kein kritisches Buch vielleicht, dafür ein verlässliches Nachschlagewerk für jeden, der sich für die Trompete interessiert: eine Trompeterbibel fürwahr!

(Wolfram Knauer, Februar 2016)


 

Mein Onkel Pö
von Holger Jass
Hamburg 2015 (Offline-Verlag)
137 Seiten, 25,55 Euro
ISBN: 978-3-00-051272-8

2015jassEinen ersten Hinweis auf den Inhalt dieses Buchs gibt bereits der Preis: 25,55 Euro, entsprechend einem Cent pro Nacht im legendären Club, wie Holger Jass in der Presseankündigung zum Buch erklärt. Holger Jass hatte das Onkel Pö (Onkel Pö’s Carnegie Hall, wie es damals offiziell hieß) Anfang 1979 vom Vorbesitzer Peter Marxen übernommen, der ihn bei der Übergabe warnte: “Ich muss dich warnen. Pö-Jahre sind wie Hundejahre. Die zählen siebenfach.” Jass hielt es bis Anfang 1986 aus, führte das “Pö” im Sinne seines Kultstatus’ weiter und hat jetzt ein kurzweilig-amüsantes Buch über seine Erlebnisse mit Musikern, Medienmenschen, Kollegen und dem Publikum geschrieben, das ihm die ganzen Jahre über treu blieb, aus dessen Reihen sich aber partout kein Interessent für eine Nachfolge finden ließ.

“Jetzt macht Jass den Jazz im Onkel Pö” titelte das Hamburger Abendblatt, als Jass 1979 übernahm. Sein Buch handelt natürlich auch von Jazz. Er beschreibt, wie Michael Naura, damals Jazzredakteur des NDR viele der Jazzabende mitschnitt, die sich das Pö ansonsten kaum hätte leisten können. Den Flügel im Club hatte kein geringerer als Joachim Kühn ausgesucht und eingeweiht. Ansonsten bevölkern Jazzer wie Freddie Hubbard, Elvin Jones, Pat Metheny, Dexter Gordon die Seiten, aber auch Tom Waits, Charlie Watts, Joe Cocker, Hannes Wader, Truck Stop und natürlich Udo Lindenberg, der dem “Pö” in einem seiner Hits ein Denkmal setzte.

“Bei Onkel Pö spielt ‘ne Rentnerband”, hieß es da, “seit 20 Jahren Dixieland” – aber mit Dixieland ließ sich so ein Schuppen nicht finanzieren, bilanziert Jass trocken … obwohl man das Wort “trocken” selbst bei einer Rezension dieses Buchs nicht in den Mund nehmen sollte, denn trocken ging es ganz sicher nicht zu im Pö. Auch davon handelt das Buch, von den skurrilen Erlebnissen mit den Musikern, vom gesteigerten Alkoholkonsum, vom Pflegen einer Szene und davon, dass man, um Wirt zu sein, ein dickes Fell und viel Humor benötigt. Pineau ist das Zauberwort, jene süßliche Mischung aus Traubenmost und Cognac, die Jass als Allheilmittel vieler Probleme genauso beschreibt wie als Ursache anderer. Seine Anekdoten machen klar, dass man als Wirt und täglicher Konzertveranstalter selbst nicht ganz ohne solche “Medizin” auskommt: ein divenhafter Auftritt Freddie Hubbards etwa oder jener Abend mit Dexter Gordon, den Jass allerdings erst aus drogenbedingtem Tiefschlaf im Hotel um die Ecke wecken musste, den er für seine 57 Jahre als “bös klöterich” beschreibt, der dann aber nach einem dreifachen Whiskey ein denkwürdiges Konzert gegeben habe.

Sehr viel tiefer geht es sicher nicht in seinen Erinnerungen, die er mit viel Augenzwinkern und der humorvollen Abgeklärtheit der zeitlichen Distanz schreibt, und bei denen man schon mal über die eine oder andere schlüpfrige Anekdote hinweglesen muss. Bei all denen, die dabei waren in diesem zwischen Alternativszene und Hochkultur angesiedelten Zauberort in Eppendorf, wird er warme Erinnerungen wecken. Man meint den Fusel wieder zu schmecken und die dicke Luft wieder zu riechen, vor allem aber erinnert man sich an die musikalischen Hochgenüsse, die das Onkel Pö so oft und so viel vermittelte. Für diejenigen, die nicht dabei waren, gibt Jass ein launiges Portrait, einschließlich etlicher Fotos, ein Portrait, das stellenweise einer Filmdokumentation über verwunschene Zeiten ähnelt, bei denen man eigentlich gern dabei gewesen wäre.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Rhythm Is My Beat. Jazz Guitar Great Freddie Green and the Count Basie Sound
von Alfred Green
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
325 Seiten, 75 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4246-3

2015greenCount Basies All American Rhythm Section gilt als die swingendste Rhythmusgruppe des Jazz. Die Art, wie Pianist Basie, Gitarrist Freddie Green, Bassist Walter Page und Schlagzeuger Jo Jones rhythmisch und harmonisch ineinandergriffen, um den vorwärtstreibenden Schwung zu schaffen, der zu ihrem Markenzeichen wurde, besaß so viel an Energie, dass Rhythmusgruppen überall auf der Welt sie zum Vorbild nahmen. Den wichtigsten Anteil an dieser Energie hatte, wie Basie selbst, aber auch zahllose andere Musiker bezeugen, Freddie Green, der dem Count Basie Orchester von 1937 bis zu Basies Tod im Jahr 1983 und der Band noch ein paar Jahre danach bis zu seinem eigenen Tod 1987 angehörte. Von Nichtmusikern wurde Green schon mal dafür bemitleidet, ein ganzes Leben lang nie ein wirkliches Solo gespielt, dafür immer nur “schrumm schrumm” gemacht zu haben, vier Schläge pro Takt, durchgehend vom ersten Akkord bis zum letzten; und doch ist ihm jemand kaum in der Kunst des Rhythmus nahegekommen, den dieser Vierschlag erzeugen konnte.

Jetzt hat Alfred Green, der Sohn des Gitarristen, eine Biographie vorgelegt, die weit mehr ist als die persönliche Erinnerung eines Verwandten. Greens Buch schafft den Spagat zwischen Insiderwissen, persönlicher Betroffenheit und nüchterner Beschreibung der Lebens- und Arbeitswirklichkeit eines Musikers der Bigbandära.

Die Geschichte beginnt in Charleston, South Carolina, wo Freddie Green 1911 geboren wurde, in einer Stadt mit einer überaus lebendigen schwarzen Musikszene. Nachdem er die erste Ukulele gegen ein viersaitiges Banjo ausgetauscht hatte, sammelte er erste musikalische Erfahrungen mit Freunden aus dem Jenkins Orphanage, einem berühmten Waisenhaus in Charleston, aus dem etliche spätere Musiker hervorgingen. Mit einer dieser Bands reiste er die Küste hoch bis nach Maine, wechselte irgendwann vom Banjo zur Gitarre und spielte mit dem Saxophonisten Lonnie Simmons und dem Stride-Pianisten Willie Gant. Als der Impresario John Hammond ihn hörte, empfahl er seinem Schützling Count Basie, sich den Gitarristen für sein Orchester zu sichern. Im Januar 1937 kam es zum Vorspiel erst in kleinem Kreis, dann mit der Bigband, und am 1. Februar begann sein mehr als 45-jähriges Engagement als Motor des Count Basie Orchestra.

Alfred Green erzählt nicht nur die Lebens- und Arbeitsstationen Greens, sondern nähert sich auch seinem Stil, fragt nach Einflüssen, erklärt die Besonderheit des Green’schen Sounds. Der Autor wurde im Februar 1938 geboren, im selben Jahr beendete seine Mutter ihre Beziehung zu seinem Vater, sicher auch, weil der inzwischen eine Romanze mit Billie Holiday begonnen hatte, die für kurze Zeit mit Basie reiste.

Green beschreibt die verschiedenen Besetzungen der Basie-Band der 1930er und 1940er, die Schwierigkeiten des Musikerlebens, und die zunehmenden Probleme der Musikindustrie, die schließlich dazu führten, dass Basie sein Orchester auflöste und kurze Zeit mit einem Sextett – ohne Gitarre – auftrat. Sein Vater nahm die Entscheidung nicht hin und tauchte einfach beim nächsten Gig des Sextetts mit seiner Gitarre auf. “Was machst du denn hier?”, fragte Basie, und Green antwortete, “Was glaubst du wohl? Du hast hier einen Gig, richtig? Ich habe dir die besten Jahre meines Lebens gegeben und du glaubst, mich einfach beiseiteschieben zu können? Keine Chance!”

Während die 1930er- und 1940er-Jahre-Band insbesondere ein Solistenorchester war, wurde der Sound der 1950er Jahre-Band durch ihre Arrangeure geprägt. Alfred Green berichtet, wie Green seinen Platz in den Arrangements fand, wie er sich zu den Schlagzeugern positionierte, und wie er seine Aufgabe immer als die eines Unterstützers der anderen gesehen habe.

Neben den Einsichten in Greens Karriere sind es vor allem die technischeren Kapitel, die im Buch faszinieren. Alfred Green beschreibt etwa die Spannung der Saiten, die besondere Haltung, die Green benutzte, bei der sein Instrument fast auf seinem Schoß lag, spricht über die Tatsache, dass Green kaum je mit nicht-akkordischen Soli zu hören war, über seine wenigen Aufnahmen unter eigenem Namen, über Gigs für andere Bandleader und anderes mehr.

Einem dicken Block mit seltenen Fotos folgen schließlich noch Analysen von Michael Petterson, M.D. Allen und Trevor de Clerq sowie Zitate anderer Gitarristen über Green, schließlich eine ausführliche Diskographie aller seiner Aufnahmen.

Es gibt eine Reihe an Büchern über das Count Basie Orchester, darunter natürlich auch Basies eigene Autobiographie, verfasst mit Hilfe Albert Murrays. Keines dieser Bücher aber bietet einen so persönlichen Einblick in die Band wie das Buch Alfred Greens über seinen Vater. Der Gitarrist Freddie Green war wahrscheinlich der wichtigste Musiker des Basie Orchesters, der nicht nur für den durchgehenden Swing und eine rhythmische Verlässlichkeit stand, sondern der Band auch, was oft übersehen wird, ihren ganz spezifischen Sound verlieh, der sie aus der Menge ihrer Konkurrenten auf dem großen Bigbandmarkt hervorhob. Greens Buch gelingt in diesem Umfeld gleich dreierlei: Er schreibt eine Biographie des Gitarristen Freddie Green, er erzählt Details aus der Bandgeschichte Count Basies (und damit aus dem Alltag der Swingära), und er teilt sehr persönliche Erinnerungen an seinen Vater mit dem Leser.

Ihm gelingt dabei der schwierige Spagat, Beobachter und Sohn zur selben Zeit zu bleiben. Zu Beginn liest sich das alles wie eine interessante, aber eher distanzierte Lebensdarstellung, bis Green aus einem Gespräch zitiert, das er mit seiner Mutter geführt hatte, und bei dem einen schlagartig klar wird, dass der Autor ja Sohn des Objekts seines Berichts ist, dass er mit dem Wissen eines Familienglieds, sicher auch mit eigener Betroffenheit schreibt. Solche Perspektivwechsel gelingen ihm hervorragend, wie man in etlichen bewegenden Passagen erkennen kann. Green verschweigt macht aus seinem Vater nirgends einen Heiligen, sondern stellt ihn als Menschen dar, der nach dem Besten strebte, aber durchaus fehlbar war.

“Rhythm Is My Beat” ist ein sehr empfehlenswertes Buch, über Freddie Green, über Count Basie, über die Swingära und vieles mehr. Alfred Greens Buch gibt einen tieferen Einblick als vieles, was man sonst so liest zu diesem Thema und ist eine spannende Lektüre für Fans, genauso wie für Musiker oder Forscher über diese Musik.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Keith Jarrett. Eine Biographie
von Wolfgang Sandner
Berlin 2015 (rowohlt)
362 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-780-1

2015sandner“Mit freundlichen Künstlern ist die Welt nicht gesegnet”, beginnt Wolfgang Sandner sein Buch, das er mit Wohlwollen des Pianisten angegangen war, bis er mit diesem nach einem Konzert aneinandergerieten sei, weil es Jarrett nicht gefallen habe, dass Sandner sein “Köln Concert” als einen seiner größten Erfolge bezeichnete. “Das Ende eines Dialogs eröffnet jedoch auch eine Chance”, befindet Sandner. In der Folge nämlich habe er sich noch stärker auf die Musik konzentrieren müssen. Das Ergebnis ist ein Buch, das der Musik Jarretts als eines Künstlers gerecht wird, der seine Kraft aus der Improvisation des Jazz zieht, dessen Wirkung aber weit über dieses Genre hinausreicht.

Keith Jarrett wurde am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren, und Sandner sieht diesen Tag, Kriegsende, als symbolträchtig für die Jahrhundertkarriere des Pianisten. Ohne Europa, das durch den Krieg noch mehr für die Qualitäten des Jazz sensibilisiert war, erklärt Sandner, wäre Jarretts Karriere einerseits so nicht möglich gewesen, auf der anderen Seite habe Jarrett immer tief in den Traditionen der amerikanischen Avantgardeästhetik gestanden, in der Tradition auch eigenbrötlerischer Künstler wie Lou Harrison und Alan Hovhaness, deren Werke er Anfang der 1980er Jahre in Europa uraufführte.

Sandner zeichnet die Kindheit Jarretts in Allentown nach, die Erkenntnis seines Talents, das Trauma der Trennung seiner Eltern, dem er mit dem Rückzug in die Musik begegnete, und die musikalischen Bemühungen seiner Brüder. Jarrett spielte mit lokalen Bands, besuchte Workshops, gewann ein Stipendium fürs Berklee College, mit dessen die Musik eher regulierenden als zur Kreativität ermutigendem Lehrplan er allerdings wenig anzufangen wusste. Da war die Schule von Art Blakeys Jazz Messengers schon eine andere, in denen Jarrett ab Herbst 1965 für vier Monate mitwirkte. Von Blakey wechselte er in die Band des Saxophonisten Charles Lloyd, dem er durch dessen Schlagzeuger Jack DeJohnette empfohlen worden war. Lloyds Quartett war “die erste Supergroup des Rockjazz”, und Sandner hört sich sowohl dessen Studio- wie auch die Liveaufnahmen an. 1967 gründete Jarrett sein erstes Trio mit Charlie Haden und Paul Motian, und als ihm Miles Davis 1969 zum wiederholten Mal anbot, in seiner Band mitzuwirken, sagte Jarrett zu, obwohl Miles mit Herbie Hancock und Chick Corea bereits zwei Pianisten in der Band hatte. Bei Miles musste er elektronische Keyboards und Orgel spielen, Instrumente, die ihm eigentlich zuwider waren. Zugleich setzte er sich noch mehr mit Klang auseinander, mit dem Sound der Instrumente, die er zu bedienen hatte genauso wie den Soundmöglichkeiten der Band, die für Miles im Mittelpunkt seiner “musikalischen Großräume, Klangkunstwerke” standen.

Ein eigenes Kapitel widmet Sandner der Partnerschaft zwischen Keith Jarrett und Manfred Eicher, der weit mehr war als ein Labelgründer und Plattenproduzent. Jarrett stand Anfang der 1970er Jahre eigentlich bei ABC unter Vertrag, ihm wurde aber erlaubt, Produktionen mit “ernster Musik” und ähnliche Aufnahmen ohne Gegenleistung anderswo einzuspielen, das könne sein Ansehen schließlich nur steigern. Dass Jarretts Aufnahmen für Eichers Edition of Contemporary Music zum Zugpferd für das Label ECM werden sollten, hatte niemand vorhergesehen. Im November 1971 also ging Jarrett erstmals in Oslo ins Studio und produzierte mit “Facing You” die erste von bis heute 28 Solo-Produktionen für Eicher, ein Album, das sowohl Jarretts Ruf als Solopianist begründete als auch Eichers Ruf als einer der offenohrigsten Produzenten des Jazz. Sandner erklärt, was die Partnerschaft und das Vertrauen der beiden zueinander begründe, die Tatsache etwa, dass Eicher selbst Musiker sei oder dass sein Interesse neben dem Jazz auch anderen Formen von Musik (oder Literatur oder Kunst oder Film) gelte. Eicher, schlussfolgert Sandner auch nach dem Gespräch mit anderen ECM-Künstlern, sei bei vielen seiner Produktionen der “dritte Mann”, auch wenn man ihn weder sehe noch höre.

Es gäbe etliche Musiker und Musikliebhaber, warnt Sandner schon im Vorwort seines Buchs, die meinen, über Musik solle man nicht so viel schreiben, da diese das Wesentliche doch eh in sich berge. Und dann tut er genau das, kongenial, so nämlich, dass seine Zeilen die Musik zwar heraufbeschwört, aber nirgends zu ersetzen trachtet. Über Jarretts Klavierspiel etwa schreibt er, man könne vielleicht die verschiedenen Techniken benennen, die seinen Personalstil ausmachten, komme dabei aber vor allem an einem Charakteristikum nicht vorbei, das Sandner die “Konzentration aufs Wesentliche” nennt und das er in Jarretts musikalischem Ansatz genauso findet wie in seiner Wahl der Mitmusiker oder in der klaren Gliederung seines Repertoires in Standards, eigene Kompositionen und freie Solo-Improvisationen.

An anderer Stelle verfolgt er Jarretts Vervollkommnung der authentisch-eigenen Stimme. Er betrachtet die Aufnahmen seines amerikanischen Quartetts mit Dewey Redman und seines europäischen Quartetts mit Jan Garbarek, beschreibt, was an diesen Aufnahmen so besonders sei, obwohl sie doch weder einen unerhörten Klang hervorbrächten noch eine neue Form oder eine außergewöhnliche ästhetische Haltung. Er nennt Jarrett einen “Solist ohne Grenzen”, verfolgt die unterschiedlichen pianistischen Ansätze, die der Künstler über die Jahre entwickelte. Und Sandner ist wie wenige deutsche Autoren ein Meister darin, Musik mit Worten näher zu kommen. Ein Beispiel: Über Jarretts Album “Staircase” schreibt er: “Alles, was Jarrett in den elf Stücken erklingen lässt, besitzt Körperlichkeit. Es gibt keine flachen Töne, nur runde, eckige, kubusartige, voller Tiefenschärfe. Wenn ein Ton verklingt, wird er nicht nur leiser, er verschwindet wie in einem Tunnel, verliert nicht nur sein Volumen, sondern wird augenscheinlich kleiner.” Er benennt die Beziehungen zwischen Jarretts Aufnahmen an der Barockorgel in Ottobeuren und seiner Suche nach Klangfarben einerseits und ähnlichen Suchen europäischer oder amerikanischer Komponisten andererseits, nicht aber, um daraus Einflüsse abzuleiten, sondern um zu zeigen, dass Jarrett sich da inmitten eines breiten Diskurses befindet, in dem seine eine gewichtige Stimme ist.

Zwischen ausführliche Beschreibungen der diversen Plattenprojekte streut Sandner aber auch Informationen über die Selbstzweifel des Künstlers, über persönliche und geschäftliche Krisen, über Rückenschmerzen und das chronische Erschöpfungssyndrom, dass Jarrett für einige Jahre aus dem Verkehr zog. Er beschreibt, wie all diese außermusikalischen Ereignisse ihren Widerhall in Jarretts Musik fanden. Nach seiner Genesung, fasst Sandner zusammen, sei Jarrett ” praktisch nicht mehr in ein Aufnahmestudio zurückgekehrt. Mit Ausnahme einer Duo-Aufnahme mit Charlie Haden und einer Einspielung von Bach-Sonaten für Violine und Klavier sind alle Aufnahmen danach bei Live-Auftritten entstanden.”

Natürlich nimmt das “Köln Concert” ein wichtiges Kapitel seines Buchs ein. Sandner beschreibt die bekannt widrigen Umstände des Konzerts, Rückenschmerzen, ein schlecht intoniertes Instrument, ein Stutzflügel, den die Bühnenarbeiter statt des eigentlich geplanten Bösendorfer Imperial auf die Bühne gestellt hatten, und er erzählt, wie Jarrett aus all diesen Widrigkeiten über sich herauswuchs, die Beschränkungen des Instruments zu Stärken seiner Aufnahme machte. Das “Köln Concert” wurde zu einem Riesenerfolg bei Kritik und Publikum gleichermaßen, und selbst der Perfektionist Jarrett musste später zugeben, dass die Ideen, “diese Klangfarben und diese Stimmführungen”, die auf der Aufnahme zu hören sind, schon einzigartig waren.

In weiteren Kapiteln seziert Sandner die Herangehensweise Jarretts an die Standards des American Popular Song, die er zusammen mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette ab 1983 einspielte und bald auch bei Konzerten spielte, seine Einspielungen klassischer Musik von Bach bis Lou Harrison, sowie Jarretts eigene Kompositionstätigkeit, die sich keinesfalls in der Komposition von Themen für eigene Improvisationen erschöpfte.

Sandners letztes Kapitel heiß “Einspruch” und ist unter all den lesenswerten Kapiteln dieses Buchs vielleicht das lesenswerteste. Sandner beginnt mit einer Eloge auf den kreativen Schöpfer, auf das Genie Keith Jarrett, um dann die Reaktion hervorzuheben, mit der Jarrett so oft, auf so vieles, reagiert, seine “Manie, etwas abzulehnen”. Der wichtigste Einspruch Jarretts gelte dabei musikalischen Trends, kurzlebigen Moden oder selbsternannten Kanonikern. Sandner findet diese Veto-Haltung auch im Klavierspiel des Meisters selbst, das “allen Regeln der traditionellen Klavierkunst widerspricht und wirkt, als sei das Instrument weniger ein Partner, vielmehr ein Gegner, den man bezwingen müsse, bisweilen mit List und Tücke, bisweilen mit tänzerischem Ablenkungsmanöver, manchmal mit brachialer Gewalt, nicht selten aber, indem man sich den Flügel einverleibt, mit ihm verschmilzt.” Es ist dieses Eins-Sein mit seiner Musik, das Jarrett auch außerhalb der Jazzanhängerschaft Wirkung verschafft hat. Henry Miller schrieb ihm einen Brief, nachdem er das “Köln Concert” gehört hatte, Sergiu Celibidache und Marcel Reich-Ranicki zeigten sich begeistert. Sandner argumentiert aber auch, dass diese Verweigerungshaltung neben seinen künstlerischen Entscheidungen auch Jarretts problematisches Bühnenverhalten beeinflusst habe, seine gelegentlichen Publikumsbeschimpfungen, die, wie Sandner schreibt, fast schon zum Ritual geworden seien, das Voyeure unter den Hörern erwarten oder gar herausfordern.

Wolfgang Sandners Buch gelingt es, der Musik Keith Jarretts nahe zu kommen, gerade, weil er sich, wie er im Vorwort erklärt, mit dem Künstler entzweit hat. Sandner besitzt den Überblick nicht nur über Jarretts Schaffen und nicht nur über die Jazzgeschichte, aus der heraus Jarretts Kunst kommt, sondern über die gesamte Kulturgeschichte, in die hinein Jarretts Musik wirkt. Es gelingt ihm, die verschiedenen Positionen zu definieren, die sich in der Musik und ihrer Rezeption widerspiegeln: die musikalische, ästhetische und wirtschaftliche Position Jarretts zu verschiedenen Zeiten, die Position der Labels, der Agenten, der Produzenten, die Position Manfred Eichers, die Position der Kritiker und des Publikums, und nicht zuletzt auch seine eigene Position, die Position Wolfgang Sandners. Dass er aus eigener Begeisterung heraus schreibt, lässt er nicht unerwähnt. Er bezeichnet Jarrett wiederholt als “Genie”, nennt ihn den größten Musiker, der je aus Allentown kam. Doch dient diese eigene Positionsbestimmung letztlich auch dem Vertrauen, das wir als Leser in Sandners Wertung der Musik haben können. Er lässt uns klar wissen, wo er als Autor steht, und so können wir viel leichter unsere eigene Position beziehen, überdenken, revidieren. Wolfgang Sandner ordnet Jarretts Aufnahmen dabei nicht nur in Jazz-, Musik- und Kulturgeschichte ein, er verleitet zum neuen, zum tieferen Hören, und er ermöglicht ein Verständnis – im besten Sinne des Wortes – über die Grenzen des emotionalen Hörens hinaus.

Wolfram Knauer (Dezember 2015)

Nachtrag Februar 2021:

Keith Jarrett. A Biography
by Wolfgang Sandner, translated by Chris Jarrett
Sheffield 2020 (Equinox)
215 Seiten. 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-800500129

Sandners Jarrett-Biographie ist inzwischen auf Englisch erschienen, übersetzt von keinem Geringerem als Jarretts Bruder, dem in Deutschland lebenden Pianisten Chris Jarrett. Für die englische Ausgabe hat Sandner seinen früheren Text erweitert und aktualisiert, hat neuere Aufnahmen und neue Veröffentlichungen aus früheren Jahren berücksichtigt und neue Erkenntnisse über Jarretts familiären Background geteilt. Mit dem Abschied Jarretts von der Bühne im vergangenen Oktober scheint auch seine Karriere abgeschlossen. Sandners Buch vertieft das Wissen und ermuntert zum Nachhören – jetzt vielleicht etwas wehmütiger als bei der ersten (deutschen) Lektüre vor sechs Jahren.


 

Als der Jazz nach Kassel kam. Streifzüge durch die Szene der ersten Nachkriegsjahre
von Ulrich Riedler
Berlin 2015 (B&S Siebenhaar Verlag)
104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN: 978-3-943132-39-7

2015riedlerDie großen Jazzmetropolen – Berlin, Hamburg, Köln, München – sind weitgehend dokumentiert. Auch für kleinere Städte haben sich Historiker und Hobbyhistoriker der Aufbereitung der Jazzgeschichte angenommen. Das kann schon mal seltsam wirken, wenn Provinzzentren wie der Mittelpunkt der Welt erscheinen, wo sie doch meist nur Durchgangsstationen für aufstrebende spätere oder etablierte, sich auf Tournee befindende Jazzstars waren. Tatsächlich aber sind regionalen Szenen bis heute wichtige Brutstätten künstlerischer Ideen, auch wenn viele der Musiker, die hier ihre Anfänge nehmen, irgendwann in die großen Zentren abwandern, in Städte mit bedeutenden Hochschulen etwa oder in solche mit einer lebendigen, großen Jazzszene.

Das nordhessische Kassel, in der Mitte der Republik, und doch kulturell vor allem durch die Brüder Grimm und die documenta bekannt, besitzt bis heute eine lebendige Szene, verschiedene Spielorte für Jazz und improvisierte Musik, und ein langjähriges Festival. Die alle fünf Jahre stattfindende documenta bringt es mit sich, dass die Bürger der Stadt sich sehr bewusst mit ästhetischen Diskursen der Avantgarde auseinandersetzen.

Der Journalist und Jazzfan Ulrich Riedler hat sich in seinem Buch auf die Suche nach den Anfängen des Jazz in der nordhessischen Stadt gemacht und diese im Frühjahr 1940 entdeckt, als sich junge Jazzfreunde im Gasthaus “Ledderhose” trafen, wo sie gemeinsam die neuesten Platten hörten. Irgendwann rückte die Gestapo ihnen auf den Leib, nahm die Jungs mitsamt ihrer Schellackschätze mit und unterzog sie einer gründlichen Befragung. Die Jazzfans wurden bald wieder entlassen, und einer von ihnen kann Riedler nicht nur von damals berichten, sondern ihm sogar noch die kurzfristig konfiszierten Platten zeigen. Die “Ledderhose” blieb auch nach dem Krieg ein Jazztreffpunkt, in dem die Mitglieder zu Platten tanzten, ab und zu aber auch selbst zum Instrument griffen.

Die 1950er Jahre dokumentiert ein Gespräch mit dem späteren Spiegel-Redakteur Alfred Nemeczek, von dem Riedler außerdem einen Bericht über das Jazzkontor Kassel aus dem Jahr 1959 andruckt, den Versuch, in Nordhessen einen Liveclub nach Vorbild des Frankfurter Jazzkellers zu etablieren. In den 1950er Jahren begannen die ersten amerikanischen Stars Deutschland zu erobern. Kassel erlebte Konzerte von Duke Ellington, Louis Armstrong, Lionel Hampton oder der Jam-Session-Truppe Jazz at the Philharmonic mit Ella Fitzgerald und vielen anderen.

Einer der Stammgäste der Kasseler Jazzszene war damals der Trompeter Manfred Schoof, der zwei Jahre an der Kasseler Musikakademie studierte, bevor er nach Köln weiterzog. Riedler spricht mit ihm über die Jazzszene jener Zeit, über Musiker und Musikerlegenden der Region, unter anderem den Tenorsaxophonisten Werner Apel, den, wie man sich erzählt, sogar Duke Ellington verpflichten wollte, weil er ihn bei einer Jam Session so beeindruckt habe, und natürlich auch über die GI-Clubs, in denen Schoof die amerikanische Kultur erst richtig kennenlernte.

Die Amerikaner waren im Stadtteil Rothwesten in Fuldatal stationiert und engagierten über die Special Service Agencies jede Menge deutscher Musiker für die Unterhaltung in den verschiedenen Clubs. Riedler blickt auf Orte, aufs Repertoire, auf das Jazzprogramm des örtlichen Amerika-Hauses, beschreibt aber auch andere Veranstaltungsorte der Stadt, deren Programm großteils von Vereinen organisiert, zum Teil auch von der Stadt unterstützt wurde. Er erzählt, wie Arnold Bode, der Vater der documenta, von der Band des Vibraphonisten und Gitarristen Fritz Bönsel so angetan war, dass er im Landesmuseum ein Konzert veranstaltete, das den Jazz endgültig in der Stadt etablierte.

Die Jazzszene jener Jahre beinhaltete traditionelle genauso wie moderne Stile, und so beschreibt auf der einen Seite die Dixieland-Szene der 1950er und 1960er Jahre mit ihren Riverboatshuffles und dem musikalischen Versuch, dem Original so nah wie möglich zu kommen, auf der anderen Seite aber auch, wie andere Musiker, Schoof und Gunter Hampel unter ihnen, dem modernen Jazz in Kassel zu Gehör verhalfen. Und schließlich spricht er mit dem Pianisten Joe Pentzlin, dessen Trio quasi die Hausband des Jazzclubs in der Orangerie gewesen war.

In einem abschließenden Kapitel schlägt Riedler einen knappen Bogen in die Regenwart, zu Musikern wie Matthias Schubert und Ernst Bier, die entweder aus Kassel stammen oder aber hier über längere Zeit Station machten und die Szene der Stadt mitprägten.

Riedlers Buch ist nicht als historische Dokumentation gedacht, denn vielmehr als eine flüssig zu lesende Erinnerung an die 1940er bis 1960er Jahre, ein liebevoll bebildeter Band über die Jazzszene in der deutschen Provinz, die – ähnlich wie die Szenen vieler anderer Städte mittlerer Größe – überaus lebendig war. Die Lektüre macht dem Leser deutlich, dass der Diskurs über den Jazz als aktuelle Kunstform nicht nur in den Metropolen stattfindet.

Wolfram Knauer (November 2015)


 

Music Wars 1937-1945. Propaganda, Götterfunken, Swing. Musik im Zweiten Weltkrieg
von Patrick Bade
Hamburg 2015 (Laika Verlag)
511 Seiten, 34 Euro
ISBN: 978-3-944233-41-3

Sounds of War. Music in the United States during World War II
von Annegret Fauser
New York 2013 (Oxford University Press)
366 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-994803-1

Victory Through Harmony. The BBC and Popular Music in World War II
von Christina L. Baade
New York 2012 (Oxford University Press)
275 Seiten, 31,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-537201-4

2013fauser Musik war immer schon kriegswichtig. Ob zum Anfeuern der Truppen im Marschrhythmus, ob zum Mobilmachen der Bevölkerung durch patriotische Hymnen, ob als Beruhigung und Selbstbestätigung, ob als Instrument der psychologischen Kriegsführung oder sogar als Foltermethode: Krieg ist ohne Musik – so seltsam diese Idee auch scheinen mag – kaum vorstellbar.

Drei kürzlich erschienene Bücher untersuchen die Rolle der Musik im Zweiten Weltkrieg. Der britische Historiker Patrick Bade berichtet über die verschiedenen musikalischen Strategien und Funktionen direkt vor Ort, in den Gebieten, in denen der Krieg tobte oder die am Krieg beteiligt waren, Frankreich, Deutschland, den USA, Russland, Großbritannien, dem nördlichen Afrika und dem Mittleren Osten. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Annegret Fauser beschränkt sich in ihrem Buch auf die klassische Musikszene in den Vereinigten Staaten. Die britische Musikhistorikerin Christina Baade schließlich untersucht, wie der BBC in den Kriegsjahren auf Jazz, Tanz- und Popmusik gesetzt habe, um die Moral der gesamten britischen Öffentlichkeit in den Kriegstagen zu stärken. Baades Studie gibt dabei einen Einblick in Programmentscheidungen eines öffentlichen Rundfunksenders und thematisiert, inwieweit die Öffnung des Senders für Jazz und amerikanische Popmusik auf Widerstände gestoßen sei. Fausers Fokus liegt auf der “concert music”, also der klassischen Musik, und im Umschlagtext heißt es, dass Dinah Shore, Duke Ellington und die Andrews Sisters vielleicht die Zivilisten zuhause und die Soldaten in Übersee unterhalten hätten, es tatsächlich aber vor allem die klassische Musik gewesen sei, die die Menschen für die Kriegsanstrengungen mobilisiert habe. Patrick Bade schließlich wagt den Rundumschlag, lässt also auch die sogenannte leichte Muse, Swing und Jazz, nicht aus. Während er dabei neben dem klassischen Repertoire und dem Swing auch einen Blick auf die Funktion von Radio, Film und Plattenindustrie wirft, außerdem in einem langen Kapitel Kriegslieder aus unterschiedlichen Ländern ins Visier nimmt, finden man in Fausers Buch Informationen über Musiker in der Armee, Auftragskompositionen für den Kriegseinsatz, ein Kapitel über Musik als Beruhigung der Bevölkerung und als Therapie für traumatisierte Soldaten sowie eines über die vielen Exilkomponisten, die durch den Krieg in den USA strandeten. Christina Baade schließlich diskutiert in ihrem Buch auch das Thema von Tanzmusik und Maskulinität, die Sorge um den Erfolg der amerikanische Popmusik und die Verdrängung eigener Traditionen, und die Bedeutung von Rundfunkprogrammen, in denen afro-amerikanische Musik in den Mittelpunkt gestellt wurden, für schwarze britische Musiker. Bei allen drei Autor/innen finden sich Diskussionen der Zuschreibung moralischer Qualitäten zur Musik, der Grundlage letzten Endes dessen, was in den USA später zur “cultural diplomacy”, zur Kulturdiplomatie werden sollte.

2012baadeFür Christina Baades Argumentationslinie spielt der Jazz eine zentrale Rolle; ihr Buch erlaubt dabei Rückschlüsse auf Entwicklungen des Nachkriegsjazz in Großbritannien, einschließlich der Hinwendung vieler junger Musiker insbesondere zu traditionellen Jazzstilen. Patrick Bade hat neben einem Kapitel über Jazz und Swing im Dritten Reich, in dem er auch auf das Phänomen der Propagandaband Charlie and His Orchestra eingeht, ein eigenes Kapitel über Musik im Feldlager, im Gefangenenlager und im Konzentrationslager. Fauser wiederum diskutiert in ihrem Buch ausführlich musikalischen Ausdruck von Nationalismus, etwa in Werken von Aaron Copland und Roy Harris.

Patrick Bade gibt am Schluss seines Buchs einen Ausblick auf die Nachwirkungen, erzählt etwa, dass Wagner im Bayreuther Festspielhaus kurzzeitig Cole Porter weichen musste, berichtet, wie Sänger/innen und Musiker/innen nach dem Krieg mit ihrer Karriere im Dritten Reich konfrontiert wurden oder diese sehr bewusst aus ihrer Biographie ausblendeten. Er endet mit dem kurzen Hinweis auf Werke, die sich bis ins 21ste Jahrhundert hinein mit den Gräueltaten des Kriegs auseinandersetzen. Christina Baades Buch endet mit der Ankunft der amerikanischen Truppen im August 1944 und der Entscheidungen des BBC, die auch die amerikanischen GIs mit ihrem Programm unterhalten wollte. In der Folge kam es zu einer Diskussion der Vermischung musikalischer Werte in der populären und Tanzmusik, über “Britishness” oder “Pseudo-American”. Ihr Buch verweist zwischen den Zeilen immer wieder, etwa Kapiteln über das vom Rundfunk mitgeprägte Bild der Frau oder im Versuch, die Ausstrahlung von Musik männlicher übersentimentaler Schlagersänger im Rundfunk zu unterbinden, auf Diskurse, die auch nach dem Krieg weitergingen und auf die letzten Endes BBC-Programmentscheidungen großen Einfluss hatten. Bei Fauser geht der Blick in die Nachkriegszeit über John Cage, dessen experimentelle Ideen sie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren verortet. Sie verweist darauf, dass Cage und seine Zeitgenossen ihre Lehren aus den Erfahrungen des Kriegs gezogen hätten, sich nach Ende des Kriegs von ihren nationalistischen Kompositionen distanziert oder aber diese in neue Werke integriert hätten.

2015badeZusammengefasst bietet Patrick Bade im breiteren Ansatz seines Buchs eine Art Rundumschlag über das Thema. Christina Baade wirft Licht auf die Verflechtungen zwischen Musik, Musikindustrie, öffentlicher Meinung und Publikumsgeschmack. Fausers Studie schließlich hätte von einer Erweiterung ihres Schwerpunkts vielleicht profitiert. Fauser begründet ihren eingeschränkten Blick im Vorwort damit, dass die Jazz- und Popmusikszene jener Jahre ja schon ausgiebig genug untersucht worden sei, während Forschungen zur klassischen Musik im Krieg weitgehend fehlten, vergibt sich damit aber die Chance einer differenzierten Darstellung, was vielleicht – nehmen wir einmal an, dass der Einband-Text vom Verlag und nicht von ihr stammte –, eine wertende Aussage wie die, dass Jazz und Popmusik die Bürger zuhause und die GIs in Übersee vielleicht unterhalten hätten, es aber die klassische Musik gewesen sei, die den wirklichen Unterschied gemacht habe, verhindert hätte.

Von solchen Anmerkungen abgesehen, haben alle drei Bücher ihre Meriten. Sie helfen bei der Kontextualisierung von Musikgeschichte in der späten ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, die letzten Endes Auswirkungen auch darauf hatte, wie Musik heute klingt und wie wir sie wahrnehmen.

Wolfram Knauer (Oktober 2015)


 

 

Giving Birth to Sound. Women in Creative Music
herausgegeben von Renate Da Rin & William Parker
Köln 2015 (Buddy’s Knife)
294 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-00-049279-2

2015darinVielleicht müsste am Anfang dieser Rezension erklärt werden, welchen Weg die Bücher durchlaufen, die im Jazzinstitut Darmstadt anlangen. Bevor wir uns die Bücher aussuchen, die wir rezensieren wollen, erfassen wir sie in unserem Jazz Index, einer computergestützten bibliographischen Datenbank, die von Forschern und Journalisten (und Fans) aus aller Welt genutzt wird. Das heißt, wir gehen das Buch von vorn bis hinten durch, ordnen jedes einzelne Kapitel einem Stichwort oder einem Musikernamen zu, tragen biographische Notizen wie etwa Geburtstag oder Geburtsort, nach, sofern sie in unserer Datenbank noch fehlen. Erst dann machen wir uns ans Lesen.

Aber schon bei diesem ersten Schritt des Erfassens fiel einiges auf beim Buch “Giving Birth to Sound”. Etliche der darin befragten Musikerinnen waren nämlich noch gar nicht in unserer Datenbank erfasst oder aber nur mit relativ kurzen bibliographischen Listen. Über sie wurde in der Jazzpresse bislang also nur wenig berichtet. Nun ja, mag man meinen, das hat sicher auch damit zu tun, dass Frauen ja so richtig erst in den letzten Jahren ins Rampenlicht des Jazz getreten sind. Weit gefehlt aber, und das war die zweite Überraschung: Viele Musikerinnen, die im Buch zu Worte kommen, gehören nämlich gar nicht der jungen (sagen wir: unter 40-jährigen) Generation an, sondern sind weit länger auf der Szene unterwegs. Die Gründe für ihre Unsichtbarkeit in der Jazzpresse mögen also doch woanders liegen.

Eine dritte Erkenntnis, die sich beim Durchblättern schnell ergibt, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Jede der Musikerinnen hat einen völlig anderen Zugang zum Thema. Mal analytisch, mal diskursiv, mal ausweichend, mal ablehnend, mal nüchtern gefasst, mal poetisch überhöht, mal kämpferisch, mal verteidigend. Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich schon in den Überschriften der Kapitel, die Renata Da Rin und William Parker aus der Frage “Was bedeutet Musik für Dich” abgeleitet hat. “Jeder Sound und jede Stille”, antwortet Renée Baker; “die Gründe für mein Leben”, sagt Amy Fraser; “ein abstrakter Ort, um das Leben zu teilen und zu fühlen”, meint Marilyn Mazur; “ein Lager der Erinnerungen”, findet Shelley Hirsch, “Leben, Magie, Geist”, beschreibt Maggie Nicols, oder aber, so Erika Stucky, “serious fun – a ‘Schnaps'”.

Oder aber die Einleitung: Nach dem Vorwort von Amina Claudine Myers haben die Herausgeber eine Anzahl von Reaktionen auf den Buchtitel zusammengefasst. “Giving Birth to Sound”? Schrecklicher Titel: Frauen wurden schließlich immer wieder aufs Gebären reduziert, meint eine der Gesprächspartnerinnen, während eine andere findet, der Titel passe, sei auch angenehm mehrdeutig. Naja, und bei allen Bedenken spräche der Titel ja auch vom Schaffen von etwas Neuem. Blödsinn, widerspricht eine weitere Stimme, Gebären sei doch eine passive, rein physische Tätigkeit, jede Kuh könne das. Musik zu erschaffen sei dagegen ein aktiver intellektueller Prozess und damit das exakte Gegenteil.

Das Konzept des Buchs: Ohne weitere Vorgaben schickten die Herausgeber den 48 Musikerinnen 20 Fragen, die vom Faktischen zum Nachdenken über den Prozess des Kreativen gehen, sich dabei immer wieder danach erkundigen, inwieweit das eigene Geschlecht bei musikalischen, ästhetischen oder beruflichen Entscheidungen eine Rolle gespielt habe. Tatsächlich sind nur sechs der Fragen konkret aufs Frau-Sein der Musikerinnen abgezielt: Wie hast Du deine Kreativität als kleines Mädchen ausgelebt? Wie hat die Tatsache, dass Du eine Frau bist, die Entwicklung Deiner musikalischen Karriere behindert? Wie siehst Du Deine Position als Frau in der Musikszene? Hat diese Position Dein Verhältnis zum Sound beeinflusst? Siehst oder spürst Du einen Unterschied im weiblichen und im männlichen Ansatz an Kreativität? Was würdest Du anderen / jungen Frauen empfehlen, die sich bemühen ein kreatives Leben zu führen?

Die Antworten auf diese und allgemeiner gehaltene Fragen fallen so unterschiedlich aus wie die Lebenswege der 48 Interviewten. Es macht nun mal einen Unterschied, ob man Ende der 1970er Jahre in Dänemark zum Jazz kommt wie Lotte Anker oder 1941 in Oklahoma wie Jay Clayton. Haben Männer und Frauen einen anderen kreativen Approach?, fragen die Herausgeber. “NEIN!” ruft Jay Clayton, in Großbuchstaben, keine weitere Diskussion duldend, während Marilyn Mazur einwirft, Frauen würden vielleicht weniger in Wettstreit treten, mehr ans Ganze und Kollektive denken. “Nein, ich sehe da keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen”, findet wiederum Amy X. Neuberg, um gleich anzuschließen, “das heißt aber nicht, dass es keine gäbe.” Klar gibt es einen Unterschied”, erklärt Kali Z. Fasteau, etwa, dass Männer in hierarchischen Systemen besser funktionierten als Frauen. Andererseits, urteilt Nicole Johänntgen, sei diese Frage ziemlich schwer zu beantworten, weil es nun mal so sehr viel mehr Männer als Frauen auf der Szene gäbe.

Nicole Mitchell beantwortet ihre Fragen in poetischen Erinnerungen und Reflexionen über schwarze Musik, den langen Atem der Bürgerrechtsbewegung und ihren eigenen Weg. Maggie Nicols auf der anderen Seite streicht heraus, dass ihre Musik immer sowohl politische wie auch spirituelle Untertöne besessen habe. Ob sie einen Preis bezahlt habe dafür, dass sie Musik mache, fragen die Herausgeber, und Angelika Niescier findet: Im Gegenteil, sie habe daraus sehr viel für sich gewonnen. Musikerin zu werden, sei nun mal eine Lebensentscheidung, finden auch viele ihrer Kolleginnen, niemand zwinge einen schließlich diesen Weg einzuschlagen.

Die weibliche Kreativität erlaube mehr “Raum”, meint Fay Victor, und zwar “sowohl mehr Raum im Sinn von Zeit und Raum wie auch mehr Raum für die Akzeptanz von Fehlern und Intuition”. Klar habe die Tatsache, dass sie eine Frau sei, ihr Verhältnis zum Sound beeinflusst, erklärt Joëlle Léandre. Frauen seien nun mal anders, sie hätten die Fähigkeit zur Distanz, die in diesem Geschäft wichtig sei, außerdem könne man mit ihnen viel besser lachen.

Sie sehen in dieser springend-vergleichenden Zusammenfassung einzelner Antworten bereits, wie ungemein gewinnbringend sich dieses Buch lesen lässt, wenn man blättert, Themen identifiziert, die die Herausgeber durch ihre Fragen ja nicht festgeklopft, sondern nur angestoßen haben, um dann zu sehen, welchen Kontext die verschiedenen Antworten beleuchten. Man erlebt die ja unabhängig voneinander befragten Musikerinnen bald wie in einer respekt- und kraftvollen Diskussion neugieriger, andere Meinungen (meistens) zulassender, vor allem aber ungemein selbstbewusster Musikerinnen.

Das Fazit des Buchs wusste man vielleicht schon vor der Lektüre: Eine einzelne Antwort auf die Frage nach dem kreativen Unterschied nämlich gibt es nicht. Der künstlerische Ansatz zwischen Männern und Frauen ist genauso unterschiedlich wie jener zwischen Männern und Männern oder zwischen Frauen und Frauen. Es gibt jedoch, und das wird in diesem Buch sehr deutlich, ein anderes Diskursverhalten, eine klare Selbstwahrnehmung der Rolle, in die man gesellschaftlich gedrängt wurde.

Unbedingt lesenswert also, ob von Buchdeckel zu Buchdeckel oder im laufenden Vor- und Zurückblättern. “Giving Birth to Sound” erklärt dem interessierten Leser nämlich in der persönlichen Selbstbefragung der Protagonistinnen und oft auch zwischen den Zeilen weit mehr über die Thematik, als man es etwa von wissenschaftlichen Studien erwarten dürfte.

[Naja, wir empfehlen dennoch den Besuch unseres Darmstädter Jazzforums zum Thema “Gender and Identity in Jazz” vom 1.-3. Oktober 2015 oder die spätere Lektüre unserer Beiträge zur Jazzforschung mit den referaten dieser Konferenz. Aber das ist natürlich nur Eigenwerbung…]

Wolfram Knauer (September 2015)


 

Beyond Jazz. Plink, Plonk & Scratch. The Golden Age of Free Music in London 1966-1972
von Trevor Barre
London 2015 (Compass Publishing)
330 Seiten, 12,99 Britische Pfund
ISBN 978-1-907308-84-0
Zu bestellen über trevorbarre@aol.com

Ekkehard Jost hat die Jahre zwischen 1960 und 1980 als eine Zeit beschrieben, in der Europas Jazz zu sich selbst fand, in der Musiker sich von ihren amerikanischen Vorbildern lösten und eigene Wege gingen. Einige dieser Wege führten fort vom, gingen also “beyond jazz”, und diese Entwicklung will Trevor Barre in seinem Buch mit demselben Titel nachzeichnen. Der Gitarrist Derek Bailey forderte eine Improvisation, die sich aus den idiomatischen Bezügen befreien, und auch andere Musiker begannen statt des Begriffs “Free Jazz” von “improvised music” zu sprechen. Barre interessiert, wie es überhaupt dazu kam, dass eine solch sperrige und alles andere als publikumsfreundliche Musik entstehen konnte und warum sie nicht angesichts ihres kommerziellen Misserfolgs einfach nach ein paar Jahren ausstarb. In seinem Fokus steht dabei die erste Generation der freien Improvisatoren, also Musiker wie Evan Parker, Derek Bailey, John Stevens, Kenny Wheeler, Barry Guy, Dave Holland, Trevor Watts, Tony Oxley, Paul Rutherford, Howard Riley, Eddie Prévost, Keith Rowe, Gavin Bryars und Cornelius Cardew.

Barre beginnt mit einer Definition seines Themas: Wo die meisten Jazzbücher den Jazz durch seine improvisatorischen Parameter beschreiben würden, sei Free Music, schreibt er, einzig durch den improvisatorischen Gehalt definiert. Er stellt unterschiedliche Formen freier Improvisation vor, solche, die näher am Jazz bleiben und solche, die eher der europäischen Avantgardetradition verpflichtet scheinen. Die beiden Hauptensembles seines Buchs sind das Spontaneous Music Ensemble und die Gruppe AMM. Barre ordnet deren Auftritte in die Jugend- und Protestkultur der 1960er Jahre ein und schildert, wie die globalen Entwicklungen von Pop, Rock und Folk jungen Musikern ein völlig neues Vokabularium an die Hand gab, sie auch zu neuen Herangehensweisen zwischen tiefer Ernsthaftigkeit und unbändigem Humor bewegten. Er beschreibt auch, welchen Platz sie in die Bandbreite des britischen Jazz jener Jahre zwischen Dixieland und Free Jazz hatten.

Barre zeichnet den Weg einzelner Protagonisten zur freien Improvisation nach, schildert insbesondere die Bedeutung des Little Theatre Club, in dem die jungen Musiker mit Kollegen auch aus dem europäischen Ausland experimentieren konnten. Er beschreibt, wie sie nach und nach merkten, dass es außer dem afro-amerikanischen Jazz auch anderes gab, dass beispielsweise südafrikanische Musiker um Chris McGregor dieser Musik eine neue Farbe geben konnten und dass sich Freiheit, wie sie der Free Jazz implizierte, auch ganz mit anderen Mitteln umsetzen ließ. Er diskutiert wichtige Aufnahmen der Zeit, wobei ihn vor allem die interaktiven Prozesse interessieren, die ästhetischen Diskurse, die sich aus der Improvisation der Aufnahmen ergaben. Das alles beleuchtet er anhand von zeitgenössischen genauso wie selbst geführten Interviews mit beteiligten Musikern. Das Spontaneous Music Ensemble und AMM nehmen zwei der umfangreichsten Kapitel ein, in denen Barre neben dein Einflüssen und den ästhetischen Diskussionen auch über Nachwirkungen schreibt, bewusste oder unbewusste Reaktionen auf die Klangexperimente in weit jüngerer Musik, der 1980er, 1990er Jahre und danach. Er betrachtet den Einfluss der Technologie, schaut auch auf die Bedeutung der visuellen Covergestaltung oder der Plattentexte. Das Label Incus nimmt ein eigenes Kapitel ein, wie FMP in Deutschland oder ICP in Holland ein von Musikern gegründetes Label, das Musik seiner Mitglieder nicht so sehr vermarkten als vielmehr dokumentieren wollte. Improvisation ist schließlich weit mehr als komponierte Musik auf das Medium der Tonaufzeichnung angewiesen – sonst verklingt sie.

In seinem Schlusskapitel betrachtet Barre kurz die “zweite Generation” der Free Music in London um das London Musicians’ Collective sowie eine “dritte Generation” um John Edwards, John Butcher und andere und setzt beide Entwicklungen mit jenem von ihm als “erste Generation” betrachteten Grundthema seines Buchs in Beziehung. Im Nachwort schließlich verfolgt er die Aktivitäten seiner Protagonisten bis in die Gegenwart.

Trevor Barres Buch ordnet die Entwicklung der Free Music der späten 1960er, frühen 1970er Jahre in die kulturelle Szene des “Swinging London” ein. Ihm gelingt dabei vor allem der Blick auf sich wandelnde ästhetische Ideale und eine Begründung derselben aus gesellschaftlichen und politischen Diskussionen heraus. Der Musik selbst kommt er vor allem in Interviews mit den beteiligten Musikern nahe. Die inhaltliche wie organisatorische Unabhängigkeit der britischen Improvisationsszene jener Jahre hat Auswirkungen bis heute. Initiativen wir F-Ire Collective wären ohne das Vordenken und Vormachen der hier beschriebenen Musiker und Gruppen nicht möglich gewesen. Von daher füllt Barres Buch eine Lücke. Dass er bestimmte Themen weitgehend außer Acht lässt – die Auseinandersetzung dieser Szene mit ihrem Publikum beispielsweise oder mit den Mainstream-Medien, der tatsächliche Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Szenen oder die Reaktion amerikanischer Musiker, zeigt nur, wie viele Perspektiven das Thema tatsächlich hat, die bislang kaum beleuchtet wurden. Barre jedenfalls stößt mit “Beyond Jazz” die Tür zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der musikalischen Freiheitsbewegung jener Zeit weit auf.

Wolfram Knauer (August 2015)


 

Little Satchmo. Living in the Shadow of my Father, Louis Daniel Armstrong
von Sharon Preston-Folta (mit Denene Millner)
Charleston/SC 2015 (self published)
112 Seiten, 12 US-Dollar
ISBN: 978-1-481227-23-7
Zu beziehen über www.littlesatchmo.com

2015prestonfoltaDie offizielle Version lautet: Louis Armstrong hatte nie Kinder. Er hätte immer gern welche gehabt, sagte seine letzte Frau und Witwe, Lucille Armstrong, aber er sei zeugungsunfähig gewesen. Nun kommt, 34 Jahre nach Satchmos Tod, Sharon Preston-Folta mit einem Buch heraus, in dem sie kundtut, sie sei die Tochter Louis Armstrongs aus einer außerehelichen Beziehung, die Satchmo in den 1950er Jahren hatte.

Ihr Leben lang habe sie diese Wahrheit herunterschlucken müssen. Sie wolle kein Geld, keinen Ruhm, aber immer selbst auf das öffentliche Wissen um ihren Vater verzichten zu müssen, sei einfach zu viel. In ihren Recherchen habe sie nur einen einzigen schriftlichen Hinweis auf Satchmos Vaterschaft gefunden, einen Brief des Trompeter an seinen Manager, Joe Glaser, aus dem Jahr 1955, in dem er diesen bat, vor der Ankunft seiner Frau Lucille in Las Vegas ein paar Geschäftsdinge zu klären, darunter Zahlungen an eine Freundin, von der er glaubt, dass sie ein Kind von ihm habe. Ihre Mutter habe sie immer beschworen, ihren Vater geheim zu halten, und so habe sie letzten Endes gehorcht und damit auch keine Ansprüche geltend gemacht auf sein physisches, historisches und finanzielles Erbe. Wenn sie etwas gekränkt habe bei ihren Recherchen, sei es, dass Louis Armstrong in seinen Briefen so offen über alles geredet habe, seine Musik, seine Kindheit, seine Liebe zum Essen und zu den Frauen, über Sex, sogar über seine Darmtätigkeit, dass er über seine Tochter aber sein Leben lang geschwiegen habe.

Warum er ihre Existenz verleugnet habe? Nun, erklärt Preston-Folta, Louis Armstrong sei ein gefeierter Künstler seiner Zeit gewesen und habe sich in der besten (weißen) Gesellschaft aufgehalten. Es habe einfach nicht gepasst, in dieser Zeit, wenn Nachrichten über ein uneheliches Kind mit einer Geliebten in die Schlagzeilen gekommen wären.

Prestons Mutter wurde 1921 in New York geboren und arbeitete bereits als 16-Jährige als Chorus Girl in diversen Shows. 1941 heiratete sie einen Tänzerkollegen; 1946 arbeiteten die beiden als Tanzpaar “Slim & Sweets” als Vorgruppen für große Swingorchester, unter ihnen auch Louis Armstrong, der sich mit ihnen anfreundete und in einen launigen Briefwechsel einstieg. 1950 starb Slim, und bei der Trauerfeier war auch Louis Armstrong dabei, der Lucille Preston in den Arm nahm und versprach: “Ich werde mich um dich kümmern.” In den nächsten vier Jahren reiste sie Pops hinterher und tauchte auf, wann immer Armstrongs in New York spielte. 1954 wurde Preston schwanger, und im November schrieb Satchmo ihr einen Brief, in dem er erklärt, wie sehr er sich auf das Kind freue und sogar vorschlägt, sie zu heiraten, sollte seine Frau (mit gleichem Namen Lucille) sich von ihm scheiden lassen. Armstrong war dann aber nicht dabei, als Sharon Louise (nach Louis) Preston am 24. Juni 1955 das Licht der Welt erblickte. Armstrongs rechtmäßige Ehefrau war “not amused” und habe ihm nach der Geburt der Tochter sogar vorgeschlagen, diese zu adoptieren, was ihre leibliche Mutter aber vehement ablehnte. Lucille (die Ehefrau) habe sogar die Alimente überwiesen, bis sie diese Aufgabe irgendwann Joe Glaser übertrug.

In ihrem Buch berichtet Sharon von den viel zu seltenen, sorgfältig geplanten und sehnsuchtsvoll erwarteten Treffen. Sie und ihre Mutter lebten eine Weile bei ihrem Onkel Kenny, der nach außen schon mal als Lucilles Ehemann auftrat und immer wieder auf seine Schwester eindrang, bei Satchmo mehr einzufordern: mehr Geld, mehr Fürsorge, am besten seinen Namen. Bei einzelnen Sommertourneen durfte Sharon mitreisen. Ansonsten aber war Satchmo vor allem durch die monatlichen Unterhaltszahlungen präsent, durch Broadway-Tickets, 1962 durch den Kauf eines Hauses in Mount Vernon, New York. In Harlem hatte sich niemand wirklich darum gekümmert, wie ihre Familienverhältnisse aussahen, erzählt Preston-Folta, in Mount Vernon aber begann eine Zeit der Lügen. Die Liaison dauerte ja bereits 12 Jahre, aber nach wie vor war nicht in Sicht, dass Armstrong auch öffentlich zu seiner Familie stehen würde. Mit zehn Jahren begriff Sharon erstmals, dass ihr Vater eine “andere Lucille” hatte, ein anderes Leben, das mit ihrem aber auch gar nichts zu tun hatte.

Etwas später seien sie gemeinsam in Atlantic City zu einem Auftritt Marvin Gayes gegangen, es habe einen Streit zwischen den Erwachsenen gegeben, bei dem ihre Mutter Satchmo fragte, wann er sie nun endlich zu heiraten gedachte, worauf er laut wurde: “Ich werde dich niemals heiraten” und mit Fingerzeig auf die Tochter fragte: “Sag mir einfach, was es kostet, für sie zu sorgen!” Das war das Ende der Beziehung.

Kaum war Armstrong gestorben, kamen auch die monatlichen Schecks nicht mehr. Ein paar im Voraus geleistete Zahlungen für Sharons Erziehung hielten sie und ihre Mutter über Wasser, mussten bald auch den Zuwachs zur Familie finanzieren, denn Sharon wurde mit 16 selbst Mutter. Sharon erzählt, wie ihr Leben weiterging, immer gezeichnet durch die Narben, die der fehlende Vater hinterlassen hatte. Irgendwann rebellierte sie gegen die eigene Bitterkeit und versuchte, das emotionale Band, das sie mit der verlorenen, nie gehabten Vergangenheit hatte, zu zerschneiden.

Sharon Preston-Foltas Buch endet mit einem Besuch im Armstrong House in Queens. Ein Anwalt hatte ihr empfohlen, einen Blick in Satchmos Testament zu werfen, das eine eidesstattliche Erklärung von Lucille, Armstrongs Frau, enthielt, Armstrong habe nie Kinder gehabt. Als Sharon diese Zeilen las, von Lucille eigenhändig korrigiert von “Der Verstorbene und ich hatten keine Kinder” in “Der Verstorbene hatte keine Kinder”, entschied sie sich, jetzt ihr Geschichte zu erzählen. Ihre Mutter, die sie immer zur Geheimhaltung gedrängt hatte, willigte endlich ein: “Mach, was Du meinst, dass du tun musst.”

Sharon Preston-Foltas Buch ist als eine Liebeserklärung an die von ihr immer vermisste Vaterfigur Louis Armstrong geschrieben, aber es ist eben auch eine leicht verbitterte Liebeserklärung geworden. An genügend Stellen legt man es zur Seite, unterschiedlich berührt von den Schuldzuweisungen, mit denen Preston-Folta ihre eigenen Lebensentscheidungen aus ihrer vaterlosen Kindheit und Jugend ableitet. Ein bedrückendes Schicksal, denkt man, und fragt sich zugleich, warum sie, die immer wieder von der DNA ihres Vaters schreibt, die in ihr fortlebe, nicht irgendwann, spätestens vor der Veröffentlichung dieses Buchs, auf einem DNA-Test bestanden habe. Doch ist es einem Kind, das sein Leben lang sicher ist, seine Eltern zu kennen, überhaupt zuzumuten, von einem auf den anderen Tag an der Tatsache der Vaterschaft zu zweifeln? Auch als skeptischer Leser sollte man jedenfalls für die Zeit der Lektüre erst einmal die Grundbehauptung der Vaterschaft Louis Armstrongs akzeptieren, sonst hat man wenig Spaß am Buch. Armstrong selbst schließlich scheint bis zu seinem Tod überzeugt davon gewesen zu sein, in Sharon eine Tochter gehabt zu haben.

Allen Fragen und sicher auch allen möglichen Zweifeln zum Trotz, die einem bei der überraschenden Enthüllung Sharon Preston-Foltas kommen mögen, lernt man einiges bei der Lektüre, und wenn nur, dass Scheinwerferlicht auch Schatten wirft, dass Stars wie Louis Armstrong das Leben vieler Menschen zum Teil viel direkter berührten, als man es wahrhaben mag, und nicht zuletzt, dass die Persönlichkeit großer Stars aus ihren emotionalen Stärken genauso besteht wie aus ihren emotionalen Unzulänglichkeiten. Am Glorienschein des großen Meisters mag das alles ein wenig kratzen; der Kraft seiner Musik tut es keinen Abbruch.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Theatrical Jazz. Performance, Àṣẹ, and the Power of the Present Moment
von Omi Osun Joni L. Jones
Columbus/OH 2015 (The Ohio State University Press)
270 Seiten, 99,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8142-1282-0

2015jonesDer Blick über den Tellerrand kann das Wesentliche erhellen, der Blick von außen Dinge erkennen lassen, die man im internen Diskurs oft nicht mehr sieht. Das ist einer der Hintergründe für die sogenannten “new jazz studies”, ein Konzept in der jüngeren Jazzforschung, das sich der untersuchten Materie neben der musikwissenschaftlichen Betrachtung interdisziplinär nähert. Die Feministin Omi Osun Joni L. Jones versucht in ihrem Buch eine Verbindung zwischen Jazzästhetik , theatralischer Performance und auf Yoruba basierender afrikanischer Theologie. Dabei beschreibt sie als eine der zentralen Prinzipien der Jazzästhetik die Fähigkeit, die eigenen intuitiven Kräfte freizusetzen. In ihrer Beschäftigung mit afrikanischer Spiritualität habe sie gelernt, dass auch in wissenschaftlichen Büchern die Auseinandersetzung mit spirituellen Impulsen nicht zu kurz kommen dürfte, ganz ähnlich wie dies auch Jazzgrößen wie John und Alice Coltrane immer gesehen hätten. Sie will mit ihrem Buch den Jazz gegen den Strich bürsten, seine Begriffe, Handlungen, Ausformungen kritisch hinterfragen, und zwar aus der Perspektive aller seiner unterschiedlichen Bedeutungen in musikalischer Ästhetik, Performance, gesellschaftlichem Spiegel, ethnischer Identität oder politischer Haltung. Es gäbe Kollegen, schreibt sie in ihrer Einleitung, die den Jazz als eine polyglotte Form ansähen und damit Gefahr liefen seine Wurzeln in der afro-amerikanischen Kultur zu leugnen. Tatsächlich aber sei die spirituelle Kraft nicht an irgendwelche Identitätsregeln gebunden. Die spirituelle Transzendenz des Jazz brauche keine Abwesenheit ethnischer Identität (“race”), sondern höchstens Abwesenheit solch einer ethnischen Identität (“race”) als Restriktion oder als Prognose.

Tatsächlich handelt ihr Buch allerdings zentral gar nicht von Musik, sondern vom Theater, und hier insbesondere von den drei Theaterautoren Laurie Carlos, Daniel Alexander Jones und Sharon Bridgforth. Jones bedient sich in ihrer Herangehensweisen an das Thema der feministischen und queeren Theorie, erklärt Wirkungen der Theaterperformance aus der Haltung des Jazz heraus und zugleich aus ihrer Interpretation von Yoruba-Traditionen. Als übergeordneten Approach versucht sie ihrem wissenschaftlichen Buch darüber hinaus aber auch improvisatorische Strukturen zu geben, indem sie Bilder, Fotos, Zeichnungen, Zitate einfließen lässt, die wie kurze solistische Kommentare neben ihrem Text stehen.

In ihrer Einleitung zitiert Jones einige Beispiele direkter Bezugnahme von Jazzmusikern wie Dizzy Gillespie und John Coltrane auf Yoruba-Beschwörungen, erinnert außerdem an die lebendige Avantgarde-Theaterszene von Austin, Texas, in der in den 190er Jahren die Verbindungen von Theater und Jazz besonders entwickelt wurden. Im ersten Kapitel betrachtet sie, wie biographische Erfahrungen die drei von ihr untersuchten Autoren prägten, Carlos’ Jugend im New Yorker East Village, Jones’ Aufwachsen im Arbeiterklasse-Milieu von Springfield, Massachusetts, Bridgforths Bustrips durch die verschiedenen Viertel von Los Angeles. Sie analysiert die dem Jazz nahestehenden Praktiken von Lehrer und Schüler im Theater, deren Lernprozesse dabei immer gegenseitig sind. Das zweite Kapitel untersucht Performance-Methoden, Ansätze an Regie, Probenphasen, das Beziehung-Herstellen zum Publikum, die Auswahl der Schauspieler, aber auch das Zulassen spiritueller Erfahrung im Verlauf der Performance. Im dritten Kapitel schließlich fragt sie danach, was die Performance beim Publikum (sie spricht gern von “witnesses” = Zeugen) auslöst, wie sie zu einer Perspektivverschiebung führen kann, einer aktiven Partizipation des Publikums, die das eigentliche Ziel aller Beteiligten sei.

Wenn ich Jones zu Beginn dieser Rezension in die Nähe der “new jazz studies” gestellt habe, so muss ich diese Aussage zumindest zum Teil revidieren. In den New Jazz Studies werden Aspekte des Jazz möglichst von vielen Seiten (und mit unterschiedlichen Methoden) betrachtet. Jones geht den entgegengesetzten Weg: Sie nutzt, was sie vom Jazz gelernt hat, um ihr eigentliches Thema, die Performance im Theater genauer zu definieren. Sie erkennt im Jazz Kommunikations- und Tradierungsmodelle, die so beispielhaft sind, dass sie ein anderes Genre besser verstehen lassen, vielleicht sogar Modell stehen können für neue, weitreichendere Regie- oder Performance-Ansätze. Ihr Buch ist darin so weitsichtig wie der Versuch früherer Literaturwissenschaftler wie Houston Baker, insbesondere den Bereich der afro-amerikanischen Literatur (aber durchaus darüber hinaus) durch die schon von Ralph Ellison oder Albert Murray identifizierte Blues Aesthetic zu beschreiben. Beide nahmen dabei sehr bewusst auf westafrikanische kulturelle Traditionen, Praktiken und Symbole Bezug, für den ungeübten Leser einerseits manchmal etwas schwer nachvollziehbar, gerade dadurch aber die Argumentation auch angenehm schnell aufbrechend und Rückschlüsse erlaubend.

Wenn nämlich die Praxis des Jazz als Erklärungsmodell für andere künstlerische Praktiken taugt, dann wirft das ein ganz anderes Licht auch auf den Stellenwert von Jazz und Improvisation.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


The Long Shadow of the Little Giant. The Life, Work and Legacy of Tubby Hayes
von Simon Spillett
Sheffield 2015 (Equinox)
377 Seiten, 19,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78179-173-8

2015spillettWie Hans Koller oder Lars Gullin war der britische saxophonist Tubby Hayes eine der europäischen Jazzgrößen, die ihren Kollegen genauso wie ihrem Publikum klar machten, dass der Jazz zwar eine afro-amerikanische Musik war, dass aber Europäer das Idiom durchaus beherrschten und ihre eigenen Beiträge zur Tradition des Jazz leisten konnten. Hayes kam aus der Swing-Mainstream-Tradition des Jazz, nahm erst Bebop, Hardbop, schließlich Einflüsse des Spiels John Coltranes in seinen Stil auf und starb 1973, gerademal 38 Jahre alt, in Folge einer Herz-Operation.

Dem Autor und Saxophonisten Simon Spillett gelingt es in seinem Buch “The Long Shadow of the Little Giant” mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews und Material aus Hayes’ persönlichem Archiv das Leben und die musikalische Karriere des Saxophonisten in den Jahren vom bombenerschütterten London der Nachkriegszeit über die jazzigen 1950er Jahre und die Swinging Sixties bis hin zur großen Krise des Jazz Anfang der 1970er Jahre nachzuzeichnen.

Hayes wurde in eine musikalische Familie geboren – sein Vater leitete in den 1930er Jahren verschiedene Tanzorchester, seine Mutter war Revuesängerin und -tänzerin. Schon früh war er vom Saxophon fasziniert, begann aber im Alter von acht Jahren erst einmal mit Geigenunterricht, und bekam schließlich zum elften Geburtstag das langersehnte Saxophon, das er größtenteils autodidaktisch meisterte. Er hatte ein gutes Gehör, und der Geigenunterricht hatte ihn zu einem exzellenten Notisten gemacht. Er hörte Charlie-Parker-Platten und bewegte sich in Kreisen Gleichgesinnter, spielte bald mit Ronnie Scott, Alan Skidmore und Kenny Baker, mit dem er im Juli 1951 auch seine ersten Aufnahmen machte.

Die Baker Band hatte jede Menge Fans, und die Presse wurde schnell auf Hayes aufmerksam, der bald als “boy wonder tenorist” vermarktet wurde und, noch nicht einmal 20 Jahre alt, mit den Modernisten der britischen Jazzszene spielte. Mit 18 heiratete er zum ersten Mal, hatte schon zuvor alle möglichen Drogen ausprobiert. Er spielte in den populären Bands von Vic Lewis, Jack Parnell, Tony Hall und hatte schließlich auch mit seiner eigenen Band einen vollen Terminkalender.

Spillett beschreibt, wie britische Musiker in jenen Jahren das US-amerikanische Idiom des Hardbop gemeistert hatten, die Musik von Art Blakey und Horace Silver, und wie Kollegen wie Sonny Rollins oder Hank Mobley ihre stilistischen Spuren in Hayes’ Spiel hinterließen. 1958 traten Hayes’ Jazz Couriers neben dem Dave Brubeck Quartet bei einer Tournee durch sechzehn Städte des Vereinigten Königreichs auf; 1959 wurde Hayes vom Melody Maker zum besten Tenorsaxphonisten gewählt.

Andere Musiker hatten die Entwicklung des amerikanischen Jazz genauso interessiert mit verfolgt; und um 1960 kamen erste Versuche “freier Form” auch in England an. Joe Harriott war einer der ersten, die sich an freieren Spielweisen versuchten; Hayes aber blieb skeptisch. Die Eröffnung von Ronnie Scott’s, bis heute einem der wichtigsten Clubs des Königreichs, war sowohl für die Präsenz des amerikanischen Jazz in England wichtig als auch für das Selbstbewusstsein der eigenen Szene. Der BBC schnitt Konzerte mit, und Plattenfirmen widmeten dem heimischen Jazz eigene Alben. 1961 trat Hayes erstmals in New York auf, wo ihn die Größen des amerikanischen Jazz hörten, unter ihnen Zoot Sims, Al Cohn und Miles Davis. Zurück in England erhielt er einerseits eine eigene Fernsehshow, “Tubby Plays Hayes”, hörte er andererseits erstmals John Coltrane, der sein Bild von den Möglichkeiten im Jazz genau wie das vieler anderer Kollegen völlig veränderte.

Als Duke Ellington 1964 in England auftrat, jammte Hayes mit Bandmitgliedern und wurde vom Duke gebeten für Paul Gonsalves einzuspringen, als dieser unpässlich war. In den nächsten Jahren war Hayes international unterwegs, trat im New Yorker Half Note genauso auf wie beim NDR Jazz Workshop in Hamburg. Er arbeitete wie besessen, hatte zugleich gesundheitliche Rückschläge, darunter eine Thrombose, die auch seine Lungenfunktion herabgesetzt hatte.

Ende der 1960er Jahre hatte der britische Jazz zwei Probleme: die Macht der Rockmusik auf der einen Seite und das Verlangen des Publikums nach amerikanischen Künstlern auf der anderen Seite. Hayes erlitt auch persönliche Rückschläge, etwa als seine Freundin starb und er daraufhin noch stärker zu Drogen griff. Er musste wegen Herzproblemen immer häufiger in ärztliche Behandlung, begann aber trotz aller gesundheitlichen Probleme ein musikalisches Comeback. Er spielte mit Musikern der britischen Avantgarde, John Stevens, Trevor Watts, Kenny Wheeler, beteiligte sich bei einem Benefizkonzert für Alan Skidmore, der nach einem Autounfall im Krankenhaus lag, starb aber schließlich nach einer Operation, bei der eine Herzklappe ausgetauscht werden sollte.

“The Long Shadow” heißt das Buch, und so widmet Spillett sein letztes Kapitel der kritischen Aufbereitung seiner musikalischen Bedeutung nach seinem Tod sowie dem Nachwirken Hayes’ auf der britischen Szene. Er schließt mit einer Diskographie die Aufnahmen des Saxophonisten zwischen 1951 bis 1973 verzeichnet.

Simon Spillett hat viel Sorgfalt in seine Recherchen gesteckt. Nebenbei wirft er immer wieder aufschlussreiche Blicke auf die Musik selbst, auf die Aufnahmen, die Hayes’ musikalische Entwicklung dokumentieren. Wenn überhaupt, so mangelt es dem Buch insbesondere in diesem Segment an Tiefe, etwa an Erklärungen, wo sich Einflüsse, ästhetische Umbrüche und anderes konkret festmachen lassen. Eingehend aber beschreibt er den Lebensweg, die persönlichen Probleme, die musikalischen und ästhetischen Entscheidungen und zieht die Verbindungen zu den allgemeinen Entwicklungen des Jazz in Großbritannien, in Europa und in den Vereinigten Staaten. Spillett konnte mit Zeitzeugen sprechen und hatte Zugriff auf Hayes’ persönliche Papiere. Sein Buch ist eine definitive Biographie, die viele Fragen beantwortet und dabei im umfassenden Apparat all die Dokumente benennt, die für eine solche Arbeit notwendig sind.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Musiktraumzimmer Jazzcampus
herausgegeben von Peter Rüedi & Steff Rohrbach
Basel 2015 (Jazzcampus / Echtzeit Verlag)
212 Seiten, 32 Euro
ISBN: 978-3-905800-78-4

B2015rueediasels Jazzschule ist zum Jazzcampus geworden, zu einer Hochschule für improvisierte Musik, in der, wie der Titel dieses Buchs suggeriert, jede Menge an Träumen und Visionen wahrgeworden sind. Da ist zuallererst die Vision des Gründers und Gitarristen Bernhard Ley, der erzählt, wie er die Schule in den Räumen eines Jugendkulturzentrums gründete und wie er es dann durch pädagogisches wie politisches Geschick, aber auch durch das Talent der Vernetzung, das die Schule zum Teil des Basler Kulturlebens werden ließ, erreichte, sie zu einem Kompetenzzentrum zu machen, in dem der musikalische Gehalt, die Arbeit von Lehrenden und Schüler/innen, sich auch in der architektonischen Umsetzung spiegelt.

Davon nämlich handelt dieses Buch, vom glücklichen Unterfangen, auf den Grundrissen einer ehemaligen Maschinenfabrik eine Musikschule zu bauen mit all der für eine solche notwendigen Infrastruktur, Club, Konzertsaal, Tonstudio, Probenräume etc. Ein Musiktraumzimmer sei das ganze geworden, eine Raumrealisation also, die dem Thema “Jazz” angemessen sei. Mitgeholfen hätten alle, die Architekten Lukas Buol und Marco Zünd, der Bauherr Georg Hasler von der Stiftung Levedo sowie Bernhard Ley, der als Studiengangsleiter den zukünftig alltäglichen Gebrauch im Blick behielt. Das Gespräch mit diesen vieren erklärt Fragen der Akustik, Diskussionen im Planungsverlauf, die Außenwirkung genauso wie den inneren Glanz (sprich: Farben, Bodenbeläde, Beleuchtung).

Solch eine theoretische Diskussion lässt sich nur durch Fotos und Raumpläne in Buchform einfangen. Eigentlich gehört Musik dazu, noch wichtiger wäre der tatsächliche Raumeindruck, der aber in der Architektur immer noch einzig durch einen Besuch ermöglicht wird.

Um die tatsächliche musikalische und pädagogische Nutzung der Räume geht es im zweiten, noch umfassenderen Teil des Buchs: um Konzepte der Jazzpädagogik, persönliche Herangehensweisen an Musik, ästhetische Vorstellungen, die Rückwirkung von Unterricht auf die eigene Kunst der unterrichtenden Musiker.

Wolfgang Muthspiel etwa betont, wie wichtig es neben einem festen Lehrerstamm sei, großartige internationale Kollegen als Gastdozenten an die Schule zu holen. Andy Scherrer erzählt, wie er zum Unterrichten wie die Jungfrau zum Kind gekommen sei, und wie er trotz vieler Schüler immer eine gesunde Skepsis gegenüber des Unterrichtens beibehalten habe. Malcolm Braff erklärt, dass er nicht so sehr das Klavier denn vielmehr sich selbst als das wirkliche Instrument empfinde und wie er in den letzten Jahren eine rhythmische Theorie entwickelt habe, die auch Grundlage seines Unterrichts an der Hochschule sei. Lisette Spinnler versteht die Stimme als Instrument und Texte als Ausgangspunkt für musikalische Erkundungen. Adrian Mears plädiert auch beim Lernen für Spielpraxis, egal mit was für Besetzungen. Bänz Oester vertraut auf die Motivation zukünftiger Musiker/innen, auf die Verantwortung für das Selbst, das Eigene. Domenic Landolf mag sich weder verbiegen noch sonderlich in den Vordergrund spielen. Jorge Rossy spricht über die Standards als Basis und über seine Arbeit mit Carla Bley und Steve Swallow. Matthieu Michel überlegt, wie man als junger Musiker neben der Technik vor allem zu einer eigenen Stimme gelangt. Hans Feigenwinter sieht seine analytischen Fähigkeiten als eine Grundlage seines Musikmachens, zugleich aber die Musik auch als laufenden Ansporn, sie analytisch zu begreifen. Gregor Hilbe berichtet über die Bedeutung des Schlagzeugers in einer rhythmischen Kultur, und zugleich über die Idee des Producing / Performance-Studiengangs am Jazzcampus Basel. Daniel Dettmeister hatte die Chance, als Tonmeister selbst Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung des Aufnahmesaals der Hochschule. Mit Martin Lachmann kommt zum Schluss auch noch der Akustiker selbst zu Wort, der die Räume eingerichtet hat.

Eine bunte Abfolge von Interviews, Reflexionen und Fotos also, die sehr umfassend das Konzept klarmachen, dass hinter dem Jazzcampus Basel steckt: Freiräume schaffen und beste akustische Möglichkeiten. “Musiktraumzimmer Jazzcampus” ist damit zwar vordergründig eine in Buchform gepresste Imagebroschüre der Hochschule, zugleich aber erheblich mehr: ein Manifest für eine Jazzausbildung, in der Kunst und Wirklichkeit, Klang und Akustik, Pädagogik und Freiheit sinnvoll miteinander in Beziehung stehen.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Résume. Eine deutsche Jazz-Geschichte
von Eberhard Weber
Stuttgart 2015 (sagas.edition)
252 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-944660-04-2

2015weberDer Autor kommt gleich zur Sache: Der Leser wisse ja bereits, dass er, Eberhard Weber, gut 40 Jahre lang als Jazzbassist aktiv war, vielleicht auch, dass er seine aktive Karriere nach einem Schlaganfall 2007 beenden musste. Der Leser wisse wahrscheinlich etliches über seine Karriere, wahrscheinlich auch über den Jazz – was könne er dazu noch beitragen…? Nun, wenn überhaupt, dann könne er aus seinen eigenen Erinnerungen erzählen, sehr persönliche Geschichten, die sich um die Musik drehen, die aber auch sein ästhetisches Weltbild und vieles darüber hinaus berühren. Webers Buch wird so zu seinem “Resumé”. Und es mag vielleicht nicht “die” deutsche Jazzgeschichte sein, aber es ist auf jeden Fall, wie der Untertitel verspricht, “eine deutsche Jazz-Geschichte”, ein Beispiel dafür, wieso ein junger Mann zu dieser Musik kommt, was ihn über all die Jahrzehnte an ihr faszinierte und wie er lernte, in ihr sich selbst auszudrücken.

Eberhard Weber, dem musikalischen Geschichtenerzähler, gelingt der narrative Bogen auch in Worten. Bereits das Eingangskapitel, das vom “Schlag” handelt, der ihn kurz vor einem Konzert mit Jan Garbarek in der Berliner Philharmonie traf, von der Unsicherheit über seinen Gesundheitszustand, von der Hoffnung, wieder spielen zu können, zeigt seine erzählerischen, auch zur Selbstironie fähigen schriftstellerischen Qualitäten.

Im zweiten Kapitel widmet sich Weber seiner eigenen Vorstellung von Jazz. “Jazz”, schreibt er ironisch, doch nicht ganz falsch, “ist, wenn es der Komponist, der Arrangeur oder der ausführende Musiker dem Hörer so schwer wie möglich macht, der Musik zu folgen – und trotzdem alle Spaß daran haben. Das unterscheidet ihn von der vermeintlich ‘Neuen Musik’.” Doch neben dem Jazz als großer Kunst will Weber in diesem Kapitel auch seiner eigenen Ästhetik auf die Schliche kommen. Wiederholungen, erkennt er, langweilen ihn in der Regel; die Schlüsse von Stücken, findet er, misslingen meist. Er weiß, dass Solisten auch mal ohne Inspiration sein können und weiterspielen müssen. Er weiß auch um seine eigenen Schwächen als Bassist und beschreibt, wie man nur, wenn man um die technischen Probleme des eigenen Spiels oder des eigenen Instruments weiß, diese überkommen und kreativ mit ihnen umgehen könne.

Weber selbst wurde die Musik in die Wiege gelegt. Sein Vater, erzählt er, hatte als Cellist klassische Musik gemacht, daneben aber auch Cello und Banjo im Tanzorchester von Bernard Etté gespielt. Weber kam mitten im Krieg in Esslingen zur Welt. Seine Mutter sang, und “im häuslichen Weber’schen Freundeskreis”, erinnert er sich, “triumphierte Gesang über Instrumentales”– vielleicht eine Vorbereitung auf seine eigene sangliche Haltung beim Instrumentalspiel? Gehörbildung fand im Kinderzimmer statt, wenn seine Schwester und er Automarken am Klang unterschieden und dabei lernten zuzuhören und zu differenzieren. Ein Vetter quartierte sich nach der Kriegsgefangenschaft bei ihnen ein und begann Flöte zu lernen. Man diskutierte über Wagner und spielte Kammermusik. Weber bekam Cellounterricht, dann entdeckte er den Jazz und mit ihm wechselte er zum Kontrabass.

Im Jazz brachte er sich das meiste selbst bei, berichtet von ersten Bühnenerfahrungen, von Stuttgarter Jazzern wie Horst Fischer und Ernst Mosch, vom ersten Einsatz in Erwin Lehns Orchester als Vertretung für dessen regulären Bassisten. Seine musikalische Leidenschaft führte dazu, dass Weber durchs Abitur rasselte, eine Lehre als Fotograf begann und Kameraassistent bei einer Fernsehfirma wurde. Nebenbei spielte er mit gleichaltrigen Musikern, lernte Anfang der 1960er Wolfgang Dauner kennen und wurde bald Mitglied in dessen Trio. Er erzählt von den unterschiedlichsten Auftrittsorten zwischen Nachtclub, Café, Tanz und Ami-Kaserne, von Einflüssen auf sein Bassspiel, davon, wie das Dauner-Trio seinen eigenen Stil fand. Zwischendurch gibt es reichlich Anekdoten, aber auch Einblicke in die technischen Seiten seiner Kunst: Instrumentenwahl, Akustik, Pickups, Verstärker, elektronische Spielereien.

Ende der 1960er Jahre wandten Dauner und Weber sich freieren Spielweisen zu. Weber weiß um seine Beobachtungsgabe, weiß auch, dass er sich gern mal zur Polemik hinreißen lässt. Doch er besitzt eben auch die Erfahrung, Beobachtetes, insbesondere, wenn es um Musik geht, passend einordnen zu können. Und so mag man mit mancher polemischen Äußerung, die seinem eigenen musikalischen Geschmack zuzuschreiben ist, nicht übereinstimmen, wird aber an richtiger Stelle durch ein Augenzwinkern darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor zwar eine feste Meinung hat, sich selbst aber auch nicht immer ganz so ernst nimmt.

Weber stand in seiner Karriere bei zwei Plattenfirmen unter Vertrag, die Weltgeltung besaßen, Hans-Georg Brunner Schwers MPS und Manfred Eichers ECM. Er beschreibt die Arbeiten zu “The Colours of Chloë” und den folgenden internationalen Erfolg. Er erzählt vom Zusammenspiel mit Gary Burton, von den Unterschieden zwischen amerikanischen und europäischen Gepflogenheiten in der Jazzszene, von Tourneen mit seiner eigenen Band Colours, durch Deutschland – Ost und West –, die USA und Australien. Er berichtet von seiner Zusammenarbeit mit Jan Garbarek, mit dem er auch offizielle Empfänge spielte, bei denen Politiker, Botschafter, Bundespräsidenten, gekrönte Häupter begeistert waren, “endlich mal kein Streichquartett hören zu müssen”.

Eberhard Weber ist ein vielgereister Musiker. Seine Berichte von Zollformalitäten, Einreisebestimmungen, fasst verpassten Flügen und sonstigen Widrigkeiten sind amüsante Anekdoten, die vor Augen führen, dass das Musikerdasein nicht nur der aus musikalischer Kreativität besteht, die das Publikum erwartet und zumeist auch bekommt. Eine Professur für Musik hatte er nie annehmen wollen. Seine Begründung, die wie ein Tenor seine ungemein flüssige und lesenswerte Autobiographie beendet: “Ich kann nicht Bass spielen. Aber ich weiß, wie’s geht.”

Wolfram Knauer (Juni 2015)


Coltrane sur le Vif
von Luc Bouquet
Nantes 2015 (Lenka Lente)
146 Seiten, 13 Euro
ISBN: 978-2-9545845-8-4

2015bouquetDie Großen des Jazz waren zumeist auch die Meistaufgenommenen, und neben den offiziellen Einspielungen im Studio gehörten über die Jahre Bootlegs dazu, Schwarzpressungen von legalen oder illegalen Mitschnitten, die in mal besserer, mal schlechterer Qualität auf den Markt kamen. Solche Bootlegs haben naturgemäß keine Studioqualität; zum Teil sogar einen unsäglich schlechten Sound. Aber sie sind nicht nur für den Fan, sondern auch für den Experten ein immens wichtiger Teil der Aufnahmegeschichte dieser Musiker. Sie dokumentieren nicht die perfekte Abmischung, sondern den Alltag des Konzerts, in dem das Solo völlig anders klingen kann, in dem die Künstler mit dem Material oder auch mit sich selbst zu kämpfen haben, in dem mal bessere, mal schlechtere Fassungen der großen Titel erklingen, vergleichen mit den auf den im Studio gefertigten Referenzaufnahmen.

Luc Bouquet hatte im französischen Magazin Improjazz eine Reihe über die Liveaufnahmen John Coltranes veröffentlicht und diese jetzt in die zwölf Kapitel des vorliegenden Buchs einfließen lassen. Ein erstes Kapitel beschreibt Coltranes erste Aufnahmen aus dem Jahr 1946 sowie zwei Sessions mit Dizzy Gillespie bzw. Johnny Hodges. Kapitel 2 widmet sich den Jahren 1955-57 und Livemitschnitten mit Miles Davis, Kapitel 3 der Zeit von 1957-58 und den erst jüngst entdeckten und doch schon legendären Aufnahmen Coltranes mit dem Thelonious Monk Quartet. Zwei weitere Miles Davis-Kapitel schließen sich an, 1958-59 in den USA sowie 1960 in Europa, dann beginnt mit Kapitel 6 die Aufnahmegeschichte von Coltranes eigenen Bands: sein klassisches Quartett, Trane und Dolphy, die diversen Besetzungen von 1962, 1963, 1964-65 bis hin zu seiner letzten Liveaufnahme, dem “Olatunji”-Konzert vom April 1967. Jede der Platten wird mit Besetzungs- und Inhaltsangaben gelistet, dazu kommt eine kurze Beschreibung dessen, was auf ihr zu hören ist. Allzu tief versteigt sich Bouquet dabei weder in die Musik noch in die Begleitumstände der Aufnahmen – so wäre etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Entdeckungsgeschichte der Bänder von Tranes Carnegie-Hall-Konzerts mit Thelonious Monk durchaus berichtenswert gewesen.

Bouquets Buch ist als eine Art annotierte Diskographie der Liveaufnahmen John Coltranes ein nützliches Handbuch sowohl beim Hören wie auch bei der Entscheidungsfindung, was man sich vielleicht noch zulegen könnte.

Wolfram Knauer, April 2015Rencontres du jazz et de la musique contemporaine
herausgegeben von Jean-Michel Court & Ludovic Florin
Toulouse 2015 (Presses Universitaires du Midi)
184 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-2-8107-0374-6

Das vorliegende Buch ist die Dokumentation einer Tagung, die im Oktober 2013 in Toulouse stattfand und sich mit aktuellen Beziehungen zwischen Jazz und Zeitgenössischer (sogenannter “Neuer”) Musik beschäftigte. Im Vorwort stecken die beiden Herausgeber das Feld ab, das irgendwo zwischen Anthony Braxton und IRCAM-Experimenten angesiedelt ist und bei dem oft die Genrebezeichnung, ob “Jazz” oder “Neue Musik”, im Weg steht, da die Musik selbst solche Grenzen inzwischen gern und oft überschreitet.

Die Beiträge selbst sind theoretisch-musikwissenschaftlicher Natur. Im ersten Teil findet Vincenzo Caporaletti, dass die jüngere Entwicklung im Kunstmusikbereich neue wissenschaftliche Ansätze benötigt und stellt sein “principe autiotactile” vor, durch das sich sowohl für komponierte wie auch für improvisierte Musik die performativen Prozesse genauso analysieren ließen wie die ästhetischen Prozesse, die durch die Musik wie auch durch äußere, etwa mediale Einwirkungen mitbestimmt werden. Alexandre Pierrepont nähert sich der Frage, inwieweit die genre-spezifische Einordnung und Wertung von Musik aus den Bereichen europäischer klassischer Musik und des afro-amerikanischen Jazz nicht auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser zu Missverständnissen führt, wenn die Querverbindungen, die ja zwischen den Genres bestehen, oft und gern mit kulturellen Konnotationen versehen werden. Pierre Sauvanet betrachtet, wie das Moment der “Tradition” von Musikern im Jazz, der Neuen Musik und in tatsächlich “traditionellen” Musikrichtungen unterschiedlich behandelt wird.

Im zweiten Teil des Buchs geht es an konkrete Analysen. Pierre Fargeton befasst sich mit Franz Koglmanns langjähriger Auseinandersetzung mit dem Third Stream, der Neuen Musik und anderen Kunstrichtungen. Konkret untersucht er Koglmanns “Join!” eine “Oper” aus dem Jahr 2013 auf diverse Bezüge (1.) zum Jazz und (2.) zur Zeitgenössischen Musik. Martin Guerpin analysiert die Komposition “Unisono” des israelischen Komponisten Ofer Pelz und identifiziert darin insbesondere die Jazzverweise. Wataru Miyakawa untersucht das Werk des japanischen Komponisten Toru Takemitsu, in dem ihn vor allem der Einfluss des Lyrian Chromatic Concept von George Russell interessiert.

Im dritten Teil des Bandes berichtet der Gitarrist Frédéric Maurin darüber, wie er Methoden der Spektralmusik, die in den 1970er Jahren im Kreis der IRCAM in Paris entwickelt wurde, etwa für seine Band Ping Machine nutzbar macht. Cécile Auzolle untersucht das “Wintermärchen” des belgischen Komponisten Philippe Boesmans von 1999 und hat dabei Einflüsse aus dem jazz sowie improvisatorische Passagen im Fokus, die in der Oper vom Ensemble Aka Moon ausgeführt wurden. Henri Fourès hinterfragt die Begriffe Jazz, Zeitgenössische Musik, Komposition, Notation und Improvisation auf ihre Wertigkeit in der Hochschullehre. Zum Schluss berichten die Bassistin Joëlle Léandre, der Saxophonist Douglas Ewart und der Trompeter Mike Mantler über ihre eigenen Erfahrungen im Feld zwischen den Welten von Jazz und Neuer Musik.

“Rencontres du jazz et de la musique contemporaine” wirft ein Schlaglicht auf eine offenbar immer noch wichtige Diskussion in den beiden darin angesprochenen Welten. Der einleitende Überblick listet frühere Beschäftigungen mit dem Thema auf (hier fehlt allerdings der Band “Jazz und Komposition”, der das 2. Darmstädter Jazzforum von 1991 dokumentiert und in dem dieses Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet wurde). Sowohl in den allgemein theoretischen wie auch den konkreter praktischen Kapiteln fehlt ein wenig – aber das ist bei einer Tagung, die das nicht ausdrücklich zum Thema machte, vielleicht auch kaum zu leisten – die grundlegende Diskussion einer anders als aus dem europäischem Wissenschaftsdiskurs entstandenen Reflexion über Musik, eine Perspektive also, die sowohl Jazz wie auch die in europäischer Tradition stehende Neue Musik etwa aus dem Blickwinkel von Community, von Macht, von Geschlechterungleichheit oder ähnlichem betrachtet, sich dabei nicht auf die bestehenden meist europäisch gefärbten und genormten Diskurstraditionen einlässt, sondern mutig nach neuen sucht. Das von George Lewis und Benjamin Piekut 2016 herausgegebene Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies geht da einen anderen Weg, braucht, um das Thema abzudecken allerdings auch über 1000 Seiten.

Wolfram Knauer (März 2018)


Bunk Monk & Funk – and other attractions
von Anders Stefansen (& Jan Søttrup)
Kopenhagen 2012 (People’s Press)
248 Seiten, 249 Dänische Kronen
ISBN: 978-8771-37035-5

Anders Stefansen ist ein bisschen der Fritz Rau Dänemarks: ein Konzertveranstalter, der eher zufällig ins Geschäft kam, in den frühen 1960er Jahren für Norman Granz dessen Skandinavien-Tourneen organisierte (so wie dies Lippmann + Rau in Deutschland taten), später auch populärere Acts betreute, von den Beatles bis zu den Rolling Stones. In seiner Autobiographie erinnert sich Stefansen an die vielen Freundschaften zu Musikern, die er in seinem Berufsleben schließen konnte, an das Tourleben, an Probleme und ihre jeweilige Lösung, und an Begegnungen wie die mit John Coltrane, Andrés Segovia, Count Basie, Duke Ellington, Ben Webster, Cecil Taylor und vielen anderen. Er beleuchtet die Realitäten des Business, schwelgt aber vor allem in Erinnerungen. Wenn es dabei auch mehr um die Menschen geht als um die Musik, so ist die Lektüre seines Buchs dennoch erhellend nicht nur für diejenigen, die von seiner Arbeit als Konzertveranstalter profitierten, etwa weil sie selbst im Publikum saßen. Seine Anekdoten beleuchtet zugleich eine ungewöhnliche Karriere zwischen Musik und guter Küche (Stefansen eröffnete eines der ersten French Cuisine Restaurants in Dänemark). Und seine Anekdoten über Henry Miller, den er traf, als er den Film “Ruhige Tage in Clichy” produzierte, sind besondere Zugaben der Lektüre.

Wolfram Knauer (Januar 2018)


Fashion and Jazz. Dress, Identity and Subcultural Improvisation
von Alphonso D. McClendon
London 2015 (Bloomsbury Academic)
194 Seiten, 24,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-85785-127-7

Von den Banduniformen der Swingorchester über die Gardenie im Haar von Billie Holiday bis zu Wynton Marsalis’ in Brooks Brothers-Anzüge gekleidetes Lincoln Center Jazz Orchestra: Jazzmusiker waren immer auch Mode-Ikonen. Miles Davis mag diese Facette seines Bühnenlebens am stärksten ausgelebt haben, doch findet sich das Bewusstsein für die Bühnengarderobe durch die Jazzgeschichte. Als Art Blakey seiner Band in den 1970er Jahren für eine Weile erlaubte, in Straßenklamotten aufzutreten, war das eine Ausnahme. Er wie andere Musiker wussten, dass sie als afro-amerikanische Künstler Vorbildfunktion hatten.

Alphonso D. McClendon ist Modeforscher und hat sich in seinem Buch “Fashion and Jazz” dem Subtext der Musikergarderobe durch die Jazzgeschichte angenommen. Ihm ist wichtig, auf die gegenseitigen Einflüsse zwischen Jazz und Mode hinzuweisen, wie er gleich im ersten Kapitel deutlich macht, in dem er Parallelen und Einflusswege nennt, dass nämlich sowohl Mode wie auch Jazz auf ihre jeweilige Art und Weise vom Freiheit des Ausdrucks handeln. Es habe im Jazz durchaus eine “Sprache der Kleidung” gegeben, sagt er – will heißen: die Bühnenpräsentation hatte immer auch etwas zu bedeuten, und Kleidung habe zur visuellen Ästhetik von Jazzmusikern beigetragen, ob in der Performance auf der Bühne oder in Abbildungen.

Im zweiten Kapitel geht McClendon das Thema dann chronologisch an. Er beschreibt die Mode der Ragtime-Ära und der Bluesmusiker, die Bühnenkostüme von Swing-Musikern und die Selbstdarstellung der Bebopper, die zugleich “die Konstruktion eines subkulturellen Stils” gewesen sei, und stellt schließlich fest, das sowohl Mode wie auch Jazz ähnliche Perioden von Konformität (1900-1920), populärem Einfluss (1920-1940) und Widerstand (1940-1960) durchgemacht hätten.

Kapitel 3 diskutiert Momente “der Moderne” bzw. “des Modernen” und die Kommunikation beider durch Mode und Spielpraktiken im Jazz. Im vierten Kapitel beschreibt McClendon Strategien der Distinktion durch Jazz und Mode, um sich im fünften Kapitel etwa auf die Darstellung von Frauen und Männern in frühen Sheet-Music-Covers zu konzentrieren. Kapitel 6 diskutiert subversive Konnotationen, die sich etwa in Texten von Bluessängerinnen finden oder im Eingang von Jazzthemen in die Literatur oder den Film. Kapitel 7 ist überschrieben “Narcotics and Jazz: A Fashionable Addiction” und beschreibt unter anderem, wie elegante Kleidung auch helfen konnte ein Leben im Schatten der Drogensucht zu verschleiern. Kapitel 8 fokussiert auf Billie Holiday als Musik- wie Mode-Ikone; Kapitel 9 beschreibt Duke Ellington und Benny Carter als “traditionellen Dandy” sowie Dizzy Gillespie und Gerry Mulligan als “modernen Dandy” und blickt kurz darauf, wie amerikanische Präsidenten wie Bill Clinton und Barack Obama ihre Nähe zum Jazz als Imagefaktor ausnutzten.

McClendons Buch reicht leider nur bis ins Jahr 1960 und verpasst damit die politische Garderobe von Dashikis, schwarzen Lederjacken oder soul-beeinflusster Hipstermode der 1960er und 1970er Jahre, thematisiert also auch nicht die Rückkehr zur ordentlichen Garderobe mit Aufkommen der Young Lions der 1980er Jahre. Er thematisiert damit weder die modetechnische Annäherung zwischen den Genres, etwa in Richtung Rock oder auch Neue Musik, noch die Unterschiede etwa in im Modeverhalten amerikanischer und europäischer Musiker. Doch gelingt ihm in diesem eigentlich auf der Hand liegenden und doch so ganz anderen Blick auf Jazzgeschichte eine Perspektive, die Aufschluss über Imagebildung, Selbstverständnis der Künstler und die gegenseitige Beeinflussung von Image und künstlerischem Anspruch erlaubt. Etliche Bilder, eine ausführliche Bibliographie und ein Namensindex schließen das Buch ab.

Wolfram Knauer (August 2017)


Sales Rectangles. Daunik Lazro. Vieux Carré
von Guillaume Belhomme
Nantes 2015 (Lenka Lente)
44 Seiten, 1 Mini-CD, 9 Euro
ISBN: 978-2-9545845-9-1

Am 21. Mai 2011 spielte der Saxophonist Daunik Lazro ein inspiriertes unbegleitetes Solokonzert in einen Buchladen in Rouen. Guillaume Belhomme versucht die Stimmung des Konzerts einzufangen, indem er eines der Stücke Lazros, eine lange Improvisation über Joe McPhees “Vieux Carré” mit kurzen Blicken in die Bücher, die um ihn herum stehen und liegen, verbindet. Seine knappen, aus jeweils nicht mehr als einem Satz bestehenden Kommentare lassen sich den diesen Büchern allerdings erst zuweisen, wenn man sie anhand der im Büchlein abgedruckten Barcodes (bzw. die diesen beigefügten ISBN-Nummern) sucht. Und tatsächlich gelingt es Belhomme dabei ein wenig, jene Stimmung eines Konzerts im Buchladen einzufangen, bei dem die Konzentration auf die Musik von den Blicken zu und in die Bücher, von der Wahrnehmung der Atmosphäre, von kurzen Reflektionen darüber, was man da aufblättert, während man zugleich zuhört, unterbrochen, aber durchaus auch bereichert wird. Ein ungewöhnliches, durchaus inspirierendes Experiment, das den Leser / Hörer quasi subkutan auf die Komplexität der Wahrnehmung von Musik aufmerksam macht.

Wolfram Knauer (März 2017)


Spirits Rejoice! Jazz and American Religion
von Jason C. Bivins
New York 2015 (Oxford University Press)
369 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-023091-3

Jazz und Spiritualität sind für viele Musiker eine zusammenhängende Einheit. Duke Ellington, John Coltrane, Albert Ayler, Rahsaan Roland Kirk, Yusef Lateef, Anthony Braxton – die Liste der Musiker, für die ihre musikalische immer auch eine spirituelle Suche war, ist lang. Der Religionswissenschaftler und Jazzgitarrist Jason Bivins beleuchtet in seinem Buch dieses Verhältnis zwischen Religion und Musik anhand zahlreicher Beispiele und legt, gerade weil er seine Studien aus der Perspektive eines Religionsforschers und mit dem Wissen eines Jazzers macht, ein wichtiges Buch vor, in dem das Thema weit fundierter angegangen wird als in vielen Biographien der bereits genannten Musiker.

In seinen “ersten Meditationen” zum Thema stellt Bivins fest, dass Jazz genauso wie Religion in ihrer jeweiligen Individualität der Wahrnehmung schwer fassbare Gebilde seien. Er weiß um die ganz unterschiedlichen Ausprägungen des Religiösen oder Spirituellen gerade in der Musik, die irgendwo zwischen Ritual und Weltforschung liegt. Er fragt, wie sich das spirituelle Umfeld, aus dem Musik heraus initiiert oder rezipiert wird, auf die Musik selbst auswirkt. Er befasst sich mit konkreten Traditionen, auf die Jazz sich immer wieder bezog. Er betrachtet Beispiele, in denen mit Jazz amerikanische Geschichte genauso wie religiöse Aspekte derselben dargestellt werden. Er befasst sich mit Jazz in religiös-musikalischer Praxis. Er hinterfragt das Klischee von Jazz als rituelle oder heilende Praxis. Er diskutiert Verweise im Jazz auf Mystizismus, Selbstlosigkeit, die klangliche Verbindung zu einem höheren Wesen. Es untersucht Kosmologien und metaphysische Theorien im Jazz. Er will damit nicht nur Aspekte der Jazzgeschichte durch ihre Verankerung in religiösen Praktiken erklären helfen, sondern zugleich die Religionsgeschichte in den USA seit den 1920er Jahren mithilfe ihres Widerhalls im Jazz beleuchten.

Bivins geht dabei weder chronologisch vor noch versucht er seine Thesen an zentralen Figuren festzumachen, wenn es auch an konkreten Beispielen nicht mangelt in seinem Buch. Natürlich spielt der Einfluss der schwarzen Kirche auf viele afro-amerikanischen Musiker eine wichtige Rolle. Er beschreibt das Zeugnis ablegende (“testifyin'”) Tenorsaxophonspiel Albert Aylers. Er findet Spiritualität in Charles Gayles Bühnen- genauso wie Straßenmusikauftritten. Er fragt nach den Gründen von Jazzmusikern zum Islam, zum Buddhismus, zum Bahá’í, zur Scientology zu konvertieren und ihre Reflektion über die jeweilige religiöse Praxis und ihre Auswirkung auf ihre Musik. Er befasst sich mit den Ausprägungen des “Radical Jewish jazz” und mit der Idee einer imaginären Folklore in den Vereinigten Staaten.

Er beschäftigt sich mit Beispielen, in denen Jazzmusiker bzw. ihre Werke religiöse Geschichte erzählen und verwebt dabei eng religiöse und politische Aussagen, etwa in den Aufnahmen von Charles Mingus, Archie Shepp, Max Roach und Abbey Lincoln. Auch der Saxophonist Fred Ho und sein Einsatz für einen Asian American Jazz kommen zur Sprache sowie Sun Ras Verweise auf weltumspannende Verbindungen, die weit über den Planeten Erde hinausreichen. Er geht auf Ellingtons “Sacred Concerts” ein und widmet eine längere Passage John Carters Komposition “Roots and Folklore”, die, wie er findet, ein würdiger Träger des Pulitzer Preises gewesen wäre, den Wynton Marsalis später für sein Oratorium “Blood On the Fields” erhielt.

Er entdeckt im Bemühen von Musikern seit den 1950er Jahren sich zu organisieren neben den politischen auch spirituelle Gründe, wie er etwa am Beispiel der AACM und der Black Artists Group zeigt. Die von Horace Tapscott gegründete Underground Musicians Association, die Saint John Coltrane African Orthodox Church und Alice Coltranes Ashram sind für ihn konkrete Beispiele, wie Jazz als spirituell-religiöses Ritual gelebt und zelebriert werden kann.

Im zweiten Teil seines Buchs beschäftigt sich Bivins mit den engen Verbindungen zwischen Ritual und Improvisation, nennt Beispiele aus dem Schaffen von Duke Ellington, Mary Lou Williams, Milford Graves, Cecil Taylor, bezieht sich aber auch auf das Feld des afro-kubanischen Jazz, auf Steve Colemans Studien zur Yoruba-Kultur und auf die Musik des Art Ensembles of Chicago.

Ein eigenes Kapitel befasst sich mit Meditation und Mystizismus und verweist dabei auf Musiker wie Steve Lacy, Arthur Blythe, William Parker und Davis S. Ware. Ornette Colemans Harmolodics und George Russells Lydian Chromatic Concept werden von Bivins nicht allein als musiktheoretische Abhandlungen verstanden, sondern als Beispiel für kosmologische und metaphysische Versuche Jazz, Improvisation, ja Musik ganz allgemein zu fassen. In dieses Kapitel gehören auch Anthony Braxtons Tri-Axium-System und Wadada Leo Smith’ Ankhrasmation.

In seinem Schlusskapitel stellt Bivins dann noch einmal klar, dass die Auseinandersetzung mit Jazz oder mit Religion notwendigerweise eine fragmentarische sein muss, dass beide Praktiken ein Versuch sind, sich der Komplexität der Welt zu nähern, unsere eigene Sicht aber immer durch das geprägt ist, was wir bereits “wissen”. Für einige sei Musik wie Religion, weiß er, das aber beinhalte weit mehr als die pure Hingabe. Wie die Religion in amerikanische (und weltweiter) Geschichte, habe auch die Musik subversive Funktionen gehabt, habe Einfluss auf die Wahrnehmung der Realität genommen und diese damit ändern können.

Bivins’ Entscheidung, keine klar strukturierte Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Jazz und verschiedenen Ausprägungen von Spiritualität zu wählen, sondern stattdessen Themen zu identifizieren und von verschiedenen Seiten zu beleuchten, führt dazu, dass man auch als Leser die Vorstellung von Religion, Spiritualität, Ritual weiter fasst. Wo man zu Beginn der Lektüre von der sehr offenen Fassung der Begriffe noch ein wenig irritiert sein mag, da ist man dem Autor am Ende genau dafür dankbar, da er es schafft, auch beim Lesen die schnellen Analogien zu vermeiden. Bivins gelingt es, diesen offenen Geist in seine Leser zu übertragen – für den europäischen Leser dann auch in Richtung all der Themen, die sich hierzulande in die verschieden Kapitel einflechten ließen.

Wolfram Knauer (März 2017)


Omniverse Sun Ra
von Hartmut Geerken & Chris Trent
Wartaweil 2015 (Waitawhile Books / Art Yard)
304 Seiten, 69 Euro
ISBN: 978-0-9933514-0-2

Von 1994 stammt das damals im LP-Schallplattenformat veröffentlichte, von Hartmut Geerken und Bernhard Hefele herausgegebene Buch “Omniverse Sun Ra”. Jetzt erschien eine Neuauflage dieses Werks, das das Universum des Meisters aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben versucht.

Geerken war in den 1960er bis 1980er Jahren Institutsleiter verschiedener Goethe-Institute. Als Perkussionist hat er daneben mit zahlreichen Musikern vor allem aus dem Bereich der improvisierten Musik zusammengearbeitet. In Jazzkreisen ist er dabei insbesondere als Kenner des Oeuvres Sun Ras bekannt und war für Konzerte des Arkestra verantwortlich, etwa 1971 in Kairo, wo er seinerzeit fürs Goethe-Institut wirkte. Sein Buch von 1994 war eine kleine Sensation für die Aufarbeitung des Ra’schen Oeuvres; die Neuauflage ist nicht weniger willkommen.

Was übernommen wurde: Amiri Baraka beginnt das coffeetable-große Buch mit einem einleitenden, sehr persönlichen Text über den Meister. Robert Campbell erzählt die irdische Biographie Herman Blounts von seiner Geburt in Birmingham, Alabama, im Jahr 1914 bis zu seinem Tod im Mai 1993 und ordnet zugleich die verschiedenen Besetzungen und musikalischen Phasen seines Schaffens zu. Sigrid Hauff untersucht die mythologische und spirituelle Welt, die Sun Ra musikalisch genauso wie in Texten oder Interviews heraufzubeschwören versuchte. Chris Cutler ordnet sein musikalisches Schaffen in den größeren Kontext von Jazz und afro-amerikanischer Musikgeschichte ein. Robert Lax versammelt mehr oder weniger unzusammenhängende Gesprächsfetzen, Bonmots und Aphorismen des Pianisten, Komponisten, Bandleaders und spirituellen Philosophen. Salah Ragab berichtet über Konzerte des Arkestra in Ägypten in den Jahren 1983 und 1984. Karlheinz Kessler hinterfragt die Verwendung von Ritualen in den Performances der Band. Gabi Geist schreibt ein Horoskop für jemanden, der immer sagte, dass sein Geburtstag und -ort höchstens irdisch seien, tatsächlich aber seiner Herkunft nicht gerecht würden. Hartmut Geerken schließlich erinnert sich an den Besuch des Arkestra in Ägypten im Dezember 1971. Zwischendrin finden sich zahlreiche Fotos, viele davon von der britischen Fotografin Val Wilmer.

Was neu ist: Ein Text Bernhard Helefes entfällt in der Neuauflage. Den ausführlichen diskographischen Teil des Buchs hat Chris Trent neu geordnet. Wieder gibt es einen umfangreichen Bildteil, der die Plattencovers zeigt.

“Omniverse Sun Ra” war schon in der ersten Ausgabe von 1994 eine labor of love. Die neue Ausgabe hat einen Hardcover-Einband, ein etwas handlicheres Format, einen Block mit Farbfotos der Band, die im früheren Buch nicht enthalten waren. Es verzichtet auf die Tapeologogy, also die Auflistung oft privater Konzertmitschnitte, sowie auf die ausführliche Bibliographie der früheren Ausgabe.

“Omniverse Sun Ra” bleibt bei alledem ein großartiges Buch, das in Wort, Bild und Tonträgerverweisen als hervorragendes Nachschlagewerk über die Welt und Weltsicht Sun Ras genauso zu nutzen ist wie als eine Dokumentation, in der auch “Nachgeborenen” die Bühnenperformance des Arkestra vor Augen geführt wird.

Wolfram Knauer (März 2017)


A City Called Heaven. Chicago and the Birth of Gospel Music
von Robert M. Marovich
Urbana/IL 2015 (University of Illinois Press)
488Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08069-2

Gospelmusik, erklärt Robert Marovich, Rundfunkmoderator, Herausgeber des Journal of Gospel Music und Musikhistoriker, sei die künstlerische Antwort auf die Great Migration gewesen, in der tausende und abertausende Afro-Amerikaner zu Beginn des 20sten Jahrhunderts aus den Südstaaten in den Norden zogen und insbesondere in Städten wie Chicago ein neues Zuhause fanden. Blues, sagte Mahalia Jackson einmal, seien Lieder der Verzweiflung gewesen, Gospel dagegen Lieder der Hoffnung. Das Genre, erklärt Makovich in seinem Buch, das sich auf die Verankerung der Musik im Chicago des 20sten Jahrhunderts fokussiert, sei wie eine soziale Organisation organisiert gewesen, die jeden, egal wie gut er oder sie singen konnte, willkommen geheißen hätte.

In seinem Buch beschreibt Marovich die Entwicklung der Gospelmusik von frühen Hymnen und Camp Meetings über die beschriebene Great Migration und die lebendige Gospelszene von Chicago bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sounds, Rhythmen und der Enthusiasmus dieser Musik Eingang in die Popmusik fanden und schließlich zur Begleitmusik der Bürgerrechtsbewegung wurden. Er greift auf Interviews und selten ausgewertete historische Quellen zurück, um die Einbettung der Musik in die Community zu beschreiben; er entdeckt die Bedeutung von Predigern, deren eindringliche Sermons ab den 1920er Jahren ja sogar auf Schallplatte veröffentlicht wurden; er berichtet von frühen Aufnahmen für das noch junge Radio genauso wie für die aufstrebende Plattenindustrie. Er geht auf weithin bekannte Gospel-Künstler ein, Thomas A. Dorsey etwa oder Mahalia Jackson, genauso aber auch auf weniger, oft nur lokal bekannte Musikerinnen und Musiker. Er weiß um die Hintergründe der Gospeltourneen, die in den 1930er Jahren große Erfolge feierten, und er beschreibt die Entwicklung des Gospelquartetts über die Jahre.

Die Zuwanderung nach Chicago aus dem Süden hielt bis in die 1940er Jahre an und vermittelte der Gospelmusik damit über lange Jahre jene wichtige Funktion des Haltgebens in der Fremde. Radio- und frühe Fernsehshows nahmen sich des Genres an, und immer mehr wurde Gospel auch zu einem kommerziellen Produkt. In seiner Übersicht über die verschiedenen Stränge des Genres kennt Marovich alle Solisten, Bands, Quartette und Chöre und beschreibt sowohl ihre Einbindung in die örtliche kirchliche Gemeinschaft wie auch ihr sehr unterschiedliches Verhältnis zur Plattenindustrie. Mitte der 1950er Jahre fiel der Gospelmusik schließlich eine neue Rolle zu, als Mahalia Jackson zu einer glühenden Vertreterin des Civil Rights Movement und einer engen Verbündeten Dr. Martin Luther Kings wurde.

Die große Zeit des Gospel war mit dem Tode Mahalia Jacksons und Roberta Martins vorbei; und hier endet auch Marovichs Buch, mit einem nur kurzen Ausblick auf die Gegenwart. “A City Called Heaven” ist ungemein detailreich, dadurch stellenweise etwas mühsam zu lesen, aber durch einen umfangreich aufgeschlüsselten Index ein gutes Nachschlagewerk zum Thema. Marovich zeigt anhand der Gospelmusik in Chicago, wie sich sich Genre- und Stadtgeschichtsschreibung miteinander verbinden lassen, weil die Nöte und Zwänge des Lebens in der Großstadt letztlich die Entwicklung einer Musik als spirituelles Gegengewicht befördert haben.

Wolfram Knauer (Januar 2017)


La Nuée. L’AACM: un jeu de société musicale
von Alexandre Pierrepont
Marseille 2015 (Éditions Parenthèses)
443 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-2-86364-669-4

2008 veröffentlichte George E. Lewis sein Buch “A Power Stronger Than Itself. The AACM and American Experimental Music”, das die musikalische und ästhetische Welt der Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago seit den 1960er Jahren aus der Ecke einer “nur” afro-amerikanischen Avantgarde holte und zeigte, wie sehr die darin Aktiven Teil eines generellen und weit über Amerika hinausreichenden künstlerischen Diskurses waren und sind.

Im Vorwort seines Buchs über die AACM schildert Alexandre Pierrepont, wie es dazu kam, dass er sich als Anthropologe entschied, eine Studie zur AACM zu schreiben, wie er mittendrin von Lewis’ Arbeit erfuhr und sofort bereit war, mit seinem eigenen Projekt zurückzustecken. Lewis aber habe ihn zum Weitermachen ermutigt: Sein Buch sei eine Innenansicht, so Lewis, ein so komplexes Thema aber brauche immer mehrere Perspektiven, und Pierreponts Arbeit könne vielleicht eine sinnvolle Außenansicht bieten. Und so ist mit “La Nuée” (“Der Schwarm”) jetzt ein zweites umfangreiches Buch auf dem Markt, das die AACM von den 1960er Jahren bis heute als einen künstlerische Ansatz beschreibt, der weit über die erklingende oder auf Tonträgern dokumentierte Musik hinausreicht, vor allem nämlich in den daran beteiligten Akteuren ein Selbstbewusstsein geschaffen hat, das sie weit über den Kreis des Jazz, der afro-amerikanischen oder sogar der amerikanischen Musik hinaus einordnen lässt.

Pierrepont präsentiert im ersten Kapitel 25 Gründe warum, und Erklärungen wie Afro-Amerikaner in den USA ausgegrenzt oder marginalisiert wurden. Er zeigt, dass Musik gerade in diesem Zusammenhang wichtige soziale Funktionen übernahm. Er schildert die Situation in Chicago und erklärt, wie sich hier ab den 1950er Jahren eine aktive experimentelle Musikszene herausbildete. Im zweiten Kapitel beschreibt er die Idee hinter der AACM, die unterschiedlichen Ensembles und Projekte, die aus dem Kreis der Musiker entstanden, die europäische Erfahrung von Mitgliedern etwa des Art Ensemble of Chicago zwischen den Jahren 1969 und 1974, die Verbindungen zwischen der Chicagoer und der New Yorker Avantgarde-Szene ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre (die viel damit zu tun hatte, dass etliche Chicagoer Musiker inzwischen an die Ostküste umgezogen waren), sowie den Einfluss der AACM und ihres Konzepts auf europäische Improvisations-Kollektive.

Im dritten Kapitel untersucht Pierrepont die AACM als Kooperative und Verein, als Geheimbund und Brüderschaft, als sozio-musikalische Bewegung und Weltschule, beschreibt ihre formale Organisation, aber auch die “respectful anarchy”, die sich aus ihren Verbindungen etwa zum Black Arts Movement und anderen auch politisch aktiven Organisationen ergaben. Dabei sei sie bis heute eine Vereinigung afro-amerikanischer Musiker geblieben. Egal ob in Tongebung, Improvisation oder Komposition sei eines der verbindenden Merkmale der aus der AACM entstandenen Musik zum einen die Betonung von Individualität, zum zweiten aber auch das Einbringen des Subjekts in kollektive Prozesse. Pierrepont beschreibt pädagogische Konzepte, die sich aus den Schulprojekten der Association ergaben, und umreißt musikalische als soziale Verbindungen und die daraus resultierenden Gruppenzugehörigkeits-Prozesse. Im vierten Kapitel beschreibt er die Offenheit der AACM-Mitglieder gegenüber Genre, kompositorischen und improvisatorischen Experimenten, der Verwendung und Aneignung im Jazz bislang eher unüblicher Instrumente, der Weiterentwicklung elektronischer Klang- (und musikalischer Reaktions)möglichkeiten, sowie der Arbeit im Solo- und großorchestralen Kontext. Das Art Ensemble of Chicago warb mit dem Slogan “Ancient to the Future”, und in dieser Haltung, dass die Formung jedweder (künstlerischen) Zukunft sich auf die eigene Interpretation der Vergangenheit beziehe, sieht Pierrepont eines der Geheimnisse hinter der Langlebigkeit der AACM als Organisation. “Ich ziehe die Mythokratie der Demokratie vor”, zitiert er Sun Ra. “Noch vor der Geschichte. Alles vor der Geschichte sind Mythen… Das ist der Ort, an dem die Schwarzen sind. Realität ist gleich Tod, weil alles, was real ist, einen Anfang und ein Ende hat. Die Mythen sprechen vom Unmöglichen, von Unsterblichkeit. Und da alles Mögliche bereits versucht wurde, müssen wir eben das Unmögliche versuchen.”

Alexandre Pierreponts Studie zur AACM bietet eine gelungene Interpretation dessen, wofür die Association for the Advancement of Creative Musicians stand und steht, eine Einordnung ästhetischer wie gesellschaftlicher Vorstellungen und Aktivitäten aus der Gruppe, und den Versuch, das alles in Verbindung zu bringen mit ästhetischen, kritischen, philosophischen und spirituellen Aspekten, die weit über die Arbeit der AACM-Mitglieder hinausgehen. Ihm ist dabei, in Gesprächen mit Musikern, in den Beschreibungen von Konzert- und Aktionssituationen, in der historischen genauso wie der anthropologischen Einordnung all dessen ein kluges Buch gelungen, das die Rolle der AACM im Jazz genauso zu verorten in der Lage ist wie in der aktuellen Musik des 20sten (und letzten Endes auch 21.) Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Jazz Tales from Jazz Legends. Oral Histories from the Fillius Jazz Archive at Hamilton College
Von Monk Rowe (& Romy Britell)
Rochester 2015 (Richard W. Couper Press)
209 Seiten, 20 US-Dollar
ISBN: 978-1-937370-17-6

Das Hamilton College ist eine relativ kleine Hochschule in Clinton, New York. Einer ihrer Absolventen, Milt Fillius Jr., zog nach seinem Diplom ans andere Ende des Landes, nach San Diego, hielt aber Kontakt zu seiner Alma Mater. Er liebte Jazz und er war ein guter Freund des Sängers Joe Williams, der 1988 die erste Ehrendoktorwürde des Hamilton College erhielt. Im Gespräch mit Williams und dem Bassisten Milt Hinton wurde Fillius bewusst, wie viel an Wissen über den Jazz tatsächlich nur in der Erinnerung der Musiker bewahrt und wie wichtig Oral History gerade in diesem Bereich ist. Er etablierte also ein umfassendes Interview-Projekt, für das mittlerweile weit über 300 Künstler/innen in Ton und Bild festgehalten wurden. Die Interviews, von denen viele der Hamilton-Archivar Monk Rowe selbst durchführte, dokumentieren die Welt des Swing genauso wie die des modernen Jazz. Die meisten dieser Erinnerungen sind auf der Website des Hamilton College nachzulesen; eine für die Jazzforschung ungemein hilfreiche Sammlung. Es handelt sich bei den Interviewten nicht unbedingt um die großen Stars der Jazzgeschichte, obwohl etwa mit Lionel Hampton, Nat Adderley, Herbie Hancock, James Moody, Oscar Peterson, Ruth Brown und anderen auch solche vertreten sind. Viele der Musikererinnerungen stammen stattdessen von Sidemen, die über ihre Zeit in den großen Bands berichten, über das Leben “on the road”, über die alltäglichen Probleme eines reisenden Musikers, über Rassismus und vieles mehr

In “Jazz Tales from Jazz Legends” zeigt Monk Rowe, was man aus diesen Interviews so alles lernen kann. Er filtert konkrete Themen heraus, für die er dann die verschiedenen Erfahrungen der Interviewten gegenüberstellt. Das Anfangskapitel widmet sich Joe Williams, dann folgt ein Abschnitt über das Schicksal der Sidemen bei Duke Ellington, Count Basie, Benny Goodman und in anderen Bigbands. Clark Terry erzählt etwa, wie der Duke ihn bei Basie abwarb, erinnert außerdem, was er bei beiden Bandleadern lernte, und Benny Powell weiß zu berichten, dass Basie ihm in den zwölf Jahren in der Band nie förmlich bestätigt habe, dass er engagiert sei. Im Kapitel “Road Travails” erzählen Eddie Bert von seiner Zeit bei Benny Goodman, Sonnie Igoe von einer Tournee mit Woody Herman, Bucky Pizzarelli vom Reisen mit dem Vaugn Monroe Orchestra, Jay McShann vom Problem mit schlechten Klavieren “on the road”, Jimmy Lewis von einem angst-machenden Flug mit der Basie-Band, Kenny Davern vom Stress, die 60 One-Nighters in 90 Tagen erzeugen können, Lanny Morgan darüber, dass die Gage oft von Hotel- und Reisekosten aufgefressen wurde, die die Musiker aus eigener Tasche zahlen mussten. “Arranging the Notes” heißt ein weiteres Kapitel, das sich mit den Ansprüchen an die Arrangeure der Bands befasst. Dick Hyman, Mike Abene, Bill Holman, Derrick Gardner, Ray Conniff, Manny Albam erzählen darin von der Arbeit eines Bandarrangeurs genauso wie von den Anforderungen an andere Arten von Musik, etwa für Hollywood; Lew Soloff erinnert sich an die Arrangements für Blood Sweat & Tears, und Dave Rivello und Maria Schneider geben einen Ausblick darauf, wie die Arbeit eines Arrangeurs im 21sten Jahrhundert funktioniert.

“Inside the Studio” ist ein Kapitel über Aufnahmeerfahrungen überschrieben, in dem sich Doc Cheatham an seine erste Platte mit Ma Raney erinnert, Richard Wyands einen typischen Aufnahmegig aus dem Jahr 1959 beschreibt, Orrin Keepnews erzählt, was Musikern für Aufnahmesitzungen üblicherweise bezahlt wurde, und Dick Hyman und Derek Smith verraten, dass sie sich natürlich auch mit Musik für Fernsehwerbung über Wasser halten mussten. Man müsse nicht alles mögen, was da im Studio produziert werde, erklärt Hyman, man müsse sich aber anstrengen, das, was von einem gefordert werde, möglichst gut zu spielen. Rassismus war für viele der interviewten Musiker ein täglich erlebtes Thema, und im Kapitel “The Color of Jazz” kommt auch dies zur Sprache. Clark Terry und Joe Williams haben genügend eigene Erlebnisse; Sonny Igoe erzählt, wie er auf einer Tournee durch den Süden, bei der er im Bus mit dem Art Tatum Trio mitreiste, als “White Trash” angepöbelt und aufgefordert wurde, er solle den Bus gefälligst verlassen. Louie Bellson und Red Rodney haben ähnliche Erinnerungen, und Frank Foster fasst zusammen, dass der Jazz zwar aus der schwarzen Erfahrung heraus geboren worden sei, dass der Melting Pot Amerika ihn aber schon seit langem zu einer amerikanischen, wenn nicht gar globalen Musik gemacht habe.

Im Kapitel “Thoughts on Improvisation” geben Marian McPartland, Clark Terry, Bill Charlap, Charles McPherson und andere Tipps, wie man sich der Improvisation nähern könne. Ken Peplowski fasst zusammen: “Lern es, dann vergiss es wieder!”, und Randy Sandke reflektiert, was während eines Solos so alles durch seinen Kopf ginge. Schließlich äußern sich Gary Smulyan, Ralph Lalama und Jan Weber über die Möglichkeit und die Chancen “falscher Töne” im Jazz. “Motivation and Inspiration” ist ein Kapitel überschrieben, das Erinnerungen an persönliche Einflüsse beinhaltet. Keter Betts etwas erzählt, dass er als Schlagzeuger begonnen habe und durch Milt Hinton (und reichlich Zufall) zum Bass gekommen sei. John Pizzarelli kam über die Beatles zur Gitarre, Kenny Davern übers Radio bei einer der Pflegefamilien, bei denen er aufwuchs, bis er sechs Jahre alt war, und auch Junior Mance war von Earl Hines begeistert, dem er spätabends heimlich im Radio lauschte. Jon Hendricks berichtet, wie er dazu kam, improvisierte Instrumentalsoli zu textieren. Und Eiji Kitamura erinnert sich, wie eine Platte von Benny Goodman in der Sammlung seines Vaters ihn zur Klarinette brachte. Schließlich gibt es im Schlusskapitel noch ein paar Haltungen zum Phänomen des Swing und zum Missverständnis des Free Jazz sowie Erinnerungen an unglücklich gelaufene Engagements und über die Arbeit mit Legenden.

“Jazz Tales from Jazz Legends” ist also ein vielfältiges Buch, das jede Menge unterschiedlicher Erfahrungen zusammenbringt. Zu Beginn der Lektüre wünscht man sich, die einzelnen Interviews im Zusammenhang zu lesen, aber das ist ja tatsächlich möglich, über die Website des Fillius Jazz Archive am Hamilton College. Und so sollte man Monk Rowes thematische Zusammenstellung als das sehen, was sie ist: ein exzellentes Beispiel, wie sich aus den gesammelten Interviews am Hamilton College Narrative zu den unterschiedlichsten Themengebieten der Jazzgeschichte exzerpieren lassen. Dann lässt sich umso interessanter verfolgen, wie die Interviews sich gegenseitig ergänzen und die unabhängig voneinander Befragten dabei fast miteinander ins Gespräch zu kommen scheinen.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Swingin’ On Central Avenue. African American Jazz in Los Angeles
von Peter Vacher
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
331 Seiten, 55 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8832-6

2015vacherJazzgeschichtsschreibung funktioniert normalerweise so: Louis Armstrong – Charlie Parker – Miles Davis – John Coltrane. Oder so: New Orleans – Chicago – Kansas City – New York. Oder so: Dixieland – Swing – Bebop – Cool Jazz – Hard Bop – Free Jazz – Fusion. Personen, Orte, Epochen… eine Geschichte der großen Männer (!), der lebendigen urbanen Szenen, der alles umwälzenden stilistischen Innovationen. Tatsächlich aber ist dieser Blick auf die Größen, die Zentren, die Stilbegriffe enorm einengend, wenn nicht gar: einfach nur falsch. Neben den großen Stilisten gibt es immer auch diejenigen, deren Kreativität entweder nicht den großen populären Erfolg hatte oder aber nicht lange genug anhielt, oder die sich einfach weniger gut “verkaufen” konnten. Neben den jazzgeschichtsmäßig bekannten Zentren gab es Städte und Landstriche, die musikalisch enorm lebendig waren, viele Musiker hervorbrachten, aber von der Geschichtsschreibung höchstens als potentielle Spielorte, nicht als Brutstätten dieser Musik dargestellt wurden. Und neben den etablierten Stilen gibt es unendlich viele Zwischenstufen, da kaum ein Musiker sich eines Stils “in Reinkultur” bediente”. Ganz davon zu schweigen, dass sich die meisten Jazzgeschichten, ja selbst die meisten Biographien an Aufnahmen entlanghangeln und dabei gern den performativen Aspekt des Jazz vergessen, die Tatsache also, dass die veröffentlichte Platte nur eine Momentaufnahme des kreativen Prozesses ist.

Peter Vacher füllt mit seinem Buch also eine Lücke. Er widmet es einer Szene, die nie so ganz im Mittelpunkt des Jazz stand (Los Angeles), und er fokussiert dabei auf Musiker, die höchstens regionale Stars blieben und kaum nationalen oder gar internationalen Erfolg einfuhren. Vacher ist Außenseiter (Brite); er kam im Laufe des Trad-Jazz-Booms der 1950er Jahre zum Jazz. In den 1980er Jahren arbeitete er mit dem Klarinettisten Joe Darensbourg an dessen Autobiographie, verbrachte währenddessen einige Zeit in Los Angeles und lernte damals Veteranen der schwarzen Musikszene der Westküstenmetropole kennen. Die Interviews, die er mit den sechzehn in diesem Buch dokumentierten Musikern führte, hatten ursprünglich nicht das Ziel einer Buchveröffentlichung, sondern dienten einzig seinem privaten Interesse an ihrer Geschichte. Wenige konnte er ein zweites Mal interviewen, bei anderen fühlte er sich im Nachhinein schlecht vorbereitet. Dennoch geben die Geschichten, die er anhand dieser 16 Musiker erzählt, einen Einblick in eine so ganz andere Musikszene als die an der Ostküste. Die Westküstenmusiker waren flexibel; sie spielten Jazz genauso wie R&B oder Dixieland. Viele von ihnen verdienten sich ihren Lebensunterhalt in den Studios Hollywoods, und viele zog es vielleicht mal für eine Tournee, selten aber für immer fort aus Kalifornien. Und wenn auch diese Szene Jazzgrößen wie Dexter Gordon, Wardell Gray, Teddy Edwards und Charles Mingus hervorbrachte, wenn auch Legenden wie Benny Carter, Red Callender und Buddy Collette von hier aus agierten, so blieb Los Angeles doch ein weitgehend ungeschriebenes Kapitel der US-amerikanischen Jazzgeschichte.

Die von Peter Vacher interviewten Musikern stammen aus der älteren Generation, und dokumentieren die Szene vor allem der 1930er bis 1950er Jahre. Noch weiter zurück geht es in den Erzählungen des Trompeters Andy Blakeney , der von seinen ersten musikalischen Erfahrungen im Chicago der 1920er Jahre berichtet, von seinem Umzug an die Westküste im Jahr 1925, von Reb Spikes, der ein Musikgeschäft in L.A. besaß und außerdem eine gut beschäftigte Band. Er erinnert an viele der Musiker in der Stadt und an Partys bei Orson Welles. Er erzählt aber auch von der Rassentrennung in der Stadt, und von den legendären Gigs, die Louis Armstrong und Duke Ellington Anfang der 1930er Jahre in Sebastian’s Cotton Club hatten, von Tagesjobs in einer Schiffswerft, von Gigs mit Kid Ory und Barney Bigard, und von verschiedenen Comebacks in den 1970er und 1980er Jahren. Beim Pianisten Gid Honoré musste Vacher erst Street Credibility beweisen (dadurch, dass er den Schlagzeuger Wallace Bishop kannte), bevor der sich zu einem Interview bereitfand. Honoré kam 1921 aus New Orleans nach Chicago und erzählt von den vielen Ensembles, mit denen er in den 1920er bis 1940er Jahren dort spielte – oft Bands alter Freunde aus New Orleans. 1948 zog er an die Westküste, wo er mit Kid Ory und Teddy Buckner spielte – seine Erinnerungen an die Szene in L.A. nehmen dabei gerade einmal ein Fünftel seines Kapitels ein. Der Trompeter George Orendorff hatte in den 1920er Jahren King Olivers Creole Jazz Band mit Louis Armstrong in Chicago gehört, kurz bevor er nach L.A. zog. Er erzählt vom Engagement in der Band von Les Hite, in der als Schlagzeuger Lionel Hampton mitwirkte, oder von einem Abend, an dem Fats Waller Bach und Beethoven spielte. 1946 war er im Billy Berg’s Club, als Dizzy Gillespie dort mit Charlie Parker spielte. Orendorff arbeitete schließlich 30 Jahre lang als Postbeamter und trat nur noch selten auf. Jeder in Los Angeles kannte den Schlagzeuger Monk Fay, den Vacher aber erst nach intensiver Suche in einem Seniorenheim fand. Der erzählt von seiner Popularität in Hawaii, von einer Gefängnisstrafe wegen Dealens mit Marihuana und von Gigs in Los Angeles in den 1940er und 1950er Jahren. Der Saxophonist Floyd Turnham erinnert sich an Britt Woodman und an Aufnahmen mit Johnny Otis; die Sängerin Betty Hall Jones weiß noch, wie Nellie Lutcher ihr einen Vertrag bei Capitol Records verschaffte. Der Trompeter Red Mack Morris war in Les Hites Band, als diese Louis Armstrong begleitete und führte später eine Weile einen eigenen Club, in dem er schwarz Alkohol ausschenkte. Der Klarinettist Caughey Roberts erzählt von seinen Lehrern und davon, wie er schließlich selbst unterrichtete, daneben aber auch von einer Reise nach China mit Buck Clayton, über seine Arbeit mit Count Basie und Fats Waller in den 1930er Jahren und über seine Dixieland-Aufnahmen in den 1950ern. Der Pianist Chester Lane war ein großer Fan von Earl Hines, arbeitete lange Zeit um St. Louis, und zog 1957 an die Westküste. Der Trompeter Monte Easter erinnert sich, wie er und Art Farmer Ende der 1940er Jahre in Jay McShanns Band saßen, berichtet über die Probleme der afro-amerikanischen Gewerkschaften und über seinen Broterwerb als Postbediensteter. Der Bassist Billy Hadnott erzählt ausführlich von seinen musikalischen Erlebnissen in Kansas City und hat seine eigene Erinnerung daran, wie Charlie Parker ins Sanatorium von Camarillo kam. Der Trompeter Norm Bowden weiß einiges über Reb Spikes und den Schlagzeuger “Boots” Douglas zu berichten, aber auch über den Club Alabam im berühmten Dunbar Hotel auf der Central Avenue. Der Posaunist John ‘Streamline’ Ewing hatte anfangs gut bezahlte Nebenjobs in den Hollywoodstudios, ging dann auf Anregung eines Musikerkollegen nach Chicago, tourte mit Bands wie denen von Horace Henderson und Earl Hines und spielte ab den 1950er Jahren mit Teddy Buckner in Disneyland. Der Saxophonist Chuck Thomas spielte vor allem in der Küstenregion (bis Las Vegas) und zuletzt ebenfalls mit Teddy Buckner. Der Schlagzeuger Jesse Sailes erinnert sich, wie all die großen Swingbands in den Theatern von Los Angeles auftraten und wie er später Platten mit Percy Mayfield, Ray Charles und B.B. King aufnahm. Der Schlagzeuger Minor Robinson spielte mit Buddy Collette und kannte Charles Mingus, als dieser vielleicht 15, 16 Jahre alt war.

Es sind persönliche Geschichten, von Sidemen-Karrieren und außermusikalischen Lebensentscheidungen. Die Namen wiederholen sich; aus den Erzählungen schält sich dabei eine Szene heraus, die zusammenhielt, auch wenn einzelne der Musiker die Stadt für kürzer oder für länger verließen. Peter Vacher beschreibt zu Beginn eines jeden der Kapitel, wie er den Musikern auf die Spur kam und erklärt einzelne der von den Interviewten mitgeteilten Anekdoten. Nebenbei erzählen diese von der Mobilität des Musikerberufs, von Karrieren, die in New Orleans oder Chicago begannen oder in Kansas City und New York Station machten, deren Protagonisten aber, nachdem sie kalifornische Luft geschnuppert hatten, von dieser nicht mehr loskamen. Es gibt schöne Geschichten über das Zusammentreffen des West-Coast-Größen mit durchreisenden Stars der großen Swingbands; es gibt Insiderberichte über alle möglichen Aspekte des Showbusiness’; es gibt immer wieder den Anruf aus der Ferne, der ihnen einen Job in einer der “name bands” anbietet, den sie entweder für kurze Zeit annehmen oder aber ablehnen. Es gibt Geschichten über Familienplanung und solche über Tagesjobs, mit denen man die Familie ernähren konnte. Central Avenue spielt eine bedeutende Rolle, jene Straße, die in Teilen zu einem kulturellen Zentrum der afro-amerikanischen Community der Stadt wurde.

Peter Vacher hat die Gespräche laufen lassen; sein ursprüngliches Interesse galt der Lebensgeschichte der Musiker, weniger dem Treiben in Los Angeles. Und so nehmen die Erinnerungen an Chicago oder Kansas City oft mehr Raum ein als die aktuelle Lebenswirklichkeit des Ortes, an dem die interviewten Musiker schließlich landeten. Doch wird eine Szene eben nicht nur durch das geprägt, was Musiker in ihr kreieren, sondern auch durch alles, was sie aus ihrer Vergangenheit mitbringen. Von daher ist Vachers Ansatz völlig richtig, die Geschichte der Central Avenue durch die Einflüsse zu erzählen, die hier zusammenkamen.

Beim Lesen wünschte man sich stellenweise entweder einen knappen biographischen Abriss vor oder nach den Kapiteln oder aber das Einstreuen von Jahreszahlen, um die Erinnerungen der Musiker besser einordnen zu können. Wer bei Los Angeles an die Westcoast-Szene denkt, sei gewarnt: alle der von Vacher interviewten Musiker sind vor allem der Swingära zuzuordnen; sie erzählen zum Teil von den jüngeren Musikern, die sie kannten, waren aber nie selbst Mitglied dieser Szene. In seinem Vorwort heb Vacher vor allem drei Interviews hervor, die besonders gut gelungen seien: jene mit Andy Blakeney, Billy Hadnott und Norman Bowden, mit Musikern also, mit denen er mehrfach sprechen und dabei mehr über ihr Leben und musikalisches Wirken lernen konnte. Tatsächlich aber sind auch jene Gespräche lesenswert, die etwas langsamer “auf den Punkt” kommen. “Swingin’ On Central Avenue” gelingt es dabei, Erhebliches zur Kulturgeschichte des afro-amerikanischen Jazz im Los Angeles der 1930er bis 1950er Jahre beizutragen. Das Buch erzählt von künstlerischen Idealen und von der Realität des alltäglichen Musikgeschäfts. Die Entscheidung, die Vacher – sicher mehr der Not gehorchend – getroffen hatte, war genau richtig: Seine Protagonisten sind eben nicht die großen Stars, weil die Szene, die er im Fokus hat, sich in keiner der stilbildenden Städte befand, weil die Community, die er in den Kapiteln seines Buchs abbildet, sich aus vielen sehr disparaten Erfahrungen zusammensetzte. Sein Buch ist auf jeden Fall eine Fundgrube für Jazzhistoriker mit vielen Anekdoten und Erinnerungen, die dieser Rezensent hier zum ersten Mal gelesen hat; zugleich ist es eine abwechslungsreiche Zeitzeugensammlung einer Szene, die bislang nur mäßig dokumentiert ist.

Wolfram Knauer (Juli 2016)


Invitation to Openness. The Jazz & Soul Photography of Les McCann, 1960-1980
herausgegeben von Pat Thomas & Alan Abrahams
Seattle 2015 (Fantagraphics Books)
200 Seiten, 39,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-60699-786-4

2015mccannMusikerfotos – es gibt eine ganze Reihe an Jazzmusikern, deren Hobby auf Tournee das Fotografieren war. Milt Hinton ist der wohl namhafteste unter ihnen, doch jetzt zeigt ein neues Buch, dass auch Les McCann nicht nur gute Ohren, sondern auch ein exzellentes Auge hat. Das nämlich gehört dazu, auf dass das Buch eines fotografierenden Musikers nicht einzig wegen der Vorteile interessant ist, die sich daraus ergeben, dass der Mann hinter der Kamera zugleich auf der Bühne sitzt und von den Objekten seiner Begierde, also anderen Musikern, nicht als Störenfried, sondern als einer der ihren anerkannt wird.

Im Vorwort von “Invitation to Openness” erzählt A. Scott Galloway kurz die biographischen Stationen Les McCanns: geboren in Lexington, Kentucky, über Tuba und Snare-Drum zum Klavier gelangt, zusammen mit Eddie Harris mit “Compared to What” über Nacht einen Welthit geschaffen, der eine Solokarriere bedingte, die bis in jüngste Zeit anhielt. Pat Thomas erzählt die Genese des Buchprojekts: Er hatte gerade eine CD-Wiederveröffentlichung des McCann-Klassikers “Invitation to Openness” organisiert und McCann zu Hause besucht, als er in einer Ecke einen Stapel zerkratzter Abzüge von Fotos entdeckte, die der Pianist in den 1960er und 1970er Jahren gemacht, aber nie veröffentlicht hatte. Im Interview mit Thomas erzählt McCann, dass es in seiner Familie immer Fotoapparate gegeben habe. Er selbst habe sich eine Nikon gekauft und begonnen, auf der Bühne und daneben Menschen abzulichten. Als er sich ein Haus in Hollywood leisten konnte, richtete er sich eine Dunkelkammer ein und begann seine Aufnahmen selbst zu entwickeln.

Das Bemerkenswerteste an den Bildern ist vielleicht die Perspektive. Gerade die Bühnenaufnahmen sind eben nicht von vorn gemacht, aus dem Bühnengraben oder der ersten Reihe, sondern oft von der Seite oder leicht von hinten. Viele Bilder zeigen die Musiker backstage, in Vorbereitung fürs Konzert, in Freizeitklamotten beim Soundcheck. Das entspannte Lächeln Count Basies zeigt die entspannte Vertrautheit. Andere eindrucksvolle Motive sind etwa: Stanley Clarke mit abwartend-konzentrierter Miene (und einer denkwürdigen Frisur); Ben Webster am Flügel; Dexter Gordon und Joe Zawinul vor einem Motel; die junge Tina Turner; das Publikum aus Gefangenen im Cook County Jail; Cannonball Addlerley, der an einer Zigarette zieht, sein Gesicht halb in Rauch gehüllt. Neben Musikern gibt es Bilder von Schauspielern (Jack Lemmon, Bill Cosby, Jerry Lewis), Politikern (Jimmy Carter, Jesse Jackson, Stokely Carmichael, Dr. Martin Luther King), Sportlern (Muhamad Ali, Pelé), sowie einige wenige Bilder, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Doch auch diese Aufnahmen, etwa das eines alten Mannes mit Fahrrad, hätten das Potential zu Plattencovers.

Les McCann gibt zu einzelnen der Bilder Kommentare ab, in denen er Kolleginnen oder Kollegen erinnert. Auch die Identifizierung der Motive basiert auf McCanns Erinnerung, wobei es Motive gibt, zu denen er nicht wirklich mehr weiß, wo oder wann sie gemacht wurden, und zumindest eine falsche Zuschreibung (nein: das ist NICHT Eberhard Weber auf den beiden Fotos mit Sarah Vaughan, sondern Bob Magnusson!). Beim Durchblättern des Bandes kommt einem immer wieder in den Sinn, dass das Leben eines Jazzmusikers eben aus mehr besteht als der Bühnenwirklichkeit. Les McCanns “Invitation to Openness” bietet damit einen lohnenswerten und allemal mit Soul gefüllten Blick hinter die Kulissen sowohl der Musiker, die er darin dokumentiert, als auch seiner eigenen Konzertarbeit.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Bitches Brew
von George Grella Jr.
New York 2015 (Bloomsbury Academic, 33 1/3)
128 Seiten, 14,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-6289-2943-0

D2015grellaie Buchreihe 33 1/3 des Bloomsbury-Verlags behandelt eigentlich Rockgeschichte. Jeder Band ist einem separaten Album gewidmet und wird historisch kontextualisiert. Miles Davis wurde jetzt die Ehre zuteil, als erster Jazzer in die Reihe aufgenommen zu werden, die immerhin schon mehr als 100 Bände umfasst. Sein Album “Bitches Brew” von 1969 schrieb eben nicht nur Jazz-, sondern genauso auch Popgeschichte.

In seinem ersten Kapitel betont George Grella, wie schwer es ist, “Bitches Brew” klar einem Genre zuzuordnen. Miles wollte weder ein klares Jazz- noch ein dezidiertes Rockalbum machen. “Bitches Brew”, meint Grella, sollte man daher am ehesten als experimentelle Musik hören, als Versuch, den überkommenen Normen von sowohl Jazz wie auch von Rock zu entkommen.

Im zweiten Kapitel erklärt Grella die seltsame Sektenhaltung, die Jazzrezeption manchmal annehmen kann und gegen die sich Miles Davis von früh an wehrte. Geht nicht gibt’s nicht, sei sein Motto gewesen, und Popsongs nahm er bereits lange vor “Time After Time” auf. Miles, fasst Grella zusammen, spielte Pop nicht um Popstar zu sein, sondern um Musik zu machen. Er erzählt von der Zeit des Trompeters mit Charlie Parker, vom Capitol-Nonet, das irgendwie die Geburtsstunde des Third Stream wurde, sowie von “Kind of Blue” und “Sketches of Spain”.

In Kapitel 3 erklärt Grella, welch völlig anderen Ansatz Miles an die Produktion eines Albums hatte, bei dem er sich ab 1968, ab dem Album “Circle in the Round”, vorbehielt, die musikalischen Versatzstücke nach Belieben zusammenzuschneiden.

In den Kapiteln 4 und 5 schließlich steht “Bitches Brew” selbst im Mittelpunkt, wenn Grella über Titel und Covergestaltung geflektiert und die einzelnen Titel beschreibt. Das liest sich stellenweise wie eine Sportreportage: wer, wann, was, Tonart, Einsatz, Intensität. Grella verweist auf die oft nicht wahrnehmbare Editiertechnik Teo Maceros und darauf, wie dies nur deshalb möglich war, weil alle Musiker immer deutlich aufeinander hörten. In “Pharoah’s Dance” benennt er eine “hippe Blueslinie bei 4:46” oder eine Coda, die “fast Beethoven’schen Charakter” habe. Im Titeltrack zeigt er auf viele der Nahtstellen, und dann verweist auf die Unterschiede der beiden Platten des Doppelalbums: “eine, um dich wegzublasen, die andere, um deinen Kopf wieder geradezurücken”.

Im letzten Kapitel widmet Grella sich den Nachwirkungen des Albums, in der Kritik genauso wie im Jazz. Mit Verweis auf Wynton Marsalis erklärt er, dass da zwei recht unterschiedliche Sichtweisen der Zukunftfähigkeit von Musik aufeinandergeprallt seien, um dann Miles’ Konzept auf dem kleinsten Nenner zusammenzufassen: “Indem er Rhythmus, Puls und Harmonien – und auf Tonband eingespielte Kompositionen – verwandte, die absichtlich nicht zu einer Auflösung fanden, organisierte Miles Zeit: und sowohl Form wie auch Zeit finden damit in der Musik zusammen”.

Eine kommentierte Diskographie beschließt das Büchlein, das sich wie ein sehr ausführlicher Plattentext mit vielen zusätzliche Informationen liest. Ja, Grella gelingt die Kontextualisierung, und doch kommt er der Musik selbst nur bedingt nahe, auch weil seine analytischen Anmerkungen etwas zu oberflächlich bleiben, weil er quasi nur parallel zur Musik beschreibt, was man eh hört, anstatt zusammenzufassen, was das alles “bedeutet”. Trotz dieser Einschränkung aber ist Grellas Büchlein ein lohnenswerter Begleiter zur nächsten abendlichen Abhörsession dieses Miles Davis-Klassikers.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Jazz Basel. Vier Jahrzehnte Stars und Szene
herausgegeben von Offbeat = Urs Ramseyer & Ruedi Ankli & Peewee Windmüller & Urs Blindenbacher
Basel 2015 (Christoph Merian Verlag)
180 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-85616-695-5

2015offbeatDie Geschichte regionaler Jazzszenen kann man auf unterschiedliche Weise erzählen. Man kann nostalgisch und sehnsuchtsvoll zurückblicken und von alten Zeiten schwärmen. Oder man kann auch Zurückliegendes vor allem aus dem Wissen um die Gegenwart verstehen.

Die Macher des offbeat-Festivals gehen in ihrem Buch über “Jazz Basel” den zweiten Weg. Das opulent bebilderte Buch widmet einzig sein Eingangskapitel (von Bruno Spoerri) den Anfängen des Jazz in Basel von den 1920er bis in die 1970er Jahre. 1974 gründete sich der Verein und die Konzertreihe jazz in basel, 1990 schließlich das Festival offbeat. Das Buch blickt auf die Musiker, die seither auf dem Festival spielten, aus skandinavische Gäste oder gesamtdeutsche Schwerpunkte, auf Jazz aus dem Mittelmeerraum und einen lateinamerikanischen Fokus, auf US-amerikanische Bands und die Schweizer Musiker, die hier auch immer zu hören waren. Es gibt Anekdoten aus dem Alltag von Festivalorganisatoren und Berichte von Backstage. Die Auswirkungen des Festivals in Stadt und Region werden thematisiert, Schulprojekte etwa oder die Präsenz im örtlichen Rundfunk. Und schließlich wird mit Stolz auf die Zusammenarbeit des offbeat Festivals mit dem Jazzcampus Basel und dem Club The Bird’s Eye berichtet.

Das alles ist kurzweilig geschrieben, vordergründig wohl vor allem für regionale Leser interessant, daneben aber genauso ein Bericht über die Verankerung einer regionalen wie internationalen Szene, aus dem auch Veranstalter anderswo etwas lernen können. Und schließlich sind da noch die 86 schwarz-weißen Abbildungen, Fotos von Bernhard Ley, Peewee Windmüller und Röné Bringold, die die Erinnerungen an die Geschichte von offbeat ungemein lebendig werden lassen.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher
von Detlef Siegfried
Göttingen 2015 (Wallstein)
455 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1673-7

2015siegfriedErnest Borneman war eine Mehrfachbegabung, so sehr, dass es genügend Menschen gaben, die dachten, es handele sich wahrscheinlich um mehrere Personen, die nur zufällig denselben Namen hätten. In den 1970er und 1980er Jahren war Borneman ein regelmäßiger Gast in deutschen Talkshows, wann immer es um das Thema Sexualität ging, hatte daneben eine Sex-Beratungskolumne in der Neuen Revue. Als Soziologe hatte er sich mit seinem Buch Das Patriarchat 1975 einen Namen gemacht. Vor seiner Beschäftigung mit Frauenbewegung und Feminismus hatte Borneman eine Karriere im Filmgeschäft gemacht, arbeitete für das National Film Board of Canada, für die UNESCO in Paris und war Programmdirektor des Freien Fernsehens, der ersten privaten Fernsehanstalt, die nach ihrem Verbot durch die Adenauer-Regierung quasi durch das ZDF abgelöst wurde. Und noch früher war Borneman nicht nur Jazzliebhaber und -experte, sondern einer der ersten Jazzforscher, ein Kenner des Jazz, der diese Musik zeitlebens als transkulturelle künstlerische Aussage verstand und 1944 mit seinem Artikelreihe “The Anthroprologist Looks at Jazz” eine der ersten übers Anekdotische hinausreichenden Kulturgeschichten des Jazz verfasste.

Borneman schied im Juni 1995 aus dem Leben. Sein Archiv ist in der Berliner Akademie der Künste untergekommen; jetzt hat der Historiker Detlef Siegfried die Biographie des vielfältigen Forschers vorgelegt. Diese hat er klar nach den verschiedenen Feldern gegliedert, in denen Borneman tätig war, überschrieben “Hören. Die Ethnologie des Jazz”, “Sehen. Das Leben auf der Leinwand” und “Berühren. Sex und Gesellschaft”.

Der 1915 in Berlin geborene Ernst Bornemann – wie er bis zu seiner Emigration 1933 hieß – hatte bereits 1930 Bertolt Brecht kennengelernt, als Mitglieder von Berliner Schulchören zu Proben des Lehrstücks Der Jasager geladen worden waren. Er und Brecht freundeten sich an, Brecht half ihm bei der Abfassung seines ersten Theaterstücks und Borneman Brecht bei einer Neuübersetzung des Dreigroschenromans ins Englische. Siegfried, der zu Beginn seines Buchs anschaulich erklärt, wie er sich durch Bornemans eigene “Autofiktionen”, wie er sie nennt arbeiten musste, durch falsche Fährten also, die Borneman aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten seiner Karriere legte, beschreibt Bornemans Exil als “nicht nur Flucht-, sondern auch Möglichkeitsraum”.

In London war Borneman regelmäßig bei Jazzkonzerten anzutreffen, verkehrte außerdem in einem Kreis linker und schwarzer Intellektueller. Bereits Mitte der 1930er Jahre hatte er einen Kriminalroman geschrieben, arbeitete bald auch an einem Drehbuch für einen möglichen eigenen Film, in dem auch der Jazz eine Rolle spielen sollte. Im Sommer 1940 wurde er als “feindlicher Ausländer” interniert, doch bereits zuvor produzierte er seine erste Rundfunksendung. Nach seiner Internierung wurde er nach Kanada deportiert, wo er nach seiner Entlassung beim National Film Board Arbeit fand.

Er knüpfte Kontakt zu Sammlern und Jazzkennern in den USA und sammelte Material für eine mögliche musikwissenschaftliche Dissertation und ein Buch zum Thema “American Negro Folk Music”, das von zwei Verlagen zur Publikation angenommen, dann aber wegen kriegsbedingten Papiermangels nicht gedruckt wurde. In seinen Jazzarbeiten, für die Borneman sich bei dem bekannten Musikethnologen Melville J. Herskovits um ein Stipendium bemühte, ging es, wie Siegfried zusammenfasst, “um zwei Themen: erstens um die Verbindungen von afroamerikanischer Volksmusik und moderner Tanzmusik der Gegenwart, und zweitens um die Verschränkungen von sozialen Verhältnissen und Populärkultur”. 1944 begann Borneman seine achtteilige Artikelserie “The Anthropologist Looks at Jazz”, die in der Zeitschrift The Record Changer erschien, der er bald auch als Mitherausgeber angehörte. Er schlug sich in der Debatte um den Bebop zwar auf die Seite des “authentischen” Jazz, konnte aber der romantischen Rückwärtsgewandtheit vieler der Traditionalisten wenig abgewinnen und versuchte daher immer wieder zwischen den Lagern zu vermitteln.

Mitte der 1940er Jahre lebte er in Paris, interviewte Louis Armstrongs Band anlässlich des ersten Jazzfestivals in Nizza im Jahr 1948, und freundete sich mit amerikanischen Expatriates und französischen Musikern wie Claude Bolling oder Boris Vian an. Er schrieb für den britischen Melody Maker und produzierte 1953 mit Betty Slow Drag einen experimentellen Kurzfilm, der seine beiden großen Interessen Jazz und Film miteinander verbinden sollte. Für den Melody Maker berichtete Borneman auch über den Jazz in Westdeutschland, konnte aber, selbst als Joachim Ernst Berendt versuchte ihn mit zeitgenössischen Musikrichtungen der 1960er Jahre anzufreunden, indem er ihn in ein Konzert John Coltranes mitnahm, mit dem modernen Jazz wenig anfangen.

Siegfried widmet Bornemans langer Auseinandersetzung mit den karibischen Wurzeln des Jazz ein eigenes Unterkapitel und berichtet davon, wie der spätere Beat Club von Radio Bremen auf Bornemans Ideen zurückzuführen gewesen sei. Er zeigt, dass Borneman in seinen Schriften einige Debatten angestoßen hatte, die in der Jazzkritik erst in den 1960er Jahren wirklich ausgetragen wurden, als er selbst an dieser Diskussion nicht mehr selbst teilnahm. Letzen Endes mag Borneman nicht mit allen seiner Thesen Recht gehabt haben, ohne Zweifel aber sei er ein Wegbereiter der internationalen Jazzforschung gewesen.

Der Jazz spielt auch in den weiteren Lebens- und Arbeitsphasen für Borneman eine wichtige Rolle, und Bornemans kritischer Geist, den Siegfried am Beispiel des Jazz ausgiebig beschrieben hat, lässt sich auch in diesen Bereichen zeigen. Detlef Siegfrieds Buch ist dabei ein faktenreicher Band, der biographische Stationen und Diskurse, an denen Borneman beteiligt war, laufend miteinander verschränkt. Ganz sicher war Borneman einer der schillerndsten Vordenker des Jazz; Siegfrieds Schilderung sowohl seines Lebens als auch der Diskussionen, an denen sich Borneman sein Leben lang beteiligte, zeigt ihn aber darüber hinaus als einen vielseitig gebildeten, einfachen Erklärungen zutiefst skeptisch gegenüberstehenden, zur Offenheit des Denkens neigenden Forscher.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Teddy Wilson. 19 Selected Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2015 (Blue Black Jazz)
44,95 Euro

Boogie Woogie, Volume 2. 17 Original Boogie Woogie and Blues Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2014 (Blue Black Jazz)
46,85 Euro
Zu beziehen über www.blueblackjazz.com

Paul Marcorelles hat bereits eine ganze Reihe an Transkriptionen von Pianisten des frühen Jazz vorgelegt, vorzugsweise von Musikern, die im Stride- oder Boogie-Woogie-Stil spielten. Seine jüngsten Veröffentlichungen widmen sich dem Swing-Stil Teddy Wilsons auf der einen und dem Repertoire einiger der Boogie-Woogie-Größen der frühen 1940er Jahre auf der anderen Seite.

2015marcorelles_wilsonFür Teddy Wilson hat Marcorelles sich Soli zwischen 1934 und 1946 ausgesucht, schnelle virtuose Titel wie “Rosetta”, den “Tiger Rag” oder “When You and I Were Young, Maggie” sowie Balladen wie “Don’t Blame Me”, “Out of Nowhere” oder “Body and Soul”. Seine Transkriptionen sind exakt, gut lesbar, reine Notationen ohne weitere Spielanweisungen oder analysierende Harmoniesymbole. Sie sind zum Nachspielen gedacht, brauchen allerdings Pianisten, die zum einen keine Probleme mit den bei Wilson so beliebten Dezimengängen der linken Hand haben und zum zweiten technisch fortgeschritten sind, um die virtuosen Arpeggien und die die Rhythmik aufbrechenden Läufe tatsächlich zum Swingen zu bringen. Wilsons linke Hand allein kann jedem Pianisten helfen, die antreibende Kraft des Swingens zu begreifen. Auch das Studium seiner Voicings lohnt, deren Alterationen den Akkorden zusätzliche Schwebungen verleihen. Wie immer bei Transkriptionen von eigentlich improvisierten Jazzsoli ist es mehr als hilfreich, sich die Soli auf Platte (oder über Streamingdienste) anzuhören.

2015marcorelles_boogieIm zweiten der beiden jüngst veröffentlichten Bände versammelt Marcorelles Transkriptionen von Hersal Thomas (“Hersal’s Blues”), Clarence ‘Pinetop’ Smith (“Pinetop’s Boogie Woogie”), Jimmy Yancey (etwa den “Five O’Clock Blues”), Pete Ammons (z.B. “Rock It Boogie”), Meade Lux Lewis (“Chicago Flyer” und “Glendale Glide”), Albert Ammons (etwa seinen “Swanee River Boogie”), Sammy Price (133rd Street Boogie”) und Pat Flowers (“Eight Mile Boogie”). Die rhythmischen Verschiebungen zwischen Bassfiguren und rechter Hand im Boogie Woogie sind dabei noch weit schwerer zu “lesen” und bedürfen noch stärker des Höreindrucks, um sie danach vom Papier in die Tasten zu übertragen und erlauben im Idealfall – und das wäre es ja eigentlich immer im Jazz – irgendwann das Loslassen und das eigene Erfinden melodischer und rhythmischer Muster, die eigene Improvisation.

Marcorelles’ neue Bände seien jedenfalls jedem interessierten Pianisten empfohlen als Übe- genauso wie Studienmaterial. Marcorelles bietet auf seiner Website übrigens alle insgesamt 202 Transkriptionen dieser wie früher erschienener Bände auch einzeln zum Download als PDF-Datei an

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Hot Music, Ragmentation, and the Bluing of American Literature
von Steven C. Tracy
Tuscaloosa 2015 (The University of Alabama Press)
537 Seiten, 64,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8173-1865-9

2015tracySteven C. Tracy ist Literaturwissenschaftler, Professor für Afro-American Studies, aber auch ein Blues-Harp-Spieler, der bereits in Vorgruppen für B.B. King, Muddy Waters und andere Stars der Szene auftrat. In seinem umfangreichen Buch stellt er die afro-amerikanische Musik der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, also Jazz und Blues, als Referenzpunkt dar, der helfen könne, die amerikanische Literaturgeschichte jener Zeit besser zu verstehen. Es geht ihm dabei nicht einzig um Romane oder Dichtung, die sich konkret und thematisch mit Musik beschäftigen, sondern auch um den Einfluss von Klanglichkeit, von Virtuosität, von improvisatorischer Haltung auf die amerikanische Literatur der Jahre bis 1930. Er greift hierfür immer wieder zurück auf konkrete Aufnahmen, um etwa Beispiele der afro-amerikanischer Stimme, des afro-amerikanischen Rhythmus, der Griot-Funktion des Bluessängers, der Bedeutung von Wiederholungen, der tiefen Doppeldeutigkeit, der politischen Untertöne herauszustreichen, die eben keine rein afro-amerikanischen Untertöne seien, sondern Befunde für den Zustand der gesamten amerikanischen Gesellschaft. Tracy verbindet die Genres, folkloristischen Blues, modernistischen Jazz, um aus dem Mix der Aufnahmen heraus, auf die er sich bezieht, neue Argumente zu entwickeln, die abseits der üblichen Beschreibung von Jazz-, Blues- oder Kulturgeschichte liegen. Er untersucht daneben auch Film- oder klassische Musikgeschichte nach Einflüssen von oder Analogien zu afro-amerikanischer Musik und findet den nachhaltigsten Widerhall außerhalb der Musik schließlich in der Literatur, bei T.S. Eliot, William Carlos Williams, Hart Crane, Gertrude Stein, Ezra Pount, und bei Abbe Niles, Langston Hughes, Countee Cullen, Zora Neale Hurston und anderen Dichtern und Schriftstellern der Harlem Renaissance.

Tracys schnelle Wechsel zwischen den Diskursen sind dabei sowohl inspirierend wie auch, da sie ein häufiges Vor- und Zurückblättern erfordern, zeitweise ermüdend. Sein intertextueller Ansatz ist auf jeden Fall ein Beispiel, wie sich aus dem Studium afro-amerikanischer Musik Aussagen über weit mehr als diese treffen lassen, wie stark tatsächlich diese Musik bereits in den ersten 30 Jahren des 20sten Jahrhunderts ihren Niederschlag im Denken, Handeln und Schreiben gefunden hat.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Friedel Keim
Das große Buch der Trompete (3)
Diskografie, Fotografien, Statistik, Nachträge
Fortsetzung des Trompeter-Lexikons, Band 3
Mainz 2015 [Eigenverlag
554 Seiten, 33,90 Euro
nur direkt zu beziehen über
Friedel Keim, e-mail: ruf.keim@t-online.de

2015keimDer Ur-Maizer Trompeter Friedel Keim hat nach den ersten beiden Auflagen von 2005 und 2009 nun den dritten Band seiner Trompeterbibel vorgelegt, ein sorgfältig recherchiertes Kompendium, das die verschiedensten Seiten des Instruments und seiner Musiker beleuchtet und dessen Spektrum von Klassik über Jazz bis zur volkstümlichen Musik reicht.

Keim kennt dabei keine Berührungsängste. Er versteht es genauso, sich über die Kunst der Barocktrompete auszulassen wie über die Probleme, die viele Jazzer mit der Ästhetik eines Wynton Marsalis haben. Und neben den großen Stars finden auch die Satzbläser wieder Erwähnung oder Musiker der aktuellen Szene.

Der lexikalische Teil von Band 3 enthält biographische Artikel von A wie “Abbott, Goivinda” bis Z wie “Zonshine, Michael”. Neben diesen teils ausführlichen Portraits gibt es Anmerkungen zur Interpretation von Werken aus Klassik, Marschmusik und anderen Genres, darunter auch analytische Anmerkungen und Notenbeispiele aus dem Jazzbereich, etwa eine Transkription des “West End Blues” in der Version von Louis Armstrong und seiner Hot Five von 1928, Dizzy Gillespies “Night in Tunisia”, oder Maynard Fergusons Version von “Body and Soul”. Korrekturen und Ergänzungen zu den beiden ersten Bänden erhalten ein eigenes Kapitel, und wieder gibt es den Block “Wissenswertes rund um die Trompete”, der etwa Informationen über das “Gansch-Horn” gibt oder über das flexibrass-Mundstück, über die Vuvuzela oder über die Trompete auf historischen Briefmarken, über den Trompetenbaum oder diverse Filme, in denen die Trompete im Mittelpunkt steht. Schließlich findet sich noch ein umfassendes Kapitel zu Horst Fischer, jenem legendären deutschen Trompeter, dessen Prolog zu einer Autobiographie Keim abdruckt, außerdem eine alphabetische Auflistung aller ihm bekannter Fischer-Aufnahmen.

Wie bereits in den vorherigen Bänden findet sich auch in Band 3 vieles, was sonst kaum irgendwo erierbar wäre. Friedel Keim weiß um Geburts- und Sterbedaten, berichtet über die Stars, aber eben genauso über die “kleinen” Vertretern des Instruments, über Satzspieler oder junge Musiker, die durchaus auch zwischen den stilistischen Welten leben und arbeiten, über Dixieland- und Swingtrompeter, die eher der Amateur- als der Profiszene angehören, aber dennoch gute Musiker sind, über Musiker von denen man noch nie gehört hat oder aber auch Musiker, die man persönlich kennt, aber nie in einem Lexikon vermutet hätte, weil ihr Arbeitsschwerpunkt doch eher regional begrenzt ist. Keim hat sich ihnen allen angenommen mit einem Vollständigkeitsanspruch, der jede Kritik an der Auswahl im Keim ersticken ließe (man entschuldige das Wortspiel). Und gerade in den Einträgen zu den kleinen Vertretern der Trompete erkennt man einmal mehr die “labor of love” dieses Buches, das zu alledem noch exzellent lesbar ist. Kein kritisches Buch vielleicht, dafür ein verlässliches Nachschlagewerk für jeden, der sich für die Trompete interessiert: eine Trompeterbibel fürwahr!

(Wolfram Knauer, Februar 2016)


 

Mein Onkel Pö
von Holger Jass
Hamburg 2015 (Offline-Verlag)
137 Seiten, 25,55 Euro
ISBN: 978-3-00-051272-8

2015jassEinen ersten Hinweis auf den Inhalt dieses Buchs gibt bereits der Preis: 25,55 Euro, entsprechend einem Cent pro Nacht im legendären Club, wie Holger Jass in der Presseankündigung zum Buch erklärt. Holger Jass hatte das Onkel Pö (Onkel Pö’s Carnegie Hall, wie es damals offiziell hieß) Anfang 1979 vom Vorbesitzer Peter Marxen übernommen, der ihn bei der Übergabe warnte: “Ich muss dich warnen. Pö-Jahre sind wie Hundejahre. Die zählen siebenfach.” Jass hielt es bis Anfang 1986 aus, führte das “Pö” im Sinne seines Kultstatus’ weiter und hat jetzt ein kurzweilig-amüsantes Buch über seine Erlebnisse mit Musikern, Medienmenschen, Kollegen und dem Publikum geschrieben, das ihm die ganzen Jahre über treu blieb, aus dessen Reihen sich aber partout kein Interessent für eine Nachfolge finden ließ.

“Jetzt macht Jass den Jazz im Onkel Pö” titelte das Hamburger Abendblatt, als Jass 1979 übernahm. Sein Buch handelt natürlich auch von Jazz. Er beschreibt, wie Michael Naura, damals Jazzredakteur des NDR viele der Jazzabende mitschnitt, die sich das Pö ansonsten kaum hätte leisten können. Den Flügel im Club hatte kein geringerer als Joachim Kühn ausgesucht und eingeweiht. Ansonsten bevölkern Jazzer wie Freddie Hubbard, Elvin Jones, Pat Metheny, Dexter Gordon die Seiten, aber auch Tom Waits, Charlie Watts, Joe Cocker, Hannes Wader, Truck Stop und natürlich Udo Lindenberg, der dem “Pö” in einem seiner Hits ein Denkmal setzte.

“Bei Onkel Pö spielt ‘ne Rentnerband”, hieß es da, “seit 20 Jahren Dixieland” – aber mit Dixieland ließ sich so ein Schuppen nicht finanzieren, bilanziert Jass trocken … obwohl man das Wort “trocken” selbst bei einer Rezension dieses Buchs nicht in den Mund nehmen sollte, denn trocken ging es ganz sicher nicht zu im Pö. Auch davon handelt das Buch, von den skurrilen Erlebnissen mit den Musikern, vom gesteigerten Alkoholkonsum, vom Pflegen einer Szene und davon, dass man, um Wirt zu sein, ein dickes Fell und viel Humor benötigt. Pineau ist das Zauberwort, jene süßliche Mischung aus Traubenmost und Cognac, die Jass als Allheilmittel vieler Probleme genauso beschreibt wie als Ursache anderer. Seine Anekdoten machen klar, dass man als Wirt und täglicher Konzertveranstalter selbst nicht ganz ohne solche “Medizin” auskommt: ein divenhafter Auftritt Freddie Hubbards etwa oder jener Abend mit Dexter Gordon, den Jass allerdings erst aus drogenbedingtem Tiefschlaf im Hotel um die Ecke wecken musste, den er für seine 57 Jahre als “bös klöterich” beschreibt, der dann aber nach einem dreifachen Whiskey ein denkwürdiges Konzert gegeben habe.

Sehr viel tiefer geht es sicher nicht in seinen Erinnerungen, die er mit viel Augenzwinkern und der humorvollen Abgeklärtheit der zeitlichen Distanz schreibt, und bei denen man schon mal über die eine oder andere schlüpfrige Anekdote hinweglesen muss. Bei all denen, die dabei waren in diesem zwischen Alternativszene und Hochkultur angesiedelten Zauberort in Eppendorf, wird er warme Erinnerungen wecken. Man meint den Fusel wieder zu schmecken und die dicke Luft wieder zu riechen, vor allem aber erinnert man sich an die musikalischen Hochgenüsse, die das Onkel Pö so oft und so viel vermittelte. Für diejenigen, die nicht dabei waren, gibt Jass ein launiges Portrait, einschließlich etlicher Fotos, ein Portrait, das stellenweise einer Filmdokumentation über verwunschene Zeiten ähnelt, bei denen man eigentlich gern dabei gewesen wäre.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Rhythm Is My Beat. Jazz Guitar Great Freddie Green and the Count Basie Sound
von Alfred Green
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
325 Seiten, 75 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4246-3

2015greenCount Basies All American Rhythm Section gilt als die swingendste Rhythmusgruppe des Jazz. Die Art, wie Pianist Basie, Gitarrist Freddie Green, Bassist Walter Page und Schlagzeuger Jo Jones rhythmisch und harmonisch ineinandergriffen, um den vorwärtstreibenden Schwung zu schaffen, der zu ihrem Markenzeichen wurde, besaß so viel an Energie, dass Rhythmusgruppen überall auf der Welt sie zum Vorbild nahmen. Den wichtigsten Anteil an dieser Energie hatte, wie Basie selbst, aber auch zahllose andere Musiker bezeugen, Freddie Green, der dem Count Basie Orchester von 1937 bis zu Basies Tod im Jahr 1983 und der Band noch ein paar Jahre danach bis zu seinem eigenen Tod 1987 angehörte. Von Nichtmusikern wurde Green schon mal dafür bemitleidet, ein ganzes Leben lang nie ein wirkliches Solo gespielt, dafür immer nur “schrumm schrumm” gemacht zu haben, vier Schläge pro Takt, durchgehend vom ersten Akkord bis zum letzten; und doch ist ihm jemand kaum in der Kunst des Rhythmus nahegekommen, den dieser Vierschlag erzeugen konnte.

Jetzt hat Alfred Green, der Sohn des Gitarristen, eine Biographie vorgelegt, die weit mehr ist als die persönliche Erinnerung eines Verwandten. Greens Buch schafft den Spagat zwischen Insiderwissen, persönlicher Betroffenheit und nüchterner Beschreibung der Lebens- und Arbeitswirklichkeit eines Musikers der Bigbandära.

Die Geschichte beginnt in Charleston, South Carolina, wo Freddie Green 1911 geboren wurde, in einer Stadt mit einer überaus lebendigen schwarzen Musikszene. Nachdem er die erste Ukulele gegen ein viersaitiges Banjo ausgetauscht hatte, sammelte er erste musikalische Erfahrungen mit Freunden aus dem Jenkins Orphanage, einem berühmten Waisenhaus in Charleston, aus dem etliche spätere Musiker hervorgingen. Mit einer dieser Bands reiste er die Küste hoch bis nach Maine, wechselte irgendwann vom Banjo zur Gitarre und spielte mit dem Saxophonisten Lonnie Simmons und dem Stride-Pianisten Willie Gant. Als der Impresario John Hammond ihn hörte, empfahl er seinem Schützling Count Basie, sich den Gitarristen für sein Orchester zu sichern. Im Januar 1937 kam es zum Vorspiel erst in kleinem Kreis, dann mit der Bigband, und am 1. Februar begann sein mehr als 45-jähriges Engagement als Motor des Count Basie Orchestra.

Alfred Green erzählt nicht nur die Lebens- und Arbeitsstationen Greens, sondern nähert sich auch seinem Stil, fragt nach Einflüssen, erklärt die Besonderheit des Green’schen Sounds. Der Autor wurde im Februar 1938 geboren, im selben Jahr beendete seine Mutter ihre Beziehung zu seinem Vater, sicher auch, weil der inzwischen eine Romanze mit Billie Holiday begonnen hatte, die für kurze Zeit mit Basie reiste.

Green beschreibt die verschiedenen Besetzungen der Basie-Band der 1930er und 1940er, die Schwierigkeiten des Musikerlebens, und die zunehmenden Probleme der Musikindustrie, die schließlich dazu führten, dass Basie sein Orchester auflöste und kurze Zeit mit einem Sextett – ohne Gitarre – auftrat. Sein Vater nahm die Entscheidung nicht hin und tauchte einfach beim nächsten Gig des Sextetts mit seiner Gitarre auf. “Was machst du denn hier?”, fragte Basie, und Green antwortete, “Was glaubst du wohl? Du hast hier einen Gig, richtig? Ich habe dir die besten Jahre meines Lebens gegeben und du glaubst, mich einfach beiseiteschieben zu können? Keine Chance!”

Während die 1930er- und 1940er-Jahre-Band insbesondere ein Solistenorchester war, wurde der Sound der 1950er Jahre-Band durch ihre Arrangeure geprägt. Alfred Green berichtet, wie Green seinen Platz in den Arrangements fand, wie er sich zu den Schlagzeugern positionierte, und wie er seine Aufgabe immer als die eines Unterstützers der anderen gesehen habe.

Neben den Einsichten in Greens Karriere sind es vor allem die technischeren Kapitel, die im Buch faszinieren. Alfred Green beschreibt etwa die Spannung der Saiten, die besondere Haltung, die Green benutzte, bei der sein Instrument fast auf seinem Schoß lag, spricht über die Tatsache, dass Green kaum je mit nicht-akkordischen Soli zu hören war, über seine wenigen Aufnahmen unter eigenem Namen, über Gigs für andere Bandleader und anderes mehr.

Einem dicken Block mit seltenen Fotos folgen schließlich noch Analysen von Michael Petterson, M.D. Allen und Trevor de Clerq sowie Zitate anderer Gitarristen über Green, schließlich eine ausführliche Diskographie aller seiner Aufnahmen.

Es gibt eine Reihe an Büchern über das Count Basie Orchester, darunter natürlich auch Basies eigene Autobiographie, verfasst mit Hilfe Albert Murrays. Keines dieser Bücher aber bietet einen so persönlichen Einblick in die Band wie das Buch Alfred Greens über seinen Vater. Der Gitarrist Freddie Green war wahrscheinlich der wichtigste Musiker des Basie Orchesters, der nicht nur für den durchgehenden Swing und eine rhythmische Verlässlichkeit stand, sondern der Band auch, was oft übersehen wird, ihren ganz spezifischen Sound verlieh, der sie aus der Menge ihrer Konkurrenten auf dem großen Bigbandmarkt hervorhob. Greens Buch gelingt in diesem Umfeld gleich dreierlei: Er schreibt eine Biographie des Gitarristen Freddie Green, er erzählt Details aus der Bandgeschichte Count Basies (und damit aus dem Alltag der Swingära), und er teilt sehr persönliche Erinnerungen an seinen Vater mit dem Leser.

Ihm gelingt dabei der schwierige Spagat, Beobachter und Sohn zur selben Zeit zu bleiben. Zu Beginn liest sich das alles wie eine interessante, aber eher distanzierte Lebensdarstellung, bis Green aus einem Gespräch zitiert, das er mit seiner Mutter geführt hatte, und bei dem einen schlagartig klar wird, dass der Autor ja Sohn des Objekts seines Berichts ist, dass er mit dem Wissen eines Familienglieds, sicher auch mit eigener Betroffenheit schreibt. Solche Perspektivwechsel gelingen ihm hervorragend, wie man in etlichen bewegenden Passagen erkennen kann. Green verschweigt macht aus seinem Vater nirgends einen Heiligen, sondern stellt ihn als Menschen dar, der nach dem Besten strebte, aber durchaus fehlbar war.

“Rhythm Is My Beat” ist ein sehr empfehlenswertes Buch, über Freddie Green, über Count Basie, über die Swingära und vieles mehr. Alfred Greens Buch gibt einen tieferen Einblick als vieles, was man sonst so liest zu diesem Thema und ist eine spannende Lektüre für Fans, genauso wie für Musiker oder Forscher über diese Musik.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Keith Jarrett. Eine Biographie
von Wolfgang Sandner
Berlin 2015 (rowohlt)
362 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-780-1

2015sandner“Mit freundlichen Künstlern ist die Welt nicht gesegnet”, beginnt Wolfgang Sandner sein Buch, das er mit Wohlwollen des Pianisten angegangen war, bis er mit diesem nach einem Konzert aneinandergerieten sei, weil es Jarrett nicht gefallen habe, dass Sandner sein “Köln Concert” als einen seiner größten Erfolge bezeichnete. “Das Ende eines Dialogs eröffnet jedoch auch eine Chance”, befindet Sandner. In der Folge nämlich habe er sich noch stärker auf die Musik konzentrieren müssen. Das Ergebnis ist ein Buch, das der Musik Jarretts als eines Künstlers gerecht wird, der seine Kraft aus der Improvisation des Jazz zieht, dessen Wirkung aber weit über dieses Genre hinausreicht.

Keith Jarrett wurde am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren, und Sandner sieht diesen Tag, Kriegsende, als symbolträchtig für die Jahrhundertkarriere des Pianisten. Ohne Europa, das durch den Krieg noch mehr für die Qualitäten des Jazz sensibilisiert war, erklärt Sandner, wäre Jarretts Karriere einerseits so nicht möglich gewesen, auf der anderen Seite habe Jarrett immer tief in den Traditionen der amerikanischen Avantgardeästhetik gestanden, in der Tradition auch eigenbrötlerischer Künstler wie Lou Harrison und Alan Hovhaness, deren Werke er Anfang der 1980er Jahre in Europa uraufführte.

Sandner zeichnet die Kindheit Jarretts in Allentown nach, die Erkenntnis seines Talents, das Trauma der Trennung seiner Eltern, dem er mit dem Rückzug in die Musik begegnete, und die musikalischen Bemühungen seiner Brüder. Jarrett spielte mit lokalen Bands, besuchte Workshops, gewann ein Stipendium fürs Berklee College, mit dessen die Musik eher regulierenden als zur Kreativität ermutigendem Lehrplan er allerdings wenig anzufangen wusste. Da war die Schule von Art Blakeys Jazz Messengers schon eine andere, in denen Jarrett ab Herbst 1965 für vier Monate mitwirkte. Von Blakey wechselte er in die Band des Saxophonisten Charles Lloyd, dem er durch dessen Schlagzeuger Jack DeJohnette empfohlen worden war. Lloyds Quartett war “die erste Supergroup des Rockjazz”, und Sandner hört sich sowohl dessen Studio- wie auch die Liveaufnahmen an. 1967 gründete Jarrett sein erstes Trio mit Charlie Haden und Paul Motian, und als ihm Miles Davis 1969 zum wiederholten Mal anbot, in seiner Band mitzuwirken, sagte Jarrett zu, obwohl Miles mit Herbie Hancock und Chick Corea bereits zwei Pianisten in der Band hatte. Bei Miles musste er elektronische Keyboards und Orgel spielen, Instrumente, die ihm eigentlich zuwider waren. Zugleich setzte er sich noch mehr mit Klang auseinander, mit dem Sound der Instrumente, die er zu bedienen hatte genauso wie den Soundmöglichkeiten der Band, die für Miles im Mittelpunkt seiner “musikalischen Großräume, Klangkunstwerke” standen.

Ein eigenes Kapitel widmet Sandner der Partnerschaft zwischen Keith Jarrett und Manfred Eicher, der weit mehr war als ein Labelgründer und Plattenproduzent. Jarrett stand Anfang der 1970er Jahre eigentlich bei ABC unter Vertrag, ihm wurde aber erlaubt, Produktionen mit “ernster Musik” und ähnliche Aufnahmen ohne Gegenleistung anderswo einzuspielen, das könne sein Ansehen schließlich nur steigern. Dass Jarretts Aufnahmen für Eichers Edition of Contemporary Music zum Zugpferd für das Label ECM werden sollten, hatte niemand vorhergesehen. Im November 1971 also ging Jarrett erstmals in Oslo ins Studio und produzierte mit “Facing You” die erste von bis heute 28 Solo-Produktionen für Eicher, ein Album, das sowohl Jarretts Ruf als Solopianist begründete als auch Eichers Ruf als einer der offenohrigsten Produzenten des Jazz. Sandner erklärt, was die Partnerschaft und das Vertrauen der beiden zueinander begründe, die Tatsache etwa, dass Eicher selbst Musiker sei oder dass sein Interesse neben dem Jazz auch anderen Formen von Musik (oder Literatur oder Kunst oder Film) gelte. Eicher, schlussfolgert Sandner auch nach dem Gespräch mit anderen ECM-Künstlern, sei bei vielen seiner Produktionen der “dritte Mann”, auch wenn man ihn weder sehe noch höre.

Es gäbe etliche Musiker und Musikliebhaber, warnt Sandner schon im Vorwort seines Buchs, die meinen, über Musik solle man nicht so viel schreiben, da diese das Wesentliche doch eh in sich berge. Und dann tut er genau das, kongenial, so nämlich, dass seine Zeilen die Musik zwar heraufbeschwört, aber nirgends zu ersetzen trachtet. Über Jarretts Klavierspiel etwa schreibt er, man könne vielleicht die verschiedenen Techniken benennen, die seinen Personalstil ausmachten, komme dabei aber vor allem an einem Charakteristikum nicht vorbei, das Sandner die “Konzentration aufs Wesentliche” nennt und das er in Jarretts musikalischem Ansatz genauso findet wie in seiner Wahl der Mitmusiker oder in der klaren Gliederung seines Repertoires in Standards, eigene Kompositionen und freie Solo-Improvisationen.

An anderer Stelle verfolgt er Jarretts Vervollkommnung der authentisch-eigenen Stimme. Er betrachtet die Aufnahmen seines amerikanischen Quartetts mit Dewey Redman und seines europäischen Quartetts mit Jan Garbarek, beschreibt, was an diesen Aufnahmen so besonders sei, obwohl sie doch weder einen unerhörten Klang hervorbrächten noch eine neue Form oder eine außergewöhnliche ästhetische Haltung. Er nennt Jarrett einen “Solist ohne Grenzen”, verfolgt die unterschiedlichen pianistischen Ansätze, die der Künstler über die Jahre entwickelte. Und Sandner ist wie wenige deutsche Autoren ein Meister darin, Musik mit Worten näher zu kommen. Ein Beispiel: Über Jarretts Album “Staircase” schreibt er: “Alles, was Jarrett in den elf Stücken erklingen lässt, besitzt Körperlichkeit. Es gibt keine flachen Töne, nur runde, eckige, kubusartige, voller Tiefenschärfe. Wenn ein Ton verklingt, wird er nicht nur leiser, er verschwindet wie in einem Tunnel, verliert nicht nur sein Volumen, sondern wird augenscheinlich kleiner.” Er benennt die Beziehungen zwischen Jarretts Aufnahmen an der Barockorgel in Ottobeuren und seiner Suche nach Klangfarben einerseits und ähnlichen Suchen europäischer oder amerikanischer Komponisten andererseits, nicht aber, um daraus Einflüsse abzuleiten, sondern um zu zeigen, dass Jarrett sich da inmitten eines breiten Diskurses befindet, in dem seine eine gewichtige Stimme ist.

Zwischen ausführliche Beschreibungen der diversen Plattenprojekte streut Sandner aber auch Informationen über die Selbstzweifel des Künstlers, über persönliche und geschäftliche Krisen, über Rückenschmerzen und das chronische Erschöpfungssyndrom, dass Jarrett für einige Jahre aus dem Verkehr zog. Er beschreibt, wie all diese außermusikalischen Ereignisse ihren Widerhall in Jarretts Musik fanden. Nach seiner Genesung, fasst Sandner zusammen, sei Jarrett ” praktisch nicht mehr in ein Aufnahmestudio zurückgekehrt. Mit Ausnahme einer Duo-Aufnahme mit Charlie Haden und einer Einspielung von Bach-Sonaten für Violine und Klavier sind alle Aufnahmen danach bei Live-Auftritten entstanden.”

Natürlich nimmt das “Köln Concert” ein wichtiges Kapitel seines Buchs ein. Sandner beschreibt die bekannt widrigen Umstände des Konzerts, Rückenschmerzen, ein schlecht intoniertes Instrument, ein Stutzflügel, den die Bühnenarbeiter statt des eigentlich geplanten Bösendorfer Imperial auf die Bühne gestellt hatten, und er erzählt, wie Jarrett aus all diesen Widrigkeiten über sich herauswuchs, die Beschränkungen des Instruments zu Stärken seiner Aufnahme machte. Das “Köln Concert” wurde zu einem Riesenerfolg bei Kritik und Publikum gleichermaßen, und selbst der Perfektionist Jarrett musste später zugeben, dass die Ideen, “diese Klangfarben und diese Stimmführungen”, die auf der Aufnahme zu hören sind, schon einzigartig waren.

In weiteren Kapiteln seziert Sandner die Herangehensweise Jarretts an die Standards des American Popular Song, die er zusammen mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette ab 1983 einspielte und bald auch bei Konzerten spielte, seine Einspielungen klassischer Musik von Bach bis Lou Harrison, sowie Jarretts eigene Kompositionstätigkeit, die sich keinesfalls in der Komposition von Themen für eigene Improvisationen erschöpfte.

Sandners letztes Kapitel heiß “Einspruch” und ist unter all den lesenswerten Kapiteln dieses Buchs vielleicht das lesenswerteste. Sandner beginnt mit einer Eloge auf den kreativen Schöpfer, auf das Genie Keith Jarrett, um dann die Reaktion hervorzuheben, mit der Jarrett so oft, auf so vieles, reagiert, seine “Manie, etwas abzulehnen”. Der wichtigste Einspruch Jarretts gelte dabei musikalischen Trends, kurzlebigen Moden oder selbsternannten Kanonikern. Sandner findet diese Veto-Haltung auch im Klavierspiel des Meisters selbst, das “allen Regeln der traditionellen Klavierkunst widerspricht und wirkt, als sei das Instrument weniger ein Partner, vielmehr ein Gegner, den man bezwingen müsse, bisweilen mit List und Tücke, bisweilen mit tänzerischem Ablenkungsmanöver, manchmal mit brachialer Gewalt, nicht selten aber, indem man sich den Flügel einverleibt, mit ihm verschmilzt.” Es ist dieses Eins-Sein mit seiner Musik, das Jarrett auch außerhalb der Jazzanhängerschaft Wirkung verschafft hat. Henry Miller schrieb ihm einen Brief, nachdem er das “Köln Concert” gehört hatte, Sergiu Celibidache und Marcel Reich-Ranicki zeigten sich begeistert. Sandner argumentiert aber auch, dass diese Verweigerungshaltung neben seinen künstlerischen Entscheidungen auch Jarretts problematisches Bühnenverhalten beeinflusst habe, seine gelegentlichen Publikumsbeschimpfungen, die, wie Sandner schreibt, fast schon zum Ritual geworden seien, das Voyeure unter den Hörern erwarten oder gar herausfordern.

Wolfgang Sandners Buch gelingt es, der Musik Keith Jarretts nahe zu kommen, gerade, weil er sich, wie er im Vorwort erklärt, mit dem Künstler entzweit hat. Sandner besitzt den Überblick nicht nur über Jarretts Schaffen und nicht nur über die Jazzgeschichte, aus der heraus Jarretts Kunst kommt, sondern über die gesamte Kulturgeschichte, in die hinein Jarretts Musik wirkt. Es gelingt ihm, die verschiedenen Positionen zu definieren, die sich in der Musik und ihrer Rezeption widerspiegeln: die musikalische, ästhetische und wirtschaftliche Position Jarretts zu verschiedenen Zeiten, die Position der Labels, der Agenten, der Produzenten, die Position Manfred Eichers, die Position der Kritiker und des Publikums, und nicht zuletzt auch seine eigene Position, die Position Wolfgang Sandners. Dass er aus eigener Begeisterung heraus schreibt, lässt er nicht unerwähnt. Er bezeichnet Jarrett wiederholt als “Genie”, nennt ihn den größten Musiker, der je aus Allentown kam. Doch dient diese eigene Positionsbestimmung letztlich auch dem Vertrauen, das wir als Leser in Sandners Wertung der Musik haben können. Er lässt uns klar wissen, wo er als Autor steht, und so können wir viel leichter unsere eigene Position beziehen, überdenken, revidieren. Wolfgang Sandner ordnet Jarretts Aufnahmen dabei nicht nur in Jazz-, Musik- und Kulturgeschichte ein, er verleitet zum neuen, zum tieferen Hören, und er ermöglicht ein Verständnis – im besten Sinne des Wortes – über die Grenzen des emotionalen Hörens hinaus.

Wolfram Knauer (Dezember 2015)

Nachtrag Februar 2021:

Keith Jarrett. A Biography
by Wolfgang Sandner, translated by Chris Jarrett
Sheffield 2020 (Equinox)
215 Seiten. 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-800500129

Sandners Jarrett-Biographie ist inzwischen auf Englisch erschienen, übersetzt von keinem Geringerem als Jarretts Bruder, dem in Deutschland lebenden Pianisten Chris Jarrett. Für die englische Ausgabe hat Sandner seinen früheren Text erweitert und aktualisiert, hat neuere Aufnahmen und neue Veröffentlichungen aus früheren Jahren berücksichtigt und neue Erkenntnisse über Jarretts familiären Background geteilt. Mit dem Abschied Jarretts von der Bühne im vergangenen Oktober scheint auch seine Karriere abgeschlossen. Sandners Buch vertieft das Wissen und ermuntert zum Nachhören – jetzt vielleicht etwas wehmütiger als bei der ersten (deutschen) Lektüre vor sechs Jahren.


 

Als der Jazz nach Kassel kam. Streifzüge durch die Szene der ersten Nachkriegsjahre
von Ulrich Riedler
Berlin 2015 (B&S Siebenhaar Verlag)
104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN: 978-3-943132-39-7

2015riedlerDie großen Jazzmetropolen – Berlin, Hamburg, Köln, München – sind weitgehend dokumentiert. Auch für kleinere Städte haben sich Historiker und Hobbyhistoriker der Aufbereitung der Jazzgeschichte angenommen. Das kann schon mal seltsam wirken, wenn Provinzzentren wie der Mittelpunkt der Welt erscheinen, wo sie doch meist nur Durchgangsstationen für aufstrebende spätere oder etablierte, sich auf Tournee befindende Jazzstars waren. Tatsächlich aber sind regionalen Szenen bis heute wichtige Brutstätten künstlerischer Ideen, auch wenn viele der Musiker, die hier ihre Anfänge nehmen, irgendwann in die großen Zentren abwandern, in Städte mit bedeutenden Hochschulen etwa oder in solche mit einer lebendigen, großen Jazzszene.

Das nordhessische Kassel, in der Mitte der Republik, und doch kulturell vor allem durch die Brüder Grimm und die documenta bekannt, besitzt bis heute eine lebendige Szene, verschiedene Spielorte für Jazz und improvisierte Musik, und ein langjähriges Festival. Die alle fünf Jahre stattfindende documenta bringt es mit sich, dass die Bürger der Stadt sich sehr bewusst mit ästhetischen Diskursen der Avantgarde auseinandersetzen.

Der Journalist und Jazzfan Ulrich Riedler hat sich in seinem Buch auf die Suche nach den Anfängen des Jazz in der nordhessischen Stadt gemacht und diese im Frühjahr 1940 entdeckt, als sich junge Jazzfreunde im Gasthaus “Ledderhose” trafen, wo sie gemeinsam die neuesten Platten hörten. Irgendwann rückte die Gestapo ihnen auf den Leib, nahm die Jungs mitsamt ihrer Schellackschätze mit und unterzog sie einer gründlichen Befragung. Die Jazzfans wurden bald wieder entlassen, und einer von ihnen kann Riedler nicht nur von damals berichten, sondern ihm sogar noch die kurzfristig konfiszierten Platten zeigen. Die “Ledderhose” blieb auch nach dem Krieg ein Jazztreffpunkt, in dem die Mitglieder zu Platten tanzten, ab und zu aber auch selbst zum Instrument griffen.

Die 1950er Jahre dokumentiert ein Gespräch mit dem späteren Spiegel-Redakteur Alfred Nemeczek, von dem Riedler außerdem einen Bericht über das Jazzkontor Kassel aus dem Jahr 1959 andruckt, den Versuch, in Nordhessen einen Liveclub nach Vorbild des Frankfurter Jazzkellers zu etablieren. In den 1950er Jahren begannen die ersten amerikanischen Stars Deutschland zu erobern. Kassel erlebte Konzerte von Duke Ellington, Louis Armstrong, Lionel Hampton oder der Jam-Session-Truppe Jazz at the Philharmonic mit Ella Fitzgerald und vielen anderen.

Einer der Stammgäste der Kasseler Jazzszene war damals der Trompeter Manfred Schoof, der zwei Jahre an der Kasseler Musikakademie studierte, bevor er nach Köln weiterzog. Riedler spricht mit ihm über die Jazzszene jener Zeit, über Musiker und Musikerlegenden der Region, unter anderem den Tenorsaxophonisten Werner Apel, den, wie man sich erzählt, sogar Duke Ellington verpflichten wollte, weil er ihn bei einer Jam Session so beeindruckt habe, und natürlich auch über die GI-Clubs, in denen Schoof die amerikanische Kultur erst richtig kennenlernte.

Die Amerikaner waren im Stadtteil Rothwesten in Fuldatal stationiert und engagierten über die Special Service Agencies jede Menge deutscher Musiker für die Unterhaltung in den verschiedenen Clubs. Riedler blickt auf Orte, aufs Repertoire, auf das Jazzprogramm des örtlichen Amerika-Hauses, beschreibt aber auch andere Veranstaltungsorte der Stadt, deren Programm großteils von Vereinen organisiert, zum Teil auch von der Stadt unterstützt wurde. Er erzählt, wie Arnold Bode, der Vater der documenta, von der Band des Vibraphonisten und Gitarristen Fritz Bönsel so angetan war, dass er im Landesmuseum ein Konzert veranstaltete, das den Jazz endgültig in der Stadt etablierte.

Die Jazzszene jener Jahre beinhaltete traditionelle genauso wie moderne Stile, und so beschreibt auf der einen Seite die Dixieland-Szene der 1950er und 1960er Jahre mit ihren Riverboatshuffles und dem musikalischen Versuch, dem Original so nah wie möglich zu kommen, auf der anderen Seite aber auch, wie andere Musiker, Schoof und Gunter Hampel unter ihnen, dem modernen Jazz in Kassel zu Gehör verhalfen. Und schließlich spricht er mit dem Pianisten Joe Pentzlin, dessen Trio quasi die Hausband des Jazzclubs in der Orangerie gewesen war.

In einem abschließenden Kapitel schlägt Riedler einen knappen Bogen in die Regenwart, zu Musikern wie Matthias Schubert und Ernst Bier, die entweder aus Kassel stammen oder aber hier über längere Zeit Station machten und die Szene der Stadt mitprägten.

Riedlers Buch ist nicht als historische Dokumentation gedacht, denn vielmehr als eine flüssig zu lesende Erinnerung an die 1940er bis 1960er Jahre, ein liebevoll bebildeter Band über die Jazzszene in der deutschen Provinz, die – ähnlich wie die Szenen vieler anderer Städte mittlerer Größe – überaus lebendig war. Die Lektüre macht dem Leser deutlich, dass der Diskurs über den Jazz als aktuelle Kunstform nicht nur in den Metropolen stattfindet.

Wolfram Knauer (November 2015)


 

Music Wars 1937-1945. Propaganda, Götterfunken, Swing. Musik im Zweiten Weltkrieg
von Patrick Bade
Hamburg 2015 (Laika Verlag)
511 Seiten, 34 Euro
ISBN: 978-3-944233-41-3

Sounds of War. Music in the United States during World War II
von Annegret Fauser
New York 2013 (Oxford University Press)
366 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-994803-1

Victory Through Harmony. The BBC and Popular Music in World War II
von Christina L. Baade
New York 2012 (Oxford University Press)
275 Seiten, 31,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-537201-4

2013fauser Musik war immer schon kriegswichtig. Ob zum Anfeuern der Truppen im Marschrhythmus, ob zum Mobilmachen der Bevölkerung durch patriotische Hymnen, ob als Beruhigung und Selbstbestätigung, ob als Instrument der psychologischen Kriegsführung oder sogar als Foltermethode: Krieg ist ohne Musik – so seltsam diese Idee auch scheinen mag – kaum vorstellbar.

Drei kürzlich erschienene Bücher untersuchen die Rolle der Musik im Zweiten Weltkrieg. Der britische Historiker Patrick Bade berichtet über die verschiedenen musikalischen Strategien und Funktionen direkt vor Ort, in den Gebieten, in denen der Krieg tobte oder die am Krieg beteiligt waren, Frankreich, Deutschland, den USA, Russland, Großbritannien, dem nördlichen Afrika und dem Mittleren Osten. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Annegret Fauser beschränkt sich in ihrem Buch auf die klassische Musikszene in den Vereinigten Staaten. Die britische Musikhistorikerin Christina Baade schließlich untersucht, wie der BBC in den Kriegsjahren auf Jazz, Tanz- und Popmusik gesetzt habe, um die Moral der gesamten britischen Öffentlichkeit in den Kriegstagen zu stärken. Baades Studie gibt dabei einen Einblick in Programmentscheidungen eines öffentlichen Rundfunksenders und thematisiert, inwieweit die Öffnung des Senders für Jazz und amerikanische Popmusik auf Widerstände gestoßen sei. Fausers Fokus liegt auf der “concert music”, also der klassischen Musik, und im Umschlagtext heißt es, dass Dinah Shore, Duke Ellington und die Andrews Sisters vielleicht die Zivilisten zuhause und die Soldaten in Übersee unterhalten hätten, es tatsächlich aber vor allem die klassische Musik gewesen sei, die die Menschen für die Kriegsanstrengungen mobilisiert habe. Patrick Bade schließlich wagt den Rundumschlag, lässt also auch die sogenannte leichte Muse, Swing und Jazz, nicht aus. Während er dabei neben dem klassischen Repertoire und dem Swing auch einen Blick auf die Funktion von Radio, Film und Plattenindustrie wirft, außerdem in einem langen Kapitel Kriegslieder aus unterschiedlichen Ländern ins Visier nimmt, finden man in Fausers Buch Informationen über Musiker in der Armee, Auftragskompositionen für den Kriegseinsatz, ein Kapitel über Musik als Beruhigung der Bevölkerung und als Therapie für traumatisierte Soldaten sowie eines über die vielen Exilkomponisten, die durch den Krieg in den USA strandeten. Christina Baade schließlich diskutiert in ihrem Buch auch das Thema von Tanzmusik und Maskulinität, die Sorge um den Erfolg der amerikanische Popmusik und die Verdrängung eigener Traditionen, und die Bedeutung von Rundfunkprogrammen, in denen afro-amerikanische Musik in den Mittelpunkt gestellt wurden, für schwarze britische Musiker. Bei allen drei Autor/innen finden sich Diskussionen der Zuschreibung moralischer Qualitäten zur Musik, der Grundlage letzten Endes dessen, was in den USA später zur “cultural diplomacy”, zur Kulturdiplomatie werden sollte.

2012baadeFür Christina Baades Argumentationslinie spielt der Jazz eine zentrale Rolle; ihr Buch erlaubt dabei Rückschlüsse auf Entwicklungen des Nachkriegsjazz in Großbritannien, einschließlich der Hinwendung vieler junger Musiker insbesondere zu traditionellen Jazzstilen. Patrick Bade hat neben einem Kapitel über Jazz und Swing im Dritten Reich, in dem er auch auf das Phänomen der Propagandaband Charlie and His Orchestra eingeht, ein eigenes Kapitel über Musik im Feldlager, im Gefangenenlager und im Konzentrationslager. Fauser wiederum diskutiert in ihrem Buch ausführlich musikalischen Ausdruck von Nationalismus, etwa in Werken von Aaron Copland und Roy Harris.

Patrick Bade gibt am Schluss seines Buchs einen Ausblick auf die Nachwirkungen, erzählt etwa, dass Wagner im Bayreuther Festspielhaus kurzzeitig Cole Porter weichen musste, berichtet, wie Sänger/innen und Musiker/innen nach dem Krieg mit ihrer Karriere im Dritten Reich konfrontiert wurden oder diese sehr bewusst aus ihrer Biographie ausblendeten. Er endet mit dem kurzen Hinweis auf Werke, die sich bis ins 21ste Jahrhundert hinein mit den Gräueltaten des Kriegs auseinandersetzen. Christina Baades Buch endet mit der Ankunft der amerikanischen Truppen im August 1944 und der Entscheidungen des BBC, die auch die amerikanischen GIs mit ihrem Programm unterhalten wollte. In der Folge kam es zu einer Diskussion der Vermischung musikalischer Werte in der populären und Tanzmusik, über “Britishness” oder “Pseudo-American”. Ihr Buch verweist zwischen den Zeilen immer wieder, etwa Kapiteln über das vom Rundfunk mitgeprägte Bild der Frau oder im Versuch, die Ausstrahlung von Musik männlicher übersentimentaler Schlagersänger im Rundfunk zu unterbinden, auf Diskurse, die auch nach dem Krieg weitergingen und auf die letzten Endes BBC-Programmentscheidungen großen Einfluss hatten. Bei Fauser geht der Blick in die Nachkriegszeit über John Cage, dessen experimentelle Ideen sie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren verortet. Sie verweist darauf, dass Cage und seine Zeitgenossen ihre Lehren aus den Erfahrungen des Kriegs gezogen hätten, sich nach Ende des Kriegs von ihren nationalistischen Kompositionen distanziert oder aber diese in neue Werke integriert hätten.

2015badeZusammengefasst bietet Patrick Bade im breiteren Ansatz seines Buchs eine Art Rundumschlag über das Thema. Christina Baade wirft Licht auf die Verflechtungen zwischen Musik, Musikindustrie, öffentlicher Meinung und Publikumsgeschmack. Fausers Studie schließlich hätte von einer Erweiterung ihres Schwerpunkts vielleicht profitiert. Fauser begründet ihren eingeschränkten Blick im Vorwort damit, dass die Jazz- und Popmusikszene jener Jahre ja schon ausgiebig genug untersucht worden sei, während Forschungen zur klassischen Musik im Krieg weitgehend fehlten, vergibt sich damit aber die Chance einer differenzierten Darstellung, was vielleicht – nehmen wir einmal an, dass der Einband-Text vom Verlag und nicht von ihr stammte –, eine wertende Aussage wie die, dass Jazz und Popmusik die Bürger zuhause und die GIs in Übersee vielleicht unterhalten hätten, es aber die klassische Musik gewesen sei, die den wirklichen Unterschied gemacht habe, verhindert hätte.

Von solchen Anmerkungen abgesehen, haben alle drei Bücher ihre Meriten. Sie helfen bei der Kontextualisierung von Musikgeschichte in der späten ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, die letzten Endes Auswirkungen auch darauf hatte, wie Musik heute klingt und wie wir sie wahrnehmen.

Wolfram Knauer (Oktober 2015)


 

 

Giving Birth to Sound. Women in Creative Music
herausgegeben von Renate Da Rin & William Parker
Köln 2015 (Buddy’s Knife)
294 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-00-049279-2

2015darinVielleicht müsste am Anfang dieser Rezension erklärt werden, welchen Weg die Bücher durchlaufen, die im Jazzinstitut Darmstadt anlangen. Bevor wir uns die Bücher aussuchen, die wir rezensieren wollen, erfassen wir sie in unserem Jazz Index, einer computergestützten bibliographischen Datenbank, die von Forschern und Journalisten (und Fans) aus aller Welt genutzt wird. Das heißt, wir gehen das Buch von vorn bis hinten durch, ordnen jedes einzelne Kapitel einem Stichwort oder einem Musikernamen zu, tragen biographische Notizen wie etwa Geburtstag oder Geburtsort, nach, sofern sie in unserer Datenbank noch fehlen. Erst dann machen wir uns ans Lesen.

Aber schon bei diesem ersten Schritt des Erfassens fiel einiges auf beim Buch “Giving Birth to Sound”. Etliche der darin befragten Musikerinnen waren nämlich noch gar nicht in unserer Datenbank erfasst oder aber nur mit relativ kurzen bibliographischen Listen. Über sie wurde in der Jazzpresse bislang also nur wenig berichtet. Nun ja, mag man meinen, das hat sicher auch damit zu tun, dass Frauen ja so richtig erst in den letzten Jahren ins Rampenlicht des Jazz getreten sind. Weit gefehlt aber, und das war die zweite Überraschung: Viele Musikerinnen, die im Buch zu Worte kommen, gehören nämlich gar nicht der jungen (sagen wir: unter 40-jährigen) Generation an, sondern sind weit länger auf der Szene unterwegs. Die Gründe für ihre Unsichtbarkeit in der Jazzpresse mögen also doch woanders liegen.

Eine dritte Erkenntnis, die sich beim Durchblättern schnell ergibt, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Jede der Musikerinnen hat einen völlig anderen Zugang zum Thema. Mal analytisch, mal diskursiv, mal ausweichend, mal ablehnend, mal nüchtern gefasst, mal poetisch überhöht, mal kämpferisch, mal verteidigend. Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich schon in den Überschriften der Kapitel, die Renata Da Rin und William Parker aus der Frage “Was bedeutet Musik für Dich” abgeleitet hat. “Jeder Sound und jede Stille”, antwortet Renée Baker; “die Gründe für mein Leben”, sagt Amy Fraser; “ein abstrakter Ort, um das Leben zu teilen und zu fühlen”, meint Marilyn Mazur; “ein Lager der Erinnerungen”, findet Shelley Hirsch, “Leben, Magie, Geist”, beschreibt Maggie Nicols, oder aber, so Erika Stucky, “serious fun – a ‘Schnaps'”.

Oder aber die Einleitung: Nach dem Vorwort von Amina Claudine Myers haben die Herausgeber eine Anzahl von Reaktionen auf den Buchtitel zusammengefasst. “Giving Birth to Sound”? Schrecklicher Titel: Frauen wurden schließlich immer wieder aufs Gebären reduziert, meint eine der Gesprächspartnerinnen, während eine andere findet, der Titel passe, sei auch angenehm mehrdeutig. Naja, und bei allen Bedenken spräche der Titel ja auch vom Schaffen von etwas Neuem. Blödsinn, widerspricht eine weitere Stimme, Gebären sei doch eine passive, rein physische Tätigkeit, jede Kuh könne das. Musik zu erschaffen sei dagegen ein aktiver intellektueller Prozess und damit das exakte Gegenteil.

Das Konzept des Buchs: Ohne weitere Vorgaben schickten die Herausgeber den 48 Musikerinnen 20 Fragen, die vom Faktischen zum Nachdenken über den Prozess des Kreativen gehen, sich dabei immer wieder danach erkundigen, inwieweit das eigene Geschlecht bei musikalischen, ästhetischen oder beruflichen Entscheidungen eine Rolle gespielt habe. Tatsächlich sind nur sechs der Fragen konkret aufs Frau-Sein der Musikerinnen abgezielt: Wie hast Du deine Kreativität als kleines Mädchen ausgelebt? Wie hat die Tatsache, dass Du eine Frau bist, die Entwicklung Deiner musikalischen Karriere behindert? Wie siehst Du Deine Position als Frau in der Musikszene? Hat diese Position Dein Verhältnis zum Sound beeinflusst? Siehst oder spürst Du einen Unterschied im weiblichen und im männlichen Ansatz an Kreativität? Was würdest Du anderen / jungen Frauen empfehlen, die sich bemühen ein kreatives Leben zu führen?

Die Antworten auf diese und allgemeiner gehaltene Fragen fallen so unterschiedlich aus wie die Lebenswege der 48 Interviewten. Es macht nun mal einen Unterschied, ob man Ende der 1970er Jahre in Dänemark zum Jazz kommt wie Lotte Anker oder 1941 in Oklahoma wie Jay Clayton. Haben Männer und Frauen einen anderen kreativen Approach?, fragen die Herausgeber. “NEIN!” ruft Jay Clayton, in Großbuchstaben, keine weitere Diskussion duldend, während Marilyn Mazur einwirft, Frauen würden vielleicht weniger in Wettstreit treten, mehr ans Ganze und Kollektive denken. “Nein, ich sehe da keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen”, findet wiederum Amy X. Neuberg, um gleich anzuschließen, “das heißt aber nicht, dass es keine gäbe.” Klar gibt es einen Unterschied”, erklärt Kali Z. Fasteau, etwa, dass Männer in hierarchischen Systemen besser funktionierten als Frauen. Andererseits, urteilt Nicole Johänntgen, sei diese Frage ziemlich schwer zu beantworten, weil es nun mal so sehr viel mehr Männer als Frauen auf der Szene gäbe.

Nicole Mitchell beantwortet ihre Fragen in poetischen Erinnerungen und Reflexionen über schwarze Musik, den langen Atem der Bürgerrechtsbewegung und ihren eigenen Weg. Maggie Nicols auf der anderen Seite streicht heraus, dass ihre Musik immer sowohl politische wie auch spirituelle Untertöne besessen habe. Ob sie einen Preis bezahlt habe dafür, dass sie Musik mache, fragen die Herausgeber, und Angelika Niescier findet: Im Gegenteil, sie habe daraus sehr viel für sich gewonnen. Musikerin zu werden, sei nun mal eine Lebensentscheidung, finden auch viele ihrer Kolleginnen, niemand zwinge einen schließlich diesen Weg einzuschlagen.

Die weibliche Kreativität erlaube mehr “Raum”, meint Fay Victor, und zwar “sowohl mehr Raum im Sinn von Zeit und Raum wie auch mehr Raum für die Akzeptanz von Fehlern und Intuition”. Klar habe die Tatsache, dass sie eine Frau sei, ihr Verhältnis zum Sound beeinflusst, erklärt Joëlle Léandre. Frauen seien nun mal anders, sie hätten die Fähigkeit zur Distanz, die in diesem Geschäft wichtig sei, außerdem könne man mit ihnen viel besser lachen.

Sie sehen in dieser springend-vergleichenden Zusammenfassung einzelner Antworten bereits, wie ungemein gewinnbringend sich dieses Buch lesen lässt, wenn man blättert, Themen identifiziert, die die Herausgeber durch ihre Fragen ja nicht festgeklopft, sondern nur angestoßen haben, um dann zu sehen, welchen Kontext die verschiedenen Antworten beleuchten. Man erlebt die ja unabhängig voneinander befragten Musikerinnen bald wie in einer respekt- und kraftvollen Diskussion neugieriger, andere Meinungen (meistens) zulassender, vor allem aber ungemein selbstbewusster Musikerinnen.

Das Fazit des Buchs wusste man vielleicht schon vor der Lektüre: Eine einzelne Antwort auf die Frage nach dem kreativen Unterschied nämlich gibt es nicht. Der künstlerische Ansatz zwischen Männern und Frauen ist genauso unterschiedlich wie jener zwischen Männern und Männern oder zwischen Frauen und Frauen. Es gibt jedoch, und das wird in diesem Buch sehr deutlich, ein anderes Diskursverhalten, eine klare Selbstwahrnehmung der Rolle, in die man gesellschaftlich gedrängt wurde.

Unbedingt lesenswert also, ob von Buchdeckel zu Buchdeckel oder im laufenden Vor- und Zurückblättern. “Giving Birth to Sound” erklärt dem interessierten Leser nämlich in der persönlichen Selbstbefragung der Protagonistinnen und oft auch zwischen den Zeilen weit mehr über die Thematik, als man es etwa von wissenschaftlichen Studien erwarten dürfte.

[Naja, wir empfehlen dennoch den Besuch unseres Darmstädter Jazzforums zum Thema “Gender and Identity in Jazz” vom 1.-3. Oktober 2015 oder die spätere Lektüre unserer Beiträge zur Jazzforschung mit den referaten dieser Konferenz. Aber das ist natürlich nur Eigenwerbung…]

Wolfram Knauer (September 2015)


 

Beyond Jazz. Plink, Plonk & Scratch. The Golden Age of Free Music in London 1966-1972
von Trevor Barre
London 2015 (Compass Publishing)
330 Seiten, 12,99 Britische Pfund
ISBN 978-1-907308-84-0
Zu bestellen über trevorbarre@aol.com

Ekkehard Jost hat die Jahre zwischen 1960 und 1980 als eine Zeit beschrieben, in der Europas Jazz zu sich selbst fand, in der Musiker sich von ihren amerikanischen Vorbildern lösten und eigene Wege gingen. Einige dieser Wege führten fort vom, gingen also “beyond jazz”, und diese Entwicklung will Trevor Barre in seinem Buch mit demselben Titel nachzeichnen. Der Gitarrist Derek Bailey forderte eine Improvisation, die sich aus den idiomatischen Bezügen befreien, und auch andere Musiker begannen statt des Begriffs “Free Jazz” von “improvised music” zu sprechen. Barre interessiert, wie es überhaupt dazu kam, dass eine solch sperrige und alles andere als publikumsfreundliche Musik entstehen konnte und warum sie nicht angesichts ihres kommerziellen Misserfolgs einfach nach ein paar Jahren ausstarb. In seinem Fokus steht dabei die erste Generation der freien Improvisatoren, also Musiker wie Evan Parker, Derek Bailey, John Stevens, Kenny Wheeler, Barry Guy, Dave Holland, Trevor Watts, Tony Oxley, Paul Rutherford, Howard Riley, Eddie Prévost, Keith Rowe, Gavin Bryars und Cornelius Cardew.

Barre beginnt mit einer Definition seines Themas: Wo die meisten Jazzbücher den Jazz durch seine improvisatorischen Parameter beschreiben würden, sei Free Music, schreibt er, einzig durch den improvisatorischen Gehalt definiert. Er stellt unterschiedliche Formen freier Improvisation vor, solche, die näher am Jazz bleiben und solche, die eher der europäischen Avantgardetradition verpflichtet scheinen. Die beiden Hauptensembles seines Buchs sind das Spontaneous Music Ensemble und die Gruppe AMM. Barre ordnet deren Auftritte in die Jugend- und Protestkultur der 1960er Jahre ein und schildert, wie die globalen Entwicklungen von Pop, Rock und Folk jungen Musikern ein völlig neues Vokabularium an die Hand gab, sie auch zu neuen Herangehensweisen zwischen tiefer Ernsthaftigkeit und unbändigem Humor bewegten. Er beschreibt auch, welchen Platz sie in die Bandbreite des britischen Jazz jener Jahre zwischen Dixieland und Free Jazz hatten.

Barre zeichnet den Weg einzelner Protagonisten zur freien Improvisation nach, schildert insbesondere die Bedeutung des Little Theatre Club, in dem die jungen Musiker mit Kollegen auch aus dem europäischen Ausland experimentieren konnten. Er beschreibt, wie sie nach und nach merkten, dass es außer dem afro-amerikanischen Jazz auch anderes gab, dass beispielsweise südafrikanische Musiker um Chris McGregor dieser Musik eine neue Farbe geben konnten und dass sich Freiheit, wie sie der Free Jazz implizierte, auch ganz mit anderen Mitteln umsetzen ließ. Er diskutiert wichtige Aufnahmen der Zeit, wobei ihn vor allem die interaktiven Prozesse interessieren, die ästhetischen Diskurse, die sich aus der Improvisation der Aufnahmen ergaben. Das alles beleuchtet er anhand von zeitgenössischen genauso wie selbst geführten Interviews mit beteiligten Musikern. Das Spontaneous Music Ensemble und AMM nehmen zwei der umfangreichsten Kapitel ein, in denen Barre neben dein Einflüssen und den ästhetischen Diskussionen auch über Nachwirkungen schreibt, bewusste oder unbewusste Reaktionen auf die Klangexperimente in weit jüngerer Musik, der 1980er, 1990er Jahre und danach. Er betrachtet den Einfluss der Technologie, schaut auch auf die Bedeutung der visuellen Covergestaltung oder der Plattentexte. Das Label Incus nimmt ein eigenes Kapitel ein, wie FMP in Deutschland oder ICP in Holland ein von Musikern gegründetes Label, das Musik seiner Mitglieder nicht so sehr vermarkten als vielmehr dokumentieren wollte. Improvisation ist schließlich weit mehr als komponierte Musik auf das Medium der Tonaufzeichnung angewiesen – sonst verklingt sie.

In seinem Schlusskapitel betrachtet Barre kurz die “zweite Generation” der Free Music in London um das London Musicians’ Collective sowie eine “dritte Generation” um John Edwards, John Butcher und andere und setzt beide Entwicklungen mit jenem von ihm als “erste Generation” betrachteten Grundthema seines Buchs in Beziehung. Im Nachwort schließlich verfolgt er die Aktivitäten seiner Protagonisten bis in die Gegenwart.

Trevor Barres Buch ordnet die Entwicklung der Free Music der späten 1960er, frühen 1970er Jahre in die kulturelle Szene des “Swinging London” ein. Ihm gelingt dabei vor allem der Blick auf sich wandelnde ästhetische Ideale und eine Begründung derselben aus gesellschaftlichen und politischen Diskussionen heraus. Der Musik selbst kommt er vor allem in Interviews mit den beteiligten Musikern nahe. Die inhaltliche wie organisatorische Unabhängigkeit der britischen Improvisationsszene jener Jahre hat Auswirkungen bis heute. Initiativen wir F-Ire Collective wären ohne das Vordenken und Vormachen der hier beschriebenen Musiker und Gruppen nicht möglich gewesen. Von daher füllt Barres Buch eine Lücke. Dass er bestimmte Themen weitgehend außer Acht lässt – die Auseinandersetzung dieser Szene mit ihrem Publikum beispielsweise oder mit den Mainstream-Medien, der tatsächliche Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Szenen oder die Reaktion amerikanischer Musiker, zeigt nur, wie viele Perspektiven das Thema tatsächlich hat, die bislang kaum beleuchtet wurden. Barre jedenfalls stößt mit “Beyond Jazz” die Tür zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der musikalischen Freiheitsbewegung jener Zeit weit auf.

Wolfram Knauer (August 2015)


 

Little Satchmo. Living in the Shadow of my Father, Louis Daniel Armstrong
von Sharon Preston-Folta (mit Denene Millner)
Charleston/SC 2015 (self published)
112 Seiten, 12 US-Dollar
ISBN: 978-1-481227-23-7
Zu beziehen über www.littlesatchmo.com

2015prestonfoltaDie offizielle Version lautet: Louis Armstrong hatte nie Kinder. Er hätte immer gern welche gehabt, sagte seine letzte Frau und Witwe, Lucille Armstrong, aber er sei zeugungsunfähig gewesen. Nun kommt, 34 Jahre nach Satchmos Tod, Sharon Preston-Folta mit einem Buch heraus, in dem sie kundtut, sie sei die Tochter Louis Armstrongs aus einer außerehelichen Beziehung, die Satchmo in den 1950er Jahren hatte.

Ihr Leben lang habe sie diese Wahrheit herunterschlucken müssen. Sie wolle kein Geld, keinen Ruhm, aber immer selbst auf das öffentliche Wissen um ihren Vater verzichten zu müssen, sei einfach zu viel. In ihren Recherchen habe sie nur einen einzigen schriftlichen Hinweis auf Satchmos Vaterschaft gefunden, einen Brief des Trompeter an seinen Manager, Joe Glaser, aus dem Jahr 1955, in dem er diesen bat, vor der Ankunft seiner Frau Lucille in Las Vegas ein paar Geschäftsdinge zu klären, darunter Zahlungen an eine Freundin, von der er glaubt, dass sie ein Kind von ihm habe. Ihre Mutter habe sie immer beschworen, ihren Vater geheim zu halten, und so habe sie letzten Endes gehorcht und damit auch keine Ansprüche geltend gemacht auf sein physisches, historisches und finanzielles Erbe. Wenn sie etwas gekränkt habe bei ihren Recherchen, sei es, dass Louis Armstrong in seinen Briefen so offen über alles geredet habe, seine Musik, seine Kindheit, seine Liebe zum Essen und zu den Frauen, über Sex, sogar über seine Darmtätigkeit, dass er über seine Tochter aber sein Leben lang geschwiegen habe.

Warum er ihre Existenz verleugnet habe? Nun, erklärt Preston-Folta, Louis Armstrong sei ein gefeierter Künstler seiner Zeit gewesen und habe sich in der besten (weißen) Gesellschaft aufgehalten. Es habe einfach nicht gepasst, in dieser Zeit, wenn Nachrichten über ein uneheliches Kind mit einer Geliebten in die Schlagzeilen gekommen wären.

Prestons Mutter wurde 1921 in New York geboren und arbeitete bereits als 16-Jährige als Chorus Girl in diversen Shows. 1941 heiratete sie einen Tänzerkollegen; 1946 arbeiteten die beiden als Tanzpaar “Slim & Sweets” als Vorgruppen für große Swingorchester, unter ihnen auch Louis Armstrong, der sich mit ihnen anfreundete und in einen launigen Briefwechsel einstieg. 1950 starb Slim, und bei der Trauerfeier war auch Louis Armstrong dabei, der Lucille Preston in den Arm nahm und versprach: “Ich werde mich um dich kümmern.” In den nächsten vier Jahren reiste sie Pops hinterher und tauchte auf, wann immer Armstrongs in New York spielte. 1954 wurde Preston schwanger, und im November schrieb Satchmo ihr einen Brief, in dem er erklärt, wie sehr er sich auf das Kind freue und sogar vorschlägt, sie zu heiraten, sollte seine Frau (mit gleichem Namen Lucille) sich von ihm scheiden lassen. Armstrong war dann aber nicht dabei, als Sharon Louise (nach Louis) Preston am 24. Juni 1955 das Licht der Welt erblickte. Armstrongs rechtmäßige Ehefrau war “not amused” und habe ihm nach der Geburt der Tochter sogar vorgeschlagen, diese zu adoptieren, was ihre leibliche Mutter aber vehement ablehnte. Lucille (die Ehefrau) habe sogar die Alimente überwiesen, bis sie diese Aufgabe irgendwann Joe Glaser übertrug.

In ihrem Buch berichtet Sharon von den viel zu seltenen, sorgfältig geplanten und sehnsuchtsvoll erwarteten Treffen. Sie und ihre Mutter lebten eine Weile bei ihrem Onkel Kenny, der nach außen schon mal als Lucilles Ehemann auftrat und immer wieder auf seine Schwester eindrang, bei Satchmo mehr einzufordern: mehr Geld, mehr Fürsorge, am besten seinen Namen. Bei einzelnen Sommertourneen durfte Sharon mitreisen. Ansonsten aber war Satchmo vor allem durch die monatlichen Unterhaltszahlungen präsent, durch Broadway-Tickets, 1962 durch den Kauf eines Hauses in Mount Vernon, New York. In Harlem hatte sich niemand wirklich darum gekümmert, wie ihre Familienverhältnisse aussahen, erzählt Preston-Folta, in Mount Vernon aber begann eine Zeit der Lügen. Die Liaison dauerte ja bereits 12 Jahre, aber nach wie vor war nicht in Sicht, dass Armstrong auch öffentlich zu seiner Familie stehen würde. Mit zehn Jahren begriff Sharon erstmals, dass ihr Vater eine “andere Lucille” hatte, ein anderes Leben, das mit ihrem aber auch gar nichts zu tun hatte.

Etwas später seien sie gemeinsam in Atlantic City zu einem Auftritt Marvin Gayes gegangen, es habe einen Streit zwischen den Erwachsenen gegeben, bei dem ihre Mutter Satchmo fragte, wann er sie nun endlich zu heiraten gedachte, worauf er laut wurde: “Ich werde dich niemals heiraten” und mit Fingerzeig auf die Tochter fragte: “Sag mir einfach, was es kostet, für sie zu sorgen!” Das war das Ende der Beziehung.

Kaum war Armstrong gestorben, kamen auch die monatlichen Schecks nicht mehr. Ein paar im Voraus geleistete Zahlungen für Sharons Erziehung hielten sie und ihre Mutter über Wasser, mussten bald auch den Zuwachs zur Familie finanzieren, denn Sharon wurde mit 16 selbst Mutter. Sharon erzählt, wie ihr Leben weiterging, immer gezeichnet durch die Narben, die der fehlende Vater hinterlassen hatte. Irgendwann rebellierte sie gegen die eigene Bitterkeit und versuchte, das emotionale Band, das sie mit der verlorenen, nie gehabten Vergangenheit hatte, zu zerschneiden.

Sharon Preston-Foltas Buch endet mit einem Besuch im Armstrong House in Queens. Ein Anwalt hatte ihr empfohlen, einen Blick in Satchmos Testament zu werfen, das eine eidesstattliche Erklärung von Lucille, Armstrongs Frau, enthielt, Armstrong habe nie Kinder gehabt. Als Sharon diese Zeilen las, von Lucille eigenhändig korrigiert von “Der Verstorbene und ich hatten keine Kinder” in “Der Verstorbene hatte keine Kinder”, entschied sie sich, jetzt ihr Geschichte zu erzählen. Ihre Mutter, die sie immer zur Geheimhaltung gedrängt hatte, willigte endlich ein: “Mach, was Du meinst, dass du tun musst.”

Sharon Preston-Foltas Buch ist als eine Liebeserklärung an die von ihr immer vermisste Vaterfigur Louis Armstrong geschrieben, aber es ist eben auch eine leicht verbitterte Liebeserklärung geworden. An genügend Stellen legt man es zur Seite, unterschiedlich berührt von den Schuldzuweisungen, mit denen Preston-Folta ihre eigenen Lebensentscheidungen aus ihrer vaterlosen Kindheit und Jugend ableitet. Ein bedrückendes Schicksal, denkt man, und fragt sich zugleich, warum sie, die immer wieder von der DNA ihres Vaters schreibt, die in ihr fortlebe, nicht irgendwann, spätestens vor der Veröffentlichung dieses Buchs, auf einem DNA-Test bestanden habe. Doch ist es einem Kind, das sein Leben lang sicher ist, seine Eltern zu kennen, überhaupt zuzumuten, von einem auf den anderen Tag an der Tatsache der Vaterschaft zu zweifeln? Auch als skeptischer Leser sollte man jedenfalls für die Zeit der Lektüre erst einmal die Grundbehauptung der Vaterschaft Louis Armstrongs akzeptieren, sonst hat man wenig Spaß am Buch. Armstrong selbst schließlich scheint bis zu seinem Tod überzeugt davon gewesen zu sein, in Sharon eine Tochter gehabt zu haben.

Allen Fragen und sicher auch allen möglichen Zweifeln zum Trotz, die einem bei der überraschenden Enthüllung Sharon Preston-Foltas kommen mögen, lernt man einiges bei der Lektüre, und wenn nur, dass Scheinwerferlicht auch Schatten wirft, dass Stars wie Louis Armstrong das Leben vieler Menschen zum Teil viel direkter berührten, als man es wahrhaben mag, und nicht zuletzt, dass die Persönlichkeit großer Stars aus ihren emotionalen Stärken genauso besteht wie aus ihren emotionalen Unzulänglichkeiten. Am Glorienschein des großen Meisters mag das alles ein wenig kratzen; der Kraft seiner Musik tut es keinen Abbruch.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Theatrical Jazz. Performance, Àṣẹ, and the Power of the Present Moment
von Omi Osun Joni L. Jones
Columbus/OH 2015 (The Ohio State University Press)
270 Seiten, 99,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8142-1282-0

2015jonesDer Blick über den Tellerrand kann das Wesentliche erhellen, der Blick von außen Dinge erkennen lassen, die man im internen Diskurs oft nicht mehr sieht. Das ist einer der Hintergründe für die sogenannten “new jazz studies”, ein Konzept in der jüngeren Jazzforschung, das sich der untersuchten Materie neben der musikwissenschaftlichen Betrachtung interdisziplinär nähert. Die Feministin Omi Osun Joni L. Jones versucht in ihrem Buch eine Verbindung zwischen Jazzästhetik , theatralischer Performance und auf Yoruba basierender afrikanischer Theologie. Dabei beschreibt sie als eine der zentralen Prinzipien der Jazzästhetik die Fähigkeit, die eigenen intuitiven Kräfte freizusetzen. In ihrer Beschäftigung mit afrikanischer Spiritualität habe sie gelernt, dass auch in wissenschaftlichen Büchern die Auseinandersetzung mit spirituellen Impulsen nicht zu kurz kommen dürfte, ganz ähnlich wie dies auch Jazzgrößen wie John und Alice Coltrane immer gesehen hätten. Sie will mit ihrem Buch den Jazz gegen den Strich bürsten, seine Begriffe, Handlungen, Ausformungen kritisch hinterfragen, und zwar aus der Perspektive aller seiner unterschiedlichen Bedeutungen in musikalischer Ästhetik, Performance, gesellschaftlichem Spiegel, ethnischer Identität oder politischer Haltung. Es gäbe Kollegen, schreibt sie in ihrer Einleitung, die den Jazz als eine polyglotte Form ansähen und damit Gefahr liefen seine Wurzeln in der afro-amerikanischen Kultur zu leugnen. Tatsächlich aber sei die spirituelle Kraft nicht an irgendwelche Identitätsregeln gebunden. Die spirituelle Transzendenz des Jazz brauche keine Abwesenheit ethnischer Identität (“race”), sondern höchstens Abwesenheit solch einer ethnischen Identität (“race”) als Restriktion oder als Prognose.

Tatsächlich handelt ihr Buch allerdings zentral gar nicht von Musik, sondern vom Theater, und hier insbesondere von den drei Theaterautoren Laurie Carlos, Daniel Alexander Jones und Sharon Bridgforth. Jones bedient sich in ihrer Herangehensweisen an das Thema der feministischen und queeren Theorie, erklärt Wirkungen der Theaterperformance aus der Haltung des Jazz heraus und zugleich aus ihrer Interpretation von Yoruba-Traditionen. Als übergeordneten Approach versucht sie ihrem wissenschaftlichen Buch darüber hinaus aber auch improvisatorische Strukturen zu geben, indem sie Bilder, Fotos, Zeichnungen, Zitate einfließen lässt, die wie kurze solistische Kommentare neben ihrem Text stehen.

In ihrer Einleitung zitiert Jones einige Beispiele direkter Bezugnahme von Jazzmusikern wie Dizzy Gillespie und John Coltrane auf Yoruba-Beschwörungen, erinnert außerdem an die lebendige Avantgarde-Theaterszene von Austin, Texas, in der in den 190er Jahren die Verbindungen von Theater und Jazz besonders entwickelt wurden. Im ersten Kapitel betrachtet sie, wie biographische Erfahrungen die drei von ihr untersuchten Autoren prägten, Carlos’ Jugend im New Yorker East Village, Jones’ Aufwachsen im Arbeiterklasse-Milieu von Springfield, Massachusetts, Bridgforths Bustrips durch die verschiedenen Viertel von Los Angeles. Sie analysiert die dem Jazz nahestehenden Praktiken von Lehrer und Schüler im Theater, deren Lernprozesse dabei immer gegenseitig sind. Das zweite Kapitel untersucht Performance-Methoden, Ansätze an Regie, Probenphasen, das Beziehung-Herstellen zum Publikum, die Auswahl der Schauspieler, aber auch das Zulassen spiritueller Erfahrung im Verlauf der Performance. Im dritten Kapitel schließlich fragt sie danach, was die Performance beim Publikum (sie spricht gern von “witnesses” = Zeugen) auslöst, wie sie zu einer Perspektivverschiebung führen kann, einer aktiven Partizipation des Publikums, die das eigentliche Ziel aller Beteiligten sei.

Wenn ich Jones zu Beginn dieser Rezension in die Nähe der “new jazz studies” gestellt habe, so muss ich diese Aussage zumindest zum Teil revidieren. In den New Jazz Studies werden Aspekte des Jazz möglichst von vielen Seiten (und mit unterschiedlichen Methoden) betrachtet. Jones geht den entgegengesetzten Weg: Sie nutzt, was sie vom Jazz gelernt hat, um ihr eigentliches Thema, die Performance im Theater genauer zu definieren. Sie erkennt im Jazz Kommunikations- und Tradierungsmodelle, die so beispielhaft sind, dass sie ein anderes Genre besser verstehen lassen, vielleicht sogar Modell stehen können für neue, weitreichendere Regie- oder Performance-Ansätze. Ihr Buch ist darin so weitsichtig wie der Versuch früherer Literaturwissenschaftler wie Houston Baker, insbesondere den Bereich der afro-amerikanischen Literatur (aber durchaus darüber hinaus) durch die schon von Ralph Ellison oder Albert Murray identifizierte Blues Aesthetic zu beschreiben. Beide nahmen dabei sehr bewusst auf westafrikanische kulturelle Traditionen, Praktiken und Symbole Bezug, für den ungeübten Leser einerseits manchmal etwas schwer nachvollziehbar, gerade dadurch aber die Argumentation auch angenehm schnell aufbrechend und Rückschlüsse erlaubend.

Wenn nämlich die Praxis des Jazz als Erklärungsmodell für andere künstlerische Praktiken taugt, dann wirft das ein ganz anderes Licht auch auf den Stellenwert von Jazz und Improvisation.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


The Long Shadow of the Little Giant. The Life, Work and Legacy of Tubby Hayes
von Simon Spillett
Sheffield 2015 (Equinox)
377 Seiten, 19,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78179-173-8

2015spillettWie Hans Koller oder Lars Gullin war der britische saxophonist Tubby Hayes eine der europäischen Jazzgrößen, die ihren Kollegen genauso wie ihrem Publikum klar machten, dass der Jazz zwar eine afro-amerikanische Musik war, dass aber Europäer das Idiom durchaus beherrschten und ihre eigenen Beiträge zur Tradition des Jazz leisten konnten. Hayes kam aus der Swing-Mainstream-Tradition des Jazz, nahm erst Bebop, Hardbop, schließlich Einflüsse des Spiels John Coltranes in seinen Stil auf und starb 1973, gerademal 38 Jahre alt, in Folge einer Herz-Operation.

Dem Autor und Saxophonisten Simon Spillett gelingt es in seinem Buch “The Long Shadow of the Little Giant” mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews und Material aus Hayes’ persönlichem Archiv das Leben und die musikalische Karriere des Saxophonisten in den Jahren vom bombenerschütterten London der Nachkriegszeit über die jazzigen 1950er Jahre und die Swinging Sixties bis hin zur großen Krise des Jazz Anfang der 1970er Jahre nachzuzeichnen.

Hayes wurde in eine musikalische Familie geboren – sein Vater leitete in den 1930er Jahren verschiedene Tanzorchester, seine Mutter war Revuesängerin und -tänzerin. Schon früh war er vom Saxophon fasziniert, begann aber im Alter von acht Jahren erst einmal mit Geigenunterricht, und bekam schließlich zum elften Geburtstag das langersehnte Saxophon, das er größtenteils autodidaktisch meisterte. Er hatte ein gutes Gehör, und der Geigenunterricht hatte ihn zu einem exzellenten Notisten gemacht. Er hörte Charlie-Parker-Platten und bewegte sich in Kreisen Gleichgesinnter, spielte bald mit Ronnie Scott, Alan Skidmore und Kenny Baker, mit dem er im Juli 1951 auch seine ersten Aufnahmen machte.

Die Baker Band hatte jede Menge Fans, und die Presse wurde schnell auf Hayes aufmerksam, der bald als “boy wonder tenorist” vermarktet wurde und, noch nicht einmal 20 Jahre alt, mit den Modernisten der britischen Jazzszene spielte. Mit 18 heiratete er zum ersten Mal, hatte schon zuvor alle möglichen Drogen ausprobiert. Er spielte in den populären Bands von Vic Lewis, Jack Parnell, Tony Hall und hatte schließlich auch mit seiner eigenen Band einen vollen Terminkalender.

Spillett beschreibt, wie britische Musiker in jenen Jahren das US-amerikanische Idiom des Hardbop gemeistert hatten, die Musik von Art Blakey und Horace Silver, und wie Kollegen wie Sonny Rollins oder Hank Mobley ihre stilistischen Spuren in Hayes’ Spiel hinterließen. 1958 traten Hayes’ Jazz Couriers neben dem Dave Brubeck Quartet bei einer Tournee durch sechzehn Städte des Vereinigten Königreichs auf; 1959 wurde Hayes vom Melody Maker zum besten Tenorsaxphonisten gewählt.

Andere Musiker hatten die Entwicklung des amerikanischen Jazz genauso interessiert mit verfolgt; und um 1960 kamen erste Versuche “freier Form” auch in England an. Joe Harriott war einer der ersten, die sich an freieren Spielweisen versuchten; Hayes aber blieb skeptisch. Die Eröffnung von Ronnie Scott’s, bis heute einem der wichtigsten Clubs des Königreichs, war sowohl für die Präsenz des amerikanischen Jazz in England wichtig als auch für das Selbstbewusstsein der eigenen Szene. Der BBC schnitt Konzerte mit, und Plattenfirmen widmeten dem heimischen Jazz eigene Alben. 1961 trat Hayes erstmals in New York auf, wo ihn die Größen des amerikanischen Jazz hörten, unter ihnen Zoot Sims, Al Cohn und Miles Davis. Zurück in England erhielt er einerseits eine eigene Fernsehshow, “Tubby Plays Hayes”, hörte er andererseits erstmals John Coltrane, der sein Bild von den Möglichkeiten im Jazz genau wie das vieler anderer Kollegen völlig veränderte.

Als Duke Ellington 1964 in England auftrat, jammte Hayes mit Bandmitgliedern und wurde vom Duke gebeten für Paul Gonsalves einzuspringen, als dieser unpässlich war. In den nächsten Jahren war Hayes international unterwegs, trat im New Yorker Half Note genauso auf wie beim NDR Jazz Workshop in Hamburg. Er arbeitete wie besessen, hatte zugleich gesundheitliche Rückschläge, darunter eine Thrombose, die auch seine Lungenfunktion herabgesetzt hatte.

Ende der 1960er Jahre hatte der britische Jazz zwei Probleme: die Macht der Rockmusik auf der einen Seite und das Verlangen des Publikums nach amerikanischen Künstlern auf der anderen Seite. Hayes erlitt auch persönliche Rückschläge, etwa als seine Freundin starb und er daraufhin noch stärker zu Drogen griff. Er musste wegen Herzproblemen immer häufiger in ärztliche Behandlung, begann aber trotz aller gesundheitlichen Probleme ein musikalisches Comeback. Er spielte mit Musikern der britischen Avantgarde, John Stevens, Trevor Watts, Kenny Wheeler, beteiligte sich bei einem Benefizkonzert für Alan Skidmore, der nach einem Autounfall im Krankenhaus lag, starb aber schließlich nach einer Operation, bei der eine Herzklappe ausgetauscht werden sollte.

“The Long Shadow” heißt das Buch, und so widmet Spillett sein letztes Kapitel der kritischen Aufbereitung seiner musikalischen Bedeutung nach seinem Tod sowie dem Nachwirken Hayes’ auf der britischen Szene. Er schließt mit einer Diskographie die Aufnahmen des Saxophonisten zwischen 1951 bis 1973 verzeichnet.

Simon Spillett hat viel Sorgfalt in seine Recherchen gesteckt. Nebenbei wirft er immer wieder aufschlussreiche Blicke auf die Musik selbst, auf die Aufnahmen, die Hayes’ musikalische Entwicklung dokumentieren. Wenn überhaupt, so mangelt es dem Buch insbesondere in diesem Segment an Tiefe, etwa an Erklärungen, wo sich Einflüsse, ästhetische Umbrüche und anderes konkret festmachen lassen. Eingehend aber beschreibt er den Lebensweg, die persönlichen Probleme, die musikalischen und ästhetischen Entscheidungen und zieht die Verbindungen zu den allgemeinen Entwicklungen des Jazz in Großbritannien, in Europa und in den Vereinigten Staaten. Spillett konnte mit Zeitzeugen sprechen und hatte Zugriff auf Hayes’ persönliche Papiere. Sein Buch ist eine definitive Biographie, die viele Fragen beantwortet und dabei im umfassenden Apparat all die Dokumente benennt, die für eine solche Arbeit notwendig sind.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Musiktraumzimmer Jazzcampus
herausgegeben von Peter Rüedi & Steff Rohrbach
Basel 2015 (Jazzcampus / Echtzeit Verlag)
212 Seiten, 32 Euro
ISBN: 978-3-905800-78-4

B2015rueediasels Jazzschule ist zum Jazzcampus geworden, zu einer Hochschule für improvisierte Musik, in der, wie der Titel dieses Buchs suggeriert, jede Menge an Träumen und Visionen wahrgeworden sind. Da ist zuallererst die Vision des Gründers und Gitarristen Bernhard Ley, der erzählt, wie er die Schule in den Räumen eines Jugendkulturzentrums gründete und wie er es dann durch pädagogisches wie politisches Geschick, aber auch durch das Talent der Vernetzung, das die Schule zum Teil des Basler Kulturlebens werden ließ, erreichte, sie zu einem Kompetenzzentrum zu machen, in dem der musikalische Gehalt, die Arbeit von Lehrenden und Schüler/innen, sich auch in der architektonischen Umsetzung spiegelt.

Davon nämlich handelt dieses Buch, vom glücklichen Unterfangen, auf den Grundrissen einer ehemaligen Maschinenfabrik eine Musikschule zu bauen mit all der für eine solche notwendigen Infrastruktur, Club, Konzertsaal, Tonstudio, Probenräume etc. Ein Musiktraumzimmer sei das ganze geworden, eine Raumrealisation also, die dem Thema “Jazz” angemessen sei. Mitgeholfen hätten alle, die Architekten Lukas Buol und Marco Zünd, der Bauherr Georg Hasler von der Stiftung Levedo sowie Bernhard Ley, der als Studiengangsleiter den zukünftig alltäglichen Gebrauch im Blick behielt. Das Gespräch mit diesen vieren erklärt Fragen der Akustik, Diskussionen im Planungsverlauf, die Außenwirkung genauso wie den inneren Glanz (sprich: Farben, Bodenbeläde, Beleuchtung).

Solch eine theoretische Diskussion lässt sich nur durch Fotos und Raumpläne in Buchform einfangen. Eigentlich gehört Musik dazu, noch wichtiger wäre der tatsächliche Raumeindruck, der aber in der Architektur immer noch einzig durch einen Besuch ermöglicht wird.

Um die tatsächliche musikalische und pädagogische Nutzung der Räume geht es im zweiten, noch umfassenderen Teil des Buchs: um Konzepte der Jazzpädagogik, persönliche Herangehensweisen an Musik, ästhetische Vorstellungen, die Rückwirkung von Unterricht auf die eigene Kunst der unterrichtenden Musiker.

Wolfgang Muthspiel etwa betont, wie wichtig es neben einem festen Lehrerstamm sei, großartige internationale Kollegen als Gastdozenten an die Schule zu holen. Andy Scherrer erzählt, wie er zum Unterrichten wie die Jungfrau zum Kind gekommen sei, und wie er trotz vieler Schüler immer eine gesunde Skepsis gegenüber des Unterrichtens beibehalten habe. Malcolm Braff erklärt, dass er nicht so sehr das Klavier denn vielmehr sich selbst als das wirkliche Instrument empfinde und wie er in den letzten Jahren eine rhythmische Theorie entwickelt habe, die auch Grundlage seines Unterrichts an der Hochschule sei. Lisette Spinnler versteht die Stimme als Instrument und Texte als Ausgangspunkt für musikalische Erkundungen. Adrian Mears plädiert auch beim Lernen für Spielpraxis, egal mit was für Besetzungen. Bänz Oester vertraut auf die Motivation zukünftiger Musiker/innen, auf die Verantwortung für das Selbst, das Eigene. Domenic Landolf mag sich weder verbiegen noch sonderlich in den Vordergrund spielen. Jorge Rossy spricht über die Standards als Basis und über seine Arbeit mit Carla Bley und Steve Swallow. Matthieu Michel überlegt, wie man als junger Musiker neben der Technik vor allem zu einer eigenen Stimme gelangt. Hans Feigenwinter sieht seine analytischen Fähigkeiten als eine Grundlage seines Musikmachens, zugleich aber die Musik auch als laufenden Ansporn, sie analytisch zu begreifen. Gregor Hilbe berichtet über die Bedeutung des Schlagzeugers in einer rhythmischen Kultur, und zugleich über die Idee des Producing / Performance-Studiengangs am Jazzcampus Basel. Daniel Dettmeister hatte die Chance, als Tonmeister selbst Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung des Aufnahmesaals der Hochschule. Mit Martin Lachmann kommt zum Schluss auch noch der Akustiker selbst zu Wort, der die Räume eingerichtet hat.

Eine bunte Abfolge von Interviews, Reflexionen und Fotos also, die sehr umfassend das Konzept klarmachen, dass hinter dem Jazzcampus Basel steckt: Freiräume schaffen und beste akustische Möglichkeiten. “Musiktraumzimmer Jazzcampus” ist damit zwar vordergründig eine in Buchform gepresste Imagebroschüre der Hochschule, zugleich aber erheblich mehr: ein Manifest für eine Jazzausbildung, in der Kunst und Wirklichkeit, Klang und Akustik, Pädagogik und Freiheit sinnvoll miteinander in Beziehung stehen.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Résume. Eine deutsche Jazz-Geschichte
von Eberhard Weber
Stuttgart 2015 (sagas.edition)
252 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-944660-04-2

2015weberDer Autor kommt gleich zur Sache: Der Leser wisse ja bereits, dass er, Eberhard Weber, gut 40 Jahre lang als Jazzbassist aktiv war, vielleicht auch, dass er seine aktive Karriere nach einem Schlaganfall 2007 beenden musste. Der Leser wisse wahrscheinlich etliches über seine Karriere, wahrscheinlich auch über den Jazz – was könne er dazu noch beitragen…? Nun, wenn überhaupt, dann könne er aus seinen eigenen Erinnerungen erzählen, sehr persönliche Geschichten, die sich um die Musik drehen, die aber auch sein ästhetisches Weltbild und vieles darüber hinaus berühren. Webers Buch wird so zu seinem “Resumé”. Und es mag vielleicht nicht “die” deutsche Jazzgeschichte sein, aber es ist auf jeden Fall, wie der Untertitel verspricht, “eine deutsche Jazz-Geschichte”, ein Beispiel dafür, wieso ein junger Mann zu dieser Musik kommt, was ihn über all die Jahrzehnte an ihr faszinierte und wie er lernte, in ihr sich selbst auszudrücken.

Eberhard Weber, dem musikalischen Geschichtenerzähler, gelingt der narrative Bogen auch in Worten. Bereits das Eingangskapitel, das vom “Schlag” handelt, der ihn kurz vor einem Konzert mit Jan Garbarek in der Berliner Philharmonie traf, von der Unsicherheit über seinen Gesundheitszustand, von der Hoffnung, wieder spielen zu können, zeigt seine erzählerischen, auch zur Selbstironie fähigen schriftstellerischen Qualitäten.

Im zweiten Kapitel widmet sich Weber seiner eigenen Vorstellung von Jazz. “Jazz”, schreibt er ironisch, doch nicht ganz falsch, “ist, wenn es der Komponist, der Arrangeur oder der ausführende Musiker dem Hörer so schwer wie möglich macht, der Musik zu folgen – und trotzdem alle Spaß daran haben. Das unterscheidet ihn von der vermeintlich ‘Neuen Musik’.” Doch neben dem Jazz als großer Kunst will Weber in diesem Kapitel auch seiner eigenen Ästhetik auf die Schliche kommen. Wiederholungen, erkennt er, langweilen ihn in der Regel; die Schlüsse von Stücken, findet er, misslingen meist. Er weiß, dass Solisten auch mal ohne Inspiration sein können und weiterspielen müssen. Er weiß auch um seine eigenen Schwächen als Bassist und beschreibt, wie man nur, wenn man um die technischen Probleme des eigenen Spiels oder des eigenen Instruments weiß, diese überkommen und kreativ mit ihnen umgehen könne.

Weber selbst wurde die Musik in die Wiege gelegt. Sein Vater, erzählt er, hatte als Cellist klassische Musik gemacht, daneben aber auch Cello und Banjo im Tanzorchester von Bernard Etté gespielt. Weber kam mitten im Krieg in Esslingen zur Welt. Seine Mutter sang, und “im häuslichen Weber’schen Freundeskreis”, erinnert er sich, “triumphierte Gesang über Instrumentales”– vielleicht eine Vorbereitung auf seine eigene sangliche Haltung beim Instrumentalspiel? Gehörbildung fand im Kinderzimmer statt, wenn seine Schwester und er Automarken am Klang unterschieden und dabei lernten zuzuhören und zu differenzieren. Ein Vetter quartierte sich nach der Kriegsgefangenschaft bei ihnen ein und begann Flöte zu lernen. Man diskutierte über Wagner und spielte Kammermusik. Weber bekam Cellounterricht, dann entdeckte er den Jazz und mit ihm wechselte er zum Kontrabass.

Im Jazz brachte er sich das meiste selbst bei, berichtet von ersten Bühnenerfahrungen, von Stuttgarter Jazzern wie Horst Fischer und Ernst Mosch, vom ersten Einsatz in Erwin Lehns Orchester als Vertretung für dessen regulären Bassisten. Seine musikalische Leidenschaft führte dazu, dass Weber durchs Abitur rasselte, eine Lehre als Fotograf begann und Kameraassistent bei einer Fernsehfirma wurde. Nebenbei spielte er mit gleichaltrigen Musikern, lernte Anfang der 1960er Wolfgang Dauner kennen und wurde bald Mitglied in dessen Trio. Er erzählt von den unterschiedlichsten Auftrittsorten zwischen Nachtclub, Café, Tanz und Ami-Kaserne, von Einflüssen auf sein Bassspiel, davon, wie das Dauner-Trio seinen eigenen Stil fand. Zwischendurch gibt es reichlich Anekdoten, aber auch Einblicke in die technischen Seiten seiner Kunst: Instrumentenwahl, Akustik, Pickups, Verstärker, elektronische Spielereien.

Ende der 1960er Jahre wandten Dauner und Weber sich freieren Spielweisen zu. Weber weiß um seine Beobachtungsgabe, weiß auch, dass er sich gern mal zur Polemik hinreißen lässt. Doch er besitzt eben auch die Erfahrung, Beobachtetes, insbesondere, wenn es um Musik geht, passend einordnen zu können. Und so mag man mit mancher polemischen Äußerung, die seinem eigenen musikalischen Geschmack zuzuschreiben ist, nicht übereinstimmen, wird aber an richtiger Stelle durch ein Augenzwinkern darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor zwar eine feste Meinung hat, sich selbst aber auch nicht immer ganz so ernst nimmt.

Weber stand in seiner Karriere bei zwei Plattenfirmen unter Vertrag, die Weltgeltung besaßen, Hans-Georg Brunner Schwers MPS und Manfred Eichers ECM. Er beschreibt die Arbeiten zu “The Colours of Chloë” und den folgenden internationalen Erfolg. Er erzählt vom Zusammenspiel mit Gary Burton, von den Unterschieden zwischen amerikanischen und europäischen Gepflogenheiten in der Jazzszene, von Tourneen mit seiner eigenen Band Colours, durch Deutschland – Ost und West –, die USA und Australien. Er berichtet von seiner Zusammenarbeit mit Jan Garbarek, mit dem er auch offizielle Empfänge spielte, bei denen Politiker, Botschafter, Bundespräsidenten, gekrönte Häupter begeistert waren, “endlich mal kein Streichquartett hören zu müssen”.

Eberhard Weber ist ein vielgereister Musiker. Seine Berichte von Zollformalitäten, Einreisebestimmungen, fasst verpassten Flügen und sonstigen Widrigkeiten sind amüsante Anekdoten, die vor Augen führen, dass das Musikerdasein nicht nur der aus musikalischer Kreativität besteht, die das Publikum erwartet und zumeist auch bekommt. Eine Professur für Musik hatte er nie annehmen wollen. Seine Begründung, die wie ein Tenor seine ungemein flüssige und lesenswerte Autobiographie beendet: “Ich kann nicht Bass spielen. Aber ich weiß, wie’s geht.”

Wolfram Knauer (Juni 2015)


Coltrane sur le Vif
von Luc Bouquet
Nantes 2015 (Lenka Lente)
146 Seiten, 13 Euro
ISBN: 978-2-9545845-8-4

2015bouquetDie Großen des Jazz waren zumeist auch die Meistaufgenommenen, und neben den offiziellen Einspielungen im Studio gehörten über die Jahre Bootlegs dazu, Schwarzpressungen von legalen oder illegalen Mitschnitten, die in mal besserer, mal schlechterer Qualität auf den Markt kamen. Solche Bootlegs haben naturgemäß keine Studioqualität; zum Teil sogar einen unsäglich schlechten Sound. Aber sie sind nicht nur für den Fan, sondern auch für den Experten ein immens wichtiger Teil der Aufnahmegeschichte dieser Musiker. Sie dokumentieren nicht die perfekte Abmischung, sondern den Alltag des Konzerts, in dem das Solo völlig anders klingen kann, in dem die Künstler mit dem Material oder auch mit sich selbst zu kämpfen haben, in dem mal bessere, mal schlechtere Fassungen der großen Titel erklingen, vergleichen mit den auf den im Studio gefertigten Referenzaufnahmen.

Luc Bouquet hatte im französischen Magazin Improjazz eine Reihe über die Liveaufnahmen John Coltranes veröffentlicht und diese jetzt in die zwölf Kapitel des vorliegenden Buchs einfließen lassen. Ein erstes Kapitel beschreibt Coltranes erste Aufnahmen aus dem Jahr 1946 sowie zwei Sessions mit Dizzy Gillespie bzw. Johnny Hodges. Kapitel 2 widmet sich den Jahren 1955-57 und Livemitschnitten mit Miles Davis, Kapitel 3 der Zeit von 1957-58 und den erst jüngst entdeckten und doch schon legendären Aufnahmen Coltranes mit dem Thelonious Monk Quartet. Zwei weitere Miles Davis-Kapitel schließen sich an, 1958-59 in den USA sowie 1960 in Europa, dann beginnt mit Kapitel 6 die Aufnahmegeschichte von Coltranes eigenen Bands: sein klassisches Quartett, Trane und Dolphy, die diversen Besetzungen von 1962, 1963, 1964-65 bis hin zu seiner letzten Liveaufnahme, dem “Olatunji”-Konzert vom April 1967. Jede der Platten wird mit Besetzungs- und Inhaltsangaben gelistet, dazu kommt eine kurze Beschreibung dessen, was auf ihr zu hören ist. Allzu tief versteigt sich Bouquet dabei weder in die Musik noch in die Begleitumstände der Aufnahmen – so wäre etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Entdeckungsgeschichte der Bänder von Tranes Carnegie-Hall-Konzerts mit Thelonious Monk durchaus berichtenswert gewesen.

Bouquets Buch ist als eine Art annotierte Diskographie der Liveaufnahmen John Coltranes ein nützliches Handbuch sowohl beim Hören wie auch bei der Entscheidungsfindung, was man sich vielleicht noch zulegen könnte.

Wolfram Knauer, April 2015Rencontres du jazz et de la musique contemporaine
herausgegeben von Jean-Michel Court & Ludovic Florin
Toulouse 2015 (Presses Universitaires du Midi)
184 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-2-8107-0374-6

Das vorliegende Buch ist die Dokumentation einer Tagung, die im Oktober 2013 in Toulouse stattfand und sich mit aktuellen Beziehungen zwischen Jazz und Zeitgenössischer (sogenannter “Neuer”) Musik beschäftigte. Im Vorwort stecken die beiden Herausgeber das Feld ab, das irgendwo zwischen Anthony Braxton und IRCAM-Experimenten angesiedelt ist und bei dem oft die Genrebezeichnung, ob “Jazz” oder “Neue Musik”, im Weg steht, da die Musik selbst solche Grenzen inzwischen gern und oft überschreitet.

Die Beiträge selbst sind theoretisch-musikwissenschaftlicher Natur. Im ersten Teil findet Vincenzo Caporaletti, dass die jüngere Entwicklung im Kunstmusikbereich neue wissenschaftliche Ansätze benötigt und stellt sein “principe autiotactile” vor, durch das sich sowohl für komponierte wie auch für improvisierte Musik die performativen Prozesse genauso analysieren ließen wie die ästhetischen Prozesse, die durch die Musik wie auch durch äußere, etwa mediale Einwirkungen mitbestimmt werden. Alexandre Pierrepont nähert sich der Frage, inwieweit die genre-spezifische Einordnung und Wertung von Musik aus den Bereichen europäischer klassischer Musik und des afro-amerikanischen Jazz nicht auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser zu Missverständnissen führt, wenn die Querverbindungen, die ja zwischen den Genres bestehen, oft und gern mit kulturellen Konnotationen versehen werden. Pierre Sauvanet betrachtet, wie das Moment der “Tradition” von Musikern im Jazz, der Neuen Musik und in tatsächlich “traditionellen” Musikrichtungen unterschiedlich behandelt wird.

Im zweiten Teil des Buchs geht es an konkrete Analysen. Pierre Fargeton befasst sich mit Franz Koglmanns langjähriger Auseinandersetzung mit dem Third Stream, der Neuen Musik und anderen Kunstrichtungen. Konkret untersucht er Koglmanns “Join!” eine “Oper” aus dem Jahr 2013 auf diverse Bezüge (1.) zum Jazz und (2.) zur Zeitgenössischen Musik. Martin Guerpin analysiert die Komposition “Unisono” des israelischen Komponisten Ofer Pelz und identifiziert darin insbesondere die Jazzverweise. Wataru Miyakawa untersucht das Werk des japanischen Komponisten Toru Takemitsu, in dem ihn vor allem der Einfluss des Lyrian Chromatic Concept von George Russell interessiert.

Im dritten Teil des Bandes berichtet der Gitarrist Frédéric Maurin darüber, wie er Methoden der Spektralmusik, die in den 1970er Jahren im Kreis der IRCAM in Paris entwickelt wurde, etwa für seine Band Ping Machine nutzbar macht. Cécile Auzolle untersucht das “Wintermärchen” des belgischen Komponisten Philippe Boesmans von 1999 und hat dabei Einflüsse aus dem jazz sowie improvisatorische Passagen im Fokus, die in der Oper vom Ensemble Aka Moon ausgeführt wurden. Henri Fourès hinterfragt die Begriffe Jazz, Zeitgenössische Musik, Komposition, Notation und Improvisation auf ihre Wertigkeit in der Hochschullehre. Zum Schluss berichten die Bassistin Joëlle Léandre, der Saxophonist Douglas Ewart und der Trompeter Mike Mantler über ihre eigenen Erfahrungen im Feld zwischen den Welten von Jazz und Neuer Musik.

“Rencontres du jazz et de la musique contemporaine” wirft ein Schlaglicht auf eine offenbar immer noch wichtige Diskussion in den beiden darin angesprochenen Welten. Der einleitende Überblick listet frühere Beschäftigungen mit dem Thema auf (hier fehlt allerdings der Band “Jazz und Komposition”, der das 2. Darmstädter Jazzforum von 1991 dokumentiert und in dem dieses Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet wurde). Sowohl in den allgemein theoretischen wie auch den konkreter praktischen Kapiteln fehlt ein wenig – aber das ist bei einer Tagung, die das nicht ausdrücklich zum Thema machte, vielleicht auch kaum zu leisten – die grundlegende Diskussion einer anders als aus dem europäischem Wissenschaftsdiskurs entstandenen Reflexion über Musik, eine Perspektive also, die sowohl Jazz wie auch die in europäischer Tradition stehende Neue Musik etwa aus dem Blickwinkel von Community, von Macht, von Geschlechterungleichheit oder ähnlichem betrachtet, sich dabei nicht auf die bestehenden meist europäisch gefärbten und genormten Diskurstraditionen einlässt, sondern mutig nach neuen sucht. Das von George Lewis und Benjamin Piekut 2016 herausgegebene Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies geht da einen anderen Weg, braucht, um das Thema abzudecken allerdings auch über 1000 Seiten.

Wolfram Knauer (März 2018)


Bunk Monk & Funk – and other attractions
von Anders Stefansen (& Jan Søttrup)
Kopenhagen 2012 (People’s Press)
248 Seiten, 249 Dänische Kronen
ISBN: 978-8771-37035-5

Anders Stefansen ist ein bisschen der Fritz Rau Dänemarks: ein Konzertveranstalter, der eher zufällig ins Geschäft kam, in den frühen 1960er Jahren für Norman Granz dessen Skandinavien-Tourneen organisierte (so wie dies Lippmann + Rau in Deutschland taten), später auch populärere Acts betreute, von den Beatles bis zu den Rolling Stones. In seiner Autobiographie erinnert sich Stefansen an die vielen Freundschaften zu Musikern, die er in seinem Berufsleben schließen konnte, an das Tourleben, an Probleme und ihre jeweilige Lösung, und an Begegnungen wie die mit John Coltrane, Andrés Segovia, Count Basie, Duke Ellington, Ben Webster, Cecil Taylor und vielen anderen. Er beleuchtet die Realitäten des Business, schwelgt aber vor allem in Erinnerungen. Wenn es dabei auch mehr um die Menschen geht als um die Musik, so ist die Lektüre seines Buchs dennoch erhellend nicht nur für diejenigen, die von seiner Arbeit als Konzertveranstalter profitierten, etwa weil sie selbst im Publikum saßen. Seine Anekdoten beleuchtet zugleich eine ungewöhnliche Karriere zwischen Musik und guter Küche (Stefansen eröffnete eines der ersten French Cuisine Restaurants in Dänemark). Und seine Anekdoten über Henry Miller, den er traf, als er den Film “Ruhige Tage in Clichy” produzierte, sind besondere Zugaben der Lektüre.

Wolfram Knauer (Januar 2018)


Fashion and Jazz. Dress, Identity and Subcultural Improvisation
von Alphonso D. McClendon
London 2015 (Bloomsbury Academic)
194 Seiten, 24,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-85785-127-7

Von den Banduniformen der Swingorchester über die Gardenie im Haar von Billie Holiday bis zu Wynton Marsalis’ in Brooks Brothers-Anzüge gekleidetes Lincoln Center Jazz Orchestra: Jazzmusiker waren immer auch Mode-Ikonen. Miles Davis mag diese Facette seines Bühnenlebens am stärksten ausgelebt haben, doch findet sich das Bewusstsein für die Bühnengarderobe durch die Jazzgeschichte. Als Art Blakey seiner Band in den 1970er Jahren für eine Weile erlaubte, in Straßenklamotten aufzutreten, war das eine Ausnahme. Er wie andere Musiker wussten, dass sie als afro-amerikanische Künstler Vorbildfunktion hatten.

Alphonso D. McClendon ist Modeforscher und hat sich in seinem Buch “Fashion and Jazz” dem Subtext der Musikergarderobe durch die Jazzgeschichte angenommen. Ihm ist wichtig, auf die gegenseitigen Einflüsse zwischen Jazz und Mode hinzuweisen, wie er gleich im ersten Kapitel deutlich macht, in dem er Parallelen und Einflusswege nennt, dass nämlich sowohl Mode wie auch Jazz auf ihre jeweilige Art und Weise vom Freiheit des Ausdrucks handeln. Es habe im Jazz durchaus eine “Sprache der Kleidung” gegeben, sagt er – will heißen: die Bühnenpräsentation hatte immer auch etwas zu bedeuten, und Kleidung habe zur visuellen Ästhetik von Jazzmusikern beigetragen, ob in der Performance auf der Bühne oder in Abbildungen.

Im zweiten Kapitel geht McClendon das Thema dann chronologisch an. Er beschreibt die Mode der Ragtime-Ära und der Bluesmusiker, die Bühnenkostüme von Swing-Musikern und die Selbstdarstellung der Bebopper, die zugleich “die Konstruktion eines subkulturellen Stils” gewesen sei, und stellt schließlich fest, das sowohl Mode wie auch Jazz ähnliche Perioden von Konformität (1900-1920), populärem Einfluss (1920-1940) und Widerstand (1940-1960) durchgemacht hätten.

Kapitel 3 diskutiert Momente “der Moderne” bzw. “des Modernen” und die Kommunikation beider durch Mode und Spielpraktiken im Jazz. Im vierten Kapitel beschreibt McClendon Strategien der Distinktion durch Jazz und Mode, um sich im fünften Kapitel etwa auf die Darstellung von Frauen und Männern in frühen Sheet-Music-Covers zu konzentrieren. Kapitel 6 diskutiert subversive Konnotationen, die sich etwa in Texten von Bluessängerinnen finden oder im Eingang von Jazzthemen in die Literatur oder den Film. Kapitel 7 ist überschrieben “Narcotics and Jazz: A Fashionable Addiction” und beschreibt unter anderem, wie elegante Kleidung auch helfen konnte ein Leben im Schatten der Drogensucht zu verschleiern. Kapitel 8 fokussiert auf Billie Holiday als Musik- wie Mode-Ikone; Kapitel 9 beschreibt Duke Ellington und Benny Carter als “traditionellen Dandy” sowie Dizzy Gillespie und Gerry Mulligan als “modernen Dandy” und blickt kurz darauf, wie amerikanische Präsidenten wie Bill Clinton und Barack Obama ihre Nähe zum Jazz als Imagefaktor ausnutzten.

McClendons Buch reicht leider nur bis ins Jahr 1960 und verpasst damit die politische Garderobe von Dashikis, schwarzen Lederjacken oder soul-beeinflusster Hipstermode der 1960er und 1970er Jahre, thematisiert also auch nicht die Rückkehr zur ordentlichen Garderobe mit Aufkommen der Young Lions der 1980er Jahre. Er thematisiert damit weder die modetechnische Annäherung zwischen den Genres, etwa in Richtung Rock oder auch Neue Musik, noch die Unterschiede etwa in im Modeverhalten amerikanischer und europäischer Musiker. Doch gelingt ihm in diesem eigentlich auf der Hand liegenden und doch so ganz anderen Blick auf Jazzgeschichte eine Perspektive, die Aufschluss über Imagebildung, Selbstverständnis der Künstler und die gegenseitige Beeinflussung von Image und künstlerischem Anspruch erlaubt. Etliche Bilder, eine ausführliche Bibliographie und ein Namensindex schließen das Buch ab.

Wolfram Knauer (August 2017)


Sales Rectangles. Daunik Lazro. Vieux Carré
von Guillaume Belhomme
Nantes 2015 (Lenka Lente)
44 Seiten, 1 Mini-CD, 9 Euro
ISBN: 978-2-9545845-9-1

Am 21. Mai 2011 spielte der Saxophonist Daunik Lazro ein inspiriertes unbegleitetes Solokonzert in einen Buchladen in Rouen. Guillaume Belhomme versucht die Stimmung des Konzerts einzufangen, indem er eines der Stücke Lazros, eine lange Improvisation über Joe McPhees “Vieux Carré” mit kurzen Blicken in die Bücher, die um ihn herum stehen und liegen, verbindet. Seine knappen, aus jeweils nicht mehr als einem Satz bestehenden Kommentare lassen sich den diesen Büchern allerdings erst zuweisen, wenn man sie anhand der im Büchlein abgedruckten Barcodes (bzw. die diesen beigefügten ISBN-Nummern) sucht. Und tatsächlich gelingt es Belhomme dabei ein wenig, jene Stimmung eines Konzerts im Buchladen einzufangen, bei dem die Konzentration auf die Musik von den Blicken zu und in die Bücher, von der Wahrnehmung der Atmosphäre, von kurzen Reflektionen darüber, was man da aufblättert, während man zugleich zuhört, unterbrochen, aber durchaus auch bereichert wird. Ein ungewöhnliches, durchaus inspirierendes Experiment, das den Leser / Hörer quasi subkutan auf die Komplexität der Wahrnehmung von Musik aufmerksam macht.

Wolfram Knauer (März 2017)


Spirits Rejoice! Jazz and American Religion
von Jason C. Bivins
New York 2015 (Oxford University Press)
369 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-023091-3

Jazz und Spiritualität sind für viele Musiker eine zusammenhängende Einheit. Duke Ellington, John Coltrane, Albert Ayler, Rahsaan Roland Kirk, Yusef Lateef, Anthony Braxton – die Liste der Musiker, für die ihre musikalische immer auch eine spirituelle Suche war, ist lang. Der Religionswissenschaftler und Jazzgitarrist Jason Bivins beleuchtet in seinem Buch dieses Verhältnis zwischen Religion und Musik anhand zahlreicher Beispiele und legt, gerade weil er seine Studien aus der Perspektive eines Religionsforschers und mit dem Wissen eines Jazzers macht, ein wichtiges Buch vor, in dem das Thema weit fundierter angegangen wird als in vielen Biographien der bereits genannten Musiker.

In seinen “ersten Meditationen” zum Thema stellt Bivins fest, dass Jazz genauso wie Religion in ihrer jeweiligen Individualität der Wahrnehmung schwer fassbare Gebilde seien. Er weiß um die ganz unterschiedlichen Ausprägungen des Religiösen oder Spirituellen gerade in der Musik, die irgendwo zwischen Ritual und Weltforschung liegt. Er fragt, wie sich das spirituelle Umfeld, aus dem Musik heraus initiiert oder rezipiert wird, auf die Musik selbst auswirkt. Er befasst sich mit konkreten Traditionen, auf die Jazz sich immer wieder bezog. Er betrachtet Beispiele, in denen mit Jazz amerikanische Geschichte genauso wie religiöse Aspekte derselben dargestellt werden. Er befasst sich mit Jazz in religiös-musikalischer Praxis. Er hinterfragt das Klischee von Jazz als rituelle oder heilende Praxis. Er diskutiert Verweise im Jazz auf Mystizismus, Selbstlosigkeit, die klangliche Verbindung zu einem höheren Wesen. Es untersucht Kosmologien und metaphysische Theorien im Jazz. Er will damit nicht nur Aspekte der Jazzgeschichte durch ihre Verankerung in religiösen Praktiken erklären helfen, sondern zugleich die Religionsgeschichte in den USA seit den 1920er Jahren mithilfe ihres Widerhalls im Jazz beleuchten.

Bivins geht dabei weder chronologisch vor noch versucht er seine Thesen an zentralen Figuren festzumachen, wenn es auch an konkreten Beispielen nicht mangelt in seinem Buch. Natürlich spielt der Einfluss der schwarzen Kirche auf viele afro-amerikanischen Musiker eine wichtige Rolle. Er beschreibt das Zeugnis ablegende (“testifyin'”) Tenorsaxophonspiel Albert Aylers. Er findet Spiritualität in Charles Gayles Bühnen- genauso wie Straßenmusikauftritten. Er fragt nach den Gründen von Jazzmusikern zum Islam, zum Buddhismus, zum Bahá’í, zur Scientology zu konvertieren und ihre Reflektion über die jeweilige religiöse Praxis und ihre Auswirkung auf ihre Musik. Er befasst sich mit den Ausprägungen des “Radical Jewish jazz” und mit der Idee einer imaginären Folklore in den Vereinigten Staaten.

Er beschäftigt sich mit Beispielen, in denen Jazzmusiker bzw. ihre Werke religiöse Geschichte erzählen und verwebt dabei eng religiöse und politische Aussagen, etwa in den Aufnahmen von Charles Mingus, Archie Shepp, Max Roach und Abbey Lincoln. Auch der Saxophonist Fred Ho und sein Einsatz für einen Asian American Jazz kommen zur Sprache sowie Sun Ras Verweise auf weltumspannende Verbindungen, die weit über den Planeten Erde hinausreichen. Er geht auf Ellingtons “Sacred Concerts” ein und widmet eine längere Passage John Carters Komposition “Roots and Folklore”, die, wie er findet, ein würdiger Träger des Pulitzer Preises gewesen wäre, den Wynton Marsalis später für sein Oratorium “Blood On the Fields” erhielt.

Er entdeckt im Bemühen von Musikern seit den 1950er Jahren sich zu organisieren neben den politischen auch spirituelle Gründe, wie er etwa am Beispiel der AACM und der Black Artists Group zeigt. Die von Horace Tapscott gegründete Underground Musicians Association, die Saint John Coltrane African Orthodox Church und Alice Coltranes Ashram sind für ihn konkrete Beispiele, wie Jazz als spirituell-religiöses Ritual gelebt und zelebriert werden kann.

Im zweiten Teil seines Buchs beschäftigt sich Bivins mit den engen Verbindungen zwischen Ritual und Improvisation, nennt Beispiele aus dem Schaffen von Duke Ellington, Mary Lou Williams, Milford Graves, Cecil Taylor, bezieht sich aber auch auf das Feld des afro-kubanischen Jazz, auf Steve Colemans Studien zur Yoruba-Kultur und auf die Musik des Art Ensembles of Chicago.

Ein eigenes Kapitel befasst sich mit Meditation und Mystizismus und verweist dabei auf Musiker wie Steve Lacy, Arthur Blythe, William Parker und Davis S. Ware. Ornette Colemans Harmolodics und George Russells Lydian Chromatic Concept werden von Bivins nicht allein als musiktheoretische Abhandlungen verstanden, sondern als Beispiel für kosmologische und metaphysische Versuche Jazz, Improvisation, ja Musik ganz allgemein zu fassen. In dieses Kapitel gehören auch Anthony Braxtons Tri-Axium-System und Wadada Leo Smith’ Ankhrasmation.

In seinem Schlusskapitel stellt Bivins dann noch einmal klar, dass die Auseinandersetzung mit Jazz oder mit Religion notwendigerweise eine fragmentarische sein muss, dass beide Praktiken ein Versuch sind, sich der Komplexität der Welt zu nähern, unsere eigene Sicht aber immer durch das geprägt ist, was wir bereits “wissen”. Für einige sei Musik wie Religion, weiß er, das aber beinhalte weit mehr als die pure Hingabe. Wie die Religion in amerikanische (und weltweiter) Geschichte, habe auch die Musik subversive Funktionen gehabt, habe Einfluss auf die Wahrnehmung der Realität genommen und diese damit ändern können.

Bivins’ Entscheidung, keine klar strukturierte Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Jazz und verschiedenen Ausprägungen von Spiritualität zu wählen, sondern stattdessen Themen zu identifizieren und von verschiedenen Seiten zu beleuchten, führt dazu, dass man auch als Leser die Vorstellung von Religion, Spiritualität, Ritual weiter fasst. Wo man zu Beginn der Lektüre von der sehr offenen Fassung der Begriffe noch ein wenig irritiert sein mag, da ist man dem Autor am Ende genau dafür dankbar, da er es schafft, auch beim Lesen die schnellen Analogien zu vermeiden. Bivins gelingt es, diesen offenen Geist in seine Leser zu übertragen – für den europäischen Leser dann auch in Richtung all der Themen, die sich hierzulande in die verschieden Kapitel einflechten ließen.

Wolfram Knauer (März 2017)


Omniverse Sun Ra
von Hartmut Geerken & Chris Trent
Wartaweil 2015 (Waitawhile Books / Art Yard)
304 Seiten, 69 Euro
ISBN: 978-0-9933514-0-2

Von 1994 stammt das damals im LP-Schallplattenformat veröffentlichte, von Hartmut Geerken und Bernhard Hefele herausgegebene Buch “Omniverse Sun Ra”. Jetzt erschien eine Neuauflage dieses Werks, das das Universum des Meisters aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben versucht.

Geerken war in den 1960er bis 1980er Jahren Institutsleiter verschiedener Goethe-Institute. Als Perkussionist hat er daneben mit zahlreichen Musikern vor allem aus dem Bereich der improvisierten Musik zusammengearbeitet. In Jazzkreisen ist er dabei insbesondere als Kenner des Oeuvres Sun Ras bekannt und war für Konzerte des Arkestra verantwortlich, etwa 1971 in Kairo, wo er seinerzeit fürs Goethe-Institut wirkte. Sein Buch von 1994 war eine kleine Sensation für die Aufarbeitung des Ra’schen Oeuvres; die Neuauflage ist nicht weniger willkommen.

Was übernommen wurde: Amiri Baraka beginnt das coffeetable-große Buch mit einem einleitenden, sehr persönlichen Text über den Meister. Robert Campbell erzählt die irdische Biographie Herman Blounts von seiner Geburt in Birmingham, Alabama, im Jahr 1914 bis zu seinem Tod im Mai 1993 und ordnet zugleich die verschiedenen Besetzungen und musikalischen Phasen seines Schaffens zu. Sigrid Hauff untersucht die mythologische und spirituelle Welt, die Sun Ra musikalisch genauso wie in Texten oder Interviews heraufzubeschwören versuchte. Chris Cutler ordnet sein musikalisches Schaffen in den größeren Kontext von Jazz und afro-amerikanischer Musikgeschichte ein. Robert Lax versammelt mehr oder weniger unzusammenhängende Gesprächsfetzen, Bonmots und Aphorismen des Pianisten, Komponisten, Bandleaders und spirituellen Philosophen. Salah Ragab berichtet über Konzerte des Arkestra in Ägypten in den Jahren 1983 und 1984. Karlheinz Kessler hinterfragt die Verwendung von Ritualen in den Performances der Band. Gabi Geist schreibt ein Horoskop für jemanden, der immer sagte, dass sein Geburtstag und -ort höchstens irdisch seien, tatsächlich aber seiner Herkunft nicht gerecht würden. Hartmut Geerken schließlich erinnert sich an den Besuch des Arkestra in Ägypten im Dezember 1971. Zwischendrin finden sich zahlreiche Fotos, viele davon von der britischen Fotografin Val Wilmer.

Was neu ist: Ein Text Bernhard Helefes entfällt in der Neuauflage. Den ausführlichen diskographischen Teil des Buchs hat Chris Trent neu geordnet. Wieder gibt es einen umfangreichen Bildteil, der die Plattencovers zeigt.

“Omniverse Sun Ra” war schon in der ersten Ausgabe von 1994 eine labor of love. Die neue Ausgabe hat einen Hardcover-Einband, ein etwas handlicheres Format, einen Block mit Farbfotos der Band, die im früheren Buch nicht enthalten waren. Es verzichtet auf die Tapeologogy, also die Auflistung oft privater Konzertmitschnitte, sowie auf die ausführliche Bibliographie der früheren Ausgabe.

“Omniverse Sun Ra” bleibt bei alledem ein großartiges Buch, das in Wort, Bild und Tonträgerverweisen als hervorragendes Nachschlagewerk über die Welt und Weltsicht Sun Ras genauso zu nutzen ist wie als eine Dokumentation, in der auch “Nachgeborenen” die Bühnenperformance des Arkestra vor Augen geführt wird.

Wolfram Knauer (März 2017)


A City Called Heaven. Chicago and the Birth of Gospel Music
von Robert M. Marovich
Urbana/IL 2015 (University of Illinois Press)
488Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08069-2

Gospelmusik, erklärt Robert Marovich, Rundfunkmoderator, Herausgeber des Journal of Gospel Music und Musikhistoriker, sei die künstlerische Antwort auf die Great Migration gewesen, in der tausende und abertausende Afro-Amerikaner zu Beginn des 20sten Jahrhunderts aus den Südstaaten in den Norden zogen und insbesondere in Städten wie Chicago ein neues Zuhause fanden. Blues, sagte Mahalia Jackson einmal, seien Lieder der Verzweiflung gewesen, Gospel dagegen Lieder der Hoffnung. Das Genre, erklärt Makovich in seinem Buch, das sich auf die Verankerung der Musik im Chicago des 20sten Jahrhunderts fokussiert, sei wie eine soziale Organisation organisiert gewesen, die jeden, egal wie gut er oder sie singen konnte, willkommen geheißen hätte.

In seinem Buch beschreibt Marovich die Entwicklung der Gospelmusik von frühen Hymnen und Camp Meetings über die beschriebene Great Migration und die lebendige Gospelszene von Chicago bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sounds, Rhythmen und der Enthusiasmus dieser Musik Eingang in die Popmusik fanden und schließlich zur Begleitmusik der Bürgerrechtsbewegung wurden. Er greift auf Interviews und selten ausgewertete historische Quellen zurück, um die Einbettung der Musik in die Community zu beschreiben; er entdeckt die Bedeutung von Predigern, deren eindringliche Sermons ab den 1920er Jahren ja sogar auf Schallplatte veröffentlicht wurden; er berichtet von frühen Aufnahmen für das noch junge Radio genauso wie für die aufstrebende Plattenindustrie. Er geht auf weithin bekannte Gospel-Künstler ein, Thomas A. Dorsey etwa oder Mahalia Jackson, genauso aber auch auf weniger, oft nur lokal bekannte Musikerinnen und Musiker. Er weiß um die Hintergründe der Gospeltourneen, die in den 1930er Jahren große Erfolge feierten, und er beschreibt die Entwicklung des Gospelquartetts über die Jahre.

Die Zuwanderung nach Chicago aus dem Süden hielt bis in die 1940er Jahre an und vermittelte der Gospelmusik damit über lange Jahre jene wichtige Funktion des Haltgebens in der Fremde. Radio- und frühe Fernsehshows nahmen sich des Genres an, und immer mehr wurde Gospel auch zu einem kommerziellen Produkt. In seiner Übersicht über die verschiedenen Stränge des Genres kennt Marovich alle Solisten, Bands, Quartette und Chöre und beschreibt sowohl ihre Einbindung in die örtliche kirchliche Gemeinschaft wie auch ihr sehr unterschiedliches Verhältnis zur Plattenindustrie. Mitte der 1950er Jahre fiel der Gospelmusik schließlich eine neue Rolle zu, als Mahalia Jackson zu einer glühenden Vertreterin des Civil Rights Movement und einer engen Verbündeten Dr. Martin Luther Kings wurde.

Die große Zeit des Gospel war mit dem Tode Mahalia Jacksons und Roberta Martins vorbei; und hier endet auch Marovichs Buch, mit einem nur kurzen Ausblick auf die Gegenwart. “A City Called Heaven” ist ungemein detailreich, dadurch stellenweise etwas mühsam zu lesen, aber durch einen umfangreich aufgeschlüsselten Index ein gutes Nachschlagewerk zum Thema. Marovich zeigt anhand der Gospelmusik in Chicago, wie sich sich Genre- und Stadtgeschichtsschreibung miteinander verbinden lassen, weil die Nöte und Zwänge des Lebens in der Großstadt letztlich die Entwicklung einer Musik als spirituelles Gegengewicht befördert haben.

Wolfram Knauer (Januar 2017)


La Nuée. L’AACM: un jeu de société musicale
von Alexandre Pierrepont
Marseille 2015 (Éditions Parenthèses)
443 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-2-86364-669-4

2008 veröffentlichte George E. Lewis sein Buch “A Power Stronger Than Itself. The AACM and American Experimental Music”, das die musikalische und ästhetische Welt der Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago seit den 1960er Jahren aus der Ecke einer “nur” afro-amerikanischen Avantgarde holte und zeigte, wie sehr die darin Aktiven Teil eines generellen und weit über Amerika hinausreichenden künstlerischen Diskurses waren und sind.

Im Vorwort seines Buchs über die AACM schildert Alexandre Pierrepont, wie es dazu kam, dass er sich als Anthropologe entschied, eine Studie zur AACM zu schreiben, wie er mittendrin von Lewis’ Arbeit erfuhr und sofort bereit war, mit seinem eigenen Projekt zurückzustecken. Lewis aber habe ihn zum Weitermachen ermutigt: Sein Buch sei eine Innenansicht, so Lewis, ein so komplexes Thema aber brauche immer mehrere Perspektiven, und Pierreponts Arbeit könne vielleicht eine sinnvolle Außenansicht bieten. Und so ist mit “La Nuée” (“Der Schwarm”) jetzt ein zweites umfangreiches Buch auf dem Markt, das die AACM von den 1960er Jahren bis heute als einen künstlerische Ansatz beschreibt, der weit über die erklingende oder auf Tonträgern dokumentierte Musik hinausreicht, vor allem nämlich in den daran beteiligten Akteuren ein Selbstbewusstsein geschaffen hat, das sie weit über den Kreis des Jazz, der afro-amerikanischen oder sogar der amerikanischen Musik hinaus einordnen lässt.

Pierrepont präsentiert im ersten Kapitel 25 Gründe warum, und Erklärungen wie Afro-Amerikaner in den USA ausgegrenzt oder marginalisiert wurden. Er zeigt, dass Musik gerade in diesem Zusammenhang wichtige soziale Funktionen übernahm. Er schildert die Situation in Chicago und erklärt, wie sich hier ab den 1950er Jahren eine aktive experimentelle Musikszene herausbildete. Im zweiten Kapitel beschreibt er die Idee hinter der AACM, die unterschiedlichen Ensembles und Projekte, die aus dem Kreis der Musiker entstanden, die europäische Erfahrung von Mitgliedern etwa des Art Ensemble of Chicago zwischen den Jahren 1969 und 1974, die Verbindungen zwischen der Chicagoer und der New Yorker Avantgarde-Szene ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre (die viel damit zu tun hatte, dass etliche Chicagoer Musiker inzwischen an die Ostküste umgezogen waren), sowie den Einfluss der AACM und ihres Konzepts auf europäische Improvisations-Kollektive.

Im dritten Kapitel untersucht Pierrepont die AACM als Kooperative und Verein, als Geheimbund und Brüderschaft, als sozio-musikalische Bewegung und Weltschule, beschreibt ihre formale Organisation, aber auch die “respectful anarchy”, die sich aus ihren Verbindungen etwa zum Black Arts Movement und anderen auch politisch aktiven Organisationen ergaben. Dabei sei sie bis heute eine Vereinigung afro-amerikanischer Musiker geblieben. Egal ob in Tongebung, Improvisation oder Komposition sei eines der verbindenden Merkmale der aus der AACM entstandenen Musik zum einen die Betonung von Individualität, zum zweiten aber auch das Einbringen des Subjekts in kollektive Prozesse. Pierrepont beschreibt pädagogische Konzepte, die sich aus den Schulprojekten der Association ergaben, und umreißt musikalische als soziale Verbindungen und die daraus resultierenden Gruppenzugehörigkeits-Prozesse. Im vierten Kapitel beschreibt er die Offenheit der AACM-Mitglieder gegenüber Genre, kompositorischen und improvisatorischen Experimenten, der Verwendung und Aneignung im Jazz bislang eher unüblicher Instrumente, der Weiterentwicklung elektronischer Klang- (und musikalischer Reaktions)möglichkeiten, sowie der Arbeit im Solo- und großorchestralen Kontext. Das Art Ensemble of Chicago warb mit dem Slogan “Ancient to the Future”, und in dieser Haltung, dass die Formung jedweder (künstlerischen) Zukunft sich auf die eigene Interpretation der Vergangenheit beziehe, sieht Pierrepont eines der Geheimnisse hinter der Langlebigkeit der AACM als Organisation. “Ich ziehe die Mythokratie der Demokratie vor”, zitiert er Sun Ra. “Noch vor der Geschichte. Alles vor der Geschichte sind Mythen… Das ist der Ort, an dem die Schwarzen sind. Realität ist gleich Tod, weil alles, was real ist, einen Anfang und ein Ende hat. Die Mythen sprechen vom Unmöglichen, von Unsterblichkeit. Und da alles Mögliche bereits versucht wurde, müssen wir eben das Unmögliche versuchen.”

Alexandre Pierreponts Studie zur AACM bietet eine gelungene Interpretation dessen, wofür die Association for the Advancement of Creative Musicians stand und steht, eine Einordnung ästhetischer wie gesellschaftlicher Vorstellungen und Aktivitäten aus der Gruppe, und den Versuch, das alles in Verbindung zu bringen mit ästhetischen, kritischen, philosophischen und spirituellen Aspekten, die weit über die Arbeit der AACM-Mitglieder hinausgehen. Ihm ist dabei, in Gesprächen mit Musikern, in den Beschreibungen von Konzert- und Aktionssituationen, in der historischen genauso wie der anthropologischen Einordnung all dessen ein kluges Buch gelungen, das die Rolle der AACM im Jazz genauso zu verorten in der Lage ist wie in der aktuellen Musik des 20sten (und letzten Endes auch 21.) Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Jazz Tales from Jazz Legends. Oral Histories from the Fillius Jazz Archive at Hamilton College
Von Monk Rowe (& Romy Britell)
Rochester 2015 (Richard W. Couper Press)
209 Seiten, 20 US-Dollar
ISBN: 978-1-937370-17-6

Das Hamilton College ist eine relativ kleine Hochschule in Clinton, New York. Einer ihrer Absolventen, Milt Fillius Jr., zog nach seinem Diplom ans andere Ende des Landes, nach San Diego, hielt aber Kontakt zu seiner Alma Mater. Er liebte Jazz und er war ein guter Freund des Sängers Joe Williams, der 1988 die erste Ehrendoktorwürde des Hamilton College erhielt. Im Gespräch mit Williams und dem Bassisten Milt Hinton wurde Fillius bewusst, wie viel an Wissen über den Jazz tatsächlich nur in der Erinnerung der Musiker bewahrt und wie wichtig Oral History gerade in diesem Bereich ist. Er etablierte also ein umfassendes Interview-Projekt, für das mittlerweile weit über 300 Künstler/innen in Ton und Bild festgehalten wurden. Die Interviews, von denen viele der Hamilton-Archivar Monk Rowe selbst durchführte, dokumentieren die Welt des Swing genauso wie die des modernen Jazz. Die meisten dieser Erinnerungen sind auf der Website des Hamilton College nachzulesen; eine für die Jazzforschung ungemein hilfreiche Sammlung. Es handelt sich bei den Interviewten nicht unbedingt um die großen Stars der Jazzgeschichte, obwohl etwa mit Lionel Hampton, Nat Adderley, Herbie Hancock, James Moody, Oscar Peterson, Ruth Brown und anderen auch solche vertreten sind. Viele der Musikererinnerungen stammen stattdessen von Sidemen, die über ihre Zeit in den großen Bands berichten, über das Leben “on the road”, über die alltäglichen Probleme eines reisenden Musikers, über Rassismus und vieles mehr

In “Jazz Tales from Jazz Legends” zeigt Monk Rowe, was man aus diesen Interviews so alles lernen kann. Er filtert konkrete Themen heraus, für die er dann die verschiedenen Erfahrungen der Interviewten gegenüberstellt. Das Anfangskapitel widmet sich Joe Williams, dann folgt ein Abschnitt über das Schicksal der Sidemen bei Duke Ellington, Count Basie, Benny Goodman und in anderen Bigbands. Clark Terry erzählt etwa, wie der Duke ihn bei Basie abwarb, erinnert außerdem, was er bei beiden Bandleadern lernte, und Benny Powell weiß zu berichten, dass Basie ihm in den zwölf Jahren in der Band nie förmlich bestätigt habe, dass er engagiert sei. Im Kapitel “Road Travails” erzählen Eddie Bert von seiner Zeit bei Benny Goodman, Sonnie Igoe von einer Tournee mit Woody Herman, Bucky Pizzarelli vom Reisen mit dem Vaugn Monroe Orchestra, Jay McShann vom Problem mit schlechten Klavieren “on the road”, Jimmy Lewis von einem angst-machenden Flug mit der Basie-Band, Kenny Davern vom Stress, die 60 One-Nighters in 90 Tagen erzeugen können, Lanny Morgan darüber, dass die Gage oft von Hotel- und Reisekosten aufgefressen wurde, die die Musiker aus eigener Tasche zahlen mussten. “Arranging the Notes” heißt ein weiteres Kapitel, das sich mit den Ansprüchen an die Arrangeure der Bands befasst. Dick Hyman, Mike Abene, Bill Holman, Derrick Gardner, Ray Conniff, Manny Albam erzählen darin von der Arbeit eines Bandarrangeurs genauso wie von den Anforderungen an andere Arten von Musik, etwa für Hollywood; Lew Soloff erinnert sich an die Arrangements für Blood Sweat & Tears, und Dave Rivello und Maria Schneider geben einen Ausblick darauf, wie die Arbeit eines Arrangeurs im 21sten Jahrhundert funktioniert.

“Inside the Studio” ist ein Kapitel über Aufnahmeerfahrungen überschrieben, in dem sich Doc Cheatham an seine erste Platte mit Ma Raney erinnert, Richard Wyands einen typischen Aufnahmegig aus dem Jahr 1959 beschreibt, Orrin Keepnews erzählt, was Musikern für Aufnahmesitzungen üblicherweise bezahlt wurde, und Dick Hyman und Derek Smith verraten, dass sie sich natürlich auch mit Musik für Fernsehwerbung über Wasser halten mussten. Man müsse nicht alles mögen, was da im Studio produziert werde, erklärt Hyman, man müsse sich aber anstrengen, das, was von einem gefordert werde, möglichst gut zu spielen. Rassismus war für viele der interviewten Musiker ein täglich erlebtes Thema, und im Kapitel “The Color of Jazz” kommt auch dies zur Sprache. Clark Terry und Joe Williams haben genügend eigene Erlebnisse; Sonny Igoe erzählt, wie er auf einer Tournee durch den Süden, bei der er im Bus mit dem Art Tatum Trio mitreiste, als “White Trash” angepöbelt und aufgefordert wurde, er solle den Bus gefälligst verlassen. Louie Bellson und Red Rodney haben ähnliche Erinnerungen, und Frank Foster fasst zusammen, dass der Jazz zwar aus der schwarzen Erfahrung heraus geboren worden sei, dass der Melting Pot Amerika ihn aber schon seit langem zu einer amerikanischen, wenn nicht gar globalen Musik gemacht habe.

Im Kapitel “Thoughts on Improvisation” geben Marian McPartland, Clark Terry, Bill Charlap, Charles McPherson und andere Tipps, wie man sich der Improvisation nähern könne. Ken Peplowski fasst zusammen: “Lern es, dann vergiss es wieder!”, und Randy Sandke reflektiert, was während eines Solos so alles durch seinen Kopf ginge. Schließlich äußern sich Gary Smulyan, Ralph Lalama und Jan Weber über die Möglichkeit und die Chancen “falscher Töne” im Jazz. “Motivation and Inspiration” ist ein Kapitel überschrieben, das Erinnerungen an persönliche Einflüsse beinhaltet. Keter Betts etwas erzählt, dass er als Schlagzeuger begonnen habe und durch Milt Hinton (und reichlich Zufall) zum Bass gekommen sei. John Pizzarelli kam über die Beatles zur Gitarre, Kenny Davern übers Radio bei einer der Pflegefamilien, bei denen er aufwuchs, bis er sechs Jahre alt war, und auch Junior Mance war von Earl Hines begeistert, dem er spätabends heimlich im Radio lauschte. Jon Hendricks berichtet, wie er dazu kam, improvisierte Instrumentalsoli zu textieren. Und Eiji Kitamura erinnert sich, wie eine Platte von Benny Goodman in der Sammlung seines Vaters ihn zur Klarinette brachte. Schließlich gibt es im Schlusskapitel noch ein paar Haltungen zum Phänomen des Swing und zum Missverständnis des Free Jazz sowie Erinnerungen an unglücklich gelaufene Engagements und über die Arbeit mit Legenden.

“Jazz Tales from Jazz Legends” ist also ein vielfältiges Buch, das jede Menge unterschiedlicher Erfahrungen zusammenbringt. Zu Beginn der Lektüre wünscht man sich, die einzelnen Interviews im Zusammenhang zu lesen, aber das ist ja tatsächlich möglich, über die Website des Fillius Jazz Archive am Hamilton College. Und so sollte man Monk Rowes thematische Zusammenstellung als das sehen, was sie ist: ein exzellentes Beispiel, wie sich aus den gesammelten Interviews am Hamilton College Narrative zu den unterschiedlichsten Themengebieten der Jazzgeschichte exzerpieren lassen. Dann lässt sich umso interessanter verfolgen, wie die Interviews sich gegenseitig ergänzen und die unabhängig voneinander Befragten dabei fast miteinander ins Gespräch zu kommen scheinen.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Swingin’ On Central Avenue. African American Jazz in Los Angeles
von Peter Vacher
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
331 Seiten, 55 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8832-6

2015vacherJazzgeschichtsschreibung funktioniert normalerweise so: Louis Armstrong – Charlie Parker – Miles Davis – John Coltrane. Oder so: New Orleans – Chicago – Kansas City – New York. Oder so: Dixieland – Swing – Bebop – Cool Jazz – Hard Bop – Free Jazz – Fusion. Personen, Orte, Epochen… eine Geschichte der großen Männer (!), der lebendigen urbanen Szenen, der alles umwälzenden stilistischen Innovationen. Tatsächlich aber ist dieser Blick auf die Größen, die Zentren, die Stilbegriffe enorm einengend, wenn nicht gar: einfach nur falsch. Neben den großen Stilisten gibt es immer auch diejenigen, deren Kreativität entweder nicht den großen populären Erfolg hatte oder aber nicht lange genug anhielt, oder die sich einfach weniger gut “verkaufen” konnten. Neben den jazzgeschichtsmäßig bekannten Zentren gab es Städte und Landstriche, die musikalisch enorm lebendig waren, viele Musiker hervorbrachten, aber von der Geschichtsschreibung höchstens als potentielle Spielorte, nicht als Brutstätten dieser Musik dargestellt wurden. Und neben den etablierten Stilen gibt es unendlich viele Zwischenstufen, da kaum ein Musiker sich eines Stils “in Reinkultur” bediente”. Ganz davon zu schweigen, dass sich die meisten Jazzgeschichten, ja selbst die meisten Biographien an Aufnahmen entlanghangeln und dabei gern den performativen Aspekt des Jazz vergessen, die Tatsache also, dass die veröffentlichte Platte nur eine Momentaufnahme des kreativen Prozesses ist.

Peter Vacher füllt mit seinem Buch also eine Lücke. Er widmet es einer Szene, die nie so ganz im Mittelpunkt des Jazz stand (Los Angeles), und er fokussiert dabei auf Musiker, die höchstens regionale Stars blieben und kaum nationalen oder gar internationalen Erfolg einfuhren. Vacher ist Außenseiter (Brite); er kam im Laufe des Trad-Jazz-Booms der 1950er Jahre zum Jazz. In den 1980er Jahren arbeitete er mit dem Klarinettisten Joe Darensbourg an dessen Autobiographie, verbrachte währenddessen einige Zeit in Los Angeles und lernte damals Veteranen der schwarzen Musikszene der Westküstenmetropole kennen. Die Interviews, die er mit den sechzehn in diesem Buch dokumentierten Musikern führte, hatten ursprünglich nicht das Ziel einer Buchveröffentlichung, sondern dienten einzig seinem privaten Interesse an ihrer Geschichte. Wenige konnte er ein zweites Mal interviewen, bei anderen fühlte er sich im Nachhinein schlecht vorbereitet. Dennoch geben die Geschichten, die er anhand dieser 16 Musiker erzählt, einen Einblick in eine so ganz andere Musikszene als die an der Ostküste. Die Westküstenmusiker waren flexibel; sie spielten Jazz genauso wie R&B oder Dixieland. Viele von ihnen verdienten sich ihren Lebensunterhalt in den Studios Hollywoods, und viele zog es vielleicht mal für eine Tournee, selten aber für immer fort aus Kalifornien. Und wenn auch diese Szene Jazzgrößen wie Dexter Gordon, Wardell Gray, Teddy Edwards und Charles Mingus hervorbrachte, wenn auch Legenden wie Benny Carter, Red Callender und Buddy Collette von hier aus agierten, so blieb Los Angeles doch ein weitgehend ungeschriebenes Kapitel der US-amerikanischen Jazzgeschichte.

Die von Peter Vacher interviewten Musikern stammen aus der älteren Generation, und dokumentieren die Szene vor allem der 1930er bis 1950er Jahre. Noch weiter zurück geht es in den Erzählungen des Trompeters Andy Blakeney , der von seinen ersten musikalischen Erfahrungen im Chicago der 1920er Jahre berichtet, von seinem Umzug an die Westküste im Jahr 1925, von Reb Spikes, der ein Musikgeschäft in L.A. besaß und außerdem eine gut beschäftigte Band. Er erinnert an viele der Musiker in der Stadt und an Partys bei Orson Welles. Er erzählt aber auch von der Rassentrennung in der Stadt, und von den legendären Gigs, die Louis Armstrong und Duke Ellington Anfang der 1930er Jahre in Sebastian’s Cotton Club hatten, von Tagesjobs in einer Schiffswerft, von Gigs mit Kid Ory und Barney Bigard, und von verschiedenen Comebacks in den 1970er und 1980er Jahren. Beim Pianisten Gid Honoré musste Vacher erst Street Credibility beweisen (dadurch, dass er den Schlagzeuger Wallace Bishop kannte), bevor der sich zu einem Interview bereitfand. Honoré kam 1921 aus New Orleans nach Chicago und erzählt von den vielen Ensembles, mit denen er in den 1920er bis 1940er Jahren dort spielte – oft Bands alter Freunde aus New Orleans. 1948 zog er an die Westküste, wo er mit Kid Ory und Teddy Buckner spielte – seine Erinnerungen an die Szene in L.A. nehmen dabei gerade einmal ein Fünftel seines Kapitels ein. Der Trompeter George Orendorff hatte in den 1920er Jahren King Olivers Creole Jazz Band mit Louis Armstrong in Chicago gehört, kurz bevor er nach L.A. zog. Er erzählt vom Engagement in der Band von Les Hite, in der als Schlagzeuger Lionel Hampton mitwirkte, oder von einem Abend, an dem Fats Waller Bach und Beethoven spielte. 1946 war er im Billy Berg’s Club, als Dizzy Gillespie dort mit Charlie Parker spielte. Orendorff arbeitete schließlich 30 Jahre lang als Postbeamter und trat nur noch selten auf. Jeder in Los Angeles kannte den Schlagzeuger Monk Fay, den Vacher aber erst nach intensiver Suche in einem Seniorenheim fand. Der erzählt von seiner Popularität in Hawaii, von einer Gefängnisstrafe wegen Dealens mit Marihuana und von Gigs in Los Angeles in den 1940er und 1950er Jahren. Der Saxophonist Floyd Turnham erinnert sich an Britt Woodman und an Aufnahmen mit Johnny Otis; die Sängerin Betty Hall Jones weiß noch, wie Nellie Lutcher ihr einen Vertrag bei Capitol Records verschaffte. Der Trompeter Red Mack Morris war in Les Hites Band, als diese Louis Armstrong begleitete und führte später eine Weile einen eigenen Club, in dem er schwarz Alkohol ausschenkte. Der Klarinettist Caughey Roberts erzählt von seinen Lehrern und davon, wie er schließlich selbst unterrichtete, daneben aber auch von einer Reise nach China mit Buck Clayton, über seine Arbeit mit Count Basie und Fats Waller in den 1930er Jahren und über seine Dixieland-Aufnahmen in den 1950ern. Der Pianist Chester Lane war ein großer Fan von Earl Hines, arbeitete lange Zeit um St. Louis, und zog 1957 an die Westküste. Der Trompeter Monte Easter erinnert sich, wie er und Art Farmer Ende der 1940er Jahre in Jay McShanns Band saßen, berichtet über die Probleme der afro-amerikanischen Gewerkschaften und über seinen Broterwerb als Postbediensteter. Der Bassist Billy Hadnott erzählt ausführlich von seinen musikalischen Erlebnissen in Kansas City und hat seine eigene Erinnerung daran, wie Charlie Parker ins Sanatorium von Camarillo kam. Der Trompeter Norm Bowden weiß einiges über Reb Spikes und den Schlagzeuger “Boots” Douglas zu berichten, aber auch über den Club Alabam im berühmten Dunbar Hotel auf der Central Avenue. Der Posaunist John ‘Streamline’ Ewing hatte anfangs gut bezahlte Nebenjobs in den Hollywoodstudios, ging dann auf Anregung eines Musikerkollegen nach Chicago, tourte mit Bands wie denen von Horace Henderson und Earl Hines und spielte ab den 1950er Jahren mit Teddy Buckner in Disneyland. Der Saxophonist Chuck Thomas spielte vor allem in der Küstenregion (bis Las Vegas) und zuletzt ebenfalls mit Teddy Buckner. Der Schlagzeuger Jesse Sailes erinnert sich, wie all die großen Swingbands in den Theatern von Los Angeles auftraten und wie er später Platten mit Percy Mayfield, Ray Charles und B.B. King aufnahm. Der Schlagzeuger Minor Robinson spielte mit Buddy Collette und kannte Charles Mingus, als dieser vielleicht 15, 16 Jahre alt war.

Es sind persönliche Geschichten, von Sidemen-Karrieren und außermusikalischen Lebensentscheidungen. Die Namen wiederholen sich; aus den Erzählungen schält sich dabei eine Szene heraus, die zusammenhielt, auch wenn einzelne der Musiker die Stadt für kürzer oder für länger verließen. Peter Vacher beschreibt zu Beginn eines jeden der Kapitel, wie er den Musikern auf die Spur kam und erklärt einzelne der von den Interviewten mitgeteilten Anekdoten. Nebenbei erzählen diese von der Mobilität des Musikerberufs, von Karrieren, die in New Orleans oder Chicago begannen oder in Kansas City und New York Station machten, deren Protagonisten aber, nachdem sie kalifornische Luft geschnuppert hatten, von dieser nicht mehr loskamen. Es gibt schöne Geschichten über das Zusammentreffen des West-Coast-Größen mit durchreisenden Stars der großen Swingbands; es gibt Insiderberichte über alle möglichen Aspekte des Showbusiness’; es gibt immer wieder den Anruf aus der Ferne, der ihnen einen Job in einer der “name bands” anbietet, den sie entweder für kurze Zeit annehmen oder aber ablehnen. Es gibt Geschichten über Familienplanung und solche über Tagesjobs, mit denen man die Familie ernähren konnte. Central Avenue spielt eine bedeutende Rolle, jene Straße, die in Teilen zu einem kulturellen Zentrum der afro-amerikanischen Community der Stadt wurde.

Peter Vacher hat die Gespräche laufen lassen; sein ursprüngliches Interesse galt der Lebensgeschichte der Musiker, weniger dem Treiben in Los Angeles. Und so nehmen die Erinnerungen an Chicago oder Kansas City oft mehr Raum ein als die aktuelle Lebenswirklichkeit des Ortes, an dem die interviewten Musiker schließlich landeten. Doch wird eine Szene eben nicht nur durch das geprägt, was Musiker in ihr kreieren, sondern auch durch alles, was sie aus ihrer Vergangenheit mitbringen. Von daher ist Vachers Ansatz völlig richtig, die Geschichte der Central Avenue durch die Einflüsse zu erzählen, die hier zusammenkamen.

Beim Lesen wünschte man sich stellenweise entweder einen knappen biographischen Abriss vor oder nach den Kapiteln oder aber das Einstreuen von Jahreszahlen, um die Erinnerungen der Musiker besser einordnen zu können. Wer bei Los Angeles an die Westcoast-Szene denkt, sei gewarnt: alle der von Vacher interviewten Musiker sind vor allem der Swingära zuzuordnen; sie erzählen zum Teil von den jüngeren Musikern, die sie kannten, waren aber nie selbst Mitglied dieser Szene. In seinem Vorwort heb Vacher vor allem drei Interviews hervor, die besonders gut gelungen seien: jene mit Andy Blakeney, Billy Hadnott und Norman Bowden, mit Musikern also, mit denen er mehrfach sprechen und dabei mehr über ihr Leben und musikalisches Wirken lernen konnte. Tatsächlich aber sind auch jene Gespräche lesenswert, die etwas langsamer “auf den Punkt” kommen. “Swingin’ On Central Avenue” gelingt es dabei, Erhebliches zur Kulturgeschichte des afro-amerikanischen Jazz im Los Angeles der 1930er bis 1950er Jahre beizutragen. Das Buch erzählt von künstlerischen Idealen und von der Realität des alltäglichen Musikgeschäfts. Die Entscheidung, die Vacher – sicher mehr der Not gehorchend – getroffen hatte, war genau richtig: Seine Protagonisten sind eben nicht die großen Stars, weil die Szene, die er im Fokus hat, sich in keiner der stilbildenden Städte befand, weil die Community, die er in den Kapiteln seines Buchs abbildet, sich aus vielen sehr disparaten Erfahrungen zusammensetzte. Sein Buch ist auf jeden Fall eine Fundgrube für Jazzhistoriker mit vielen Anekdoten und Erinnerungen, die dieser Rezensent hier zum ersten Mal gelesen hat; zugleich ist es eine abwechslungsreiche Zeitzeugensammlung einer Szene, die bislang nur mäßig dokumentiert ist.

Wolfram Knauer (Juli 2016)


Invitation to Openness. The Jazz & Soul Photography of Les McCann, 1960-1980
herausgegeben von Pat Thomas & Alan Abrahams
Seattle 2015 (Fantagraphics Books)
200 Seiten, 39,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-60699-786-4

2015mccannMusikerfotos – es gibt eine ganze Reihe an Jazzmusikern, deren Hobby auf Tournee das Fotografieren war. Milt Hinton ist der wohl namhafteste unter ihnen, doch jetzt zeigt ein neues Buch, dass auch Les McCann nicht nur gute Ohren, sondern auch ein exzellentes Auge hat. Das nämlich gehört dazu, auf dass das Buch eines fotografierenden Musikers nicht einzig wegen der Vorteile interessant ist, die sich daraus ergeben, dass der Mann hinter der Kamera zugleich auf der Bühne sitzt und von den Objekten seiner Begierde, also anderen Musikern, nicht als Störenfried, sondern als einer der ihren anerkannt wird.

Im Vorwort von “Invitation to Openness” erzählt A. Scott Galloway kurz die biographischen Stationen Les McCanns: geboren in Lexington, Kentucky, über Tuba und Snare-Drum zum Klavier gelangt, zusammen mit Eddie Harris mit “Compared to What” über Nacht einen Welthit geschaffen, der eine Solokarriere bedingte, die bis in jüngste Zeit anhielt. Pat Thomas erzählt die Genese des Buchprojekts: Er hatte gerade eine CD-Wiederveröffentlichung des McCann-Klassikers “Invitation to Openness” organisiert und McCann zu Hause besucht, als er in einer Ecke einen Stapel zerkratzter Abzüge von Fotos entdeckte, die der Pianist in den 1960er und 1970er Jahren gemacht, aber nie veröffentlicht hatte. Im Interview mit Thomas erzählt McCann, dass es in seiner Familie immer Fotoapparate gegeben habe. Er selbst habe sich eine Nikon gekauft und begonnen, auf der Bühne und daneben Menschen abzulichten. Als er sich ein Haus in Hollywood leisten konnte, richtete er sich eine Dunkelkammer ein und begann seine Aufnahmen selbst zu entwickeln.

Das Bemerkenswerteste an den Bildern ist vielleicht die Perspektive. Gerade die Bühnenaufnahmen sind eben nicht von vorn gemacht, aus dem Bühnengraben oder der ersten Reihe, sondern oft von der Seite oder leicht von hinten. Viele Bilder zeigen die Musiker backstage, in Vorbereitung fürs Konzert, in Freizeitklamotten beim Soundcheck. Das entspannte Lächeln Count Basies zeigt die entspannte Vertrautheit. Andere eindrucksvolle Motive sind etwa: Stanley Clarke mit abwartend-konzentrierter Miene (und einer denkwürdigen Frisur); Ben Webster am Flügel; Dexter Gordon und Joe Zawinul vor einem Motel; die junge Tina Turner; das Publikum aus Gefangenen im Cook County Jail; Cannonball Addlerley, der an einer Zigarette zieht, sein Gesicht halb in Rauch gehüllt. Neben Musikern gibt es Bilder von Schauspielern (Jack Lemmon, Bill Cosby, Jerry Lewis), Politikern (Jimmy Carter, Jesse Jackson, Stokely Carmichael, Dr. Martin Luther King), Sportlern (Muhamad Ali, Pelé), sowie einige wenige Bilder, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Doch auch diese Aufnahmen, etwa das eines alten Mannes mit Fahrrad, hätten das Potential zu Plattencovers.

Les McCann gibt zu einzelnen der Bilder Kommentare ab, in denen er Kolleginnen oder Kollegen erinnert. Auch die Identifizierung der Motive basiert auf McCanns Erinnerung, wobei es Motive gibt, zu denen er nicht wirklich mehr weiß, wo oder wann sie gemacht wurden, und zumindest eine falsche Zuschreibung (nein: das ist NICHT Eberhard Weber auf den beiden Fotos mit Sarah Vaughan, sondern Bob Magnusson!). Beim Durchblättern des Bandes kommt einem immer wieder in den Sinn, dass das Leben eines Jazzmusikers eben aus mehr besteht als der Bühnenwirklichkeit. Les McCanns “Invitation to Openness” bietet damit einen lohnenswerten und allemal mit Soul gefüllten Blick hinter die Kulissen sowohl der Musiker, die er darin dokumentiert, als auch seiner eigenen Konzertarbeit.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Bitches Brew
von George Grella Jr.
New York 2015 (Bloomsbury Academic, 33 1/3)
128 Seiten, 14,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-6289-2943-0

D2015grellaie Buchreihe 33 1/3 des Bloomsbury-Verlags behandelt eigentlich Rockgeschichte. Jeder Band ist einem separaten Album gewidmet und wird historisch kontextualisiert. Miles Davis wurde jetzt die Ehre zuteil, als erster Jazzer in die Reihe aufgenommen zu werden, die immerhin schon mehr als 100 Bände umfasst. Sein Album “Bitches Brew” von 1969 schrieb eben nicht nur Jazz-, sondern genauso auch Popgeschichte.

In seinem ersten Kapitel betont George Grella, wie schwer es ist, “Bitches Brew” klar einem Genre zuzuordnen. Miles wollte weder ein klares Jazz- noch ein dezidiertes Rockalbum machen. “Bitches Brew”, meint Grella, sollte man daher am ehesten als experimentelle Musik hören, als Versuch, den überkommenen Normen von sowohl Jazz wie auch von Rock zu entkommen.

Im zweiten Kapitel erklärt Grella die seltsame Sektenhaltung, die Jazzrezeption manchmal annehmen kann und gegen die sich Miles Davis von früh an wehrte. Geht nicht gibt’s nicht, sei sein Motto gewesen, und Popsongs nahm er bereits lange vor “Time After Time” auf. Miles, fasst Grella zusammen, spielte Pop nicht um Popstar zu sein, sondern um Musik zu machen. Er erzählt von der Zeit des Trompeters mit Charlie Parker, vom Capitol-Nonet, das irgendwie die Geburtsstunde des Third Stream wurde, sowie von “Kind of Blue” und “Sketches of Spain”.

In Kapitel 3 erklärt Grella, welch völlig anderen Ansatz Miles an die Produktion eines Albums hatte, bei dem er sich ab 1968, ab dem Album “Circle in the Round”, vorbehielt, die musikalischen Versatzstücke nach Belieben zusammenzuschneiden.

In den Kapiteln 4 und 5 schließlich steht “Bitches Brew” selbst im Mittelpunkt, wenn Grella über Titel und Covergestaltung geflektiert und die einzelnen Titel beschreibt. Das liest sich stellenweise wie eine Sportreportage: wer, wann, was, Tonart, Einsatz, Intensität. Grella verweist auf die oft nicht wahrnehmbare Editiertechnik Teo Maceros und darauf, wie dies nur deshalb möglich war, weil alle Musiker immer deutlich aufeinander hörten. In “Pharoah’s Dance” benennt er eine “hippe Blueslinie bei 4:46” oder eine Coda, die “fast Beethoven’schen Charakter” habe. Im Titeltrack zeigt er auf viele der Nahtstellen, und dann verweist auf die Unterschiede der beiden Platten des Doppelalbums: “eine, um dich wegzublasen, die andere, um deinen Kopf wieder geradezurücken”.

Im letzten Kapitel widmet Grella sich den Nachwirkungen des Albums, in der Kritik genauso wie im Jazz. Mit Verweis auf Wynton Marsalis erklärt er, dass da zwei recht unterschiedliche Sichtweisen der Zukunftfähigkeit von Musik aufeinandergeprallt seien, um dann Miles’ Konzept auf dem kleinsten Nenner zusammenzufassen: “Indem er Rhythmus, Puls und Harmonien – und auf Tonband eingespielte Kompositionen – verwandte, die absichtlich nicht zu einer Auflösung fanden, organisierte Miles Zeit: und sowohl Form wie auch Zeit finden damit in der Musik zusammen”.

Eine kommentierte Diskographie beschließt das Büchlein, das sich wie ein sehr ausführlicher Plattentext mit vielen zusätzliche Informationen liest. Ja, Grella gelingt die Kontextualisierung, und doch kommt er der Musik selbst nur bedingt nahe, auch weil seine analytischen Anmerkungen etwas zu oberflächlich bleiben, weil er quasi nur parallel zur Musik beschreibt, was man eh hört, anstatt zusammenzufassen, was das alles “bedeutet”. Trotz dieser Einschränkung aber ist Grellas Büchlein ein lohnenswerter Begleiter zur nächsten abendlichen Abhörsession dieses Miles Davis-Klassikers.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Jazz Basel. Vier Jahrzehnte Stars und Szene
herausgegeben von Offbeat = Urs Ramseyer & Ruedi Ankli & Peewee Windmüller & Urs Blindenbacher
Basel 2015 (Christoph Merian Verlag)
180 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-85616-695-5

2015offbeatDie Geschichte regionaler Jazzszenen kann man auf unterschiedliche Weise erzählen. Man kann nostalgisch und sehnsuchtsvoll zurückblicken und von alten Zeiten schwärmen. Oder man kann auch Zurückliegendes vor allem aus dem Wissen um die Gegenwart verstehen.

Die Macher des offbeat-Festivals gehen in ihrem Buch über “Jazz Basel” den zweiten Weg. Das opulent bebilderte Buch widmet einzig sein Eingangskapitel (von Bruno Spoerri) den Anfängen des Jazz in Basel von den 1920er bis in die 1970er Jahre. 1974 gründete sich der Verein und die Konzertreihe jazz in basel, 1990 schließlich das Festival offbeat. Das Buch blickt auf die Musiker, die seither auf dem Festival spielten, aus skandinavische Gäste oder gesamtdeutsche Schwerpunkte, auf Jazz aus dem Mittelmeerraum und einen lateinamerikanischen Fokus, auf US-amerikanische Bands und die Schweizer Musiker, die hier auch immer zu hören waren. Es gibt Anekdoten aus dem Alltag von Festivalorganisatoren und Berichte von Backstage. Die Auswirkungen des Festivals in Stadt und Region werden thematisiert, Schulprojekte etwa oder die Präsenz im örtlichen Rundfunk. Und schließlich wird mit Stolz auf die Zusammenarbeit des offbeat Festivals mit dem Jazzcampus Basel und dem Club The Bird’s Eye berichtet.

Das alles ist kurzweilig geschrieben, vordergründig wohl vor allem für regionale Leser interessant, daneben aber genauso ein Bericht über die Verankerung einer regionalen wie internationalen Szene, aus dem auch Veranstalter anderswo etwas lernen können. Und schließlich sind da noch die 86 schwarz-weißen Abbildungen, Fotos von Bernhard Ley, Peewee Windmüller und Röné Bringold, die die Erinnerungen an die Geschichte von offbeat ungemein lebendig werden lassen.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher
von Detlef Siegfried
Göttingen 2015 (Wallstein)
455 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1673-7

2015siegfriedErnest Borneman war eine Mehrfachbegabung, so sehr, dass es genügend Menschen gaben, die dachten, es handele sich wahrscheinlich um mehrere Personen, die nur zufällig denselben Namen hätten. In den 1970er und 1980er Jahren war Borneman ein regelmäßiger Gast in deutschen Talkshows, wann immer es um das Thema Sexualität ging, hatte daneben eine Sex-Beratungskolumne in der Neuen Revue. Als Soziologe hatte er sich mit seinem Buch Das Patriarchat 1975 einen Namen gemacht. Vor seiner Beschäftigung mit Frauenbewegung und Feminismus hatte Borneman eine Karriere im Filmgeschäft gemacht, arbeitete für das National Film Board of Canada, für die UNESCO in Paris und war Programmdirektor des Freien Fernsehens, der ersten privaten Fernsehanstalt, die nach ihrem Verbot durch die Adenauer-Regierung quasi durch das ZDF abgelöst wurde. Und noch früher war Borneman nicht nur Jazzliebhaber und -experte, sondern einer der ersten Jazzforscher, ein Kenner des Jazz, der diese Musik zeitlebens als transkulturelle künstlerische Aussage verstand und 1944 mit seinem Artikelreihe “The Anthroprologist Looks at Jazz” eine der ersten übers Anekdotische hinausreichenden Kulturgeschichten des Jazz verfasste.

Borneman schied im Juni 1995 aus dem Leben. Sein Archiv ist in der Berliner Akademie der Künste untergekommen; jetzt hat der Historiker Detlef Siegfried die Biographie des vielfältigen Forschers vorgelegt. Diese hat er klar nach den verschiedenen Feldern gegliedert, in denen Borneman tätig war, überschrieben “Hören. Die Ethnologie des Jazz”, “Sehen. Das Leben auf der Leinwand” und “Berühren. Sex und Gesellschaft”.

Der 1915 in Berlin geborene Ernst Bornemann – wie er bis zu seiner Emigration 1933 hieß – hatte bereits 1930 Bertolt Brecht kennengelernt, als Mitglieder von Berliner Schulchören zu Proben des Lehrstücks Der Jasager geladen worden waren. Er und Brecht freundeten sich an, Brecht half ihm bei der Abfassung seines ersten Theaterstücks und Borneman Brecht bei einer Neuübersetzung des Dreigroschenromans ins Englische. Siegfried, der zu Beginn seines Buchs anschaulich erklärt, wie er sich durch Bornemans eigene “Autofiktionen”, wie er sie nennt arbeiten musste, durch falsche Fährten also, die Borneman aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten seiner Karriere legte, beschreibt Bornemans Exil als “nicht nur Flucht-, sondern auch Möglichkeitsraum”.

In London war Borneman regelmäßig bei Jazzkonzerten anzutreffen, verkehrte außerdem in einem Kreis linker und schwarzer Intellektueller. Bereits Mitte der 1930er Jahre hatte er einen Kriminalroman geschrieben, arbeitete bald auch an einem Drehbuch für einen möglichen eigenen Film, in dem auch der Jazz eine Rolle spielen sollte. Im Sommer 1940 wurde er als “feindlicher Ausländer” interniert, doch bereits zuvor produzierte er seine erste Rundfunksendung. Nach seiner Internierung wurde er nach Kanada deportiert, wo er nach seiner Entlassung beim National Film Board Arbeit fand.

Er knüpfte Kontakt zu Sammlern und Jazzkennern in den USA und sammelte Material für eine mögliche musikwissenschaftliche Dissertation und ein Buch zum Thema “American Negro Folk Music”, das von zwei Verlagen zur Publikation angenommen, dann aber wegen kriegsbedingten Papiermangels nicht gedruckt wurde. In seinen Jazzarbeiten, für die Borneman sich bei dem bekannten Musikethnologen Melville J. Herskovits um ein Stipendium bemühte, ging es, wie Siegfried zusammenfasst, “um zwei Themen: erstens um die Verbindungen von afroamerikanischer Volksmusik und moderner Tanzmusik der Gegenwart, und zweitens um die Verschränkungen von sozialen Verhältnissen und Populärkultur”. 1944 begann Borneman seine achtteilige Artikelserie “The Anthropologist Looks at Jazz”, die in der Zeitschrift The Record Changer erschien, der er bald auch als Mitherausgeber angehörte. Er schlug sich in der Debatte um den Bebop zwar auf die Seite des “authentischen” Jazz, konnte aber der romantischen Rückwärtsgewandtheit vieler der Traditionalisten wenig abgewinnen und versuchte daher immer wieder zwischen den Lagern zu vermitteln.

Mitte der 1940er Jahre lebte er in Paris, interviewte Louis Armstrongs Band anlässlich des ersten Jazzfestivals in Nizza im Jahr 1948, und freundete sich mit amerikanischen Expatriates und französischen Musikern wie Claude Bolling oder Boris Vian an. Er schrieb für den britischen Melody Maker und produzierte 1953 mit Betty Slow Drag einen experimentellen Kurzfilm, der seine beiden großen Interessen Jazz und Film miteinander verbinden sollte. Für den Melody Maker berichtete Borneman auch über den Jazz in Westdeutschland, konnte aber, selbst als Joachim Ernst Berendt versuchte ihn mit zeitgenössischen Musikrichtungen der 1960er Jahre anzufreunden, indem er ihn in ein Konzert John Coltranes mitnahm, mit dem modernen Jazz wenig anfangen.

Siegfried widmet Bornemans langer Auseinandersetzung mit den karibischen Wurzeln des Jazz ein eigenes Unterkapitel und berichtet davon, wie der spätere Beat Club von Radio Bremen auf Bornemans Ideen zurückzuführen gewesen sei. Er zeigt, dass Borneman in seinen Schriften einige Debatten angestoßen hatte, die in der Jazzkritik erst in den 1960er Jahren wirklich ausgetragen wurden, als er selbst an dieser Diskussion nicht mehr selbst teilnahm. Letzen Endes mag Borneman nicht mit allen seiner Thesen Recht gehabt haben, ohne Zweifel aber sei er ein Wegbereiter der internationalen Jazzforschung gewesen.

Der Jazz spielt auch in den weiteren Lebens- und Arbeitsphasen für Borneman eine wichtige Rolle, und Bornemans kritischer Geist, den Siegfried am Beispiel des Jazz ausgiebig beschrieben hat, lässt sich auch in diesen Bereichen zeigen. Detlef Siegfrieds Buch ist dabei ein faktenreicher Band, der biographische Stationen und Diskurse, an denen Borneman beteiligt war, laufend miteinander verschränkt. Ganz sicher war Borneman einer der schillerndsten Vordenker des Jazz; Siegfrieds Schilderung sowohl seines Lebens als auch der Diskussionen, an denen sich Borneman sein Leben lang beteiligte, zeigt ihn aber darüber hinaus als einen vielseitig gebildeten, einfachen Erklärungen zutiefst skeptisch gegenüberstehenden, zur Offenheit des Denkens neigenden Forscher.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Teddy Wilson. 19 Selected Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2015 (Blue Black Jazz)
44,95 Euro

Boogie Woogie, Volume 2. 17 Original Boogie Woogie and Blues Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2014 (Blue Black Jazz)
46,85 Euro
Zu beziehen über www.blueblackjazz.com

Paul Marcorelles hat bereits eine ganze Reihe an Transkriptionen von Pianisten des frühen Jazz vorgelegt, vorzugsweise von Musikern, die im Stride- oder Boogie-Woogie-Stil spielten. Seine jüngsten Veröffentlichungen widmen sich dem Swing-Stil Teddy Wilsons auf der einen und dem Repertoire einiger der Boogie-Woogie-Größen der frühen 1940er Jahre auf der anderen Seite.

2015marcorelles_wilsonFür Teddy Wilson hat Marcorelles sich Soli zwischen 1934 und 1946 ausgesucht, schnelle virtuose Titel wie “Rosetta”, den “Tiger Rag” oder “When You and I Were Young, Maggie” sowie Balladen wie “Don’t Blame Me”, “Out of Nowhere” oder “Body and Soul”. Seine Transkriptionen sind exakt, gut lesbar, reine Notationen ohne weitere Spielanweisungen oder analysierende Harmoniesymbole. Sie sind zum Nachspielen gedacht, brauchen allerdings Pianisten, die zum einen keine Probleme mit den bei Wilson so beliebten Dezimengängen der linken Hand haben und zum zweiten technisch fortgeschritten sind, um die virtuosen Arpeggien und die die Rhythmik aufbrechenden Läufe tatsächlich zum Swingen zu bringen. Wilsons linke Hand allein kann jedem Pianisten helfen, die antreibende Kraft des Swingens zu begreifen. Auch das Studium seiner Voicings lohnt, deren Alterationen den Akkorden zusätzliche Schwebungen verleihen. Wie immer bei Transkriptionen von eigentlich improvisierten Jazzsoli ist es mehr als hilfreich, sich die Soli auf Platte (oder über Streamingdienste) anzuhören.

2015marcorelles_boogieIm zweiten der beiden jüngst veröffentlichten Bände versammelt Marcorelles Transkriptionen von Hersal Thomas (“Hersal’s Blues”), Clarence ‘Pinetop’ Smith (“Pinetop’s Boogie Woogie”), Jimmy Yancey (etwa den “Five O’Clock Blues”), Pete Ammons (z.B. “Rock It Boogie”), Meade Lux Lewis (“Chicago Flyer” und “Glendale Glide”), Albert Ammons (etwa seinen “Swanee River Boogie”), Sammy Price (133rd Street Boogie”) und Pat Flowers (“Eight Mile Boogie”). Die rhythmischen Verschiebungen zwischen Bassfiguren und rechter Hand im Boogie Woogie sind dabei noch weit schwerer zu “lesen” und bedürfen noch stärker des Höreindrucks, um sie danach vom Papier in die Tasten zu übertragen und erlauben im Idealfall – und das wäre es ja eigentlich immer im Jazz – irgendwann das Loslassen und das eigene Erfinden melodischer und rhythmischer Muster, die eigene Improvisation.

Marcorelles’ neue Bände seien jedenfalls jedem interessierten Pianisten empfohlen als Übe- genauso wie Studienmaterial. Marcorelles bietet auf seiner Website übrigens alle insgesamt 202 Transkriptionen dieser wie früher erschienener Bände auch einzeln zum Download als PDF-Datei an

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Hot Music, Ragmentation, and the Bluing of American Literature
von Steven C. Tracy
Tuscaloosa 2015 (The University of Alabama Press)
537 Seiten, 64,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8173-1865-9

2015tracySteven C. Tracy ist Literaturwissenschaftler, Professor für Afro-American Studies, aber auch ein Blues-Harp-Spieler, der bereits in Vorgruppen für B.B. King, Muddy Waters und andere Stars der Szene auftrat. In seinem umfangreichen Buch stellt er die afro-amerikanische Musik der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, also Jazz und Blues, als Referenzpunkt dar, der helfen könne, die amerikanische Literaturgeschichte jener Zeit besser zu verstehen. Es geht ihm dabei nicht einzig um Romane oder Dichtung, die sich konkret und thematisch mit Musik beschäftigen, sondern auch um den Einfluss von Klanglichkeit, von Virtuosität, von improvisatorischer Haltung auf die amerikanische Literatur der Jahre bis 1930. Er greift hierfür immer wieder zurück auf konkrete Aufnahmen, um etwa Beispiele der afro-amerikanischer Stimme, des afro-amerikanischen Rhythmus, der Griot-Funktion des Bluessängers, der Bedeutung von Wiederholungen, der tiefen Doppeldeutigkeit, der politischen Untertöne herauszustreichen, die eben keine rein afro-amerikanischen Untertöne seien, sondern Befunde für den Zustand der gesamten amerikanischen Gesellschaft. Tracy verbindet die Genres, folkloristischen Blues, modernistischen Jazz, um aus dem Mix der Aufnahmen heraus, auf die er sich bezieht, neue Argumente zu entwickeln, die abseits der üblichen Beschreibung von Jazz-, Blues- oder Kulturgeschichte liegen. Er untersucht daneben auch Film- oder klassische Musikgeschichte nach Einflüssen von oder Analogien zu afro-amerikanischer Musik und findet den nachhaltigsten Widerhall außerhalb der Musik schließlich in der Literatur, bei T.S. Eliot, William Carlos Williams, Hart Crane, Gertrude Stein, Ezra Pount, und bei Abbe Niles, Langston Hughes, Countee Cullen, Zora Neale Hurston und anderen Dichtern und Schriftstellern der Harlem Renaissance.

Tracys schnelle Wechsel zwischen den Diskursen sind dabei sowohl inspirierend wie auch, da sie ein häufiges Vor- und Zurückblättern erfordern, zeitweise ermüdend. Sein intertextueller Ansatz ist auf jeden Fall ein Beispiel, wie sich aus dem Studium afro-amerikanischer Musik Aussagen über weit mehr als diese treffen lassen, wie stark tatsächlich diese Musik bereits in den ersten 30 Jahren des 20sten Jahrhunderts ihren Niederschlag im Denken, Handeln und Schreiben gefunden hat.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Friedel Keim
Das große Buch der Trompete (3)
Diskografie, Fotografien, Statistik, Nachträge
Fortsetzung des Trompeter-Lexikons, Band 3
Mainz 2015 [Eigenverlag
554 Seiten, 33,90 Euro
nur direkt zu beziehen über
Friedel Keim, e-mail: ruf.keim@t-online.de

2015keimDer Ur-Maizer Trompeter Friedel Keim hat nach den ersten beiden Auflagen von 2005 und 2009 nun den dritten Band seiner Trompeterbibel vorgelegt, ein sorgfältig recherchiertes Kompendium, das die verschiedensten Seiten des Instruments und seiner Musiker beleuchtet und dessen Spektrum von Klassik über Jazz bis zur volkstümlichen Musik reicht.

Keim kennt dabei keine Berührungsängste. Er versteht es genauso, sich über die Kunst der Barocktrompete auszulassen wie über die Probleme, die viele Jazzer mit der Ästhetik eines Wynton Marsalis haben. Und neben den großen Stars finden auch die Satzbläser wieder Erwähnung oder Musiker der aktuellen Szene.

Der lexikalische Teil von Band 3 enthält biographische Artikel von A wie “Abbott, Goivinda” bis Z wie “Zonshine, Michael”. Neben diesen teils ausführlichen Portraits gibt es Anmerkungen zur Interpretation von Werken aus Klassik, Marschmusik und anderen Genres, darunter auch analytische Anmerkungen und Notenbeispiele aus dem Jazzbereich, etwa eine Transkription des “West End Blues” in der Version von Louis Armstrong und seiner Hot Five von 1928, Dizzy Gillespies “Night in Tunisia”, oder Maynard Fergusons Version von “Body and Soul”. Korrekturen und Ergänzungen zu den beiden ersten Bänden erhalten ein eigenes Kapitel, und wieder gibt es den Block “Wissenswertes rund um die Trompete”, der etwa Informationen über das “Gansch-Horn” gibt oder über das flexibrass-Mundstück, über die Vuvuzela oder über die Trompete auf historischen Briefmarken, über den Trompetenbaum oder diverse Filme, in denen die Trompete im Mittelpunkt steht. Schließlich findet sich noch ein umfassendes Kapitel zu Horst Fischer, jenem legendären deutschen Trompeter, dessen Prolog zu einer Autobiographie Keim abdruckt, außerdem eine alphabetische Auflistung aller ihm bekannter Fischer-Aufnahmen.

Wie bereits in den vorherigen Bänden findet sich auch in Band 3 vieles, was sonst kaum irgendwo erierbar wäre. Friedel Keim weiß um Geburts- und Sterbedaten, berichtet über die Stars, aber eben genauso über die “kleinen” Vertretern des Instruments, über Satzspieler oder junge Musiker, die durchaus auch zwischen den stilistischen Welten leben und arbeiten, über Dixieland- und Swingtrompeter, die eher der Amateur- als der Profiszene angehören, aber dennoch gute Musiker sind, über Musiker von denen man noch nie gehört hat oder aber auch Musiker, die man persönlich kennt, aber nie in einem Lexikon vermutet hätte, weil ihr Arbeitsschwerpunkt doch eher regional begrenzt ist. Keim hat sich ihnen allen angenommen mit einem Vollständigkeitsanspruch, der jede Kritik an der Auswahl im Keim ersticken ließe (man entschuldige das Wortspiel). Und gerade in den Einträgen zu den kleinen Vertretern der Trompete erkennt man einmal mehr die “labor of love” dieses Buches, das zu alledem noch exzellent lesbar ist. Kein kritisches Buch vielleicht, dafür ein verlässliches Nachschlagewerk für jeden, der sich für die Trompete interessiert: eine Trompeterbibel fürwahr!

(Wolfram Knauer, Februar 2016)


 

Mein Onkel Pö
von Holger Jass
Hamburg 2015 (Offline-Verlag)
137 Seiten, 25,55 Euro
ISBN: 978-3-00-051272-8

2015jassEinen ersten Hinweis auf den Inhalt dieses Buchs gibt bereits der Preis: 25,55 Euro, entsprechend einem Cent pro Nacht im legendären Club, wie Holger Jass in der Presseankündigung zum Buch erklärt. Holger Jass hatte das Onkel Pö (Onkel Pö’s Carnegie Hall, wie es damals offiziell hieß) Anfang 1979 vom Vorbesitzer Peter Marxen übernommen, der ihn bei der Übergabe warnte: “Ich muss dich warnen. Pö-Jahre sind wie Hundejahre. Die zählen siebenfach.” Jass hielt es bis Anfang 1986 aus, führte das “Pö” im Sinne seines Kultstatus’ weiter und hat jetzt ein kurzweilig-amüsantes Buch über seine Erlebnisse mit Musikern, Medienmenschen, Kollegen und dem Publikum geschrieben, das ihm die ganzen Jahre über treu blieb, aus dessen Reihen sich aber partout kein Interessent für eine Nachfolge finden ließ.

“Jetzt macht Jass den Jazz im Onkel Pö” titelte das Hamburger Abendblatt, als Jass 1979 übernahm. Sein Buch handelt natürlich auch von Jazz. Er beschreibt, wie Michael Naura, damals Jazzredakteur des NDR viele der Jazzabende mitschnitt, die sich das Pö ansonsten kaum hätte leisten können. Den Flügel im Club hatte kein geringerer als Joachim Kühn ausgesucht und eingeweiht. Ansonsten bevölkern Jazzer wie Freddie Hubbard, Elvin Jones, Pat Metheny, Dexter Gordon die Seiten, aber auch Tom Waits, Charlie Watts, Joe Cocker, Hannes Wader, Truck Stop und natürlich Udo Lindenberg, der dem “Pö” in einem seiner Hits ein Denkmal setzte.

“Bei Onkel Pö spielt ‘ne Rentnerband”, hieß es da, “seit 20 Jahren Dixieland” – aber mit Dixieland ließ sich so ein Schuppen nicht finanzieren, bilanziert Jass trocken … obwohl man das Wort “trocken” selbst bei einer Rezension dieses Buchs nicht in den Mund nehmen sollte, denn trocken ging es ganz sicher nicht zu im Pö. Auch davon handelt das Buch, von den skurrilen Erlebnissen mit den Musikern, vom gesteigerten Alkoholkonsum, vom Pflegen einer Szene und davon, dass man, um Wirt zu sein, ein dickes Fell und viel Humor benötigt. Pineau ist das Zauberwort, jene süßliche Mischung aus Traubenmost und Cognac, die Jass als Allheilmittel vieler Probleme genauso beschreibt wie als Ursache anderer. Seine Anekdoten machen klar, dass man als Wirt und täglicher Konzertveranstalter selbst nicht ganz ohne solche “Medizin” auskommt: ein divenhafter Auftritt Freddie Hubbards etwa oder jener Abend mit Dexter Gordon, den Jass allerdings erst aus drogenbedingtem Tiefschlaf im Hotel um die Ecke wecken musste, den er für seine 57 Jahre als “bös klöterich” beschreibt, der dann aber nach einem dreifachen Whiskey ein denkwürdiges Konzert gegeben habe.

Sehr viel tiefer geht es sicher nicht in seinen Erinnerungen, die er mit viel Augenzwinkern und der humorvollen Abgeklärtheit der zeitlichen Distanz schreibt, und bei denen man schon mal über die eine oder andere schlüpfrige Anekdote hinweglesen muss. Bei all denen, die dabei waren in diesem zwischen Alternativszene und Hochkultur angesiedelten Zauberort in Eppendorf, wird er warme Erinnerungen wecken. Man meint den Fusel wieder zu schmecken und die dicke Luft wieder zu riechen, vor allem aber erinnert man sich an die musikalischen Hochgenüsse, die das Onkel Pö so oft und so viel vermittelte. Für diejenigen, die nicht dabei waren, gibt Jass ein launiges Portrait, einschließlich etlicher Fotos, ein Portrait, das stellenweise einer Filmdokumentation über verwunschene Zeiten ähnelt, bei denen man eigentlich gern dabei gewesen wäre.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Rhythm Is My Beat. Jazz Guitar Great Freddie Green and the Count Basie Sound
von Alfred Green
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
325 Seiten, 75 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4246-3

2015greenCount Basies All American Rhythm Section gilt als die swingendste Rhythmusgruppe des Jazz. Die Art, wie Pianist Basie, Gitarrist Freddie Green, Bassist Walter Page und Schlagzeuger Jo Jones rhythmisch und harmonisch ineinandergriffen, um den vorwärtstreibenden Schwung zu schaffen, der zu ihrem Markenzeichen wurde, besaß so viel an Energie, dass Rhythmusgruppen überall auf der Welt sie zum Vorbild nahmen. Den wichtigsten Anteil an dieser Energie hatte, wie Basie selbst, aber auch zahllose andere Musiker bezeugen, Freddie Green, der dem Count Basie Orchester von 1937 bis zu Basies Tod im Jahr 1983 und der Band noch ein paar Jahre danach bis zu seinem eigenen Tod 1987 angehörte. Von Nichtmusikern wurde Green schon mal dafür bemitleidet, ein ganzes Leben lang nie ein wirkliches Solo gespielt, dafür immer nur “schrumm schrumm” gemacht zu haben, vier Schläge pro Takt, durchgehend vom ersten Akkord bis zum letzten; und doch ist ihm jemand kaum in der Kunst des Rhythmus nahegekommen, den dieser Vierschlag erzeugen konnte.

Jetzt hat Alfred Green, der Sohn des Gitarristen, eine Biographie vorgelegt, die weit mehr ist als die persönliche Erinnerung eines Verwandten. Greens Buch schafft den Spagat zwischen Insiderwissen, persönlicher Betroffenheit und nüchterner Beschreibung der Lebens- und Arbeitswirklichkeit eines Musikers der Bigbandära.

Die Geschichte beginnt in Charleston, South Carolina, wo Freddie Green 1911 geboren wurde, in einer Stadt mit einer überaus lebendigen schwarzen Musikszene. Nachdem er die erste Ukulele gegen ein viersaitiges Banjo ausgetauscht hatte, sammelte er erste musikalische Erfahrungen mit Freunden aus dem Jenkins Orphanage, einem berühmten Waisenhaus in Charleston, aus dem etliche spätere Musiker hervorgingen. Mit einer dieser Bands reiste er die Küste hoch bis nach Maine, wechselte irgendwann vom Banjo zur Gitarre und spielte mit dem Saxophonisten Lonnie Simmons und dem Stride-Pianisten Willie Gant. Als der Impresario John Hammond ihn hörte, empfahl er seinem Schützling Count Basie, sich den Gitarristen für sein Orchester zu sichern. Im Januar 1937 kam es zum Vorspiel erst in kleinem Kreis, dann mit der Bigband, und am 1. Februar begann sein mehr als 45-jähriges Engagement als Motor des Count Basie Orchestra.

Alfred Green erzählt nicht nur die Lebens- und Arbeitsstationen Greens, sondern nähert sich auch seinem Stil, fragt nach Einflüssen, erklärt die Besonderheit des Green’schen Sounds. Der Autor wurde im Februar 1938 geboren, im selben Jahr beendete seine Mutter ihre Beziehung zu seinem Vater, sicher auch, weil der inzwischen eine Romanze mit Billie Holiday begonnen hatte, die für kurze Zeit mit Basie reiste.

Green beschreibt die verschiedenen Besetzungen der Basie-Band der 1930er und 1940er, die Schwierigkeiten des Musikerlebens, und die zunehmenden Probleme der Musikindustrie, die schließlich dazu führten, dass Basie sein Orchester auflöste und kurze Zeit mit einem Sextett – ohne Gitarre – auftrat. Sein Vater nahm die Entscheidung nicht hin und tauchte einfach beim nächsten Gig des Sextetts mit seiner Gitarre auf. “Was machst du denn hier?”, fragte Basie, und Green antwortete, “Was glaubst du wohl? Du hast hier einen Gig, richtig? Ich habe dir die besten Jahre meines Lebens gegeben und du glaubst, mich einfach beiseiteschieben zu können? Keine Chance!”

Während die 1930er- und 1940er-Jahre-Band insbesondere ein Solistenorchester war, wurde der Sound der 1950er Jahre-Band durch ihre Arrangeure geprägt. Alfred Green berichtet, wie Green seinen Platz in den Arrangements fand, wie er sich zu den Schlagzeugern positionierte, und wie er seine Aufgabe immer als die eines Unterstützers der anderen gesehen habe.

Neben den Einsichten in Greens Karriere sind es vor allem die technischeren Kapitel, die im Buch faszinieren. Alfred Green beschreibt etwa die Spannung der Saiten, die besondere Haltung, die Green benutzte, bei der sein Instrument fast auf seinem Schoß lag, spricht über die Tatsache, dass Green kaum je mit nicht-akkordischen Soli zu hören war, über seine wenigen Aufnahmen unter eigenem Namen, über Gigs für andere Bandleader und anderes mehr.

Einem dicken Block mit seltenen Fotos folgen schließlich noch Analysen von Michael Petterson, M.D. Allen und Trevor de Clerq sowie Zitate anderer Gitarristen über Green, schließlich eine ausführliche Diskographie aller seiner Aufnahmen.

Es gibt eine Reihe an Büchern über das Count Basie Orchester, darunter natürlich auch Basies eigene Autobiographie, verfasst mit Hilfe Albert Murrays. Keines dieser Bücher aber bietet einen so persönlichen Einblick in die Band wie das Buch Alfred Greens über seinen Vater. Der Gitarrist Freddie Green war wahrscheinlich der wichtigste Musiker des Basie Orchesters, der nicht nur für den durchgehenden Swing und eine rhythmische Verlässlichkeit stand, sondern der Band auch, was oft übersehen wird, ihren ganz spezifischen Sound verlieh, der sie aus der Menge ihrer Konkurrenten auf dem großen Bigbandmarkt hervorhob. Greens Buch gelingt in diesem Umfeld gleich dreierlei: Er schreibt eine Biographie des Gitarristen Freddie Green, er erzählt Details aus der Bandgeschichte Count Basies (und damit aus dem Alltag der Swingära), und er teilt sehr persönliche Erinnerungen an seinen Vater mit dem Leser.

Ihm gelingt dabei der schwierige Spagat, Beobachter und Sohn zur selben Zeit zu bleiben. Zu Beginn liest sich das alles wie eine interessante, aber eher distanzierte Lebensdarstellung, bis Green aus einem Gespräch zitiert, das er mit seiner Mutter geführt hatte, und bei dem einen schlagartig klar wird, dass der Autor ja Sohn des Objekts seines Berichts ist, dass er mit dem Wissen eines Familienglieds, sicher auch mit eigener Betroffenheit schreibt. Solche Perspektivwechsel gelingen ihm hervorragend, wie man in etlichen bewegenden Passagen erkennen kann. Green verschweigt macht aus seinem Vater nirgends einen Heiligen, sondern stellt ihn als Menschen dar, der nach dem Besten strebte, aber durchaus fehlbar war.

“Rhythm Is My Beat” ist ein sehr empfehlenswertes Buch, über Freddie Green, über Count Basie, über die Swingära und vieles mehr. Alfred Greens Buch gibt einen tieferen Einblick als vieles, was man sonst so liest zu diesem Thema und ist eine spannende Lektüre für Fans, genauso wie für Musiker oder Forscher über diese Musik.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Keith Jarrett. Eine Biographie
von Wolfgang Sandner
Berlin 2015 (rowohlt)
362 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-780-1

2015sandner“Mit freundlichen Künstlern ist die Welt nicht gesegnet”, beginnt Wolfgang Sandner sein Buch, das er mit Wohlwollen des Pianisten angegangen war, bis er mit diesem nach einem Konzert aneinandergerieten sei, weil es Jarrett nicht gefallen habe, dass Sandner sein “Köln Concert” als einen seiner größten Erfolge bezeichnete. “Das Ende eines Dialogs eröffnet jedoch auch eine Chance”, befindet Sandner. In der Folge nämlich habe er sich noch stärker auf die Musik konzentrieren müssen. Das Ergebnis ist ein Buch, das der Musik Jarretts als eines Künstlers gerecht wird, der seine Kraft aus der Improvisation des Jazz zieht, dessen Wirkung aber weit über dieses Genre hinausreicht.

Keith Jarrett wurde am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren, und Sandner sieht diesen Tag, Kriegsende, als symbolträchtig für die Jahrhundertkarriere des Pianisten. Ohne Europa, das durch den Krieg noch mehr für die Qualitäten des Jazz sensibilisiert war, erklärt Sandner, wäre Jarretts Karriere einerseits so nicht möglich gewesen, auf der anderen Seite habe Jarrett immer tief in den Traditionen der amerikanischen Avantgardeästhetik gestanden, in der Tradition auch eigenbrötlerischer Künstler wie Lou Harrison und Alan Hovhaness, deren Werke er Anfang der 1980er Jahre in Europa uraufführte.

Sandner zeichnet die Kindheit Jarretts in Allentown nach, die Erkenntnis seines Talents, das Trauma der Trennung seiner Eltern, dem er mit dem Rückzug in die Musik begegnete, und die musikalischen Bemühungen seiner Brüder. Jarrett spielte mit lokalen Bands, besuchte Workshops, gewann ein Stipendium fürs Berklee College, mit dessen die Musik eher regulierenden als zur Kreativität ermutigendem Lehrplan er allerdings wenig anzufangen wusste. Da war die Schule von Art Blakeys Jazz Messengers schon eine andere, in denen Jarrett ab Herbst 1965 für vier Monate mitwirkte. Von Blakey wechselte er in die Band des Saxophonisten Charles Lloyd, dem er durch dessen Schlagzeuger Jack DeJohnette empfohlen worden war. Lloyds Quartett war “die erste Supergroup des Rockjazz”, und Sandner hört sich sowohl dessen Studio- wie auch die Liveaufnahmen an. 1967 gründete Jarrett sein erstes Trio mit Charlie Haden und Paul Motian, und als ihm Miles Davis 1969 zum wiederholten Mal anbot, in seiner Band mitzuwirken, sagte Jarrett zu, obwohl Miles mit Herbie Hancock und Chick Corea bereits zwei Pianisten in der Band hatte. Bei Miles musste er elektronische Keyboards und Orgel spielen, Instrumente, die ihm eigentlich zuwider waren. Zugleich setzte er sich noch mehr mit Klang auseinander, mit dem Sound der Instrumente, die er zu bedienen hatte genauso wie den Soundmöglichkeiten der Band, die für Miles im Mittelpunkt seiner “musikalischen Großräume, Klangkunstwerke” standen.

Ein eigenes Kapitel widmet Sandner der Partnerschaft zwischen Keith Jarrett und Manfred Eicher, der weit mehr war als ein Labelgründer und Plattenproduzent. Jarrett stand Anfang der 1970er Jahre eigentlich bei ABC unter Vertrag, ihm wurde aber erlaubt, Produktionen mit “ernster Musik” und ähnliche Aufnahmen ohne Gegenleistung anderswo einzuspielen, das könne sein Ansehen schließlich nur steigern. Dass Jarretts Aufnahmen für Eichers Edition of Contemporary Music zum Zugpferd für das Label ECM werden sollten, hatte niemand vorhergesehen. Im November 1971 also ging Jarrett erstmals in Oslo ins Studio und produzierte mit “Facing You” die erste von bis heute 28 Solo-Produktionen für Eicher, ein Album, das sowohl Jarretts Ruf als Solopianist begründete als auch Eichers Ruf als einer der offenohrigsten Produzenten des Jazz. Sandner erklärt, was die Partnerschaft und das Vertrauen der beiden zueinander begründe, die Tatsache etwa, dass Eicher selbst Musiker sei oder dass sein Interesse neben dem Jazz auch anderen Formen von Musik (oder Literatur oder Kunst oder Film) gelte. Eicher, schlussfolgert Sandner auch nach dem Gespräch mit anderen ECM-Künstlern, sei bei vielen seiner Produktionen der “dritte Mann”, auch wenn man ihn weder sehe noch höre.

Es gäbe etliche Musiker und Musikliebhaber, warnt Sandner schon im Vorwort seines Buchs, die meinen, über Musik solle man nicht so viel schreiben, da diese das Wesentliche doch eh in sich berge. Und dann tut er genau das, kongenial, so nämlich, dass seine Zeilen die Musik zwar heraufbeschwört, aber nirgends zu ersetzen trachtet. Über Jarretts Klavierspiel etwa schreibt er, man könne vielleicht die verschiedenen Techniken benennen, die seinen Personalstil ausmachten, komme dabei aber vor allem an einem Charakteristikum nicht vorbei, das Sandner die “Konzentration aufs Wesentliche” nennt und das er in Jarretts musikalischem Ansatz genauso findet wie in seiner Wahl der Mitmusiker oder in der klaren Gliederung seines Repertoires in Standards, eigene Kompositionen und freie Solo-Improvisationen.

An anderer Stelle verfolgt er Jarretts Vervollkommnung der authentisch-eigenen Stimme. Er betrachtet die Aufnahmen seines amerikanischen Quartetts mit Dewey Redman und seines europäischen Quartetts mit Jan Garbarek, beschreibt, was an diesen Aufnahmen so besonders sei, obwohl sie doch weder einen unerhörten Klang hervorbrächten noch eine neue Form oder eine außergewöhnliche ästhetische Haltung. Er nennt Jarrett einen “Solist ohne Grenzen”, verfolgt die unterschiedlichen pianistischen Ansätze, die der Künstler über die Jahre entwickelte. Und Sandner ist wie wenige deutsche Autoren ein Meister darin, Musik mit Worten näher zu kommen. Ein Beispiel: Über Jarretts Album “Staircase” schreibt er: “Alles, was Jarrett in den elf Stücken erklingen lässt, besitzt Körperlichkeit. Es gibt keine flachen Töne, nur runde, eckige, kubusartige, voller Tiefenschärfe. Wenn ein Ton verklingt, wird er nicht nur leiser, er verschwindet wie in einem Tunnel, verliert nicht nur sein Volumen, sondern wird augenscheinlich kleiner.” Er benennt die Beziehungen zwischen Jarretts Aufnahmen an der Barockorgel in Ottobeuren und seiner Suche nach Klangfarben einerseits und ähnlichen Suchen europäischer oder amerikanischer Komponisten andererseits, nicht aber, um daraus Einflüsse abzuleiten, sondern um zu zeigen, dass Jarrett sich da inmitten eines breiten Diskurses befindet, in dem seine eine gewichtige Stimme ist.

Zwischen ausführliche Beschreibungen der diversen Plattenprojekte streut Sandner aber auch Informationen über die Selbstzweifel des Künstlers, über persönliche und geschäftliche Krisen, über Rückenschmerzen und das chronische Erschöpfungssyndrom, dass Jarrett für einige Jahre aus dem Verkehr zog. Er beschreibt, wie all diese außermusikalischen Ereignisse ihren Widerhall in Jarretts Musik fanden. Nach seiner Genesung, fasst Sandner zusammen, sei Jarrett ” praktisch nicht mehr in ein Aufnahmestudio zurückgekehrt. Mit Ausnahme einer Duo-Aufnahme mit Charlie Haden und einer Einspielung von Bach-Sonaten für Violine und Klavier sind alle Aufnahmen danach bei Live-Auftritten entstanden.”

Natürlich nimmt das “Köln Concert” ein wichtiges Kapitel seines Buchs ein. Sandner beschreibt die bekannt widrigen Umstände des Konzerts, Rückenschmerzen, ein schlecht intoniertes Instrument, ein Stutzflügel, den die Bühnenarbeiter statt des eigentlich geplanten Bösendorfer Imperial auf die Bühne gestellt hatten, und er erzählt, wie Jarrett aus all diesen Widrigkeiten über sich herauswuchs, die Beschränkungen des Instruments zu Stärken seiner Aufnahme machte. Das “Köln Concert” wurde zu einem Riesenerfolg bei Kritik und Publikum gleichermaßen, und selbst der Perfektionist Jarrett musste später zugeben, dass die Ideen, “diese Klangfarben und diese Stimmführungen”, die auf der Aufnahme zu hören sind, schon einzigartig waren.

In weiteren Kapiteln seziert Sandner die Herangehensweise Jarretts an die Standards des American Popular Song, die er zusammen mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette ab 1983 einspielte und bald auch bei Konzerten spielte, seine Einspielungen klassischer Musik von Bach bis Lou Harrison, sowie Jarretts eigene Kompositionstätigkeit, die sich keinesfalls in der Komposition von Themen für eigene Improvisationen erschöpfte.

Sandners letztes Kapitel heiß “Einspruch” und ist unter all den lesenswerten Kapiteln dieses Buchs vielleicht das lesenswerteste. Sandner beginnt mit einer Eloge auf den kreativen Schöpfer, auf das Genie Keith Jarrett, um dann die Reaktion hervorzuheben, mit der Jarrett so oft, auf so vieles, reagiert, seine “Manie, etwas abzulehnen”. Der wichtigste Einspruch Jarretts gelte dabei musikalischen Trends, kurzlebigen Moden oder selbsternannten Kanonikern. Sandner findet diese Veto-Haltung auch im Klavierspiel des Meisters selbst, das “allen Regeln der traditionellen Klavierkunst widerspricht und wirkt, als sei das Instrument weniger ein Partner, vielmehr ein Gegner, den man bezwingen müsse, bisweilen mit List und Tücke, bisweilen mit tänzerischem Ablenkungsmanöver, manchmal mit brachialer Gewalt, nicht selten aber, indem man sich den Flügel einverleibt, mit ihm verschmilzt.” Es ist dieses Eins-Sein mit seiner Musik, das Jarrett auch außerhalb der Jazzanhängerschaft Wirkung verschafft hat. Henry Miller schrieb ihm einen Brief, nachdem er das “Köln Concert” gehört hatte, Sergiu Celibidache und Marcel Reich-Ranicki zeigten sich begeistert. Sandner argumentiert aber auch, dass diese Verweigerungshaltung neben seinen künstlerischen Entscheidungen auch Jarretts problematisches Bühnenverhalten beeinflusst habe, seine gelegentlichen Publikumsbeschimpfungen, die, wie Sandner schreibt, fast schon zum Ritual geworden seien, das Voyeure unter den Hörern erwarten oder gar herausfordern.

Wolfgang Sandners Buch gelingt es, der Musik Keith Jarretts nahe zu kommen, gerade, weil er sich, wie er im Vorwort erklärt, mit dem Künstler entzweit hat. Sandner besitzt den Überblick nicht nur über Jarretts Schaffen und nicht nur über die Jazzgeschichte, aus der heraus Jarretts Kunst kommt, sondern über die gesamte Kulturgeschichte, in die hinein Jarretts Musik wirkt. Es gelingt ihm, die verschiedenen Positionen zu definieren, die sich in der Musik und ihrer Rezeption widerspiegeln: die musikalische, ästhetische und wirtschaftliche Position Jarretts zu verschiedenen Zeiten, die Position der Labels, der Agenten, der Produzenten, die Position Manfred Eichers, die Position der Kritiker und des Publikums, und nicht zuletzt auch seine eigene Position, die Position Wolfgang Sandners. Dass er aus eigener Begeisterung heraus schreibt, lässt er nicht unerwähnt. Er bezeichnet Jarrett wiederholt als “Genie”, nennt ihn den größten Musiker, der je aus Allentown kam. Doch dient diese eigene Positionsbestimmung letztlich auch dem Vertrauen, das wir als Leser in Sandners Wertung der Musik haben können. Er lässt uns klar wissen, wo er als Autor steht, und so können wir viel leichter unsere eigene Position beziehen, überdenken, revidieren. Wolfgang Sandner ordnet Jarretts Aufnahmen dabei nicht nur in Jazz-, Musik- und Kulturgeschichte ein, er verleitet zum neuen, zum tieferen Hören, und er ermöglicht ein Verständnis – im besten Sinne des Wortes – über die Grenzen des emotionalen Hörens hinaus.

Wolfram Knauer (Dezember 2015)

Nachtrag Februar 2021:

Keith Jarrett. A Biography
by Wolfgang Sandner, translated by Chris Jarrett
Sheffield 2020 (Equinox)
215 Seiten. 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-800500129

Sandners Jarrett-Biographie ist inzwischen auf Englisch erschienen, übersetzt von keinem Geringerem als Jarretts Bruder, dem in Deutschland lebenden Pianisten Chris Jarrett. Für die englische Ausgabe hat Sandner seinen früheren Text erweitert und aktualisiert, hat neuere Aufnahmen und neue Veröffentlichungen aus früheren Jahren berücksichtigt und neue Erkenntnisse über Jarretts familiären Background geteilt. Mit dem Abschied Jarretts von der Bühne im vergangenen Oktober scheint auch seine Karriere abgeschlossen. Sandners Buch vertieft das Wissen und ermuntert zum Nachhören – jetzt vielleicht etwas wehmütiger als bei der ersten (deutschen) Lektüre vor sechs Jahren.


 

Als der Jazz nach Kassel kam. Streifzüge durch die Szene der ersten Nachkriegsjahre
von Ulrich Riedler
Berlin 2015 (B&S Siebenhaar Verlag)
104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN: 978-3-943132-39-7

2015riedlerDie großen Jazzmetropolen – Berlin, Hamburg, Köln, München – sind weitgehend dokumentiert. Auch für kleinere Städte haben sich Historiker und Hobbyhistoriker der Aufbereitung der Jazzgeschichte angenommen. Das kann schon mal seltsam wirken, wenn Provinzzentren wie der Mittelpunkt der Welt erscheinen, wo sie doch meist nur Durchgangsstationen für aufstrebende spätere oder etablierte, sich auf Tournee befindende Jazzstars waren. Tatsächlich aber sind regionalen Szenen bis heute wichtige Brutstätten künstlerischer Ideen, auch wenn viele der Musiker, die hier ihre Anfänge nehmen, irgendwann in die großen Zentren abwandern, in Städte mit bedeutenden Hochschulen etwa oder in solche mit einer lebendigen, großen Jazzszene.

Das nordhessische Kassel, in der Mitte der Republik, und doch kulturell vor allem durch die Brüder Grimm und die documenta bekannt, besitzt bis heute eine lebendige Szene, verschiedene Spielorte für Jazz und improvisierte Musik, und ein langjähriges Festival. Die alle fünf Jahre stattfindende documenta bringt es mit sich, dass die Bürger der Stadt sich sehr bewusst mit ästhetischen Diskursen der Avantgarde auseinandersetzen.

Der Journalist und Jazzfan Ulrich Riedler hat sich in seinem Buch auf die Suche nach den Anfängen des Jazz in der nordhessischen Stadt gemacht und diese im Frühjahr 1940 entdeckt, als sich junge Jazzfreunde im Gasthaus “Ledderhose” trafen, wo sie gemeinsam die neuesten Platten hörten. Irgendwann rückte die Gestapo ihnen auf den Leib, nahm die Jungs mitsamt ihrer Schellackschätze mit und unterzog sie einer gründlichen Befragung. Die Jazzfans wurden bald wieder entlassen, und einer von ihnen kann Riedler nicht nur von damals berichten, sondern ihm sogar noch die kurzfristig konfiszierten Platten zeigen. Die “Ledderhose” blieb auch nach dem Krieg ein Jazztreffpunkt, in dem die Mitglieder zu Platten tanzten, ab und zu aber auch selbst zum Instrument griffen.

Die 1950er Jahre dokumentiert ein Gespräch mit dem späteren Spiegel-Redakteur Alfred Nemeczek, von dem Riedler außerdem einen Bericht über das Jazzkontor Kassel aus dem Jahr 1959 andruckt, den Versuch, in Nordhessen einen Liveclub nach Vorbild des Frankfurter Jazzkellers zu etablieren. In den 1950er Jahren begannen die ersten amerikanischen Stars Deutschland zu erobern. Kassel erlebte Konzerte von Duke Ellington, Louis Armstrong, Lionel Hampton oder der Jam-Session-Truppe Jazz at the Philharmonic mit Ella Fitzgerald und vielen anderen.

Einer der Stammgäste der Kasseler Jazzszene war damals der Trompeter Manfred Schoof, der zwei Jahre an der Kasseler Musikakademie studierte, bevor er nach Köln weiterzog. Riedler spricht mit ihm über die Jazzszene jener Zeit, über Musiker und Musikerlegenden der Region, unter anderem den Tenorsaxophonisten Werner Apel, den, wie man sich erzählt, sogar Duke Ellington verpflichten wollte, weil er ihn bei einer Jam Session so beeindruckt habe, und natürlich auch über die GI-Clubs, in denen Schoof die amerikanische Kultur erst richtig kennenlernte.

Die Amerikaner waren im Stadtteil Rothwesten in Fuldatal stationiert und engagierten über die Special Service Agencies jede Menge deutscher Musiker für die Unterhaltung in den verschiedenen Clubs. Riedler blickt auf Orte, aufs Repertoire, auf das Jazzprogramm des örtlichen Amerika-Hauses, beschreibt aber auch andere Veranstaltungsorte der Stadt, deren Programm großteils von Vereinen organisiert, zum Teil auch von der Stadt unterstützt wurde. Er erzählt, wie Arnold Bode, der Vater der documenta, von der Band des Vibraphonisten und Gitarristen Fritz Bönsel so angetan war, dass er im Landesmuseum ein Konzert veranstaltete, das den Jazz endgültig in der Stadt etablierte.

Die Jazzszene jener Jahre beinhaltete traditionelle genauso wie moderne Stile, und so beschreibt auf der einen Seite die Dixieland-Szene der 1950er und 1960er Jahre mit ihren Riverboatshuffles und dem musikalischen Versuch, dem Original so nah wie möglich zu kommen, auf der anderen Seite aber auch, wie andere Musiker, Schoof und Gunter Hampel unter ihnen, dem modernen Jazz in Kassel zu Gehör verhalfen. Und schließlich spricht er mit dem Pianisten Joe Pentzlin, dessen Trio quasi die Hausband des Jazzclubs in der Orangerie gewesen war.

In einem abschließenden Kapitel schlägt Riedler einen knappen Bogen in die Regenwart, zu Musikern wie Matthias Schubert und Ernst Bier, die entweder aus Kassel stammen oder aber hier über längere Zeit Station machten und die Szene der Stadt mitprägten.

Riedlers Buch ist nicht als historische Dokumentation gedacht, denn vielmehr als eine flüssig zu lesende Erinnerung an die 1940er bis 1960er Jahre, ein liebevoll bebildeter Band über die Jazzszene in der deutschen Provinz, die – ähnlich wie die Szenen vieler anderer Städte mittlerer Größe – überaus lebendig war. Die Lektüre macht dem Leser deutlich, dass der Diskurs über den Jazz als aktuelle Kunstform nicht nur in den Metropolen stattfindet.

Wolfram Knauer (November 2015)


 

Music Wars 1937-1945. Propaganda, Götterfunken, Swing. Musik im Zweiten Weltkrieg
von Patrick Bade
Hamburg 2015 (Laika Verlag)
511 Seiten, 34 Euro
ISBN: 978-3-944233-41-3

Sounds of War. Music in the United States during World War II
von Annegret Fauser
New York 2013 (Oxford University Press)
366 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-994803-1

Victory Through Harmony. The BBC and Popular Music in World War II
von Christina L. Baade
New York 2012 (Oxford University Press)
275 Seiten, 31,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-537201-4

2013fauser Musik war immer schon kriegswichtig. Ob zum Anfeuern der Truppen im Marschrhythmus, ob zum Mobilmachen der Bevölkerung durch patriotische Hymnen, ob als Beruhigung und Selbstbestätigung, ob als Instrument der psychologischen Kriegsführung oder sogar als Foltermethode: Krieg ist ohne Musik – so seltsam diese Idee auch scheinen mag – kaum vorstellbar.

Drei kürzlich erschienene Bücher untersuchen die Rolle der Musik im Zweiten Weltkrieg. Der britische Historiker Patrick Bade berichtet über die verschiedenen musikalischen Strategien und Funktionen direkt vor Ort, in den Gebieten, in denen der Krieg tobte oder die am Krieg beteiligt waren, Frankreich, Deutschland, den USA, Russland, Großbritannien, dem nördlichen Afrika und dem Mittleren Osten. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Annegret Fauser beschränkt sich in ihrem Buch auf die klassische Musikszene in den Vereinigten Staaten. Die britische Musikhistorikerin Christina Baade schließlich untersucht, wie der BBC in den Kriegsjahren auf Jazz, Tanz- und Popmusik gesetzt habe, um die Moral der gesamten britischen Öffentlichkeit in den Kriegstagen zu stärken. Baades Studie gibt dabei einen Einblick in Programmentscheidungen eines öffentlichen Rundfunksenders und thematisiert, inwieweit die Öffnung des Senders für Jazz und amerikanische Popmusik auf Widerstände gestoßen sei. Fausers Fokus liegt auf der “concert music”, also der klassischen Musik, und im Umschlagtext heißt es, dass Dinah Shore, Duke Ellington und die Andrews Sisters vielleicht die Zivilisten zuhause und die Soldaten in Übersee unterhalten hätten, es tatsächlich aber vor allem die klassische Musik gewesen sei, die die Menschen für die Kriegsanstrengungen mobilisiert habe. Patrick Bade schließlich wagt den Rundumschlag, lässt also auch die sogenannte leichte Muse, Swing und Jazz, nicht aus. Während er dabei neben dem klassischen Repertoire und dem Swing auch einen Blick auf die Funktion von Radio, Film und Plattenindustrie wirft, außerdem in einem langen Kapitel Kriegslieder aus unterschiedlichen Ländern ins Visier nimmt, finden man in Fausers Buch Informationen über Musiker in der Armee, Auftragskompositionen für den Kriegseinsatz, ein Kapitel über Musik als Beruhigung der Bevölkerung und als Therapie für traumatisierte Soldaten sowie eines über die vielen Exilkomponisten, die durch den Krieg in den USA strandeten. Christina Baade schließlich diskutiert in ihrem Buch auch das Thema von Tanzmusik und Maskulinität, die Sorge um den Erfolg der amerikanische Popmusik und die Verdrängung eigener Traditionen, und die Bedeutung von Rundfunkprogrammen, in denen afro-amerikanische Musik in den Mittelpunkt gestellt wurden, für schwarze britische Musiker. Bei allen drei Autor/innen finden sich Diskussionen der Zuschreibung moralischer Qualitäten zur Musik, der Grundlage letzten Endes dessen, was in den USA später zur “cultural diplomacy”, zur Kulturdiplomatie werden sollte.

2012baadeFür Christina Baades Argumentationslinie spielt der Jazz eine zentrale Rolle; ihr Buch erlaubt dabei Rückschlüsse auf Entwicklungen des Nachkriegsjazz in Großbritannien, einschließlich der Hinwendung vieler junger Musiker insbesondere zu traditionellen Jazzstilen. Patrick Bade hat neben einem Kapitel über Jazz und Swing im Dritten Reich, in dem er auch auf das Phänomen der Propagandaband Charlie and His Orchestra eingeht, ein eigenes Kapitel über Musik im Feldlager, im Gefangenenlager und im Konzentrationslager. Fauser wiederum diskutiert in ihrem Buch ausführlich musikalischen Ausdruck von Nationalismus, etwa in Werken von Aaron Copland und Roy Harris.

Patrick Bade gibt am Schluss seines Buchs einen Ausblick auf die Nachwirkungen, erzählt etwa, dass Wagner im Bayreuther Festspielhaus kurzzeitig Cole Porter weichen musste, berichtet, wie Sänger/innen und Musiker/innen nach dem Krieg mit ihrer Karriere im Dritten Reich konfrontiert wurden oder diese sehr bewusst aus ihrer Biographie ausblendeten. Er endet mit dem kurzen Hinweis auf Werke, die sich bis ins 21ste Jahrhundert hinein mit den Gräueltaten des Kriegs auseinandersetzen. Christina Baades Buch endet mit der Ankunft der amerikanischen Truppen im August 1944 und der Entscheidungen des BBC, die auch die amerikanischen GIs mit ihrem Programm unterhalten wollte. In der Folge kam es zu einer Diskussion der Vermischung musikalischer Werte in der populären und Tanzmusik, über “Britishness” oder “Pseudo-American”. Ihr Buch verweist zwischen den Zeilen immer wieder, etwa Kapiteln über das vom Rundfunk mitgeprägte Bild der Frau oder im Versuch, die Ausstrahlung von Musik männlicher übersentimentaler Schlagersänger im Rundfunk zu unterbinden, auf Diskurse, die auch nach dem Krieg weitergingen und auf die letzten Endes BBC-Programmentscheidungen großen Einfluss hatten. Bei Fauser geht der Blick in die Nachkriegszeit über John Cage, dessen experimentelle Ideen sie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren verortet. Sie verweist darauf, dass Cage und seine Zeitgenossen ihre Lehren aus den Erfahrungen des Kriegs gezogen hätten, sich nach Ende des Kriegs von ihren nationalistischen Kompositionen distanziert oder aber diese in neue Werke integriert hätten.

2015badeZusammengefasst bietet Patrick Bade im breiteren Ansatz seines Buchs eine Art Rundumschlag über das Thema. Christina Baade wirft Licht auf die Verflechtungen zwischen Musik, Musikindustrie, öffentlicher Meinung und Publikumsgeschmack. Fausers Studie schließlich hätte von einer Erweiterung ihres Schwerpunkts vielleicht profitiert. Fauser begründet ihren eingeschränkten Blick im Vorwort damit, dass die Jazz- und Popmusikszene jener Jahre ja schon ausgiebig genug untersucht worden sei, während Forschungen zur klassischen Musik im Krieg weitgehend fehlten, vergibt sich damit aber die Chance einer differenzierten Darstellung, was vielleicht – nehmen wir einmal an, dass der Einband-Text vom Verlag und nicht von ihr stammte –, eine wertende Aussage wie die, dass Jazz und Popmusik die Bürger zuhause und die GIs in Übersee vielleicht unterhalten hätten, es aber die klassische Musik gewesen sei, die den wirklichen Unterschied gemacht habe, verhindert hätte.

Von solchen Anmerkungen abgesehen, haben alle drei Bücher ihre Meriten. Sie helfen bei der Kontextualisierung von Musikgeschichte in der späten ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, die letzten Endes Auswirkungen auch darauf hatte, wie Musik heute klingt und wie wir sie wahrnehmen.

Wolfram Knauer (Oktober 2015)


 

 

Giving Birth to Sound. Women in Creative Music
herausgegeben von Renate Da Rin & William Parker
Köln 2015 (Buddy’s Knife)
294 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-00-049279-2

2015darinVielleicht müsste am Anfang dieser Rezension erklärt werden, welchen Weg die Bücher durchlaufen, die im Jazzinstitut Darmstadt anlangen. Bevor wir uns die Bücher aussuchen, die wir rezensieren wollen, erfassen wir sie in unserem Jazz Index, einer computergestützten bibliographischen Datenbank, die von Forschern und Journalisten (und Fans) aus aller Welt genutzt wird. Das heißt, wir gehen das Buch von vorn bis hinten durch, ordnen jedes einzelne Kapitel einem Stichwort oder einem Musikernamen zu, tragen biographische Notizen wie etwa Geburtstag oder Geburtsort, nach, sofern sie in unserer Datenbank noch fehlen. Erst dann machen wir uns ans Lesen.

Aber schon bei diesem ersten Schritt des Erfassens fiel einiges auf beim Buch “Giving Birth to Sound”. Etliche der darin befragten Musikerinnen waren nämlich noch gar nicht in unserer Datenbank erfasst oder aber nur mit relativ kurzen bibliographischen Listen. Über sie wurde in der Jazzpresse bislang also nur wenig berichtet. Nun ja, mag man meinen, das hat sicher auch damit zu tun, dass Frauen ja so richtig erst in den letzten Jahren ins Rampenlicht des Jazz getreten sind. Weit gefehlt aber, und das war die zweite Überraschung: Viele Musikerinnen, die im Buch zu Worte kommen, gehören nämlich gar nicht der jungen (sagen wir: unter 40-jährigen) Generation an, sondern sind weit länger auf der Szene unterwegs. Die Gründe für ihre Unsichtbarkeit in der Jazzpresse mögen also doch woanders liegen.

Eine dritte Erkenntnis, die sich beim Durchblättern schnell ergibt, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Jede der Musikerinnen hat einen völlig anderen Zugang zum Thema. Mal analytisch, mal diskursiv, mal ausweichend, mal ablehnend, mal nüchtern gefasst, mal poetisch überhöht, mal kämpferisch, mal verteidigend. Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich schon in den Überschriften der Kapitel, die Renata Da Rin und William Parker aus der Frage “Was bedeutet Musik für Dich” abgeleitet hat. “Jeder Sound und jede Stille”, antwortet Renée Baker; “die Gründe für mein Leben”, sagt Amy Fraser; “ein abstrakter Ort, um das Leben zu teilen und zu fühlen”, meint Marilyn Mazur; “ein Lager der Erinnerungen”, findet Shelley Hirsch, “Leben, Magie, Geist”, beschreibt Maggie Nicols, oder aber, so Erika Stucky, “serious fun – a ‘Schnaps'”.

Oder aber die Einleitung: Nach dem Vorwort von Amina Claudine Myers haben die Herausgeber eine Anzahl von Reaktionen auf den Buchtitel zusammengefasst. “Giving Birth to Sound”? Schrecklicher Titel: Frauen wurden schließlich immer wieder aufs Gebären reduziert, meint eine der Gesprächspartnerinnen, während eine andere findet, der Titel passe, sei auch angenehm mehrdeutig. Naja, und bei allen Bedenken spräche der Titel ja auch vom Schaffen von etwas Neuem. Blödsinn, widerspricht eine weitere Stimme, Gebären sei doch eine passive, rein physische Tätigkeit, jede Kuh könne das. Musik zu erschaffen sei dagegen ein aktiver intellektueller Prozess und damit das exakte Gegenteil.

Das Konzept des Buchs: Ohne weitere Vorgaben schickten die Herausgeber den 48 Musikerinnen 20 Fragen, die vom Faktischen zum Nachdenken über den Prozess des Kreativen gehen, sich dabei immer wieder danach erkundigen, inwieweit das eigene Geschlecht bei musikalischen, ästhetischen oder beruflichen Entscheidungen eine Rolle gespielt habe. Tatsächlich sind nur sechs der Fragen konkret aufs Frau-Sein der Musikerinnen abgezielt: Wie hast Du deine Kreativität als kleines Mädchen ausgelebt? Wie hat die Tatsache, dass Du eine Frau bist, die Entwicklung Deiner musikalischen Karriere behindert? Wie siehst Du Deine Position als Frau in der Musikszene? Hat diese Position Dein Verhältnis zum Sound beeinflusst? Siehst oder spürst Du einen Unterschied im weiblichen und im männlichen Ansatz an Kreativität? Was würdest Du anderen / jungen Frauen empfehlen, die sich bemühen ein kreatives Leben zu führen?

Die Antworten auf diese und allgemeiner gehaltene Fragen fallen so unterschiedlich aus wie die Lebenswege der 48 Interviewten. Es macht nun mal einen Unterschied, ob man Ende der 1970er Jahre in Dänemark zum Jazz kommt wie Lotte Anker oder 1941 in Oklahoma wie Jay Clayton. Haben Männer und Frauen einen anderen kreativen Approach?, fragen die Herausgeber. “NEIN!” ruft Jay Clayton, in Großbuchstaben, keine weitere Diskussion duldend, während Marilyn Mazur einwirft, Frauen würden vielleicht weniger in Wettstreit treten, mehr ans Ganze und Kollektive denken. “Nein, ich sehe da keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen”, findet wiederum Amy X. Neuberg, um gleich anzuschließen, “das heißt aber nicht, dass es keine gäbe.” Klar gibt es einen Unterschied”, erklärt Kali Z. Fasteau, etwa, dass Männer in hierarchischen Systemen besser funktionierten als Frauen. Andererseits, urteilt Nicole Johänntgen, sei diese Frage ziemlich schwer zu beantworten, weil es nun mal so sehr viel mehr Männer als Frauen auf der Szene gäbe.

Nicole Mitchell beantwortet ihre Fragen in poetischen Erinnerungen und Reflexionen über schwarze Musik, den langen Atem der Bürgerrechtsbewegung und ihren eigenen Weg. Maggie Nicols auf der anderen Seite streicht heraus, dass ihre Musik immer sowohl politische wie auch spirituelle Untertöne besessen habe. Ob sie einen Preis bezahlt habe dafür, dass sie Musik mache, fragen die Herausgeber, und Angelika Niescier findet: Im Gegenteil, sie habe daraus sehr viel für sich gewonnen. Musikerin zu werden, sei nun mal eine Lebensentscheidung, finden auch viele ihrer Kolleginnen, niemand zwinge einen schließlich diesen Weg einzuschlagen.

Die weibliche Kreativität erlaube mehr “Raum”, meint Fay Victor, und zwar “sowohl mehr Raum im Sinn von Zeit und Raum wie auch mehr Raum für die Akzeptanz von Fehlern und Intuition”. Klar habe die Tatsache, dass sie eine Frau sei, ihr Verhältnis zum Sound beeinflusst, erklärt Joëlle Léandre. Frauen seien nun mal anders, sie hätten die Fähigkeit zur Distanz, die in diesem Geschäft wichtig sei, außerdem könne man mit ihnen viel besser lachen.

Sie sehen in dieser springend-vergleichenden Zusammenfassung einzelner Antworten bereits, wie ungemein gewinnbringend sich dieses Buch lesen lässt, wenn man blättert, Themen identifiziert, die die Herausgeber durch ihre Fragen ja nicht festgeklopft, sondern nur angestoßen haben, um dann zu sehen, welchen Kontext die verschiedenen Antworten beleuchten. Man erlebt die ja unabhängig voneinander befragten Musikerinnen bald wie in einer respekt- und kraftvollen Diskussion neugieriger, andere Meinungen (meistens) zulassender, vor allem aber ungemein selbstbewusster Musikerinnen.

Das Fazit des Buchs wusste man vielleicht schon vor der Lektüre: Eine einzelne Antwort auf die Frage nach dem kreativen Unterschied nämlich gibt es nicht. Der künstlerische Ansatz zwischen Männern und Frauen ist genauso unterschiedlich wie jener zwischen Männern und Männern oder zwischen Frauen und Frauen. Es gibt jedoch, und das wird in diesem Buch sehr deutlich, ein anderes Diskursverhalten, eine klare Selbstwahrnehmung der Rolle, in die man gesellschaftlich gedrängt wurde.

Unbedingt lesenswert also, ob von Buchdeckel zu Buchdeckel oder im laufenden Vor- und Zurückblättern. “Giving Birth to Sound” erklärt dem interessierten Leser nämlich in der persönlichen Selbstbefragung der Protagonistinnen und oft auch zwischen den Zeilen weit mehr über die Thematik, als man es etwa von wissenschaftlichen Studien erwarten dürfte.

[Naja, wir empfehlen dennoch den Besuch unseres Darmstädter Jazzforums zum Thema “Gender and Identity in Jazz” vom 1.-3. Oktober 2015 oder die spätere Lektüre unserer Beiträge zur Jazzforschung mit den referaten dieser Konferenz. Aber das ist natürlich nur Eigenwerbung…]

Wolfram Knauer (September 2015)


 

Beyond Jazz. Plink, Plonk & Scratch. The Golden Age of Free Music in London 1966-1972
von Trevor Barre
London 2015 (Compass Publishing)
330 Seiten, 12,99 Britische Pfund
ISBN 978-1-907308-84-0
Zu bestellen über trevorbarre@aol.com

Ekkehard Jost hat die Jahre zwischen 1960 und 1980 als eine Zeit beschrieben, in der Europas Jazz zu sich selbst fand, in der Musiker sich von ihren amerikanischen Vorbildern lösten und eigene Wege gingen. Einige dieser Wege führten fort vom, gingen also “beyond jazz”, und diese Entwicklung will Trevor Barre in seinem Buch mit demselben Titel nachzeichnen. Der Gitarrist Derek Bailey forderte eine Improvisation, die sich aus den idiomatischen Bezügen befreien, und auch andere Musiker begannen statt des Begriffs “Free Jazz” von “improvised music” zu sprechen. Barre interessiert, wie es überhaupt dazu kam, dass eine solch sperrige und alles andere als publikumsfreundliche Musik entstehen konnte und warum sie nicht angesichts ihres kommerziellen Misserfolgs einfach nach ein paar Jahren ausstarb. In seinem Fokus steht dabei die erste Generation der freien Improvisatoren, also Musiker wie Evan Parker, Derek Bailey, John Stevens, Kenny Wheeler, Barry Guy, Dave Holland, Trevor Watts, Tony Oxley, Paul Rutherford, Howard Riley, Eddie Prévost, Keith Rowe, Gavin Bryars und Cornelius Cardew.

Barre beginnt mit einer Definition seines Themas: Wo die meisten Jazzbücher den Jazz durch seine improvisatorischen Parameter beschreiben würden, sei Free Music, schreibt er, einzig durch den improvisatorischen Gehalt definiert. Er stellt unterschiedliche Formen freier Improvisation vor, solche, die näher am Jazz bleiben und solche, die eher der europäischen Avantgardetradition verpflichtet scheinen. Die beiden Hauptensembles seines Buchs sind das Spontaneous Music Ensemble und die Gruppe AMM. Barre ordnet deren Auftritte in die Jugend- und Protestkultur der 1960er Jahre ein und schildert, wie die globalen Entwicklungen von Pop, Rock und Folk jungen Musikern ein völlig neues Vokabularium an die Hand gab, sie auch zu neuen Herangehensweisen zwischen tiefer Ernsthaftigkeit und unbändigem Humor bewegten. Er beschreibt auch, welchen Platz sie in die Bandbreite des britischen Jazz jener Jahre zwischen Dixieland und Free Jazz hatten.

Barre zeichnet den Weg einzelner Protagonisten zur freien Improvisation nach, schildert insbesondere die Bedeutung des Little Theatre Club, in dem die jungen Musiker mit Kollegen auch aus dem europäischen Ausland experimentieren konnten. Er beschreibt, wie sie nach und nach merkten, dass es außer dem afro-amerikanischen Jazz auch anderes gab, dass beispielsweise südafrikanische Musiker um Chris McGregor dieser Musik eine neue Farbe geben konnten und dass sich Freiheit, wie sie der Free Jazz implizierte, auch ganz mit anderen Mitteln umsetzen ließ. Er diskutiert wichtige Aufnahmen der Zeit, wobei ihn vor allem die interaktiven Prozesse interessieren, die ästhetischen Diskurse, die sich aus der Improvisation der Aufnahmen ergaben. Das alles beleuchtet er anhand von zeitgenössischen genauso wie selbst geführten Interviews mit beteiligten Musikern. Das Spontaneous Music Ensemble und AMM nehmen zwei der umfangreichsten Kapitel ein, in denen Barre neben dein Einflüssen und den ästhetischen Diskussionen auch über Nachwirkungen schreibt, bewusste oder unbewusste Reaktionen auf die Klangexperimente in weit jüngerer Musik, der 1980er, 1990er Jahre und danach. Er betrachtet den Einfluss der Technologie, schaut auch auf die Bedeutung der visuellen Covergestaltung oder der Plattentexte. Das Label Incus nimmt ein eigenes Kapitel ein, wie FMP in Deutschland oder ICP in Holland ein von Musikern gegründetes Label, das Musik seiner Mitglieder nicht so sehr vermarkten als vielmehr dokumentieren wollte. Improvisation ist schließlich weit mehr als komponierte Musik auf das Medium der Tonaufzeichnung angewiesen – sonst verklingt sie.

In seinem Schlusskapitel betrachtet Barre kurz die “zweite Generation” der Free Music in London um das London Musicians’ Collective sowie eine “dritte Generation” um John Edwards, John Butcher und andere und setzt beide Entwicklungen mit jenem von ihm als “erste Generation” betrachteten Grundthema seines Buchs in Beziehung. Im Nachwort schließlich verfolgt er die Aktivitäten seiner Protagonisten bis in die Gegenwart.

Trevor Barres Buch ordnet die Entwicklung der Free Music der späten 1960er, frühen 1970er Jahre in die kulturelle Szene des “Swinging London” ein. Ihm gelingt dabei vor allem der Blick auf sich wandelnde ästhetische Ideale und eine Begründung derselben aus gesellschaftlichen und politischen Diskussionen heraus. Der Musik selbst kommt er vor allem in Interviews mit den beteiligten Musikern nahe. Die inhaltliche wie organisatorische Unabhängigkeit der britischen Improvisationsszene jener Jahre hat Auswirkungen bis heute. Initiativen wir F-Ire Collective wären ohne das Vordenken und Vormachen der hier beschriebenen Musiker und Gruppen nicht möglich gewesen. Von daher füllt Barres Buch eine Lücke. Dass er bestimmte Themen weitgehend außer Acht lässt – die Auseinandersetzung dieser Szene mit ihrem Publikum beispielsweise oder mit den Mainstream-Medien, der tatsächliche Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Szenen oder die Reaktion amerikanischer Musiker, zeigt nur, wie viele Perspektiven das Thema tatsächlich hat, die bislang kaum beleuchtet wurden. Barre jedenfalls stößt mit “Beyond Jazz” die Tür zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der musikalischen Freiheitsbewegung jener Zeit weit auf.

Wolfram Knauer (August 2015)


 

Little Satchmo. Living in the Shadow of my Father, Louis Daniel Armstrong
von Sharon Preston-Folta (mit Denene Millner)
Charleston/SC 2015 (self published)
112 Seiten, 12 US-Dollar
ISBN: 978-1-481227-23-7
Zu beziehen über www.littlesatchmo.com

2015prestonfoltaDie offizielle Version lautet: Louis Armstrong hatte nie Kinder. Er hätte immer gern welche gehabt, sagte seine letzte Frau und Witwe, Lucille Armstrong, aber er sei zeugungsunfähig gewesen. Nun kommt, 34 Jahre nach Satchmos Tod, Sharon Preston-Folta mit einem Buch heraus, in dem sie kundtut, sie sei die Tochter Louis Armstrongs aus einer außerehelichen Beziehung, die Satchmo in den 1950er Jahren hatte.

Ihr Leben lang habe sie diese Wahrheit herunterschlucken müssen. Sie wolle kein Geld, keinen Ruhm, aber immer selbst auf das öffentliche Wissen um ihren Vater verzichten zu müssen, sei einfach zu viel. In ihren Recherchen habe sie nur einen einzigen schriftlichen Hinweis auf Satchmos Vaterschaft gefunden, einen Brief des Trompeter an seinen Manager, Joe Glaser, aus dem Jahr 1955, in dem er diesen bat, vor der Ankunft seiner Frau Lucille in Las Vegas ein paar Geschäftsdinge zu klären, darunter Zahlungen an eine Freundin, von der er glaubt, dass sie ein Kind von ihm habe. Ihre Mutter habe sie immer beschworen, ihren Vater geheim zu halten, und so habe sie letzten Endes gehorcht und damit auch keine Ansprüche geltend gemacht auf sein physisches, historisches und finanzielles Erbe. Wenn sie etwas gekränkt habe bei ihren Recherchen, sei es, dass Louis Armstrong in seinen Briefen so offen über alles geredet habe, seine Musik, seine Kindheit, seine Liebe zum Essen und zu den Frauen, über Sex, sogar über seine Darmtätigkeit, dass er über seine Tochter aber sein Leben lang geschwiegen habe.

Warum er ihre Existenz verleugnet habe? Nun, erklärt Preston-Folta, Louis Armstrong sei ein gefeierter Künstler seiner Zeit gewesen und habe sich in der besten (weißen) Gesellschaft aufgehalten. Es habe einfach nicht gepasst, in dieser Zeit, wenn Nachrichten über ein uneheliches Kind mit einer Geliebten in die Schlagzeilen gekommen wären.

Prestons Mutter wurde 1921 in New York geboren und arbeitete bereits als 16-Jährige als Chorus Girl in diversen Shows. 1941 heiratete sie einen Tänzerkollegen; 1946 arbeiteten die beiden als Tanzpaar “Slim & Sweets” als Vorgruppen für große Swingorchester, unter ihnen auch Louis Armstrong, der sich mit ihnen anfreundete und in einen launigen Briefwechsel einstieg. 1950 starb Slim, und bei der Trauerfeier war auch Louis Armstrong dabei, der Lucille Preston in den Arm nahm und versprach: “Ich werde mich um dich kümmern.” In den nächsten vier Jahren reiste sie Pops hinterher und tauchte auf, wann immer Armstrongs in New York spielte. 1954 wurde Preston schwanger, und im November schrieb Satchmo ihr einen Brief, in dem er erklärt, wie sehr er sich auf das Kind freue und sogar vorschlägt, sie zu heiraten, sollte seine Frau (mit gleichem Namen Lucille) sich von ihm scheiden lassen. Armstrong war dann aber nicht dabei, als Sharon Louise (nach Louis) Preston am 24. Juni 1955 das Licht der Welt erblickte. Armstrongs rechtmäßige Ehefrau war “not amused” und habe ihm nach der Geburt der Tochter sogar vorgeschlagen, diese zu adoptieren, was ihre leibliche Mutter aber vehement ablehnte. Lucille (die Ehefrau) habe sogar die Alimente überwiesen, bis sie diese Aufgabe irgendwann Joe Glaser übertrug.

In ihrem Buch berichtet Sharon von den viel zu seltenen, sorgfältig geplanten und sehnsuchtsvoll erwarteten Treffen. Sie und ihre Mutter lebten eine Weile bei ihrem Onkel Kenny, der nach außen schon mal als Lucilles Ehemann auftrat und immer wieder auf seine Schwester eindrang, bei Satchmo mehr einzufordern: mehr Geld, mehr Fürsorge, am besten seinen Namen. Bei einzelnen Sommertourneen durfte Sharon mitreisen. Ansonsten aber war Satchmo vor allem durch die monatlichen Unterhaltszahlungen präsent, durch Broadway-Tickets, 1962 durch den Kauf eines Hauses in Mount Vernon, New York. In Harlem hatte sich niemand wirklich darum gekümmert, wie ihre Familienverhältnisse aussahen, erzählt Preston-Folta, in Mount Vernon aber begann eine Zeit der Lügen. Die Liaison dauerte ja bereits 12 Jahre, aber nach wie vor war nicht in Sicht, dass Armstrong auch öffentlich zu seiner Familie stehen würde. Mit zehn Jahren begriff Sharon erstmals, dass ihr Vater eine “andere Lucille” hatte, ein anderes Leben, das mit ihrem aber auch gar nichts zu tun hatte.

Etwas später seien sie gemeinsam in Atlantic City zu einem Auftritt Marvin Gayes gegangen, es habe einen Streit zwischen den Erwachsenen gegeben, bei dem ihre Mutter Satchmo fragte, wann er sie nun endlich zu heiraten gedachte, worauf er laut wurde: “Ich werde dich niemals heiraten” und mit Fingerzeig auf die Tochter fragte: “Sag mir einfach, was es kostet, für sie zu sorgen!” Das war das Ende der Beziehung.

Kaum war Armstrong gestorben, kamen auch die monatlichen Schecks nicht mehr. Ein paar im Voraus geleistete Zahlungen für Sharons Erziehung hielten sie und ihre Mutter über Wasser, mussten bald auch den Zuwachs zur Familie finanzieren, denn Sharon wurde mit 16 selbst Mutter. Sharon erzählt, wie ihr Leben weiterging, immer gezeichnet durch die Narben, die der fehlende Vater hinterlassen hatte. Irgendwann rebellierte sie gegen die eigene Bitterkeit und versuchte, das emotionale Band, das sie mit der verlorenen, nie gehabten Vergangenheit hatte, zu zerschneiden.

Sharon Preston-Foltas Buch endet mit einem Besuch im Armstrong House in Queens. Ein Anwalt hatte ihr empfohlen, einen Blick in Satchmos Testament zu werfen, das eine eidesstattliche Erklärung von Lucille, Armstrongs Frau, enthielt, Armstrong habe nie Kinder gehabt. Als Sharon diese Zeilen las, von Lucille eigenhändig korrigiert von “Der Verstorbene und ich hatten keine Kinder” in “Der Verstorbene hatte keine Kinder”, entschied sie sich, jetzt ihr Geschichte zu erzählen. Ihre Mutter, die sie immer zur Geheimhaltung gedrängt hatte, willigte endlich ein: “Mach, was Du meinst, dass du tun musst.”

Sharon Preston-Foltas Buch ist als eine Liebeserklärung an die von ihr immer vermisste Vaterfigur Louis Armstrong geschrieben, aber es ist eben auch eine leicht verbitterte Liebeserklärung geworden. An genügend Stellen legt man es zur Seite, unterschiedlich berührt von den Schuldzuweisungen, mit denen Preston-Folta ihre eigenen Lebensentscheidungen aus ihrer vaterlosen Kindheit und Jugend ableitet. Ein bedrückendes Schicksal, denkt man, und fragt sich zugleich, warum sie, die immer wieder von der DNA ihres Vaters schreibt, die in ihr fortlebe, nicht irgendwann, spätestens vor der Veröffentlichung dieses Buchs, auf einem DNA-Test bestanden habe. Doch ist es einem Kind, das sein Leben lang sicher ist, seine Eltern zu kennen, überhaupt zuzumuten, von einem auf den anderen Tag an der Tatsache der Vaterschaft zu zweifeln? Auch als skeptischer Leser sollte man jedenfalls für die Zeit der Lektüre erst einmal die Grundbehauptung der Vaterschaft Louis Armstrongs akzeptieren, sonst hat man wenig Spaß am Buch. Armstrong selbst schließlich scheint bis zu seinem Tod überzeugt davon gewesen zu sein, in Sharon eine Tochter gehabt zu haben.

Allen Fragen und sicher auch allen möglichen Zweifeln zum Trotz, die einem bei der überraschenden Enthüllung Sharon Preston-Foltas kommen mögen, lernt man einiges bei der Lektüre, und wenn nur, dass Scheinwerferlicht auch Schatten wirft, dass Stars wie Louis Armstrong das Leben vieler Menschen zum Teil viel direkter berührten, als man es wahrhaben mag, und nicht zuletzt, dass die Persönlichkeit großer Stars aus ihren emotionalen Stärken genauso besteht wie aus ihren emotionalen Unzulänglichkeiten. Am Glorienschein des großen Meisters mag das alles ein wenig kratzen; der Kraft seiner Musik tut es keinen Abbruch.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Theatrical Jazz. Performance, Àṣẹ, and the Power of the Present Moment
von Omi Osun Joni L. Jones
Columbus/OH 2015 (The Ohio State University Press)
270 Seiten, 99,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8142-1282-0

2015jonesDer Blick über den Tellerrand kann das Wesentliche erhellen, der Blick von außen Dinge erkennen lassen, die man im internen Diskurs oft nicht mehr sieht. Das ist einer der Hintergründe für die sogenannten “new jazz studies”, ein Konzept in der jüngeren Jazzforschung, das sich der untersuchten Materie neben der musikwissenschaftlichen Betrachtung interdisziplinär nähert. Die Feministin Omi Osun Joni L. Jones versucht in ihrem Buch eine Verbindung zwischen Jazzästhetik , theatralischer Performance und auf Yoruba basierender afrikanischer Theologie. Dabei beschreibt sie als eine der zentralen Prinzipien der Jazzästhetik die Fähigkeit, die eigenen intuitiven Kräfte freizusetzen. In ihrer Beschäftigung mit afrikanischer Spiritualität habe sie gelernt, dass auch in wissenschaftlichen Büchern die Auseinandersetzung mit spirituellen Impulsen nicht zu kurz kommen dürfte, ganz ähnlich wie dies auch Jazzgrößen wie John und Alice Coltrane immer gesehen hätten. Sie will mit ihrem Buch den Jazz gegen den Strich bürsten, seine Begriffe, Handlungen, Ausformungen kritisch hinterfragen, und zwar aus der Perspektive aller seiner unterschiedlichen Bedeutungen in musikalischer Ästhetik, Performance, gesellschaftlichem Spiegel, ethnischer Identität oder politischer Haltung. Es gäbe Kollegen, schreibt sie in ihrer Einleitung, die den Jazz als eine polyglotte Form ansähen und damit Gefahr liefen seine Wurzeln in der afro-amerikanischen Kultur zu leugnen. Tatsächlich aber sei die spirituelle Kraft nicht an irgendwelche Identitätsregeln gebunden. Die spirituelle Transzendenz des Jazz brauche keine Abwesenheit ethnischer Identität (“race”), sondern höchstens Abwesenheit solch einer ethnischen Identität (“race”) als Restriktion oder als Prognose.

Tatsächlich handelt ihr Buch allerdings zentral gar nicht von Musik, sondern vom Theater, und hier insbesondere von den drei Theaterautoren Laurie Carlos, Daniel Alexander Jones und Sharon Bridgforth. Jones bedient sich in ihrer Herangehensweisen an das Thema der feministischen und queeren Theorie, erklärt Wirkungen der Theaterperformance aus der Haltung des Jazz heraus und zugleich aus ihrer Interpretation von Yoruba-Traditionen. Als übergeordneten Approach versucht sie ihrem wissenschaftlichen Buch darüber hinaus aber auch improvisatorische Strukturen zu geben, indem sie Bilder, Fotos, Zeichnungen, Zitate einfließen lässt, die wie kurze solistische Kommentare neben ihrem Text stehen.

In ihrer Einleitung zitiert Jones einige Beispiele direkter Bezugnahme von Jazzmusikern wie Dizzy Gillespie und John Coltrane auf Yoruba-Beschwörungen, erinnert außerdem an die lebendige Avantgarde-Theaterszene von Austin, Texas, in der in den 190er Jahren die Verbindungen von Theater und Jazz besonders entwickelt wurden. Im ersten Kapitel betrachtet sie, wie biographische Erfahrungen die drei von ihr untersuchten Autoren prägten, Carlos’ Jugend im New Yorker East Village, Jones’ Aufwachsen im Arbeiterklasse-Milieu von Springfield, Massachusetts, Bridgforths Bustrips durch die verschiedenen Viertel von Los Angeles. Sie analysiert die dem Jazz nahestehenden Praktiken von Lehrer und Schüler im Theater, deren Lernprozesse dabei immer gegenseitig sind. Das zweite Kapitel untersucht Performance-Methoden, Ansätze an Regie, Probenphasen, das Beziehung-Herstellen zum Publikum, die Auswahl der Schauspieler, aber auch das Zulassen spiritueller Erfahrung im Verlauf der Performance. Im dritten Kapitel schließlich fragt sie danach, was die Performance beim Publikum (sie spricht gern von “witnesses” = Zeugen) auslöst, wie sie zu einer Perspektivverschiebung führen kann, einer aktiven Partizipation des Publikums, die das eigentliche Ziel aller Beteiligten sei.

Wenn ich Jones zu Beginn dieser Rezension in die Nähe der “new jazz studies” gestellt habe, so muss ich diese Aussage zumindest zum Teil revidieren. In den New Jazz Studies werden Aspekte des Jazz möglichst von vielen Seiten (und mit unterschiedlichen Methoden) betrachtet. Jones geht den entgegengesetzten Weg: Sie nutzt, was sie vom Jazz gelernt hat, um ihr eigentliches Thema, die Performance im Theater genauer zu definieren. Sie erkennt im Jazz Kommunikations- und Tradierungsmodelle, die so beispielhaft sind, dass sie ein anderes Genre besser verstehen lassen, vielleicht sogar Modell stehen können für neue, weitreichendere Regie- oder Performance-Ansätze. Ihr Buch ist darin so weitsichtig wie der Versuch früherer Literaturwissenschaftler wie Houston Baker, insbesondere den Bereich der afro-amerikanischen Literatur (aber durchaus darüber hinaus) durch die schon von Ralph Ellison oder Albert Murray identifizierte Blues Aesthetic zu beschreiben. Beide nahmen dabei sehr bewusst auf westafrikanische kulturelle Traditionen, Praktiken und Symbole Bezug, für den ungeübten Leser einerseits manchmal etwas schwer nachvollziehbar, gerade dadurch aber die Argumentation auch angenehm schnell aufbrechend und Rückschlüsse erlaubend.

Wenn nämlich die Praxis des Jazz als Erklärungsmodell für andere künstlerische Praktiken taugt, dann wirft das ein ganz anderes Licht auch auf den Stellenwert von Jazz und Improvisation.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


The Long Shadow of the Little Giant. The Life, Work and Legacy of Tubby Hayes
von Simon Spillett
Sheffield 2015 (Equinox)
377 Seiten, 19,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78179-173-8

2015spillettWie Hans Koller oder Lars Gullin war der britische saxophonist Tubby Hayes eine der europäischen Jazzgrößen, die ihren Kollegen genauso wie ihrem Publikum klar machten, dass der Jazz zwar eine afro-amerikanische Musik war, dass aber Europäer das Idiom durchaus beherrschten und ihre eigenen Beiträge zur Tradition des Jazz leisten konnten. Hayes kam aus der Swing-Mainstream-Tradition des Jazz, nahm erst Bebop, Hardbop, schließlich Einflüsse des Spiels John Coltranes in seinen Stil auf und starb 1973, gerademal 38 Jahre alt, in Folge einer Herz-Operation.

Dem Autor und Saxophonisten Simon Spillett gelingt es in seinem Buch “The Long Shadow of the Little Giant” mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews und Material aus Hayes’ persönlichem Archiv das Leben und die musikalische Karriere des Saxophonisten in den Jahren vom bombenerschütterten London der Nachkriegszeit über die jazzigen 1950er Jahre und die Swinging Sixties bis hin zur großen Krise des Jazz Anfang der 1970er Jahre nachzuzeichnen.

Hayes wurde in eine musikalische Familie geboren – sein Vater leitete in den 1930er Jahren verschiedene Tanzorchester, seine Mutter war Revuesängerin und -tänzerin. Schon früh war er vom Saxophon fasziniert, begann aber im Alter von acht Jahren erst einmal mit Geigenunterricht, und bekam schließlich zum elften Geburtstag das langersehnte Saxophon, das er größtenteils autodidaktisch meisterte. Er hatte ein gutes Gehör, und der Geigenunterricht hatte ihn zu einem exzellenten Notisten gemacht. Er hörte Charlie-Parker-Platten und bewegte sich in Kreisen Gleichgesinnter, spielte bald mit Ronnie Scott, Alan Skidmore und Kenny Baker, mit dem er im Juli 1951 auch seine ersten Aufnahmen machte.

Die Baker Band hatte jede Menge Fans, und die Presse wurde schnell auf Hayes aufmerksam, der bald als “boy wonder tenorist” vermarktet wurde und, noch nicht einmal 20 Jahre alt, mit den Modernisten der britischen Jazzszene spielte. Mit 18 heiratete er zum ersten Mal, hatte schon zuvor alle möglichen Drogen ausprobiert. Er spielte in den populären Bands von Vic Lewis, Jack Parnell, Tony Hall und hatte schließlich auch mit seiner eigenen Band einen vollen Terminkalender.

Spillett beschreibt, wie britische Musiker in jenen Jahren das US-amerikanische Idiom des Hardbop gemeistert hatten, die Musik von Art Blakey und Horace Silver, und wie Kollegen wie Sonny Rollins oder Hank Mobley ihre stilistischen Spuren in Hayes’ Spiel hinterließen. 1958 traten Hayes’ Jazz Couriers neben dem Dave Brubeck Quartet bei einer Tournee durch sechzehn Städte des Vereinigten Königreichs auf; 1959 wurde Hayes vom Melody Maker zum besten Tenorsaxphonisten gewählt.

Andere Musiker hatten die Entwicklung des amerikanischen Jazz genauso interessiert mit verfolgt; und um 1960 kamen erste Versuche “freier Form” auch in England an. Joe Harriott war einer der ersten, die sich an freieren Spielweisen versuchten; Hayes aber blieb skeptisch. Die Eröffnung von Ronnie Scott’s, bis heute einem der wichtigsten Clubs des Königreichs, war sowohl für die Präsenz des amerikanischen Jazz in England wichtig als auch für das Selbstbewusstsein der eigenen Szene. Der BBC schnitt Konzerte mit, und Plattenfirmen widmeten dem heimischen Jazz eigene Alben. 1961 trat Hayes erstmals in New York auf, wo ihn die Größen des amerikanischen Jazz hörten, unter ihnen Zoot Sims, Al Cohn und Miles Davis. Zurück in England erhielt er einerseits eine eigene Fernsehshow, “Tubby Plays Hayes”, hörte er andererseits erstmals John Coltrane, der sein Bild von den Möglichkeiten im Jazz genau wie das vieler anderer Kollegen völlig veränderte.

Als Duke Ellington 1964 in England auftrat, jammte Hayes mit Bandmitgliedern und wurde vom Duke gebeten für Paul Gonsalves einzuspringen, als dieser unpässlich war. In den nächsten Jahren war Hayes international unterwegs, trat im New Yorker Half Note genauso auf wie beim NDR Jazz Workshop in Hamburg. Er arbeitete wie besessen, hatte zugleich gesundheitliche Rückschläge, darunter eine Thrombose, die auch seine Lungenfunktion herabgesetzt hatte.

Ende der 1960er Jahre hatte der britische Jazz zwei Probleme: die Macht der Rockmusik auf der einen Seite und das Verlangen des Publikums nach amerikanischen Künstlern auf der anderen Seite. Hayes erlitt auch persönliche Rückschläge, etwa als seine Freundin starb und er daraufhin noch stärker zu Drogen griff. Er musste wegen Herzproblemen immer häufiger in ärztliche Behandlung, begann aber trotz aller gesundheitlichen Probleme ein musikalisches Comeback. Er spielte mit Musikern der britischen Avantgarde, John Stevens, Trevor Watts, Kenny Wheeler, beteiligte sich bei einem Benefizkonzert für Alan Skidmore, der nach einem Autounfall im Krankenhaus lag, starb aber schließlich nach einer Operation, bei der eine Herzklappe ausgetauscht werden sollte.

“The Long Shadow” heißt das Buch, und so widmet Spillett sein letztes Kapitel der kritischen Aufbereitung seiner musikalischen Bedeutung nach seinem Tod sowie dem Nachwirken Hayes’ auf der britischen Szene. Er schließt mit einer Diskographie die Aufnahmen des Saxophonisten zwischen 1951 bis 1973 verzeichnet.

Simon Spillett hat viel Sorgfalt in seine Recherchen gesteckt. Nebenbei wirft er immer wieder aufschlussreiche Blicke auf die Musik selbst, auf die Aufnahmen, die Hayes’ musikalische Entwicklung dokumentieren. Wenn überhaupt, so mangelt es dem Buch insbesondere in diesem Segment an Tiefe, etwa an Erklärungen, wo sich Einflüsse, ästhetische Umbrüche und anderes konkret festmachen lassen. Eingehend aber beschreibt er den Lebensweg, die persönlichen Probleme, die musikalischen und ästhetischen Entscheidungen und zieht die Verbindungen zu den allgemeinen Entwicklungen des Jazz in Großbritannien, in Europa und in den Vereinigten Staaten. Spillett konnte mit Zeitzeugen sprechen und hatte Zugriff auf Hayes’ persönliche Papiere. Sein Buch ist eine definitive Biographie, die viele Fragen beantwortet und dabei im umfassenden Apparat all die Dokumente benennt, die für eine solche Arbeit notwendig sind.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Musiktraumzimmer Jazzcampus
herausgegeben von Peter Rüedi & Steff Rohrbach
Basel 2015 (Jazzcampus / Echtzeit Verlag)
212 Seiten, 32 Euro
ISBN: 978-3-905800-78-4

B2015rueediasels Jazzschule ist zum Jazzcampus geworden, zu einer Hochschule für improvisierte Musik, in der, wie der Titel dieses Buchs suggeriert, jede Menge an Träumen und Visionen wahrgeworden sind. Da ist zuallererst die Vision des Gründers und Gitarristen Bernhard Ley, der erzählt, wie er die Schule in den Räumen eines Jugendkulturzentrums gründete und wie er es dann durch pädagogisches wie politisches Geschick, aber auch durch das Talent der Vernetzung, das die Schule zum Teil des Basler Kulturlebens werden ließ, erreichte, sie zu einem Kompetenzzentrum zu machen, in dem der musikalische Gehalt, die Arbeit von Lehrenden und Schüler/innen, sich auch in der architektonischen Umsetzung spiegelt.

Davon nämlich handelt dieses Buch, vom glücklichen Unterfangen, auf den Grundrissen einer ehemaligen Maschinenfabrik eine Musikschule zu bauen mit all der für eine solche notwendigen Infrastruktur, Club, Konzertsaal, Tonstudio, Probenräume etc. Ein Musiktraumzimmer sei das ganze geworden, eine Raumrealisation also, die dem Thema “Jazz” angemessen sei. Mitgeholfen hätten alle, die Architekten Lukas Buol und Marco Zünd, der Bauherr Georg Hasler von der Stiftung Levedo sowie Bernhard Ley, der als Studiengangsleiter den zukünftig alltäglichen Gebrauch im Blick behielt. Das Gespräch mit diesen vieren erklärt Fragen der Akustik, Diskussionen im Planungsverlauf, die Außenwirkung genauso wie den inneren Glanz (sprich: Farben, Bodenbeläde, Beleuchtung).

Solch eine theoretische Diskussion lässt sich nur durch Fotos und Raumpläne in Buchform einfangen. Eigentlich gehört Musik dazu, noch wichtiger wäre der tatsächliche Raumeindruck, der aber in der Architektur immer noch einzig durch einen Besuch ermöglicht wird.

Um die tatsächliche musikalische und pädagogische Nutzung der Räume geht es im zweiten, noch umfassenderen Teil des Buchs: um Konzepte der Jazzpädagogik, persönliche Herangehensweisen an Musik, ästhetische Vorstellungen, die Rückwirkung von Unterricht auf die eigene Kunst der unterrichtenden Musiker.

Wolfgang Muthspiel etwa betont, wie wichtig es neben einem festen Lehrerstamm sei, großartige internationale Kollegen als Gastdozenten an die Schule zu holen. Andy Scherrer erzählt, wie er zum Unterrichten wie die Jungfrau zum Kind gekommen sei, und wie er trotz vieler Schüler immer eine gesunde Skepsis gegenüber des Unterrichtens beibehalten habe. Malcolm Braff erklärt, dass er nicht so sehr das Klavier denn vielmehr sich selbst als das wirkliche Instrument empfinde und wie er in den letzten Jahren eine rhythmische Theorie entwickelt habe, die auch Grundlage seines Unterrichts an der Hochschule sei. Lisette Spinnler versteht die Stimme als Instrument und Texte als Ausgangspunkt für musikalische Erkundungen. Adrian Mears plädiert auch beim Lernen für Spielpraxis, egal mit was für Besetzungen. Bänz Oester vertraut auf die Motivation zukünftiger Musiker/innen, auf die Verantwortung für das Selbst, das Eigene. Domenic Landolf mag sich weder verbiegen noch sonderlich in den Vordergrund spielen. Jorge Rossy spricht über die Standards als Basis und über seine Arbeit mit Carla Bley und Steve Swallow. Matthieu Michel überlegt, wie man als junger Musiker neben der Technik vor allem zu einer eigenen Stimme gelangt. Hans Feigenwinter sieht seine analytischen Fähigkeiten als eine Grundlage seines Musikmachens, zugleich aber die Musik auch als laufenden Ansporn, sie analytisch zu begreifen. Gregor Hilbe berichtet über die Bedeutung des Schlagzeugers in einer rhythmischen Kultur, und zugleich über die Idee des Producing / Performance-Studiengangs am Jazzcampus Basel. Daniel Dettmeister hatte die Chance, als Tonmeister selbst Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung des Aufnahmesaals der Hochschule. Mit Martin Lachmann kommt zum Schluss auch noch der Akustiker selbst zu Wort, der die Räume eingerichtet hat.

Eine bunte Abfolge von Interviews, Reflexionen und Fotos also, die sehr umfassend das Konzept klarmachen, dass hinter dem Jazzcampus Basel steckt: Freiräume schaffen und beste akustische Möglichkeiten. “Musiktraumzimmer Jazzcampus” ist damit zwar vordergründig eine in Buchform gepresste Imagebroschüre der Hochschule, zugleich aber erheblich mehr: ein Manifest für eine Jazzausbildung, in der Kunst und Wirklichkeit, Klang und Akustik, Pädagogik und Freiheit sinnvoll miteinander in Beziehung stehen.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Résume. Eine deutsche Jazz-Geschichte
von Eberhard Weber
Stuttgart 2015 (sagas.edition)
252 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-944660-04-2

2015weberDer Autor kommt gleich zur Sache: Der Leser wisse ja bereits, dass er, Eberhard Weber, gut 40 Jahre lang als Jazzbassist aktiv war, vielleicht auch, dass er seine aktive Karriere nach einem Schlaganfall 2007 beenden musste. Der Leser wisse wahrscheinlich etliches über seine Karriere, wahrscheinlich auch über den Jazz – was könne er dazu noch beitragen…? Nun, wenn überhaupt, dann könne er aus seinen eigenen Erinnerungen erzählen, sehr persönliche Geschichten, die sich um die Musik drehen, die aber auch sein ästhetisches Weltbild und vieles darüber hinaus berühren. Webers Buch wird so zu seinem “Resumé”. Und es mag vielleicht nicht “die” deutsche Jazzgeschichte sein, aber es ist auf jeden Fall, wie der Untertitel verspricht, “eine deutsche Jazz-Geschichte”, ein Beispiel dafür, wieso ein junger Mann zu dieser Musik kommt, was ihn über all die Jahrzehnte an ihr faszinierte und wie er lernte, in ihr sich selbst auszudrücken.

Eberhard Weber, dem musikalischen Geschichtenerzähler, gelingt der narrative Bogen auch in Worten. Bereits das Eingangskapitel, das vom “Schlag” handelt, der ihn kurz vor einem Konzert mit Jan Garbarek in der Berliner Philharmonie traf, von der Unsicherheit über seinen Gesundheitszustand, von der Hoffnung, wieder spielen zu können, zeigt seine erzählerischen, auch zur Selbstironie fähigen schriftstellerischen Qualitäten.

Im zweiten Kapitel widmet sich Weber seiner eigenen Vorstellung von Jazz. “Jazz”, schreibt er ironisch, doch nicht ganz falsch, “ist, wenn es der Komponist, der Arrangeur oder der ausführende Musiker dem Hörer so schwer wie möglich macht, der Musik zu folgen – und trotzdem alle Spaß daran haben. Das unterscheidet ihn von der vermeintlich ‘Neuen Musik’.” Doch neben dem Jazz als großer Kunst will Weber in diesem Kapitel auch seiner eigenen Ästhetik auf die Schliche kommen. Wiederholungen, erkennt er, langweilen ihn in der Regel; die Schlüsse von Stücken, findet er, misslingen meist. Er weiß, dass Solisten auch mal ohne Inspiration sein können und weiterspielen müssen. Er weiß auch um seine eigenen Schwächen als Bassist und beschreibt, wie man nur, wenn man um die technischen Probleme des eigenen Spiels oder des eigenen Instruments weiß, diese überkommen und kreativ mit ihnen umgehen könne.

Weber selbst wurde die Musik in die Wiege gelegt. Sein Vater, erzählt er, hatte als Cellist klassische Musik gemacht, daneben aber auch Cello und Banjo im Tanzorchester von Bernard Etté gespielt. Weber kam mitten im Krieg in Esslingen zur Welt. Seine Mutter sang, und “im häuslichen Weber’schen Freundeskreis”, erinnert er sich, “triumphierte Gesang über Instrumentales”– vielleicht eine Vorbereitung auf seine eigene sangliche Haltung beim Instrumentalspiel? Gehörbildung fand im Kinderzimmer statt, wenn seine Schwester und er Automarken am Klang unterschieden und dabei lernten zuzuhören und zu differenzieren. Ein Vetter quartierte sich nach der Kriegsgefangenschaft bei ihnen ein und begann Flöte zu lernen. Man diskutierte über Wagner und spielte Kammermusik. Weber bekam Cellounterricht, dann entdeckte er den Jazz und mit ihm wechselte er zum Kontrabass.

Im Jazz brachte er sich das meiste selbst bei, berichtet von ersten Bühnenerfahrungen, von Stuttgarter Jazzern wie Horst Fischer und Ernst Mosch, vom ersten Einsatz in Erwin Lehns Orchester als Vertretung für dessen regulären Bassisten. Seine musikalische Leidenschaft führte dazu, dass Weber durchs Abitur rasselte, eine Lehre als Fotograf begann und Kameraassistent bei einer Fernsehfirma wurde. Nebenbei spielte er mit gleichaltrigen Musikern, lernte Anfang der 1960er Wolfgang Dauner kennen und wurde bald Mitglied in dessen Trio. Er erzählt von den unterschiedlichsten Auftrittsorten zwischen Nachtclub, Café, Tanz und Ami-Kaserne, von Einflüssen auf sein Bassspiel, davon, wie das Dauner-Trio seinen eigenen Stil fand. Zwischendurch gibt es reichlich Anekdoten, aber auch Einblicke in die technischen Seiten seiner Kunst: Instrumentenwahl, Akustik, Pickups, Verstärker, elektronische Spielereien.

Ende der 1960er Jahre wandten Dauner und Weber sich freieren Spielweisen zu. Weber weiß um seine Beobachtungsgabe, weiß auch, dass er sich gern mal zur Polemik hinreißen lässt. Doch er besitzt eben auch die Erfahrung, Beobachtetes, insbesondere, wenn es um Musik geht, passend einordnen zu können. Und so mag man mit mancher polemischen Äußerung, die seinem eigenen musikalischen Geschmack zuzuschreiben ist, nicht übereinstimmen, wird aber an richtiger Stelle durch ein Augenzwinkern darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor zwar eine feste Meinung hat, sich selbst aber auch nicht immer ganz so ernst nimmt.

Weber stand in seiner Karriere bei zwei Plattenfirmen unter Vertrag, die Weltgeltung besaßen, Hans-Georg Brunner Schwers MPS und Manfred Eichers ECM. Er beschreibt die Arbeiten zu “The Colours of Chloë” und den folgenden internationalen Erfolg. Er erzählt vom Zusammenspiel mit Gary Burton, von den Unterschieden zwischen amerikanischen und europäischen Gepflogenheiten in der Jazzszene, von Tourneen mit seiner eigenen Band Colours, durch Deutschland – Ost und West –, die USA und Australien. Er berichtet von seiner Zusammenarbeit mit Jan Garbarek, mit dem er auch offizielle Empfänge spielte, bei denen Politiker, Botschafter, Bundespräsidenten, gekrönte Häupter begeistert waren, “endlich mal kein Streichquartett hören zu müssen”.

Eberhard Weber ist ein vielgereister Musiker. Seine Berichte von Zollformalitäten, Einreisebestimmungen, fasst verpassten Flügen und sonstigen Widrigkeiten sind amüsante Anekdoten, die vor Augen führen, dass das Musikerdasein nicht nur der aus musikalischer Kreativität besteht, die das Publikum erwartet und zumeist auch bekommt. Eine Professur für Musik hatte er nie annehmen wollen. Seine Begründung, die wie ein Tenor seine ungemein flüssige und lesenswerte Autobiographie beendet: “Ich kann nicht Bass spielen. Aber ich weiß, wie’s geht.”

Wolfram Knauer (Juni 2015)


Coltrane sur le Vif
von Luc Bouquet
Nantes 2015 (Lenka Lente)
146 Seiten, 13 Euro
ISBN: 978-2-9545845-8-4

2015bouquetDie Großen des Jazz waren zumeist auch die Meistaufgenommenen, und neben den offiziellen Einspielungen im Studio gehörten über die Jahre Bootlegs dazu, Schwarzpressungen von legalen oder illegalen Mitschnitten, die in mal besserer, mal schlechterer Qualität auf den Markt kamen. Solche Bootlegs haben naturgemäß keine Studioqualität; zum Teil sogar einen unsäglich schlechten Sound. Aber sie sind nicht nur für den Fan, sondern auch für den Experten ein immens wichtiger Teil der Aufnahmegeschichte dieser Musiker. Sie dokumentieren nicht die perfekte Abmischung, sondern den Alltag des Konzerts, in dem das Solo völlig anders klingen kann, in dem die Künstler mit dem Material oder auch mit sich selbst zu kämpfen haben, in dem mal bessere, mal schlechtere Fassungen der großen Titel erklingen, vergleichen mit den auf den im Studio gefertigten Referenzaufnahmen.

Luc Bouquet hatte im französischen Magazin Improjazz eine Reihe über die Liveaufnahmen John Coltranes veröffentlicht und diese jetzt in die zwölf Kapitel des vorliegenden Buchs einfließen lassen. Ein erstes Kapitel beschreibt Coltranes erste Aufnahmen aus dem Jahr 1946 sowie zwei Sessions mit Dizzy Gillespie bzw. Johnny Hodges. Kapitel 2 widmet sich den Jahren 1955-57 und Livemitschnitten mit Miles Davis, Kapitel 3 der Zeit von 1957-58 und den erst jüngst entdeckten und doch schon legendären Aufnahmen Coltranes mit dem Thelonious Monk Quartet. Zwei weitere Miles Davis-Kapitel schließen sich an, 1958-59 in den USA sowie 1960 in Europa, dann beginnt mit Kapitel 6 die Aufnahmegeschichte von Coltranes eigenen Bands: sein klassisches Quartett, Trane und Dolphy, die diversen Besetzungen von 1962, 1963, 1964-65 bis hin zu seiner letzten Liveaufnahme, dem “Olatunji”-Konzert vom April 1967. Jede der Platten wird mit Besetzungs- und Inhaltsangaben gelistet, dazu kommt eine kurze Beschreibung dessen, was auf ihr zu hören ist. Allzu tief versteigt sich Bouquet dabei weder in die Musik noch in die Begleitumstände der Aufnahmen – so wäre etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Entdeckungsgeschichte der Bänder von Tranes Carnegie-Hall-Konzerts mit Thelonious Monk durchaus berichtenswert gewesen.

Bouquets Buch ist als eine Art annotierte Diskographie der Liveaufnahmen John Coltranes ein nützliches Handbuch sowohl beim Hören wie auch bei der Entscheidungsfindung, was man sich vielleicht noch zulegen könnte.

Wolfram Knauer, April 2015Rencontres du jazz et de la musique contemporaine
herausgegeben von Jean-Michel Court & Ludovic Florin
Toulouse 2015 (Presses Universitaires du Midi)
184 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-2-8107-0374-6

Das vorliegende Buch ist die Dokumentation einer Tagung, die im Oktober 2013 in Toulouse stattfand und sich mit aktuellen Beziehungen zwischen Jazz und Zeitgenössischer (sogenannter “Neuer”) Musik beschäftigte. Im Vorwort stecken die beiden Herausgeber das Feld ab, das irgendwo zwischen Anthony Braxton und IRCAM-Experimenten angesiedelt ist und bei dem oft die Genrebezeichnung, ob “Jazz” oder “Neue Musik”, im Weg steht, da die Musik selbst solche Grenzen inzwischen gern und oft überschreitet.

Die Beiträge selbst sind theoretisch-musikwissenschaftlicher Natur. Im ersten Teil findet Vincenzo Caporaletti, dass die jüngere Entwicklung im Kunstmusikbereich neue wissenschaftliche Ansätze benötigt und stellt sein “principe autiotactile” vor, durch das sich sowohl für komponierte wie auch für improvisierte Musik die performativen Prozesse genauso analysieren ließen wie die ästhetischen Prozesse, die durch die Musik wie auch durch äußere, etwa mediale Einwirkungen mitbestimmt werden. Alexandre Pierrepont nähert sich der Frage, inwieweit die genre-spezifische Einordnung und Wertung von Musik aus den Bereichen europäischer klassischer Musik und des afro-amerikanischen Jazz nicht auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser zu Missverständnissen führt, wenn die Querverbindungen, die ja zwischen den Genres bestehen, oft und gern mit kulturellen Konnotationen versehen werden. Pierre Sauvanet betrachtet, wie das Moment der “Tradition” von Musikern im Jazz, der Neuen Musik und in tatsächlich “traditionellen” Musikrichtungen unterschiedlich behandelt wird.

Im zweiten Teil des Buchs geht es an konkrete Analysen. Pierre Fargeton befasst sich mit Franz Koglmanns langjähriger Auseinandersetzung mit dem Third Stream, der Neuen Musik und anderen Kunstrichtungen. Konkret untersucht er Koglmanns “Join!” eine “Oper” aus dem Jahr 2013 auf diverse Bezüge (1.) zum Jazz und (2.) zur Zeitgenössischen Musik. Martin Guerpin analysiert die Komposition “Unisono” des israelischen Komponisten Ofer Pelz und identifiziert darin insbesondere die Jazzverweise. Wataru Miyakawa untersucht das Werk des japanischen Komponisten Toru Takemitsu, in dem ihn vor allem der Einfluss des Lyrian Chromatic Concept von George Russell interessiert.

Im dritten Teil des Bandes berichtet der Gitarrist Frédéric Maurin darüber, wie er Methoden der Spektralmusik, die in den 1970er Jahren im Kreis der IRCAM in Paris entwickelt wurde, etwa für seine Band Ping Machine nutzbar macht. Cécile Auzolle untersucht das “Wintermärchen” des belgischen Komponisten Philippe Boesmans von 1999 und hat dabei Einflüsse aus dem jazz sowie improvisatorische Passagen im Fokus, die in der Oper vom Ensemble Aka Moon ausgeführt wurden. Henri Fourès hinterfragt die Begriffe Jazz, Zeitgenössische Musik, Komposition, Notation und Improvisation auf ihre Wertigkeit in der Hochschullehre. Zum Schluss berichten die Bassistin Joëlle Léandre, der Saxophonist Douglas Ewart und der Trompeter Mike Mantler über ihre eigenen Erfahrungen im Feld zwischen den Welten von Jazz und Neuer Musik.

“Rencontres du jazz et de la musique contemporaine” wirft ein Schlaglicht auf eine offenbar immer noch wichtige Diskussion in den beiden darin angesprochenen Welten. Der einleitende Überblick listet frühere Beschäftigungen mit dem Thema auf (hier fehlt allerdings der Band “Jazz und Komposition”, der das 2. Darmstädter Jazzforum von 1991 dokumentiert und in dem dieses Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet wurde). Sowohl in den allgemein theoretischen wie auch den konkreter praktischen Kapiteln fehlt ein wenig – aber das ist bei einer Tagung, die das nicht ausdrücklich zum Thema machte, vielleicht auch kaum zu leisten – die grundlegende Diskussion einer anders als aus dem europäischem Wissenschaftsdiskurs entstandenen Reflexion über Musik, eine Perspektive also, die sowohl Jazz wie auch die in europäischer Tradition stehende Neue Musik etwa aus dem Blickwinkel von Community, von Macht, von Geschlechterungleichheit oder ähnlichem betrachtet, sich dabei nicht auf die bestehenden meist europäisch gefärbten und genormten Diskurstraditionen einlässt, sondern mutig nach neuen sucht. Das von George Lewis und Benjamin Piekut 2016 herausgegebene Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies geht da einen anderen Weg, braucht, um das Thema abzudecken allerdings auch über 1000 Seiten.

Wolfram Knauer (März 2018)


Bunk Monk & Funk – and other attractions
von Anders Stefansen (& Jan Søttrup)
Kopenhagen 2012 (People’s Press)
248 Seiten, 249 Dänische Kronen
ISBN: 978-8771-37035-5

Anders Stefansen ist ein bisschen der Fritz Rau Dänemarks: ein Konzertveranstalter, der eher zufällig ins Geschäft kam, in den frühen 1960er Jahren für Norman Granz dessen Skandinavien-Tourneen organisierte (so wie dies Lippmann + Rau in Deutschland taten), später auch populärere Acts betreute, von den Beatles bis zu den Rolling Stones. In seiner Autobiographie erinnert sich Stefansen an die vielen Freundschaften zu Musikern, die er in seinem Berufsleben schließen konnte, an das Tourleben, an Probleme und ihre jeweilige Lösung, und an Begegnungen wie die mit John Coltrane, Andrés Segovia, Count Basie, Duke Ellington, Ben Webster, Cecil Taylor und vielen anderen. Er beleuchtet die Realitäten des Business, schwelgt aber vor allem in Erinnerungen. Wenn es dabei auch mehr um die Menschen geht als um die Musik, so ist die Lektüre seines Buchs dennoch erhellend nicht nur für diejenigen, die von seiner Arbeit als Konzertveranstalter profitierten, etwa weil sie selbst im Publikum saßen. Seine Anekdoten beleuchtet zugleich eine ungewöhnliche Karriere zwischen Musik und guter Küche (Stefansen eröffnete eines der ersten French Cuisine Restaurants in Dänemark). Und seine Anekdoten über Henry Miller, den er traf, als er den Film “Ruhige Tage in Clichy” produzierte, sind besondere Zugaben der Lektüre.

Wolfram Knauer (Januar 2018)


Fashion and Jazz. Dress, Identity and Subcultural Improvisation
von Alphonso D. McClendon
London 2015 (Bloomsbury Academic)
194 Seiten, 24,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-85785-127-7

Von den Banduniformen der Swingorchester über die Gardenie im Haar von Billie Holiday bis zu Wynton Marsalis’ in Brooks Brothers-Anzüge gekleidetes Lincoln Center Jazz Orchestra: Jazzmusiker waren immer auch Mode-Ikonen. Miles Davis mag diese Facette seines Bühnenlebens am stärksten ausgelebt haben, doch findet sich das Bewusstsein für die Bühnengarderobe durch die Jazzgeschichte. Als Art Blakey seiner Band in den 1970er Jahren für eine Weile erlaubte, in Straßenklamotten aufzutreten, war das eine Ausnahme. Er wie andere Musiker wussten, dass sie als afro-amerikanische Künstler Vorbildfunktion hatten.

Alphonso D. McClendon ist Modeforscher und hat sich in seinem Buch “Fashion and Jazz” dem Subtext der Musikergarderobe durch die Jazzgeschichte angenommen. Ihm ist wichtig, auf die gegenseitigen Einflüsse zwischen Jazz und Mode hinzuweisen, wie er gleich im ersten Kapitel deutlich macht, in dem er Parallelen und Einflusswege nennt, dass nämlich sowohl Mode wie auch Jazz auf ihre jeweilige Art und Weise vom Freiheit des Ausdrucks handeln. Es habe im Jazz durchaus eine “Sprache der Kleidung” gegeben, sagt er – will heißen: die Bühnenpräsentation hatte immer auch etwas zu bedeuten, und Kleidung habe zur visuellen Ästhetik von Jazzmusikern beigetragen, ob in der Performance auf der Bühne oder in Abbildungen.

Im zweiten Kapitel geht McClendon das Thema dann chronologisch an. Er beschreibt die Mode der Ragtime-Ära und der Bluesmusiker, die Bühnenkostüme von Swing-Musikern und die Selbstdarstellung der Bebopper, die zugleich “die Konstruktion eines subkulturellen Stils” gewesen sei, und stellt schließlich fest, das sowohl Mode wie auch Jazz ähnliche Perioden von Konformität (1900-1920), populärem Einfluss (1920-1940) und Widerstand (1940-1960) durchgemacht hätten.

Kapitel 3 diskutiert Momente “der Moderne” bzw. “des Modernen” und die Kommunikation beider durch Mode und Spielpraktiken im Jazz. Im vierten Kapitel beschreibt McClendon Strategien der Distinktion durch Jazz und Mode, um sich im fünften Kapitel etwa auf die Darstellung von Frauen und Männern in frühen Sheet-Music-Covers zu konzentrieren. Kapitel 6 diskutiert subversive Konnotationen, die sich etwa in Texten von Bluessängerinnen finden oder im Eingang von Jazzthemen in die Literatur oder den Film. Kapitel 7 ist überschrieben “Narcotics and Jazz: A Fashionable Addiction” und beschreibt unter anderem, wie elegante Kleidung auch helfen konnte ein Leben im Schatten der Drogensucht zu verschleiern. Kapitel 8 fokussiert auf Billie Holiday als Musik- wie Mode-Ikone; Kapitel 9 beschreibt Duke Ellington und Benny Carter als “traditionellen Dandy” sowie Dizzy Gillespie und Gerry Mulligan als “modernen Dandy” und blickt kurz darauf, wie amerikanische Präsidenten wie Bill Clinton und Barack Obama ihre Nähe zum Jazz als Imagefaktor ausnutzten.

McClendons Buch reicht leider nur bis ins Jahr 1960 und verpasst damit die politische Garderobe von Dashikis, schwarzen Lederjacken oder soul-beeinflusster Hipstermode der 1960er und 1970er Jahre, thematisiert also auch nicht die Rückkehr zur ordentlichen Garderobe mit Aufkommen der Young Lions der 1980er Jahre. Er thematisiert damit weder die modetechnische Annäherung zwischen den Genres, etwa in Richtung Rock oder auch Neue Musik, noch die Unterschiede etwa in im Modeverhalten amerikanischer und europäischer Musiker. Doch gelingt ihm in diesem eigentlich auf der Hand liegenden und doch so ganz anderen Blick auf Jazzgeschichte eine Perspektive, die Aufschluss über Imagebildung, Selbstverständnis der Künstler und die gegenseitige Beeinflussung von Image und künstlerischem Anspruch erlaubt. Etliche Bilder, eine ausführliche Bibliographie und ein Namensindex schließen das Buch ab.

Wolfram Knauer (August 2017)


Sales Rectangles. Daunik Lazro. Vieux Carré
von Guillaume Belhomme
Nantes 2015 (Lenka Lente)
44 Seiten, 1 Mini-CD, 9 Euro
ISBN: 978-2-9545845-9-1

Am 21. Mai 2011 spielte der Saxophonist Daunik Lazro ein inspiriertes unbegleitetes Solokonzert in einen Buchladen in Rouen. Guillaume Belhomme versucht die Stimmung des Konzerts einzufangen, indem er eines der Stücke Lazros, eine lange Improvisation über Joe McPhees “Vieux Carré” mit kurzen Blicken in die Bücher, die um ihn herum stehen und liegen, verbindet. Seine knappen, aus jeweils nicht mehr als einem Satz bestehenden Kommentare lassen sich den diesen Büchern allerdings erst zuweisen, wenn man sie anhand der im Büchlein abgedruckten Barcodes (bzw. die diesen beigefügten ISBN-Nummern) sucht. Und tatsächlich gelingt es Belhomme dabei ein wenig, jene Stimmung eines Konzerts im Buchladen einzufangen, bei dem die Konzentration auf die Musik von den Blicken zu und in die Bücher, von der Wahrnehmung der Atmosphäre, von kurzen Reflektionen darüber, was man da aufblättert, während man zugleich zuhört, unterbrochen, aber durchaus auch bereichert wird. Ein ungewöhnliches, durchaus inspirierendes Experiment, das den Leser / Hörer quasi subkutan auf die Komplexität der Wahrnehmung von Musik aufmerksam macht.

Wolfram Knauer (März 2017)


Spirits Rejoice! Jazz and American Religion
von Jason C. Bivins
New York 2015 (Oxford University Press)
369 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-023091-3

Jazz und Spiritualität sind für viele Musiker eine zusammenhängende Einheit. Duke Ellington, John Coltrane, Albert Ayler, Rahsaan Roland Kirk, Yusef Lateef, Anthony Braxton – die Liste der Musiker, für die ihre musikalische immer auch eine spirituelle Suche war, ist lang. Der Religionswissenschaftler und Jazzgitarrist Jason Bivins beleuchtet in seinem Buch dieses Verhältnis zwischen Religion und Musik anhand zahlreicher Beispiele und legt, gerade weil er seine Studien aus der Perspektive eines Religionsforschers und mit dem Wissen eines Jazzers macht, ein wichtiges Buch vor, in dem das Thema weit fundierter angegangen wird als in vielen Biographien der bereits genannten Musiker.

In seinen “ersten Meditationen” zum Thema stellt Bivins fest, dass Jazz genauso wie Religion in ihrer jeweiligen Individualität der Wahrnehmung schwer fassbare Gebilde seien. Er weiß um die ganz unterschiedlichen Ausprägungen des Religiösen oder Spirituellen gerade in der Musik, die irgendwo zwischen Ritual und Weltforschung liegt. Er fragt, wie sich das spirituelle Umfeld, aus dem Musik heraus initiiert oder rezipiert wird, auf die Musik selbst auswirkt. Er befasst sich mit konkreten Traditionen, auf die Jazz sich immer wieder bezog. Er betrachtet Beispiele, in denen mit Jazz amerikanische Geschichte genauso wie religiöse Aspekte derselben dargestellt werden. Er befasst sich mit Jazz in religiös-musikalischer Praxis. Er hinterfragt das Klischee von Jazz als rituelle oder heilende Praxis. Er diskutiert Verweise im Jazz auf Mystizismus, Selbstlosigkeit, die klangliche Verbindung zu einem höheren Wesen. Es untersucht Kosmologien und metaphysische Theorien im Jazz. Er will damit nicht nur Aspekte der Jazzgeschichte durch ihre Verankerung in religiösen Praktiken erklären helfen, sondern zugleich die Religionsgeschichte in den USA seit den 1920er Jahren mithilfe ihres Widerhalls im Jazz beleuchten.

Bivins geht dabei weder chronologisch vor noch versucht er seine Thesen an zentralen Figuren festzumachen, wenn es auch an konkreten Beispielen nicht mangelt in seinem Buch. Natürlich spielt der Einfluss der schwarzen Kirche auf viele afro-amerikanischen Musiker eine wichtige Rolle. Er beschreibt das Zeugnis ablegende (“testifyin'”) Tenorsaxophonspiel Albert Aylers. Er findet Spiritualität in Charles Gayles Bühnen- genauso wie Straßenmusikauftritten. Er fragt nach den Gründen von Jazzmusikern zum Islam, zum Buddhismus, zum Bahá’í, zur Scientology zu konvertieren und ihre Reflektion über die jeweilige religiöse Praxis und ihre Auswirkung auf ihre Musik. Er befasst sich mit den Ausprägungen des “Radical Jewish jazz” und mit der Idee einer imaginären Folklore in den Vereinigten Staaten.

Er beschäftigt sich mit Beispielen, in denen Jazzmusiker bzw. ihre Werke religiöse Geschichte erzählen und verwebt dabei eng religiöse und politische Aussagen, etwa in den Aufnahmen von Charles Mingus, Archie Shepp, Max Roach und Abbey Lincoln. Auch der Saxophonist Fred Ho und sein Einsatz für einen Asian American Jazz kommen zur Sprache sowie Sun Ras Verweise auf weltumspannende Verbindungen, die weit über den Planeten Erde hinausreichen. Er geht auf Ellingtons “Sacred Concerts” ein und widmet eine längere Passage John Carters Komposition “Roots and Folklore”, die, wie er findet, ein würdiger Träger des Pulitzer Preises gewesen wäre, den Wynton Marsalis später für sein Oratorium “Blood On the Fields” erhielt.

Er entdeckt im Bemühen von Musikern seit den 1950er Jahren sich zu organisieren neben den politischen auch spirituelle Gründe, wie er etwa am Beispiel der AACM und der Black Artists Group zeigt. Die von Horace Tapscott gegründete Underground Musicians Association, die Saint John Coltrane African Orthodox Church und Alice Coltranes Ashram sind für ihn konkrete Beispiele, wie Jazz als spirituell-religiöses Ritual gelebt und zelebriert werden kann.

Im zweiten Teil seines Buchs beschäftigt sich Bivins mit den engen Verbindungen zwischen Ritual und Improvisation, nennt Beispiele aus dem Schaffen von Duke Ellington, Mary Lou Williams, Milford Graves, Cecil Taylor, bezieht sich aber auch auf das Feld des afro-kubanischen Jazz, auf Steve Colemans Studien zur Yoruba-Kultur und auf die Musik des Art Ensembles of Chicago.

Ein eigenes Kapitel befasst sich mit Meditation und Mystizismus und verweist dabei auf Musiker wie Steve Lacy, Arthur Blythe, William Parker und Davis S. Ware. Ornette Colemans Harmolodics und George Russells Lydian Chromatic Concept werden von Bivins nicht allein als musiktheoretische Abhandlungen verstanden, sondern als Beispiel für kosmologische und metaphysische Versuche Jazz, Improvisation, ja Musik ganz allgemein zu fassen. In dieses Kapitel gehören auch Anthony Braxtons Tri-Axium-System und Wadada Leo Smith’ Ankhrasmation.

In seinem Schlusskapitel stellt Bivins dann noch einmal klar, dass die Auseinandersetzung mit Jazz oder mit Religion notwendigerweise eine fragmentarische sein muss, dass beide Praktiken ein Versuch sind, sich der Komplexität der Welt zu nähern, unsere eigene Sicht aber immer durch das geprägt ist, was wir bereits “wissen”. Für einige sei Musik wie Religion, weiß er, das aber beinhalte weit mehr als die pure Hingabe. Wie die Religion in amerikanische (und weltweiter) Geschichte, habe auch die Musik subversive Funktionen gehabt, habe Einfluss auf die Wahrnehmung der Realität genommen und diese damit ändern können.

Bivins’ Entscheidung, keine klar strukturierte Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Jazz und verschiedenen Ausprägungen von Spiritualität zu wählen, sondern stattdessen Themen zu identifizieren und von verschiedenen Seiten zu beleuchten, führt dazu, dass man auch als Leser die Vorstellung von Religion, Spiritualität, Ritual weiter fasst. Wo man zu Beginn der Lektüre von der sehr offenen Fassung der Begriffe noch ein wenig irritiert sein mag, da ist man dem Autor am Ende genau dafür dankbar, da er es schafft, auch beim Lesen die schnellen Analogien zu vermeiden. Bivins gelingt es, diesen offenen Geist in seine Leser zu übertragen – für den europäischen Leser dann auch in Richtung all der Themen, die sich hierzulande in die verschieden Kapitel einflechten ließen.

Wolfram Knauer (März 2017)


Omniverse Sun Ra
von Hartmut Geerken & Chris Trent
Wartaweil 2015 (Waitawhile Books / Art Yard)
304 Seiten, 69 Euro
ISBN: 978-0-9933514-0-2

Von 1994 stammt das damals im LP-Schallplattenformat veröffentlichte, von Hartmut Geerken und Bernhard Hefele herausgegebene Buch “Omniverse Sun Ra”. Jetzt erschien eine Neuauflage dieses Werks, das das Universum des Meisters aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben versucht.

Geerken war in den 1960er bis 1980er Jahren Institutsleiter verschiedener Goethe-Institute. Als Perkussionist hat er daneben mit zahlreichen Musikern vor allem aus dem Bereich der improvisierten Musik zusammengearbeitet. In Jazzkreisen ist er dabei insbesondere als Kenner des Oeuvres Sun Ras bekannt und war für Konzerte des Arkestra verantwortlich, etwa 1971 in Kairo, wo er seinerzeit fürs Goethe-Institut wirkte. Sein Buch von 1994 war eine kleine Sensation für die Aufarbeitung des Ra’schen Oeuvres; die Neuauflage ist nicht weniger willkommen.

Was übernommen wurde: Amiri Baraka beginnt das coffeetable-große Buch mit einem einleitenden, sehr persönlichen Text über den Meister. Robert Campbell erzählt die irdische Biographie Herman Blounts von seiner Geburt in Birmingham, Alabama, im Jahr 1914 bis zu seinem Tod im Mai 1993 und ordnet zugleich die verschiedenen Besetzungen und musikalischen Phasen seines Schaffens zu. Sigrid Hauff untersucht die mythologische und spirituelle Welt, die Sun Ra musikalisch genauso wie in Texten oder Interviews heraufzubeschwören versuchte. Chris Cutler ordnet sein musikalisches Schaffen in den größeren Kontext von Jazz und afro-amerikanischer Musikgeschichte ein. Robert Lax versammelt mehr oder weniger unzusammenhängende Gesprächsfetzen, Bonmots und Aphorismen des Pianisten, Komponisten, Bandleaders und spirituellen Philosophen. Salah Ragab berichtet über Konzerte des Arkestra in Ägypten in den Jahren 1983 und 1984. Karlheinz Kessler hinterfragt die Verwendung von Ritualen in den Performances der Band. Gabi Geist schreibt ein Horoskop für jemanden, der immer sagte, dass sein Geburtstag und -ort höchstens irdisch seien, tatsächlich aber seiner Herkunft nicht gerecht würden. Hartmut Geerken schließlich erinnert sich an den Besuch des Arkestra in Ägypten im Dezember 1971. Zwischendrin finden sich zahlreiche Fotos, viele davon von der britischen Fotografin Val Wilmer.

Was neu ist: Ein Text Bernhard Helefes entfällt in der Neuauflage. Den ausführlichen diskographischen Teil des Buchs hat Chris Trent neu geordnet. Wieder gibt es einen umfangreichen Bildteil, der die Plattencovers zeigt.

“Omniverse Sun Ra” war schon in der ersten Ausgabe von 1994 eine labor of love. Die neue Ausgabe hat einen Hardcover-Einband, ein etwas handlicheres Format, einen Block mit Farbfotos der Band, die im früheren Buch nicht enthalten waren. Es verzichtet auf die Tapeologogy, also die Auflistung oft privater Konzertmitschnitte, sowie auf die ausführliche Bibliographie der früheren Ausgabe.

“Omniverse Sun Ra” bleibt bei alledem ein großartiges Buch, das in Wort, Bild und Tonträgerverweisen als hervorragendes Nachschlagewerk über die Welt und Weltsicht Sun Ras genauso zu nutzen ist wie als eine Dokumentation, in der auch “Nachgeborenen” die Bühnenperformance des Arkestra vor Augen geführt wird.

Wolfram Knauer (März 2017)


A City Called Heaven. Chicago and the Birth of Gospel Music
von Robert M. Marovich
Urbana/IL 2015 (University of Illinois Press)
488Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08069-2

Gospelmusik, erklärt Robert Marovich, Rundfunkmoderator, Herausgeber des Journal of Gospel Music und Musikhistoriker, sei die künstlerische Antwort auf die Great Migration gewesen, in der tausende und abertausende Afro-Amerikaner zu Beginn des 20sten Jahrhunderts aus den Südstaaten in den Norden zogen und insbesondere in Städten wie Chicago ein neues Zuhause fanden. Blues, sagte Mahalia Jackson einmal, seien Lieder der Verzweiflung gewesen, Gospel dagegen Lieder der Hoffnung. Das Genre, erklärt Makovich in seinem Buch, das sich auf die Verankerung der Musik im Chicago des 20sten Jahrhunderts fokussiert, sei wie eine soziale Organisation organisiert gewesen, die jeden, egal wie gut er oder sie singen konnte, willkommen geheißen hätte.

In seinem Buch beschreibt Marovich die Entwicklung der Gospelmusik von frühen Hymnen und Camp Meetings über die beschriebene Great Migration und die lebendige Gospelszene von Chicago bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sounds, Rhythmen und der Enthusiasmus dieser Musik Eingang in die Popmusik fanden und schließlich zur Begleitmusik der Bürgerrechtsbewegung wurden. Er greift auf Interviews und selten ausgewertete historische Quellen zurück, um die Einbettung der Musik in die Community zu beschreiben; er entdeckt die Bedeutung von Predigern, deren eindringliche Sermons ab den 1920er Jahren ja sogar auf Schallplatte veröffentlicht wurden; er berichtet von frühen Aufnahmen für das noch junge Radio genauso wie für die aufstrebende Plattenindustrie. Er geht auf weithin bekannte Gospel-Künstler ein, Thomas A. Dorsey etwa oder Mahalia Jackson, genauso aber auch auf weniger, oft nur lokal bekannte Musikerinnen und Musiker. Er weiß um die Hintergründe der Gospeltourneen, die in den 1930er Jahren große Erfolge feierten, und er beschreibt die Entwicklung des Gospelquartetts über die Jahre.

Die Zuwanderung nach Chicago aus dem Süden hielt bis in die 1940er Jahre an und vermittelte der Gospelmusik damit über lange Jahre jene wichtige Funktion des Haltgebens in der Fremde. Radio- und frühe Fernsehshows nahmen sich des Genres an, und immer mehr wurde Gospel auch zu einem kommerziellen Produkt. In seiner Übersicht über die verschiedenen Stränge des Genres kennt Marovich alle Solisten, Bands, Quartette und Chöre und beschreibt sowohl ihre Einbindung in die örtliche kirchliche Gemeinschaft wie auch ihr sehr unterschiedliches Verhältnis zur Plattenindustrie. Mitte der 1950er Jahre fiel der Gospelmusik schließlich eine neue Rolle zu, als Mahalia Jackson zu einer glühenden Vertreterin des Civil Rights Movement und einer engen Verbündeten Dr. Martin Luther Kings wurde.

Die große Zeit des Gospel war mit dem Tode Mahalia Jacksons und Roberta Martins vorbei; und hier endet auch Marovichs Buch, mit einem nur kurzen Ausblick auf die Gegenwart. “A City Called Heaven” ist ungemein detailreich, dadurch stellenweise etwas mühsam zu lesen, aber durch einen umfangreich aufgeschlüsselten Index ein gutes Nachschlagewerk zum Thema. Marovich zeigt anhand der Gospelmusik in Chicago, wie sich sich Genre- und Stadtgeschichtsschreibung miteinander verbinden lassen, weil die Nöte und Zwänge des Lebens in der Großstadt letztlich die Entwicklung einer Musik als spirituelles Gegengewicht befördert haben.

Wolfram Knauer (Januar 2017)


La Nuée. L’AACM: un jeu de société musicale
von Alexandre Pierrepont
Marseille 2015 (Éditions Parenthèses)
443 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-2-86364-669-4

2008 veröffentlichte George E. Lewis sein Buch “A Power Stronger Than Itself. The AACM and American Experimental Music”, das die musikalische und ästhetische Welt der Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago seit den 1960er Jahren aus der Ecke einer “nur” afro-amerikanischen Avantgarde holte und zeigte, wie sehr die darin Aktiven Teil eines generellen und weit über Amerika hinausreichenden künstlerischen Diskurses waren und sind.

Im Vorwort seines Buchs über die AACM schildert Alexandre Pierrepont, wie es dazu kam, dass er sich als Anthropologe entschied, eine Studie zur AACM zu schreiben, wie er mittendrin von Lewis’ Arbeit erfuhr und sofort bereit war, mit seinem eigenen Projekt zurückzustecken. Lewis aber habe ihn zum Weitermachen ermutigt: Sein Buch sei eine Innenansicht, so Lewis, ein so komplexes Thema aber brauche immer mehrere Perspektiven, und Pierreponts Arbeit könne vielleicht eine sinnvolle Außenansicht bieten. Und so ist mit “La Nuée” (“Der Schwarm”) jetzt ein zweites umfangreiches Buch auf dem Markt, das die AACM von den 1960er Jahren bis heute als einen künstlerische Ansatz beschreibt, der weit über die erklingende oder auf Tonträgern dokumentierte Musik hinausreicht, vor allem nämlich in den daran beteiligten Akteuren ein Selbstbewusstsein geschaffen hat, das sie weit über den Kreis des Jazz, der afro-amerikanischen oder sogar der amerikanischen Musik hinaus einordnen lässt.

Pierrepont präsentiert im ersten Kapitel 25 Gründe warum, und Erklärungen wie Afro-Amerikaner in den USA ausgegrenzt oder marginalisiert wurden. Er zeigt, dass Musik gerade in diesem Zusammenhang wichtige soziale Funktionen übernahm. Er schildert die Situation in Chicago und erklärt, wie sich hier ab den 1950er Jahren eine aktive experimentelle Musikszene herausbildete. Im zweiten Kapitel beschreibt er die Idee hinter der AACM, die unterschiedlichen Ensembles und Projekte, die aus dem Kreis der Musiker entstanden, die europäische Erfahrung von Mitgliedern etwa des Art Ensemble of Chicago zwischen den Jahren 1969 und 1974, die Verbindungen zwischen der Chicagoer und der New Yorker Avantgarde-Szene ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre (die viel damit zu tun hatte, dass etliche Chicagoer Musiker inzwischen an die Ostküste umgezogen waren), sowie den Einfluss der AACM und ihres Konzepts auf europäische Improvisations-Kollektive.

Im dritten Kapitel untersucht Pierrepont die AACM als Kooperative und Verein, als Geheimbund und Brüderschaft, als sozio-musikalische Bewegung und Weltschule, beschreibt ihre formale Organisation, aber auch die “respectful anarchy”, die sich aus ihren Verbindungen etwa zum Black Arts Movement und anderen auch politisch aktiven Organisationen ergaben. Dabei sei sie bis heute eine Vereinigung afro-amerikanischer Musiker geblieben. Egal ob in Tongebung, Improvisation oder Komposition sei eines der verbindenden Merkmale der aus der AACM entstandenen Musik zum einen die Betonung von Individualität, zum zweiten aber auch das Einbringen des Subjekts in kollektive Prozesse. Pierrepont beschreibt pädagogische Konzepte, die sich aus den Schulprojekten der Association ergaben, und umreißt musikalische als soziale Verbindungen und die daraus resultierenden Gruppenzugehörigkeits-Prozesse. Im vierten Kapitel beschreibt er die Offenheit der AACM-Mitglieder gegenüber Genre, kompositorischen und improvisatorischen Experimenten, der Verwendung und Aneignung im Jazz bislang eher unüblicher Instrumente, der Weiterentwicklung elektronischer Klang- (und musikalischer Reaktions)möglichkeiten, sowie der Arbeit im Solo- und großorchestralen Kontext. Das Art Ensemble of Chicago warb mit dem Slogan “Ancient to the Future”, und in dieser Haltung, dass die Formung jedweder (künstlerischen) Zukunft sich auf die eigene Interpretation der Vergangenheit beziehe, sieht Pierrepont eines der Geheimnisse hinter der Langlebigkeit der AACM als Organisation. “Ich ziehe die Mythokratie der Demokratie vor”, zitiert er Sun Ra. “Noch vor der Geschichte. Alles vor der Geschichte sind Mythen… Das ist der Ort, an dem die Schwarzen sind. Realität ist gleich Tod, weil alles, was real ist, einen Anfang und ein Ende hat. Die Mythen sprechen vom Unmöglichen, von Unsterblichkeit. Und da alles Mögliche bereits versucht wurde, müssen wir eben das Unmögliche versuchen.”

Alexandre Pierreponts Studie zur AACM bietet eine gelungene Interpretation dessen, wofür die Association for the Advancement of Creative Musicians stand und steht, eine Einordnung ästhetischer wie gesellschaftlicher Vorstellungen und Aktivitäten aus der Gruppe, und den Versuch, das alles in Verbindung zu bringen mit ästhetischen, kritischen, philosophischen und spirituellen Aspekten, die weit über die Arbeit der AACM-Mitglieder hinausgehen. Ihm ist dabei, in Gesprächen mit Musikern, in den Beschreibungen von Konzert- und Aktionssituationen, in der historischen genauso wie der anthropologischen Einordnung all dessen ein kluges Buch gelungen, das die Rolle der AACM im Jazz genauso zu verorten in der Lage ist wie in der aktuellen Musik des 20sten (und letzten Endes auch 21.) Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Jazz Tales from Jazz Legends. Oral Histories from the Fillius Jazz Archive at Hamilton College
Von Monk Rowe (& Romy Britell)
Rochester 2015 (Richard W. Couper Press)
209 Seiten, 20 US-Dollar
ISBN: 978-1-937370-17-6

Das Hamilton College ist eine relativ kleine Hochschule in Clinton, New York. Einer ihrer Absolventen, Milt Fillius Jr., zog nach seinem Diplom ans andere Ende des Landes, nach San Diego, hielt aber Kontakt zu seiner Alma Mater. Er liebte Jazz und er war ein guter Freund des Sängers Joe Williams, der 1988 die erste Ehrendoktorwürde des Hamilton College erhielt. Im Gespräch mit Williams und dem Bassisten Milt Hinton wurde Fillius bewusst, wie viel an Wissen über den Jazz tatsächlich nur in der Erinnerung der Musiker bewahrt und wie wichtig Oral History gerade in diesem Bereich ist. Er etablierte also ein umfassendes Interview-Projekt, für das mittlerweile weit über 300 Künstler/innen in Ton und Bild festgehalten wurden. Die Interviews, von denen viele der Hamilton-Archivar Monk Rowe selbst durchführte, dokumentieren die Welt des Swing genauso wie die des modernen Jazz. Die meisten dieser Erinnerungen sind auf der Website des Hamilton College nachzulesen; eine für die Jazzforschung ungemein hilfreiche Sammlung. Es handelt sich bei den Interviewten nicht unbedingt um die großen Stars der Jazzgeschichte, obwohl etwa mit Lionel Hampton, Nat Adderley, Herbie Hancock, James Moody, Oscar Peterson, Ruth Brown und anderen auch solche vertreten sind. Viele der Musikererinnerungen stammen stattdessen von Sidemen, die über ihre Zeit in den großen Bands berichten, über das Leben “on the road”, über die alltäglichen Probleme eines reisenden Musikers, über Rassismus und vieles mehr

In “Jazz Tales from Jazz Legends” zeigt Monk Rowe, was man aus diesen Interviews so alles lernen kann. Er filtert konkrete Themen heraus, für die er dann die verschiedenen Erfahrungen der Interviewten gegenüberstellt. Das Anfangskapitel widmet sich Joe Williams, dann folgt ein Abschnitt über das Schicksal der Sidemen bei Duke Ellington, Count Basie, Benny Goodman und in anderen Bigbands. Clark Terry erzählt etwa, wie der Duke ihn bei Basie abwarb, erinnert außerdem, was er bei beiden Bandleadern lernte, und Benny Powell weiß zu berichten, dass Basie ihm in den zwölf Jahren in der Band nie förmlich bestätigt habe, dass er engagiert sei. Im Kapitel “Road Travails” erzählen Eddie Bert von seiner Zeit bei Benny Goodman, Sonnie Igoe von einer Tournee mit Woody Herman, Bucky Pizzarelli vom Reisen mit dem Vaugn Monroe Orchestra, Jay McShann vom Problem mit schlechten Klavieren “on the road”, Jimmy Lewis von einem angst-machenden Flug mit der Basie-Band, Kenny Davern vom Stress, die 60 One-Nighters in 90 Tagen erzeugen können, Lanny Morgan darüber, dass die Gage oft von Hotel- und Reisekosten aufgefressen wurde, die die Musiker aus eigener Tasche zahlen mussten. “Arranging the Notes” heißt ein weiteres Kapitel, das sich mit den Ansprüchen an die Arrangeure der Bands befasst. Dick Hyman, Mike Abene, Bill Holman, Derrick Gardner, Ray Conniff, Manny Albam erzählen darin von der Arbeit eines Bandarrangeurs genauso wie von den Anforderungen an andere Arten von Musik, etwa für Hollywood; Lew Soloff erinnert sich an die Arrangements für Blood Sweat & Tears, und Dave Rivello und Maria Schneider geben einen Ausblick darauf, wie die Arbeit eines Arrangeurs im 21sten Jahrhundert funktioniert.

“Inside the Studio” ist ein Kapitel über Aufnahmeerfahrungen überschrieben, in dem sich Doc Cheatham an seine erste Platte mit Ma Raney erinnert, Richard Wyands einen typischen Aufnahmegig aus dem Jahr 1959 beschreibt, Orrin Keepnews erzählt, was Musikern für Aufnahmesitzungen üblicherweise bezahlt wurde, und Dick Hyman und Derek Smith verraten, dass sie sich natürlich auch mit Musik für Fernsehwerbung über Wasser halten mussten. Man müsse nicht alles mögen, was da im Studio produziert werde, erklärt Hyman, man müsse sich aber anstrengen, das, was von einem gefordert werde, möglichst gut zu spielen. Rassismus war für viele der interviewten Musiker ein täglich erlebtes Thema, und im Kapitel “The Color of Jazz” kommt auch dies zur Sprache. Clark Terry und Joe Williams haben genügend eigene Erlebnisse; Sonny Igoe erzählt, wie er auf einer Tournee durch den Süden, bei der er im Bus mit dem Art Tatum Trio mitreiste, als “White Trash” angepöbelt und aufgefordert wurde, er solle den Bus gefälligst verlassen. Louie Bellson und Red Rodney haben ähnliche Erinnerungen, und Frank Foster fasst zusammen, dass der Jazz zwar aus der schwarzen Erfahrung heraus geboren worden sei, dass der Melting Pot Amerika ihn aber schon seit langem zu einer amerikanischen, wenn nicht gar globalen Musik gemacht habe.

Im Kapitel “Thoughts on Improvisation” geben Marian McPartland, Clark Terry, Bill Charlap, Charles McPherson und andere Tipps, wie man sich der Improvisation nähern könne. Ken Peplowski fasst zusammen: “Lern es, dann vergiss es wieder!”, und Randy Sandke reflektiert, was während eines Solos so alles durch seinen Kopf ginge. Schließlich äußern sich Gary Smulyan, Ralph Lalama und Jan Weber über die Möglichkeit und die Chancen “falscher Töne” im Jazz. “Motivation and Inspiration” ist ein Kapitel überschrieben, das Erinnerungen an persönliche Einflüsse beinhaltet. Keter Betts etwas erzählt, dass er als Schlagzeuger begonnen habe und durch Milt Hinton (und reichlich Zufall) zum Bass gekommen sei. John Pizzarelli kam über die Beatles zur Gitarre, Kenny Davern übers Radio bei einer der Pflegefamilien, bei denen er aufwuchs, bis er sechs Jahre alt war, und auch Junior Mance war von Earl Hines begeistert, dem er spätabends heimlich im Radio lauschte. Jon Hendricks berichtet, wie er dazu kam, improvisierte Instrumentalsoli zu textieren. Und Eiji Kitamura erinnert sich, wie eine Platte von Benny Goodman in der Sammlung seines Vaters ihn zur Klarinette brachte. Schließlich gibt es im Schlusskapitel noch ein paar Haltungen zum Phänomen des Swing und zum Missverständnis des Free Jazz sowie Erinnerungen an unglücklich gelaufene Engagements und über die Arbeit mit Legenden.

“Jazz Tales from Jazz Legends” ist also ein vielfältiges Buch, das jede Menge unterschiedlicher Erfahrungen zusammenbringt. Zu Beginn der Lektüre wünscht man sich, die einzelnen Interviews im Zusammenhang zu lesen, aber das ist ja tatsächlich möglich, über die Website des Fillius Jazz Archive am Hamilton College. Und so sollte man Monk Rowes thematische Zusammenstellung als das sehen, was sie ist: ein exzellentes Beispiel, wie sich aus den gesammelten Interviews am Hamilton College Narrative zu den unterschiedlichsten Themengebieten der Jazzgeschichte exzerpieren lassen. Dann lässt sich umso interessanter verfolgen, wie die Interviews sich gegenseitig ergänzen und die unabhängig voneinander Befragten dabei fast miteinander ins Gespräch zu kommen scheinen.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Swingin’ On Central Avenue. African American Jazz in Los Angeles
von Peter Vacher
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
331 Seiten, 55 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8832-6

2015vacherJazzgeschichtsschreibung funktioniert normalerweise so: Louis Armstrong – Charlie Parker – Miles Davis – John Coltrane. Oder so: New Orleans – Chicago – Kansas City – New York. Oder so: Dixieland – Swing – Bebop – Cool Jazz – Hard Bop – Free Jazz – Fusion. Personen, Orte, Epochen… eine Geschichte der großen Männer (!), der lebendigen urbanen Szenen, der alles umwälzenden stilistischen Innovationen. Tatsächlich aber ist dieser Blick auf die Größen, die Zentren, die Stilbegriffe enorm einengend, wenn nicht gar: einfach nur falsch. Neben den großen Stilisten gibt es immer auch diejenigen, deren Kreativität entweder nicht den großen populären Erfolg hatte oder aber nicht lange genug anhielt, oder die sich einfach weniger gut “verkaufen” konnten. Neben den jazzgeschichtsmäßig bekannten Zentren gab es Städte und Landstriche, die musikalisch enorm lebendig waren, viele Musiker hervorbrachten, aber von der Geschichtsschreibung höchstens als potentielle Spielorte, nicht als Brutstätten dieser Musik dargestellt wurden. Und neben den etablierten Stilen gibt es unendlich viele Zwischenstufen, da kaum ein Musiker sich eines Stils “in Reinkultur” bediente”. Ganz davon zu schweigen, dass sich die meisten Jazzgeschichten, ja selbst die meisten Biographien an Aufnahmen entlanghangeln und dabei gern den performativen Aspekt des Jazz vergessen, die Tatsache also, dass die veröffentlichte Platte nur eine Momentaufnahme des kreativen Prozesses ist.

Peter Vacher füllt mit seinem Buch also eine Lücke. Er widmet es einer Szene, die nie so ganz im Mittelpunkt des Jazz stand (Los Angeles), und er fokussiert dabei auf Musiker, die höchstens regionale Stars blieben und kaum nationalen oder gar internationalen Erfolg einfuhren. Vacher ist Außenseiter (Brite); er kam im Laufe des Trad-Jazz-Booms der 1950er Jahre zum Jazz. In den 1980er Jahren arbeitete er mit dem Klarinettisten Joe Darensbourg an dessen Autobiographie, verbrachte währenddessen einige Zeit in Los Angeles und lernte damals Veteranen der schwarzen Musikszene der Westküstenmetropole kennen. Die Interviews, die er mit den sechzehn in diesem Buch dokumentierten Musikern führte, hatten ursprünglich nicht das Ziel einer Buchveröffentlichung, sondern dienten einzig seinem privaten Interesse an ihrer Geschichte. Wenige konnte er ein zweites Mal interviewen, bei anderen fühlte er sich im Nachhinein schlecht vorbereitet. Dennoch geben die Geschichten, die er anhand dieser 16 Musiker erzählt, einen Einblick in eine so ganz andere Musikszene als die an der Ostküste. Die Westküstenmusiker waren flexibel; sie spielten Jazz genauso wie R&B oder Dixieland. Viele von ihnen verdienten sich ihren Lebensunterhalt in den Studios Hollywoods, und viele zog es vielleicht mal für eine Tournee, selten aber für immer fort aus Kalifornien. Und wenn auch diese Szene Jazzgrößen wie Dexter Gordon, Wardell Gray, Teddy Edwards und Charles Mingus hervorbrachte, wenn auch Legenden wie Benny Carter, Red Callender und Buddy Collette von hier aus agierten, so blieb Los Angeles doch ein weitgehend ungeschriebenes Kapitel der US-amerikanischen Jazzgeschichte.

Die von Peter Vacher interviewten Musikern stammen aus der älteren Generation, und dokumentieren die Szene vor allem der 1930er bis 1950er Jahre. Noch weiter zurück geht es in den Erzählungen des Trompeters Andy Blakeney , der von seinen ersten musikalischen Erfahrungen im Chicago der 1920er Jahre berichtet, von seinem Umzug an die Westküste im Jahr 1925, von Reb Spikes, der ein Musikgeschäft in L.A. besaß und außerdem eine gut beschäftigte Band. Er erinnert an viele der Musiker in der Stadt und an Partys bei Orson Welles. Er erzählt aber auch von der Rassentrennung in der Stadt, und von den legendären Gigs, die Louis Armstrong und Duke Ellington Anfang der 1930er Jahre in Sebastian’s Cotton Club hatten, von Tagesjobs in einer Schiffswerft, von Gigs mit Kid Ory und Barney Bigard, und von verschiedenen Comebacks in den 1970er und 1980er Jahren. Beim Pianisten Gid Honoré musste Vacher erst Street Credibility beweisen (dadurch, dass er den Schlagzeuger Wallace Bishop kannte), bevor der sich zu einem Interview bereitfand. Honoré kam 1921 aus New Orleans nach Chicago und erzählt von den vielen Ensembles, mit denen er in den 1920er bis 1940er Jahren dort spielte – oft Bands alter Freunde aus New Orleans. 1948 zog er an die Westküste, wo er mit Kid Ory und Teddy Buckner spielte – seine Erinnerungen an die Szene in L.A. nehmen dabei gerade einmal ein Fünftel seines Kapitels ein. Der Trompeter George Orendorff hatte in den 1920er Jahren King Olivers Creole Jazz Band mit Louis Armstrong in Chicago gehört, kurz bevor er nach L.A. zog. Er erzählt vom Engagement in der Band von Les Hite, in der als Schlagzeuger Lionel Hampton mitwirkte, oder von einem Abend, an dem Fats Waller Bach und Beethoven spielte. 1946 war er im Billy Berg’s Club, als Dizzy Gillespie dort mit Charlie Parker spielte. Orendorff arbeitete schließlich 30 Jahre lang als Postbeamter und trat nur noch selten auf. Jeder in Los Angeles kannte den Schlagzeuger Monk Fay, den Vacher aber erst nach intensiver Suche in einem Seniorenheim fand. Der erzählt von seiner Popularität in Hawaii, von einer Gefängnisstrafe wegen Dealens mit Marihuana und von Gigs in Los Angeles in den 1940er und 1950er Jahren. Der Saxophonist Floyd Turnham erinnert sich an Britt Woodman und an Aufnahmen mit Johnny Otis; die Sängerin Betty Hall Jones weiß noch, wie Nellie Lutcher ihr einen Vertrag bei Capitol Records verschaffte. Der Trompeter Red Mack Morris war in Les Hites Band, als diese Louis Armstrong begleitete und führte später eine Weile einen eigenen Club, in dem er schwarz Alkohol ausschenkte. Der Klarinettist Caughey Roberts erzählt von seinen Lehrern und davon, wie er schließlich selbst unterrichtete, daneben aber auch von einer Reise nach China mit Buck Clayton, über seine Arbeit mit Count Basie und Fats Waller in den 1930er Jahren und über seine Dixieland-Aufnahmen in den 1950ern. Der Pianist Chester Lane war ein großer Fan von Earl Hines, arbeitete lange Zeit um St. Louis, und zog 1957 an die Westküste. Der Trompeter Monte Easter erinnert sich, wie er und Art Farmer Ende der 1940er Jahre in Jay McShanns Band saßen, berichtet über die Probleme der afro-amerikanischen Gewerkschaften und über seinen Broterwerb als Postbediensteter. Der Bassist Billy Hadnott erzählt ausführlich von seinen musikalischen Erlebnissen in Kansas City und hat seine eigene Erinnerung daran, wie Charlie Parker ins Sanatorium von Camarillo kam. Der Trompeter Norm Bowden weiß einiges über Reb Spikes und den Schlagzeuger “Boots” Douglas zu berichten, aber auch über den Club Alabam im berühmten Dunbar Hotel auf der Central Avenue. Der Posaunist John ‘Streamline’ Ewing hatte anfangs gut bezahlte Nebenjobs in den Hollywoodstudios, ging dann auf Anregung eines Musikerkollegen nach Chicago, tourte mit Bands wie denen von Horace Henderson und Earl Hines und spielte ab den 1950er Jahren mit Teddy Buckner in Disneyland. Der Saxophonist Chuck Thomas spielte vor allem in der Küstenregion (bis Las Vegas) und zuletzt ebenfalls mit Teddy Buckner. Der Schlagzeuger Jesse Sailes erinnert sich, wie all die großen Swingbands in den Theatern von Los Angeles auftraten und wie er später Platten mit Percy Mayfield, Ray Charles und B.B. King aufnahm. Der Schlagzeuger Minor Robinson spielte mit Buddy Collette und kannte Charles Mingus, als dieser vielleicht 15, 16 Jahre alt war.

Es sind persönliche Geschichten, von Sidemen-Karrieren und außermusikalischen Lebensentscheidungen. Die Namen wiederholen sich; aus den Erzählungen schält sich dabei eine Szene heraus, die zusammenhielt, auch wenn einzelne der Musiker die Stadt für kürzer oder für länger verließen. Peter Vacher beschreibt zu Beginn eines jeden der Kapitel, wie er den Musikern auf die Spur kam und erklärt einzelne der von den Interviewten mitgeteilten Anekdoten. Nebenbei erzählen diese von der Mobilität des Musikerberufs, von Karrieren, die in New Orleans oder Chicago begannen oder in Kansas City und New York Station machten, deren Protagonisten aber, nachdem sie kalifornische Luft geschnuppert hatten, von dieser nicht mehr loskamen. Es gibt schöne Geschichten über das Zusammentreffen des West-Coast-Größen mit durchreisenden Stars der großen Swingbands; es gibt Insiderberichte über alle möglichen Aspekte des Showbusiness’; es gibt immer wieder den Anruf aus der Ferne, der ihnen einen Job in einer der “name bands” anbietet, den sie entweder für kurze Zeit annehmen oder aber ablehnen. Es gibt Geschichten über Familienplanung und solche über Tagesjobs, mit denen man die Familie ernähren konnte. Central Avenue spielt eine bedeutende Rolle, jene Straße, die in Teilen zu einem kulturellen Zentrum der afro-amerikanischen Community der Stadt wurde.

Peter Vacher hat die Gespräche laufen lassen; sein ursprüngliches Interesse galt der Lebensgeschichte der Musiker, weniger dem Treiben in Los Angeles. Und so nehmen die Erinnerungen an Chicago oder Kansas City oft mehr Raum ein als die aktuelle Lebenswirklichkeit des Ortes, an dem die interviewten Musiker schließlich landeten. Doch wird eine Szene eben nicht nur durch das geprägt, was Musiker in ihr kreieren, sondern auch durch alles, was sie aus ihrer Vergangenheit mitbringen. Von daher ist Vachers Ansatz völlig richtig, die Geschichte der Central Avenue durch die Einflüsse zu erzählen, die hier zusammenkamen.

Beim Lesen wünschte man sich stellenweise entweder einen knappen biographischen Abriss vor oder nach den Kapiteln oder aber das Einstreuen von Jahreszahlen, um die Erinnerungen der Musiker besser einordnen zu können. Wer bei Los Angeles an die Westcoast-Szene denkt, sei gewarnt: alle der von Vacher interviewten Musiker sind vor allem der Swingära zuzuordnen; sie erzählen zum Teil von den jüngeren Musikern, die sie kannten, waren aber nie selbst Mitglied dieser Szene. In seinem Vorwort heb Vacher vor allem drei Interviews hervor, die besonders gut gelungen seien: jene mit Andy Blakeney, Billy Hadnott und Norman Bowden, mit Musikern also, mit denen er mehrfach sprechen und dabei mehr über ihr Leben und musikalisches Wirken lernen konnte. Tatsächlich aber sind auch jene Gespräche lesenswert, die etwas langsamer “auf den Punkt” kommen. “Swingin’ On Central Avenue” gelingt es dabei, Erhebliches zur Kulturgeschichte des afro-amerikanischen Jazz im Los Angeles der 1930er bis 1950er Jahre beizutragen. Das Buch erzählt von künstlerischen Idealen und von der Realität des alltäglichen Musikgeschäfts. Die Entscheidung, die Vacher – sicher mehr der Not gehorchend – getroffen hatte, war genau richtig: Seine Protagonisten sind eben nicht die großen Stars, weil die Szene, die er im Fokus hat, sich in keiner der stilbildenden Städte befand, weil die Community, die er in den Kapiteln seines Buchs abbildet, sich aus vielen sehr disparaten Erfahrungen zusammensetzte. Sein Buch ist auf jeden Fall eine Fundgrube für Jazzhistoriker mit vielen Anekdoten und Erinnerungen, die dieser Rezensent hier zum ersten Mal gelesen hat; zugleich ist es eine abwechslungsreiche Zeitzeugensammlung einer Szene, die bislang nur mäßig dokumentiert ist.

Wolfram Knauer (Juli 2016)


Invitation to Openness. The Jazz & Soul Photography of Les McCann, 1960-1980
herausgegeben von Pat Thomas & Alan Abrahams
Seattle 2015 (Fantagraphics Books)
200 Seiten, 39,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-60699-786-4

2015mccannMusikerfotos – es gibt eine ganze Reihe an Jazzmusikern, deren Hobby auf Tournee das Fotografieren war. Milt Hinton ist der wohl namhafteste unter ihnen, doch jetzt zeigt ein neues Buch, dass auch Les McCann nicht nur gute Ohren, sondern auch ein exzellentes Auge hat. Das nämlich gehört dazu, auf dass das Buch eines fotografierenden Musikers nicht einzig wegen der Vorteile interessant ist, die sich daraus ergeben, dass der Mann hinter der Kamera zugleich auf der Bühne sitzt und von den Objekten seiner Begierde, also anderen Musikern, nicht als Störenfried, sondern als einer der ihren anerkannt wird.

Im Vorwort von “Invitation to Openness” erzählt A. Scott Galloway kurz die biographischen Stationen Les McCanns: geboren in Lexington, Kentucky, über Tuba und Snare-Drum zum Klavier gelangt, zusammen mit Eddie Harris mit “Compared to What” über Nacht einen Welthit geschaffen, der eine Solokarriere bedingte, die bis in jüngste Zeit anhielt. Pat Thomas erzählt die Genese des Buchprojekts: Er hatte gerade eine CD-Wiederveröffentlichung des McCann-Klassikers “Invitation to Openness” organisiert und McCann zu Hause besucht, als er in einer Ecke einen Stapel zerkratzter Abzüge von Fotos entdeckte, die der Pianist in den 1960er und 1970er Jahren gemacht, aber nie veröffentlicht hatte. Im Interview mit Thomas erzählt McCann, dass es in seiner Familie immer Fotoapparate gegeben habe. Er selbst habe sich eine Nikon gekauft und begonnen, auf der Bühne und daneben Menschen abzulichten. Als er sich ein Haus in Hollywood leisten konnte, richtete er sich eine Dunkelkammer ein und begann seine Aufnahmen selbst zu entwickeln.

Das Bemerkenswerteste an den Bildern ist vielleicht die Perspektive. Gerade die Bühnenaufnahmen sind eben nicht von vorn gemacht, aus dem Bühnengraben oder der ersten Reihe, sondern oft von der Seite oder leicht von hinten. Viele Bilder zeigen die Musiker backstage, in Vorbereitung fürs Konzert, in Freizeitklamotten beim Soundcheck. Das entspannte Lächeln Count Basies zeigt die entspannte Vertrautheit. Andere eindrucksvolle Motive sind etwa: Stanley Clarke mit abwartend-konzentrierter Miene (und einer denkwürdigen Frisur); Ben Webster am Flügel; Dexter Gordon und Joe Zawinul vor einem Motel; die junge Tina Turner; das Publikum aus Gefangenen im Cook County Jail; Cannonball Addlerley, der an einer Zigarette zieht, sein Gesicht halb in Rauch gehüllt. Neben Musikern gibt es Bilder von Schauspielern (Jack Lemmon, Bill Cosby, Jerry Lewis), Politikern (Jimmy Carter, Jesse Jackson, Stokely Carmichael, Dr. Martin Luther King), Sportlern (Muhamad Ali, Pelé), sowie einige wenige Bilder, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Doch auch diese Aufnahmen, etwa das eines alten Mannes mit Fahrrad, hätten das Potential zu Plattencovers.

Les McCann gibt zu einzelnen der Bilder Kommentare ab, in denen er Kolleginnen oder Kollegen erinnert. Auch die Identifizierung der Motive basiert auf McCanns Erinnerung, wobei es Motive gibt, zu denen er nicht wirklich mehr weiß, wo oder wann sie gemacht wurden, und zumindest eine falsche Zuschreibung (nein: das ist NICHT Eberhard Weber auf den beiden Fotos mit Sarah Vaughan, sondern Bob Magnusson!). Beim Durchblättern des Bandes kommt einem immer wieder in den Sinn, dass das Leben eines Jazzmusikers eben aus mehr besteht als der Bühnenwirklichkeit. Les McCanns “Invitation to Openness” bietet damit einen lohnenswerten und allemal mit Soul gefüllten Blick hinter die Kulissen sowohl der Musiker, die er darin dokumentiert, als auch seiner eigenen Konzertarbeit.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Bitches Brew
von George Grella Jr.
New York 2015 (Bloomsbury Academic, 33 1/3)
128 Seiten, 14,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-6289-2943-0

D2015grellaie Buchreihe 33 1/3 des Bloomsbury-Verlags behandelt eigentlich Rockgeschichte. Jeder Band ist einem separaten Album gewidmet und wird historisch kontextualisiert. Miles Davis wurde jetzt die Ehre zuteil, als erster Jazzer in die Reihe aufgenommen zu werden, die immerhin schon mehr als 100 Bände umfasst. Sein Album “Bitches Brew” von 1969 schrieb eben nicht nur Jazz-, sondern genauso auch Popgeschichte.

In seinem ersten Kapitel betont George Grella, wie schwer es ist, “Bitches Brew” klar einem Genre zuzuordnen. Miles wollte weder ein klares Jazz- noch ein dezidiertes Rockalbum machen. “Bitches Brew”, meint Grella, sollte man daher am ehesten als experimentelle Musik hören, als Versuch, den überkommenen Normen von sowohl Jazz wie auch von Rock zu entkommen.

Im zweiten Kapitel erklärt Grella die seltsame Sektenhaltung, die Jazzrezeption manchmal annehmen kann und gegen die sich Miles Davis von früh an wehrte. Geht nicht gibt’s nicht, sei sein Motto gewesen, und Popsongs nahm er bereits lange vor “Time After Time” auf. Miles, fasst Grella zusammen, spielte Pop nicht um Popstar zu sein, sondern um Musik zu machen. Er erzählt von der Zeit des Trompeters mit Charlie Parker, vom Capitol-Nonet, das irgendwie die Geburtsstunde des Third Stream wurde, sowie von “Kind of Blue” und “Sketches of Spain”.

In Kapitel 3 erklärt Grella, welch völlig anderen Ansatz Miles an die Produktion eines Albums hatte, bei dem er sich ab 1968, ab dem Album “Circle in the Round”, vorbehielt, die musikalischen Versatzstücke nach Belieben zusammenzuschneiden.

In den Kapiteln 4 und 5 schließlich steht “Bitches Brew” selbst im Mittelpunkt, wenn Grella über Titel und Covergestaltung geflektiert und die einzelnen Titel beschreibt. Das liest sich stellenweise wie eine Sportreportage: wer, wann, was, Tonart, Einsatz, Intensität. Grella verweist auf die oft nicht wahrnehmbare Editiertechnik Teo Maceros und darauf, wie dies nur deshalb möglich war, weil alle Musiker immer deutlich aufeinander hörten. In “Pharoah’s Dance” benennt er eine “hippe Blueslinie bei 4:46” oder eine Coda, die “fast Beethoven’schen Charakter” habe. Im Titeltrack zeigt er auf viele der Nahtstellen, und dann verweist auf die Unterschiede der beiden Platten des Doppelalbums: “eine, um dich wegzublasen, die andere, um deinen Kopf wieder geradezurücken”.

Im letzten Kapitel widmet Grella sich den Nachwirkungen des Albums, in der Kritik genauso wie im Jazz. Mit Verweis auf Wynton Marsalis erklärt er, dass da zwei recht unterschiedliche Sichtweisen der Zukunftfähigkeit von Musik aufeinandergeprallt seien, um dann Miles’ Konzept auf dem kleinsten Nenner zusammenzufassen: “Indem er Rhythmus, Puls und Harmonien – und auf Tonband eingespielte Kompositionen – verwandte, die absichtlich nicht zu einer Auflösung fanden, organisierte Miles Zeit: und sowohl Form wie auch Zeit finden damit in der Musik zusammen”.

Eine kommentierte Diskographie beschließt das Büchlein, das sich wie ein sehr ausführlicher Plattentext mit vielen zusätzliche Informationen liest. Ja, Grella gelingt die Kontextualisierung, und doch kommt er der Musik selbst nur bedingt nahe, auch weil seine analytischen Anmerkungen etwas zu oberflächlich bleiben, weil er quasi nur parallel zur Musik beschreibt, was man eh hört, anstatt zusammenzufassen, was das alles “bedeutet”. Trotz dieser Einschränkung aber ist Grellas Büchlein ein lohnenswerter Begleiter zur nächsten abendlichen Abhörsession dieses Miles Davis-Klassikers.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Jazz Basel. Vier Jahrzehnte Stars und Szene
herausgegeben von Offbeat = Urs Ramseyer & Ruedi Ankli & Peewee Windmüller & Urs Blindenbacher
Basel 2015 (Christoph Merian Verlag)
180 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-85616-695-5

2015offbeatDie Geschichte regionaler Jazzszenen kann man auf unterschiedliche Weise erzählen. Man kann nostalgisch und sehnsuchtsvoll zurückblicken und von alten Zeiten schwärmen. Oder man kann auch Zurückliegendes vor allem aus dem Wissen um die Gegenwart verstehen.

Die Macher des offbeat-Festivals gehen in ihrem Buch über “Jazz Basel” den zweiten Weg. Das opulent bebilderte Buch widmet einzig sein Eingangskapitel (von Bruno Spoerri) den Anfängen des Jazz in Basel von den 1920er bis in die 1970er Jahre. 1974 gründete sich der Verein und die Konzertreihe jazz in basel, 1990 schließlich das Festival offbeat. Das Buch blickt auf die Musiker, die seither auf dem Festival spielten, aus skandinavische Gäste oder gesamtdeutsche Schwerpunkte, auf Jazz aus dem Mittelmeerraum und einen lateinamerikanischen Fokus, auf US-amerikanische Bands und die Schweizer Musiker, die hier auch immer zu hören waren. Es gibt Anekdoten aus dem Alltag von Festivalorganisatoren und Berichte von Backstage. Die Auswirkungen des Festivals in Stadt und Region werden thematisiert, Schulprojekte etwa oder die Präsenz im örtlichen Rundfunk. Und schließlich wird mit Stolz auf die Zusammenarbeit des offbeat Festivals mit dem Jazzcampus Basel und dem Club The Bird’s Eye berichtet.

Das alles ist kurzweilig geschrieben, vordergründig wohl vor allem für regionale Leser interessant, daneben aber genauso ein Bericht über die Verankerung einer regionalen wie internationalen Szene, aus dem auch Veranstalter anderswo etwas lernen können. Und schließlich sind da noch die 86 schwarz-weißen Abbildungen, Fotos von Bernhard Ley, Peewee Windmüller und Röné Bringold, die die Erinnerungen an die Geschichte von offbeat ungemein lebendig werden lassen.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher
von Detlef Siegfried
Göttingen 2015 (Wallstein)
455 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1673-7

2015siegfriedErnest Borneman war eine Mehrfachbegabung, so sehr, dass es genügend Menschen gaben, die dachten, es handele sich wahrscheinlich um mehrere Personen, die nur zufällig denselben Namen hätten. In den 1970er und 1980er Jahren war Borneman ein regelmäßiger Gast in deutschen Talkshows, wann immer es um das Thema Sexualität ging, hatte daneben eine Sex-Beratungskolumne in der Neuen Revue. Als Soziologe hatte er sich mit seinem Buch Das Patriarchat 1975 einen Namen gemacht. Vor seiner Beschäftigung mit Frauenbewegung und Feminismus hatte Borneman eine Karriere im Filmgeschäft gemacht, arbeitete für das National Film Board of Canada, für die UNESCO in Paris und war Programmdirektor des Freien Fernsehens, der ersten privaten Fernsehanstalt, die nach ihrem Verbot durch die Adenauer-Regierung quasi durch das ZDF abgelöst wurde. Und noch früher war Borneman nicht nur Jazzliebhaber und -experte, sondern einer der ersten Jazzforscher, ein Kenner des Jazz, der diese Musik zeitlebens als transkulturelle künstlerische Aussage verstand und 1944 mit seinem Artikelreihe “The Anthroprologist Looks at Jazz” eine der ersten übers Anekdotische hinausreichenden Kulturgeschichten des Jazz verfasste.

Borneman schied im Juni 1995 aus dem Leben. Sein Archiv ist in der Berliner Akademie der Künste untergekommen; jetzt hat der Historiker Detlef Siegfried die Biographie des vielfältigen Forschers vorgelegt. Diese hat er klar nach den verschiedenen Feldern gegliedert, in denen Borneman tätig war, überschrieben “Hören. Die Ethnologie des Jazz”, “Sehen. Das Leben auf der Leinwand” und “Berühren. Sex und Gesellschaft”.

Der 1915 in Berlin geborene Ernst Bornemann – wie er bis zu seiner Emigration 1933 hieß – hatte bereits 1930 Bertolt Brecht kennengelernt, als Mitglieder von Berliner Schulchören zu Proben des Lehrstücks Der Jasager geladen worden waren. Er und Brecht freundeten sich an, Brecht half ihm bei der Abfassung seines ersten Theaterstücks und Borneman Brecht bei einer Neuübersetzung des Dreigroschenromans ins Englische. Siegfried, der zu Beginn seines Buchs anschaulich erklärt, wie er sich durch Bornemans eigene “Autofiktionen”, wie er sie nennt arbeiten musste, durch falsche Fährten also, die Borneman aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten seiner Karriere legte, beschreibt Bornemans Exil als “nicht nur Flucht-, sondern auch Möglichkeitsraum”.

In London war Borneman regelmäßig bei Jazzkonzerten anzutreffen, verkehrte außerdem in einem Kreis linker und schwarzer Intellektueller. Bereits Mitte der 1930er Jahre hatte er einen Kriminalroman geschrieben, arbeitete bald auch an einem Drehbuch für einen möglichen eigenen Film, in dem auch der Jazz eine Rolle spielen sollte. Im Sommer 1940 wurde er als “feindlicher Ausländer” interniert, doch bereits zuvor produzierte er seine erste Rundfunksendung. Nach seiner Internierung wurde er nach Kanada deportiert, wo er nach seiner Entlassung beim National Film Board Arbeit fand.

Er knüpfte Kontakt zu Sammlern und Jazzkennern in den USA und sammelte Material für eine mögliche musikwissenschaftliche Dissertation und ein Buch zum Thema “American Negro Folk Music”, das von zwei Verlagen zur Publikation angenommen, dann aber wegen kriegsbedingten Papiermangels nicht gedruckt wurde. In seinen Jazzarbeiten, für die Borneman sich bei dem bekannten Musikethnologen Melville J. Herskovits um ein Stipendium bemühte, ging es, wie Siegfried zusammenfasst, “um zwei Themen: erstens um die Verbindungen von afroamerikanischer Volksmusik und moderner Tanzmusik der Gegenwart, und zweitens um die Verschränkungen von sozialen Verhältnissen und Populärkultur”. 1944 begann Borneman seine achtteilige Artikelserie “The Anthropologist Looks at Jazz”, die in der Zeitschrift The Record Changer erschien, der er bald auch als Mitherausgeber angehörte. Er schlug sich in der Debatte um den Bebop zwar auf die Seite des “authentischen” Jazz, konnte aber der romantischen Rückwärtsgewandtheit vieler der Traditionalisten wenig abgewinnen und versuchte daher immer wieder zwischen den Lagern zu vermitteln.

Mitte der 1940er Jahre lebte er in Paris, interviewte Louis Armstrongs Band anlässlich des ersten Jazzfestivals in Nizza im Jahr 1948, und freundete sich mit amerikanischen Expatriates und französischen Musikern wie Claude Bolling oder Boris Vian an. Er schrieb für den britischen Melody Maker und produzierte 1953 mit Betty Slow Drag einen experimentellen Kurzfilm, der seine beiden großen Interessen Jazz und Film miteinander verbinden sollte. Für den Melody Maker berichtete Borneman auch über den Jazz in Westdeutschland, konnte aber, selbst als Joachim Ernst Berendt versuchte ihn mit zeitgenössischen Musikrichtungen der 1960er Jahre anzufreunden, indem er ihn in ein Konzert John Coltranes mitnahm, mit dem modernen Jazz wenig anfangen.

Siegfried widmet Bornemans langer Auseinandersetzung mit den karibischen Wurzeln des Jazz ein eigenes Unterkapitel und berichtet davon, wie der spätere Beat Club von Radio Bremen auf Bornemans Ideen zurückzuführen gewesen sei. Er zeigt, dass Borneman in seinen Schriften einige Debatten angestoßen hatte, die in der Jazzkritik erst in den 1960er Jahren wirklich ausgetragen wurden, als er selbst an dieser Diskussion nicht mehr selbst teilnahm. Letzen Endes mag Borneman nicht mit allen seiner Thesen Recht gehabt haben, ohne Zweifel aber sei er ein Wegbereiter der internationalen Jazzforschung gewesen.

Der Jazz spielt auch in den weiteren Lebens- und Arbeitsphasen für Borneman eine wichtige Rolle, und Bornemans kritischer Geist, den Siegfried am Beispiel des Jazz ausgiebig beschrieben hat, lässt sich auch in diesen Bereichen zeigen. Detlef Siegfrieds Buch ist dabei ein faktenreicher Band, der biographische Stationen und Diskurse, an denen Borneman beteiligt war, laufend miteinander verschränkt. Ganz sicher war Borneman einer der schillerndsten Vordenker des Jazz; Siegfrieds Schilderung sowohl seines Lebens als auch der Diskussionen, an denen sich Borneman sein Leben lang beteiligte, zeigt ihn aber darüber hinaus als einen vielseitig gebildeten, einfachen Erklärungen zutiefst skeptisch gegenüberstehenden, zur Offenheit des Denkens neigenden Forscher.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Teddy Wilson. 19 Selected Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2015 (Blue Black Jazz)
44,95 Euro

Boogie Woogie, Volume 2. 17 Original Boogie Woogie and Blues Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2014 (Blue Black Jazz)
46,85 Euro
Zu beziehen über www.blueblackjazz.com

Paul Marcorelles hat bereits eine ganze Reihe an Transkriptionen von Pianisten des frühen Jazz vorgelegt, vorzugsweise von Musikern, die im Stride- oder Boogie-Woogie-Stil spielten. Seine jüngsten Veröffentlichungen widmen sich dem Swing-Stil Teddy Wilsons auf der einen und dem Repertoire einiger der Boogie-Woogie-Größen der frühen 1940er Jahre auf der anderen Seite.

2015marcorelles_wilsonFür Teddy Wilson hat Marcorelles sich Soli zwischen 1934 und 1946 ausgesucht, schnelle virtuose Titel wie “Rosetta”, den “Tiger Rag” oder “When You and I Were Young, Maggie” sowie Balladen wie “Don’t Blame Me”, “Out of Nowhere” oder “Body and Soul”. Seine Transkriptionen sind exakt, gut lesbar, reine Notationen ohne weitere Spielanweisungen oder analysierende Harmoniesymbole. Sie sind zum Nachspielen gedacht, brauchen allerdings Pianisten, die zum einen keine Probleme mit den bei Wilson so beliebten Dezimengängen der linken Hand haben und zum zweiten technisch fortgeschritten sind, um die virtuosen Arpeggien und die die Rhythmik aufbrechenden Läufe tatsächlich zum Swingen zu bringen. Wilsons linke Hand allein kann jedem Pianisten helfen, die antreibende Kraft des Swingens zu begreifen. Auch das Studium seiner Voicings lohnt, deren Alterationen den Akkorden zusätzliche Schwebungen verleihen. Wie immer bei Transkriptionen von eigentlich improvisierten Jazzsoli ist es mehr als hilfreich, sich die Soli auf Platte (oder über Streamingdienste) anzuhören.

2015marcorelles_boogieIm zweiten der beiden jüngst veröffentlichten Bände versammelt Marcorelles Transkriptionen von Hersal Thomas (“Hersal’s Blues”), Clarence ‘Pinetop’ Smith (“Pinetop’s Boogie Woogie”), Jimmy Yancey (etwa den “Five O’Clock Blues”), Pete Ammons (z.B. “Rock It Boogie”), Meade Lux Lewis (“Chicago Flyer” und “Glendale Glide”), Albert Ammons (etwa seinen “Swanee River Boogie”), Sammy Price (133rd Street Boogie”) und Pat Flowers (“Eight Mile Boogie”). Die rhythmischen Verschiebungen zwischen Bassfiguren und rechter Hand im Boogie Woogie sind dabei noch weit schwerer zu “lesen” und bedürfen noch stärker des Höreindrucks, um sie danach vom Papier in die Tasten zu übertragen und erlauben im Idealfall – und das wäre es ja eigentlich immer im Jazz – irgendwann das Loslassen und das eigene Erfinden melodischer und rhythmischer Muster, die eigene Improvisation.

Marcorelles’ neue Bände seien jedenfalls jedem interessierten Pianisten empfohlen als Übe- genauso wie Studienmaterial. Marcorelles bietet auf seiner Website übrigens alle insgesamt 202 Transkriptionen dieser wie früher erschienener Bände auch einzeln zum Download als PDF-Datei an

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Hot Music, Ragmentation, and the Bluing of American Literature
von Steven C. Tracy
Tuscaloosa 2015 (The University of Alabama Press)
537 Seiten, 64,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8173-1865-9

2015tracySteven C. Tracy ist Literaturwissenschaftler, Professor für Afro-American Studies, aber auch ein Blues-Harp-Spieler, der bereits in Vorgruppen für B.B. King, Muddy Waters und andere Stars der Szene auftrat. In seinem umfangreichen Buch stellt er die afro-amerikanische Musik der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, also Jazz und Blues, als Referenzpunkt dar, der helfen könne, die amerikanische Literaturgeschichte jener Zeit besser zu verstehen. Es geht ihm dabei nicht einzig um Romane oder Dichtung, die sich konkret und thematisch mit Musik beschäftigen, sondern auch um den Einfluss von Klanglichkeit, von Virtuosität, von improvisatorischer Haltung auf die amerikanische Literatur der Jahre bis 1930. Er greift hierfür immer wieder zurück auf konkrete Aufnahmen, um etwa Beispiele der afro-amerikanischer Stimme, des afro-amerikanischen Rhythmus, der Griot-Funktion des Bluessängers, der Bedeutung von Wiederholungen, der tiefen Doppeldeutigkeit, der politischen Untertöne herauszustreichen, die eben keine rein afro-amerikanischen Untertöne seien, sondern Befunde für den Zustand der gesamten amerikanischen Gesellschaft. Tracy verbindet die Genres, folkloristischen Blues, modernistischen Jazz, um aus dem Mix der Aufnahmen heraus, auf die er sich bezieht, neue Argumente zu entwickeln, die abseits der üblichen Beschreibung von Jazz-, Blues- oder Kulturgeschichte liegen. Er untersucht daneben auch Film- oder klassische Musikgeschichte nach Einflüssen von oder Analogien zu afro-amerikanischer Musik und findet den nachhaltigsten Widerhall außerhalb der Musik schließlich in der Literatur, bei T.S. Eliot, William Carlos Williams, Hart Crane, Gertrude Stein, Ezra Pount, und bei Abbe Niles, Langston Hughes, Countee Cullen, Zora Neale Hurston und anderen Dichtern und Schriftstellern der Harlem Renaissance.

Tracys schnelle Wechsel zwischen den Diskursen sind dabei sowohl inspirierend wie auch, da sie ein häufiges Vor- und Zurückblättern erfordern, zeitweise ermüdend. Sein intertextueller Ansatz ist auf jeden Fall ein Beispiel, wie sich aus dem Studium afro-amerikanischer Musik Aussagen über weit mehr als diese treffen lassen, wie stark tatsächlich diese Musik bereits in den ersten 30 Jahren des 20sten Jahrhunderts ihren Niederschlag im Denken, Handeln und Schreiben gefunden hat.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Friedel Keim
Das große Buch der Trompete (3)
Diskografie, Fotografien, Statistik, Nachträge
Fortsetzung des Trompeter-Lexikons, Band 3
Mainz 2015 [Eigenverlag
554 Seiten, 33,90 Euro
nur direkt zu beziehen über
Friedel Keim, e-mail: ruf.keim@t-online.de

2015keimDer Ur-Maizer Trompeter Friedel Keim hat nach den ersten beiden Auflagen von 2005 und 2009 nun den dritten Band seiner Trompeterbibel vorgelegt, ein sorgfältig recherchiertes Kompendium, das die verschiedensten Seiten des Instruments und seiner Musiker beleuchtet und dessen Spektrum von Klassik über Jazz bis zur volkstümlichen Musik reicht.

Keim kennt dabei keine Berührungsängste. Er versteht es genauso, sich über die Kunst der Barocktrompete auszulassen wie über die Probleme, die viele Jazzer mit der Ästhetik eines Wynton Marsalis haben. Und neben den großen Stars finden auch die Satzbläser wieder Erwähnung oder Musiker der aktuellen Szene.

Der lexikalische Teil von Band 3 enthält biographische Artikel von A wie “Abbott, Goivinda” bis Z wie “Zonshine, Michael”. Neben diesen teils ausführlichen Portraits gibt es Anmerkungen zur Interpretation von Werken aus Klassik, Marschmusik und anderen Genres, darunter auch analytische Anmerkungen und Notenbeispiele aus dem Jazzbereich, etwa eine Transkription des “West End Blues” in der Version von Louis Armstrong und seiner Hot Five von 1928, Dizzy Gillespies “Night in Tunisia”, oder Maynard Fergusons Version von “Body and Soul”. Korrekturen und Ergänzungen zu den beiden ersten Bänden erhalten ein eigenes Kapitel, und wieder gibt es den Block “Wissenswertes rund um die Trompete”, der etwa Informationen über das “Gansch-Horn” gibt oder über das flexibrass-Mundstück, über die Vuvuzela oder über die Trompete auf historischen Briefmarken, über den Trompetenbaum oder diverse Filme, in denen die Trompete im Mittelpunkt steht. Schließlich findet sich noch ein umfassendes Kapitel zu Horst Fischer, jenem legendären deutschen Trompeter, dessen Prolog zu einer Autobiographie Keim abdruckt, außerdem eine alphabetische Auflistung aller ihm bekannter Fischer-Aufnahmen.

Wie bereits in den vorherigen Bänden findet sich auch in Band 3 vieles, was sonst kaum irgendwo erierbar wäre. Friedel Keim weiß um Geburts- und Sterbedaten, berichtet über die Stars, aber eben genauso über die “kleinen” Vertretern des Instruments, über Satzspieler oder junge Musiker, die durchaus auch zwischen den stilistischen Welten leben und arbeiten, über Dixieland- und Swingtrompeter, die eher der Amateur- als der Profiszene angehören, aber dennoch gute Musiker sind, über Musiker von denen man noch nie gehört hat oder aber auch Musiker, die man persönlich kennt, aber nie in einem Lexikon vermutet hätte, weil ihr Arbeitsschwerpunkt doch eher regional begrenzt ist. Keim hat sich ihnen allen angenommen mit einem Vollständigkeitsanspruch, der jede Kritik an der Auswahl im Keim ersticken ließe (man entschuldige das Wortspiel). Und gerade in den Einträgen zu den kleinen Vertretern der Trompete erkennt man einmal mehr die “labor of love” dieses Buches, das zu alledem noch exzellent lesbar ist. Kein kritisches Buch vielleicht, dafür ein verlässliches Nachschlagewerk für jeden, der sich für die Trompete interessiert: eine Trompeterbibel fürwahr!

(Wolfram Knauer, Februar 2016)


 

Mein Onkel Pö
von Holger Jass
Hamburg 2015 (Offline-Verlag)
137 Seiten, 25,55 Euro
ISBN: 978-3-00-051272-8

2015jassEinen ersten Hinweis auf den Inhalt dieses Buchs gibt bereits der Preis: 25,55 Euro, entsprechend einem Cent pro Nacht im legendären Club, wie Holger Jass in der Presseankündigung zum Buch erklärt. Holger Jass hatte das Onkel Pö (Onkel Pö’s Carnegie Hall, wie es damals offiziell hieß) Anfang 1979 vom Vorbesitzer Peter Marxen übernommen, der ihn bei der Übergabe warnte: “Ich muss dich warnen. Pö-Jahre sind wie Hundejahre. Die zählen siebenfach.” Jass hielt es bis Anfang 1986 aus, führte das “Pö” im Sinne seines Kultstatus’ weiter und hat jetzt ein kurzweilig-amüsantes Buch über seine Erlebnisse mit Musikern, Medienmenschen, Kollegen und dem Publikum geschrieben, das ihm die ganzen Jahre über treu blieb, aus dessen Reihen sich aber partout kein Interessent für eine Nachfolge finden ließ.

“Jetzt macht Jass den Jazz im Onkel Pö” titelte das Hamburger Abendblatt, als Jass 1979 übernahm. Sein Buch handelt natürlich auch von Jazz. Er beschreibt, wie Michael Naura, damals Jazzredakteur des NDR viele der Jazzabende mitschnitt, die sich das Pö ansonsten kaum hätte leisten können. Den Flügel im Club hatte kein geringerer als Joachim Kühn ausgesucht und eingeweiht. Ansonsten bevölkern Jazzer wie Freddie Hubbard, Elvin Jones, Pat Metheny, Dexter Gordon die Seiten, aber auch Tom Waits, Charlie Watts, Joe Cocker, Hannes Wader, Truck Stop und natürlich Udo Lindenberg, der dem “Pö” in einem seiner Hits ein Denkmal setzte.

“Bei Onkel Pö spielt ‘ne Rentnerband”, hieß es da, “seit 20 Jahren Dixieland” – aber mit Dixieland ließ sich so ein Schuppen nicht finanzieren, bilanziert Jass trocken … obwohl man das Wort “trocken” selbst bei einer Rezension dieses Buchs nicht in den Mund nehmen sollte, denn trocken ging es ganz sicher nicht zu im Pö. Auch davon handelt das Buch, von den skurrilen Erlebnissen mit den Musikern, vom gesteigerten Alkoholkonsum, vom Pflegen einer Szene und davon, dass man, um Wirt zu sein, ein dickes Fell und viel Humor benötigt. Pineau ist das Zauberwort, jene süßliche Mischung aus Traubenmost und Cognac, die Jass als Allheilmittel vieler Probleme genauso beschreibt wie als Ursache anderer. Seine Anekdoten machen klar, dass man als Wirt und täglicher Konzertveranstalter selbst nicht ganz ohne solche “Medizin” auskommt: ein divenhafter Auftritt Freddie Hubbards etwa oder jener Abend mit Dexter Gordon, den Jass allerdings erst aus drogenbedingtem Tiefschlaf im Hotel um die Ecke wecken musste, den er für seine 57 Jahre als “bös klöterich” beschreibt, der dann aber nach einem dreifachen Whiskey ein denkwürdiges Konzert gegeben habe.

Sehr viel tiefer geht es sicher nicht in seinen Erinnerungen, die er mit viel Augenzwinkern und der humorvollen Abgeklärtheit der zeitlichen Distanz schreibt, und bei denen man schon mal über die eine oder andere schlüpfrige Anekdote hinweglesen muss. Bei all denen, die dabei waren in diesem zwischen Alternativszene und Hochkultur angesiedelten Zauberort in Eppendorf, wird er warme Erinnerungen wecken. Man meint den Fusel wieder zu schmecken und die dicke Luft wieder zu riechen, vor allem aber erinnert man sich an die musikalischen Hochgenüsse, die das Onkel Pö so oft und so viel vermittelte. Für diejenigen, die nicht dabei waren, gibt Jass ein launiges Portrait, einschließlich etlicher Fotos, ein Portrait, das stellenweise einer Filmdokumentation über verwunschene Zeiten ähnelt, bei denen man eigentlich gern dabei gewesen wäre.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Rhythm Is My Beat. Jazz Guitar Great Freddie Green and the Count Basie Sound
von Alfred Green
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
325 Seiten, 75 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4246-3

2015greenCount Basies All American Rhythm Section gilt als die swingendste Rhythmusgruppe des Jazz. Die Art, wie Pianist Basie, Gitarrist Freddie Green, Bassist Walter Page und Schlagzeuger Jo Jones rhythmisch und harmonisch ineinandergriffen, um den vorwärtstreibenden Schwung zu schaffen, der zu ihrem Markenzeichen wurde, besaß so viel an Energie, dass Rhythmusgruppen überall auf der Welt sie zum Vorbild nahmen. Den wichtigsten Anteil an dieser Energie hatte, wie Basie selbst, aber auch zahllose andere Musiker bezeugen, Freddie Green, der dem Count Basie Orchester von 1937 bis zu Basies Tod im Jahr 1983 und der Band noch ein paar Jahre danach bis zu seinem eigenen Tod 1987 angehörte. Von Nichtmusikern wurde Green schon mal dafür bemitleidet, ein ganzes Leben lang nie ein wirkliches Solo gespielt, dafür immer nur “schrumm schrumm” gemacht zu haben, vier Schläge pro Takt, durchgehend vom ersten Akkord bis zum letzten; und doch ist ihm jemand kaum in der Kunst des Rhythmus nahegekommen, den dieser Vierschlag erzeugen konnte.

Jetzt hat Alfred Green, der Sohn des Gitarristen, eine Biographie vorgelegt, die weit mehr ist als die persönliche Erinnerung eines Verwandten. Greens Buch schafft den Spagat zwischen Insiderwissen, persönlicher Betroffenheit und nüchterner Beschreibung der Lebens- und Arbeitswirklichkeit eines Musikers der Bigbandära.

Die Geschichte beginnt in Charleston, South Carolina, wo Freddie Green 1911 geboren wurde, in einer Stadt mit einer überaus lebendigen schwarzen Musikszene. Nachdem er die erste Ukulele gegen ein viersaitiges Banjo ausgetauscht hatte, sammelte er erste musikalische Erfahrungen mit Freunden aus dem Jenkins Orphanage, einem berühmten Waisenhaus in Charleston, aus dem etliche spätere Musiker hervorgingen. Mit einer dieser Bands reiste er die Küste hoch bis nach Maine, wechselte irgendwann vom Banjo zur Gitarre und spielte mit dem Saxophonisten Lonnie Simmons und dem Stride-Pianisten Willie Gant. Als der Impresario John Hammond ihn hörte, empfahl er seinem Schützling Count Basie, sich den Gitarristen für sein Orchester zu sichern. Im Januar 1937 kam es zum Vorspiel erst in kleinem Kreis, dann mit der Bigband, und am 1. Februar begann sein mehr als 45-jähriges Engagement als Motor des Count Basie Orchestra.

Alfred Green erzählt nicht nur die Lebens- und Arbeitsstationen Greens, sondern nähert sich auch seinem Stil, fragt nach Einflüssen, erklärt die Besonderheit des Green’schen Sounds. Der Autor wurde im Februar 1938 geboren, im selben Jahr beendete seine Mutter ihre Beziehung zu seinem Vater, sicher auch, weil der inzwischen eine Romanze mit Billie Holiday begonnen hatte, die für kurze Zeit mit Basie reiste.

Green beschreibt die verschiedenen Besetzungen der Basie-Band der 1930er und 1940er, die Schwierigkeiten des Musikerlebens, und die zunehmenden Probleme der Musikindustrie, die schließlich dazu führten, dass Basie sein Orchester auflöste und kurze Zeit mit einem Sextett – ohne Gitarre – auftrat. Sein Vater nahm die Entscheidung nicht hin und tauchte einfach beim nächsten Gig des Sextetts mit seiner Gitarre auf. “Was machst du denn hier?”, fragte Basie, und Green antwortete, “Was glaubst du wohl? Du hast hier einen Gig, richtig? Ich habe dir die besten Jahre meines Lebens gegeben und du glaubst, mich einfach beiseiteschieben zu können? Keine Chance!”

Während die 1930er- und 1940er-Jahre-Band insbesondere ein Solistenorchester war, wurde der Sound der 1950er Jahre-Band durch ihre Arrangeure geprägt. Alfred Green berichtet, wie Green seinen Platz in den Arrangements fand, wie er sich zu den Schlagzeugern positionierte, und wie er seine Aufgabe immer als die eines Unterstützers der anderen gesehen habe.

Neben den Einsichten in Greens Karriere sind es vor allem die technischeren Kapitel, die im Buch faszinieren. Alfred Green beschreibt etwa die Spannung der Saiten, die besondere Haltung, die Green benutzte, bei der sein Instrument fast auf seinem Schoß lag, spricht über die Tatsache, dass Green kaum je mit nicht-akkordischen Soli zu hören war, über seine wenigen Aufnahmen unter eigenem Namen, über Gigs für andere Bandleader und anderes mehr.

Einem dicken Block mit seltenen Fotos folgen schließlich noch Analysen von Michael Petterson, M.D. Allen und Trevor de Clerq sowie Zitate anderer Gitarristen über Green, schließlich eine ausführliche Diskographie aller seiner Aufnahmen.

Es gibt eine Reihe an Büchern über das Count Basie Orchester, darunter natürlich auch Basies eigene Autobiographie, verfasst mit Hilfe Albert Murrays. Keines dieser Bücher aber bietet einen so persönlichen Einblick in die Band wie das Buch Alfred Greens über seinen Vater. Der Gitarrist Freddie Green war wahrscheinlich der wichtigste Musiker des Basie Orchesters, der nicht nur für den durchgehenden Swing und eine rhythmische Verlässlichkeit stand, sondern der Band auch, was oft übersehen wird, ihren ganz spezifischen Sound verlieh, der sie aus der Menge ihrer Konkurrenten auf dem großen Bigbandmarkt hervorhob. Greens Buch gelingt in diesem Umfeld gleich dreierlei: Er schreibt eine Biographie des Gitarristen Freddie Green, er erzählt Details aus der Bandgeschichte Count Basies (und damit aus dem Alltag der Swingära), und er teilt sehr persönliche Erinnerungen an seinen Vater mit dem Leser.

Ihm gelingt dabei der schwierige Spagat, Beobachter und Sohn zur selben Zeit zu bleiben. Zu Beginn liest sich das alles wie eine interessante, aber eher distanzierte Lebensdarstellung, bis Green aus einem Gespräch zitiert, das er mit seiner Mutter geführt hatte, und bei dem einen schlagartig klar wird, dass der Autor ja Sohn des Objekts seines Berichts ist, dass er mit dem Wissen eines Familienglieds, sicher auch mit eigener Betroffenheit schreibt. Solche Perspektivwechsel gelingen ihm hervorragend, wie man in etlichen bewegenden Passagen erkennen kann. Green verschweigt macht aus seinem Vater nirgends einen Heiligen, sondern stellt ihn als Menschen dar, der nach dem Besten strebte, aber durchaus fehlbar war.

“Rhythm Is My Beat” ist ein sehr empfehlenswertes Buch, über Freddie Green, über Count Basie, über die Swingära und vieles mehr. Alfred Greens Buch gibt einen tieferen Einblick als vieles, was man sonst so liest zu diesem Thema und ist eine spannende Lektüre für Fans, genauso wie für Musiker oder Forscher über diese Musik.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Keith Jarrett. Eine Biographie
von Wolfgang Sandner
Berlin 2015 (rowohlt)
362 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-780-1

2015sandner“Mit freundlichen Künstlern ist die Welt nicht gesegnet”, beginnt Wolfgang Sandner sein Buch, das er mit Wohlwollen des Pianisten angegangen war, bis er mit diesem nach einem Konzert aneinandergerieten sei, weil es Jarrett nicht gefallen habe, dass Sandner sein “Köln Concert” als einen seiner größten Erfolge bezeichnete. “Das Ende eines Dialogs eröffnet jedoch auch eine Chance”, befindet Sandner. In der Folge nämlich habe er sich noch stärker auf die Musik konzentrieren müssen. Das Ergebnis ist ein Buch, das der Musik Jarretts als eines Künstlers gerecht wird, der seine Kraft aus der Improvisation des Jazz zieht, dessen Wirkung aber weit über dieses Genre hinausreicht.

Keith Jarrett wurde am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren, und Sandner sieht diesen Tag, Kriegsende, als symbolträchtig für die Jahrhundertkarriere des Pianisten. Ohne Europa, das durch den Krieg noch mehr für die Qualitäten des Jazz sensibilisiert war, erklärt Sandner, wäre Jarretts Karriere einerseits so nicht möglich gewesen, auf der anderen Seite habe Jarrett immer tief in den Traditionen der amerikanischen Avantgardeästhetik gestanden, in der Tradition auch eigenbrötlerischer Künstler wie Lou Harrison und Alan Hovhaness, deren Werke er Anfang der 1980er Jahre in Europa uraufführte.

Sandner zeichnet die Kindheit Jarretts in Allentown nach, die Erkenntnis seines Talents, das Trauma der Trennung seiner Eltern, dem er mit dem Rückzug in die Musik begegnete, und die musikalischen Bemühungen seiner Brüder. Jarrett spielte mit lokalen Bands, besuchte Workshops, gewann ein Stipendium fürs Berklee College, mit dessen die Musik eher regulierenden als zur Kreativität ermutigendem Lehrplan er allerdings wenig anzufangen wusste. Da war die Schule von Art Blakeys Jazz Messengers schon eine andere, in denen Jarrett ab Herbst 1965 für vier Monate mitwirkte. Von Blakey wechselte er in die Band des Saxophonisten Charles Lloyd, dem er durch dessen Schlagzeuger Jack DeJohnette empfohlen worden war. Lloyds Quartett war “die erste Supergroup des Rockjazz”, und Sandner hört sich sowohl dessen Studio- wie auch die Liveaufnahmen an. 1967 gründete Jarrett sein erstes Trio mit Charlie Haden und Paul Motian, und als ihm Miles Davis 1969 zum wiederholten Mal anbot, in seiner Band mitzuwirken, sagte Jarrett zu, obwohl Miles mit Herbie Hancock und Chick Corea bereits zwei Pianisten in der Band hatte. Bei Miles musste er elektronische Keyboards und Orgel spielen, Instrumente, die ihm eigentlich zuwider waren. Zugleich setzte er sich noch mehr mit Klang auseinander, mit dem Sound der Instrumente, die er zu bedienen hatte genauso wie den Soundmöglichkeiten der Band, die für Miles im Mittelpunkt seiner “musikalischen Großräume, Klangkunstwerke” standen.

Ein eigenes Kapitel widmet Sandner der Partnerschaft zwischen Keith Jarrett und Manfred Eicher, der weit mehr war als ein Labelgründer und Plattenproduzent. Jarrett stand Anfang der 1970er Jahre eigentlich bei ABC unter Vertrag, ihm wurde aber erlaubt, Produktionen mit “ernster Musik” und ähnliche Aufnahmen ohne Gegenleistung anderswo einzuspielen, das könne sein Ansehen schließlich nur steigern. Dass Jarretts Aufnahmen für Eichers Edition of Contemporary Music zum Zugpferd für das Label ECM werden sollten, hatte niemand vorhergesehen. Im November 1971 also ging Jarrett erstmals in Oslo ins Studio und produzierte mit “Facing You” die erste von bis heute 28 Solo-Produktionen für Eicher, ein Album, das sowohl Jarretts Ruf als Solopianist begründete als auch Eichers Ruf als einer der offenohrigsten Produzenten des Jazz. Sandner erklärt, was die Partnerschaft und das Vertrauen der beiden zueinander begründe, die Tatsache etwa, dass Eicher selbst Musiker sei oder dass sein Interesse neben dem Jazz auch anderen Formen von Musik (oder Literatur oder Kunst oder Film) gelte. Eicher, schlussfolgert Sandner auch nach dem Gespräch mit anderen ECM-Künstlern, sei bei vielen seiner Produktionen der “dritte Mann”, auch wenn man ihn weder sehe noch höre.

Es gäbe etliche Musiker und Musikliebhaber, warnt Sandner schon im Vorwort seines Buchs, die meinen, über Musik solle man nicht so viel schreiben, da diese das Wesentliche doch eh in sich berge. Und dann tut er genau das, kongenial, so nämlich, dass seine Zeilen die Musik zwar heraufbeschwört, aber nirgends zu ersetzen trachtet. Über Jarretts Klavierspiel etwa schreibt er, man könne vielleicht die verschiedenen Techniken benennen, die seinen Personalstil ausmachten, komme dabei aber vor allem an einem Charakteristikum nicht vorbei, das Sandner die “Konzentration aufs Wesentliche” nennt und das er in Jarretts musikalischem Ansatz genauso findet wie in seiner Wahl der Mitmusiker oder in der klaren Gliederung seines Repertoires in Standards, eigene Kompositionen und freie Solo-Improvisationen.

An anderer Stelle verfolgt er Jarretts Vervollkommnung der authentisch-eigenen Stimme. Er betrachtet die Aufnahmen seines amerikanischen Quartetts mit Dewey Redman und seines europäischen Quartetts mit Jan Garbarek, beschreibt, was an diesen Aufnahmen so besonders sei, obwohl sie doch weder einen unerhörten Klang hervorbrächten noch eine neue Form oder eine außergewöhnliche ästhetische Haltung. Er nennt Jarrett einen “Solist ohne Grenzen”, verfolgt die unterschiedlichen pianistischen Ansätze, die der Künstler über die Jahre entwickelte. Und Sandner ist wie wenige deutsche Autoren ein Meister darin, Musik mit Worten näher zu kommen. Ein Beispiel: Über Jarretts Album “Staircase” schreibt er: “Alles, was Jarrett in den elf Stücken erklingen lässt, besitzt Körperlichkeit. Es gibt keine flachen Töne, nur runde, eckige, kubusartige, voller Tiefenschärfe. Wenn ein Ton verklingt, wird er nicht nur leiser, er verschwindet wie in einem Tunnel, verliert nicht nur sein Volumen, sondern wird augenscheinlich kleiner.” Er benennt die Beziehungen zwischen Jarretts Aufnahmen an der Barockorgel in Ottobeuren und seiner Suche nach Klangfarben einerseits und ähnlichen Suchen europäischer oder amerikanischer Komponisten andererseits, nicht aber, um daraus Einflüsse abzuleiten, sondern um zu zeigen, dass Jarrett sich da inmitten eines breiten Diskurses befindet, in dem seine eine gewichtige Stimme ist.

Zwischen ausführliche Beschreibungen der diversen Plattenprojekte streut Sandner aber auch Informationen über die Selbstzweifel des Künstlers, über persönliche und geschäftliche Krisen, über Rückenschmerzen und das chronische Erschöpfungssyndrom, dass Jarrett für einige Jahre aus dem Verkehr zog. Er beschreibt, wie all diese außermusikalischen Ereignisse ihren Widerhall in Jarretts Musik fanden. Nach seiner Genesung, fasst Sandner zusammen, sei Jarrett ” praktisch nicht mehr in ein Aufnahmestudio zurückgekehrt. Mit Ausnahme einer Duo-Aufnahme mit Charlie Haden und einer Einspielung von Bach-Sonaten für Violine und Klavier sind alle Aufnahmen danach bei Live-Auftritten entstanden.”

Natürlich nimmt das “Köln Concert” ein wichtiges Kapitel seines Buchs ein. Sandner beschreibt die bekannt widrigen Umstände des Konzerts, Rückenschmerzen, ein schlecht intoniertes Instrument, ein Stutzflügel, den die Bühnenarbeiter statt des eigentlich geplanten Bösendorfer Imperial auf die Bühne gestellt hatten, und er erzählt, wie Jarrett aus all diesen Widrigkeiten über sich herauswuchs, die Beschränkungen des Instruments zu Stärken seiner Aufnahme machte. Das “Köln Concert” wurde zu einem Riesenerfolg bei Kritik und Publikum gleichermaßen, und selbst der Perfektionist Jarrett musste später zugeben, dass die Ideen, “diese Klangfarben und diese Stimmführungen”, die auf der Aufnahme zu hören sind, schon einzigartig waren.

In weiteren Kapiteln seziert Sandner die Herangehensweise Jarretts an die Standards des American Popular Song, die er zusammen mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette ab 1983 einspielte und bald auch bei Konzerten spielte, seine Einspielungen klassischer Musik von Bach bis Lou Harrison, sowie Jarretts eigene Kompositionstätigkeit, die sich keinesfalls in der Komposition von Themen für eigene Improvisationen erschöpfte.

Sandners letztes Kapitel heiß “Einspruch” und ist unter all den lesenswerten Kapiteln dieses Buchs vielleicht das lesenswerteste. Sandner beginnt mit einer Eloge auf den kreativen Schöpfer, auf das Genie Keith Jarrett, um dann die Reaktion hervorzuheben, mit der Jarrett so oft, auf so vieles, reagiert, seine “Manie, etwas abzulehnen”. Der wichtigste Einspruch Jarretts gelte dabei musikalischen Trends, kurzlebigen Moden oder selbsternannten Kanonikern. Sandner findet diese Veto-Haltung auch im Klavierspiel des Meisters selbst, das “allen Regeln der traditionellen Klavierkunst widerspricht und wirkt, als sei das Instrument weniger ein Partner, vielmehr ein Gegner, den man bezwingen müsse, bisweilen mit List und Tücke, bisweilen mit tänzerischem Ablenkungsmanöver, manchmal mit brachialer Gewalt, nicht selten aber, indem man sich den Flügel einverleibt, mit ihm verschmilzt.” Es ist dieses Eins-Sein mit seiner Musik, das Jarrett auch außerhalb der Jazzanhängerschaft Wirkung verschafft hat. Henry Miller schrieb ihm einen Brief, nachdem er das “Köln Concert” gehört hatte, Sergiu Celibidache und Marcel Reich-Ranicki zeigten sich begeistert. Sandner argumentiert aber auch, dass diese Verweigerungshaltung neben seinen künstlerischen Entscheidungen auch Jarretts problematisches Bühnenverhalten beeinflusst habe, seine gelegentlichen Publikumsbeschimpfungen, die, wie Sandner schreibt, fast schon zum Ritual geworden seien, das Voyeure unter den Hörern erwarten oder gar herausfordern.

Wolfgang Sandners Buch gelingt es, der Musik Keith Jarretts nahe zu kommen, gerade, weil er sich, wie er im Vorwort erklärt, mit dem Künstler entzweit hat. Sandner besitzt den Überblick nicht nur über Jarretts Schaffen und nicht nur über die Jazzgeschichte, aus der heraus Jarretts Kunst kommt, sondern über die gesamte Kulturgeschichte, in die hinein Jarretts Musik wirkt. Es gelingt ihm, die verschiedenen Positionen zu definieren, die sich in der Musik und ihrer Rezeption widerspiegeln: die musikalische, ästhetische und wirtschaftliche Position Jarretts zu verschiedenen Zeiten, die Position der Labels, der Agenten, der Produzenten, die Position Manfred Eichers, die Position der Kritiker und des Publikums, und nicht zuletzt auch seine eigene Position, die Position Wolfgang Sandners. Dass er aus eigener Begeisterung heraus schreibt, lässt er nicht unerwähnt. Er bezeichnet Jarrett wiederholt als “Genie”, nennt ihn den größten Musiker, der je aus Allentown kam. Doch dient diese eigene Positionsbestimmung letztlich auch dem Vertrauen, das wir als Leser in Sandners Wertung der Musik haben können. Er lässt uns klar wissen, wo er als Autor steht, und so können wir viel leichter unsere eigene Position beziehen, überdenken, revidieren. Wolfgang Sandner ordnet Jarretts Aufnahmen dabei nicht nur in Jazz-, Musik- und Kulturgeschichte ein, er verleitet zum neuen, zum tieferen Hören, und er ermöglicht ein Verständnis – im besten Sinne des Wortes – über die Grenzen des emotionalen Hörens hinaus.

Wolfram Knauer (Dezember 2015)

Nachtrag Februar 2021:

Keith Jarrett. A Biography
by Wolfgang Sandner, translated by Chris Jarrett
Sheffield 2020 (Equinox)
215 Seiten. 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-800500129

Sandners Jarrett-Biographie ist inzwischen auf Englisch erschienen, übersetzt von keinem Geringerem als Jarretts Bruder, dem in Deutschland lebenden Pianisten Chris Jarrett. Für die englische Ausgabe hat Sandner seinen früheren Text erweitert und aktualisiert, hat neuere Aufnahmen und neue Veröffentlichungen aus früheren Jahren berücksichtigt und neue Erkenntnisse über Jarretts familiären Background geteilt. Mit dem Abschied Jarretts von der Bühne im vergangenen Oktober scheint auch seine Karriere abgeschlossen. Sandners Buch vertieft das Wissen und ermuntert zum Nachhören – jetzt vielleicht etwas wehmütiger als bei der ersten (deutschen) Lektüre vor sechs Jahren.


 

Als der Jazz nach Kassel kam. Streifzüge durch die Szene der ersten Nachkriegsjahre
von Ulrich Riedler
Berlin 2015 (B&S Siebenhaar Verlag)
104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN: 978-3-943132-39-7

2015riedlerDie großen Jazzmetropolen – Berlin, Hamburg, Köln, München – sind weitgehend dokumentiert. Auch für kleinere Städte haben sich Historiker und Hobbyhistoriker der Aufbereitung der Jazzgeschichte angenommen. Das kann schon mal seltsam wirken, wenn Provinzzentren wie der Mittelpunkt der Welt erscheinen, wo sie doch meist nur Durchgangsstationen für aufstrebende spätere oder etablierte, sich auf Tournee befindende Jazzstars waren. Tatsächlich aber sind regionalen Szenen bis heute wichtige Brutstätten künstlerischer Ideen, auch wenn viele der Musiker, die hier ihre Anfänge nehmen, irgendwann in die großen Zentren abwandern, in Städte mit bedeutenden Hochschulen etwa oder in solche mit einer lebendigen, großen Jazzszene.

Das nordhessische Kassel, in der Mitte der Republik, und doch kulturell vor allem durch die Brüder Grimm und die documenta bekannt, besitzt bis heute eine lebendige Szene, verschiedene Spielorte für Jazz und improvisierte Musik, und ein langjähriges Festival. Die alle fünf Jahre stattfindende documenta bringt es mit sich, dass die Bürger der Stadt sich sehr bewusst mit ästhetischen Diskursen der Avantgarde auseinandersetzen.

Der Journalist und Jazzfan Ulrich Riedler hat sich in seinem Buch auf die Suche nach den Anfängen des Jazz in der nordhessischen Stadt gemacht und diese im Frühjahr 1940 entdeckt, als sich junge Jazzfreunde im Gasthaus “Ledderhose” trafen, wo sie gemeinsam die neuesten Platten hörten. Irgendwann rückte die Gestapo ihnen auf den Leib, nahm die Jungs mitsamt ihrer Schellackschätze mit und unterzog sie einer gründlichen Befragung. Die Jazzfans wurden bald wieder entlassen, und einer von ihnen kann Riedler nicht nur von damals berichten, sondern ihm sogar noch die kurzfristig konfiszierten Platten zeigen. Die “Ledderhose” blieb auch nach dem Krieg ein Jazztreffpunkt, in dem die Mitglieder zu Platten tanzten, ab und zu aber auch selbst zum Instrument griffen.

Die 1950er Jahre dokumentiert ein Gespräch mit dem späteren Spiegel-Redakteur Alfred Nemeczek, von dem Riedler außerdem einen Bericht über das Jazzkontor Kassel aus dem Jahr 1959 andruckt, den Versuch, in Nordhessen einen Liveclub nach Vorbild des Frankfurter Jazzkellers zu etablieren. In den 1950er Jahren begannen die ersten amerikanischen Stars Deutschland zu erobern. Kassel erlebte Konzerte von Duke Ellington, Louis Armstrong, Lionel Hampton oder der Jam-Session-Truppe Jazz at the Philharmonic mit Ella Fitzgerald und vielen anderen.

Einer der Stammgäste der Kasseler Jazzszene war damals der Trompeter Manfred Schoof, der zwei Jahre an der Kasseler Musikakademie studierte, bevor er nach Köln weiterzog. Riedler spricht mit ihm über die Jazzszene jener Zeit, über Musiker und Musikerlegenden der Region, unter anderem den Tenorsaxophonisten Werner Apel, den, wie man sich erzählt, sogar Duke Ellington verpflichten wollte, weil er ihn bei einer Jam Session so beeindruckt habe, und natürlich auch über die GI-Clubs, in denen Schoof die amerikanische Kultur erst richtig kennenlernte.

Die Amerikaner waren im Stadtteil Rothwesten in Fuldatal stationiert und engagierten über die Special Service Agencies jede Menge deutscher Musiker für die Unterhaltung in den verschiedenen Clubs. Riedler blickt auf Orte, aufs Repertoire, auf das Jazzprogramm des örtlichen Amerika-Hauses, beschreibt aber auch andere Veranstaltungsorte der Stadt, deren Programm großteils von Vereinen organisiert, zum Teil auch von der Stadt unterstützt wurde. Er erzählt, wie Arnold Bode, der Vater der documenta, von der Band des Vibraphonisten und Gitarristen Fritz Bönsel so angetan war, dass er im Landesmuseum ein Konzert veranstaltete, das den Jazz endgültig in der Stadt etablierte.

Die Jazzszene jener Jahre beinhaltete traditionelle genauso wie moderne Stile, und so beschreibt auf der einen Seite die Dixieland-Szene der 1950er und 1960er Jahre mit ihren Riverboatshuffles und dem musikalischen Versuch, dem Original so nah wie möglich zu kommen, auf der anderen Seite aber auch, wie andere Musiker, Schoof und Gunter Hampel unter ihnen, dem modernen Jazz in Kassel zu Gehör verhalfen. Und schließlich spricht er mit dem Pianisten Joe Pentzlin, dessen Trio quasi die Hausband des Jazzclubs in der Orangerie gewesen war.

In einem abschließenden Kapitel schlägt Riedler einen knappen Bogen in die Regenwart, zu Musikern wie Matthias Schubert und Ernst Bier, die entweder aus Kassel stammen oder aber hier über längere Zeit Station machten und die Szene der Stadt mitprägten.

Riedlers Buch ist nicht als historische Dokumentation gedacht, denn vielmehr als eine flüssig zu lesende Erinnerung an die 1940er bis 1960er Jahre, ein liebevoll bebildeter Band über die Jazzszene in der deutschen Provinz, die – ähnlich wie die Szenen vieler anderer Städte mittlerer Größe – überaus lebendig war. Die Lektüre macht dem Leser deutlich, dass der Diskurs über den Jazz als aktuelle Kunstform nicht nur in den Metropolen stattfindet.

Wolfram Knauer (November 2015)


 

Music Wars 1937-1945. Propaganda, Götterfunken, Swing. Musik im Zweiten Weltkrieg
von Patrick Bade
Hamburg 2015 (Laika Verlag)
511 Seiten, 34 Euro
ISBN: 978-3-944233-41-3

Sounds of War. Music in the United States during World War II
von Annegret Fauser
New York 2013 (Oxford University Press)
366 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-994803-1

Victory Through Harmony. The BBC and Popular Music in World War II
von Christina L. Baade
New York 2012 (Oxford University Press)
275 Seiten, 31,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-537201-4

2013fauser Musik war immer schon kriegswichtig. Ob zum Anfeuern der Truppen im Marschrhythmus, ob zum Mobilmachen der Bevölkerung durch patriotische Hymnen, ob als Beruhigung und Selbstbestätigung, ob als Instrument der psychologischen Kriegsführung oder sogar als Foltermethode: Krieg ist ohne Musik – so seltsam diese Idee auch scheinen mag – kaum vorstellbar.

Drei kürzlich erschienene Bücher untersuchen die Rolle der Musik im Zweiten Weltkrieg. Der britische Historiker Patrick Bade berichtet über die verschiedenen musikalischen Strategien und Funktionen direkt vor Ort, in den Gebieten, in denen der Krieg tobte oder die am Krieg beteiligt waren, Frankreich, Deutschland, den USA, Russland, Großbritannien, dem nördlichen Afrika und dem Mittleren Osten. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Annegret Fauser beschränkt sich in ihrem Buch auf die klassische Musikszene in den Vereinigten Staaten. Die britische Musikhistorikerin Christina Baade schließlich untersucht, wie der BBC in den Kriegsjahren auf Jazz, Tanz- und Popmusik gesetzt habe, um die Moral der gesamten britischen Öffentlichkeit in den Kriegstagen zu stärken. Baades Studie gibt dabei einen Einblick in Programmentscheidungen eines öffentlichen Rundfunksenders und thematisiert, inwieweit die Öffnung des Senders für Jazz und amerikanische Popmusik auf Widerstände gestoßen sei. Fausers Fokus liegt auf der “concert music”, also der klassischen Musik, und im Umschlagtext heißt es, dass Dinah Shore, Duke Ellington und die Andrews Sisters vielleicht die Zivilisten zuhause und die Soldaten in Übersee unterhalten hätten, es tatsächlich aber vor allem die klassische Musik gewesen sei, die die Menschen für die Kriegsanstrengungen mobilisiert habe. Patrick Bade schließlich wagt den Rundumschlag, lässt also auch die sogenannte leichte Muse, Swing und Jazz, nicht aus. Während er dabei neben dem klassischen Repertoire und dem Swing auch einen Blick auf die Funktion von Radio, Film und Plattenindustrie wirft, außerdem in einem langen Kapitel Kriegslieder aus unterschiedlichen Ländern ins Visier nimmt, finden man in Fausers Buch Informationen über Musiker in der Armee, Auftragskompositionen für den Kriegseinsatz, ein Kapitel über Musik als Beruhigung der Bevölkerung und als Therapie für traumatisierte Soldaten sowie eines über die vielen Exilkomponisten, die durch den Krieg in den USA strandeten. Christina Baade schließlich diskutiert in ihrem Buch auch das Thema von Tanzmusik und Maskulinität, die Sorge um den Erfolg der amerikanische Popmusik und die Verdrängung eigener Traditionen, und die Bedeutung von Rundfunkprogrammen, in denen afro-amerikanische Musik in den Mittelpunkt gestellt wurden, für schwarze britische Musiker. Bei allen drei Autor/innen finden sich Diskussionen der Zuschreibung moralischer Qualitäten zur Musik, der Grundlage letzten Endes dessen, was in den USA später zur “cultural diplomacy”, zur Kulturdiplomatie werden sollte.

2012baadeFür Christina Baades Argumentationslinie spielt der Jazz eine zentrale Rolle; ihr Buch erlaubt dabei Rückschlüsse auf Entwicklungen des Nachkriegsjazz in Großbritannien, einschließlich der Hinwendung vieler junger Musiker insbesondere zu traditionellen Jazzstilen. Patrick Bade hat neben einem Kapitel über Jazz und Swing im Dritten Reich, in dem er auch auf das Phänomen der Propagandaband Charlie and His Orchestra eingeht, ein eigenes Kapitel über Musik im Feldlager, im Gefangenenlager und im Konzentrationslager. Fauser wiederum diskutiert in ihrem Buch ausführlich musikalischen Ausdruck von Nationalismus, etwa in Werken von Aaron Copland und Roy Harris.

Patrick Bade gibt am Schluss seines Buchs einen Ausblick auf die Nachwirkungen, erzählt etwa, dass Wagner im Bayreuther Festspielhaus kurzzeitig Cole Porter weichen musste, berichtet, wie Sänger/innen und Musiker/innen nach dem Krieg mit ihrer Karriere im Dritten Reich konfrontiert wurden oder diese sehr bewusst aus ihrer Biographie ausblendeten. Er endet mit dem kurzen Hinweis auf Werke, die sich bis ins 21ste Jahrhundert hinein mit den Gräueltaten des Kriegs auseinandersetzen. Christina Baades Buch endet mit der Ankunft der amerikanischen Truppen im August 1944 und der Entscheidungen des BBC, die auch die amerikanischen GIs mit ihrem Programm unterhalten wollte. In der Folge kam es zu einer Diskussion der Vermischung musikalischer Werte in der populären und Tanzmusik, über “Britishness” oder “Pseudo-American”. Ihr Buch verweist zwischen den Zeilen immer wieder, etwa Kapiteln über das vom Rundfunk mitgeprägte Bild der Frau oder im Versuch, die Ausstrahlung von Musik männlicher übersentimentaler Schlagersänger im Rundfunk zu unterbinden, auf Diskurse, die auch nach dem Krieg weitergingen und auf die letzten Endes BBC-Programmentscheidungen großen Einfluss hatten. Bei Fauser geht der Blick in die Nachkriegszeit über John Cage, dessen experimentelle Ideen sie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren verortet. Sie verweist darauf, dass Cage und seine Zeitgenossen ihre Lehren aus den Erfahrungen des Kriegs gezogen hätten, sich nach Ende des Kriegs von ihren nationalistischen Kompositionen distanziert oder aber diese in neue Werke integriert hätten.

2015badeZusammengefasst bietet Patrick Bade im breiteren Ansatz seines Buchs eine Art Rundumschlag über das Thema. Christina Baade wirft Licht auf die Verflechtungen zwischen Musik, Musikindustrie, öffentlicher Meinung und Publikumsgeschmack. Fausers Studie schließlich hätte von einer Erweiterung ihres Schwerpunkts vielleicht profitiert. Fauser begründet ihren eingeschränkten Blick im Vorwort damit, dass die Jazz- und Popmusikszene jener Jahre ja schon ausgiebig genug untersucht worden sei, während Forschungen zur klassischen Musik im Krieg weitgehend fehlten, vergibt sich damit aber die Chance einer differenzierten Darstellung, was vielleicht – nehmen wir einmal an, dass der Einband-Text vom Verlag und nicht von ihr stammte –, eine wertende Aussage wie die, dass Jazz und Popmusik die Bürger zuhause und die GIs in Übersee vielleicht unterhalten hätten, es aber die klassische Musik gewesen sei, die den wirklichen Unterschied gemacht habe, verhindert hätte.

Von solchen Anmerkungen abgesehen, haben alle drei Bücher ihre Meriten. Sie helfen bei der Kontextualisierung von Musikgeschichte in der späten ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, die letzten Endes Auswirkungen auch darauf hatte, wie Musik heute klingt und wie wir sie wahrnehmen.

Wolfram Knauer (Oktober 2015)


 

 

Giving Birth to Sound. Women in Creative Music
herausgegeben von Renate Da Rin & William Parker
Köln 2015 (Buddy’s Knife)
294 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-00-049279-2

2015darinVielleicht müsste am Anfang dieser Rezension erklärt werden, welchen Weg die Bücher durchlaufen, die im Jazzinstitut Darmstadt anlangen. Bevor wir uns die Bücher aussuchen, die wir rezensieren wollen, erfassen wir sie in unserem Jazz Index, einer computergestützten bibliographischen Datenbank, die von Forschern und Journalisten (und Fans) aus aller Welt genutzt wird. Das heißt, wir gehen das Buch von vorn bis hinten durch, ordnen jedes einzelne Kapitel einem Stichwort oder einem Musikernamen zu, tragen biographische Notizen wie etwa Geburtstag oder Geburtsort, nach, sofern sie in unserer Datenbank noch fehlen. Erst dann machen wir uns ans Lesen.

Aber schon bei diesem ersten Schritt des Erfassens fiel einiges auf beim Buch “Giving Birth to Sound”. Etliche der darin befragten Musikerinnen waren nämlich noch gar nicht in unserer Datenbank erfasst oder aber nur mit relativ kurzen bibliographischen Listen. Über sie wurde in der Jazzpresse bislang also nur wenig berichtet. Nun ja, mag man meinen, das hat sicher auch damit zu tun, dass Frauen ja so richtig erst in den letzten Jahren ins Rampenlicht des Jazz getreten sind. Weit gefehlt aber, und das war die zweite Überraschung: Viele Musikerinnen, die im Buch zu Worte kommen, gehören nämlich gar nicht der jungen (sagen wir: unter 40-jährigen) Generation an, sondern sind weit länger auf der Szene unterwegs. Die Gründe für ihre Unsichtbarkeit in der Jazzpresse mögen also doch woanders liegen.

Eine dritte Erkenntnis, die sich beim Durchblättern schnell ergibt, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Jede der Musikerinnen hat einen völlig anderen Zugang zum Thema. Mal analytisch, mal diskursiv, mal ausweichend, mal ablehnend, mal nüchtern gefasst, mal poetisch überhöht, mal kämpferisch, mal verteidigend. Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich schon in den Überschriften der Kapitel, die Renata Da Rin und William Parker aus der Frage “Was bedeutet Musik für Dich” abgeleitet hat. “Jeder Sound und jede Stille”, antwortet Renée Baker; “die Gründe für mein Leben”, sagt Amy Fraser; “ein abstrakter Ort, um das Leben zu teilen und zu fühlen”, meint Marilyn Mazur; “ein Lager der Erinnerungen”, findet Shelley Hirsch, “Leben, Magie, Geist”, beschreibt Maggie Nicols, oder aber, so Erika Stucky, “serious fun – a ‘Schnaps'”.

Oder aber die Einleitung: Nach dem Vorwort von Amina Claudine Myers haben die Herausgeber eine Anzahl von Reaktionen auf den Buchtitel zusammengefasst. “Giving Birth to Sound”? Schrecklicher Titel: Frauen wurden schließlich immer wieder aufs Gebären reduziert, meint eine der Gesprächspartnerinnen, während eine andere findet, der Titel passe, sei auch angenehm mehrdeutig. Naja, und bei allen Bedenken spräche der Titel ja auch vom Schaffen von etwas Neuem. Blödsinn, widerspricht eine weitere Stimme, Gebären sei doch eine passive, rein physische Tätigkeit, jede Kuh könne das. Musik zu erschaffen sei dagegen ein aktiver intellektueller Prozess und damit das exakte Gegenteil.

Das Konzept des Buchs: Ohne weitere Vorgaben schickten die Herausgeber den 48 Musikerinnen 20 Fragen, die vom Faktischen zum Nachdenken über den Prozess des Kreativen gehen, sich dabei immer wieder danach erkundigen, inwieweit das eigene Geschlecht bei musikalischen, ästhetischen oder beruflichen Entscheidungen eine Rolle gespielt habe. Tatsächlich sind nur sechs der Fragen konkret aufs Frau-Sein der Musikerinnen abgezielt: Wie hast Du deine Kreativität als kleines Mädchen ausgelebt? Wie hat die Tatsache, dass Du eine Frau bist, die Entwicklung Deiner musikalischen Karriere behindert? Wie siehst Du Deine Position als Frau in der Musikszene? Hat diese Position Dein Verhältnis zum Sound beeinflusst? Siehst oder spürst Du einen Unterschied im weiblichen und im männlichen Ansatz an Kreativität? Was würdest Du anderen / jungen Frauen empfehlen, die sich bemühen ein kreatives Leben zu führen?

Die Antworten auf diese und allgemeiner gehaltene Fragen fallen so unterschiedlich aus wie die Lebenswege der 48 Interviewten. Es macht nun mal einen Unterschied, ob man Ende der 1970er Jahre in Dänemark zum Jazz kommt wie Lotte Anker oder 1941 in Oklahoma wie Jay Clayton. Haben Männer und Frauen einen anderen kreativen Approach?, fragen die Herausgeber. “NEIN!” ruft Jay Clayton, in Großbuchstaben, keine weitere Diskussion duldend, während Marilyn Mazur einwirft, Frauen würden vielleicht weniger in Wettstreit treten, mehr ans Ganze und Kollektive denken. “Nein, ich sehe da keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen”, findet wiederum Amy X. Neuberg, um gleich anzuschließen, “das heißt aber nicht, dass es keine gäbe.” Klar gibt es einen Unterschied”, erklärt Kali Z. Fasteau, etwa, dass Männer in hierarchischen Systemen besser funktionierten als Frauen. Andererseits, urteilt Nicole Johänntgen, sei diese Frage ziemlich schwer zu beantworten, weil es nun mal so sehr viel mehr Männer als Frauen auf der Szene gäbe.

Nicole Mitchell beantwortet ihre Fragen in poetischen Erinnerungen und Reflexionen über schwarze Musik, den langen Atem der Bürgerrechtsbewegung und ihren eigenen Weg. Maggie Nicols auf der anderen Seite streicht heraus, dass ihre Musik immer sowohl politische wie auch spirituelle Untertöne besessen habe. Ob sie einen Preis bezahlt habe dafür, dass sie Musik mache, fragen die Herausgeber, und Angelika Niescier findet: Im Gegenteil, sie habe daraus sehr viel für sich gewonnen. Musikerin zu werden, sei nun mal eine Lebensentscheidung, finden auch viele ihrer Kolleginnen, niemand zwinge einen schließlich diesen Weg einzuschlagen.

Die weibliche Kreativität erlaube mehr “Raum”, meint Fay Victor, und zwar “sowohl mehr Raum im Sinn von Zeit und Raum wie auch mehr Raum für die Akzeptanz von Fehlern und Intuition”. Klar habe die Tatsache, dass sie eine Frau sei, ihr Verhältnis zum Sound beeinflusst, erklärt Joëlle Léandre. Frauen seien nun mal anders, sie hätten die Fähigkeit zur Distanz, die in diesem Geschäft wichtig sei, außerdem könne man mit ihnen viel besser lachen.

Sie sehen in dieser springend-vergleichenden Zusammenfassung einzelner Antworten bereits, wie ungemein gewinnbringend sich dieses Buch lesen lässt, wenn man blättert, Themen identifiziert, die die Herausgeber durch ihre Fragen ja nicht festgeklopft, sondern nur angestoßen haben, um dann zu sehen, welchen Kontext die verschiedenen Antworten beleuchten. Man erlebt die ja unabhängig voneinander befragten Musikerinnen bald wie in einer respekt- und kraftvollen Diskussion neugieriger, andere Meinungen (meistens) zulassender, vor allem aber ungemein selbstbewusster Musikerinnen.

Das Fazit des Buchs wusste man vielleicht schon vor der Lektüre: Eine einzelne Antwort auf die Frage nach dem kreativen Unterschied nämlich gibt es nicht. Der künstlerische Ansatz zwischen Männern und Frauen ist genauso unterschiedlich wie jener zwischen Männern und Männern oder zwischen Frauen und Frauen. Es gibt jedoch, und das wird in diesem Buch sehr deutlich, ein anderes Diskursverhalten, eine klare Selbstwahrnehmung der Rolle, in die man gesellschaftlich gedrängt wurde.

Unbedingt lesenswert also, ob von Buchdeckel zu Buchdeckel oder im laufenden Vor- und Zurückblättern. “Giving Birth to Sound” erklärt dem interessierten Leser nämlich in der persönlichen Selbstbefragung der Protagonistinnen und oft auch zwischen den Zeilen weit mehr über die Thematik, als man es etwa von wissenschaftlichen Studien erwarten dürfte.

[Naja, wir empfehlen dennoch den Besuch unseres Darmstädter Jazzforums zum Thema “Gender and Identity in Jazz” vom 1.-3. Oktober 2015 oder die spätere Lektüre unserer Beiträge zur Jazzforschung mit den referaten dieser Konferenz. Aber das ist natürlich nur Eigenwerbung…]

Wolfram Knauer (September 2015)


 

Beyond Jazz. Plink, Plonk & Scratch. The Golden Age of Free Music in London 1966-1972
von Trevor Barre
London 2015 (Compass Publishing)
330 Seiten, 12,99 Britische Pfund
ISBN 978-1-907308-84-0
Zu bestellen über trevorbarre@aol.com

Ekkehard Jost hat die Jahre zwischen 1960 und 1980 als eine Zeit beschrieben, in der Europas Jazz zu sich selbst fand, in der Musiker sich von ihren amerikanischen Vorbildern lösten und eigene Wege gingen. Einige dieser Wege führten fort vom, gingen also “beyond jazz”, und diese Entwicklung will Trevor Barre in seinem Buch mit demselben Titel nachzeichnen. Der Gitarrist Derek Bailey forderte eine Improvisation, die sich aus den idiomatischen Bezügen befreien, und auch andere Musiker begannen statt des Begriffs “Free Jazz” von “improvised music” zu sprechen. Barre interessiert, wie es überhaupt dazu kam, dass eine solch sperrige und alles andere als publikumsfreundliche Musik entstehen konnte und warum sie nicht angesichts ihres kommerziellen Misserfolgs einfach nach ein paar Jahren ausstarb. In seinem Fokus steht dabei die erste Generation der freien Improvisatoren, also Musiker wie Evan Parker, Derek Bailey, John Stevens, Kenny Wheeler, Barry Guy, Dave Holland, Trevor Watts, Tony Oxley, Paul Rutherford, Howard Riley, Eddie Prévost, Keith Rowe, Gavin Bryars und Cornelius Cardew.

Barre beginnt mit einer Definition seines Themas: Wo die meisten Jazzbücher den Jazz durch seine improvisatorischen Parameter beschreiben würden, sei Free Music, schreibt er, einzig durch den improvisatorischen Gehalt definiert. Er stellt unterschiedliche Formen freier Improvisation vor, solche, die näher am Jazz bleiben und solche, die eher der europäischen Avantgardetradition verpflichtet scheinen. Die beiden Hauptensembles seines Buchs sind das Spontaneous Music Ensemble und die Gruppe AMM. Barre ordnet deren Auftritte in die Jugend- und Protestkultur der 1960er Jahre ein und schildert, wie die globalen Entwicklungen von Pop, Rock und Folk jungen Musikern ein völlig neues Vokabularium an die Hand gab, sie auch zu neuen Herangehensweisen zwischen tiefer Ernsthaftigkeit und unbändigem Humor bewegten. Er beschreibt auch, welchen Platz sie in die Bandbreite des britischen Jazz jener Jahre zwischen Dixieland und Free Jazz hatten.

Barre zeichnet den Weg einzelner Protagonisten zur freien Improvisation nach, schildert insbesondere die Bedeutung des Little Theatre Club, in dem die jungen Musiker mit Kollegen auch aus dem europäischen Ausland experimentieren konnten. Er beschreibt, wie sie nach und nach merkten, dass es außer dem afro-amerikanischen Jazz auch anderes gab, dass beispielsweise südafrikanische Musiker um Chris McGregor dieser Musik eine neue Farbe geben konnten und dass sich Freiheit, wie sie der Free Jazz implizierte, auch ganz mit anderen Mitteln umsetzen ließ. Er diskutiert wichtige Aufnahmen der Zeit, wobei ihn vor allem die interaktiven Prozesse interessieren, die ästhetischen Diskurse, die sich aus der Improvisation der Aufnahmen ergaben. Das alles beleuchtet er anhand von zeitgenössischen genauso wie selbst geführten Interviews mit beteiligten Musikern. Das Spontaneous Music Ensemble und AMM nehmen zwei der umfangreichsten Kapitel ein, in denen Barre neben dein Einflüssen und den ästhetischen Diskussionen auch über Nachwirkungen schreibt, bewusste oder unbewusste Reaktionen auf die Klangexperimente in weit jüngerer Musik, der 1980er, 1990er Jahre und danach. Er betrachtet den Einfluss der Technologie, schaut auch auf die Bedeutung der visuellen Covergestaltung oder der Plattentexte. Das Label Incus nimmt ein eigenes Kapitel ein, wie FMP in Deutschland oder ICP in Holland ein von Musikern gegründetes Label, das Musik seiner Mitglieder nicht so sehr vermarkten als vielmehr dokumentieren wollte. Improvisation ist schließlich weit mehr als komponierte Musik auf das Medium der Tonaufzeichnung angewiesen – sonst verklingt sie.

In seinem Schlusskapitel betrachtet Barre kurz die “zweite Generation” der Free Music in London um das London Musicians’ Collective sowie eine “dritte Generation” um John Edwards, John Butcher und andere und setzt beide Entwicklungen mit jenem von ihm als “erste Generation” betrachteten Grundthema seines Buchs in Beziehung. Im Nachwort schließlich verfolgt er die Aktivitäten seiner Protagonisten bis in die Gegenwart.

Trevor Barres Buch ordnet die Entwicklung der Free Music der späten 1960er, frühen 1970er Jahre in die kulturelle Szene des “Swinging London” ein. Ihm gelingt dabei vor allem der Blick auf sich wandelnde ästhetische Ideale und eine Begründung derselben aus gesellschaftlichen und politischen Diskussionen heraus. Der Musik selbst kommt er vor allem in Interviews mit den beteiligten Musikern nahe. Die inhaltliche wie organisatorische Unabhängigkeit der britischen Improvisationsszene jener Jahre hat Auswirkungen bis heute. Initiativen wir F-Ire Collective wären ohne das Vordenken und Vormachen der hier beschriebenen Musiker und Gruppen nicht möglich gewesen. Von daher füllt Barres Buch eine Lücke. Dass er bestimmte Themen weitgehend außer Acht lässt – die Auseinandersetzung dieser Szene mit ihrem Publikum beispielsweise oder mit den Mainstream-Medien, der tatsächliche Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Szenen oder die Reaktion amerikanischer Musiker, zeigt nur, wie viele Perspektiven das Thema tatsächlich hat, die bislang kaum beleuchtet wurden. Barre jedenfalls stößt mit “Beyond Jazz” die Tür zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der musikalischen Freiheitsbewegung jener Zeit weit auf.

Wolfram Knauer (August 2015)


 

Little Satchmo. Living in the Shadow of my Father, Louis Daniel Armstrong
von Sharon Preston-Folta (mit Denene Millner)
Charleston/SC 2015 (self published)
112 Seiten, 12 US-Dollar
ISBN: 978-1-481227-23-7
Zu beziehen über www.littlesatchmo.com

2015prestonfoltaDie offizielle Version lautet: Louis Armstrong hatte nie Kinder. Er hätte immer gern welche gehabt, sagte seine letzte Frau und Witwe, Lucille Armstrong, aber er sei zeugungsunfähig gewesen. Nun kommt, 34 Jahre nach Satchmos Tod, Sharon Preston-Folta mit einem Buch heraus, in dem sie kundtut, sie sei die Tochter Louis Armstrongs aus einer außerehelichen Beziehung, die Satchmo in den 1950er Jahren hatte.

Ihr Leben lang habe sie diese Wahrheit herunterschlucken müssen. Sie wolle kein Geld, keinen Ruhm, aber immer selbst auf das öffentliche Wissen um ihren Vater verzichten zu müssen, sei einfach zu viel. In ihren Recherchen habe sie nur einen einzigen schriftlichen Hinweis auf Satchmos Vaterschaft gefunden, einen Brief des Trompeter an seinen Manager, Joe Glaser, aus dem Jahr 1955, in dem er diesen bat, vor der Ankunft seiner Frau Lucille in Las Vegas ein paar Geschäftsdinge zu klären, darunter Zahlungen an eine Freundin, von der er glaubt, dass sie ein Kind von ihm habe. Ihre Mutter habe sie immer beschworen, ihren Vater geheim zu halten, und so habe sie letzten Endes gehorcht und damit auch keine Ansprüche geltend gemacht auf sein physisches, historisches und finanzielles Erbe. Wenn sie etwas gekränkt habe bei ihren Recherchen, sei es, dass Louis Armstrong in seinen Briefen so offen über alles geredet habe, seine Musik, seine Kindheit, seine Liebe zum Essen und zu den Frauen, über Sex, sogar über seine Darmtätigkeit, dass er über seine Tochter aber sein Leben lang geschwiegen habe.

Warum er ihre Existenz verleugnet habe? Nun, erklärt Preston-Folta, Louis Armstrong sei ein gefeierter Künstler seiner Zeit gewesen und habe sich in der besten (weißen) Gesellschaft aufgehalten. Es habe einfach nicht gepasst, in dieser Zeit, wenn Nachrichten über ein uneheliches Kind mit einer Geliebten in die Schlagzeilen gekommen wären.

Prestons Mutter wurde 1921 in New York geboren und arbeitete bereits als 16-Jährige als Chorus Girl in diversen Shows. 1941 heiratete sie einen Tänzerkollegen; 1946 arbeiteten die beiden als Tanzpaar “Slim & Sweets” als Vorgruppen für große Swingorchester, unter ihnen auch Louis Armstrong, der sich mit ihnen anfreundete und in einen launigen Briefwechsel einstieg. 1950 starb Slim, und bei der Trauerfeier war auch Louis Armstrong dabei, der Lucille Preston in den Arm nahm und versprach: “Ich werde mich um dich kümmern.” In den nächsten vier Jahren reiste sie Pops hinterher und tauchte auf, wann immer Armstrongs in New York spielte. 1954 wurde Preston schwanger, und im November schrieb Satchmo ihr einen Brief, in dem er erklärt, wie sehr er sich auf das Kind freue und sogar vorschlägt, sie zu heiraten, sollte seine Frau (mit gleichem Namen Lucille) sich von ihm scheiden lassen. Armstrong war dann aber nicht dabei, als Sharon Louise (nach Louis) Preston am 24. Juni 1955 das Licht der Welt erblickte. Armstrongs rechtmäßige Ehefrau war “not amused” und habe ihm nach der Geburt der Tochter sogar vorgeschlagen, diese zu adoptieren, was ihre leibliche Mutter aber vehement ablehnte. Lucille (die Ehefrau) habe sogar die Alimente überwiesen, bis sie diese Aufgabe irgendwann Joe Glaser übertrug.

In ihrem Buch berichtet Sharon von den viel zu seltenen, sorgfältig geplanten und sehnsuchtsvoll erwarteten Treffen. Sie und ihre Mutter lebten eine Weile bei ihrem Onkel Kenny, der nach außen schon mal als Lucilles Ehemann auftrat und immer wieder auf seine Schwester eindrang, bei Satchmo mehr einzufordern: mehr Geld, mehr Fürsorge, am besten seinen Namen. Bei einzelnen Sommertourneen durfte Sharon mitreisen. Ansonsten aber war Satchmo vor allem durch die monatlichen Unterhaltszahlungen präsent, durch Broadway-Tickets, 1962 durch den Kauf eines Hauses in Mount Vernon, New York. In Harlem hatte sich niemand wirklich darum gekümmert, wie ihre Familienverhältnisse aussahen, erzählt Preston-Folta, in Mount Vernon aber begann eine Zeit der Lügen. Die Liaison dauerte ja bereits 12 Jahre, aber nach wie vor war nicht in Sicht, dass Armstrong auch öffentlich zu seiner Familie stehen würde. Mit zehn Jahren begriff Sharon erstmals, dass ihr Vater eine “andere Lucille” hatte, ein anderes Leben, das mit ihrem aber auch gar nichts zu tun hatte.

Etwas später seien sie gemeinsam in Atlantic City zu einem Auftritt Marvin Gayes gegangen, es habe einen Streit zwischen den Erwachsenen gegeben, bei dem ihre Mutter Satchmo fragte, wann er sie nun endlich zu heiraten gedachte, worauf er laut wurde: “Ich werde dich niemals heiraten” und mit Fingerzeig auf die Tochter fragte: “Sag mir einfach, was es kostet, für sie zu sorgen!” Das war das Ende der Beziehung.

Kaum war Armstrong gestorben, kamen auch die monatlichen Schecks nicht mehr. Ein paar im Voraus geleistete Zahlungen für Sharons Erziehung hielten sie und ihre Mutter über Wasser, mussten bald auch den Zuwachs zur Familie finanzieren, denn Sharon wurde mit 16 selbst Mutter. Sharon erzählt, wie ihr Leben weiterging, immer gezeichnet durch die Narben, die der fehlende Vater hinterlassen hatte. Irgendwann rebellierte sie gegen die eigene Bitterkeit und versuchte, das emotionale Band, das sie mit der verlorenen, nie gehabten Vergangenheit hatte, zu zerschneiden.

Sharon Preston-Foltas Buch endet mit einem Besuch im Armstrong House in Queens. Ein Anwalt hatte ihr empfohlen, einen Blick in Satchmos Testament zu werfen, das eine eidesstattliche Erklärung von Lucille, Armstrongs Frau, enthielt, Armstrong habe nie Kinder gehabt. Als Sharon diese Zeilen las, von Lucille eigenhändig korrigiert von “Der Verstorbene und ich hatten keine Kinder” in “Der Verstorbene hatte keine Kinder”, entschied sie sich, jetzt ihr Geschichte zu erzählen. Ihre Mutter, die sie immer zur Geheimhaltung gedrängt hatte, willigte endlich ein: “Mach, was Du meinst, dass du tun musst.”

Sharon Preston-Foltas Buch ist als eine Liebeserklärung an die von ihr immer vermisste Vaterfigur Louis Armstrong geschrieben, aber es ist eben auch eine leicht verbitterte Liebeserklärung geworden. An genügend Stellen legt man es zur Seite, unterschiedlich berührt von den Schuldzuweisungen, mit denen Preston-Folta ihre eigenen Lebensentscheidungen aus ihrer vaterlosen Kindheit und Jugend ableitet. Ein bedrückendes Schicksal, denkt man, und fragt sich zugleich, warum sie, die immer wieder von der DNA ihres Vaters schreibt, die in ihr fortlebe, nicht irgendwann, spätestens vor der Veröffentlichung dieses Buchs, auf einem DNA-Test bestanden habe. Doch ist es einem Kind, das sein Leben lang sicher ist, seine Eltern zu kennen, überhaupt zuzumuten, von einem auf den anderen Tag an der Tatsache der Vaterschaft zu zweifeln? Auch als skeptischer Leser sollte man jedenfalls für die Zeit der Lektüre erst einmal die Grundbehauptung der Vaterschaft Louis Armstrongs akzeptieren, sonst hat man wenig Spaß am Buch. Armstrong selbst schließlich scheint bis zu seinem Tod überzeugt davon gewesen zu sein, in Sharon eine Tochter gehabt zu haben.

Allen Fragen und sicher auch allen möglichen Zweifeln zum Trotz, die einem bei der überraschenden Enthüllung Sharon Preston-Foltas kommen mögen, lernt man einiges bei der Lektüre, und wenn nur, dass Scheinwerferlicht auch Schatten wirft, dass Stars wie Louis Armstrong das Leben vieler Menschen zum Teil viel direkter berührten, als man es wahrhaben mag, und nicht zuletzt, dass die Persönlichkeit großer Stars aus ihren emotionalen Stärken genauso besteht wie aus ihren emotionalen Unzulänglichkeiten. Am Glorienschein des großen Meisters mag das alles ein wenig kratzen; der Kraft seiner Musik tut es keinen Abbruch.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Theatrical Jazz. Performance, Àṣẹ, and the Power of the Present Moment
von Omi Osun Joni L. Jones
Columbus/OH 2015 (The Ohio State University Press)
270 Seiten, 99,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8142-1282-0

2015jonesDer Blick über den Tellerrand kann das Wesentliche erhellen, der Blick von außen Dinge erkennen lassen, die man im internen Diskurs oft nicht mehr sieht. Das ist einer der Hintergründe für die sogenannten “new jazz studies”, ein Konzept in der jüngeren Jazzforschung, das sich der untersuchten Materie neben der musikwissenschaftlichen Betrachtung interdisziplinär nähert. Die Feministin Omi Osun Joni L. Jones versucht in ihrem Buch eine Verbindung zwischen Jazzästhetik , theatralischer Performance und auf Yoruba basierender afrikanischer Theologie. Dabei beschreibt sie als eine der zentralen Prinzipien der Jazzästhetik die Fähigkeit, die eigenen intuitiven Kräfte freizusetzen. In ihrer Beschäftigung mit afrikanischer Spiritualität habe sie gelernt, dass auch in wissenschaftlichen Büchern die Auseinandersetzung mit spirituellen Impulsen nicht zu kurz kommen dürfte, ganz ähnlich wie dies auch Jazzgrößen wie John und Alice Coltrane immer gesehen hätten. Sie will mit ihrem Buch den Jazz gegen den Strich bürsten, seine Begriffe, Handlungen, Ausformungen kritisch hinterfragen, und zwar aus der Perspektive aller seiner unterschiedlichen Bedeutungen in musikalischer Ästhetik, Performance, gesellschaftlichem Spiegel, ethnischer Identität oder politischer Haltung. Es gäbe Kollegen, schreibt sie in ihrer Einleitung, die den Jazz als eine polyglotte Form ansähen und damit Gefahr liefen seine Wurzeln in der afro-amerikanischen Kultur zu leugnen. Tatsächlich aber sei die spirituelle Kraft nicht an irgendwelche Identitätsregeln gebunden. Die spirituelle Transzendenz des Jazz brauche keine Abwesenheit ethnischer Identität (“race”), sondern höchstens Abwesenheit solch einer ethnischen Identität (“race”) als Restriktion oder als Prognose.

Tatsächlich handelt ihr Buch allerdings zentral gar nicht von Musik, sondern vom Theater, und hier insbesondere von den drei Theaterautoren Laurie Carlos, Daniel Alexander Jones und Sharon Bridgforth. Jones bedient sich in ihrer Herangehensweisen an das Thema der feministischen und queeren Theorie, erklärt Wirkungen der Theaterperformance aus der Haltung des Jazz heraus und zugleich aus ihrer Interpretation von Yoruba-Traditionen. Als übergeordneten Approach versucht sie ihrem wissenschaftlichen Buch darüber hinaus aber auch improvisatorische Strukturen zu geben, indem sie Bilder, Fotos, Zeichnungen, Zitate einfließen lässt, die wie kurze solistische Kommentare neben ihrem Text stehen.

In ihrer Einleitung zitiert Jones einige Beispiele direkter Bezugnahme von Jazzmusikern wie Dizzy Gillespie und John Coltrane auf Yoruba-Beschwörungen, erinnert außerdem an die lebendige Avantgarde-Theaterszene von Austin, Texas, in der in den 190er Jahren die Verbindungen von Theater und Jazz besonders entwickelt wurden. Im ersten Kapitel betrachtet sie, wie biographische Erfahrungen die drei von ihr untersuchten Autoren prägten, Carlos’ Jugend im New Yorker East Village, Jones’ Aufwachsen im Arbeiterklasse-Milieu von Springfield, Massachusetts, Bridgforths Bustrips durch die verschiedenen Viertel von Los Angeles. Sie analysiert die dem Jazz nahestehenden Praktiken von Lehrer und Schüler im Theater, deren Lernprozesse dabei immer gegenseitig sind. Das zweite Kapitel untersucht Performance-Methoden, Ansätze an Regie, Probenphasen, das Beziehung-Herstellen zum Publikum, die Auswahl der Schauspieler, aber auch das Zulassen spiritueller Erfahrung im Verlauf der Performance. Im dritten Kapitel schließlich fragt sie danach, was die Performance beim Publikum (sie spricht gern von “witnesses” = Zeugen) auslöst, wie sie zu einer Perspektivverschiebung führen kann, einer aktiven Partizipation des Publikums, die das eigentliche Ziel aller Beteiligten sei.

Wenn ich Jones zu Beginn dieser Rezension in die Nähe der “new jazz studies” gestellt habe, so muss ich diese Aussage zumindest zum Teil revidieren. In den New Jazz Studies werden Aspekte des Jazz möglichst von vielen Seiten (und mit unterschiedlichen Methoden) betrachtet. Jones geht den entgegengesetzten Weg: Sie nutzt, was sie vom Jazz gelernt hat, um ihr eigentliches Thema, die Performance im Theater genauer zu definieren. Sie erkennt im Jazz Kommunikations- und Tradierungsmodelle, die so beispielhaft sind, dass sie ein anderes Genre besser verstehen lassen, vielleicht sogar Modell stehen können für neue, weitreichendere Regie- oder Performance-Ansätze. Ihr Buch ist darin so weitsichtig wie der Versuch früherer Literaturwissenschaftler wie Houston Baker, insbesondere den Bereich der afro-amerikanischen Literatur (aber durchaus darüber hinaus) durch die schon von Ralph Ellison oder Albert Murray identifizierte Blues Aesthetic zu beschreiben. Beide nahmen dabei sehr bewusst auf westafrikanische kulturelle Traditionen, Praktiken und Symbole Bezug, für den ungeübten Leser einerseits manchmal etwas schwer nachvollziehbar, gerade dadurch aber die Argumentation auch angenehm schnell aufbrechend und Rückschlüsse erlaubend.

Wenn nämlich die Praxis des Jazz als Erklärungsmodell für andere künstlerische Praktiken taugt, dann wirft das ein ganz anderes Licht auch auf den Stellenwert von Jazz und Improvisation.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


The Long Shadow of the Little Giant. The Life, Work and Legacy of Tubby Hayes
von Simon Spillett
Sheffield 2015 (Equinox)
377 Seiten, 19,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78179-173-8

2015spillettWie Hans Koller oder Lars Gullin war der britische saxophonist Tubby Hayes eine der europäischen Jazzgrößen, die ihren Kollegen genauso wie ihrem Publikum klar machten, dass der Jazz zwar eine afro-amerikanische Musik war, dass aber Europäer das Idiom durchaus beherrschten und ihre eigenen Beiträge zur Tradition des Jazz leisten konnten. Hayes kam aus der Swing-Mainstream-Tradition des Jazz, nahm erst Bebop, Hardbop, schließlich Einflüsse des Spiels John Coltranes in seinen Stil auf und starb 1973, gerademal 38 Jahre alt, in Folge einer Herz-Operation.

Dem Autor und Saxophonisten Simon Spillett gelingt es in seinem Buch “The Long Shadow of the Little Giant” mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews und Material aus Hayes’ persönlichem Archiv das Leben und die musikalische Karriere des Saxophonisten in den Jahren vom bombenerschütterten London der Nachkriegszeit über die jazzigen 1950er Jahre und die Swinging Sixties bis hin zur großen Krise des Jazz Anfang der 1970er Jahre nachzuzeichnen.

Hayes wurde in eine musikalische Familie geboren – sein Vater leitete in den 1930er Jahren verschiedene Tanzorchester, seine Mutter war Revuesängerin und -tänzerin. Schon früh war er vom Saxophon fasziniert, begann aber im Alter von acht Jahren erst einmal mit Geigenunterricht, und bekam schließlich zum elften Geburtstag das langersehnte Saxophon, das er größtenteils autodidaktisch meisterte. Er hatte ein gutes Gehör, und der Geigenunterricht hatte ihn zu einem exzellenten Notisten gemacht. Er hörte Charlie-Parker-Platten und bewegte sich in Kreisen Gleichgesinnter, spielte bald mit Ronnie Scott, Alan Skidmore und Kenny Baker, mit dem er im Juli 1951 auch seine ersten Aufnahmen machte.

Die Baker Band hatte jede Menge Fans, und die Presse wurde schnell auf Hayes aufmerksam, der bald als “boy wonder tenorist” vermarktet wurde und, noch nicht einmal 20 Jahre alt, mit den Modernisten der britischen Jazzszene spielte. Mit 18 heiratete er zum ersten Mal, hatte schon zuvor alle möglichen Drogen ausprobiert. Er spielte in den populären Bands von Vic Lewis, Jack Parnell, Tony Hall und hatte schließlich auch mit seiner eigenen Band einen vollen Terminkalender.

Spillett beschreibt, wie britische Musiker in jenen Jahren das US-amerikanische Idiom des Hardbop gemeistert hatten, die Musik von Art Blakey und Horace Silver, und wie Kollegen wie Sonny Rollins oder Hank Mobley ihre stilistischen Spuren in Hayes’ Spiel hinterließen. 1958 traten Hayes’ Jazz Couriers neben dem Dave Brubeck Quartet bei einer Tournee durch sechzehn Städte des Vereinigten Königreichs auf; 1959 wurde Hayes vom Melody Maker zum besten Tenorsaxphonisten gewählt.

Andere Musiker hatten die Entwicklung des amerikanischen Jazz genauso interessiert mit verfolgt; und um 1960 kamen erste Versuche “freier Form” auch in England an. Joe Harriott war einer der ersten, die sich an freieren Spielweisen versuchten; Hayes aber blieb skeptisch. Die Eröffnung von Ronnie Scott’s, bis heute einem der wichtigsten Clubs des Königreichs, war sowohl für die Präsenz des amerikanischen Jazz in England wichtig als auch für das Selbstbewusstsein der eigenen Szene. Der BBC schnitt Konzerte mit, und Plattenfirmen widmeten dem heimischen Jazz eigene Alben. 1961 trat Hayes erstmals in New York auf, wo ihn die Größen des amerikanischen Jazz hörten, unter ihnen Zoot Sims, Al Cohn und Miles Davis. Zurück in England erhielt er einerseits eine eigene Fernsehshow, “Tubby Plays Hayes”, hörte er andererseits erstmals John Coltrane, der sein Bild von den Möglichkeiten im Jazz genau wie das vieler anderer Kollegen völlig veränderte.

Als Duke Ellington 1964 in England auftrat, jammte Hayes mit Bandmitgliedern und wurde vom Duke gebeten für Paul Gonsalves einzuspringen, als dieser unpässlich war. In den nächsten Jahren war Hayes international unterwegs, trat im New Yorker Half Note genauso auf wie beim NDR Jazz Workshop in Hamburg. Er arbeitete wie besessen, hatte zugleich gesundheitliche Rückschläge, darunter eine Thrombose, die auch seine Lungenfunktion herabgesetzt hatte.

Ende der 1960er Jahre hatte der britische Jazz zwei Probleme: die Macht der Rockmusik auf der einen Seite und das Verlangen des Publikums nach amerikanischen Künstlern auf der anderen Seite. Hayes erlitt auch persönliche Rückschläge, etwa als seine Freundin starb und er daraufhin noch stärker zu Drogen griff. Er musste wegen Herzproblemen immer häufiger in ärztliche Behandlung, begann aber trotz aller gesundheitlichen Probleme ein musikalisches Comeback. Er spielte mit Musikern der britischen Avantgarde, John Stevens, Trevor Watts, Kenny Wheeler, beteiligte sich bei einem Benefizkonzert für Alan Skidmore, der nach einem Autounfall im Krankenhaus lag, starb aber schließlich nach einer Operation, bei der eine Herzklappe ausgetauscht werden sollte.

“The Long Shadow” heißt das Buch, und so widmet Spillett sein letztes Kapitel der kritischen Aufbereitung seiner musikalischen Bedeutung nach seinem Tod sowie dem Nachwirken Hayes’ auf der britischen Szene. Er schließt mit einer Diskographie die Aufnahmen des Saxophonisten zwischen 1951 bis 1973 verzeichnet.

Simon Spillett hat viel Sorgfalt in seine Recherchen gesteckt. Nebenbei wirft er immer wieder aufschlussreiche Blicke auf die Musik selbst, auf die Aufnahmen, die Hayes’ musikalische Entwicklung dokumentieren. Wenn überhaupt, so mangelt es dem Buch insbesondere in diesem Segment an Tiefe, etwa an Erklärungen, wo sich Einflüsse, ästhetische Umbrüche und anderes konkret festmachen lassen. Eingehend aber beschreibt er den Lebensweg, die persönlichen Probleme, die musikalischen und ästhetischen Entscheidungen und zieht die Verbindungen zu den allgemeinen Entwicklungen des Jazz in Großbritannien, in Europa und in den Vereinigten Staaten. Spillett konnte mit Zeitzeugen sprechen und hatte Zugriff auf Hayes’ persönliche Papiere. Sein Buch ist eine definitive Biographie, die viele Fragen beantwortet und dabei im umfassenden Apparat all die Dokumente benennt, die für eine solche Arbeit notwendig sind.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Musiktraumzimmer Jazzcampus
herausgegeben von Peter Rüedi & Steff Rohrbach
Basel 2015 (Jazzcampus / Echtzeit Verlag)
212 Seiten, 32 Euro
ISBN: 978-3-905800-78-4

B2015rueediasels Jazzschule ist zum Jazzcampus geworden, zu einer Hochschule für improvisierte Musik, in der, wie der Titel dieses Buchs suggeriert, jede Menge an Träumen und Visionen wahrgeworden sind. Da ist zuallererst die Vision des Gründers und Gitarristen Bernhard Ley, der erzählt, wie er die Schule in den Räumen eines Jugendkulturzentrums gründete und wie er es dann durch pädagogisches wie politisches Geschick, aber auch durch das Talent der Vernetzung, das die Schule zum Teil des Basler Kulturlebens werden ließ, erreichte, sie zu einem Kompetenzzentrum zu machen, in dem der musikalische Gehalt, die Arbeit von Lehrenden und Schüler/innen, sich auch in der architektonischen Umsetzung spiegelt.

Davon nämlich handelt dieses Buch, vom glücklichen Unterfangen, auf den Grundrissen einer ehemaligen Maschinenfabrik eine Musikschule zu bauen mit all der für eine solche notwendigen Infrastruktur, Club, Konzertsaal, Tonstudio, Probenräume etc. Ein Musiktraumzimmer sei das ganze geworden, eine Raumrealisation also, die dem Thema “Jazz” angemessen sei. Mitgeholfen hätten alle, die Architekten Lukas Buol und Marco Zünd, der Bauherr Georg Hasler von der Stiftung Levedo sowie Bernhard Ley, der als Studiengangsleiter den zukünftig alltäglichen Gebrauch im Blick behielt. Das Gespräch mit diesen vieren erklärt Fragen der Akustik, Diskussionen im Planungsverlauf, die Außenwirkung genauso wie den inneren Glanz (sprich: Farben, Bodenbeläde, Beleuchtung).

Solch eine theoretische Diskussion lässt sich nur durch Fotos und Raumpläne in Buchform einfangen. Eigentlich gehört Musik dazu, noch wichtiger wäre der tatsächliche Raumeindruck, der aber in der Architektur immer noch einzig durch einen Besuch ermöglicht wird.

Um die tatsächliche musikalische und pädagogische Nutzung der Räume geht es im zweiten, noch umfassenderen Teil des Buchs: um Konzepte der Jazzpädagogik, persönliche Herangehensweisen an Musik, ästhetische Vorstellungen, die Rückwirkung von Unterricht auf die eigene Kunst der unterrichtenden Musiker.

Wolfgang Muthspiel etwa betont, wie wichtig es neben einem festen Lehrerstamm sei, großartige internationale Kollegen als Gastdozenten an die Schule zu holen. Andy Scherrer erzählt, wie er zum Unterrichten wie die Jungfrau zum Kind gekommen sei, und wie er trotz vieler Schüler immer eine gesunde Skepsis gegenüber des Unterrichtens beibehalten habe. Malcolm Braff erklärt, dass er nicht so sehr das Klavier denn vielmehr sich selbst als das wirkliche Instrument empfinde und wie er in den letzten Jahren eine rhythmische Theorie entwickelt habe, die auch Grundlage seines Unterrichts an der Hochschule sei. Lisette Spinnler versteht die Stimme als Instrument und Texte als Ausgangspunkt für musikalische Erkundungen. Adrian Mears plädiert auch beim Lernen für Spielpraxis, egal mit was für Besetzungen. Bänz Oester vertraut auf die Motivation zukünftiger Musiker/innen, auf die Verantwortung für das Selbst, das Eigene. Domenic Landolf mag sich weder verbiegen noch sonderlich in den Vordergrund spielen. Jorge Rossy spricht über die Standards als Basis und über seine Arbeit mit Carla Bley und Steve Swallow. Matthieu Michel überlegt, wie man als junger Musiker neben der Technik vor allem zu einer eigenen Stimme gelangt. Hans Feigenwinter sieht seine analytischen Fähigkeiten als eine Grundlage seines Musikmachens, zugleich aber die Musik auch als laufenden Ansporn, sie analytisch zu begreifen. Gregor Hilbe berichtet über die Bedeutung des Schlagzeugers in einer rhythmischen Kultur, und zugleich über die Idee des Producing / Performance-Studiengangs am Jazzcampus Basel. Daniel Dettmeister hatte die Chance, als Tonmeister selbst Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung des Aufnahmesaals der Hochschule. Mit Martin Lachmann kommt zum Schluss auch noch der Akustiker selbst zu Wort, der die Räume eingerichtet hat.

Eine bunte Abfolge von Interviews, Reflexionen und Fotos also, die sehr umfassend das Konzept klarmachen, dass hinter dem Jazzcampus Basel steckt: Freiräume schaffen und beste akustische Möglichkeiten. “Musiktraumzimmer Jazzcampus” ist damit zwar vordergründig eine in Buchform gepresste Imagebroschüre der Hochschule, zugleich aber erheblich mehr: ein Manifest für eine Jazzausbildung, in der Kunst und Wirklichkeit, Klang und Akustik, Pädagogik und Freiheit sinnvoll miteinander in Beziehung stehen.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Résume. Eine deutsche Jazz-Geschichte
von Eberhard Weber
Stuttgart 2015 (sagas.edition)
252 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-944660-04-2

2015weberDer Autor kommt gleich zur Sache: Der Leser wisse ja bereits, dass er, Eberhard Weber, gut 40 Jahre lang als Jazzbassist aktiv war, vielleicht auch, dass er seine aktive Karriere nach einem Schlaganfall 2007 beenden musste. Der Leser wisse wahrscheinlich etliches über seine Karriere, wahrscheinlich auch über den Jazz – was könne er dazu noch beitragen…? Nun, wenn überhaupt, dann könne er aus seinen eigenen Erinnerungen erzählen, sehr persönliche Geschichten, die sich um die Musik drehen, die aber auch sein ästhetisches Weltbild und vieles darüber hinaus berühren. Webers Buch wird so zu seinem “Resumé”. Und es mag vielleicht nicht “die” deutsche Jazzgeschichte sein, aber es ist auf jeden Fall, wie der Untertitel verspricht, “eine deutsche Jazz-Geschichte”, ein Beispiel dafür, wieso ein junger Mann zu dieser Musik kommt, was ihn über all die Jahrzehnte an ihr faszinierte und wie er lernte, in ihr sich selbst auszudrücken.

Eberhard Weber, dem musikalischen Geschichtenerzähler, gelingt der narrative Bogen auch in Worten. Bereits das Eingangskapitel, das vom “Schlag” handelt, der ihn kurz vor einem Konzert mit Jan Garbarek in der Berliner Philharmonie traf, von der Unsicherheit über seinen Gesundheitszustand, von der Hoffnung, wieder spielen zu können, zeigt seine erzählerischen, auch zur Selbstironie fähigen schriftstellerischen Qualitäten.

Im zweiten Kapitel widmet sich Weber seiner eigenen Vorstellung von Jazz. “Jazz”, schreibt er ironisch, doch nicht ganz falsch, “ist, wenn es der Komponist, der Arrangeur oder der ausführende Musiker dem Hörer so schwer wie möglich macht, der Musik zu folgen – und trotzdem alle Spaß daran haben. Das unterscheidet ihn von der vermeintlich ‘Neuen Musik’.” Doch neben dem Jazz als großer Kunst will Weber in diesem Kapitel auch seiner eigenen Ästhetik auf die Schliche kommen. Wiederholungen, erkennt er, langweilen ihn in der Regel; die Schlüsse von Stücken, findet er, misslingen meist. Er weiß, dass Solisten auch mal ohne Inspiration sein können und weiterspielen müssen. Er weiß auch um seine eigenen Schwächen als Bassist und beschreibt, wie man nur, wenn man um die technischen Probleme des eigenen Spiels oder des eigenen Instruments weiß, diese überkommen und kreativ mit ihnen umgehen könne.

Weber selbst wurde die Musik in die Wiege gelegt. Sein Vater, erzählt er, hatte als Cellist klassische Musik gemacht, daneben aber auch Cello und Banjo im Tanzorchester von Bernard Etté gespielt. Weber kam mitten im Krieg in Esslingen zur Welt. Seine Mutter sang, und “im häuslichen Weber’schen Freundeskreis”, erinnert er sich, “triumphierte Gesang über Instrumentales”– vielleicht eine Vorbereitung auf seine eigene sangliche Haltung beim Instrumentalspiel? Gehörbildung fand im Kinderzimmer statt, wenn seine Schwester und er Automarken am Klang unterschieden und dabei lernten zuzuhören und zu differenzieren. Ein Vetter quartierte sich nach der Kriegsgefangenschaft bei ihnen ein und begann Flöte zu lernen. Man diskutierte über Wagner und spielte Kammermusik. Weber bekam Cellounterricht, dann entdeckte er den Jazz und mit ihm wechselte er zum Kontrabass.

Im Jazz brachte er sich das meiste selbst bei, berichtet von ersten Bühnenerfahrungen, von Stuttgarter Jazzern wie Horst Fischer und Ernst Mosch, vom ersten Einsatz in Erwin Lehns Orchester als Vertretung für dessen regulären Bassisten. Seine musikalische Leidenschaft führte dazu, dass Weber durchs Abitur rasselte, eine Lehre als Fotograf begann und Kameraassistent bei einer Fernsehfirma wurde. Nebenbei spielte er mit gleichaltrigen Musikern, lernte Anfang der 1960er Wolfgang Dauner kennen und wurde bald Mitglied in dessen Trio. Er erzählt von den unterschiedlichsten Auftrittsorten zwischen Nachtclub, Café, Tanz und Ami-Kaserne, von Einflüssen auf sein Bassspiel, davon, wie das Dauner-Trio seinen eigenen Stil fand. Zwischendurch gibt es reichlich Anekdoten, aber auch Einblicke in die technischen Seiten seiner Kunst: Instrumentenwahl, Akustik, Pickups, Verstärker, elektronische Spielereien.

Ende der 1960er Jahre wandten Dauner und Weber sich freieren Spielweisen zu. Weber weiß um seine Beobachtungsgabe, weiß auch, dass er sich gern mal zur Polemik hinreißen lässt. Doch er besitzt eben auch die Erfahrung, Beobachtetes, insbesondere, wenn es um Musik geht, passend einordnen zu können. Und so mag man mit mancher polemischen Äußerung, die seinem eigenen musikalischen Geschmack zuzuschreiben ist, nicht übereinstimmen, wird aber an richtiger Stelle durch ein Augenzwinkern darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor zwar eine feste Meinung hat, sich selbst aber auch nicht immer ganz so ernst nimmt.

Weber stand in seiner Karriere bei zwei Plattenfirmen unter Vertrag, die Weltgeltung besaßen, Hans-Georg Brunner Schwers MPS und Manfred Eichers ECM. Er beschreibt die Arbeiten zu “The Colours of Chloë” und den folgenden internationalen Erfolg. Er erzählt vom Zusammenspiel mit Gary Burton, von den Unterschieden zwischen amerikanischen und europäischen Gepflogenheiten in der Jazzszene, von Tourneen mit seiner eigenen Band Colours, durch Deutschland – Ost und West –, die USA und Australien. Er berichtet von seiner Zusammenarbeit mit Jan Garbarek, mit dem er auch offizielle Empfänge spielte, bei denen Politiker, Botschafter, Bundespräsidenten, gekrönte Häupter begeistert waren, “endlich mal kein Streichquartett hören zu müssen”.

Eberhard Weber ist ein vielgereister Musiker. Seine Berichte von Zollformalitäten, Einreisebestimmungen, fasst verpassten Flügen und sonstigen Widrigkeiten sind amüsante Anekdoten, die vor Augen führen, dass das Musikerdasein nicht nur der aus musikalischer Kreativität besteht, die das Publikum erwartet und zumeist auch bekommt. Eine Professur für Musik hatte er nie annehmen wollen. Seine Begründung, die wie ein Tenor seine ungemein flüssige und lesenswerte Autobiographie beendet: “Ich kann nicht Bass spielen. Aber ich weiß, wie’s geht.”

Wolfram Knauer (Juni 2015)


Coltrane sur le Vif
von Luc Bouquet
Nantes 2015 (Lenka Lente)
146 Seiten, 13 Euro
ISBN: 978-2-9545845-8-4

2015bouquetDie Großen des Jazz waren zumeist auch die Meistaufgenommenen, und neben den offiziellen Einspielungen im Studio gehörten über die Jahre Bootlegs dazu, Schwarzpressungen von legalen oder illegalen Mitschnitten, die in mal besserer, mal schlechterer Qualität auf den Markt kamen. Solche Bootlegs haben naturgemäß keine Studioqualität; zum Teil sogar einen unsäglich schlechten Sound. Aber sie sind nicht nur für den Fan, sondern auch für den Experten ein immens wichtiger Teil der Aufnahmegeschichte dieser Musiker. Sie dokumentieren nicht die perfekte Abmischung, sondern den Alltag des Konzerts, in dem das Solo völlig anders klingen kann, in dem die Künstler mit dem Material oder auch mit sich selbst zu kämpfen haben, in dem mal bessere, mal schlechtere Fassungen der großen Titel erklingen, vergleichen mit den auf den im Studio gefertigten Referenzaufnahmen.

Luc Bouquet hatte im französischen Magazin Improjazz eine Reihe über die Liveaufnahmen John Coltranes veröffentlicht und diese jetzt in die zwölf Kapitel des vorliegenden Buchs einfließen lassen. Ein erstes Kapitel beschreibt Coltranes erste Aufnahmen aus dem Jahr 1946 sowie zwei Sessions mit Dizzy Gillespie bzw. Johnny Hodges. Kapitel 2 widmet sich den Jahren 1955-57 und Livemitschnitten mit Miles Davis, Kapitel 3 der Zeit von 1957-58 und den erst jüngst entdeckten und doch schon legendären Aufnahmen Coltranes mit dem Thelonious Monk Quartet. Zwei weitere Miles Davis-Kapitel schließen sich an, 1958-59 in den USA sowie 1960 in Europa, dann beginnt mit Kapitel 6 die Aufnahmegeschichte von Coltranes eigenen Bands: sein klassisches Quartett, Trane und Dolphy, die diversen Besetzungen von 1962, 1963, 1964-65 bis hin zu seiner letzten Liveaufnahme, dem “Olatunji”-Konzert vom April 1967. Jede der Platten wird mit Besetzungs- und Inhaltsangaben gelistet, dazu kommt eine kurze Beschreibung dessen, was auf ihr zu hören ist. Allzu tief versteigt sich Bouquet dabei weder in die Musik noch in die Begleitumstände der Aufnahmen – so wäre etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Entdeckungsgeschichte der Bänder von Tranes Carnegie-Hall-Konzerts mit Thelonious Monk durchaus berichtenswert gewesen.

Bouquets Buch ist als eine Art annotierte Diskographie der Liveaufnahmen John Coltranes ein nützliches Handbuch sowohl beim Hören wie auch bei der Entscheidungsfindung, was man sich vielleicht noch zulegen könnte.

Wolfram Knauer, April 2015Rencontres du jazz et de la musique contemporaine
herausgegeben von Jean-Michel Court & Ludovic Florin
Toulouse 2015 (Presses Universitaires du Midi)
184 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-2-8107-0374-6

Das vorliegende Buch ist die Dokumentation einer Tagung, die im Oktober 2013 in Toulouse stattfand und sich mit aktuellen Beziehungen zwischen Jazz und Zeitgenössischer (sogenannter “Neuer”) Musik beschäftigte. Im Vorwort stecken die beiden Herausgeber das Feld ab, das irgendwo zwischen Anthony Braxton und IRCAM-Experimenten angesiedelt ist und bei dem oft die Genrebezeichnung, ob “Jazz” oder “Neue Musik”, im Weg steht, da die Musik selbst solche Grenzen inzwischen gern und oft überschreitet.

Die Beiträge selbst sind theoretisch-musikwissenschaftlicher Natur. Im ersten Teil findet Vincenzo Caporaletti, dass die jüngere Entwicklung im Kunstmusikbereich neue wissenschaftliche Ansätze benötigt und stellt sein “principe autiotactile” vor, durch das sich sowohl für komponierte wie auch für improvisierte Musik die performativen Prozesse genauso analysieren ließen wie die ästhetischen Prozesse, die durch die Musik wie auch durch äußere, etwa mediale Einwirkungen mitbestimmt werden. Alexandre Pierrepont nähert sich der Frage, inwieweit die genre-spezifische Einordnung und Wertung von Musik aus den Bereichen europäischer klassischer Musik und des afro-amerikanischen Jazz nicht auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser zu Missverständnissen führt, wenn die Querverbindungen, die ja zwischen den Genres bestehen, oft und gern mit kulturellen Konnotationen versehen werden. Pierre Sauvanet betrachtet, wie das Moment der “Tradition” von Musikern im Jazz, der Neuen Musik und in tatsächlich “traditionellen” Musikrichtungen unterschiedlich behandelt wird.

Im zweiten Teil des Buchs geht es an konkrete Analysen. Pierre Fargeton befasst sich mit Franz Koglmanns langjähriger Auseinandersetzung mit dem Third Stream, der Neuen Musik und anderen Kunstrichtungen. Konkret untersucht er Koglmanns “Join!” eine “Oper” aus dem Jahr 2013 auf diverse Bezüge (1.) zum Jazz und (2.) zur Zeitgenössischen Musik. Martin Guerpin analysiert die Komposition “Unisono” des israelischen Komponisten Ofer Pelz und identifiziert darin insbesondere die Jazzverweise. Wataru Miyakawa untersucht das Werk des japanischen Komponisten Toru Takemitsu, in dem ihn vor allem der Einfluss des Lyrian Chromatic Concept von George Russell interessiert.

Im dritten Teil des Bandes berichtet der Gitarrist Frédéric Maurin darüber, wie er Methoden der Spektralmusik, die in den 1970er Jahren im Kreis der IRCAM in Paris entwickelt wurde, etwa für seine Band Ping Machine nutzbar macht. Cécile Auzolle untersucht das “Wintermärchen” des belgischen Komponisten Philippe Boesmans von 1999 und hat dabei Einflüsse aus dem jazz sowie improvisatorische Passagen im Fokus, die in der Oper vom Ensemble Aka Moon ausgeführt wurden. Henri Fourès hinterfragt die Begriffe Jazz, Zeitgenössische Musik, Komposition, Notation und Improvisation auf ihre Wertigkeit in der Hochschullehre. Zum Schluss berichten die Bassistin Joëlle Léandre, der Saxophonist Douglas Ewart und der Trompeter Mike Mantler über ihre eigenen Erfahrungen im Feld zwischen den Welten von Jazz und Neuer Musik.

“Rencontres du jazz et de la musique contemporaine” wirft ein Schlaglicht auf eine offenbar immer noch wichtige Diskussion in den beiden darin angesprochenen Welten. Der einleitende Überblick listet frühere Beschäftigungen mit dem Thema auf (hier fehlt allerdings der Band “Jazz und Komposition”, der das 2. Darmstädter Jazzforum von 1991 dokumentiert und in dem dieses Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet wurde). Sowohl in den allgemein theoretischen wie auch den konkreter praktischen Kapiteln fehlt ein wenig – aber das ist bei einer Tagung, die das nicht ausdrücklich zum Thema machte, vielleicht auch kaum zu leisten – die grundlegende Diskussion einer anders als aus dem europäischem Wissenschaftsdiskurs entstandenen Reflexion über Musik, eine Perspektive also, die sowohl Jazz wie auch die in europäischer Tradition stehende Neue Musik etwa aus dem Blickwinkel von Community, von Macht, von Geschlechterungleichheit oder ähnlichem betrachtet, sich dabei nicht auf die bestehenden meist europäisch gefärbten und genormten Diskurstraditionen einlässt, sondern mutig nach neuen sucht. Das von George Lewis und Benjamin Piekut 2016 herausgegebene Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies geht da einen anderen Weg, braucht, um das Thema abzudecken allerdings auch über 1000 Seiten.

Wolfram Knauer (März 2018)


Bunk Monk & Funk – and other attractions
von Anders Stefansen (& Jan Søttrup)
Kopenhagen 2012 (People’s Press)
248 Seiten, 249 Dänische Kronen
ISBN: 978-8771-37035-5

Anders Stefansen ist ein bisschen der Fritz Rau Dänemarks: ein Konzertveranstalter, der eher zufällig ins Geschäft kam, in den frühen 1960er Jahren für Norman Granz dessen Skandinavien-Tourneen organisierte (so wie dies Lippmann + Rau in Deutschland taten), später auch populärere Acts betreute, von den Beatles bis zu den Rolling Stones. In seiner Autobiographie erinnert sich Stefansen an die vielen Freundschaften zu Musikern, die er in seinem Berufsleben schließen konnte, an das Tourleben, an Probleme und ihre jeweilige Lösung, und an Begegnungen wie die mit John Coltrane, Andrés Segovia, Count Basie, Duke Ellington, Ben Webster, Cecil Taylor und vielen anderen. Er beleuchtet die Realitäten des Business, schwelgt aber vor allem in Erinnerungen. Wenn es dabei auch mehr um die Menschen geht als um die Musik, so ist die Lektüre seines Buchs dennoch erhellend nicht nur für diejenigen, die von seiner Arbeit als Konzertveranstalter profitierten, etwa weil sie selbst im Publikum saßen. Seine Anekdoten beleuchtet zugleich eine ungewöhnliche Karriere zwischen Musik und guter Küche (Stefansen eröffnete eines der ersten French Cuisine Restaurants in Dänemark). Und seine Anekdoten über Henry Miller, den er traf, als er den Film “Ruhige Tage in Clichy” produzierte, sind besondere Zugaben der Lektüre.

Wolfram Knauer (Januar 2018)


Fashion and Jazz. Dress, Identity and Subcultural Improvisation
von Alphonso D. McClendon
London 2015 (Bloomsbury Academic)
194 Seiten, 24,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-85785-127-7

Von den Banduniformen der Swingorchester über die Gardenie im Haar von Billie Holiday bis zu Wynton Marsalis’ in Brooks Brothers-Anzüge gekleidetes Lincoln Center Jazz Orchestra: Jazzmusiker waren immer auch Mode-Ikonen. Miles Davis mag diese Facette seines Bühnenlebens am stärksten ausgelebt haben, doch findet sich das Bewusstsein für die Bühnengarderobe durch die Jazzgeschichte. Als Art Blakey seiner Band in den 1970er Jahren für eine Weile erlaubte, in Straßenklamotten aufzutreten, war das eine Ausnahme. Er wie andere Musiker wussten, dass sie als afro-amerikanische Künstler Vorbildfunktion hatten.

Alphonso D. McClendon ist Modeforscher und hat sich in seinem Buch “Fashion and Jazz” dem Subtext der Musikergarderobe durch die Jazzgeschichte angenommen. Ihm ist wichtig, auf die gegenseitigen Einflüsse zwischen Jazz und Mode hinzuweisen, wie er gleich im ersten Kapitel deutlich macht, in dem er Parallelen und Einflusswege nennt, dass nämlich sowohl Mode wie auch Jazz auf ihre jeweilige Art und Weise vom Freiheit des Ausdrucks handeln. Es habe im Jazz durchaus eine “Sprache der Kleidung” gegeben, sagt er – will heißen: die Bühnenpräsentation hatte immer auch etwas zu bedeuten, und Kleidung habe zur visuellen Ästhetik von Jazzmusikern beigetragen, ob in der Performance auf der Bühne oder in Abbildungen.

Im zweiten Kapitel geht McClendon das Thema dann chronologisch an. Er beschreibt die Mode der Ragtime-Ära und der Bluesmusiker, die Bühnenkostüme von Swing-Musikern und die Selbstdarstellung der Bebopper, die zugleich “die Konstruktion eines subkulturellen Stils” gewesen sei, und stellt schließlich fest, das sowohl Mode wie auch Jazz ähnliche Perioden von Konformität (1900-1920), populärem Einfluss (1920-1940) und Widerstand (1940-1960) durchgemacht hätten.

Kapitel 3 diskutiert Momente “der Moderne” bzw. “des Modernen” und die Kommunikation beider durch Mode und Spielpraktiken im Jazz. Im vierten Kapitel beschreibt McClendon Strategien der Distinktion durch Jazz und Mode, um sich im fünften Kapitel etwa auf die Darstellung von Frauen und Männern in frühen Sheet-Music-Covers zu konzentrieren. Kapitel 6 diskutiert subversive Konnotationen, die sich etwa in Texten von Bluessängerinnen finden oder im Eingang von Jazzthemen in die Literatur oder den Film. Kapitel 7 ist überschrieben “Narcotics and Jazz: A Fashionable Addiction” und beschreibt unter anderem, wie elegante Kleidung auch helfen konnte ein Leben im Schatten der Drogensucht zu verschleiern. Kapitel 8 fokussiert auf Billie Holiday als Musik- wie Mode-Ikone; Kapitel 9 beschreibt Duke Ellington und Benny Carter als “traditionellen Dandy” sowie Dizzy Gillespie und Gerry Mulligan als “modernen Dandy” und blickt kurz darauf, wie amerikanische Präsidenten wie Bill Clinton und Barack Obama ihre Nähe zum Jazz als Imagefaktor ausnutzten.

McClendons Buch reicht leider nur bis ins Jahr 1960 und verpasst damit die politische Garderobe von Dashikis, schwarzen Lederjacken oder soul-beeinflusster Hipstermode der 1960er und 1970er Jahre, thematisiert also auch nicht die Rückkehr zur ordentlichen Garderobe mit Aufkommen der Young Lions der 1980er Jahre. Er thematisiert damit weder die modetechnische Annäherung zwischen den Genres, etwa in Richtung Rock oder auch Neue Musik, noch die Unterschiede etwa in im Modeverhalten amerikanischer und europäischer Musiker. Doch gelingt ihm in diesem eigentlich auf der Hand liegenden und doch so ganz anderen Blick auf Jazzgeschichte eine Perspektive, die Aufschluss über Imagebildung, Selbstverständnis der Künstler und die gegenseitige Beeinflussung von Image und künstlerischem Anspruch erlaubt. Etliche Bilder, eine ausführliche Bibliographie und ein Namensindex schließen das Buch ab.

Wolfram Knauer (August 2017)


Sales Rectangles. Daunik Lazro. Vieux Carré
von Guillaume Belhomme
Nantes 2015 (Lenka Lente)
44 Seiten, 1 Mini-CD, 9 Euro
ISBN: 978-2-9545845-9-1

Am 21. Mai 2011 spielte der Saxophonist Daunik Lazro ein inspiriertes unbegleitetes Solokonzert in einen Buchladen in Rouen. Guillaume Belhomme versucht die Stimmung des Konzerts einzufangen, indem er eines der Stücke Lazros, eine lange Improvisation über Joe McPhees “Vieux Carré” mit kurzen Blicken in die Bücher, die um ihn herum stehen und liegen, verbindet. Seine knappen, aus jeweils nicht mehr als einem Satz bestehenden Kommentare lassen sich den diesen Büchern allerdings erst zuweisen, wenn man sie anhand der im Büchlein abgedruckten Barcodes (bzw. die diesen beigefügten ISBN-Nummern) sucht. Und tatsächlich gelingt es Belhomme dabei ein wenig, jene Stimmung eines Konzerts im Buchladen einzufangen, bei dem die Konzentration auf die Musik von den Blicken zu und in die Bücher, von der Wahrnehmung der Atmosphäre, von kurzen Reflektionen darüber, was man da aufblättert, während man zugleich zuhört, unterbrochen, aber durchaus auch bereichert wird. Ein ungewöhnliches, durchaus inspirierendes Experiment, das den Leser / Hörer quasi subkutan auf die Komplexität der Wahrnehmung von Musik aufmerksam macht.

Wolfram Knauer (März 2017)


Spirits Rejoice! Jazz and American Religion
von Jason C. Bivins
New York 2015 (Oxford University Press)
369 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-023091-3

Jazz und Spiritualität sind für viele Musiker eine zusammenhängende Einheit. Duke Ellington, John Coltrane, Albert Ayler, Rahsaan Roland Kirk, Yusef Lateef, Anthony Braxton – die Liste der Musiker, für die ihre musikalische immer auch eine spirituelle Suche war, ist lang. Der Religionswissenschaftler und Jazzgitarrist Jason Bivins beleuchtet in seinem Buch dieses Verhältnis zwischen Religion und Musik anhand zahlreicher Beispiele und legt, gerade weil er seine Studien aus der Perspektive eines Religionsforschers und mit dem Wissen eines Jazzers macht, ein wichtiges Buch vor, in dem das Thema weit fundierter angegangen wird als in vielen Biographien der bereits genannten Musiker.

In seinen “ersten Meditationen” zum Thema stellt Bivins fest, dass Jazz genauso wie Religion in ihrer jeweiligen Individualität der Wahrnehmung schwer fassbare Gebilde seien. Er weiß um die ganz unterschiedlichen Ausprägungen des Religiösen oder Spirituellen gerade in der Musik, die irgendwo zwischen Ritual und Weltforschung liegt. Er fragt, wie sich das spirituelle Umfeld, aus dem Musik heraus initiiert oder rezipiert wird, auf die Musik selbst auswirkt. Er befasst sich mit konkreten Traditionen, auf die Jazz sich immer wieder bezog. Er betrachtet Beispiele, in denen mit Jazz amerikanische Geschichte genauso wie religiöse Aspekte derselben dargestellt werden. Er befasst sich mit Jazz in religiös-musikalischer Praxis. Er hinterfragt das Klischee von Jazz als rituelle oder heilende Praxis. Er diskutiert Verweise im Jazz auf Mystizismus, Selbstlosigkeit, die klangliche Verbindung zu einem höheren Wesen. Es untersucht Kosmologien und metaphysische Theorien im Jazz. Er will damit nicht nur Aspekte der Jazzgeschichte durch ihre Verankerung in religiösen Praktiken erklären helfen, sondern zugleich die Religionsgeschichte in den USA seit den 1920er Jahren mithilfe ihres Widerhalls im Jazz beleuchten.

Bivins geht dabei weder chronologisch vor noch versucht er seine Thesen an zentralen Figuren festzumachen, wenn es auch an konkreten Beispielen nicht mangelt in seinem Buch. Natürlich spielt der Einfluss der schwarzen Kirche auf viele afro-amerikanischen Musiker eine wichtige Rolle. Er beschreibt das Zeugnis ablegende (“testifyin'”) Tenorsaxophonspiel Albert Aylers. Er findet Spiritualität in Charles Gayles Bühnen- genauso wie Straßenmusikauftritten. Er fragt nach den Gründen von Jazzmusikern zum Islam, zum Buddhismus, zum Bahá’í, zur Scientology zu konvertieren und ihre Reflektion über die jeweilige religiöse Praxis und ihre Auswirkung auf ihre Musik. Er befasst sich mit den Ausprägungen des “Radical Jewish jazz” und mit der Idee einer imaginären Folklore in den Vereinigten Staaten.

Er beschäftigt sich mit Beispielen, in denen Jazzmusiker bzw. ihre Werke religiöse Geschichte erzählen und verwebt dabei eng religiöse und politische Aussagen, etwa in den Aufnahmen von Charles Mingus, Archie Shepp, Max Roach und Abbey Lincoln. Auch der Saxophonist Fred Ho und sein Einsatz für einen Asian American Jazz kommen zur Sprache sowie Sun Ras Verweise auf weltumspannende Verbindungen, die weit über den Planeten Erde hinausreichen. Er geht auf Ellingtons “Sacred Concerts” ein und widmet eine längere Passage John Carters Komposition “Roots and Folklore”, die, wie er findet, ein würdiger Träger des Pulitzer Preises gewesen wäre, den Wynton Marsalis später für sein Oratorium “Blood On the Fields” erhielt.

Er entdeckt im Bemühen von Musikern seit den 1950er Jahren sich zu organisieren neben den politischen auch spirituelle Gründe, wie er etwa am Beispiel der AACM und der Black Artists Group zeigt. Die von Horace Tapscott gegründete Underground Musicians Association, die Saint John Coltrane African Orthodox Church und Alice Coltranes Ashram sind für ihn konkrete Beispiele, wie Jazz als spirituell-religiöses Ritual gelebt und zelebriert werden kann.

Im zweiten Teil seines Buchs beschäftigt sich Bivins mit den engen Verbindungen zwischen Ritual und Improvisation, nennt Beispiele aus dem Schaffen von Duke Ellington, Mary Lou Williams, Milford Graves, Cecil Taylor, bezieht sich aber auch auf das Feld des afro-kubanischen Jazz, auf Steve Colemans Studien zur Yoruba-Kultur und auf die Musik des Art Ensembles of Chicago.

Ein eigenes Kapitel befasst sich mit Meditation und Mystizismus und verweist dabei auf Musiker wie Steve Lacy, Arthur Blythe, William Parker und Davis S. Ware. Ornette Colemans Harmolodics und George Russells Lydian Chromatic Concept werden von Bivins nicht allein als musiktheoretische Abhandlungen verstanden, sondern als Beispiel für kosmologische und metaphysische Versuche Jazz, Improvisation, ja Musik ganz allgemein zu fassen. In dieses Kapitel gehören auch Anthony Braxtons Tri-Axium-System und Wadada Leo Smith’ Ankhrasmation.

In seinem Schlusskapitel stellt Bivins dann noch einmal klar, dass die Auseinandersetzung mit Jazz oder mit Religion notwendigerweise eine fragmentarische sein muss, dass beide Praktiken ein Versuch sind, sich der Komplexität der Welt zu nähern, unsere eigene Sicht aber immer durch das geprägt ist, was wir bereits “wissen”. Für einige sei Musik wie Religion, weiß er, das aber beinhalte weit mehr als die pure Hingabe. Wie die Religion in amerikanische (und weltweiter) Geschichte, habe auch die Musik subversive Funktionen gehabt, habe Einfluss auf die Wahrnehmung der Realität genommen und diese damit ändern können.

Bivins’ Entscheidung, keine klar strukturierte Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Jazz und verschiedenen Ausprägungen von Spiritualität zu wählen, sondern stattdessen Themen zu identifizieren und von verschiedenen Seiten zu beleuchten, führt dazu, dass man auch als Leser die Vorstellung von Religion, Spiritualität, Ritual weiter fasst. Wo man zu Beginn der Lektüre von der sehr offenen Fassung der Begriffe noch ein wenig irritiert sein mag, da ist man dem Autor am Ende genau dafür dankbar, da er es schafft, auch beim Lesen die schnellen Analogien zu vermeiden. Bivins gelingt es, diesen offenen Geist in seine Leser zu übertragen – für den europäischen Leser dann auch in Richtung all der Themen, die sich hierzulande in die verschieden Kapitel einflechten ließen.

Wolfram Knauer (März 2017)


Omniverse Sun Ra
von Hartmut Geerken & Chris Trent
Wartaweil 2015 (Waitawhile Books / Art Yard)
304 Seiten, 69 Euro
ISBN: 978-0-9933514-0-2

Von 1994 stammt das damals im LP-Schallplattenformat veröffentlichte, von Hartmut Geerken und Bernhard Hefele herausgegebene Buch “Omniverse Sun Ra”. Jetzt erschien eine Neuauflage dieses Werks, das das Universum des Meisters aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben versucht.

Geerken war in den 1960er bis 1980er Jahren Institutsleiter verschiedener Goethe-Institute. Als Perkussionist hat er daneben mit zahlreichen Musikern vor allem aus dem Bereich der improvisierten Musik zusammengearbeitet. In Jazzkreisen ist er dabei insbesondere als Kenner des Oeuvres Sun Ras bekannt und war für Konzerte des Arkestra verantwortlich, etwa 1971 in Kairo, wo er seinerzeit fürs Goethe-Institut wirkte. Sein Buch von 1994 war eine kleine Sensation für die Aufarbeitung des Ra’schen Oeuvres; die Neuauflage ist nicht weniger willkommen.

Was übernommen wurde: Amiri Baraka beginnt das coffeetable-große Buch mit einem einleitenden, sehr persönlichen Text über den Meister. Robert Campbell erzählt die irdische Biographie Herman Blounts von seiner Geburt in Birmingham, Alabama, im Jahr 1914 bis zu seinem Tod im Mai 1993 und ordnet zugleich die verschiedenen Besetzungen und musikalischen Phasen seines Schaffens zu. Sigrid Hauff untersucht die mythologische und spirituelle Welt, die Sun Ra musikalisch genauso wie in Texten oder Interviews heraufzubeschwören versuchte. Chris Cutler ordnet sein musikalisches Schaffen in den größeren Kontext von Jazz und afro-amerikanischer Musikgeschichte ein. Robert Lax versammelt mehr oder weniger unzusammenhängende Gesprächsfetzen, Bonmots und Aphorismen des Pianisten, Komponisten, Bandleaders und spirituellen Philosophen. Salah Ragab berichtet über Konzerte des Arkestra in Ägypten in den Jahren 1983 und 1984. Karlheinz Kessler hinterfragt die Verwendung von Ritualen in den Performances der Band. Gabi Geist schreibt ein Horoskop für jemanden, der immer sagte, dass sein Geburtstag und -ort höchstens irdisch seien, tatsächlich aber seiner Herkunft nicht gerecht würden. Hartmut Geerken schließlich erinnert sich an den Besuch des Arkestra in Ägypten im Dezember 1971. Zwischendrin finden sich zahlreiche Fotos, viele davon von der britischen Fotografin Val Wilmer.

Was neu ist: Ein Text Bernhard Helefes entfällt in der Neuauflage. Den ausführlichen diskographischen Teil des Buchs hat Chris Trent neu geordnet. Wieder gibt es einen umfangreichen Bildteil, der die Plattencovers zeigt.

“Omniverse Sun Ra” war schon in der ersten Ausgabe von 1994 eine labor of love. Die neue Ausgabe hat einen Hardcover-Einband, ein etwas handlicheres Format, einen Block mit Farbfotos der Band, die im früheren Buch nicht enthalten waren. Es verzichtet auf die Tapeologogy, also die Auflistung oft privater Konzertmitschnitte, sowie auf die ausführliche Bibliographie der früheren Ausgabe.

“Omniverse Sun Ra” bleibt bei alledem ein großartiges Buch, das in Wort, Bild und Tonträgerverweisen als hervorragendes Nachschlagewerk über die Welt und Weltsicht Sun Ras genauso zu nutzen ist wie als eine Dokumentation, in der auch “Nachgeborenen” die Bühnenperformance des Arkestra vor Augen geführt wird.

Wolfram Knauer (März 2017)


A City Called Heaven. Chicago and the Birth of Gospel Music
von Robert M. Marovich
Urbana/IL 2015 (University of Illinois Press)
488Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08069-2

Gospelmusik, erklärt Robert Marovich, Rundfunkmoderator, Herausgeber des Journal of Gospel Music und Musikhistoriker, sei die künstlerische Antwort auf die Great Migration gewesen, in der tausende und abertausende Afro-Amerikaner zu Beginn des 20sten Jahrhunderts aus den Südstaaten in den Norden zogen und insbesondere in Städten wie Chicago ein neues Zuhause fanden. Blues, sagte Mahalia Jackson einmal, seien Lieder der Verzweiflung gewesen, Gospel dagegen Lieder der Hoffnung. Das Genre, erklärt Makovich in seinem Buch, das sich auf die Verankerung der Musik im Chicago des 20sten Jahrhunderts fokussiert, sei wie eine soziale Organisation organisiert gewesen, die jeden, egal wie gut er oder sie singen konnte, willkommen geheißen hätte.

In seinem Buch beschreibt Marovich die Entwicklung der Gospelmusik von frühen Hymnen und Camp Meetings über die beschriebene Great Migration und die lebendige Gospelszene von Chicago bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sounds, Rhythmen und der Enthusiasmus dieser Musik Eingang in die Popmusik fanden und schließlich zur Begleitmusik der Bürgerrechtsbewegung wurden. Er greift auf Interviews und selten ausgewertete historische Quellen zurück, um die Einbettung der Musik in die Community zu beschreiben; er entdeckt die Bedeutung von Predigern, deren eindringliche Sermons ab den 1920er Jahren ja sogar auf Schallplatte veröffentlicht wurden; er berichtet von frühen Aufnahmen für das noch junge Radio genauso wie für die aufstrebende Plattenindustrie. Er geht auf weithin bekannte Gospel-Künstler ein, Thomas A. Dorsey etwa oder Mahalia Jackson, genauso aber auch auf weniger, oft nur lokal bekannte Musikerinnen und Musiker. Er weiß um die Hintergründe der Gospeltourneen, die in den 1930er Jahren große Erfolge feierten, und er beschreibt die Entwicklung des Gospelquartetts über die Jahre.

Die Zuwanderung nach Chicago aus dem Süden hielt bis in die 1940er Jahre an und vermittelte der Gospelmusik damit über lange Jahre jene wichtige Funktion des Haltgebens in der Fremde. Radio- und frühe Fernsehshows nahmen sich des Genres an, und immer mehr wurde Gospel auch zu einem kommerziellen Produkt. In seiner Übersicht über die verschiedenen Stränge des Genres kennt Marovich alle Solisten, Bands, Quartette und Chöre und beschreibt sowohl ihre Einbindung in die örtliche kirchliche Gemeinschaft wie auch ihr sehr unterschiedliches Verhältnis zur Plattenindustrie. Mitte der 1950er Jahre fiel der Gospelmusik schließlich eine neue Rolle zu, als Mahalia Jackson zu einer glühenden Vertreterin des Civil Rights Movement und einer engen Verbündeten Dr. Martin Luther Kings wurde.

Die große Zeit des Gospel war mit dem Tode Mahalia Jacksons und Roberta Martins vorbei; und hier endet auch Marovichs Buch, mit einem nur kurzen Ausblick auf die Gegenwart. “A City Called Heaven” ist ungemein detailreich, dadurch stellenweise etwas mühsam zu lesen, aber durch einen umfangreich aufgeschlüsselten Index ein gutes Nachschlagewerk zum Thema. Marovich zeigt anhand der Gospelmusik in Chicago, wie sich sich Genre- und Stadtgeschichtsschreibung miteinander verbinden lassen, weil die Nöte und Zwänge des Lebens in der Großstadt letztlich die Entwicklung einer Musik als spirituelles Gegengewicht befördert haben.

Wolfram Knauer (Januar 2017)


La Nuée. L’AACM: un jeu de société musicale
von Alexandre Pierrepont
Marseille 2015 (Éditions Parenthèses)
443 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-2-86364-669-4

2008 veröffentlichte George E. Lewis sein Buch “A Power Stronger Than Itself. The AACM and American Experimental Music”, das die musikalische und ästhetische Welt der Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago seit den 1960er Jahren aus der Ecke einer “nur” afro-amerikanischen Avantgarde holte und zeigte, wie sehr die darin Aktiven Teil eines generellen und weit über Amerika hinausreichenden künstlerischen Diskurses waren und sind.

Im Vorwort seines Buchs über die AACM schildert Alexandre Pierrepont, wie es dazu kam, dass er sich als Anthropologe entschied, eine Studie zur AACM zu schreiben, wie er mittendrin von Lewis’ Arbeit erfuhr und sofort bereit war, mit seinem eigenen Projekt zurückzustecken. Lewis aber habe ihn zum Weitermachen ermutigt: Sein Buch sei eine Innenansicht, so Lewis, ein so komplexes Thema aber brauche immer mehrere Perspektiven, und Pierreponts Arbeit könne vielleicht eine sinnvolle Außenansicht bieten. Und so ist mit “La Nuée” (“Der Schwarm”) jetzt ein zweites umfangreiches Buch auf dem Markt, das die AACM von den 1960er Jahren bis heute als einen künstlerische Ansatz beschreibt, der weit über die erklingende oder auf Tonträgern dokumentierte Musik hinausreicht, vor allem nämlich in den daran beteiligten Akteuren ein Selbstbewusstsein geschaffen hat, das sie weit über den Kreis des Jazz, der afro-amerikanischen oder sogar der amerikanischen Musik hinaus einordnen lässt.

Pierrepont präsentiert im ersten Kapitel 25 Gründe warum, und Erklärungen wie Afro-Amerikaner in den USA ausgegrenzt oder marginalisiert wurden. Er zeigt, dass Musik gerade in diesem Zusammenhang wichtige soziale Funktionen übernahm. Er schildert die Situation in Chicago und erklärt, wie sich hier ab den 1950er Jahren eine aktive experimentelle Musikszene herausbildete. Im zweiten Kapitel beschreibt er die Idee hinter der AACM, die unterschiedlichen Ensembles und Projekte, die aus dem Kreis der Musiker entstanden, die europäische Erfahrung von Mitgliedern etwa des Art Ensemble of Chicago zwischen den Jahren 1969 und 1974, die Verbindungen zwischen der Chicagoer und der New Yorker Avantgarde-Szene ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre (die viel damit zu tun hatte, dass etliche Chicagoer Musiker inzwischen an die Ostküste umgezogen waren), sowie den Einfluss der AACM und ihres Konzepts auf europäische Improvisations-Kollektive.

Im dritten Kapitel untersucht Pierrepont die AACM als Kooperative und Verein, als Geheimbund und Brüderschaft, als sozio-musikalische Bewegung und Weltschule, beschreibt ihre formale Organisation, aber auch die “respectful anarchy”, die sich aus ihren Verbindungen etwa zum Black Arts Movement und anderen auch politisch aktiven Organisationen ergaben. Dabei sei sie bis heute eine Vereinigung afro-amerikanischer Musiker geblieben. Egal ob in Tongebung, Improvisation oder Komposition sei eines der verbindenden Merkmale der aus der AACM entstandenen Musik zum einen die Betonung von Individualität, zum zweiten aber auch das Einbringen des Subjekts in kollektive Prozesse. Pierrepont beschreibt pädagogische Konzepte, die sich aus den Schulprojekten der Association ergaben, und umreißt musikalische als soziale Verbindungen und die daraus resultierenden Gruppenzugehörigkeits-Prozesse. Im vierten Kapitel beschreibt er die Offenheit der AACM-Mitglieder gegenüber Genre, kompositorischen und improvisatorischen Experimenten, der Verwendung und Aneignung im Jazz bislang eher unüblicher Instrumente, der Weiterentwicklung elektronischer Klang- (und musikalischer Reaktions)möglichkeiten, sowie der Arbeit im Solo- und großorchestralen Kontext. Das Art Ensemble of Chicago warb mit dem Slogan “Ancient to the Future”, und in dieser Haltung, dass die Formung jedweder (künstlerischen) Zukunft sich auf die eigene Interpretation der Vergangenheit beziehe, sieht Pierrepont eines der Geheimnisse hinter der Langlebigkeit der AACM als Organisation. “Ich ziehe die Mythokratie der Demokratie vor”, zitiert er Sun Ra. “Noch vor der Geschichte. Alles vor der Geschichte sind Mythen… Das ist der Ort, an dem die Schwarzen sind. Realität ist gleich Tod, weil alles, was real ist, einen Anfang und ein Ende hat. Die Mythen sprechen vom Unmöglichen, von Unsterblichkeit. Und da alles Mögliche bereits versucht wurde, müssen wir eben das Unmögliche versuchen.”

Alexandre Pierreponts Studie zur AACM bietet eine gelungene Interpretation dessen, wofür die Association for the Advancement of Creative Musicians stand und steht, eine Einordnung ästhetischer wie gesellschaftlicher Vorstellungen und Aktivitäten aus der Gruppe, und den Versuch, das alles in Verbindung zu bringen mit ästhetischen, kritischen, philosophischen und spirituellen Aspekten, die weit über die Arbeit der AACM-Mitglieder hinausgehen. Ihm ist dabei, in Gesprächen mit Musikern, in den Beschreibungen von Konzert- und Aktionssituationen, in der historischen genauso wie der anthropologischen Einordnung all dessen ein kluges Buch gelungen, das die Rolle der AACM im Jazz genauso zu verorten in der Lage ist wie in der aktuellen Musik des 20sten (und letzten Endes auch 21.) Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Jazz Tales from Jazz Legends. Oral Histories from the Fillius Jazz Archive at Hamilton College
Von Monk Rowe (& Romy Britell)
Rochester 2015 (Richard W. Couper Press)
209 Seiten, 20 US-Dollar
ISBN: 978-1-937370-17-6

Das Hamilton College ist eine relativ kleine Hochschule in Clinton, New York. Einer ihrer Absolventen, Milt Fillius Jr., zog nach seinem Diplom ans andere Ende des Landes, nach San Diego, hielt aber Kontakt zu seiner Alma Mater. Er liebte Jazz und er war ein guter Freund des Sängers Joe Williams, der 1988 die erste Ehrendoktorwürde des Hamilton College erhielt. Im Gespräch mit Williams und dem Bassisten Milt Hinton wurde Fillius bewusst, wie viel an Wissen über den Jazz tatsächlich nur in der Erinnerung der Musiker bewahrt und wie wichtig Oral History gerade in diesem Bereich ist. Er etablierte also ein umfassendes Interview-Projekt, für das mittlerweile weit über 300 Künstler/innen in Ton und Bild festgehalten wurden. Die Interviews, von denen viele der Hamilton-Archivar Monk Rowe selbst durchführte, dokumentieren die Welt des Swing genauso wie die des modernen Jazz. Die meisten dieser Erinnerungen sind auf der Website des Hamilton College nachzulesen; eine für die Jazzforschung ungemein hilfreiche Sammlung. Es handelt sich bei den Interviewten nicht unbedingt um die großen Stars der Jazzgeschichte, obwohl etwa mit Lionel Hampton, Nat Adderley, Herbie Hancock, James Moody, Oscar Peterson, Ruth Brown und anderen auch solche vertreten sind. Viele der Musikererinnerungen stammen stattdessen von Sidemen, die über ihre Zeit in den großen Bands berichten, über das Leben “on the road”, über die alltäglichen Probleme eines reisenden Musikers, über Rassismus und vieles mehr

In “Jazz Tales from Jazz Legends” zeigt Monk Rowe, was man aus diesen Interviews so alles lernen kann. Er filtert konkrete Themen heraus, für die er dann die verschiedenen Erfahrungen der Interviewten gegenüberstellt. Das Anfangskapitel widmet sich Joe Williams, dann folgt ein Abschnitt über das Schicksal der Sidemen bei Duke Ellington, Count Basie, Benny Goodman und in anderen Bigbands. Clark Terry erzählt etwa, wie der Duke ihn bei Basie abwarb, erinnert außerdem, was er bei beiden Bandleadern lernte, und Benny Powell weiß zu berichten, dass Basie ihm in den zwölf Jahren in der Band nie förmlich bestätigt habe, dass er engagiert sei. Im Kapitel “Road Travails” erzählen Eddie Bert von seiner Zeit bei Benny Goodman, Sonnie Igoe von einer Tournee mit Woody Herman, Bucky Pizzarelli vom Reisen mit dem Vaugn Monroe Orchestra, Jay McShann vom Problem mit schlechten Klavieren “on the road”, Jimmy Lewis von einem angst-machenden Flug mit der Basie-Band, Kenny Davern vom Stress, die 60 One-Nighters in 90 Tagen erzeugen können, Lanny Morgan darüber, dass die Gage oft von Hotel- und Reisekosten aufgefressen wurde, die die Musiker aus eigener Tasche zahlen mussten. “Arranging the Notes” heißt ein weiteres Kapitel, das sich mit den Ansprüchen an die Arrangeure der Bands befasst. Dick Hyman, Mike Abene, Bill Holman, Derrick Gardner, Ray Conniff, Manny Albam erzählen darin von der Arbeit eines Bandarrangeurs genauso wie von den Anforderungen an andere Arten von Musik, etwa für Hollywood; Lew Soloff erinnert sich an die Arrangements für Blood Sweat & Tears, und Dave Rivello und Maria Schneider geben einen Ausblick darauf, wie die Arbeit eines Arrangeurs im 21sten Jahrhundert funktioniert.

“Inside the Studio” ist ein Kapitel über Aufnahmeerfahrungen überschrieben, in dem sich Doc Cheatham an seine erste Platte mit Ma Raney erinnert, Richard Wyands einen typischen Aufnahmegig aus dem Jahr 1959 beschreibt, Orrin Keepnews erzählt, was Musikern für Aufnahmesitzungen üblicherweise bezahlt wurde, und Dick Hyman und Derek Smith verraten, dass sie sich natürlich auch mit Musik für Fernsehwerbung über Wasser halten mussten. Man müsse nicht alles mögen, was da im Studio produziert werde, erklärt Hyman, man müsse sich aber anstrengen, das, was von einem gefordert werde, möglichst gut zu spielen. Rassismus war für viele der interviewten Musiker ein täglich erlebtes Thema, und im Kapitel “The Color of Jazz” kommt auch dies zur Sprache. Clark Terry und Joe Williams haben genügend eigene Erlebnisse; Sonny Igoe erzählt, wie er auf einer Tournee durch den Süden, bei der er im Bus mit dem Art Tatum Trio mitreiste, als “White Trash” angepöbelt und aufgefordert wurde, er solle den Bus gefälligst verlassen. Louie Bellson und Red Rodney haben ähnliche Erinnerungen, und Frank Foster fasst zusammen, dass der Jazz zwar aus der schwarzen Erfahrung heraus geboren worden sei, dass der Melting Pot Amerika ihn aber schon seit langem zu einer amerikanischen, wenn nicht gar globalen Musik gemacht habe.

Im Kapitel “Thoughts on Improvisation” geben Marian McPartland, Clark Terry, Bill Charlap, Charles McPherson und andere Tipps, wie man sich der Improvisation nähern könne. Ken Peplowski fasst zusammen: “Lern es, dann vergiss es wieder!”, und Randy Sandke reflektiert, was während eines Solos so alles durch seinen Kopf ginge. Schließlich äußern sich Gary Smulyan, Ralph Lalama und Jan Weber über die Möglichkeit und die Chancen “falscher Töne” im Jazz. “Motivation and Inspiration” ist ein Kapitel überschrieben, das Erinnerungen an persönliche Einflüsse beinhaltet. Keter Betts etwas erzählt, dass er als Schlagzeuger begonnen habe und durch Milt Hinton (und reichlich Zufall) zum Bass gekommen sei. John Pizzarelli kam über die Beatles zur Gitarre, Kenny Davern übers Radio bei einer der Pflegefamilien, bei denen er aufwuchs, bis er sechs Jahre alt war, und auch Junior Mance war von Earl Hines begeistert, dem er spätabends heimlich im Radio lauschte. Jon Hendricks berichtet, wie er dazu kam, improvisierte Instrumentalsoli zu textieren. Und Eiji Kitamura erinnert sich, wie eine Platte von Benny Goodman in der Sammlung seines Vaters ihn zur Klarinette brachte. Schließlich gibt es im Schlusskapitel noch ein paar Haltungen zum Phänomen des Swing und zum Missverständnis des Free Jazz sowie Erinnerungen an unglücklich gelaufene Engagements und über die Arbeit mit Legenden.

“Jazz Tales from Jazz Legends” ist also ein vielfältiges Buch, das jede Menge unterschiedlicher Erfahrungen zusammenbringt. Zu Beginn der Lektüre wünscht man sich, die einzelnen Interviews im Zusammenhang zu lesen, aber das ist ja tatsächlich möglich, über die Website des Fillius Jazz Archive am Hamilton College. Und so sollte man Monk Rowes thematische Zusammenstellung als das sehen, was sie ist: ein exzellentes Beispiel, wie sich aus den gesammelten Interviews am Hamilton College Narrative zu den unterschiedlichsten Themengebieten der Jazzgeschichte exzerpieren lassen. Dann lässt sich umso interessanter verfolgen, wie die Interviews sich gegenseitig ergänzen und die unabhängig voneinander Befragten dabei fast miteinander ins Gespräch zu kommen scheinen.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Swingin’ On Central Avenue. African American Jazz in Los Angeles
von Peter Vacher
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
331 Seiten, 55 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8832-6

2015vacherJazzgeschichtsschreibung funktioniert normalerweise so: Louis Armstrong – Charlie Parker – Miles Davis – John Coltrane. Oder so: New Orleans – Chicago – Kansas City – New York. Oder so: Dixieland – Swing – Bebop – Cool Jazz – Hard Bop – Free Jazz – Fusion. Personen, Orte, Epochen… eine Geschichte der großen Männer (!), der lebendigen urbanen Szenen, der alles umwälzenden stilistischen Innovationen. Tatsächlich aber ist dieser Blick auf die Größen, die Zentren, die Stilbegriffe enorm einengend, wenn nicht gar: einfach nur falsch. Neben den großen Stilisten gibt es immer auch diejenigen, deren Kreativität entweder nicht den großen populären Erfolg hatte oder aber nicht lange genug anhielt, oder die sich einfach weniger gut “verkaufen” konnten. Neben den jazzgeschichtsmäßig bekannten Zentren gab es Städte und Landstriche, die musikalisch enorm lebendig waren, viele Musiker hervorbrachten, aber von der Geschichtsschreibung höchstens als potentielle Spielorte, nicht als Brutstätten dieser Musik dargestellt wurden. Und neben den etablierten Stilen gibt es unendlich viele Zwischenstufen, da kaum ein Musiker sich eines Stils “in Reinkultur” bediente”. Ganz davon zu schweigen, dass sich die meisten Jazzgeschichten, ja selbst die meisten Biographien an Aufnahmen entlanghangeln und dabei gern den performativen Aspekt des Jazz vergessen, die Tatsache also, dass die veröffentlichte Platte nur eine Momentaufnahme des kreativen Prozesses ist.

Peter Vacher füllt mit seinem Buch also eine Lücke. Er widmet es einer Szene, die nie so ganz im Mittelpunkt des Jazz stand (Los Angeles), und er fokussiert dabei auf Musiker, die höchstens regionale Stars blieben und kaum nationalen oder gar internationalen Erfolg einfuhren. Vacher ist Außenseiter (Brite); er kam im Laufe des Trad-Jazz-Booms der 1950er Jahre zum Jazz. In den 1980er Jahren arbeitete er mit dem Klarinettisten Joe Darensbourg an dessen Autobiographie, verbrachte währenddessen einige Zeit in Los Angeles und lernte damals Veteranen der schwarzen Musikszene der Westküstenmetropole kennen. Die Interviews, die er mit den sechzehn in diesem Buch dokumentierten Musikern führte, hatten ursprünglich nicht das Ziel einer Buchveröffentlichung, sondern dienten einzig seinem privaten Interesse an ihrer Geschichte. Wenige konnte er ein zweites Mal interviewen, bei anderen fühlte er sich im Nachhinein schlecht vorbereitet. Dennoch geben die Geschichten, die er anhand dieser 16 Musiker erzählt, einen Einblick in eine so ganz andere Musikszene als die an der Ostküste. Die Westküstenmusiker waren flexibel; sie spielten Jazz genauso wie R&B oder Dixieland. Viele von ihnen verdienten sich ihren Lebensunterhalt in den Studios Hollywoods, und viele zog es vielleicht mal für eine Tournee, selten aber für immer fort aus Kalifornien. Und wenn auch diese Szene Jazzgrößen wie Dexter Gordon, Wardell Gray, Teddy Edwards und Charles Mingus hervorbrachte, wenn auch Legenden wie Benny Carter, Red Callender und Buddy Collette von hier aus agierten, so blieb Los Angeles doch ein weitgehend ungeschriebenes Kapitel der US-amerikanischen Jazzgeschichte.

Die von Peter Vacher interviewten Musikern stammen aus der älteren Generation, und dokumentieren die Szene vor allem der 1930er bis 1950er Jahre. Noch weiter zurück geht es in den Erzählungen des Trompeters Andy Blakeney , der von seinen ersten musikalischen Erfahrungen im Chicago der 1920er Jahre berichtet, von seinem Umzug an die Westküste im Jahr 1925, von Reb Spikes, der ein Musikgeschäft in L.A. besaß und außerdem eine gut beschäftigte Band. Er erinnert an viele der Musiker in der Stadt und an Partys bei Orson Welles. Er erzählt aber auch von der Rassentrennung in der Stadt, und von den legendären Gigs, die Louis Armstrong und Duke Ellington Anfang der 1930er Jahre in Sebastian’s Cotton Club hatten, von Tagesjobs in einer Schiffswerft, von Gigs mit Kid Ory und Barney Bigard, und von verschiedenen Comebacks in den 1970er und 1980er Jahren. Beim Pianisten Gid Honoré musste Vacher erst Street Credibility beweisen (dadurch, dass er den Schlagzeuger Wallace Bishop kannte), bevor der sich zu einem Interview bereitfand. Honoré kam 1921 aus New Orleans nach Chicago und erzählt von den vielen Ensembles, mit denen er in den 1920er bis 1940er Jahren dort spielte – oft Bands alter Freunde aus New Orleans. 1948 zog er an die Westküste, wo er mit Kid Ory und Teddy Buckner spielte – seine Erinnerungen an die Szene in L.A. nehmen dabei gerade einmal ein Fünftel seines Kapitels ein. Der Trompeter George Orendorff hatte in den 1920er Jahren King Olivers Creole Jazz Band mit Louis Armstrong in Chicago gehört, kurz bevor er nach L.A. zog. Er erzählt vom Engagement in der Band von Les Hite, in der als Schlagzeuger Lionel Hampton mitwirkte, oder von einem Abend, an dem Fats Waller Bach und Beethoven spielte. 1946 war er im Billy Berg’s Club, als Dizzy Gillespie dort mit Charlie Parker spielte. Orendorff arbeitete schließlich 30 Jahre lang als Postbeamter und trat nur noch selten auf. Jeder in Los Angeles kannte den Schlagzeuger Monk Fay, den Vacher aber erst nach intensiver Suche in einem Seniorenheim fand. Der erzählt von seiner Popularität in Hawaii, von einer Gefängnisstrafe wegen Dealens mit Marihuana und von Gigs in Los Angeles in den 1940er und 1950er Jahren. Der Saxophonist Floyd Turnham erinnert sich an Britt Woodman und an Aufnahmen mit Johnny Otis; die Sängerin Betty Hall Jones weiß noch, wie Nellie Lutcher ihr einen Vertrag bei Capitol Records verschaffte. Der Trompeter Red Mack Morris war in Les Hites Band, als diese Louis Armstrong begleitete und führte später eine Weile einen eigenen Club, in dem er schwarz Alkohol ausschenkte. Der Klarinettist Caughey Roberts erzählt von seinen Lehrern und davon, wie er schließlich selbst unterrichtete, daneben aber auch von einer Reise nach China mit Buck Clayton, über seine Arbeit mit Count Basie und Fats Waller in den 1930er Jahren und über seine Dixieland-Aufnahmen in den 1950ern. Der Pianist Chester Lane war ein großer Fan von Earl Hines, arbeitete lange Zeit um St. Louis, und zog 1957 an die Westküste. Der Trompeter Monte Easter erinnert sich, wie er und Art Farmer Ende der 1940er Jahre in Jay McShanns Band saßen, berichtet über die Probleme der afro-amerikanischen Gewerkschaften und über seinen Broterwerb als Postbediensteter. Der Bassist Billy Hadnott erzählt ausführlich von seinen musikalischen Erlebnissen in Kansas City und hat seine eigene Erinnerung daran, wie Charlie Parker ins Sanatorium von Camarillo kam. Der Trompeter Norm Bowden weiß einiges über Reb Spikes und den Schlagzeuger “Boots” Douglas zu berichten, aber auch über den Club Alabam im berühmten Dunbar Hotel auf der Central Avenue. Der Posaunist John ‘Streamline’ Ewing hatte anfangs gut bezahlte Nebenjobs in den Hollywoodstudios, ging dann auf Anregung eines Musikerkollegen nach Chicago, tourte mit Bands wie denen von Horace Henderson und Earl Hines und spielte ab den 1950er Jahren mit Teddy Buckner in Disneyland. Der Saxophonist Chuck Thomas spielte vor allem in der Küstenregion (bis Las Vegas) und zuletzt ebenfalls mit Teddy Buckner. Der Schlagzeuger Jesse Sailes erinnert sich, wie all die großen Swingbands in den Theatern von Los Angeles auftraten und wie er später Platten mit Percy Mayfield, Ray Charles und B.B. King aufnahm. Der Schlagzeuger Minor Robinson spielte mit Buddy Collette und kannte Charles Mingus, als dieser vielleicht 15, 16 Jahre alt war.

Es sind persönliche Geschichten, von Sidemen-Karrieren und außermusikalischen Lebensentscheidungen. Die Namen wiederholen sich; aus den Erzählungen schält sich dabei eine Szene heraus, die zusammenhielt, auch wenn einzelne der Musiker die Stadt für kürzer oder für länger verließen. Peter Vacher beschreibt zu Beginn eines jeden der Kapitel, wie er den Musikern auf die Spur kam und erklärt einzelne der von den Interviewten mitgeteilten Anekdoten. Nebenbei erzählen diese von der Mobilität des Musikerberufs, von Karrieren, die in New Orleans oder Chicago begannen oder in Kansas City und New York Station machten, deren Protagonisten aber, nachdem sie kalifornische Luft geschnuppert hatten, von dieser nicht mehr loskamen. Es gibt schöne Geschichten über das Zusammentreffen des West-Coast-Größen mit durchreisenden Stars der großen Swingbands; es gibt Insiderberichte über alle möglichen Aspekte des Showbusiness’; es gibt immer wieder den Anruf aus der Ferne, der ihnen einen Job in einer der “name bands” anbietet, den sie entweder für kurze Zeit annehmen oder aber ablehnen. Es gibt Geschichten über Familienplanung und solche über Tagesjobs, mit denen man die Familie ernähren konnte. Central Avenue spielt eine bedeutende Rolle, jene Straße, die in Teilen zu einem kulturellen Zentrum der afro-amerikanischen Community der Stadt wurde.

Peter Vacher hat die Gespräche laufen lassen; sein ursprüngliches Interesse galt der Lebensgeschichte der Musiker, weniger dem Treiben in Los Angeles. Und so nehmen die Erinnerungen an Chicago oder Kansas City oft mehr Raum ein als die aktuelle Lebenswirklichkeit des Ortes, an dem die interviewten Musiker schließlich landeten. Doch wird eine Szene eben nicht nur durch das geprägt, was Musiker in ihr kreieren, sondern auch durch alles, was sie aus ihrer Vergangenheit mitbringen. Von daher ist Vachers Ansatz völlig richtig, die Geschichte der Central Avenue durch die Einflüsse zu erzählen, die hier zusammenkamen.

Beim Lesen wünschte man sich stellenweise entweder einen knappen biographischen Abriss vor oder nach den Kapiteln oder aber das Einstreuen von Jahreszahlen, um die Erinnerungen der Musiker besser einordnen zu können. Wer bei Los Angeles an die Westcoast-Szene denkt, sei gewarnt: alle der von Vacher interviewten Musiker sind vor allem der Swingära zuzuordnen; sie erzählen zum Teil von den jüngeren Musikern, die sie kannten, waren aber nie selbst Mitglied dieser Szene. In seinem Vorwort heb Vacher vor allem drei Interviews hervor, die besonders gut gelungen seien: jene mit Andy Blakeney, Billy Hadnott und Norman Bowden, mit Musikern also, mit denen er mehrfach sprechen und dabei mehr über ihr Leben und musikalisches Wirken lernen konnte. Tatsächlich aber sind auch jene Gespräche lesenswert, die etwas langsamer “auf den Punkt” kommen. “Swingin’ On Central Avenue” gelingt es dabei, Erhebliches zur Kulturgeschichte des afro-amerikanischen Jazz im Los Angeles der 1930er bis 1950er Jahre beizutragen. Das Buch erzählt von künstlerischen Idealen und von der Realität des alltäglichen Musikgeschäfts. Die Entscheidung, die Vacher – sicher mehr der Not gehorchend – getroffen hatte, war genau richtig: Seine Protagonisten sind eben nicht die großen Stars, weil die Szene, die er im Fokus hat, sich in keiner der stilbildenden Städte befand, weil die Community, die er in den Kapiteln seines Buchs abbildet, sich aus vielen sehr disparaten Erfahrungen zusammensetzte. Sein Buch ist auf jeden Fall eine Fundgrube für Jazzhistoriker mit vielen Anekdoten und Erinnerungen, die dieser Rezensent hier zum ersten Mal gelesen hat; zugleich ist es eine abwechslungsreiche Zeitzeugensammlung einer Szene, die bislang nur mäßig dokumentiert ist.

Wolfram Knauer (Juli 2016)


Invitation to Openness. The Jazz & Soul Photography of Les McCann, 1960-1980
herausgegeben von Pat Thomas & Alan Abrahams
Seattle 2015 (Fantagraphics Books)
200 Seiten, 39,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-60699-786-4

2015mccannMusikerfotos – es gibt eine ganze Reihe an Jazzmusikern, deren Hobby auf Tournee das Fotografieren war. Milt Hinton ist der wohl namhafteste unter ihnen, doch jetzt zeigt ein neues Buch, dass auch Les McCann nicht nur gute Ohren, sondern auch ein exzellentes Auge hat. Das nämlich gehört dazu, auf dass das Buch eines fotografierenden Musikers nicht einzig wegen der Vorteile interessant ist, die sich daraus ergeben, dass der Mann hinter der Kamera zugleich auf der Bühne sitzt und von den Objekten seiner Begierde, also anderen Musikern, nicht als Störenfried, sondern als einer der ihren anerkannt wird.

Im Vorwort von “Invitation to Openness” erzählt A. Scott Galloway kurz die biographischen Stationen Les McCanns: geboren in Lexington, Kentucky, über Tuba und Snare-Drum zum Klavier gelangt, zusammen mit Eddie Harris mit “Compared to What” über Nacht einen Welthit geschaffen, der eine Solokarriere bedingte, die bis in jüngste Zeit anhielt. Pat Thomas erzählt die Genese des Buchprojekts: Er hatte gerade eine CD-Wiederveröffentlichung des McCann-Klassikers “Invitation to Openness” organisiert und McCann zu Hause besucht, als er in einer Ecke einen Stapel zerkratzter Abzüge von Fotos entdeckte, die der Pianist in den 1960er und 1970er Jahren gemacht, aber nie veröffentlicht hatte. Im Interview mit Thomas erzählt McCann, dass es in seiner Familie immer Fotoapparate gegeben habe. Er selbst habe sich eine Nikon gekauft und begonnen, auf der Bühne und daneben Menschen abzulichten. Als er sich ein Haus in Hollywood leisten konnte, richtete er sich eine Dunkelkammer ein und begann seine Aufnahmen selbst zu entwickeln.

Das Bemerkenswerteste an den Bildern ist vielleicht die Perspektive. Gerade die Bühnenaufnahmen sind eben nicht von vorn gemacht, aus dem Bühnengraben oder der ersten Reihe, sondern oft von der Seite oder leicht von hinten. Viele Bilder zeigen die Musiker backstage, in Vorbereitung fürs Konzert, in Freizeitklamotten beim Soundcheck. Das entspannte Lächeln Count Basies zeigt die entspannte Vertrautheit. Andere eindrucksvolle Motive sind etwa: Stanley Clarke mit abwartend-konzentrierter Miene (und einer denkwürdigen Frisur); Ben Webster am Flügel; Dexter Gordon und Joe Zawinul vor einem Motel; die junge Tina Turner; das Publikum aus Gefangenen im Cook County Jail; Cannonball Addlerley, der an einer Zigarette zieht, sein Gesicht halb in Rauch gehüllt. Neben Musikern gibt es Bilder von Schauspielern (Jack Lemmon, Bill Cosby, Jerry Lewis), Politikern (Jimmy Carter, Jesse Jackson, Stokely Carmichael, Dr. Martin Luther King), Sportlern (Muhamad Ali, Pelé), sowie einige wenige Bilder, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Doch auch diese Aufnahmen, etwa das eines alten Mannes mit Fahrrad, hätten das Potential zu Plattencovers.

Les McCann gibt zu einzelnen der Bilder Kommentare ab, in denen er Kolleginnen oder Kollegen erinnert. Auch die Identifizierung der Motive basiert auf McCanns Erinnerung, wobei es Motive gibt, zu denen er nicht wirklich mehr weiß, wo oder wann sie gemacht wurden, und zumindest eine falsche Zuschreibung (nein: das ist NICHT Eberhard Weber auf den beiden Fotos mit Sarah Vaughan, sondern Bob Magnusson!). Beim Durchblättern des Bandes kommt einem immer wieder in den Sinn, dass das Leben eines Jazzmusikers eben aus mehr besteht als der Bühnenwirklichkeit. Les McCanns “Invitation to Openness” bietet damit einen lohnenswerten und allemal mit Soul gefüllten Blick hinter die Kulissen sowohl der Musiker, die er darin dokumentiert, als auch seiner eigenen Konzertarbeit.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Bitches Brew
von George Grella Jr.
New York 2015 (Bloomsbury Academic, 33 1/3)
128 Seiten, 14,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-6289-2943-0

D2015grellaie Buchreihe 33 1/3 des Bloomsbury-Verlags behandelt eigentlich Rockgeschichte. Jeder Band ist einem separaten Album gewidmet und wird historisch kontextualisiert. Miles Davis wurde jetzt die Ehre zuteil, als erster Jazzer in die Reihe aufgenommen zu werden, die immerhin schon mehr als 100 Bände umfasst. Sein Album “Bitches Brew” von 1969 schrieb eben nicht nur Jazz-, sondern genauso auch Popgeschichte.

In seinem ersten Kapitel betont George Grella, wie schwer es ist, “Bitches Brew” klar einem Genre zuzuordnen. Miles wollte weder ein klares Jazz- noch ein dezidiertes Rockalbum machen. “Bitches Brew”, meint Grella, sollte man daher am ehesten als experimentelle Musik hören, als Versuch, den überkommenen Normen von sowohl Jazz wie auch von Rock zu entkommen.

Im zweiten Kapitel erklärt Grella die seltsame Sektenhaltung, die Jazzrezeption manchmal annehmen kann und gegen die sich Miles Davis von früh an wehrte. Geht nicht gibt’s nicht, sei sein Motto gewesen, und Popsongs nahm er bereits lange vor “Time After Time” auf. Miles, fasst Grella zusammen, spielte Pop nicht um Popstar zu sein, sondern um Musik zu machen. Er erzählt von der Zeit des Trompeters mit Charlie Parker, vom Capitol-Nonet, das irgendwie die Geburtsstunde des Third Stream wurde, sowie von “Kind of Blue” und “Sketches of Spain”.

In Kapitel 3 erklärt Grella, welch völlig anderen Ansatz Miles an die Produktion eines Albums hatte, bei dem er sich ab 1968, ab dem Album “Circle in the Round”, vorbehielt, die musikalischen Versatzstücke nach Belieben zusammenzuschneiden.

In den Kapiteln 4 und 5 schließlich steht “Bitches Brew” selbst im Mittelpunkt, wenn Grella über Titel und Covergestaltung geflektiert und die einzelnen Titel beschreibt. Das liest sich stellenweise wie eine Sportreportage: wer, wann, was, Tonart, Einsatz, Intensität. Grella verweist auf die oft nicht wahrnehmbare Editiertechnik Teo Maceros und darauf, wie dies nur deshalb möglich war, weil alle Musiker immer deutlich aufeinander hörten. In “Pharoah’s Dance” benennt er eine “hippe Blueslinie bei 4:46” oder eine Coda, die “fast Beethoven’schen Charakter” habe. Im Titeltrack zeigt er auf viele der Nahtstellen, und dann verweist auf die Unterschiede der beiden Platten des Doppelalbums: “eine, um dich wegzublasen, die andere, um deinen Kopf wieder geradezurücken”.

Im letzten Kapitel widmet Grella sich den Nachwirkungen des Albums, in der Kritik genauso wie im Jazz. Mit Verweis auf Wynton Marsalis erklärt er, dass da zwei recht unterschiedliche Sichtweisen der Zukunftfähigkeit von Musik aufeinandergeprallt seien, um dann Miles’ Konzept auf dem kleinsten Nenner zusammenzufassen: “Indem er Rhythmus, Puls und Harmonien – und auf Tonband eingespielte Kompositionen – verwandte, die absichtlich nicht zu einer Auflösung fanden, organisierte Miles Zeit: und sowohl Form wie auch Zeit finden damit in der Musik zusammen”.

Eine kommentierte Diskographie beschließt das Büchlein, das sich wie ein sehr ausführlicher Plattentext mit vielen zusätzliche Informationen liest. Ja, Grella gelingt die Kontextualisierung, und doch kommt er der Musik selbst nur bedingt nahe, auch weil seine analytischen Anmerkungen etwas zu oberflächlich bleiben, weil er quasi nur parallel zur Musik beschreibt, was man eh hört, anstatt zusammenzufassen, was das alles “bedeutet”. Trotz dieser Einschränkung aber ist Grellas Büchlein ein lohnenswerter Begleiter zur nächsten abendlichen Abhörsession dieses Miles Davis-Klassikers.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Jazz Basel. Vier Jahrzehnte Stars und Szene
herausgegeben von Offbeat = Urs Ramseyer & Ruedi Ankli & Peewee Windmüller & Urs Blindenbacher
Basel 2015 (Christoph Merian Verlag)
180 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-85616-695-5

2015offbeatDie Geschichte regionaler Jazzszenen kann man auf unterschiedliche Weise erzählen. Man kann nostalgisch und sehnsuchtsvoll zurückblicken und von alten Zeiten schwärmen. Oder man kann auch Zurückliegendes vor allem aus dem Wissen um die Gegenwart verstehen.

Die Macher des offbeat-Festivals gehen in ihrem Buch über “Jazz Basel” den zweiten Weg. Das opulent bebilderte Buch widmet einzig sein Eingangskapitel (von Bruno Spoerri) den Anfängen des Jazz in Basel von den 1920er bis in die 1970er Jahre. 1974 gründete sich der Verein und die Konzertreihe jazz in basel, 1990 schließlich das Festival offbeat. Das Buch blickt auf die Musiker, die seither auf dem Festival spielten, aus skandinavische Gäste oder gesamtdeutsche Schwerpunkte, auf Jazz aus dem Mittelmeerraum und einen lateinamerikanischen Fokus, auf US-amerikanische Bands und die Schweizer Musiker, die hier auch immer zu hören waren. Es gibt Anekdoten aus dem Alltag von Festivalorganisatoren und Berichte von Backstage. Die Auswirkungen des Festivals in Stadt und Region werden thematisiert, Schulprojekte etwa oder die Präsenz im örtlichen Rundfunk. Und schließlich wird mit Stolz auf die Zusammenarbeit des offbeat Festivals mit dem Jazzcampus Basel und dem Club The Bird’s Eye berichtet.

Das alles ist kurzweilig geschrieben, vordergründig wohl vor allem für regionale Leser interessant, daneben aber genauso ein Bericht über die Verankerung einer regionalen wie internationalen Szene, aus dem auch Veranstalter anderswo etwas lernen können. Und schließlich sind da noch die 86 schwarz-weißen Abbildungen, Fotos von Bernhard Ley, Peewee Windmüller und Röné Bringold, die die Erinnerungen an die Geschichte von offbeat ungemein lebendig werden lassen.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher
von Detlef Siegfried
Göttingen 2015 (Wallstein)
455 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1673-7

2015siegfriedErnest Borneman war eine Mehrfachbegabung, so sehr, dass es genügend Menschen gaben, die dachten, es handele sich wahrscheinlich um mehrere Personen, die nur zufällig denselben Namen hätten. In den 1970er und 1980er Jahren war Borneman ein regelmäßiger Gast in deutschen Talkshows, wann immer es um das Thema Sexualität ging, hatte daneben eine Sex-Beratungskolumne in der Neuen Revue. Als Soziologe hatte er sich mit seinem Buch Das Patriarchat 1975 einen Namen gemacht. Vor seiner Beschäftigung mit Frauenbewegung und Feminismus hatte Borneman eine Karriere im Filmgeschäft gemacht, arbeitete für das National Film Board of Canada, für die UNESCO in Paris und war Programmdirektor des Freien Fernsehens, der ersten privaten Fernsehanstalt, die nach ihrem Verbot durch die Adenauer-Regierung quasi durch das ZDF abgelöst wurde. Und noch früher war Borneman nicht nur Jazzliebhaber und -experte, sondern einer der ersten Jazzforscher, ein Kenner des Jazz, der diese Musik zeitlebens als transkulturelle künstlerische Aussage verstand und 1944 mit seinem Artikelreihe “The Anthroprologist Looks at Jazz” eine der ersten übers Anekdotische hinausreichenden Kulturgeschichten des Jazz verfasste.

Borneman schied im Juni 1995 aus dem Leben. Sein Archiv ist in der Berliner Akademie der Künste untergekommen; jetzt hat der Historiker Detlef Siegfried die Biographie des vielfältigen Forschers vorgelegt. Diese hat er klar nach den verschiedenen Feldern gegliedert, in denen Borneman tätig war, überschrieben “Hören. Die Ethnologie des Jazz”, “Sehen. Das Leben auf der Leinwand” und “Berühren. Sex und Gesellschaft”.

Der 1915 in Berlin geborene Ernst Bornemann – wie er bis zu seiner Emigration 1933 hieß – hatte bereits 1930 Bertolt Brecht kennengelernt, als Mitglieder von Berliner Schulchören zu Proben des Lehrstücks Der Jasager geladen worden waren. Er und Brecht freundeten sich an, Brecht half ihm bei der Abfassung seines ersten Theaterstücks und Borneman Brecht bei einer Neuübersetzung des Dreigroschenromans ins Englische. Siegfried, der zu Beginn seines Buchs anschaulich erklärt, wie er sich durch Bornemans eigene “Autofiktionen”, wie er sie nennt arbeiten musste, durch falsche Fährten also, die Borneman aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten seiner Karriere legte, beschreibt Bornemans Exil als “nicht nur Flucht-, sondern auch Möglichkeitsraum”.

In London war Borneman regelmäßig bei Jazzkonzerten anzutreffen, verkehrte außerdem in einem Kreis linker und schwarzer Intellektueller. Bereits Mitte der 1930er Jahre hatte er einen Kriminalroman geschrieben, arbeitete bald auch an einem Drehbuch für einen möglichen eigenen Film, in dem auch der Jazz eine Rolle spielen sollte. Im Sommer 1940 wurde er als “feindlicher Ausländer” interniert, doch bereits zuvor produzierte er seine erste Rundfunksendung. Nach seiner Internierung wurde er nach Kanada deportiert, wo er nach seiner Entlassung beim National Film Board Arbeit fand.

Er knüpfte Kontakt zu Sammlern und Jazzkennern in den USA und sammelte Material für eine mögliche musikwissenschaftliche Dissertation und ein Buch zum Thema “American Negro Folk Music”, das von zwei Verlagen zur Publikation angenommen, dann aber wegen kriegsbedingten Papiermangels nicht gedruckt wurde. In seinen Jazzarbeiten, für die Borneman sich bei dem bekannten Musikethnologen Melville J. Herskovits um ein Stipendium bemühte, ging es, wie Siegfried zusammenfasst, “um zwei Themen: erstens um die Verbindungen von afroamerikanischer Volksmusik und moderner Tanzmusik der Gegenwart, und zweitens um die Verschränkungen von sozialen Verhältnissen und Populärkultur”. 1944 begann Borneman seine achtteilige Artikelserie “The Anthropologist Looks at Jazz”, die in der Zeitschrift The Record Changer erschien, der er bald auch als Mitherausgeber angehörte. Er schlug sich in der Debatte um den Bebop zwar auf die Seite des “authentischen” Jazz, konnte aber der romantischen Rückwärtsgewandtheit vieler der Traditionalisten wenig abgewinnen und versuchte daher immer wieder zwischen den Lagern zu vermitteln.

Mitte der 1940er Jahre lebte er in Paris, interviewte Louis Armstrongs Band anlässlich des ersten Jazzfestivals in Nizza im Jahr 1948, und freundete sich mit amerikanischen Expatriates und französischen Musikern wie Claude Bolling oder Boris Vian an. Er schrieb für den britischen Melody Maker und produzierte 1953 mit Betty Slow Drag einen experimentellen Kurzfilm, der seine beiden großen Interessen Jazz und Film miteinander verbinden sollte. Für den Melody Maker berichtete Borneman auch über den Jazz in Westdeutschland, konnte aber, selbst als Joachim Ernst Berendt versuchte ihn mit zeitgenössischen Musikrichtungen der 1960er Jahre anzufreunden, indem er ihn in ein Konzert John Coltranes mitnahm, mit dem modernen Jazz wenig anfangen.

Siegfried widmet Bornemans langer Auseinandersetzung mit den karibischen Wurzeln des Jazz ein eigenes Unterkapitel und berichtet davon, wie der spätere Beat Club von Radio Bremen auf Bornemans Ideen zurückzuführen gewesen sei. Er zeigt, dass Borneman in seinen Schriften einige Debatten angestoßen hatte, die in der Jazzkritik erst in den 1960er Jahren wirklich ausgetragen wurden, als er selbst an dieser Diskussion nicht mehr selbst teilnahm. Letzen Endes mag Borneman nicht mit allen seiner Thesen Recht gehabt haben, ohne Zweifel aber sei er ein Wegbereiter der internationalen Jazzforschung gewesen.

Der Jazz spielt auch in den weiteren Lebens- und Arbeitsphasen für Borneman eine wichtige Rolle, und Bornemans kritischer Geist, den Siegfried am Beispiel des Jazz ausgiebig beschrieben hat, lässt sich auch in diesen Bereichen zeigen. Detlef Siegfrieds Buch ist dabei ein faktenreicher Band, der biographische Stationen und Diskurse, an denen Borneman beteiligt war, laufend miteinander verschränkt. Ganz sicher war Borneman einer der schillerndsten Vordenker des Jazz; Siegfrieds Schilderung sowohl seines Lebens als auch der Diskussionen, an denen sich Borneman sein Leben lang beteiligte, zeigt ihn aber darüber hinaus als einen vielseitig gebildeten, einfachen Erklärungen zutiefst skeptisch gegenüberstehenden, zur Offenheit des Denkens neigenden Forscher.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Teddy Wilson. 19 Selected Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2015 (Blue Black Jazz)
44,95 Euro

Boogie Woogie, Volume 2. 17 Original Boogie Woogie and Blues Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2014 (Blue Black Jazz)
46,85 Euro
Zu beziehen über www.blueblackjazz.com

Paul Marcorelles hat bereits eine ganze Reihe an Transkriptionen von Pianisten des frühen Jazz vorgelegt, vorzugsweise von Musikern, die im Stride- oder Boogie-Woogie-Stil spielten. Seine jüngsten Veröffentlichungen widmen sich dem Swing-Stil Teddy Wilsons auf der einen und dem Repertoire einiger der Boogie-Woogie-Größen der frühen 1940er Jahre auf der anderen Seite.

2015marcorelles_wilsonFür Teddy Wilson hat Marcorelles sich Soli zwischen 1934 und 1946 ausgesucht, schnelle virtuose Titel wie “Rosetta”, den “Tiger Rag” oder “When You and I Were Young, Maggie” sowie Balladen wie “Don’t Blame Me”, “Out of Nowhere” oder “Body and Soul”. Seine Transkriptionen sind exakt, gut lesbar, reine Notationen ohne weitere Spielanweisungen oder analysierende Harmoniesymbole. Sie sind zum Nachspielen gedacht, brauchen allerdings Pianisten, die zum einen keine Probleme mit den bei Wilson so beliebten Dezimengängen der linken Hand haben und zum zweiten technisch fortgeschritten sind, um die virtuosen Arpeggien und die die Rhythmik aufbrechenden Läufe tatsächlich zum Swingen zu bringen. Wilsons linke Hand allein kann jedem Pianisten helfen, die antreibende Kraft des Swingens zu begreifen. Auch das Studium seiner Voicings lohnt, deren Alterationen den Akkorden zusätzliche Schwebungen verleihen. Wie immer bei Transkriptionen von eigentlich improvisierten Jazzsoli ist es mehr als hilfreich, sich die Soli auf Platte (oder über Streamingdienste) anzuhören.

2015marcorelles_boogieIm zweiten der beiden jüngst veröffentlichten Bände versammelt Marcorelles Transkriptionen von Hersal Thomas (“Hersal’s Blues”), Clarence ‘Pinetop’ Smith (“Pinetop’s Boogie Woogie”), Jimmy Yancey (etwa den “Five O’Clock Blues”), Pete Ammons (z.B. “Rock It Boogie”), Meade Lux Lewis (“Chicago Flyer” und “Glendale Glide”), Albert Ammons (etwa seinen “Swanee River Boogie”), Sammy Price (133rd Street Boogie”) und Pat Flowers (“Eight Mile Boogie”). Die rhythmischen Verschiebungen zwischen Bassfiguren und rechter Hand im Boogie Woogie sind dabei noch weit schwerer zu “lesen” und bedürfen noch stärker des Höreindrucks, um sie danach vom Papier in die Tasten zu übertragen und erlauben im Idealfall – und das wäre es ja eigentlich immer im Jazz – irgendwann das Loslassen und das eigene Erfinden melodischer und rhythmischer Muster, die eigene Improvisation.

Marcorelles’ neue Bände seien jedenfalls jedem interessierten Pianisten empfohlen als Übe- genauso wie Studienmaterial. Marcorelles bietet auf seiner Website übrigens alle insgesamt 202 Transkriptionen dieser wie früher erschienener Bände auch einzeln zum Download als PDF-Datei an

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Hot Music, Ragmentation, and the Bluing of American Literature
von Steven C. Tracy
Tuscaloosa 2015 (The University of Alabama Press)
537 Seiten, 64,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8173-1865-9

2015tracySteven C. Tracy ist Literaturwissenschaftler, Professor für Afro-American Studies, aber auch ein Blues-Harp-Spieler, der bereits in Vorgruppen für B.B. King, Muddy Waters und andere Stars der Szene auftrat. In seinem umfangreichen Buch stellt er die afro-amerikanische Musik der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, also Jazz und Blues, als Referenzpunkt dar, der helfen könne, die amerikanische Literaturgeschichte jener Zeit besser zu verstehen. Es geht ihm dabei nicht einzig um Romane oder Dichtung, die sich konkret und thematisch mit Musik beschäftigen, sondern auch um den Einfluss von Klanglichkeit, von Virtuosität, von improvisatorischer Haltung auf die amerikanische Literatur der Jahre bis 1930. Er greift hierfür immer wieder zurück auf konkrete Aufnahmen, um etwa Beispiele der afro-amerikanischer Stimme, des afro-amerikanischen Rhythmus, der Griot-Funktion des Bluessängers, der Bedeutung von Wiederholungen, der tiefen Doppeldeutigkeit, der politischen Untertöne herauszustreichen, die eben keine rein afro-amerikanischen Untertöne seien, sondern Befunde für den Zustand der gesamten amerikanischen Gesellschaft. Tracy verbindet die Genres, folkloristischen Blues, modernistischen Jazz, um aus dem Mix der Aufnahmen heraus, auf die er sich bezieht, neue Argumente zu entwickeln, die abseits der üblichen Beschreibung von Jazz-, Blues- oder Kulturgeschichte liegen. Er untersucht daneben auch Film- oder klassische Musikgeschichte nach Einflüssen von oder Analogien zu afro-amerikanischer Musik und findet den nachhaltigsten Widerhall außerhalb der Musik schließlich in der Literatur, bei T.S. Eliot, William Carlos Williams, Hart Crane, Gertrude Stein, Ezra Pount, und bei Abbe Niles, Langston Hughes, Countee Cullen, Zora Neale Hurston und anderen Dichtern und Schriftstellern der Harlem Renaissance.

Tracys schnelle Wechsel zwischen den Diskursen sind dabei sowohl inspirierend wie auch, da sie ein häufiges Vor- und Zurückblättern erfordern, zeitweise ermüdend. Sein intertextueller Ansatz ist auf jeden Fall ein Beispiel, wie sich aus dem Studium afro-amerikanischer Musik Aussagen über weit mehr als diese treffen lassen, wie stark tatsächlich diese Musik bereits in den ersten 30 Jahren des 20sten Jahrhunderts ihren Niederschlag im Denken, Handeln und Schreiben gefunden hat.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Friedel Keim
Das große Buch der Trompete (3)
Diskografie, Fotografien, Statistik, Nachträge
Fortsetzung des Trompeter-Lexikons, Band 3
Mainz 2015 [Eigenverlag
554 Seiten, 33,90 Euro
nur direkt zu beziehen über
Friedel Keim, e-mail: ruf.keim@t-online.de

2015keimDer Ur-Maizer Trompeter Friedel Keim hat nach den ersten beiden Auflagen von 2005 und 2009 nun den dritten Band seiner Trompeterbibel vorgelegt, ein sorgfältig recherchiertes Kompendium, das die verschiedensten Seiten des Instruments und seiner Musiker beleuchtet und dessen Spektrum von Klassik über Jazz bis zur volkstümlichen Musik reicht.

Keim kennt dabei keine Berührungsängste. Er versteht es genauso, sich über die Kunst der Barocktrompete auszulassen wie über die Probleme, die viele Jazzer mit der Ästhetik eines Wynton Marsalis haben. Und neben den großen Stars finden auch die Satzbläser wieder Erwähnung oder Musiker der aktuellen Szene.

Der lexikalische Teil von Band 3 enthält biographische Artikel von A wie “Abbott, Goivinda” bis Z wie “Zonshine, Michael”. Neben diesen teils ausführlichen Portraits gibt es Anmerkungen zur Interpretation von Werken aus Klassik, Marschmusik und anderen Genres, darunter auch analytische Anmerkungen und Notenbeispiele aus dem Jazzbereich, etwa eine Transkription des “West End Blues” in der Version von Louis Armstrong und seiner Hot Five von 1928, Dizzy Gillespies “Night in Tunisia”, oder Maynard Fergusons Version von “Body and Soul”. Korrekturen und Ergänzungen zu den beiden ersten Bänden erhalten ein eigenes Kapitel, und wieder gibt es den Block “Wissenswertes rund um die Trompete”, der etwa Informationen über das “Gansch-Horn” gibt oder über das flexibrass-Mundstück, über die Vuvuzela oder über die Trompete auf historischen Briefmarken, über den Trompetenbaum oder diverse Filme, in denen die Trompete im Mittelpunkt steht. Schließlich findet sich noch ein umfassendes Kapitel zu Horst Fischer, jenem legendären deutschen Trompeter, dessen Prolog zu einer Autobiographie Keim abdruckt, außerdem eine alphabetische Auflistung aller ihm bekannter Fischer-Aufnahmen.

Wie bereits in den vorherigen Bänden findet sich auch in Band 3 vieles, was sonst kaum irgendwo erierbar wäre. Friedel Keim weiß um Geburts- und Sterbedaten, berichtet über die Stars, aber eben genauso über die “kleinen” Vertretern des Instruments, über Satzspieler oder junge Musiker, die durchaus auch zwischen den stilistischen Welten leben und arbeiten, über Dixieland- und Swingtrompeter, die eher der Amateur- als der Profiszene angehören, aber dennoch gute Musiker sind, über Musiker von denen man noch nie gehört hat oder aber auch Musiker, die man persönlich kennt, aber nie in einem Lexikon vermutet hätte, weil ihr Arbeitsschwerpunkt doch eher regional begrenzt ist. Keim hat sich ihnen allen angenommen mit einem Vollständigkeitsanspruch, der jede Kritik an der Auswahl im Keim ersticken ließe (man entschuldige das Wortspiel). Und gerade in den Einträgen zu den kleinen Vertretern der Trompete erkennt man einmal mehr die “labor of love” dieses Buches, das zu alledem noch exzellent lesbar ist. Kein kritisches Buch vielleicht, dafür ein verlässliches Nachschlagewerk für jeden, der sich für die Trompete interessiert: eine Trompeterbibel fürwahr!

(Wolfram Knauer, Februar 2016)


 

Mein Onkel Pö
von Holger Jass
Hamburg 2015 (Offline-Verlag)
137 Seiten, 25,55 Euro
ISBN: 978-3-00-051272-8

2015jassEinen ersten Hinweis auf den Inhalt dieses Buchs gibt bereits der Preis: 25,55 Euro, entsprechend einem Cent pro Nacht im legendären Club, wie Holger Jass in der Presseankündigung zum Buch erklärt. Holger Jass hatte das Onkel Pö (Onkel Pö’s Carnegie Hall, wie es damals offiziell hieß) Anfang 1979 vom Vorbesitzer Peter Marxen übernommen, der ihn bei der Übergabe warnte: “Ich muss dich warnen. Pö-Jahre sind wie Hundejahre. Die zählen siebenfach.” Jass hielt es bis Anfang 1986 aus, führte das “Pö” im Sinne seines Kultstatus’ weiter und hat jetzt ein kurzweilig-amüsantes Buch über seine Erlebnisse mit Musikern, Medienmenschen, Kollegen und dem Publikum geschrieben, das ihm die ganzen Jahre über treu blieb, aus dessen Reihen sich aber partout kein Interessent für eine Nachfolge finden ließ.

“Jetzt macht Jass den Jazz im Onkel Pö” titelte das Hamburger Abendblatt, als Jass 1979 übernahm. Sein Buch handelt natürlich auch von Jazz. Er beschreibt, wie Michael Naura, damals Jazzredakteur des NDR viele der Jazzabende mitschnitt, die sich das Pö ansonsten kaum hätte leisten können. Den Flügel im Club hatte kein geringerer als Joachim Kühn ausgesucht und eingeweiht. Ansonsten bevölkern Jazzer wie Freddie Hubbard, Elvin Jones, Pat Metheny, Dexter Gordon die Seiten, aber auch Tom Waits, Charlie Watts, Joe Cocker, Hannes Wader, Truck Stop und natürlich Udo Lindenberg, der dem “Pö” in einem seiner Hits ein Denkmal setzte.

“Bei Onkel Pö spielt ‘ne Rentnerband”, hieß es da, “seit 20 Jahren Dixieland” – aber mit Dixieland ließ sich so ein Schuppen nicht finanzieren, bilanziert Jass trocken … obwohl man das Wort “trocken” selbst bei einer Rezension dieses Buchs nicht in den Mund nehmen sollte, denn trocken ging es ganz sicher nicht zu im Pö. Auch davon handelt das Buch, von den skurrilen Erlebnissen mit den Musikern, vom gesteigerten Alkoholkonsum, vom Pflegen einer Szene und davon, dass man, um Wirt zu sein, ein dickes Fell und viel Humor benötigt. Pineau ist das Zauberwort, jene süßliche Mischung aus Traubenmost und Cognac, die Jass als Allheilmittel vieler Probleme genauso beschreibt wie als Ursache anderer. Seine Anekdoten machen klar, dass man als Wirt und täglicher Konzertveranstalter selbst nicht ganz ohne solche “Medizin” auskommt: ein divenhafter Auftritt Freddie Hubbards etwa oder jener Abend mit Dexter Gordon, den Jass allerdings erst aus drogenbedingtem Tiefschlaf im Hotel um die Ecke wecken musste, den er für seine 57 Jahre als “bös klöterich” beschreibt, der dann aber nach einem dreifachen Whiskey ein denkwürdiges Konzert gegeben habe.

Sehr viel tiefer geht es sicher nicht in seinen Erinnerungen, die er mit viel Augenzwinkern und der humorvollen Abgeklärtheit der zeitlichen Distanz schreibt, und bei denen man schon mal über die eine oder andere schlüpfrige Anekdote hinweglesen muss. Bei all denen, die dabei waren in diesem zwischen Alternativszene und Hochkultur angesiedelten Zauberort in Eppendorf, wird er warme Erinnerungen wecken. Man meint den Fusel wieder zu schmecken und die dicke Luft wieder zu riechen, vor allem aber erinnert man sich an die musikalischen Hochgenüsse, die das Onkel Pö so oft und so viel vermittelte. Für diejenigen, die nicht dabei waren, gibt Jass ein launiges Portrait, einschließlich etlicher Fotos, ein Portrait, das stellenweise einer Filmdokumentation über verwunschene Zeiten ähnelt, bei denen man eigentlich gern dabei gewesen wäre.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Rhythm Is My Beat. Jazz Guitar Great Freddie Green and the Count Basie Sound
von Alfred Green
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
325 Seiten, 75 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4246-3

2015greenCount Basies All American Rhythm Section gilt als die swingendste Rhythmusgruppe des Jazz. Die Art, wie Pianist Basie, Gitarrist Freddie Green, Bassist Walter Page und Schlagzeuger Jo Jones rhythmisch und harmonisch ineinandergriffen, um den vorwärtstreibenden Schwung zu schaffen, der zu ihrem Markenzeichen wurde, besaß so viel an Energie, dass Rhythmusgruppen überall auf der Welt sie zum Vorbild nahmen. Den wichtigsten Anteil an dieser Energie hatte, wie Basie selbst, aber auch zahllose andere Musiker bezeugen, Freddie Green, der dem Count Basie Orchester von 1937 bis zu Basies Tod im Jahr 1983 und der Band noch ein paar Jahre danach bis zu seinem eigenen Tod 1987 angehörte. Von Nichtmusikern wurde Green schon mal dafür bemitleidet, ein ganzes Leben lang nie ein wirkliches Solo gespielt, dafür immer nur “schrumm schrumm” gemacht zu haben, vier Schläge pro Takt, durchgehend vom ersten Akkord bis zum letzten; und doch ist ihm jemand kaum in der Kunst des Rhythmus nahegekommen, den dieser Vierschlag erzeugen konnte.

Jetzt hat Alfred Green, der Sohn des Gitarristen, eine Biographie vorgelegt, die weit mehr ist als die persönliche Erinnerung eines Verwandten. Greens Buch schafft den Spagat zwischen Insiderwissen, persönlicher Betroffenheit und nüchterner Beschreibung der Lebens- und Arbeitswirklichkeit eines Musikers der Bigbandära.

Die Geschichte beginnt in Charleston, South Carolina, wo Freddie Green 1911 geboren wurde, in einer Stadt mit einer überaus lebendigen schwarzen Musikszene. Nachdem er die erste Ukulele gegen ein viersaitiges Banjo ausgetauscht hatte, sammelte er erste musikalische Erfahrungen mit Freunden aus dem Jenkins Orphanage, einem berühmten Waisenhaus in Charleston, aus dem etliche spätere Musiker hervorgingen. Mit einer dieser Bands reiste er die Küste hoch bis nach Maine, wechselte irgendwann vom Banjo zur Gitarre und spielte mit dem Saxophonisten Lonnie Simmons und dem Stride-Pianisten Willie Gant. Als der Impresario John Hammond ihn hörte, empfahl er seinem Schützling Count Basie, sich den Gitarristen für sein Orchester zu sichern. Im Januar 1937 kam es zum Vorspiel erst in kleinem Kreis, dann mit der Bigband, und am 1. Februar begann sein mehr als 45-jähriges Engagement als Motor des Count Basie Orchestra.

Alfred Green erzählt nicht nur die Lebens- und Arbeitsstationen Greens, sondern nähert sich auch seinem Stil, fragt nach Einflüssen, erklärt die Besonderheit des Green’schen Sounds. Der Autor wurde im Februar 1938 geboren, im selben Jahr beendete seine Mutter ihre Beziehung zu seinem Vater, sicher auch, weil der inzwischen eine Romanze mit Billie Holiday begonnen hatte, die für kurze Zeit mit Basie reiste.

Green beschreibt die verschiedenen Besetzungen der Basie-Band der 1930er und 1940er, die Schwierigkeiten des Musikerlebens, und die zunehmenden Probleme der Musikindustrie, die schließlich dazu führten, dass Basie sein Orchester auflöste und kurze Zeit mit einem Sextett – ohne Gitarre – auftrat. Sein Vater nahm die Entscheidung nicht hin und tauchte einfach beim nächsten Gig des Sextetts mit seiner Gitarre auf. “Was machst du denn hier?”, fragte Basie, und Green antwortete, “Was glaubst du wohl? Du hast hier einen Gig, richtig? Ich habe dir die besten Jahre meines Lebens gegeben und du glaubst, mich einfach beiseiteschieben zu können? Keine Chance!”

Während die 1930er- und 1940er-Jahre-Band insbesondere ein Solistenorchester war, wurde der Sound der 1950er Jahre-Band durch ihre Arrangeure geprägt. Alfred Green berichtet, wie Green seinen Platz in den Arrangements fand, wie er sich zu den Schlagzeugern positionierte, und wie er seine Aufgabe immer als die eines Unterstützers der anderen gesehen habe.

Neben den Einsichten in Greens Karriere sind es vor allem die technischeren Kapitel, die im Buch faszinieren. Alfred Green beschreibt etwa die Spannung der Saiten, die besondere Haltung, die Green benutzte, bei der sein Instrument fast auf seinem Schoß lag, spricht über die Tatsache, dass Green kaum je mit nicht-akkordischen Soli zu hören war, über seine wenigen Aufnahmen unter eigenem Namen, über Gigs für andere Bandleader und anderes mehr.

Einem dicken Block mit seltenen Fotos folgen schließlich noch Analysen von Michael Petterson, M.D. Allen und Trevor de Clerq sowie Zitate anderer Gitarristen über Green, schließlich eine ausführliche Diskographie aller seiner Aufnahmen.

Es gibt eine Reihe an Büchern über das Count Basie Orchester, darunter natürlich auch Basies eigene Autobiographie, verfasst mit Hilfe Albert Murrays. Keines dieser Bücher aber bietet einen so persönlichen Einblick in die Band wie das Buch Alfred Greens über seinen Vater. Der Gitarrist Freddie Green war wahrscheinlich der wichtigste Musiker des Basie Orchesters, der nicht nur für den durchgehenden Swing und eine rhythmische Verlässlichkeit stand, sondern der Band auch, was oft übersehen wird, ihren ganz spezifischen Sound verlieh, der sie aus der Menge ihrer Konkurrenten auf dem großen Bigbandmarkt hervorhob. Greens Buch gelingt in diesem Umfeld gleich dreierlei: Er schreibt eine Biographie des Gitarristen Freddie Green, er erzählt Details aus der Bandgeschichte Count Basies (und damit aus dem Alltag der Swingära), und er teilt sehr persönliche Erinnerungen an seinen Vater mit dem Leser.

Ihm gelingt dabei der schwierige Spagat, Beobachter und Sohn zur selben Zeit zu bleiben. Zu Beginn liest sich das alles wie eine interessante, aber eher distanzierte Lebensdarstellung, bis Green aus einem Gespräch zitiert, das er mit seiner Mutter geführt hatte, und bei dem einen schlagartig klar wird, dass der Autor ja Sohn des Objekts seines Berichts ist, dass er mit dem Wissen eines Familienglieds, sicher auch mit eigener Betroffenheit schreibt. Solche Perspektivwechsel gelingen ihm hervorragend, wie man in etlichen bewegenden Passagen erkennen kann. Green verschweigt macht aus seinem Vater nirgends einen Heiligen, sondern stellt ihn als Menschen dar, der nach dem Besten strebte, aber durchaus fehlbar war.

“Rhythm Is My Beat” ist ein sehr empfehlenswertes Buch, über Freddie Green, über Count Basie, über die Swingära und vieles mehr. Alfred Greens Buch gibt einen tieferen Einblick als vieles, was man sonst so liest zu diesem Thema und ist eine spannende Lektüre für Fans, genauso wie für Musiker oder Forscher über diese Musik.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Keith Jarrett. Eine Biographie
von Wolfgang Sandner
Berlin 2015 (rowohlt)
362 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-780-1

2015sandner“Mit freundlichen Künstlern ist die Welt nicht gesegnet”, beginnt Wolfgang Sandner sein Buch, das er mit Wohlwollen des Pianisten angegangen war, bis er mit diesem nach einem Konzert aneinandergerieten sei, weil es Jarrett nicht gefallen habe, dass Sandner sein “Köln Concert” als einen seiner größten Erfolge bezeichnete. “Das Ende eines Dialogs eröffnet jedoch auch eine Chance”, befindet Sandner. In der Folge nämlich habe er sich noch stärker auf die Musik konzentrieren müssen. Das Ergebnis ist ein Buch, das der Musik Jarretts als eines Künstlers gerecht wird, der seine Kraft aus der Improvisation des Jazz zieht, dessen Wirkung aber weit über dieses Genre hinausreicht.

Keith Jarrett wurde am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren, und Sandner sieht diesen Tag, Kriegsende, als symbolträchtig für die Jahrhundertkarriere des Pianisten. Ohne Europa, das durch den Krieg noch mehr für die Qualitäten des Jazz sensibilisiert war, erklärt Sandner, wäre Jarretts Karriere einerseits so nicht möglich gewesen, auf der anderen Seite habe Jarrett immer tief in den Traditionen der amerikanischen Avantgardeästhetik gestanden, in der Tradition auch eigenbrötlerischer Künstler wie Lou Harrison und Alan Hovhaness, deren Werke er Anfang der 1980er Jahre in Europa uraufführte.

Sandner zeichnet die Kindheit Jarretts in Allentown nach, die Erkenntnis seines Talents, das Trauma der Trennung seiner Eltern, dem er mit dem Rückzug in die Musik begegnete, und die musikalischen Bemühungen seiner Brüder. Jarrett spielte mit lokalen Bands, besuchte Workshops, gewann ein Stipendium fürs Berklee College, mit dessen die Musik eher regulierenden als zur Kreativität ermutigendem Lehrplan er allerdings wenig anzufangen wusste. Da war die Schule von Art Blakeys Jazz Messengers schon eine andere, in denen Jarrett ab Herbst 1965 für vier Monate mitwirkte. Von Blakey wechselte er in die Band des Saxophonisten Charles Lloyd, dem er durch dessen Schlagzeuger Jack DeJohnette empfohlen worden war. Lloyds Quartett war “die erste Supergroup des Rockjazz”, und Sandner hört sich sowohl dessen Studio- wie auch die Liveaufnahmen an. 1967 gründete Jarrett sein erstes Trio mit Charlie Haden und Paul Motian, und als ihm Miles Davis 1969 zum wiederholten Mal anbot, in seiner Band mitzuwirken, sagte Jarrett zu, obwohl Miles mit Herbie Hancock und Chick Corea bereits zwei Pianisten in der Band hatte. Bei Miles musste er elektronische Keyboards und Orgel spielen, Instrumente, die ihm eigentlich zuwider waren. Zugleich setzte er sich noch mehr mit Klang auseinander, mit dem Sound der Instrumente, die er zu bedienen hatte genauso wie den Soundmöglichkeiten der Band, die für Miles im Mittelpunkt seiner “musikalischen Großräume, Klangkunstwerke” standen.

Ein eigenes Kapitel widmet Sandner der Partnerschaft zwischen Keith Jarrett und Manfred Eicher, der weit mehr war als ein Labelgründer und Plattenproduzent. Jarrett stand Anfang der 1970er Jahre eigentlich bei ABC unter Vertrag, ihm wurde aber erlaubt, Produktionen mit “ernster Musik” und ähnliche Aufnahmen ohne Gegenleistung anderswo einzuspielen, das könne sein Ansehen schließlich nur steigern. Dass Jarretts Aufnahmen für Eichers Edition of Contemporary Music zum Zugpferd für das Label ECM werden sollten, hatte niemand vorhergesehen. Im November 1971 also ging Jarrett erstmals in Oslo ins Studio und produzierte mit “Facing You” die erste von bis heute 28 Solo-Produktionen für Eicher, ein Album, das sowohl Jarretts Ruf als Solopianist begründete als auch Eichers Ruf als einer der offenohrigsten Produzenten des Jazz. Sandner erklärt, was die Partnerschaft und das Vertrauen der beiden zueinander begründe, die Tatsache etwa, dass Eicher selbst Musiker sei oder dass sein Interesse neben dem Jazz auch anderen Formen von Musik (oder Literatur oder Kunst oder Film) gelte. Eicher, schlussfolgert Sandner auch nach dem Gespräch mit anderen ECM-Künstlern, sei bei vielen seiner Produktionen der “dritte Mann”, auch wenn man ihn weder sehe noch höre.

Es gäbe etliche Musiker und Musikliebhaber, warnt Sandner schon im Vorwort seines Buchs, die meinen, über Musik solle man nicht so viel schreiben, da diese das Wesentliche doch eh in sich berge. Und dann tut er genau das, kongenial, so nämlich, dass seine Zeilen die Musik zwar heraufbeschwört, aber nirgends zu ersetzen trachtet. Über Jarretts Klavierspiel etwa schreibt er, man könne vielleicht die verschiedenen Techniken benennen, die seinen Personalstil ausmachten, komme dabei aber vor allem an einem Charakteristikum nicht vorbei, das Sandner die “Konzentration aufs Wesentliche” nennt und das er in Jarretts musikalischem Ansatz genauso findet wie in seiner Wahl der Mitmusiker oder in der klaren Gliederung seines Repertoires in Standards, eigene Kompositionen und freie Solo-Improvisationen.

An anderer Stelle verfolgt er Jarretts Vervollkommnung der authentisch-eigenen Stimme. Er betrachtet die Aufnahmen seines amerikanischen Quartetts mit Dewey Redman und seines europäischen Quartetts mit Jan Garbarek, beschreibt, was an diesen Aufnahmen so besonders sei, obwohl sie doch weder einen unerhörten Klang hervorbrächten noch eine neue Form oder eine außergewöhnliche ästhetische Haltung. Er nennt Jarrett einen “Solist ohne Grenzen”, verfolgt die unterschiedlichen pianistischen Ansätze, die der Künstler über die Jahre entwickelte. Und Sandner ist wie wenige deutsche Autoren ein Meister darin, Musik mit Worten näher zu kommen. Ein Beispiel: Über Jarretts Album “Staircase” schreibt er: “Alles, was Jarrett in den elf Stücken erklingen lässt, besitzt Körperlichkeit. Es gibt keine flachen Töne, nur runde, eckige, kubusartige, voller Tiefenschärfe. Wenn ein Ton verklingt, wird er nicht nur leiser, er verschwindet wie in einem Tunnel, verliert nicht nur sein Volumen, sondern wird augenscheinlich kleiner.” Er benennt die Beziehungen zwischen Jarretts Aufnahmen an der Barockorgel in Ottobeuren und seiner Suche nach Klangfarben einerseits und ähnlichen Suchen europäischer oder amerikanischer Komponisten andererseits, nicht aber, um daraus Einflüsse abzuleiten, sondern um zu zeigen, dass Jarrett sich da inmitten eines breiten Diskurses befindet, in dem seine eine gewichtige Stimme ist.

Zwischen ausführliche Beschreibungen der diversen Plattenprojekte streut Sandner aber auch Informationen über die Selbstzweifel des Künstlers, über persönliche und geschäftliche Krisen, über Rückenschmerzen und das chronische Erschöpfungssyndrom, dass Jarrett für einige Jahre aus dem Verkehr zog. Er beschreibt, wie all diese außermusikalischen Ereignisse ihren Widerhall in Jarretts Musik fanden. Nach seiner Genesung, fasst Sandner zusammen, sei Jarrett ” praktisch nicht mehr in ein Aufnahmestudio zurückgekehrt. Mit Ausnahme einer Duo-Aufnahme mit Charlie Haden und einer Einspielung von Bach-Sonaten für Violine und Klavier sind alle Aufnahmen danach bei Live-Auftritten entstanden.”

Natürlich nimmt das “Köln Concert” ein wichtiges Kapitel seines Buchs ein. Sandner beschreibt die bekannt widrigen Umstände des Konzerts, Rückenschmerzen, ein schlecht intoniertes Instrument, ein Stutzflügel, den die Bühnenarbeiter statt des eigentlich geplanten Bösendorfer Imperial auf die Bühne gestellt hatten, und er erzählt, wie Jarrett aus all diesen Widrigkeiten über sich herauswuchs, die Beschränkungen des Instruments zu Stärken seiner Aufnahme machte. Das “Köln Concert” wurde zu einem Riesenerfolg bei Kritik und Publikum gleichermaßen, und selbst der Perfektionist Jarrett musste später zugeben, dass die Ideen, “diese Klangfarben und diese Stimmführungen”, die auf der Aufnahme zu hören sind, schon einzigartig waren.

In weiteren Kapiteln seziert Sandner die Herangehensweise Jarretts an die Standards des American Popular Song, die er zusammen mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette ab 1983 einspielte und bald auch bei Konzerten spielte, seine Einspielungen klassischer Musik von Bach bis Lou Harrison, sowie Jarretts eigene Kompositionstätigkeit, die sich keinesfalls in der Komposition von Themen für eigene Improvisationen erschöpfte.

Sandners letztes Kapitel heiß “Einspruch” und ist unter all den lesenswerten Kapiteln dieses Buchs vielleicht das lesenswerteste. Sandner beginnt mit einer Eloge auf den kreativen Schöpfer, auf das Genie Keith Jarrett, um dann die Reaktion hervorzuheben, mit der Jarrett so oft, auf so vieles, reagiert, seine “Manie, etwas abzulehnen”. Der wichtigste Einspruch Jarretts gelte dabei musikalischen Trends, kurzlebigen Moden oder selbsternannten Kanonikern. Sandner findet diese Veto-Haltung auch im Klavierspiel des Meisters selbst, das “allen Regeln der traditionellen Klavierkunst widerspricht und wirkt, als sei das Instrument weniger ein Partner, vielmehr ein Gegner, den man bezwingen müsse, bisweilen mit List und Tücke, bisweilen mit tänzerischem Ablenkungsmanöver, manchmal mit brachialer Gewalt, nicht selten aber, indem man sich den Flügel einverleibt, mit ihm verschmilzt.” Es ist dieses Eins-Sein mit seiner Musik, das Jarrett auch außerhalb der Jazzanhängerschaft Wirkung verschafft hat. Henry Miller schrieb ihm einen Brief, nachdem er das “Köln Concert” gehört hatte, Sergiu Celibidache und Marcel Reich-Ranicki zeigten sich begeistert. Sandner argumentiert aber auch, dass diese Verweigerungshaltung neben seinen künstlerischen Entscheidungen auch Jarretts problematisches Bühnenverhalten beeinflusst habe, seine gelegentlichen Publikumsbeschimpfungen, die, wie Sandner schreibt, fast schon zum Ritual geworden seien, das Voyeure unter den Hörern erwarten oder gar herausfordern.

Wolfgang Sandners Buch gelingt es, der Musik Keith Jarretts nahe zu kommen, gerade, weil er sich, wie er im Vorwort erklärt, mit dem Künstler entzweit hat. Sandner besitzt den Überblick nicht nur über Jarretts Schaffen und nicht nur über die Jazzgeschichte, aus der heraus Jarretts Kunst kommt, sondern über die gesamte Kulturgeschichte, in die hinein Jarretts Musik wirkt. Es gelingt ihm, die verschiedenen Positionen zu definieren, die sich in der Musik und ihrer Rezeption widerspiegeln: die musikalische, ästhetische und wirtschaftliche Position Jarretts zu verschiedenen Zeiten, die Position der Labels, der Agenten, der Produzenten, die Position Manfred Eichers, die Position der Kritiker und des Publikums, und nicht zuletzt auch seine eigene Position, die Position Wolfgang Sandners. Dass er aus eigener Begeisterung heraus schreibt, lässt er nicht unerwähnt. Er bezeichnet Jarrett wiederholt als “Genie”, nennt ihn den größten Musiker, der je aus Allentown kam. Doch dient diese eigene Positionsbestimmung letztlich auch dem Vertrauen, das wir als Leser in Sandners Wertung der Musik haben können. Er lässt uns klar wissen, wo er als Autor steht, und so können wir viel leichter unsere eigene Position beziehen, überdenken, revidieren. Wolfgang Sandner ordnet Jarretts Aufnahmen dabei nicht nur in Jazz-, Musik- und Kulturgeschichte ein, er verleitet zum neuen, zum tieferen Hören, und er ermöglicht ein Verständnis – im besten Sinne des Wortes – über die Grenzen des emotionalen Hörens hinaus.

Wolfram Knauer (Dezember 2015)

Nachtrag Februar 2021:

Keith Jarrett. A Biography
by Wolfgang Sandner, translated by Chris Jarrett
Sheffield 2020 (Equinox)
215 Seiten. 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-800500129

Sandners Jarrett-Biographie ist inzwischen auf Englisch erschienen, übersetzt von keinem Geringerem als Jarretts Bruder, dem in Deutschland lebenden Pianisten Chris Jarrett. Für die englische Ausgabe hat Sandner seinen früheren Text erweitert und aktualisiert, hat neuere Aufnahmen und neue Veröffentlichungen aus früheren Jahren berücksichtigt und neue Erkenntnisse über Jarretts familiären Background geteilt. Mit dem Abschied Jarretts von der Bühne im vergangenen Oktober scheint auch seine Karriere abgeschlossen. Sandners Buch vertieft das Wissen und ermuntert zum Nachhören – jetzt vielleicht etwas wehmütiger als bei der ersten (deutschen) Lektüre vor sechs Jahren.


 

Als der Jazz nach Kassel kam. Streifzüge durch die Szene der ersten Nachkriegsjahre
von Ulrich Riedler
Berlin 2015 (B&S Siebenhaar Verlag)
104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN: 978-3-943132-39-7

2015riedlerDie großen Jazzmetropolen – Berlin, Hamburg, Köln, München – sind weitgehend dokumentiert. Auch für kleinere Städte haben sich Historiker und Hobbyhistoriker der Aufbereitung der Jazzgeschichte angenommen. Das kann schon mal seltsam wirken, wenn Provinzzentren wie der Mittelpunkt der Welt erscheinen, wo sie doch meist nur Durchgangsstationen für aufstrebende spätere oder etablierte, sich auf Tournee befindende Jazzstars waren. Tatsächlich aber sind regionalen Szenen bis heute wichtige Brutstätten künstlerischer Ideen, auch wenn viele der Musiker, die hier ihre Anfänge nehmen, irgendwann in die großen Zentren abwandern, in Städte mit bedeutenden Hochschulen etwa oder in solche mit einer lebendigen, großen Jazzszene.

Das nordhessische Kassel, in der Mitte der Republik, und doch kulturell vor allem durch die Brüder Grimm und die documenta bekannt, besitzt bis heute eine lebendige Szene, verschiedene Spielorte für Jazz und improvisierte Musik, und ein langjähriges Festival. Die alle fünf Jahre stattfindende documenta bringt es mit sich, dass die Bürger der Stadt sich sehr bewusst mit ästhetischen Diskursen der Avantgarde auseinandersetzen.

Der Journalist und Jazzfan Ulrich Riedler hat sich in seinem Buch auf die Suche nach den Anfängen des Jazz in der nordhessischen Stadt gemacht und diese im Frühjahr 1940 entdeckt, als sich junge Jazzfreunde im Gasthaus “Ledderhose” trafen, wo sie gemeinsam die neuesten Platten hörten. Irgendwann rückte die Gestapo ihnen auf den Leib, nahm die Jungs mitsamt ihrer Schellackschätze mit und unterzog sie einer gründlichen Befragung. Die Jazzfans wurden bald wieder entlassen, und einer von ihnen kann Riedler nicht nur von damals berichten, sondern ihm sogar noch die kurzfristig konfiszierten Platten zeigen. Die “Ledderhose” blieb auch nach dem Krieg ein Jazztreffpunkt, in dem die Mitglieder zu Platten tanzten, ab und zu aber auch selbst zum Instrument griffen.

Die 1950er Jahre dokumentiert ein Gespräch mit dem späteren Spiegel-Redakteur Alfred Nemeczek, von dem Riedler außerdem einen Bericht über das Jazzkontor Kassel aus dem Jahr 1959 andruckt, den Versuch, in Nordhessen einen Liveclub nach Vorbild des Frankfurter Jazzkellers zu etablieren. In den 1950er Jahren begannen die ersten amerikanischen Stars Deutschland zu erobern. Kassel erlebte Konzerte von Duke Ellington, Louis Armstrong, Lionel Hampton oder der Jam-Session-Truppe Jazz at the Philharmonic mit Ella Fitzgerald und vielen anderen.

Einer der Stammgäste der Kasseler Jazzszene war damals der Trompeter Manfred Schoof, der zwei Jahre an der Kasseler Musikakademie studierte, bevor er nach Köln weiterzog. Riedler spricht mit ihm über die Jazzszene jener Zeit, über Musiker und Musikerlegenden der Region, unter anderem den Tenorsaxophonisten Werner Apel, den, wie man sich erzählt, sogar Duke Ellington verpflichten wollte, weil er ihn bei einer Jam Session so beeindruckt habe, und natürlich auch über die GI-Clubs, in denen Schoof die amerikanische Kultur erst richtig kennenlernte.

Die Amerikaner waren im Stadtteil Rothwesten in Fuldatal stationiert und engagierten über die Special Service Agencies jede Menge deutscher Musiker für die Unterhaltung in den verschiedenen Clubs. Riedler blickt auf Orte, aufs Repertoire, auf das Jazzprogramm des örtlichen Amerika-Hauses, beschreibt aber auch andere Veranstaltungsorte der Stadt, deren Programm großteils von Vereinen organisiert, zum Teil auch von der Stadt unterstützt wurde. Er erzählt, wie Arnold Bode, der Vater der documenta, von der Band des Vibraphonisten und Gitarristen Fritz Bönsel so angetan war, dass er im Landesmuseum ein Konzert veranstaltete, das den Jazz endgültig in der Stadt etablierte.

Die Jazzszene jener Jahre beinhaltete traditionelle genauso wie moderne Stile, und so beschreibt auf der einen Seite die Dixieland-Szene der 1950er und 1960er Jahre mit ihren Riverboatshuffles und dem musikalischen Versuch, dem Original so nah wie möglich zu kommen, auf der anderen Seite aber auch, wie andere Musiker, Schoof und Gunter Hampel unter ihnen, dem modernen Jazz in Kassel zu Gehör verhalfen. Und schließlich spricht er mit dem Pianisten Joe Pentzlin, dessen Trio quasi die Hausband des Jazzclubs in der Orangerie gewesen war.

In einem abschließenden Kapitel schlägt Riedler einen knappen Bogen in die Regenwart, zu Musikern wie Matthias Schubert und Ernst Bier, die entweder aus Kassel stammen oder aber hier über längere Zeit Station machten und die Szene der Stadt mitprägten.

Riedlers Buch ist nicht als historische Dokumentation gedacht, denn vielmehr als eine flüssig zu lesende Erinnerung an die 1940er bis 1960er Jahre, ein liebevoll bebildeter Band über die Jazzszene in der deutschen Provinz, die – ähnlich wie die Szenen vieler anderer Städte mittlerer Größe – überaus lebendig war. Die Lektüre macht dem Leser deutlich, dass der Diskurs über den Jazz als aktuelle Kunstform nicht nur in den Metropolen stattfindet.

Wolfram Knauer (November 2015)


 

Music Wars 1937-1945. Propaganda, Götterfunken, Swing. Musik im Zweiten Weltkrieg
von Patrick Bade
Hamburg 2015 (Laika Verlag)
511 Seiten, 34 Euro
ISBN: 978-3-944233-41-3

Sounds of War. Music in the United States during World War II
von Annegret Fauser
New York 2013 (Oxford University Press)
366 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-994803-1

Victory Through Harmony. The BBC and Popular Music in World War II
von Christina L. Baade
New York 2012 (Oxford University Press)
275 Seiten, 31,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-537201-4

2013fauser Musik war immer schon kriegswichtig. Ob zum Anfeuern der Truppen im Marschrhythmus, ob zum Mobilmachen der Bevölkerung durch patriotische Hymnen, ob als Beruhigung und Selbstbestätigung, ob als Instrument der psychologischen Kriegsführung oder sogar als Foltermethode: Krieg ist ohne Musik – so seltsam diese Idee auch scheinen mag – kaum vorstellbar.

Drei kürzlich erschienene Bücher untersuchen die Rolle der Musik im Zweiten Weltkrieg. Der britische Historiker Patrick Bade berichtet über die verschiedenen musikalischen Strategien und Funktionen direkt vor Ort, in den Gebieten, in denen der Krieg tobte oder die am Krieg beteiligt waren, Frankreich, Deutschland, den USA, Russland, Großbritannien, dem nördlichen Afrika und dem Mittleren Osten. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Annegret Fauser beschränkt sich in ihrem Buch auf die klassische Musikszene in den Vereinigten Staaten. Die britische Musikhistorikerin Christina Baade schließlich untersucht, wie der BBC in den Kriegsjahren auf Jazz, Tanz- und Popmusik gesetzt habe, um die Moral der gesamten britischen Öffentlichkeit in den Kriegstagen zu stärken. Baades Studie gibt dabei einen Einblick in Programmentscheidungen eines öffentlichen Rundfunksenders und thematisiert, inwieweit die Öffnung des Senders für Jazz und amerikanische Popmusik auf Widerstände gestoßen sei. Fausers Fokus liegt auf der “concert music”, also der klassischen Musik, und im Umschlagtext heißt es, dass Dinah Shore, Duke Ellington und die Andrews Sisters vielleicht die Zivilisten zuhause und die Soldaten in Übersee unterhalten hätten, es tatsächlich aber vor allem die klassische Musik gewesen sei, die die Menschen für die Kriegsanstrengungen mobilisiert habe. Patrick Bade schließlich wagt den Rundumschlag, lässt also auch die sogenannte leichte Muse, Swing und Jazz, nicht aus. Während er dabei neben dem klassischen Repertoire und dem Swing auch einen Blick auf die Funktion von Radio, Film und Plattenindustrie wirft, außerdem in einem langen Kapitel Kriegslieder aus unterschiedlichen Ländern ins Visier nimmt, finden man in Fausers Buch Informationen über Musiker in der Armee, Auftragskompositionen für den Kriegseinsatz, ein Kapitel über Musik als Beruhigung der Bevölkerung und als Therapie für traumatisierte Soldaten sowie eines über die vielen Exilkomponisten, die durch den Krieg in den USA strandeten. Christina Baade schließlich diskutiert in ihrem Buch auch das Thema von Tanzmusik und Maskulinität, die Sorge um den Erfolg der amerikanische Popmusik und die Verdrängung eigener Traditionen, und die Bedeutung von Rundfunkprogrammen, in denen afro-amerikanische Musik in den Mittelpunkt gestellt wurden, für schwarze britische Musiker. Bei allen drei Autor/innen finden sich Diskussionen der Zuschreibung moralischer Qualitäten zur Musik, der Grundlage letzten Endes dessen, was in den USA später zur “cultural diplomacy”, zur Kulturdiplomatie werden sollte.

2012baadeFür Christina Baades Argumentationslinie spielt der Jazz eine zentrale Rolle; ihr Buch erlaubt dabei Rückschlüsse auf Entwicklungen des Nachkriegsjazz in Großbritannien, einschließlich der Hinwendung vieler junger Musiker insbesondere zu traditionellen Jazzstilen. Patrick Bade hat neben einem Kapitel über Jazz und Swing im Dritten Reich, in dem er auch auf das Phänomen der Propagandaband Charlie and His Orchestra eingeht, ein eigenes Kapitel über Musik im Feldlager, im Gefangenenlager und im Konzentrationslager. Fauser wiederum diskutiert in ihrem Buch ausführlich musikalischen Ausdruck von Nationalismus, etwa in Werken von Aaron Copland und Roy Harris.

Patrick Bade gibt am Schluss seines Buchs einen Ausblick auf die Nachwirkungen, erzählt etwa, dass Wagner im Bayreuther Festspielhaus kurzzeitig Cole Porter weichen musste, berichtet, wie Sänger/innen und Musiker/innen nach dem Krieg mit ihrer Karriere im Dritten Reich konfrontiert wurden oder diese sehr bewusst aus ihrer Biographie ausblendeten. Er endet mit dem kurzen Hinweis auf Werke, die sich bis ins 21ste Jahrhundert hinein mit den Gräueltaten des Kriegs auseinandersetzen. Christina Baades Buch endet mit der Ankunft der amerikanischen Truppen im August 1944 und der Entscheidungen des BBC, die auch die amerikanischen GIs mit ihrem Programm unterhalten wollte. In der Folge kam es zu einer Diskussion der Vermischung musikalischer Werte in der populären und Tanzmusik, über “Britishness” oder “Pseudo-American”. Ihr Buch verweist zwischen den Zeilen immer wieder, etwa Kapiteln über das vom Rundfunk mitgeprägte Bild der Frau oder im Versuch, die Ausstrahlung von Musik männlicher übersentimentaler Schlagersänger im Rundfunk zu unterbinden, auf Diskurse, die auch nach dem Krieg weitergingen und auf die letzten Endes BBC-Programmentscheidungen großen Einfluss hatten. Bei Fauser geht der Blick in die Nachkriegszeit über John Cage, dessen experimentelle Ideen sie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren verortet. Sie verweist darauf, dass Cage und seine Zeitgenossen ihre Lehren aus den Erfahrungen des Kriegs gezogen hätten, sich nach Ende des Kriegs von ihren nationalistischen Kompositionen distanziert oder aber diese in neue Werke integriert hätten.

2015badeZusammengefasst bietet Patrick Bade im breiteren Ansatz seines Buchs eine Art Rundumschlag über das Thema. Christina Baade wirft Licht auf die Verflechtungen zwischen Musik, Musikindustrie, öffentlicher Meinung und Publikumsgeschmack. Fausers Studie schließlich hätte von einer Erweiterung ihres Schwerpunkts vielleicht profitiert. Fauser begründet ihren eingeschränkten Blick im Vorwort damit, dass die Jazz- und Popmusikszene jener Jahre ja schon ausgiebig genug untersucht worden sei, während Forschungen zur klassischen Musik im Krieg weitgehend fehlten, vergibt sich damit aber die Chance einer differenzierten Darstellung, was vielleicht – nehmen wir einmal an, dass der Einband-Text vom Verlag und nicht von ihr stammte –, eine wertende Aussage wie die, dass Jazz und Popmusik die Bürger zuhause und die GIs in Übersee vielleicht unterhalten hätten, es aber die klassische Musik gewesen sei, die den wirklichen Unterschied gemacht habe, verhindert hätte.

Von solchen Anmerkungen abgesehen, haben alle drei Bücher ihre Meriten. Sie helfen bei der Kontextualisierung von Musikgeschichte in der späten ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, die letzten Endes Auswirkungen auch darauf hatte, wie Musik heute klingt und wie wir sie wahrnehmen.

Wolfram Knauer (Oktober 2015)


 

 

Giving Birth to Sound. Women in Creative Music
herausgegeben von Renate Da Rin & William Parker
Köln 2015 (Buddy’s Knife)
294 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-00-049279-2

2015darinVielleicht müsste am Anfang dieser Rezension erklärt werden, welchen Weg die Bücher durchlaufen, die im Jazzinstitut Darmstadt anlangen. Bevor wir uns die Bücher aussuchen, die wir rezensieren wollen, erfassen wir sie in unserem Jazz Index, einer computergestützten bibliographischen Datenbank, die von Forschern und Journalisten (und Fans) aus aller Welt genutzt wird. Das heißt, wir gehen das Buch von vorn bis hinten durch, ordnen jedes einzelne Kapitel einem Stichwort oder einem Musikernamen zu, tragen biographische Notizen wie etwa Geburtstag oder Geburtsort, nach, sofern sie in unserer Datenbank noch fehlen. Erst dann machen wir uns ans Lesen.

Aber schon bei diesem ersten Schritt des Erfassens fiel einiges auf beim Buch “Giving Birth to Sound”. Etliche der darin befragten Musikerinnen waren nämlich noch gar nicht in unserer Datenbank erfasst oder aber nur mit relativ kurzen bibliographischen Listen. Über sie wurde in der Jazzpresse bislang also nur wenig berichtet. Nun ja, mag man meinen, das hat sicher auch damit zu tun, dass Frauen ja so richtig erst in den letzten Jahren ins Rampenlicht des Jazz getreten sind. Weit gefehlt aber, und das war die zweite Überraschung: Viele Musikerinnen, die im Buch zu Worte kommen, gehören nämlich gar nicht der jungen (sagen wir: unter 40-jährigen) Generation an, sondern sind weit länger auf der Szene unterwegs. Die Gründe für ihre Unsichtbarkeit in der Jazzpresse mögen also doch woanders liegen.

Eine dritte Erkenntnis, die sich beim Durchblättern schnell ergibt, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Jede der Musikerinnen hat einen völlig anderen Zugang zum Thema. Mal analytisch, mal diskursiv, mal ausweichend, mal ablehnend, mal nüchtern gefasst, mal poetisch überhöht, mal kämpferisch, mal verteidigend. Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich schon in den Überschriften der Kapitel, die Renata Da Rin und William Parker aus der Frage “Was bedeutet Musik für Dich” abgeleitet hat. “Jeder Sound und jede Stille”, antwortet Renée Baker; “die Gründe für mein Leben”, sagt Amy Fraser; “ein abstrakter Ort, um das Leben zu teilen und zu fühlen”, meint Marilyn Mazur; “ein Lager der Erinnerungen”, findet Shelley Hirsch, “Leben, Magie, Geist”, beschreibt Maggie Nicols, oder aber, so Erika Stucky, “serious fun – a ‘Schnaps'”.

Oder aber die Einleitung: Nach dem Vorwort von Amina Claudine Myers haben die Herausgeber eine Anzahl von Reaktionen auf den Buchtitel zusammengefasst. “Giving Birth to Sound”? Schrecklicher Titel: Frauen wurden schließlich immer wieder aufs Gebären reduziert, meint eine der Gesprächspartnerinnen, während eine andere findet, der Titel passe, sei auch angenehm mehrdeutig. Naja, und bei allen Bedenken spräche der Titel ja auch vom Schaffen von etwas Neuem. Blödsinn, widerspricht eine weitere Stimme, Gebären sei doch eine passive, rein physische Tätigkeit, jede Kuh könne das. Musik zu erschaffen sei dagegen ein aktiver intellektueller Prozess und damit das exakte Gegenteil.

Das Konzept des Buchs: Ohne weitere Vorgaben schickten die Herausgeber den 48 Musikerinnen 20 Fragen, die vom Faktischen zum Nachdenken über den Prozess des Kreativen gehen, sich dabei immer wieder danach erkundigen, inwieweit das eigene Geschlecht bei musikalischen, ästhetischen oder beruflichen Entscheidungen eine Rolle gespielt habe. Tatsächlich sind nur sechs der Fragen konkret aufs Frau-Sein der Musikerinnen abgezielt: Wie hast Du deine Kreativität als kleines Mädchen ausgelebt? Wie hat die Tatsache, dass Du eine Frau bist, die Entwicklung Deiner musikalischen Karriere behindert? Wie siehst Du Deine Position als Frau in der Musikszene? Hat diese Position Dein Verhältnis zum Sound beeinflusst? Siehst oder spürst Du einen Unterschied im weiblichen und im männlichen Ansatz an Kreativität? Was würdest Du anderen / jungen Frauen empfehlen, die sich bemühen ein kreatives Leben zu führen?

Die Antworten auf diese und allgemeiner gehaltene Fragen fallen so unterschiedlich aus wie die Lebenswege der 48 Interviewten. Es macht nun mal einen Unterschied, ob man Ende der 1970er Jahre in Dänemark zum Jazz kommt wie Lotte Anker oder 1941 in Oklahoma wie Jay Clayton. Haben Männer und Frauen einen anderen kreativen Approach?, fragen die Herausgeber. “NEIN!” ruft Jay Clayton, in Großbuchstaben, keine weitere Diskussion duldend, während Marilyn Mazur einwirft, Frauen würden vielleicht weniger in Wettstreit treten, mehr ans Ganze und Kollektive denken. “Nein, ich sehe da keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen”, findet wiederum Amy X. Neuberg, um gleich anzuschließen, “das heißt aber nicht, dass es keine gäbe.” Klar gibt es einen Unterschied”, erklärt Kali Z. Fasteau, etwa, dass Männer in hierarchischen Systemen besser funktionierten als Frauen. Andererseits, urteilt Nicole Johänntgen, sei diese Frage ziemlich schwer zu beantworten, weil es nun mal so sehr viel mehr Männer als Frauen auf der Szene gäbe.

Nicole Mitchell beantwortet ihre Fragen in poetischen Erinnerungen und Reflexionen über schwarze Musik, den langen Atem der Bürgerrechtsbewegung und ihren eigenen Weg. Maggie Nicols auf der anderen Seite streicht heraus, dass ihre Musik immer sowohl politische wie auch spirituelle Untertöne besessen habe. Ob sie einen Preis bezahlt habe dafür, dass sie Musik mache, fragen die Herausgeber, und Angelika Niescier findet: Im Gegenteil, sie habe daraus sehr viel für sich gewonnen. Musikerin zu werden, sei nun mal eine Lebensentscheidung, finden auch viele ihrer Kolleginnen, niemand zwinge einen schließlich diesen Weg einzuschlagen.

Die weibliche Kreativität erlaube mehr “Raum”, meint Fay Victor, und zwar “sowohl mehr Raum im Sinn von Zeit und Raum wie auch mehr Raum für die Akzeptanz von Fehlern und Intuition”. Klar habe die Tatsache, dass sie eine Frau sei, ihr Verhältnis zum Sound beeinflusst, erklärt Joëlle Léandre. Frauen seien nun mal anders, sie hätten die Fähigkeit zur Distanz, die in diesem Geschäft wichtig sei, außerdem könne man mit ihnen viel besser lachen.

Sie sehen in dieser springend-vergleichenden Zusammenfassung einzelner Antworten bereits, wie ungemein gewinnbringend sich dieses Buch lesen lässt, wenn man blättert, Themen identifiziert, die die Herausgeber durch ihre Fragen ja nicht festgeklopft, sondern nur angestoßen haben, um dann zu sehen, welchen Kontext die verschiedenen Antworten beleuchten. Man erlebt die ja unabhängig voneinander befragten Musikerinnen bald wie in einer respekt- und kraftvollen Diskussion neugieriger, andere Meinungen (meistens) zulassender, vor allem aber ungemein selbstbewusster Musikerinnen.

Das Fazit des Buchs wusste man vielleicht schon vor der Lektüre: Eine einzelne Antwort auf die Frage nach dem kreativen Unterschied nämlich gibt es nicht. Der künstlerische Ansatz zwischen Männern und Frauen ist genauso unterschiedlich wie jener zwischen Männern und Männern oder zwischen Frauen und Frauen. Es gibt jedoch, und das wird in diesem Buch sehr deutlich, ein anderes Diskursverhalten, eine klare Selbstwahrnehmung der Rolle, in die man gesellschaftlich gedrängt wurde.

Unbedingt lesenswert also, ob von Buchdeckel zu Buchdeckel oder im laufenden Vor- und Zurückblättern. “Giving Birth to Sound” erklärt dem interessierten Leser nämlich in der persönlichen Selbstbefragung der Protagonistinnen und oft auch zwischen den Zeilen weit mehr über die Thematik, als man es etwa von wissenschaftlichen Studien erwarten dürfte.

[Naja, wir empfehlen dennoch den Besuch unseres Darmstädter Jazzforums zum Thema “Gender and Identity in Jazz” vom 1.-3. Oktober 2015 oder die spätere Lektüre unserer Beiträge zur Jazzforschung mit den referaten dieser Konferenz. Aber das ist natürlich nur Eigenwerbung…]

Wolfram Knauer (September 2015)


 

Beyond Jazz. Plink, Plonk & Scratch. The Golden Age of Free Music in London 1966-1972
von Trevor Barre
London 2015 (Compass Publishing)
330 Seiten, 12,99 Britische Pfund
ISBN 978-1-907308-84-0
Zu bestellen über trevorbarre@aol.com

Ekkehard Jost hat die Jahre zwischen 1960 und 1980 als eine Zeit beschrieben, in der Europas Jazz zu sich selbst fand, in der Musiker sich von ihren amerikanischen Vorbildern lösten und eigene Wege gingen. Einige dieser Wege führten fort vom, gingen also “beyond jazz”, und diese Entwicklung will Trevor Barre in seinem Buch mit demselben Titel nachzeichnen. Der Gitarrist Derek Bailey forderte eine Improvisation, die sich aus den idiomatischen Bezügen befreien, und auch andere Musiker begannen statt des Begriffs “Free Jazz” von “improvised music” zu sprechen. Barre interessiert, wie es überhaupt dazu kam, dass eine solch sperrige und alles andere als publikumsfreundliche Musik entstehen konnte und warum sie nicht angesichts ihres kommerziellen Misserfolgs einfach nach ein paar Jahren ausstarb. In seinem Fokus steht dabei die erste Generation der freien Improvisatoren, also Musiker wie Evan Parker, Derek Bailey, John Stevens, Kenny Wheeler, Barry Guy, Dave Holland, Trevor Watts, Tony Oxley, Paul Rutherford, Howard Riley, Eddie Prévost, Keith Rowe, Gavin Bryars und Cornelius Cardew.

Barre beginnt mit einer Definition seines Themas: Wo die meisten Jazzbücher den Jazz durch seine improvisatorischen Parameter beschreiben würden, sei Free Music, schreibt er, einzig durch den improvisatorischen Gehalt definiert. Er stellt unterschiedliche Formen freier Improvisation vor, solche, die näher am Jazz bleiben und solche, die eher der europäischen Avantgardetradition verpflichtet scheinen. Die beiden Hauptensembles seines Buchs sind das Spontaneous Music Ensemble und die Gruppe AMM. Barre ordnet deren Auftritte in die Jugend- und Protestkultur der 1960er Jahre ein und schildert, wie die globalen Entwicklungen von Pop, Rock und Folk jungen Musikern ein völlig neues Vokabularium an die Hand gab, sie auch zu neuen Herangehensweisen zwischen tiefer Ernsthaftigkeit und unbändigem Humor bewegten. Er beschreibt auch, welchen Platz sie in die Bandbreite des britischen Jazz jener Jahre zwischen Dixieland und Free Jazz hatten.

Barre zeichnet den Weg einzelner Protagonisten zur freien Improvisation nach, schildert insbesondere die Bedeutung des Little Theatre Club, in dem die jungen Musiker mit Kollegen auch aus dem europäischen Ausland experimentieren konnten. Er beschreibt, wie sie nach und nach merkten, dass es außer dem afro-amerikanischen Jazz auch anderes gab, dass beispielsweise südafrikanische Musiker um Chris McGregor dieser Musik eine neue Farbe geben konnten und dass sich Freiheit, wie sie der Free Jazz implizierte, auch ganz mit anderen Mitteln umsetzen ließ. Er diskutiert wichtige Aufnahmen der Zeit, wobei ihn vor allem die interaktiven Prozesse interessieren, die ästhetischen Diskurse, die sich aus der Improvisation der Aufnahmen ergaben. Das alles beleuchtet er anhand von zeitgenössischen genauso wie selbst geführten Interviews mit beteiligten Musikern. Das Spontaneous Music Ensemble und AMM nehmen zwei der umfangreichsten Kapitel ein, in denen Barre neben dein Einflüssen und den ästhetischen Diskussionen auch über Nachwirkungen schreibt, bewusste oder unbewusste Reaktionen auf die Klangexperimente in weit jüngerer Musik, der 1980er, 1990er Jahre und danach. Er betrachtet den Einfluss der Technologie, schaut auch auf die Bedeutung der visuellen Covergestaltung oder der Plattentexte. Das Label Incus nimmt ein eigenes Kapitel ein, wie FMP in Deutschland oder ICP in Holland ein von Musikern gegründetes Label, das Musik seiner Mitglieder nicht so sehr vermarkten als vielmehr dokumentieren wollte. Improvisation ist schließlich weit mehr als komponierte Musik auf das Medium der Tonaufzeichnung angewiesen – sonst verklingt sie.

In seinem Schlusskapitel betrachtet Barre kurz die “zweite Generation” der Free Music in London um das London Musicians’ Collective sowie eine “dritte Generation” um John Edwards, John Butcher und andere und setzt beide Entwicklungen mit jenem von ihm als “erste Generation” betrachteten Grundthema seines Buchs in Beziehung. Im Nachwort schließlich verfolgt er die Aktivitäten seiner Protagonisten bis in die Gegenwart.

Trevor Barres Buch ordnet die Entwicklung der Free Music der späten 1960er, frühen 1970er Jahre in die kulturelle Szene des “Swinging London” ein. Ihm gelingt dabei vor allem der Blick auf sich wandelnde ästhetische Ideale und eine Begründung derselben aus gesellschaftlichen und politischen Diskussionen heraus. Der Musik selbst kommt er vor allem in Interviews mit den beteiligten Musikern nahe. Die inhaltliche wie organisatorische Unabhängigkeit der britischen Improvisationsszene jener Jahre hat Auswirkungen bis heute. Initiativen wir F-Ire Collective wären ohne das Vordenken und Vormachen der hier beschriebenen Musiker und Gruppen nicht möglich gewesen. Von daher füllt Barres Buch eine Lücke. Dass er bestimmte Themen weitgehend außer Acht lässt – die Auseinandersetzung dieser Szene mit ihrem Publikum beispielsweise oder mit den Mainstream-Medien, der tatsächliche Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Szenen oder die Reaktion amerikanischer Musiker, zeigt nur, wie viele Perspektiven das Thema tatsächlich hat, die bislang kaum beleuchtet wurden. Barre jedenfalls stößt mit “Beyond Jazz” die Tür zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der musikalischen Freiheitsbewegung jener Zeit weit auf.

Wolfram Knauer (August 2015)


 

Little Satchmo. Living in the Shadow of my Father, Louis Daniel Armstrong
von Sharon Preston-Folta (mit Denene Millner)
Charleston/SC 2015 (self published)
112 Seiten, 12 US-Dollar
ISBN: 978-1-481227-23-7
Zu beziehen über www.littlesatchmo.com

2015prestonfoltaDie offizielle Version lautet: Louis Armstrong hatte nie Kinder. Er hätte immer gern welche gehabt, sagte seine letzte Frau und Witwe, Lucille Armstrong, aber er sei zeugungsunfähig gewesen. Nun kommt, 34 Jahre nach Satchmos Tod, Sharon Preston-Folta mit einem Buch heraus, in dem sie kundtut, sie sei die Tochter Louis Armstrongs aus einer außerehelichen Beziehung, die Satchmo in den 1950er Jahren hatte.

Ihr Leben lang habe sie diese Wahrheit herunterschlucken müssen. Sie wolle kein Geld, keinen Ruhm, aber immer selbst auf das öffentliche Wissen um ihren Vater verzichten zu müssen, sei einfach zu viel. In ihren Recherchen habe sie nur einen einzigen schriftlichen Hinweis auf Satchmos Vaterschaft gefunden, einen Brief des Trompeter an seinen Manager, Joe Glaser, aus dem Jahr 1955, in dem er diesen bat, vor der Ankunft seiner Frau Lucille in Las Vegas ein paar Geschäftsdinge zu klären, darunter Zahlungen an eine Freundin, von der er glaubt, dass sie ein Kind von ihm habe. Ihre Mutter habe sie immer beschworen, ihren Vater geheim zu halten, und so habe sie letzten Endes gehorcht und damit auch keine Ansprüche geltend gemacht auf sein physisches, historisches und finanzielles Erbe. Wenn sie etwas gekränkt habe bei ihren Recherchen, sei es, dass Louis Armstrong in seinen Briefen so offen über alles geredet habe, seine Musik, seine Kindheit, seine Liebe zum Essen und zu den Frauen, über Sex, sogar über seine Darmtätigkeit, dass er über seine Tochter aber sein Leben lang geschwiegen habe.

Warum er ihre Existenz verleugnet habe? Nun, erklärt Preston-Folta, Louis Armstrong sei ein gefeierter Künstler seiner Zeit gewesen und habe sich in der besten (weißen) Gesellschaft aufgehalten. Es habe einfach nicht gepasst, in dieser Zeit, wenn Nachrichten über ein uneheliches Kind mit einer Geliebten in die Schlagzeilen gekommen wären.

Prestons Mutter wurde 1921 in New York geboren und arbeitete bereits als 16-Jährige als Chorus Girl in diversen Shows. 1941 heiratete sie einen Tänzerkollegen; 1946 arbeiteten die beiden als Tanzpaar “Slim & Sweets” als Vorgruppen für große Swingorchester, unter ihnen auch Louis Armstrong, der sich mit ihnen anfreundete und in einen launigen Briefwechsel einstieg. 1950 starb Slim, und bei der Trauerfeier war auch Louis Armstrong dabei, der Lucille Preston in den Arm nahm und versprach: “Ich werde mich um dich kümmern.” In den nächsten vier Jahren reiste sie Pops hinterher und tauchte auf, wann immer Armstrongs in New York spielte. 1954 wurde Preston schwanger, und im November schrieb Satchmo ihr einen Brief, in dem er erklärt, wie sehr er sich auf das Kind freue und sogar vorschlägt, sie zu heiraten, sollte seine Frau (mit gleichem Namen Lucille) sich von ihm scheiden lassen. Armstrong war dann aber nicht dabei, als Sharon Louise (nach Louis) Preston am 24. Juni 1955 das Licht der Welt erblickte. Armstrongs rechtmäßige Ehefrau war “not amused” und habe ihm nach der Geburt der Tochter sogar vorgeschlagen, diese zu adoptieren, was ihre leibliche Mutter aber vehement ablehnte. Lucille (die Ehefrau) habe sogar die Alimente überwiesen, bis sie diese Aufgabe irgendwann Joe Glaser übertrug.

In ihrem Buch berichtet Sharon von den viel zu seltenen, sorgfältig geplanten und sehnsuchtsvoll erwarteten Treffen. Sie und ihre Mutter lebten eine Weile bei ihrem Onkel Kenny, der nach außen schon mal als Lucilles Ehemann auftrat und immer wieder auf seine Schwester eindrang, bei Satchmo mehr einzufordern: mehr Geld, mehr Fürsorge, am besten seinen Namen. Bei einzelnen Sommertourneen durfte Sharon mitreisen. Ansonsten aber war Satchmo vor allem durch die monatlichen Unterhaltszahlungen präsent, durch Broadway-Tickets, 1962 durch den Kauf eines Hauses in Mount Vernon, New York. In Harlem hatte sich niemand wirklich darum gekümmert, wie ihre Familienverhältnisse aussahen, erzählt Preston-Folta, in Mount Vernon aber begann eine Zeit der Lügen. Die Liaison dauerte ja bereits 12 Jahre, aber nach wie vor war nicht in Sicht, dass Armstrong auch öffentlich zu seiner Familie stehen würde. Mit zehn Jahren begriff Sharon erstmals, dass ihr Vater eine “andere Lucille” hatte, ein anderes Leben, das mit ihrem aber auch gar nichts zu tun hatte.

Etwas später seien sie gemeinsam in Atlantic City zu einem Auftritt Marvin Gayes gegangen, es habe einen Streit zwischen den Erwachsenen gegeben, bei dem ihre Mutter Satchmo fragte, wann er sie nun endlich zu heiraten gedachte, worauf er laut wurde: “Ich werde dich niemals heiraten” und mit Fingerzeig auf die Tochter fragte: “Sag mir einfach, was es kostet, für sie zu sorgen!” Das war das Ende der Beziehung.

Kaum war Armstrong gestorben, kamen auch die monatlichen Schecks nicht mehr. Ein paar im Voraus geleistete Zahlungen für Sharons Erziehung hielten sie und ihre Mutter über Wasser, mussten bald auch den Zuwachs zur Familie finanzieren, denn Sharon wurde mit 16 selbst Mutter. Sharon erzählt, wie ihr Leben weiterging, immer gezeichnet durch die Narben, die der fehlende Vater hinterlassen hatte. Irgendwann rebellierte sie gegen die eigene Bitterkeit und versuchte, das emotionale Band, das sie mit der verlorenen, nie gehabten Vergangenheit hatte, zu zerschneiden.

Sharon Preston-Foltas Buch endet mit einem Besuch im Armstrong House in Queens. Ein Anwalt hatte ihr empfohlen, einen Blick in Satchmos Testament zu werfen, das eine eidesstattliche Erklärung von Lucille, Armstrongs Frau, enthielt, Armstrong habe nie Kinder gehabt. Als Sharon diese Zeilen las, von Lucille eigenhändig korrigiert von “Der Verstorbene und ich hatten keine Kinder” in “Der Verstorbene hatte keine Kinder”, entschied sie sich, jetzt ihr Geschichte zu erzählen. Ihre Mutter, die sie immer zur Geheimhaltung gedrängt hatte, willigte endlich ein: “Mach, was Du meinst, dass du tun musst.”

Sharon Preston-Foltas Buch ist als eine Liebeserklärung an die von ihr immer vermisste Vaterfigur Louis Armstrong geschrieben, aber es ist eben auch eine leicht verbitterte Liebeserklärung geworden. An genügend Stellen legt man es zur Seite, unterschiedlich berührt von den Schuldzuweisungen, mit denen Preston-Folta ihre eigenen Lebensentscheidungen aus ihrer vaterlosen Kindheit und Jugend ableitet. Ein bedrückendes Schicksal, denkt man, und fragt sich zugleich, warum sie, die immer wieder von der DNA ihres Vaters schreibt, die in ihr fortlebe, nicht irgendwann, spätestens vor der Veröffentlichung dieses Buchs, auf einem DNA-Test bestanden habe. Doch ist es einem Kind, das sein Leben lang sicher ist, seine Eltern zu kennen, überhaupt zuzumuten, von einem auf den anderen Tag an der Tatsache der Vaterschaft zu zweifeln? Auch als skeptischer Leser sollte man jedenfalls für die Zeit der Lektüre erst einmal die Grundbehauptung der Vaterschaft Louis Armstrongs akzeptieren, sonst hat man wenig Spaß am Buch. Armstrong selbst schließlich scheint bis zu seinem Tod überzeugt davon gewesen zu sein, in Sharon eine Tochter gehabt zu haben.

Allen Fragen und sicher auch allen möglichen Zweifeln zum Trotz, die einem bei der überraschenden Enthüllung Sharon Preston-Foltas kommen mögen, lernt man einiges bei der Lektüre, und wenn nur, dass Scheinwerferlicht auch Schatten wirft, dass Stars wie Louis Armstrong das Leben vieler Menschen zum Teil viel direkter berührten, als man es wahrhaben mag, und nicht zuletzt, dass die Persönlichkeit großer Stars aus ihren emotionalen Stärken genauso besteht wie aus ihren emotionalen Unzulänglichkeiten. Am Glorienschein des großen Meisters mag das alles ein wenig kratzen; der Kraft seiner Musik tut es keinen Abbruch.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Theatrical Jazz. Performance, Àṣẹ, and the Power of the Present Moment
von Omi Osun Joni L. Jones
Columbus/OH 2015 (The Ohio State University Press)
270 Seiten, 99,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8142-1282-0

2015jonesDer Blick über den Tellerrand kann das Wesentliche erhellen, der Blick von außen Dinge erkennen lassen, die man im internen Diskurs oft nicht mehr sieht. Das ist einer der Hintergründe für die sogenannten “new jazz studies”, ein Konzept in der jüngeren Jazzforschung, das sich der untersuchten Materie neben der musikwissenschaftlichen Betrachtung interdisziplinär nähert. Die Feministin Omi Osun Joni L. Jones versucht in ihrem Buch eine Verbindung zwischen Jazzästhetik , theatralischer Performance und auf Yoruba basierender afrikanischer Theologie. Dabei beschreibt sie als eine der zentralen Prinzipien der Jazzästhetik die Fähigkeit, die eigenen intuitiven Kräfte freizusetzen. In ihrer Beschäftigung mit afrikanischer Spiritualität habe sie gelernt, dass auch in wissenschaftlichen Büchern die Auseinandersetzung mit spirituellen Impulsen nicht zu kurz kommen dürfte, ganz ähnlich wie dies auch Jazzgrößen wie John und Alice Coltrane immer gesehen hätten. Sie will mit ihrem Buch den Jazz gegen den Strich bürsten, seine Begriffe, Handlungen, Ausformungen kritisch hinterfragen, und zwar aus der Perspektive aller seiner unterschiedlichen Bedeutungen in musikalischer Ästhetik, Performance, gesellschaftlichem Spiegel, ethnischer Identität oder politischer Haltung. Es gäbe Kollegen, schreibt sie in ihrer Einleitung, die den Jazz als eine polyglotte Form ansähen und damit Gefahr liefen seine Wurzeln in der afro-amerikanischen Kultur zu leugnen. Tatsächlich aber sei die spirituelle Kraft nicht an irgendwelche Identitätsregeln gebunden. Die spirituelle Transzendenz des Jazz brauche keine Abwesenheit ethnischer Identität (“race”), sondern höchstens Abwesenheit solch einer ethnischen Identität (“race”) als Restriktion oder als Prognose.

Tatsächlich handelt ihr Buch allerdings zentral gar nicht von Musik, sondern vom Theater, und hier insbesondere von den drei Theaterautoren Laurie Carlos, Daniel Alexander Jones und Sharon Bridgforth. Jones bedient sich in ihrer Herangehensweisen an das Thema der feministischen und queeren Theorie, erklärt Wirkungen der Theaterperformance aus der Haltung des Jazz heraus und zugleich aus ihrer Interpretation von Yoruba-Traditionen. Als übergeordneten Approach versucht sie ihrem wissenschaftlichen Buch darüber hinaus aber auch improvisatorische Strukturen zu geben, indem sie Bilder, Fotos, Zeichnungen, Zitate einfließen lässt, die wie kurze solistische Kommentare neben ihrem Text stehen.

In ihrer Einleitung zitiert Jones einige Beispiele direkter Bezugnahme von Jazzmusikern wie Dizzy Gillespie und John Coltrane auf Yoruba-Beschwörungen, erinnert außerdem an die lebendige Avantgarde-Theaterszene von Austin, Texas, in der in den 190er Jahren die Verbindungen von Theater und Jazz besonders entwickelt wurden. Im ersten Kapitel betrachtet sie, wie biographische Erfahrungen die drei von ihr untersuchten Autoren prägten, Carlos’ Jugend im New Yorker East Village, Jones’ Aufwachsen im Arbeiterklasse-Milieu von Springfield, Massachusetts, Bridgforths Bustrips durch die verschiedenen Viertel von Los Angeles. Sie analysiert die dem Jazz nahestehenden Praktiken von Lehrer und Schüler im Theater, deren Lernprozesse dabei immer gegenseitig sind. Das zweite Kapitel untersucht Performance-Methoden, Ansätze an Regie, Probenphasen, das Beziehung-Herstellen zum Publikum, die Auswahl der Schauspieler, aber auch das Zulassen spiritueller Erfahrung im Verlauf der Performance. Im dritten Kapitel schließlich fragt sie danach, was die Performance beim Publikum (sie spricht gern von “witnesses” = Zeugen) auslöst, wie sie zu einer Perspektivverschiebung führen kann, einer aktiven Partizipation des Publikums, die das eigentliche Ziel aller Beteiligten sei.

Wenn ich Jones zu Beginn dieser Rezension in die Nähe der “new jazz studies” gestellt habe, so muss ich diese Aussage zumindest zum Teil revidieren. In den New Jazz Studies werden Aspekte des Jazz möglichst von vielen Seiten (und mit unterschiedlichen Methoden) betrachtet. Jones geht den entgegengesetzten Weg: Sie nutzt, was sie vom Jazz gelernt hat, um ihr eigentliches Thema, die Performance im Theater genauer zu definieren. Sie erkennt im Jazz Kommunikations- und Tradierungsmodelle, die so beispielhaft sind, dass sie ein anderes Genre besser verstehen lassen, vielleicht sogar Modell stehen können für neue, weitreichendere Regie- oder Performance-Ansätze. Ihr Buch ist darin so weitsichtig wie der Versuch früherer Literaturwissenschaftler wie Houston Baker, insbesondere den Bereich der afro-amerikanischen Literatur (aber durchaus darüber hinaus) durch die schon von Ralph Ellison oder Albert Murray identifizierte Blues Aesthetic zu beschreiben. Beide nahmen dabei sehr bewusst auf westafrikanische kulturelle Traditionen, Praktiken und Symbole Bezug, für den ungeübten Leser einerseits manchmal etwas schwer nachvollziehbar, gerade dadurch aber die Argumentation auch angenehm schnell aufbrechend und Rückschlüsse erlaubend.

Wenn nämlich die Praxis des Jazz als Erklärungsmodell für andere künstlerische Praktiken taugt, dann wirft das ein ganz anderes Licht auch auf den Stellenwert von Jazz und Improvisation.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


The Long Shadow of the Little Giant. The Life, Work and Legacy of Tubby Hayes
von Simon Spillett
Sheffield 2015 (Equinox)
377 Seiten, 19,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78179-173-8

2015spillettWie Hans Koller oder Lars Gullin war der britische saxophonist Tubby Hayes eine der europäischen Jazzgrößen, die ihren Kollegen genauso wie ihrem Publikum klar machten, dass der Jazz zwar eine afro-amerikanische Musik war, dass aber Europäer das Idiom durchaus beherrschten und ihre eigenen Beiträge zur Tradition des Jazz leisten konnten. Hayes kam aus der Swing-Mainstream-Tradition des Jazz, nahm erst Bebop, Hardbop, schließlich Einflüsse des Spiels John Coltranes in seinen Stil auf und starb 1973, gerademal 38 Jahre alt, in Folge einer Herz-Operation.

Dem Autor und Saxophonisten Simon Spillett gelingt es in seinem Buch “The Long Shadow of the Little Giant” mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews und Material aus Hayes’ persönlichem Archiv das Leben und die musikalische Karriere des Saxophonisten in den Jahren vom bombenerschütterten London der Nachkriegszeit über die jazzigen 1950er Jahre und die Swinging Sixties bis hin zur großen Krise des Jazz Anfang der 1970er Jahre nachzuzeichnen.

Hayes wurde in eine musikalische Familie geboren – sein Vater leitete in den 1930er Jahren verschiedene Tanzorchester, seine Mutter war Revuesängerin und -tänzerin. Schon früh war er vom Saxophon fasziniert, begann aber im Alter von acht Jahren erst einmal mit Geigenunterricht, und bekam schließlich zum elften Geburtstag das langersehnte Saxophon, das er größtenteils autodidaktisch meisterte. Er hatte ein gutes Gehör, und der Geigenunterricht hatte ihn zu einem exzellenten Notisten gemacht. Er hörte Charlie-Parker-Platten und bewegte sich in Kreisen Gleichgesinnter, spielte bald mit Ronnie Scott, Alan Skidmore und Kenny Baker, mit dem er im Juli 1951 auch seine ersten Aufnahmen machte.

Die Baker Band hatte jede Menge Fans, und die Presse wurde schnell auf Hayes aufmerksam, der bald als “boy wonder tenorist” vermarktet wurde und, noch nicht einmal 20 Jahre alt, mit den Modernisten der britischen Jazzszene spielte. Mit 18 heiratete er zum ersten Mal, hatte schon zuvor alle möglichen Drogen ausprobiert. Er spielte in den populären Bands von Vic Lewis, Jack Parnell, Tony Hall und hatte schließlich auch mit seiner eigenen Band einen vollen Terminkalender.

Spillett beschreibt, wie britische Musiker in jenen Jahren das US-amerikanische Idiom des Hardbop gemeistert hatten, die Musik von Art Blakey und Horace Silver, und wie Kollegen wie Sonny Rollins oder Hank Mobley ihre stilistischen Spuren in Hayes’ Spiel hinterließen. 1958 traten Hayes’ Jazz Couriers neben dem Dave Brubeck Quartet bei einer Tournee durch sechzehn Städte des Vereinigten Königreichs auf; 1959 wurde Hayes vom Melody Maker zum besten Tenorsaxphonisten gewählt.

Andere Musiker hatten die Entwicklung des amerikanischen Jazz genauso interessiert mit verfolgt; und um 1960 kamen erste Versuche “freier Form” auch in England an. Joe Harriott war einer der ersten, die sich an freieren Spielweisen versuchten; Hayes aber blieb skeptisch. Die Eröffnung von Ronnie Scott’s, bis heute einem der wichtigsten Clubs des Königreichs, war sowohl für die Präsenz des amerikanischen Jazz in England wichtig als auch für das Selbstbewusstsein der eigenen Szene. Der BBC schnitt Konzerte mit, und Plattenfirmen widmeten dem heimischen Jazz eigene Alben. 1961 trat Hayes erstmals in New York auf, wo ihn die Größen des amerikanischen Jazz hörten, unter ihnen Zoot Sims, Al Cohn und Miles Davis. Zurück in England erhielt er einerseits eine eigene Fernsehshow, “Tubby Plays Hayes”, hörte er andererseits erstmals John Coltrane, der sein Bild von den Möglichkeiten im Jazz genau wie das vieler anderer Kollegen völlig veränderte.

Als Duke Ellington 1964 in England auftrat, jammte Hayes mit Bandmitgliedern und wurde vom Duke gebeten für Paul Gonsalves einzuspringen, als dieser unpässlich war. In den nächsten Jahren war Hayes international unterwegs, trat im New Yorker Half Note genauso auf wie beim NDR Jazz Workshop in Hamburg. Er arbeitete wie besessen, hatte zugleich gesundheitliche Rückschläge, darunter eine Thrombose, die auch seine Lungenfunktion herabgesetzt hatte.

Ende der 1960er Jahre hatte der britische Jazz zwei Probleme: die Macht der Rockmusik auf der einen Seite und das Verlangen des Publikums nach amerikanischen Künstlern auf der anderen Seite. Hayes erlitt auch persönliche Rückschläge, etwa als seine Freundin starb und er daraufhin noch stärker zu Drogen griff. Er musste wegen Herzproblemen immer häufiger in ärztliche Behandlung, begann aber trotz aller gesundheitlichen Probleme ein musikalisches Comeback. Er spielte mit Musikern der britischen Avantgarde, John Stevens, Trevor Watts, Kenny Wheeler, beteiligte sich bei einem Benefizkonzert für Alan Skidmore, der nach einem Autounfall im Krankenhaus lag, starb aber schließlich nach einer Operation, bei der eine Herzklappe ausgetauscht werden sollte.

“The Long Shadow” heißt das Buch, und so widmet Spillett sein letztes Kapitel der kritischen Aufbereitung seiner musikalischen Bedeutung nach seinem Tod sowie dem Nachwirken Hayes’ auf der britischen Szene. Er schließt mit einer Diskographie die Aufnahmen des Saxophonisten zwischen 1951 bis 1973 verzeichnet.

Simon Spillett hat viel Sorgfalt in seine Recherchen gesteckt. Nebenbei wirft er immer wieder aufschlussreiche Blicke auf die Musik selbst, auf die Aufnahmen, die Hayes’ musikalische Entwicklung dokumentieren. Wenn überhaupt, so mangelt es dem Buch insbesondere in diesem Segment an Tiefe, etwa an Erklärungen, wo sich Einflüsse, ästhetische Umbrüche und anderes konkret festmachen lassen. Eingehend aber beschreibt er den Lebensweg, die persönlichen Probleme, die musikalischen und ästhetischen Entscheidungen und zieht die Verbindungen zu den allgemeinen Entwicklungen des Jazz in Großbritannien, in Europa und in den Vereinigten Staaten. Spillett konnte mit Zeitzeugen sprechen und hatte Zugriff auf Hayes’ persönliche Papiere. Sein Buch ist eine definitive Biographie, die viele Fragen beantwortet und dabei im umfassenden Apparat all die Dokumente benennt, die für eine solche Arbeit notwendig sind.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Musiktraumzimmer Jazzcampus
herausgegeben von Peter Rüedi & Steff Rohrbach
Basel 2015 (Jazzcampus / Echtzeit Verlag)
212 Seiten, 32 Euro
ISBN: 978-3-905800-78-4

B2015rueediasels Jazzschule ist zum Jazzcampus geworden, zu einer Hochschule für improvisierte Musik, in der, wie der Titel dieses Buchs suggeriert, jede Menge an Träumen und Visionen wahrgeworden sind. Da ist zuallererst die Vision des Gründers und Gitarristen Bernhard Ley, der erzählt, wie er die Schule in den Räumen eines Jugendkulturzentrums gründete und wie er es dann durch pädagogisches wie politisches Geschick, aber auch durch das Talent der Vernetzung, das die Schule zum Teil des Basler Kulturlebens werden ließ, erreichte, sie zu einem Kompetenzzentrum zu machen, in dem der musikalische Gehalt, die Arbeit von Lehrenden und Schüler/innen, sich auch in der architektonischen Umsetzung spiegelt.

Davon nämlich handelt dieses Buch, vom glücklichen Unterfangen, auf den Grundrissen einer ehemaligen Maschinenfabrik eine Musikschule zu bauen mit all der für eine solche notwendigen Infrastruktur, Club, Konzertsaal, Tonstudio, Probenräume etc. Ein Musiktraumzimmer sei das ganze geworden, eine Raumrealisation also, die dem Thema “Jazz” angemessen sei. Mitgeholfen hätten alle, die Architekten Lukas Buol und Marco Zünd, der Bauherr Georg Hasler von der Stiftung Levedo sowie Bernhard Ley, der als Studiengangsleiter den zukünftig alltäglichen Gebrauch im Blick behielt. Das Gespräch mit diesen vieren erklärt Fragen der Akustik, Diskussionen im Planungsverlauf, die Außenwirkung genauso wie den inneren Glanz (sprich: Farben, Bodenbeläde, Beleuchtung).

Solch eine theoretische Diskussion lässt sich nur durch Fotos und Raumpläne in Buchform einfangen. Eigentlich gehört Musik dazu, noch wichtiger wäre der tatsächliche Raumeindruck, der aber in der Architektur immer noch einzig durch einen Besuch ermöglicht wird.

Um die tatsächliche musikalische und pädagogische Nutzung der Räume geht es im zweiten, noch umfassenderen Teil des Buchs: um Konzepte der Jazzpädagogik, persönliche Herangehensweisen an Musik, ästhetische Vorstellungen, die Rückwirkung von Unterricht auf die eigene Kunst der unterrichtenden Musiker.

Wolfgang Muthspiel etwa betont, wie wichtig es neben einem festen Lehrerstamm sei, großartige internationale Kollegen als Gastdozenten an die Schule zu holen. Andy Scherrer erzählt, wie er zum Unterrichten wie die Jungfrau zum Kind gekommen sei, und wie er trotz vieler Schüler immer eine gesunde Skepsis gegenüber des Unterrichtens beibehalten habe. Malcolm Braff erklärt, dass er nicht so sehr das Klavier denn vielmehr sich selbst als das wirkliche Instrument empfinde und wie er in den letzten Jahren eine rhythmische Theorie entwickelt habe, die auch Grundlage seines Unterrichts an der Hochschule sei. Lisette Spinnler versteht die Stimme als Instrument und Texte als Ausgangspunkt für musikalische Erkundungen. Adrian Mears plädiert auch beim Lernen für Spielpraxis, egal mit was für Besetzungen. Bänz Oester vertraut auf die Motivation zukünftiger Musiker/innen, auf die Verantwortung für das Selbst, das Eigene. Domenic Landolf mag sich weder verbiegen noch sonderlich in den Vordergrund spielen. Jorge Rossy spricht über die Standards als Basis und über seine Arbeit mit Carla Bley und Steve Swallow. Matthieu Michel überlegt, wie man als junger Musiker neben der Technik vor allem zu einer eigenen Stimme gelangt. Hans Feigenwinter sieht seine analytischen Fähigkeiten als eine Grundlage seines Musikmachens, zugleich aber die Musik auch als laufenden Ansporn, sie analytisch zu begreifen. Gregor Hilbe berichtet über die Bedeutung des Schlagzeugers in einer rhythmischen Kultur, und zugleich über die Idee des Producing / Performance-Studiengangs am Jazzcampus Basel. Daniel Dettmeister hatte die Chance, als Tonmeister selbst Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung des Aufnahmesaals der Hochschule. Mit Martin Lachmann kommt zum Schluss auch noch der Akustiker selbst zu Wort, der die Räume eingerichtet hat.

Eine bunte Abfolge von Interviews, Reflexionen und Fotos also, die sehr umfassend das Konzept klarmachen, dass hinter dem Jazzcampus Basel steckt: Freiräume schaffen und beste akustische Möglichkeiten. “Musiktraumzimmer Jazzcampus” ist damit zwar vordergründig eine in Buchform gepresste Imagebroschüre der Hochschule, zugleich aber erheblich mehr: ein Manifest für eine Jazzausbildung, in der Kunst und Wirklichkeit, Klang und Akustik, Pädagogik und Freiheit sinnvoll miteinander in Beziehung stehen.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Résume. Eine deutsche Jazz-Geschichte
von Eberhard Weber
Stuttgart 2015 (sagas.edition)
252 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-944660-04-2

2015weberDer Autor kommt gleich zur Sache: Der Leser wisse ja bereits, dass er, Eberhard Weber, gut 40 Jahre lang als Jazzbassist aktiv war, vielleicht auch, dass er seine aktive Karriere nach einem Schlaganfall 2007 beenden musste. Der Leser wisse wahrscheinlich etliches über seine Karriere, wahrscheinlich auch über den Jazz – was könne er dazu noch beitragen…? Nun, wenn überhaupt, dann könne er aus seinen eigenen Erinnerungen erzählen, sehr persönliche Geschichten, die sich um die Musik drehen, die aber auch sein ästhetisches Weltbild und vieles darüber hinaus berühren. Webers Buch wird so zu seinem “Resumé”. Und es mag vielleicht nicht “die” deutsche Jazzgeschichte sein, aber es ist auf jeden Fall, wie der Untertitel verspricht, “eine deutsche Jazz-Geschichte”, ein Beispiel dafür, wieso ein junger Mann zu dieser Musik kommt, was ihn über all die Jahrzehnte an ihr faszinierte und wie er lernte, in ihr sich selbst auszudrücken.

Eberhard Weber, dem musikalischen Geschichtenerzähler, gelingt der narrative Bogen auch in Worten. Bereits das Eingangskapitel, das vom “Schlag” handelt, der ihn kurz vor einem Konzert mit Jan Garbarek in der Berliner Philharmonie traf, von der Unsicherheit über seinen Gesundheitszustand, von der Hoffnung, wieder spielen zu können, zeigt seine erzählerischen, auch zur Selbstironie fähigen schriftstellerischen Qualitäten.

Im zweiten Kapitel widmet sich Weber seiner eigenen Vorstellung von Jazz. “Jazz”, schreibt er ironisch, doch nicht ganz falsch, “ist, wenn es der Komponist, der Arrangeur oder der ausführende Musiker dem Hörer so schwer wie möglich macht, der Musik zu folgen – und trotzdem alle Spaß daran haben. Das unterscheidet ihn von der vermeintlich ‘Neuen Musik’.” Doch neben dem Jazz als großer Kunst will Weber in diesem Kapitel auch seiner eigenen Ästhetik auf die Schliche kommen. Wiederholungen, erkennt er, langweilen ihn in der Regel; die Schlüsse von Stücken, findet er, misslingen meist. Er weiß, dass Solisten auch mal ohne Inspiration sein können und weiterspielen müssen. Er weiß auch um seine eigenen Schwächen als Bassist und beschreibt, wie man nur, wenn man um die technischen Probleme des eigenen Spiels oder des eigenen Instruments weiß, diese überkommen und kreativ mit ihnen umgehen könne.

Weber selbst wurde die Musik in die Wiege gelegt. Sein Vater, erzählt er, hatte als Cellist klassische Musik gemacht, daneben aber auch Cello und Banjo im Tanzorchester von Bernard Etté gespielt. Weber kam mitten im Krieg in Esslingen zur Welt. Seine Mutter sang, und “im häuslichen Weber’schen Freundeskreis”, erinnert er sich, “triumphierte Gesang über Instrumentales”– vielleicht eine Vorbereitung auf seine eigene sangliche Haltung beim Instrumentalspiel? Gehörbildung fand im Kinderzimmer statt, wenn seine Schwester und er Automarken am Klang unterschieden und dabei lernten zuzuhören und zu differenzieren. Ein Vetter quartierte sich nach der Kriegsgefangenschaft bei ihnen ein und begann Flöte zu lernen. Man diskutierte über Wagner und spielte Kammermusik. Weber bekam Cellounterricht, dann entdeckte er den Jazz und mit ihm wechselte er zum Kontrabass.

Im Jazz brachte er sich das meiste selbst bei, berichtet von ersten Bühnenerfahrungen, von Stuttgarter Jazzern wie Horst Fischer und Ernst Mosch, vom ersten Einsatz in Erwin Lehns Orchester als Vertretung für dessen regulären Bassisten. Seine musikalische Leidenschaft führte dazu, dass Weber durchs Abitur rasselte, eine Lehre als Fotograf begann und Kameraassistent bei einer Fernsehfirma wurde. Nebenbei spielte er mit gleichaltrigen Musikern, lernte Anfang der 1960er Wolfgang Dauner kennen und wurde bald Mitglied in dessen Trio. Er erzählt von den unterschiedlichsten Auftrittsorten zwischen Nachtclub, Café, Tanz und Ami-Kaserne, von Einflüssen auf sein Bassspiel, davon, wie das Dauner-Trio seinen eigenen Stil fand. Zwischendurch gibt es reichlich Anekdoten, aber auch Einblicke in die technischen Seiten seiner Kunst: Instrumentenwahl, Akustik, Pickups, Verstärker, elektronische Spielereien.

Ende der 1960er Jahre wandten Dauner und Weber sich freieren Spielweisen zu. Weber weiß um seine Beobachtungsgabe, weiß auch, dass er sich gern mal zur Polemik hinreißen lässt. Doch er besitzt eben auch die Erfahrung, Beobachtetes, insbesondere, wenn es um Musik geht, passend einordnen zu können. Und so mag man mit mancher polemischen Äußerung, die seinem eigenen musikalischen Geschmack zuzuschreiben ist, nicht übereinstimmen, wird aber an richtiger Stelle durch ein Augenzwinkern darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor zwar eine feste Meinung hat, sich selbst aber auch nicht immer ganz so ernst nimmt.

Weber stand in seiner Karriere bei zwei Plattenfirmen unter Vertrag, die Weltgeltung besaßen, Hans-Georg Brunner Schwers MPS und Manfred Eichers ECM. Er beschreibt die Arbeiten zu “The Colours of Chloë” und den folgenden internationalen Erfolg. Er erzählt vom Zusammenspiel mit Gary Burton, von den Unterschieden zwischen amerikanischen und europäischen Gepflogenheiten in der Jazzszene, von Tourneen mit seiner eigenen Band Colours, durch Deutschland – Ost und West –, die USA und Australien. Er berichtet von seiner Zusammenarbeit mit Jan Garbarek, mit dem er auch offizielle Empfänge spielte, bei denen Politiker, Botschafter, Bundespräsidenten, gekrönte Häupter begeistert waren, “endlich mal kein Streichquartett hören zu müssen”.

Eberhard Weber ist ein vielgereister Musiker. Seine Berichte von Zollformalitäten, Einreisebestimmungen, fasst verpassten Flügen und sonstigen Widrigkeiten sind amüsante Anekdoten, die vor Augen führen, dass das Musikerdasein nicht nur der aus musikalischer Kreativität besteht, die das Publikum erwartet und zumeist auch bekommt. Eine Professur für Musik hatte er nie annehmen wollen. Seine Begründung, die wie ein Tenor seine ungemein flüssige und lesenswerte Autobiographie beendet: “Ich kann nicht Bass spielen. Aber ich weiß, wie’s geht.”

Wolfram Knauer (Juni 2015)


Coltrane sur le Vif
von Luc Bouquet
Nantes 2015 (Lenka Lente)
146 Seiten, 13 Euro
ISBN: 978-2-9545845-8-4

2015bouquetDie Großen des Jazz waren zumeist auch die Meistaufgenommenen, und neben den offiziellen Einspielungen im Studio gehörten über die Jahre Bootlegs dazu, Schwarzpressungen von legalen oder illegalen Mitschnitten, die in mal besserer, mal schlechterer Qualität auf den Markt kamen. Solche Bootlegs haben naturgemäß keine Studioqualität; zum Teil sogar einen unsäglich schlechten Sound. Aber sie sind nicht nur für den Fan, sondern auch für den Experten ein immens wichtiger Teil der Aufnahmegeschichte dieser Musiker. Sie dokumentieren nicht die perfekte Abmischung, sondern den Alltag des Konzerts, in dem das Solo völlig anders klingen kann, in dem die Künstler mit dem Material oder auch mit sich selbst zu kämpfen haben, in dem mal bessere, mal schlechtere Fassungen der großen Titel erklingen, vergleichen mit den auf den im Studio gefertigten Referenzaufnahmen.

Luc Bouquet hatte im französischen Magazin Improjazz eine Reihe über die Liveaufnahmen John Coltranes veröffentlicht und diese jetzt in die zwölf Kapitel des vorliegenden Buchs einfließen lassen. Ein erstes Kapitel beschreibt Coltranes erste Aufnahmen aus dem Jahr 1946 sowie zwei Sessions mit Dizzy Gillespie bzw. Johnny Hodges. Kapitel 2 widmet sich den Jahren 1955-57 und Livemitschnitten mit Miles Davis, Kapitel 3 der Zeit von 1957-58 und den erst jüngst entdeckten und doch schon legendären Aufnahmen Coltranes mit dem Thelonious Monk Quartet. Zwei weitere Miles Davis-Kapitel schließen sich an, 1958-59 in den USA sowie 1960 in Europa, dann beginnt mit Kapitel 6 die Aufnahmegeschichte von Coltranes eigenen Bands: sein klassisches Quartett, Trane und Dolphy, die diversen Besetzungen von 1962, 1963, 1964-65 bis hin zu seiner letzten Liveaufnahme, dem “Olatunji”-Konzert vom April 1967. Jede der Platten wird mit Besetzungs- und Inhaltsangaben gelistet, dazu kommt eine kurze Beschreibung dessen, was auf ihr zu hören ist. Allzu tief versteigt sich Bouquet dabei weder in die Musik noch in die Begleitumstände der Aufnahmen – so wäre etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Entdeckungsgeschichte der Bänder von Tranes Carnegie-Hall-Konzerts mit Thelonious Monk durchaus berichtenswert gewesen.

Bouquets Buch ist als eine Art annotierte Diskographie der Liveaufnahmen John Coltranes ein nützliches Handbuch sowohl beim Hören wie auch bei der Entscheidungsfindung, was man sich vielleicht noch zulegen könnte.

Wolfram Knauer, April 2015Rencontres du jazz et de la musique contemporaine
herausgegeben von Jean-Michel Court & Ludovic Florin
Toulouse 2015 (Presses Universitaires du Midi)
184 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-2-8107-0374-6

Das vorliegende Buch ist die Dokumentation einer Tagung, die im Oktober 2013 in Toulouse stattfand und sich mit aktuellen Beziehungen zwischen Jazz und Zeitgenössischer (sogenannter “Neuer”) Musik beschäftigte. Im Vorwort stecken die beiden Herausgeber das Feld ab, das irgendwo zwischen Anthony Braxton und IRCAM-Experimenten angesiedelt ist und bei dem oft die Genrebezeichnung, ob “Jazz” oder “Neue Musik”, im Weg steht, da die Musik selbst solche Grenzen inzwischen gern und oft überschreitet.

Die Beiträge selbst sind theoretisch-musikwissenschaftlicher Natur. Im ersten Teil findet Vincenzo Caporaletti, dass die jüngere Entwicklung im Kunstmusikbereich neue wissenschaftliche Ansätze benötigt und stellt sein “principe autiotactile” vor, durch das sich sowohl für komponierte wie auch für improvisierte Musik die performativen Prozesse genauso analysieren ließen wie die ästhetischen Prozesse, die durch die Musik wie auch durch äußere, etwa mediale Einwirkungen mitbestimmt werden. Alexandre Pierrepont nähert sich der Frage, inwieweit die genre-spezifische Einordnung und Wertung von Musik aus den Bereichen europäischer klassischer Musik und des afro-amerikanischen Jazz nicht auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser zu Missverständnissen führt, wenn die Querverbindungen, die ja zwischen den Genres bestehen, oft und gern mit kulturellen Konnotationen versehen werden. Pierre Sauvanet betrachtet, wie das Moment der “Tradition” von Musikern im Jazz, der Neuen Musik und in tatsächlich “traditionellen” Musikrichtungen unterschiedlich behandelt wird.

Im zweiten Teil des Buchs geht es an konkrete Analysen. Pierre Fargeton befasst sich mit Franz Koglmanns langjähriger Auseinandersetzung mit dem Third Stream, der Neuen Musik und anderen Kunstrichtungen. Konkret untersucht er Koglmanns “Join!” eine “Oper” aus dem Jahr 2013 auf diverse Bezüge (1.) zum Jazz und (2.) zur Zeitgenössischen Musik. Martin Guerpin analysiert die Komposition “Unisono” des israelischen Komponisten Ofer Pelz und identifiziert darin insbesondere die Jazzverweise. Wataru Miyakawa untersucht das Werk des japanischen Komponisten Toru Takemitsu, in dem ihn vor allem der Einfluss des Lyrian Chromatic Concept von George Russell interessiert.

Im dritten Teil des Bandes berichtet der Gitarrist Frédéric Maurin darüber, wie er Methoden der Spektralmusik, die in den 1970er Jahren im Kreis der IRCAM in Paris entwickelt wurde, etwa für seine Band Ping Machine nutzbar macht. Cécile Auzolle untersucht das “Wintermärchen” des belgischen Komponisten Philippe Boesmans von 1999 und hat dabei Einflüsse aus dem jazz sowie improvisatorische Passagen im Fokus, die in der Oper vom Ensemble Aka Moon ausgeführt wurden. Henri Fourès hinterfragt die Begriffe Jazz, Zeitgenössische Musik, Komposition, Notation und Improvisation auf ihre Wertigkeit in der Hochschullehre. Zum Schluss berichten die Bassistin Joëlle Léandre, der Saxophonist Douglas Ewart und der Trompeter Mike Mantler über ihre eigenen Erfahrungen im Feld zwischen den Welten von Jazz und Neuer Musik.

“Rencontres du jazz et de la musique contemporaine” wirft ein Schlaglicht auf eine offenbar immer noch wichtige Diskussion in den beiden darin angesprochenen Welten. Der einleitende Überblick listet frühere Beschäftigungen mit dem Thema auf (hier fehlt allerdings der Band “Jazz und Komposition”, der das 2. Darmstädter Jazzforum von 1991 dokumentiert und in dem dieses Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet wurde). Sowohl in den allgemein theoretischen wie auch den konkreter praktischen Kapiteln fehlt ein wenig – aber das ist bei einer Tagung, die das nicht ausdrücklich zum Thema machte, vielleicht auch kaum zu leisten – die grundlegende Diskussion einer anders als aus dem europäischem Wissenschaftsdiskurs entstandenen Reflexion über Musik, eine Perspektive also, die sowohl Jazz wie auch die in europäischer Tradition stehende Neue Musik etwa aus dem Blickwinkel von Community, von Macht, von Geschlechterungleichheit oder ähnlichem betrachtet, sich dabei nicht auf die bestehenden meist europäisch gefärbten und genormten Diskurstraditionen einlässt, sondern mutig nach neuen sucht. Das von George Lewis und Benjamin Piekut 2016 herausgegebene Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies geht da einen anderen Weg, braucht, um das Thema abzudecken allerdings auch über 1000 Seiten.

Wolfram Knauer (März 2018)


Bunk Monk & Funk – and other attractions
von Anders Stefansen (& Jan Søttrup)
Kopenhagen 2012 (People’s Press)
248 Seiten, 249 Dänische Kronen
ISBN: 978-8771-37035-5

Anders Stefansen ist ein bisschen der Fritz Rau Dänemarks: ein Konzertveranstalter, der eher zufällig ins Geschäft kam, in den frühen 1960er Jahren für Norman Granz dessen Skandinavien-Tourneen organisierte (so wie dies Lippmann + Rau in Deutschland taten), später auch populärere Acts betreute, von den Beatles bis zu den Rolling Stones. In seiner Autobiographie erinnert sich Stefansen an die vielen Freundschaften zu Musikern, die er in seinem Berufsleben schließen konnte, an das Tourleben, an Probleme und ihre jeweilige Lösung, und an Begegnungen wie die mit John Coltrane, Andrés Segovia, Count Basie, Duke Ellington, Ben Webster, Cecil Taylor und vielen anderen. Er beleuchtet die Realitäten des Business, schwelgt aber vor allem in Erinnerungen. Wenn es dabei auch mehr um die Menschen geht als um die Musik, so ist die Lektüre seines Buchs dennoch erhellend nicht nur für diejenigen, die von seiner Arbeit als Konzertveranstalter profitierten, etwa weil sie selbst im Publikum saßen. Seine Anekdoten beleuchtet zugleich eine ungewöhnliche Karriere zwischen Musik und guter Küche (Stefansen eröffnete eines der ersten French Cuisine Restaurants in Dänemark). Und seine Anekdoten über Henry Miller, den er traf, als er den Film “Ruhige Tage in Clichy” produzierte, sind besondere Zugaben der Lektüre.

Wolfram Knauer (Januar 2018)


Fashion and Jazz. Dress, Identity and Subcultural Improvisation
von Alphonso D. McClendon
London 2015 (Bloomsbury Academic)
194 Seiten, 24,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-85785-127-7

Von den Banduniformen der Swingorchester über die Gardenie im Haar von Billie Holiday bis zu Wynton Marsalis’ in Brooks Brothers-Anzüge gekleidetes Lincoln Center Jazz Orchestra: Jazzmusiker waren immer auch Mode-Ikonen. Miles Davis mag diese Facette seines Bühnenlebens am stärksten ausgelebt haben, doch findet sich das Bewusstsein für die Bühnengarderobe durch die Jazzgeschichte. Als Art Blakey seiner Band in den 1970er Jahren für eine Weile erlaubte, in Straßenklamotten aufzutreten, war das eine Ausnahme. Er wie andere Musiker wussten, dass sie als afro-amerikanische Künstler Vorbildfunktion hatten.

Alphonso D. McClendon ist Modeforscher und hat sich in seinem Buch “Fashion and Jazz” dem Subtext der Musikergarderobe durch die Jazzgeschichte angenommen. Ihm ist wichtig, auf die gegenseitigen Einflüsse zwischen Jazz und Mode hinzuweisen, wie er gleich im ersten Kapitel deutlich macht, in dem er Parallelen und Einflusswege nennt, dass nämlich sowohl Mode wie auch Jazz auf ihre jeweilige Art und Weise vom Freiheit des Ausdrucks handeln. Es habe im Jazz durchaus eine “Sprache der Kleidung” gegeben, sagt er – will heißen: die Bühnenpräsentation hatte immer auch etwas zu bedeuten, und Kleidung habe zur visuellen Ästhetik von Jazzmusikern beigetragen, ob in der Performance auf der Bühne oder in Abbildungen.

Im zweiten Kapitel geht McClendon das Thema dann chronologisch an. Er beschreibt die Mode der Ragtime-Ära und der Bluesmusiker, die Bühnenkostüme von Swing-Musikern und die Selbstdarstellung der Bebopper, die zugleich “die Konstruktion eines subkulturellen Stils” gewesen sei, und stellt schließlich fest, das sowohl Mode wie auch Jazz ähnliche Perioden von Konformität (1900-1920), populärem Einfluss (1920-1940) und Widerstand (1940-1960) durchgemacht hätten.

Kapitel 3 diskutiert Momente “der Moderne” bzw. “des Modernen” und die Kommunikation beider durch Mode und Spielpraktiken im Jazz. Im vierten Kapitel beschreibt McClendon Strategien der Distinktion durch Jazz und Mode, um sich im fünften Kapitel etwa auf die Darstellung von Frauen und Männern in frühen Sheet-Music-Covers zu konzentrieren. Kapitel 6 diskutiert subversive Konnotationen, die sich etwa in Texten von Bluessängerinnen finden oder im Eingang von Jazzthemen in die Literatur oder den Film. Kapitel 7 ist überschrieben “Narcotics and Jazz: A Fashionable Addiction” und beschreibt unter anderem, wie elegante Kleidung auch helfen konnte ein Leben im Schatten der Drogensucht zu verschleiern. Kapitel 8 fokussiert auf Billie Holiday als Musik- wie Mode-Ikone; Kapitel 9 beschreibt Duke Ellington und Benny Carter als “traditionellen Dandy” sowie Dizzy Gillespie und Gerry Mulligan als “modernen Dandy” und blickt kurz darauf, wie amerikanische Präsidenten wie Bill Clinton und Barack Obama ihre Nähe zum Jazz als Imagefaktor ausnutzten.

McClendons Buch reicht leider nur bis ins Jahr 1960 und verpasst damit die politische Garderobe von Dashikis, schwarzen Lederjacken oder soul-beeinflusster Hipstermode der 1960er und 1970er Jahre, thematisiert also auch nicht die Rückkehr zur ordentlichen Garderobe mit Aufkommen der Young Lions der 1980er Jahre. Er thematisiert damit weder die modetechnische Annäherung zwischen den Genres, etwa in Richtung Rock oder auch Neue Musik, noch die Unterschiede etwa in im Modeverhalten amerikanischer und europäischer Musiker. Doch gelingt ihm in diesem eigentlich auf der Hand liegenden und doch so ganz anderen Blick auf Jazzgeschichte eine Perspektive, die Aufschluss über Imagebildung, Selbstverständnis der Künstler und die gegenseitige Beeinflussung von Image und künstlerischem Anspruch erlaubt. Etliche Bilder, eine ausführliche Bibliographie und ein Namensindex schließen das Buch ab.

Wolfram Knauer (August 2017)


Sales Rectangles. Daunik Lazro. Vieux Carré
von Guillaume Belhomme
Nantes 2015 (Lenka Lente)
44 Seiten, 1 Mini-CD, 9 Euro
ISBN: 978-2-9545845-9-1

Am 21. Mai 2011 spielte der Saxophonist Daunik Lazro ein inspiriertes unbegleitetes Solokonzert in einen Buchladen in Rouen. Guillaume Belhomme versucht die Stimmung des Konzerts einzufangen, indem er eines der Stücke Lazros, eine lange Improvisation über Joe McPhees “Vieux Carré” mit kurzen Blicken in die Bücher, die um ihn herum stehen und liegen, verbindet. Seine knappen, aus jeweils nicht mehr als einem Satz bestehenden Kommentare lassen sich den diesen Büchern allerdings erst zuweisen, wenn man sie anhand der im Büchlein abgedruckten Barcodes (bzw. die diesen beigefügten ISBN-Nummern) sucht. Und tatsächlich gelingt es Belhomme dabei ein wenig, jene Stimmung eines Konzerts im Buchladen einzufangen, bei dem die Konzentration auf die Musik von den Blicken zu und in die Bücher, von der Wahrnehmung der Atmosphäre, von kurzen Reflektionen darüber, was man da aufblättert, während man zugleich zuhört, unterbrochen, aber durchaus auch bereichert wird. Ein ungewöhnliches, durchaus inspirierendes Experiment, das den Leser / Hörer quasi subkutan auf die Komplexität der Wahrnehmung von Musik aufmerksam macht.

Wolfram Knauer (März 2017)


Spirits Rejoice! Jazz and American Religion
von Jason C. Bivins
New York 2015 (Oxford University Press)
369 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-023091-3

Jazz und Spiritualität sind für viele Musiker eine zusammenhängende Einheit. Duke Ellington, John Coltrane, Albert Ayler, Rahsaan Roland Kirk, Yusef Lateef, Anthony Braxton – die Liste der Musiker, für die ihre musikalische immer auch eine spirituelle Suche war, ist lang. Der Religionswissenschaftler und Jazzgitarrist Jason Bivins beleuchtet in seinem Buch dieses Verhältnis zwischen Religion und Musik anhand zahlreicher Beispiele und legt, gerade weil er seine Studien aus der Perspektive eines Religionsforschers und mit dem Wissen eines Jazzers macht, ein wichtiges Buch vor, in dem das Thema weit fundierter angegangen wird als in vielen Biographien der bereits genannten Musiker.

In seinen “ersten Meditationen” zum Thema stellt Bivins fest, dass Jazz genauso wie Religion in ihrer jeweiligen Individualität der Wahrnehmung schwer fassbare Gebilde seien. Er weiß um die ganz unterschiedlichen Ausprägungen des Religiösen oder Spirituellen gerade in der Musik, die irgendwo zwischen Ritual und Weltforschung liegt. Er fragt, wie sich das spirituelle Umfeld, aus dem Musik heraus initiiert oder rezipiert wird, auf die Musik selbst auswirkt. Er befasst sich mit konkreten Traditionen, auf die Jazz sich immer wieder bezog. Er betrachtet Beispiele, in denen mit Jazz amerikanische Geschichte genauso wie religiöse Aspekte derselben dargestellt werden. Er befasst sich mit Jazz in religiös-musikalischer Praxis. Er hinterfragt das Klischee von Jazz als rituelle oder heilende Praxis. Er diskutiert Verweise im Jazz auf Mystizismus, Selbstlosigkeit, die klangliche Verbindung zu einem höheren Wesen. Es untersucht Kosmologien und metaphysische Theorien im Jazz. Er will damit nicht nur Aspekte der Jazzgeschichte durch ihre Verankerung in religiösen Praktiken erklären helfen, sondern zugleich die Religionsgeschichte in den USA seit den 1920er Jahren mithilfe ihres Widerhalls im Jazz beleuchten.

Bivins geht dabei weder chronologisch vor noch versucht er seine Thesen an zentralen Figuren festzumachen, wenn es auch an konkreten Beispielen nicht mangelt in seinem Buch. Natürlich spielt der Einfluss der schwarzen Kirche auf viele afro-amerikanischen Musiker eine wichtige Rolle. Er beschreibt das Zeugnis ablegende (“testifyin'”) Tenorsaxophonspiel Albert Aylers. Er findet Spiritualität in Charles Gayles Bühnen- genauso wie Straßenmusikauftritten. Er fragt nach den Gründen von Jazzmusikern zum Islam, zum Buddhismus, zum Bahá’í, zur Scientology zu konvertieren und ihre Reflektion über die jeweilige religiöse Praxis und ihre Auswirkung auf ihre Musik. Er befasst sich mit den Ausprägungen des “Radical Jewish jazz” und mit der Idee einer imaginären Folklore in den Vereinigten Staaten.

Er beschäftigt sich mit Beispielen, in denen Jazzmusiker bzw. ihre Werke religiöse Geschichte erzählen und verwebt dabei eng religiöse und politische Aussagen, etwa in den Aufnahmen von Charles Mingus, Archie Shepp, Max Roach und Abbey Lincoln. Auch der Saxophonist Fred Ho und sein Einsatz für einen Asian American Jazz kommen zur Sprache sowie Sun Ras Verweise auf weltumspannende Verbindungen, die weit über den Planeten Erde hinausreichen. Er geht auf Ellingtons “Sacred Concerts” ein und widmet eine längere Passage John Carters Komposition “Roots and Folklore”, die, wie er findet, ein würdiger Träger des Pulitzer Preises gewesen wäre, den Wynton Marsalis später für sein Oratorium “Blood On the Fields” erhielt.

Er entdeckt im Bemühen von Musikern seit den 1950er Jahren sich zu organisieren neben den politischen auch spirituelle Gründe, wie er etwa am Beispiel der AACM und der Black Artists Group zeigt. Die von Horace Tapscott gegründete Underground Musicians Association, die Saint John Coltrane African Orthodox Church und Alice Coltranes Ashram sind für ihn konkrete Beispiele, wie Jazz als spirituell-religiöses Ritual gelebt und zelebriert werden kann.

Im zweiten Teil seines Buchs beschäftigt sich Bivins mit den engen Verbindungen zwischen Ritual und Improvisation, nennt Beispiele aus dem Schaffen von Duke Ellington, Mary Lou Williams, Milford Graves, Cecil Taylor, bezieht sich aber auch auf das Feld des afro-kubanischen Jazz, auf Steve Colemans Studien zur Yoruba-Kultur und auf die Musik des Art Ensembles of Chicago.

Ein eigenes Kapitel befasst sich mit Meditation und Mystizismus und verweist dabei auf Musiker wie Steve Lacy, Arthur Blythe, William Parker und Davis S. Ware. Ornette Colemans Harmolodics und George Russells Lydian Chromatic Concept werden von Bivins nicht allein als musiktheoretische Abhandlungen verstanden, sondern als Beispiel für kosmologische und metaphysische Versuche Jazz, Improvisation, ja Musik ganz allgemein zu fassen. In dieses Kapitel gehören auch Anthony Braxtons Tri-Axium-System und Wadada Leo Smith’ Ankhrasmation.

In seinem Schlusskapitel stellt Bivins dann noch einmal klar, dass die Auseinandersetzung mit Jazz oder mit Religion notwendigerweise eine fragmentarische sein muss, dass beide Praktiken ein Versuch sind, sich der Komplexität der Welt zu nähern, unsere eigene Sicht aber immer durch das geprägt ist, was wir bereits “wissen”. Für einige sei Musik wie Religion, weiß er, das aber beinhalte weit mehr als die pure Hingabe. Wie die Religion in amerikanische (und weltweiter) Geschichte, habe auch die Musik subversive Funktionen gehabt, habe Einfluss auf die Wahrnehmung der Realität genommen und diese damit ändern können.

Bivins’ Entscheidung, keine klar strukturierte Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Jazz und verschiedenen Ausprägungen von Spiritualität zu wählen, sondern stattdessen Themen zu identifizieren und von verschiedenen Seiten zu beleuchten, führt dazu, dass man auch als Leser die Vorstellung von Religion, Spiritualität, Ritual weiter fasst. Wo man zu Beginn der Lektüre von der sehr offenen Fassung der Begriffe noch ein wenig irritiert sein mag, da ist man dem Autor am Ende genau dafür dankbar, da er es schafft, auch beim Lesen die schnellen Analogien zu vermeiden. Bivins gelingt es, diesen offenen Geist in seine Leser zu übertragen – für den europäischen Leser dann auch in Richtung all der Themen, die sich hierzulande in die verschieden Kapitel einflechten ließen.

Wolfram Knauer (März 2017)


Omniverse Sun Ra
von Hartmut Geerken & Chris Trent
Wartaweil 2015 (Waitawhile Books / Art Yard)
304 Seiten, 69 Euro
ISBN: 978-0-9933514-0-2

Von 1994 stammt das damals im LP-Schallplattenformat veröffentlichte, von Hartmut Geerken und Bernhard Hefele herausgegebene Buch “Omniverse Sun Ra”. Jetzt erschien eine Neuauflage dieses Werks, das das Universum des Meisters aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben versucht.

Geerken war in den 1960er bis 1980er Jahren Institutsleiter verschiedener Goethe-Institute. Als Perkussionist hat er daneben mit zahlreichen Musikern vor allem aus dem Bereich der improvisierten Musik zusammengearbeitet. In Jazzkreisen ist er dabei insbesondere als Kenner des Oeuvres Sun Ras bekannt und war für Konzerte des Arkestra verantwortlich, etwa 1971 in Kairo, wo er seinerzeit fürs Goethe-Institut wirkte. Sein Buch von 1994 war eine kleine Sensation für die Aufarbeitung des Ra’schen Oeuvres; die Neuauflage ist nicht weniger willkommen.

Was übernommen wurde: Amiri Baraka beginnt das coffeetable-große Buch mit einem einleitenden, sehr persönlichen Text über den Meister. Robert Campbell erzählt die irdische Biographie Herman Blounts von seiner Geburt in Birmingham, Alabama, im Jahr 1914 bis zu seinem Tod im Mai 1993 und ordnet zugleich die verschiedenen Besetzungen und musikalischen Phasen seines Schaffens zu. Sigrid Hauff untersucht die mythologische und spirituelle Welt, die Sun Ra musikalisch genauso wie in Texten oder Interviews heraufzubeschwören versuchte. Chris Cutler ordnet sein musikalisches Schaffen in den größeren Kontext von Jazz und afro-amerikanischer Musikgeschichte ein. Robert Lax versammelt mehr oder weniger unzusammenhängende Gesprächsfetzen, Bonmots und Aphorismen des Pianisten, Komponisten, Bandleaders und spirituellen Philosophen. Salah Ragab berichtet über Konzerte des Arkestra in Ägypten in den Jahren 1983 und 1984. Karlheinz Kessler hinterfragt die Verwendung von Ritualen in den Performances der Band. Gabi Geist schreibt ein Horoskop für jemanden, der immer sagte, dass sein Geburtstag und -ort höchstens irdisch seien, tatsächlich aber seiner Herkunft nicht gerecht würden. Hartmut Geerken schließlich erinnert sich an den Besuch des Arkestra in Ägypten im Dezember 1971. Zwischendrin finden sich zahlreiche Fotos, viele davon von der britischen Fotografin Val Wilmer.

Was neu ist: Ein Text Bernhard Helefes entfällt in der Neuauflage. Den ausführlichen diskographischen Teil des Buchs hat Chris Trent neu geordnet. Wieder gibt es einen umfangreichen Bildteil, der die Plattencovers zeigt.

“Omniverse Sun Ra” war schon in der ersten Ausgabe von 1994 eine labor of love. Die neue Ausgabe hat einen Hardcover-Einband, ein etwas handlicheres Format, einen Block mit Farbfotos der Band, die im früheren Buch nicht enthalten waren. Es verzichtet auf die Tapeologogy, also die Auflistung oft privater Konzertmitschnitte, sowie auf die ausführliche Bibliographie der früheren Ausgabe.

“Omniverse Sun Ra” bleibt bei alledem ein großartiges Buch, das in Wort, Bild und Tonträgerverweisen als hervorragendes Nachschlagewerk über die Welt und Weltsicht Sun Ras genauso zu nutzen ist wie als eine Dokumentation, in der auch “Nachgeborenen” die Bühnenperformance des Arkestra vor Augen geführt wird.

Wolfram Knauer (März 2017)


A City Called Heaven. Chicago and the Birth of Gospel Music
von Robert M. Marovich
Urbana/IL 2015 (University of Illinois Press)
488Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08069-2

Gospelmusik, erklärt Robert Marovich, Rundfunkmoderator, Herausgeber des Journal of Gospel Music und Musikhistoriker, sei die künstlerische Antwort auf die Great Migration gewesen, in der tausende und abertausende Afro-Amerikaner zu Beginn des 20sten Jahrhunderts aus den Südstaaten in den Norden zogen und insbesondere in Städten wie Chicago ein neues Zuhause fanden. Blues, sagte Mahalia Jackson einmal, seien Lieder der Verzweiflung gewesen, Gospel dagegen Lieder der Hoffnung. Das Genre, erklärt Makovich in seinem Buch, das sich auf die Verankerung der Musik im Chicago des 20sten Jahrhunderts fokussiert, sei wie eine soziale Organisation organisiert gewesen, die jeden, egal wie gut er oder sie singen konnte, willkommen geheißen hätte.

In seinem Buch beschreibt Marovich die Entwicklung der Gospelmusik von frühen Hymnen und Camp Meetings über die beschriebene Great Migration und die lebendige Gospelszene von Chicago bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sounds, Rhythmen und der Enthusiasmus dieser Musik Eingang in die Popmusik fanden und schließlich zur Begleitmusik der Bürgerrechtsbewegung wurden. Er greift auf Interviews und selten ausgewertete historische Quellen zurück, um die Einbettung der Musik in die Community zu beschreiben; er entdeckt die Bedeutung von Predigern, deren eindringliche Sermons ab den 1920er Jahren ja sogar auf Schallplatte veröffentlicht wurden; er berichtet von frühen Aufnahmen für das noch junge Radio genauso wie für die aufstrebende Plattenindustrie. Er geht auf weithin bekannte Gospel-Künstler ein, Thomas A. Dorsey etwa oder Mahalia Jackson, genauso aber auch auf weniger, oft nur lokal bekannte Musikerinnen und Musiker. Er weiß um die Hintergründe der Gospeltourneen, die in den 1930er Jahren große Erfolge feierten, und er beschreibt die Entwicklung des Gospelquartetts über die Jahre.

Die Zuwanderung nach Chicago aus dem Süden hielt bis in die 1940er Jahre an und vermittelte der Gospelmusik damit über lange Jahre jene wichtige Funktion des Haltgebens in der Fremde. Radio- und frühe Fernsehshows nahmen sich des Genres an, und immer mehr wurde Gospel auch zu einem kommerziellen Produkt. In seiner Übersicht über die verschiedenen Stränge des Genres kennt Marovich alle Solisten, Bands, Quartette und Chöre und beschreibt sowohl ihre Einbindung in die örtliche kirchliche Gemeinschaft wie auch ihr sehr unterschiedliches Verhältnis zur Plattenindustrie. Mitte der 1950er Jahre fiel der Gospelmusik schließlich eine neue Rolle zu, als Mahalia Jackson zu einer glühenden Vertreterin des Civil Rights Movement und einer engen Verbündeten Dr. Martin Luther Kings wurde.

Die große Zeit des Gospel war mit dem Tode Mahalia Jacksons und Roberta Martins vorbei; und hier endet auch Marovichs Buch, mit einem nur kurzen Ausblick auf die Gegenwart. “A City Called Heaven” ist ungemein detailreich, dadurch stellenweise etwas mühsam zu lesen, aber durch einen umfangreich aufgeschlüsselten Index ein gutes Nachschlagewerk zum Thema. Marovich zeigt anhand der Gospelmusik in Chicago, wie sich sich Genre- und Stadtgeschichtsschreibung miteinander verbinden lassen, weil die Nöte und Zwänge des Lebens in der Großstadt letztlich die Entwicklung einer Musik als spirituelles Gegengewicht befördert haben.

Wolfram Knauer (Januar 2017)


La Nuée. L’AACM: un jeu de société musicale
von Alexandre Pierrepont
Marseille 2015 (Éditions Parenthèses)
443 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-2-86364-669-4

2008 veröffentlichte George E. Lewis sein Buch “A Power Stronger Than Itself. The AACM and American Experimental Music”, das die musikalische und ästhetische Welt der Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago seit den 1960er Jahren aus der Ecke einer “nur” afro-amerikanischen Avantgarde holte und zeigte, wie sehr die darin Aktiven Teil eines generellen und weit über Amerika hinausreichenden künstlerischen Diskurses waren und sind.

Im Vorwort seines Buchs über die AACM schildert Alexandre Pierrepont, wie es dazu kam, dass er sich als Anthropologe entschied, eine Studie zur AACM zu schreiben, wie er mittendrin von Lewis’ Arbeit erfuhr und sofort bereit war, mit seinem eigenen Projekt zurückzustecken. Lewis aber habe ihn zum Weitermachen ermutigt: Sein Buch sei eine Innenansicht, so Lewis, ein so komplexes Thema aber brauche immer mehrere Perspektiven, und Pierreponts Arbeit könne vielleicht eine sinnvolle Außenansicht bieten. Und so ist mit “La Nuée” (“Der Schwarm”) jetzt ein zweites umfangreiches Buch auf dem Markt, das die AACM von den 1960er Jahren bis heute als einen künstlerische Ansatz beschreibt, der weit über die erklingende oder auf Tonträgern dokumentierte Musik hinausreicht, vor allem nämlich in den daran beteiligten Akteuren ein Selbstbewusstsein geschaffen hat, das sie weit über den Kreis des Jazz, der afro-amerikanischen oder sogar der amerikanischen Musik hinaus einordnen lässt.

Pierrepont präsentiert im ersten Kapitel 25 Gründe warum, und Erklärungen wie Afro-Amerikaner in den USA ausgegrenzt oder marginalisiert wurden. Er zeigt, dass Musik gerade in diesem Zusammenhang wichtige soziale Funktionen übernahm. Er schildert die Situation in Chicago und erklärt, wie sich hier ab den 1950er Jahren eine aktive experimentelle Musikszene herausbildete. Im zweiten Kapitel beschreibt er die Idee hinter der AACM, die unterschiedlichen Ensembles und Projekte, die aus dem Kreis der Musiker entstanden, die europäische Erfahrung von Mitgliedern etwa des Art Ensemble of Chicago zwischen den Jahren 1969 und 1974, die Verbindungen zwischen der Chicagoer und der New Yorker Avantgarde-Szene ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre (die viel damit zu tun hatte, dass etliche Chicagoer Musiker inzwischen an die Ostküste umgezogen waren), sowie den Einfluss der AACM und ihres Konzepts auf europäische Improvisations-Kollektive.

Im dritten Kapitel untersucht Pierrepont die AACM als Kooperative und Verein, als Geheimbund und Brüderschaft, als sozio-musikalische Bewegung und Weltschule, beschreibt ihre formale Organisation, aber auch die “respectful anarchy”, die sich aus ihren Verbindungen etwa zum Black Arts Movement und anderen auch politisch aktiven Organisationen ergaben. Dabei sei sie bis heute eine Vereinigung afro-amerikanischer Musiker geblieben. Egal ob in Tongebung, Improvisation oder Komposition sei eines der verbindenden Merkmale der aus der AACM entstandenen Musik zum einen die Betonung von Individualität, zum zweiten aber auch das Einbringen des Subjekts in kollektive Prozesse. Pierrepont beschreibt pädagogische Konzepte, die sich aus den Schulprojekten der Association ergaben, und umreißt musikalische als soziale Verbindungen und die daraus resultierenden Gruppenzugehörigkeits-Prozesse. Im vierten Kapitel beschreibt er die Offenheit der AACM-Mitglieder gegenüber Genre, kompositorischen und improvisatorischen Experimenten, der Verwendung und Aneignung im Jazz bislang eher unüblicher Instrumente, der Weiterentwicklung elektronischer Klang- (und musikalischer Reaktions)möglichkeiten, sowie der Arbeit im Solo- und großorchestralen Kontext. Das Art Ensemble of Chicago warb mit dem Slogan “Ancient to the Future”, und in dieser Haltung, dass die Formung jedweder (künstlerischen) Zukunft sich auf die eigene Interpretation der Vergangenheit beziehe, sieht Pierrepont eines der Geheimnisse hinter der Langlebigkeit der AACM als Organisation. “Ich ziehe die Mythokratie der Demokratie vor”, zitiert er Sun Ra. “Noch vor der Geschichte. Alles vor der Geschichte sind Mythen… Das ist der Ort, an dem die Schwarzen sind. Realität ist gleich Tod, weil alles, was real ist, einen Anfang und ein Ende hat. Die Mythen sprechen vom Unmöglichen, von Unsterblichkeit. Und da alles Mögliche bereits versucht wurde, müssen wir eben das Unmögliche versuchen.”

Alexandre Pierreponts Studie zur AACM bietet eine gelungene Interpretation dessen, wofür die Association for the Advancement of Creative Musicians stand und steht, eine Einordnung ästhetischer wie gesellschaftlicher Vorstellungen und Aktivitäten aus der Gruppe, und den Versuch, das alles in Verbindung zu bringen mit ästhetischen, kritischen, philosophischen und spirituellen Aspekten, die weit über die Arbeit der AACM-Mitglieder hinausgehen. Ihm ist dabei, in Gesprächen mit Musikern, in den Beschreibungen von Konzert- und Aktionssituationen, in der historischen genauso wie der anthropologischen Einordnung all dessen ein kluges Buch gelungen, das die Rolle der AACM im Jazz genauso zu verorten in der Lage ist wie in der aktuellen Musik des 20sten (und letzten Endes auch 21.) Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Jazz Tales from Jazz Legends. Oral Histories from the Fillius Jazz Archive at Hamilton College
Von Monk Rowe (& Romy Britell)
Rochester 2015 (Richard W. Couper Press)
209 Seiten, 20 US-Dollar
ISBN: 978-1-937370-17-6

Das Hamilton College ist eine relativ kleine Hochschule in Clinton, New York. Einer ihrer Absolventen, Milt Fillius Jr., zog nach seinem Diplom ans andere Ende des Landes, nach San Diego, hielt aber Kontakt zu seiner Alma Mater. Er liebte Jazz und er war ein guter Freund des Sängers Joe Williams, der 1988 die erste Ehrendoktorwürde des Hamilton College erhielt. Im Gespräch mit Williams und dem Bassisten Milt Hinton wurde Fillius bewusst, wie viel an Wissen über den Jazz tatsächlich nur in der Erinnerung der Musiker bewahrt und wie wichtig Oral History gerade in diesem Bereich ist. Er etablierte also ein umfassendes Interview-Projekt, für das mittlerweile weit über 300 Künstler/innen in Ton und Bild festgehalten wurden. Die Interviews, von denen viele der Hamilton-Archivar Monk Rowe selbst durchführte, dokumentieren die Welt des Swing genauso wie die des modernen Jazz. Die meisten dieser Erinnerungen sind auf der Website des Hamilton College nachzulesen; eine für die Jazzforschung ungemein hilfreiche Sammlung. Es handelt sich bei den Interviewten nicht unbedingt um die großen Stars der Jazzgeschichte, obwohl etwa mit Lionel Hampton, Nat Adderley, Herbie Hancock, James Moody, Oscar Peterson, Ruth Brown und anderen auch solche vertreten sind. Viele der Musikererinnerungen stammen stattdessen von Sidemen, die über ihre Zeit in den großen Bands berichten, über das Leben “on the road”, über die alltäglichen Probleme eines reisenden Musikers, über Rassismus und vieles mehr

In “Jazz Tales from Jazz Legends” zeigt Monk Rowe, was man aus diesen Interviews so alles lernen kann. Er filtert konkrete Themen heraus, für die er dann die verschiedenen Erfahrungen der Interviewten gegenüberstellt. Das Anfangskapitel widmet sich Joe Williams, dann folgt ein Abschnitt über das Schicksal der Sidemen bei Duke Ellington, Count Basie, Benny Goodman und in anderen Bigbands. Clark Terry erzählt etwa, wie der Duke ihn bei Basie abwarb, erinnert außerdem, was er bei beiden Bandleadern lernte, und Benny Powell weiß zu berichten, dass Basie ihm in den zwölf Jahren in der Band nie förmlich bestätigt habe, dass er engagiert sei. Im Kapitel “Road Travails” erzählen Eddie Bert von seiner Zeit bei Benny Goodman, Sonnie Igoe von einer Tournee mit Woody Herman, Bucky Pizzarelli vom Reisen mit dem Vaugn Monroe Orchestra, Jay McShann vom Problem mit schlechten Klavieren “on the road”, Jimmy Lewis von einem angst-machenden Flug mit der Basie-Band, Kenny Davern vom Stress, die 60 One-Nighters in 90 Tagen erzeugen können, Lanny Morgan darüber, dass die Gage oft von Hotel- und Reisekosten aufgefressen wurde, die die Musiker aus eigener Tasche zahlen mussten. “Arranging the Notes” heißt ein weiteres Kapitel, das sich mit den Ansprüchen an die Arrangeure der Bands befasst. Dick Hyman, Mike Abene, Bill Holman, Derrick Gardner, Ray Conniff, Manny Albam erzählen darin von der Arbeit eines Bandarrangeurs genauso wie von den Anforderungen an andere Arten von Musik, etwa für Hollywood; Lew Soloff erinnert sich an die Arrangements für Blood Sweat & Tears, und Dave Rivello und Maria Schneider geben einen Ausblick darauf, wie die Arbeit eines Arrangeurs im 21sten Jahrhundert funktioniert.

“Inside the Studio” ist ein Kapitel über Aufnahmeerfahrungen überschrieben, in dem sich Doc Cheatham an seine erste Platte mit Ma Raney erinnert, Richard Wyands einen typischen Aufnahmegig aus dem Jahr 1959 beschreibt, Orrin Keepnews erzählt, was Musikern für Aufnahmesitzungen üblicherweise bezahlt wurde, und Dick Hyman und Derek Smith verraten, dass sie sich natürlich auch mit Musik für Fernsehwerbung über Wasser halten mussten. Man müsse nicht alles mögen, was da im Studio produziert werde, erklärt Hyman, man müsse sich aber anstrengen, das, was von einem gefordert werde, möglichst gut zu spielen. Rassismus war für viele der interviewten Musiker ein täglich erlebtes Thema, und im Kapitel “The Color of Jazz” kommt auch dies zur Sprache. Clark Terry und Joe Williams haben genügend eigene Erlebnisse; Sonny Igoe erzählt, wie er auf einer Tournee durch den Süden, bei der er im Bus mit dem Art Tatum Trio mitreiste, als “White Trash” angepöbelt und aufgefordert wurde, er solle den Bus gefälligst verlassen. Louie Bellson und Red Rodney haben ähnliche Erinnerungen, und Frank Foster fasst zusammen, dass der Jazz zwar aus der schwarzen Erfahrung heraus geboren worden sei, dass der Melting Pot Amerika ihn aber schon seit langem zu einer amerikanischen, wenn nicht gar globalen Musik gemacht habe.

Im Kapitel “Thoughts on Improvisation” geben Marian McPartland, Clark Terry, Bill Charlap, Charles McPherson und andere Tipps, wie man sich der Improvisation nähern könne. Ken Peplowski fasst zusammen: “Lern es, dann vergiss es wieder!”, und Randy Sandke reflektiert, was während eines Solos so alles durch seinen Kopf ginge. Schließlich äußern sich Gary Smulyan, Ralph Lalama und Jan Weber über die Möglichkeit und die Chancen “falscher Töne” im Jazz. “Motivation and Inspiration” ist ein Kapitel überschrieben, das Erinnerungen an persönliche Einflüsse beinhaltet. Keter Betts etwas erzählt, dass er als Schlagzeuger begonnen habe und durch Milt Hinton (und reichlich Zufall) zum Bass gekommen sei. John Pizzarelli kam über die Beatles zur Gitarre, Kenny Davern übers Radio bei einer der Pflegefamilien, bei denen er aufwuchs, bis er sechs Jahre alt war, und auch Junior Mance war von Earl Hines begeistert, dem er spätabends heimlich im Radio lauschte. Jon Hendricks berichtet, wie er dazu kam, improvisierte Instrumentalsoli zu textieren. Und Eiji Kitamura erinnert sich, wie eine Platte von Benny Goodman in der Sammlung seines Vaters ihn zur Klarinette brachte. Schließlich gibt es im Schlusskapitel noch ein paar Haltungen zum Phänomen des Swing und zum Missverständnis des Free Jazz sowie Erinnerungen an unglücklich gelaufene Engagements und über die Arbeit mit Legenden.

“Jazz Tales from Jazz Legends” ist also ein vielfältiges Buch, das jede Menge unterschiedlicher Erfahrungen zusammenbringt. Zu Beginn der Lektüre wünscht man sich, die einzelnen Interviews im Zusammenhang zu lesen, aber das ist ja tatsächlich möglich, über die Website des Fillius Jazz Archive am Hamilton College. Und so sollte man Monk Rowes thematische Zusammenstellung als das sehen, was sie ist: ein exzellentes Beispiel, wie sich aus den gesammelten Interviews am Hamilton College Narrative zu den unterschiedlichsten Themengebieten der Jazzgeschichte exzerpieren lassen. Dann lässt sich umso interessanter verfolgen, wie die Interviews sich gegenseitig ergänzen und die unabhängig voneinander Befragten dabei fast miteinander ins Gespräch zu kommen scheinen.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Swingin’ On Central Avenue. African American Jazz in Los Angeles
von Peter Vacher
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
331 Seiten, 55 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8832-6

2015vacherJazzgeschichtsschreibung funktioniert normalerweise so: Louis Armstrong – Charlie Parker – Miles Davis – John Coltrane. Oder so: New Orleans – Chicago – Kansas City – New York. Oder so: Dixieland – Swing – Bebop – Cool Jazz – Hard Bop – Free Jazz – Fusion. Personen, Orte, Epochen… eine Geschichte der großen Männer (!), der lebendigen urbanen Szenen, der alles umwälzenden stilistischen Innovationen. Tatsächlich aber ist dieser Blick auf die Größen, die Zentren, die Stilbegriffe enorm einengend, wenn nicht gar: einfach nur falsch. Neben den großen Stilisten gibt es immer auch diejenigen, deren Kreativität entweder nicht den großen populären Erfolg hatte oder aber nicht lange genug anhielt, oder die sich einfach weniger gut “verkaufen” konnten. Neben den jazzgeschichtsmäßig bekannten Zentren gab es Städte und Landstriche, die musikalisch enorm lebendig waren, viele Musiker hervorbrachten, aber von der Geschichtsschreibung höchstens als potentielle Spielorte, nicht als Brutstätten dieser Musik dargestellt wurden. Und neben den etablierten Stilen gibt es unendlich viele Zwischenstufen, da kaum ein Musiker sich eines Stils “in Reinkultur” bediente”. Ganz davon zu schweigen, dass sich die meisten Jazzgeschichten, ja selbst die meisten Biographien an Aufnahmen entlanghangeln und dabei gern den performativen Aspekt des Jazz vergessen, die Tatsache also, dass die veröffentlichte Platte nur eine Momentaufnahme des kreativen Prozesses ist.

Peter Vacher füllt mit seinem Buch also eine Lücke. Er widmet es einer Szene, die nie so ganz im Mittelpunkt des Jazz stand (Los Angeles), und er fokussiert dabei auf Musiker, die höchstens regionale Stars blieben und kaum nationalen oder gar internationalen Erfolg einfuhren. Vacher ist Außenseiter (Brite); er kam im Laufe des Trad-Jazz-Booms der 1950er Jahre zum Jazz. In den 1980er Jahren arbeitete er mit dem Klarinettisten Joe Darensbourg an dessen Autobiographie, verbrachte währenddessen einige Zeit in Los Angeles und lernte damals Veteranen der schwarzen Musikszene der Westküstenmetropole kennen. Die Interviews, die er mit den sechzehn in diesem Buch dokumentierten Musikern führte, hatten ursprünglich nicht das Ziel einer Buchveröffentlichung, sondern dienten einzig seinem privaten Interesse an ihrer Geschichte. Wenige konnte er ein zweites Mal interviewen, bei anderen fühlte er sich im Nachhinein schlecht vorbereitet. Dennoch geben die Geschichten, die er anhand dieser 16 Musiker erzählt, einen Einblick in eine so ganz andere Musikszene als die an der Ostküste. Die Westküstenmusiker waren flexibel; sie spielten Jazz genauso wie R&B oder Dixieland. Viele von ihnen verdienten sich ihren Lebensunterhalt in den Studios Hollywoods, und viele zog es vielleicht mal für eine Tournee, selten aber für immer fort aus Kalifornien. Und wenn auch diese Szene Jazzgrößen wie Dexter Gordon, Wardell Gray, Teddy Edwards und Charles Mingus hervorbrachte, wenn auch Legenden wie Benny Carter, Red Callender und Buddy Collette von hier aus agierten, so blieb Los Angeles doch ein weitgehend ungeschriebenes Kapitel der US-amerikanischen Jazzgeschichte.

Die von Peter Vacher interviewten Musikern stammen aus der älteren Generation, und dokumentieren die Szene vor allem der 1930er bis 1950er Jahre. Noch weiter zurück geht es in den Erzählungen des Trompeters Andy Blakeney , der von seinen ersten musikalischen Erfahrungen im Chicago der 1920er Jahre berichtet, von seinem Umzug an die Westküste im Jahr 1925, von Reb Spikes, der ein Musikgeschäft in L.A. besaß und außerdem eine gut beschäftigte Band. Er erinnert an viele der Musiker in der Stadt und an Partys bei Orson Welles. Er erzählt aber auch von der Rassentrennung in der Stadt, und von den legendären Gigs, die Louis Armstrong und Duke Ellington Anfang der 1930er Jahre in Sebastian’s Cotton Club hatten, von Tagesjobs in einer Schiffswerft, von Gigs mit Kid Ory und Barney Bigard, und von verschiedenen Comebacks in den 1970er und 1980er Jahren. Beim Pianisten Gid Honoré musste Vacher erst Street Credibility beweisen (dadurch, dass er den Schlagzeuger Wallace Bishop kannte), bevor der sich zu einem Interview bereitfand. Honoré kam 1921 aus New Orleans nach Chicago und erzählt von den vielen Ensembles, mit denen er in den 1920er bis 1940er Jahren dort spielte – oft Bands alter Freunde aus New Orleans. 1948 zog er an die Westküste, wo er mit Kid Ory und Teddy Buckner spielte – seine Erinnerungen an die Szene in L.A. nehmen dabei gerade einmal ein Fünftel seines Kapitels ein. Der Trompeter George Orendorff hatte in den 1920er Jahren King Olivers Creole Jazz Band mit Louis Armstrong in Chicago gehört, kurz bevor er nach L.A. zog. Er erzählt vom Engagement in der Band von Les Hite, in der als Schlagzeuger Lionel Hampton mitwirkte, oder von einem Abend, an dem Fats Waller Bach und Beethoven spielte. 1946 war er im Billy Berg’s Club, als Dizzy Gillespie dort mit Charlie Parker spielte. Orendorff arbeitete schließlich 30 Jahre lang als Postbeamter und trat nur noch selten auf. Jeder in Los Angeles kannte den Schlagzeuger Monk Fay, den Vacher aber erst nach intensiver Suche in einem Seniorenheim fand. Der erzählt von seiner Popularität in Hawaii, von einer Gefängnisstrafe wegen Dealens mit Marihuana und von Gigs in Los Angeles in den 1940er und 1950er Jahren. Der Saxophonist Floyd Turnham erinnert sich an Britt Woodman und an Aufnahmen mit Johnny Otis; die Sängerin Betty Hall Jones weiß noch, wie Nellie Lutcher ihr einen Vertrag bei Capitol Records verschaffte. Der Trompeter Red Mack Morris war in Les Hites Band, als diese Louis Armstrong begleitete und führte später eine Weile einen eigenen Club, in dem er schwarz Alkohol ausschenkte. Der Klarinettist Caughey Roberts erzählt von seinen Lehrern und davon, wie er schließlich selbst unterrichtete, daneben aber auch von einer Reise nach China mit Buck Clayton, über seine Arbeit mit Count Basie und Fats Waller in den 1930er Jahren und über seine Dixieland-Aufnahmen in den 1950ern. Der Pianist Chester Lane war ein großer Fan von Earl Hines, arbeitete lange Zeit um St. Louis, und zog 1957 an die Westküste. Der Trompeter Monte Easter erinnert sich, wie er und Art Farmer Ende der 1940er Jahre in Jay McShanns Band saßen, berichtet über die Probleme der afro-amerikanischen Gewerkschaften und über seinen Broterwerb als Postbediensteter. Der Bassist Billy Hadnott erzählt ausführlich von seinen musikalischen Erlebnissen in Kansas City und hat seine eigene Erinnerung daran, wie Charlie Parker ins Sanatorium von Camarillo kam. Der Trompeter Norm Bowden weiß einiges über Reb Spikes und den Schlagzeuger “Boots” Douglas zu berichten, aber auch über den Club Alabam im berühmten Dunbar Hotel auf der Central Avenue. Der Posaunist John ‘Streamline’ Ewing hatte anfangs gut bezahlte Nebenjobs in den Hollywoodstudios, ging dann auf Anregung eines Musikerkollegen nach Chicago, tourte mit Bands wie denen von Horace Henderson und Earl Hines und spielte ab den 1950er Jahren mit Teddy Buckner in Disneyland. Der Saxophonist Chuck Thomas spielte vor allem in der Küstenregion (bis Las Vegas) und zuletzt ebenfalls mit Teddy Buckner. Der Schlagzeuger Jesse Sailes erinnert sich, wie all die großen Swingbands in den Theatern von Los Angeles auftraten und wie er später Platten mit Percy Mayfield, Ray Charles und B.B. King aufnahm. Der Schlagzeuger Minor Robinson spielte mit Buddy Collette und kannte Charles Mingus, als dieser vielleicht 15, 16 Jahre alt war.

Es sind persönliche Geschichten, von Sidemen-Karrieren und außermusikalischen Lebensentscheidungen. Die Namen wiederholen sich; aus den Erzählungen schält sich dabei eine Szene heraus, die zusammenhielt, auch wenn einzelne der Musiker die Stadt für kürzer oder für länger verließen. Peter Vacher beschreibt zu Beginn eines jeden der Kapitel, wie er den Musikern auf die Spur kam und erklärt einzelne der von den Interviewten mitgeteilten Anekdoten. Nebenbei erzählen diese von der Mobilität des Musikerberufs, von Karrieren, die in New Orleans oder Chicago begannen oder in Kansas City und New York Station machten, deren Protagonisten aber, nachdem sie kalifornische Luft geschnuppert hatten, von dieser nicht mehr loskamen. Es gibt schöne Geschichten über das Zusammentreffen des West-Coast-Größen mit durchreisenden Stars der großen Swingbands; es gibt Insiderberichte über alle möglichen Aspekte des Showbusiness’; es gibt immer wieder den Anruf aus der Ferne, der ihnen einen Job in einer der “name bands” anbietet, den sie entweder für kurze Zeit annehmen oder aber ablehnen. Es gibt Geschichten über Familienplanung und solche über Tagesjobs, mit denen man die Familie ernähren konnte. Central Avenue spielt eine bedeutende Rolle, jene Straße, die in Teilen zu einem kulturellen Zentrum der afro-amerikanischen Community der Stadt wurde.

Peter Vacher hat die Gespräche laufen lassen; sein ursprüngliches Interesse galt der Lebensgeschichte der Musiker, weniger dem Treiben in Los Angeles. Und so nehmen die Erinnerungen an Chicago oder Kansas City oft mehr Raum ein als die aktuelle Lebenswirklichkeit des Ortes, an dem die interviewten Musiker schließlich landeten. Doch wird eine Szene eben nicht nur durch das geprägt, was Musiker in ihr kreieren, sondern auch durch alles, was sie aus ihrer Vergangenheit mitbringen. Von daher ist Vachers Ansatz völlig richtig, die Geschichte der Central Avenue durch die Einflüsse zu erzählen, die hier zusammenkamen.

Beim Lesen wünschte man sich stellenweise entweder einen knappen biographischen Abriss vor oder nach den Kapiteln oder aber das Einstreuen von Jahreszahlen, um die Erinnerungen der Musiker besser einordnen zu können. Wer bei Los Angeles an die Westcoast-Szene denkt, sei gewarnt: alle der von Vacher interviewten Musiker sind vor allem der Swingära zuzuordnen; sie erzählen zum Teil von den jüngeren Musikern, die sie kannten, waren aber nie selbst Mitglied dieser Szene. In seinem Vorwort heb Vacher vor allem drei Interviews hervor, die besonders gut gelungen seien: jene mit Andy Blakeney, Billy Hadnott und Norman Bowden, mit Musikern also, mit denen er mehrfach sprechen und dabei mehr über ihr Leben und musikalisches Wirken lernen konnte. Tatsächlich aber sind auch jene Gespräche lesenswert, die etwas langsamer “auf den Punkt” kommen. “Swingin’ On Central Avenue” gelingt es dabei, Erhebliches zur Kulturgeschichte des afro-amerikanischen Jazz im Los Angeles der 1930er bis 1950er Jahre beizutragen. Das Buch erzählt von künstlerischen Idealen und von der Realität des alltäglichen Musikgeschäfts. Die Entscheidung, die Vacher – sicher mehr der Not gehorchend – getroffen hatte, war genau richtig: Seine Protagonisten sind eben nicht die großen Stars, weil die Szene, die er im Fokus hat, sich in keiner der stilbildenden Städte befand, weil die Community, die er in den Kapiteln seines Buchs abbildet, sich aus vielen sehr disparaten Erfahrungen zusammensetzte. Sein Buch ist auf jeden Fall eine Fundgrube für Jazzhistoriker mit vielen Anekdoten und Erinnerungen, die dieser Rezensent hier zum ersten Mal gelesen hat; zugleich ist es eine abwechslungsreiche Zeitzeugensammlung einer Szene, die bislang nur mäßig dokumentiert ist.

Wolfram Knauer (Juli 2016)


Invitation to Openness. The Jazz & Soul Photography of Les McCann, 1960-1980
herausgegeben von Pat Thomas & Alan Abrahams
Seattle 2015 (Fantagraphics Books)
200 Seiten, 39,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-60699-786-4

2015mccannMusikerfotos – es gibt eine ganze Reihe an Jazzmusikern, deren Hobby auf Tournee das Fotografieren war. Milt Hinton ist der wohl namhafteste unter ihnen, doch jetzt zeigt ein neues Buch, dass auch Les McCann nicht nur gute Ohren, sondern auch ein exzellentes Auge hat. Das nämlich gehört dazu, auf dass das Buch eines fotografierenden Musikers nicht einzig wegen der Vorteile interessant ist, die sich daraus ergeben, dass der Mann hinter der Kamera zugleich auf der Bühne sitzt und von den Objekten seiner Begierde, also anderen Musikern, nicht als Störenfried, sondern als einer der ihren anerkannt wird.

Im Vorwort von “Invitation to Openness” erzählt A. Scott Galloway kurz die biographischen Stationen Les McCanns: geboren in Lexington, Kentucky, über Tuba und Snare-Drum zum Klavier gelangt, zusammen mit Eddie Harris mit “Compared to What” über Nacht einen Welthit geschaffen, der eine Solokarriere bedingte, die bis in jüngste Zeit anhielt. Pat Thomas erzählt die Genese des Buchprojekts: Er hatte gerade eine CD-Wiederveröffentlichung des McCann-Klassikers “Invitation to Openness” organisiert und McCann zu Hause besucht, als er in einer Ecke einen Stapel zerkratzter Abzüge von Fotos entdeckte, die der Pianist in den 1960er und 1970er Jahren gemacht, aber nie veröffentlicht hatte. Im Interview mit Thomas erzählt McCann, dass es in seiner Familie immer Fotoapparate gegeben habe. Er selbst habe sich eine Nikon gekauft und begonnen, auf der Bühne und daneben Menschen abzulichten. Als er sich ein Haus in Hollywood leisten konnte, richtete er sich eine Dunkelkammer ein und begann seine Aufnahmen selbst zu entwickeln.

Das Bemerkenswerteste an den Bildern ist vielleicht die Perspektive. Gerade die Bühnenaufnahmen sind eben nicht von vorn gemacht, aus dem Bühnengraben oder der ersten Reihe, sondern oft von der Seite oder leicht von hinten. Viele Bilder zeigen die Musiker backstage, in Vorbereitung fürs Konzert, in Freizeitklamotten beim Soundcheck. Das entspannte Lächeln Count Basies zeigt die entspannte Vertrautheit. Andere eindrucksvolle Motive sind etwa: Stanley Clarke mit abwartend-konzentrierter Miene (und einer denkwürdigen Frisur); Ben Webster am Flügel; Dexter Gordon und Joe Zawinul vor einem Motel; die junge Tina Turner; das Publikum aus Gefangenen im Cook County Jail; Cannonball Addlerley, der an einer Zigarette zieht, sein Gesicht halb in Rauch gehüllt. Neben Musikern gibt es Bilder von Schauspielern (Jack Lemmon, Bill Cosby, Jerry Lewis), Politikern (Jimmy Carter, Jesse Jackson, Stokely Carmichael, Dr. Martin Luther King), Sportlern (Muhamad Ali, Pelé), sowie einige wenige Bilder, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Doch auch diese Aufnahmen, etwa das eines alten Mannes mit Fahrrad, hätten das Potential zu Plattencovers.

Les McCann gibt zu einzelnen der Bilder Kommentare ab, in denen er Kolleginnen oder Kollegen erinnert. Auch die Identifizierung der Motive basiert auf McCanns Erinnerung, wobei es Motive gibt, zu denen er nicht wirklich mehr weiß, wo oder wann sie gemacht wurden, und zumindest eine falsche Zuschreibung (nein: das ist NICHT Eberhard Weber auf den beiden Fotos mit Sarah Vaughan, sondern Bob Magnusson!). Beim Durchblättern des Bandes kommt einem immer wieder in den Sinn, dass das Leben eines Jazzmusikers eben aus mehr besteht als der Bühnenwirklichkeit. Les McCanns “Invitation to Openness” bietet damit einen lohnenswerten und allemal mit Soul gefüllten Blick hinter die Kulissen sowohl der Musiker, die er darin dokumentiert, als auch seiner eigenen Konzertarbeit.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Bitches Brew
von George Grella Jr.
New York 2015 (Bloomsbury Academic, 33 1/3)
128 Seiten, 14,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-6289-2943-0

D2015grellaie Buchreihe 33 1/3 des Bloomsbury-Verlags behandelt eigentlich Rockgeschichte. Jeder Band ist einem separaten Album gewidmet und wird historisch kontextualisiert. Miles Davis wurde jetzt die Ehre zuteil, als erster Jazzer in die Reihe aufgenommen zu werden, die immerhin schon mehr als 100 Bände umfasst. Sein Album “Bitches Brew” von 1969 schrieb eben nicht nur Jazz-, sondern genauso auch Popgeschichte.

In seinem ersten Kapitel betont George Grella, wie schwer es ist, “Bitches Brew” klar einem Genre zuzuordnen. Miles wollte weder ein klares Jazz- noch ein dezidiertes Rockalbum machen. “Bitches Brew”, meint Grella, sollte man daher am ehesten als experimentelle Musik hören, als Versuch, den überkommenen Normen von sowohl Jazz wie auch von Rock zu entkommen.

Im zweiten Kapitel erklärt Grella die seltsame Sektenhaltung, die Jazzrezeption manchmal annehmen kann und gegen die sich Miles Davis von früh an wehrte. Geht nicht gibt’s nicht, sei sein Motto gewesen, und Popsongs nahm er bereits lange vor “Time After Time” auf. Miles, fasst Grella zusammen, spielte Pop nicht um Popstar zu sein, sondern um Musik zu machen. Er erzählt von der Zeit des Trompeters mit Charlie Parker, vom Capitol-Nonet, das irgendwie die Geburtsstunde des Third Stream wurde, sowie von “Kind of Blue” und “Sketches of Spain”.

In Kapitel 3 erklärt Grella, welch völlig anderen Ansatz Miles an die Produktion eines Albums hatte, bei dem er sich ab 1968, ab dem Album “Circle in the Round”, vorbehielt, die musikalischen Versatzstücke nach Belieben zusammenzuschneiden.

In den Kapiteln 4 und 5 schließlich steht “Bitches Brew” selbst im Mittelpunkt, wenn Grella über Titel und Covergestaltung geflektiert und die einzelnen Titel beschreibt. Das liest sich stellenweise wie eine Sportreportage: wer, wann, was, Tonart, Einsatz, Intensität. Grella verweist auf die oft nicht wahrnehmbare Editiertechnik Teo Maceros und darauf, wie dies nur deshalb möglich war, weil alle Musiker immer deutlich aufeinander hörten. In “Pharoah’s Dance” benennt er eine “hippe Blueslinie bei 4:46” oder eine Coda, die “fast Beethoven’schen Charakter” habe. Im Titeltrack zeigt er auf viele der Nahtstellen, und dann verweist auf die Unterschiede der beiden Platten des Doppelalbums: “eine, um dich wegzublasen, die andere, um deinen Kopf wieder geradezurücken”.

Im letzten Kapitel widmet Grella sich den Nachwirkungen des Albums, in der Kritik genauso wie im Jazz. Mit Verweis auf Wynton Marsalis erklärt er, dass da zwei recht unterschiedliche Sichtweisen der Zukunftfähigkeit von Musik aufeinandergeprallt seien, um dann Miles’ Konzept auf dem kleinsten Nenner zusammenzufassen: “Indem er Rhythmus, Puls und Harmonien – und auf Tonband eingespielte Kompositionen – verwandte, die absichtlich nicht zu einer Auflösung fanden, organisierte Miles Zeit: und sowohl Form wie auch Zeit finden damit in der Musik zusammen”.

Eine kommentierte Diskographie beschließt das Büchlein, das sich wie ein sehr ausführlicher Plattentext mit vielen zusätzliche Informationen liest. Ja, Grella gelingt die Kontextualisierung, und doch kommt er der Musik selbst nur bedingt nahe, auch weil seine analytischen Anmerkungen etwas zu oberflächlich bleiben, weil er quasi nur parallel zur Musik beschreibt, was man eh hört, anstatt zusammenzufassen, was das alles “bedeutet”. Trotz dieser Einschränkung aber ist Grellas Büchlein ein lohnenswerter Begleiter zur nächsten abendlichen Abhörsession dieses Miles Davis-Klassikers.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Jazz Basel. Vier Jahrzehnte Stars und Szene
herausgegeben von Offbeat = Urs Ramseyer & Ruedi Ankli & Peewee Windmüller & Urs Blindenbacher
Basel 2015 (Christoph Merian Verlag)
180 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-85616-695-5

2015offbeatDie Geschichte regionaler Jazzszenen kann man auf unterschiedliche Weise erzählen. Man kann nostalgisch und sehnsuchtsvoll zurückblicken und von alten Zeiten schwärmen. Oder man kann auch Zurückliegendes vor allem aus dem Wissen um die Gegenwart verstehen.

Die Macher des offbeat-Festivals gehen in ihrem Buch über “Jazz Basel” den zweiten Weg. Das opulent bebilderte Buch widmet einzig sein Eingangskapitel (von Bruno Spoerri) den Anfängen des Jazz in Basel von den 1920er bis in die 1970er Jahre. 1974 gründete sich der Verein und die Konzertreihe jazz in basel, 1990 schließlich das Festival offbeat. Das Buch blickt auf die Musiker, die seither auf dem Festival spielten, aus skandinavische Gäste oder gesamtdeutsche Schwerpunkte, auf Jazz aus dem Mittelmeerraum und einen lateinamerikanischen Fokus, auf US-amerikanische Bands und die Schweizer Musiker, die hier auch immer zu hören waren. Es gibt Anekdoten aus dem Alltag von Festivalorganisatoren und Berichte von Backstage. Die Auswirkungen des Festivals in Stadt und Region werden thematisiert, Schulprojekte etwa oder die Präsenz im örtlichen Rundfunk. Und schließlich wird mit Stolz auf die Zusammenarbeit des offbeat Festivals mit dem Jazzcampus Basel und dem Club The Bird’s Eye berichtet.

Das alles ist kurzweilig geschrieben, vordergründig wohl vor allem für regionale Leser interessant, daneben aber genauso ein Bericht über die Verankerung einer regionalen wie internationalen Szene, aus dem auch Veranstalter anderswo etwas lernen können. Und schließlich sind da noch die 86 schwarz-weißen Abbildungen, Fotos von Bernhard Ley, Peewee Windmüller und Röné Bringold, die die Erinnerungen an die Geschichte von offbeat ungemein lebendig werden lassen.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher
von Detlef Siegfried
Göttingen 2015 (Wallstein)
455 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1673-7

2015siegfriedErnest Borneman war eine Mehrfachbegabung, so sehr, dass es genügend Menschen gaben, die dachten, es handele sich wahrscheinlich um mehrere Personen, die nur zufällig denselben Namen hätten. In den 1970er und 1980er Jahren war Borneman ein regelmäßiger Gast in deutschen Talkshows, wann immer es um das Thema Sexualität ging, hatte daneben eine Sex-Beratungskolumne in der Neuen Revue. Als Soziologe hatte er sich mit seinem Buch Das Patriarchat 1975 einen Namen gemacht. Vor seiner Beschäftigung mit Frauenbewegung und Feminismus hatte Borneman eine Karriere im Filmgeschäft gemacht, arbeitete für das National Film Board of Canada, für die UNESCO in Paris und war Programmdirektor des Freien Fernsehens, der ersten privaten Fernsehanstalt, die nach ihrem Verbot durch die Adenauer-Regierung quasi durch das ZDF abgelöst wurde. Und noch früher war Borneman nicht nur Jazzliebhaber und -experte, sondern einer der ersten Jazzforscher, ein Kenner des Jazz, der diese Musik zeitlebens als transkulturelle künstlerische Aussage verstand und 1944 mit seinem Artikelreihe “The Anthroprologist Looks at Jazz” eine der ersten übers Anekdotische hinausreichenden Kulturgeschichten des Jazz verfasste.

Borneman schied im Juni 1995 aus dem Leben. Sein Archiv ist in der Berliner Akademie der Künste untergekommen; jetzt hat der Historiker Detlef Siegfried die Biographie des vielfältigen Forschers vorgelegt. Diese hat er klar nach den verschiedenen Feldern gegliedert, in denen Borneman tätig war, überschrieben “Hören. Die Ethnologie des Jazz”, “Sehen. Das Leben auf der Leinwand” und “Berühren. Sex und Gesellschaft”.

Der 1915 in Berlin geborene Ernst Bornemann – wie er bis zu seiner Emigration 1933 hieß – hatte bereits 1930 Bertolt Brecht kennengelernt, als Mitglieder von Berliner Schulchören zu Proben des Lehrstücks Der Jasager geladen worden waren. Er und Brecht freundeten sich an, Brecht half ihm bei der Abfassung seines ersten Theaterstücks und Borneman Brecht bei einer Neuübersetzung des Dreigroschenromans ins Englische. Siegfried, der zu Beginn seines Buchs anschaulich erklärt, wie er sich durch Bornemans eigene “Autofiktionen”, wie er sie nennt arbeiten musste, durch falsche Fährten also, die Borneman aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten seiner Karriere legte, beschreibt Bornemans Exil als “nicht nur Flucht-, sondern auch Möglichkeitsraum”.

In London war Borneman regelmäßig bei Jazzkonzerten anzutreffen, verkehrte außerdem in einem Kreis linker und schwarzer Intellektueller. Bereits Mitte der 1930er Jahre hatte er einen Kriminalroman geschrieben, arbeitete bald auch an einem Drehbuch für einen möglichen eigenen Film, in dem auch der Jazz eine Rolle spielen sollte. Im Sommer 1940 wurde er als “feindlicher Ausländer” interniert, doch bereits zuvor produzierte er seine erste Rundfunksendung. Nach seiner Internierung wurde er nach Kanada deportiert, wo er nach seiner Entlassung beim National Film Board Arbeit fand.

Er knüpfte Kontakt zu Sammlern und Jazzkennern in den USA und sammelte Material für eine mögliche musikwissenschaftliche Dissertation und ein Buch zum Thema “American Negro Folk Music”, das von zwei Verlagen zur Publikation angenommen, dann aber wegen kriegsbedingten Papiermangels nicht gedruckt wurde. In seinen Jazzarbeiten, für die Borneman sich bei dem bekannten Musikethnologen Melville J. Herskovits um ein Stipendium bemühte, ging es, wie Siegfried zusammenfasst, “um zwei Themen: erstens um die Verbindungen von afroamerikanischer Volksmusik und moderner Tanzmusik der Gegenwart, und zweitens um die Verschränkungen von sozialen Verhältnissen und Populärkultur”. 1944 begann Borneman seine achtteilige Artikelserie “The Anthropologist Looks at Jazz”, die in der Zeitschrift The Record Changer erschien, der er bald auch als Mitherausgeber angehörte. Er schlug sich in der Debatte um den Bebop zwar auf die Seite des “authentischen” Jazz, konnte aber der romantischen Rückwärtsgewandtheit vieler der Traditionalisten wenig abgewinnen und versuchte daher immer wieder zwischen den Lagern zu vermitteln.

Mitte der 1940er Jahre lebte er in Paris, interviewte Louis Armstrongs Band anlässlich des ersten Jazzfestivals in Nizza im Jahr 1948, und freundete sich mit amerikanischen Expatriates und französischen Musikern wie Claude Bolling oder Boris Vian an. Er schrieb für den britischen Melody Maker und produzierte 1953 mit Betty Slow Drag einen experimentellen Kurzfilm, der seine beiden großen Interessen Jazz und Film miteinander verbinden sollte. Für den Melody Maker berichtete Borneman auch über den Jazz in Westdeutschland, konnte aber, selbst als Joachim Ernst Berendt versuchte ihn mit zeitgenössischen Musikrichtungen der 1960er Jahre anzufreunden, indem er ihn in ein Konzert John Coltranes mitnahm, mit dem modernen Jazz wenig anfangen.

Siegfried widmet Bornemans langer Auseinandersetzung mit den karibischen Wurzeln des Jazz ein eigenes Unterkapitel und berichtet davon, wie der spätere Beat Club von Radio Bremen auf Bornemans Ideen zurückzuführen gewesen sei. Er zeigt, dass Borneman in seinen Schriften einige Debatten angestoßen hatte, die in der Jazzkritik erst in den 1960er Jahren wirklich ausgetragen wurden, als er selbst an dieser Diskussion nicht mehr selbst teilnahm. Letzen Endes mag Borneman nicht mit allen seiner Thesen Recht gehabt haben, ohne Zweifel aber sei er ein Wegbereiter der internationalen Jazzforschung gewesen.

Der Jazz spielt auch in den weiteren Lebens- und Arbeitsphasen für Borneman eine wichtige Rolle, und Bornemans kritischer Geist, den Siegfried am Beispiel des Jazz ausgiebig beschrieben hat, lässt sich auch in diesen Bereichen zeigen. Detlef Siegfrieds Buch ist dabei ein faktenreicher Band, der biographische Stationen und Diskurse, an denen Borneman beteiligt war, laufend miteinander verschränkt. Ganz sicher war Borneman einer der schillerndsten Vordenker des Jazz; Siegfrieds Schilderung sowohl seines Lebens als auch der Diskussionen, an denen sich Borneman sein Leben lang beteiligte, zeigt ihn aber darüber hinaus als einen vielseitig gebildeten, einfachen Erklärungen zutiefst skeptisch gegenüberstehenden, zur Offenheit des Denkens neigenden Forscher.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Teddy Wilson. 19 Selected Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2015 (Blue Black Jazz)
44,95 Euro

Boogie Woogie, Volume 2. 17 Original Boogie Woogie and Blues Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2014 (Blue Black Jazz)
46,85 Euro
Zu beziehen über www.blueblackjazz.com

Paul Marcorelles hat bereits eine ganze Reihe an Transkriptionen von Pianisten des frühen Jazz vorgelegt, vorzugsweise von Musikern, die im Stride- oder Boogie-Woogie-Stil spielten. Seine jüngsten Veröffentlichungen widmen sich dem Swing-Stil Teddy Wilsons auf der einen und dem Repertoire einiger der Boogie-Woogie-Größen der frühen 1940er Jahre auf der anderen Seite.

2015marcorelles_wilsonFür Teddy Wilson hat Marcorelles sich Soli zwischen 1934 und 1946 ausgesucht, schnelle virtuose Titel wie “Rosetta”, den “Tiger Rag” oder “When You and I Were Young, Maggie” sowie Balladen wie “Don’t Blame Me”, “Out of Nowhere” oder “Body and Soul”. Seine Transkriptionen sind exakt, gut lesbar, reine Notationen ohne weitere Spielanweisungen oder analysierende Harmoniesymbole. Sie sind zum Nachspielen gedacht, brauchen allerdings Pianisten, die zum einen keine Probleme mit den bei Wilson so beliebten Dezimengängen der linken Hand haben und zum zweiten technisch fortgeschritten sind, um die virtuosen Arpeggien und die die Rhythmik aufbrechenden Läufe tatsächlich zum Swingen zu bringen. Wilsons linke Hand allein kann jedem Pianisten helfen, die antreibende Kraft des Swingens zu begreifen. Auch das Studium seiner Voicings lohnt, deren Alterationen den Akkorden zusätzliche Schwebungen verleihen. Wie immer bei Transkriptionen von eigentlich improvisierten Jazzsoli ist es mehr als hilfreich, sich die Soli auf Platte (oder über Streamingdienste) anzuhören.

2015marcorelles_boogieIm zweiten der beiden jüngst veröffentlichten Bände versammelt Marcorelles Transkriptionen von Hersal Thomas (“Hersal’s Blues”), Clarence ‘Pinetop’ Smith (“Pinetop’s Boogie Woogie”), Jimmy Yancey (etwa den “Five O’Clock Blues”), Pete Ammons (z.B. “Rock It Boogie”), Meade Lux Lewis (“Chicago Flyer” und “Glendale Glide”), Albert Ammons (etwa seinen “Swanee River Boogie”), Sammy Price (133rd Street Boogie”) und Pat Flowers (“Eight Mile Boogie”). Die rhythmischen Verschiebungen zwischen Bassfiguren und rechter Hand im Boogie Woogie sind dabei noch weit schwerer zu “lesen” und bedürfen noch stärker des Höreindrucks, um sie danach vom Papier in die Tasten zu übertragen und erlauben im Idealfall – und das wäre es ja eigentlich immer im Jazz – irgendwann das Loslassen und das eigene Erfinden melodischer und rhythmischer Muster, die eigene Improvisation.

Marcorelles’ neue Bände seien jedenfalls jedem interessierten Pianisten empfohlen als Übe- genauso wie Studienmaterial. Marcorelles bietet auf seiner Website übrigens alle insgesamt 202 Transkriptionen dieser wie früher erschienener Bände auch einzeln zum Download als PDF-Datei an

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Hot Music, Ragmentation, and the Bluing of American Literature
von Steven C. Tracy
Tuscaloosa 2015 (The University of Alabama Press)
537 Seiten, 64,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8173-1865-9

2015tracySteven C. Tracy ist Literaturwissenschaftler, Professor für Afro-American Studies, aber auch ein Blues-Harp-Spieler, der bereits in Vorgruppen für B.B. King, Muddy Waters und andere Stars der Szene auftrat. In seinem umfangreichen Buch stellt er die afro-amerikanische Musik der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, also Jazz und Blues, als Referenzpunkt dar, der helfen könne, die amerikanische Literaturgeschichte jener Zeit besser zu verstehen. Es geht ihm dabei nicht einzig um Romane oder Dichtung, die sich konkret und thematisch mit Musik beschäftigen, sondern auch um den Einfluss von Klanglichkeit, von Virtuosität, von improvisatorischer Haltung auf die amerikanische Literatur der Jahre bis 1930. Er greift hierfür immer wieder zurück auf konkrete Aufnahmen, um etwa Beispiele der afro-amerikanischer Stimme, des afro-amerikanischen Rhythmus, der Griot-Funktion des Bluessängers, der Bedeutung von Wiederholungen, der tiefen Doppeldeutigkeit, der politischen Untertöne herauszustreichen, die eben keine rein afro-amerikanischen Untertöne seien, sondern Befunde für den Zustand der gesamten amerikanischen Gesellschaft. Tracy verbindet die Genres, folkloristischen Blues, modernistischen Jazz, um aus dem Mix der Aufnahmen heraus, auf die er sich bezieht, neue Argumente zu entwickeln, die abseits der üblichen Beschreibung von Jazz-, Blues- oder Kulturgeschichte liegen. Er untersucht daneben auch Film- oder klassische Musikgeschichte nach Einflüssen von oder Analogien zu afro-amerikanischer Musik und findet den nachhaltigsten Widerhall außerhalb der Musik schließlich in der Literatur, bei T.S. Eliot, William Carlos Williams, Hart Crane, Gertrude Stein, Ezra Pount, und bei Abbe Niles, Langston Hughes, Countee Cullen, Zora Neale Hurston und anderen Dichtern und Schriftstellern der Harlem Renaissance.

Tracys schnelle Wechsel zwischen den Diskursen sind dabei sowohl inspirierend wie auch, da sie ein häufiges Vor- und Zurückblättern erfordern, zeitweise ermüdend. Sein intertextueller Ansatz ist auf jeden Fall ein Beispiel, wie sich aus dem Studium afro-amerikanischer Musik Aussagen über weit mehr als diese treffen lassen, wie stark tatsächlich diese Musik bereits in den ersten 30 Jahren des 20sten Jahrhunderts ihren Niederschlag im Denken, Handeln und Schreiben gefunden hat.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Friedel Keim
Das große Buch der Trompete (3)
Diskografie, Fotografien, Statistik, Nachträge
Fortsetzung des Trompeter-Lexikons, Band 3
Mainz 2015 [Eigenverlag
554 Seiten, 33,90 Euro
nur direkt zu beziehen über
Friedel Keim, e-mail: ruf.keim@t-online.de

2015keimDer Ur-Maizer Trompeter Friedel Keim hat nach den ersten beiden Auflagen von 2005 und 2009 nun den dritten Band seiner Trompeterbibel vorgelegt, ein sorgfältig recherchiertes Kompendium, das die verschiedensten Seiten des Instruments und seiner Musiker beleuchtet und dessen Spektrum von Klassik über Jazz bis zur volkstümlichen Musik reicht.

Keim kennt dabei keine Berührungsängste. Er versteht es genauso, sich über die Kunst der Barocktrompete auszulassen wie über die Probleme, die viele Jazzer mit der Ästhetik eines Wynton Marsalis haben. Und neben den großen Stars finden auch die Satzbläser wieder Erwähnung oder Musiker der aktuellen Szene.

Der lexikalische Teil von Band 3 enthält biographische Artikel von A wie “Abbott, Goivinda” bis Z wie “Zonshine, Michael”. Neben diesen teils ausführlichen Portraits gibt es Anmerkungen zur Interpretation von Werken aus Klassik, Marschmusik und anderen Genres, darunter auch analytische Anmerkungen und Notenbeispiele aus dem Jazzbereich, etwa eine Transkription des “West End Blues” in der Version von Louis Armstrong und seiner Hot Five von 1928, Dizzy Gillespies “Night in Tunisia”, oder Maynard Fergusons Version von “Body and Soul”. Korrekturen und Ergänzungen zu den beiden ersten Bänden erhalten ein eigenes Kapitel, und wieder gibt es den Block “Wissenswertes rund um die Trompete”, der etwa Informationen über das “Gansch-Horn” gibt oder über das flexibrass-Mundstück, über die Vuvuzela oder über die Trompete auf historischen Briefmarken, über den Trompetenbaum oder diverse Filme, in denen die Trompete im Mittelpunkt steht. Schließlich findet sich noch ein umfassendes Kapitel zu Horst Fischer, jenem legendären deutschen Trompeter, dessen Prolog zu einer Autobiographie Keim abdruckt, außerdem eine alphabetische Auflistung aller ihm bekannter Fischer-Aufnahmen.

Wie bereits in den vorherigen Bänden findet sich auch in Band 3 vieles, was sonst kaum irgendwo erierbar wäre. Friedel Keim weiß um Geburts- und Sterbedaten, berichtet über die Stars, aber eben genauso über die “kleinen” Vertretern des Instruments, über Satzspieler oder junge Musiker, die durchaus auch zwischen den stilistischen Welten leben und arbeiten, über Dixieland- und Swingtrompeter, die eher der Amateur- als der Profiszene angehören, aber dennoch gute Musiker sind, über Musiker von denen man noch nie gehört hat oder aber auch Musiker, die man persönlich kennt, aber nie in einem Lexikon vermutet hätte, weil ihr Arbeitsschwerpunkt doch eher regional begrenzt ist. Keim hat sich ihnen allen angenommen mit einem Vollständigkeitsanspruch, der jede Kritik an der Auswahl im Keim ersticken ließe (man entschuldige das Wortspiel). Und gerade in den Einträgen zu den kleinen Vertretern der Trompete erkennt man einmal mehr die “labor of love” dieses Buches, das zu alledem noch exzellent lesbar ist. Kein kritisches Buch vielleicht, dafür ein verlässliches Nachschlagewerk für jeden, der sich für die Trompete interessiert: eine Trompeterbibel fürwahr!

(Wolfram Knauer, Februar 2016)


 

Mein Onkel Pö
von Holger Jass
Hamburg 2015 (Offline-Verlag)
137 Seiten, 25,55 Euro
ISBN: 978-3-00-051272-8

2015jassEinen ersten Hinweis auf den Inhalt dieses Buchs gibt bereits der Preis: 25,55 Euro, entsprechend einem Cent pro Nacht im legendären Club, wie Holger Jass in der Presseankündigung zum Buch erklärt. Holger Jass hatte das Onkel Pö (Onkel Pö’s Carnegie Hall, wie es damals offiziell hieß) Anfang 1979 vom Vorbesitzer Peter Marxen übernommen, der ihn bei der Übergabe warnte: “Ich muss dich warnen. Pö-Jahre sind wie Hundejahre. Die zählen siebenfach.” Jass hielt es bis Anfang 1986 aus, führte das “Pö” im Sinne seines Kultstatus’ weiter und hat jetzt ein kurzweilig-amüsantes Buch über seine Erlebnisse mit Musikern, Medienmenschen, Kollegen und dem Publikum geschrieben, das ihm die ganzen Jahre über treu blieb, aus dessen Reihen sich aber partout kein Interessent für eine Nachfolge finden ließ.

“Jetzt macht Jass den Jazz im Onkel Pö” titelte das Hamburger Abendblatt, als Jass 1979 übernahm. Sein Buch handelt natürlich auch von Jazz. Er beschreibt, wie Michael Naura, damals Jazzredakteur des NDR viele der Jazzabende mitschnitt, die sich das Pö ansonsten kaum hätte leisten können. Den Flügel im Club hatte kein geringerer als Joachim Kühn ausgesucht und eingeweiht. Ansonsten bevölkern Jazzer wie Freddie Hubbard, Elvin Jones, Pat Metheny, Dexter Gordon die Seiten, aber auch Tom Waits, Charlie Watts, Joe Cocker, Hannes Wader, Truck Stop und natürlich Udo Lindenberg, der dem “Pö” in einem seiner Hits ein Denkmal setzte.

“Bei Onkel Pö spielt ‘ne Rentnerband”, hieß es da, “seit 20 Jahren Dixieland” – aber mit Dixieland ließ sich so ein Schuppen nicht finanzieren, bilanziert Jass trocken … obwohl man das Wort “trocken” selbst bei einer Rezension dieses Buchs nicht in den Mund nehmen sollte, denn trocken ging es ganz sicher nicht zu im Pö. Auch davon handelt das Buch, von den skurrilen Erlebnissen mit den Musikern, vom gesteigerten Alkoholkonsum, vom Pflegen einer Szene und davon, dass man, um Wirt zu sein, ein dickes Fell und viel Humor benötigt. Pineau ist das Zauberwort, jene süßliche Mischung aus Traubenmost und Cognac, die Jass als Allheilmittel vieler Probleme genauso beschreibt wie als Ursache anderer. Seine Anekdoten machen klar, dass man als Wirt und täglicher Konzertveranstalter selbst nicht ganz ohne solche “Medizin” auskommt: ein divenhafter Auftritt Freddie Hubbards etwa oder jener Abend mit Dexter Gordon, den Jass allerdings erst aus drogenbedingtem Tiefschlaf im Hotel um die Ecke wecken musste, den er für seine 57 Jahre als “bös klöterich” beschreibt, der dann aber nach einem dreifachen Whiskey ein denkwürdiges Konzert gegeben habe.

Sehr viel tiefer geht es sicher nicht in seinen Erinnerungen, die er mit viel Augenzwinkern und der humorvollen Abgeklärtheit der zeitlichen Distanz schreibt, und bei denen man schon mal über die eine oder andere schlüpfrige Anekdote hinweglesen muss. Bei all denen, die dabei waren in diesem zwischen Alternativszene und Hochkultur angesiedelten Zauberort in Eppendorf, wird er warme Erinnerungen wecken. Man meint den Fusel wieder zu schmecken und die dicke Luft wieder zu riechen, vor allem aber erinnert man sich an die musikalischen Hochgenüsse, die das Onkel Pö so oft und so viel vermittelte. Für diejenigen, die nicht dabei waren, gibt Jass ein launiges Portrait, einschließlich etlicher Fotos, ein Portrait, das stellenweise einer Filmdokumentation über verwunschene Zeiten ähnelt, bei denen man eigentlich gern dabei gewesen wäre.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Rhythm Is My Beat. Jazz Guitar Great Freddie Green and the Count Basie Sound
von Alfred Green
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
325 Seiten, 75 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4246-3

2015greenCount Basies All American Rhythm Section gilt als die swingendste Rhythmusgruppe des Jazz. Die Art, wie Pianist Basie, Gitarrist Freddie Green, Bassist Walter Page und Schlagzeuger Jo Jones rhythmisch und harmonisch ineinandergriffen, um den vorwärtstreibenden Schwung zu schaffen, der zu ihrem Markenzeichen wurde, besaß so viel an Energie, dass Rhythmusgruppen überall auf der Welt sie zum Vorbild nahmen. Den wichtigsten Anteil an dieser Energie hatte, wie Basie selbst, aber auch zahllose andere Musiker bezeugen, Freddie Green, der dem Count Basie Orchester von 1937 bis zu Basies Tod im Jahr 1983 und der Band noch ein paar Jahre danach bis zu seinem eigenen Tod 1987 angehörte. Von Nichtmusikern wurde Green schon mal dafür bemitleidet, ein ganzes Leben lang nie ein wirkliches Solo gespielt, dafür immer nur “schrumm schrumm” gemacht zu haben, vier Schläge pro Takt, durchgehend vom ersten Akkord bis zum letzten; und doch ist ihm jemand kaum in der Kunst des Rhythmus nahegekommen, den dieser Vierschlag erzeugen konnte.

Jetzt hat Alfred Green, der Sohn des Gitarristen, eine Biographie vorgelegt, die weit mehr ist als die persönliche Erinnerung eines Verwandten. Greens Buch schafft den Spagat zwischen Insiderwissen, persönlicher Betroffenheit und nüchterner Beschreibung der Lebens- und Arbeitswirklichkeit eines Musikers der Bigbandära.

Die Geschichte beginnt in Charleston, South Carolina, wo Freddie Green 1911 geboren wurde, in einer Stadt mit einer überaus lebendigen schwarzen Musikszene. Nachdem er die erste Ukulele gegen ein viersaitiges Banjo ausgetauscht hatte, sammelte er erste musikalische Erfahrungen mit Freunden aus dem Jenkins Orphanage, einem berühmten Waisenhaus in Charleston, aus dem etliche spätere Musiker hervorgingen. Mit einer dieser Bands reiste er die Küste hoch bis nach Maine, wechselte irgendwann vom Banjo zur Gitarre und spielte mit dem Saxophonisten Lonnie Simmons und dem Stride-Pianisten Willie Gant. Als der Impresario John Hammond ihn hörte, empfahl er seinem Schützling Count Basie, sich den Gitarristen für sein Orchester zu sichern. Im Januar 1937 kam es zum Vorspiel erst in kleinem Kreis, dann mit der Bigband, und am 1. Februar begann sein mehr als 45-jähriges Engagement als Motor des Count Basie Orchestra.

Alfred Green erzählt nicht nur die Lebens- und Arbeitsstationen Greens, sondern nähert sich auch seinem Stil, fragt nach Einflüssen, erklärt die Besonderheit des Green’schen Sounds. Der Autor wurde im Februar 1938 geboren, im selben Jahr beendete seine Mutter ihre Beziehung zu seinem Vater, sicher auch, weil der inzwischen eine Romanze mit Billie Holiday begonnen hatte, die für kurze Zeit mit Basie reiste.

Green beschreibt die verschiedenen Besetzungen der Basie-Band der 1930er und 1940er, die Schwierigkeiten des Musikerlebens, und die zunehmenden Probleme der Musikindustrie, die schließlich dazu führten, dass Basie sein Orchester auflöste und kurze Zeit mit einem Sextett – ohne Gitarre – auftrat. Sein Vater nahm die Entscheidung nicht hin und tauchte einfach beim nächsten Gig des Sextetts mit seiner Gitarre auf. “Was machst du denn hier?”, fragte Basie, und Green antwortete, “Was glaubst du wohl? Du hast hier einen Gig, richtig? Ich habe dir die besten Jahre meines Lebens gegeben und du glaubst, mich einfach beiseiteschieben zu können? Keine Chance!”

Während die 1930er- und 1940er-Jahre-Band insbesondere ein Solistenorchester war, wurde der Sound der 1950er Jahre-Band durch ihre Arrangeure geprägt. Alfred Green berichtet, wie Green seinen Platz in den Arrangements fand, wie er sich zu den Schlagzeugern positionierte, und wie er seine Aufgabe immer als die eines Unterstützers der anderen gesehen habe.

Neben den Einsichten in Greens Karriere sind es vor allem die technischeren Kapitel, die im Buch faszinieren. Alfred Green beschreibt etwa die Spannung der Saiten, die besondere Haltung, die Green benutzte, bei der sein Instrument fast auf seinem Schoß lag, spricht über die Tatsache, dass Green kaum je mit nicht-akkordischen Soli zu hören war, über seine wenigen Aufnahmen unter eigenem Namen, über Gigs für andere Bandleader und anderes mehr.

Einem dicken Block mit seltenen Fotos folgen schließlich noch Analysen von Michael Petterson, M.D. Allen und Trevor de Clerq sowie Zitate anderer Gitarristen über Green, schließlich eine ausführliche Diskographie aller seiner Aufnahmen.

Es gibt eine Reihe an Büchern über das Count Basie Orchester, darunter natürlich auch Basies eigene Autobiographie, verfasst mit Hilfe Albert Murrays. Keines dieser Bücher aber bietet einen so persönlichen Einblick in die Band wie das Buch Alfred Greens über seinen Vater. Der Gitarrist Freddie Green war wahrscheinlich der wichtigste Musiker des Basie Orchesters, der nicht nur für den durchgehenden Swing und eine rhythmische Verlässlichkeit stand, sondern der Band auch, was oft übersehen wird, ihren ganz spezifischen Sound verlieh, der sie aus der Menge ihrer Konkurrenten auf dem großen Bigbandmarkt hervorhob. Greens Buch gelingt in diesem Umfeld gleich dreierlei: Er schreibt eine Biographie des Gitarristen Freddie Green, er erzählt Details aus der Bandgeschichte Count Basies (und damit aus dem Alltag der Swingära), und er teilt sehr persönliche Erinnerungen an seinen Vater mit dem Leser.

Ihm gelingt dabei der schwierige Spagat, Beobachter und Sohn zur selben Zeit zu bleiben. Zu Beginn liest sich das alles wie eine interessante, aber eher distanzierte Lebensdarstellung, bis Green aus einem Gespräch zitiert, das er mit seiner Mutter geführt hatte, und bei dem einen schlagartig klar wird, dass der Autor ja Sohn des Objekts seines Berichts ist, dass er mit dem Wissen eines Familienglieds, sicher auch mit eigener Betroffenheit schreibt. Solche Perspektivwechsel gelingen ihm hervorragend, wie man in etlichen bewegenden Passagen erkennen kann. Green verschweigt macht aus seinem Vater nirgends einen Heiligen, sondern stellt ihn als Menschen dar, der nach dem Besten strebte, aber durchaus fehlbar war.

“Rhythm Is My Beat” ist ein sehr empfehlenswertes Buch, über Freddie Green, über Count Basie, über die Swingära und vieles mehr. Alfred Greens Buch gibt einen tieferen Einblick als vieles, was man sonst so liest zu diesem Thema und ist eine spannende Lektüre für Fans, genauso wie für Musiker oder Forscher über diese Musik.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Keith Jarrett. Eine Biographie
von Wolfgang Sandner
Berlin 2015 (rowohlt)
362 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-780-1

2015sandner“Mit freundlichen Künstlern ist die Welt nicht gesegnet”, beginnt Wolfgang Sandner sein Buch, das er mit Wohlwollen des Pianisten angegangen war, bis er mit diesem nach einem Konzert aneinandergerieten sei, weil es Jarrett nicht gefallen habe, dass Sandner sein “Köln Concert” als einen seiner größten Erfolge bezeichnete. “Das Ende eines Dialogs eröffnet jedoch auch eine Chance”, befindet Sandner. In der Folge nämlich habe er sich noch stärker auf die Musik konzentrieren müssen. Das Ergebnis ist ein Buch, das der Musik Jarretts als eines Künstlers gerecht wird, der seine Kraft aus der Improvisation des Jazz zieht, dessen Wirkung aber weit über dieses Genre hinausreicht.

Keith Jarrett wurde am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren, und Sandner sieht diesen Tag, Kriegsende, als symbolträchtig für die Jahrhundertkarriere des Pianisten. Ohne Europa, das durch den Krieg noch mehr für die Qualitäten des Jazz sensibilisiert war, erklärt Sandner, wäre Jarretts Karriere einerseits so nicht möglich gewesen, auf der anderen Seite habe Jarrett immer tief in den Traditionen der amerikanischen Avantgardeästhetik gestanden, in der Tradition auch eigenbrötlerischer Künstler wie Lou Harrison und Alan Hovhaness, deren Werke er Anfang der 1980er Jahre in Europa uraufführte.

Sandner zeichnet die Kindheit Jarretts in Allentown nach, die Erkenntnis seines Talents, das Trauma der Trennung seiner Eltern, dem er mit dem Rückzug in die Musik begegnete, und die musikalischen Bemühungen seiner Brüder. Jarrett spielte mit lokalen Bands, besuchte Workshops, gewann ein Stipendium fürs Berklee College, mit dessen die Musik eher regulierenden als zur Kreativität ermutigendem Lehrplan er allerdings wenig anzufangen wusste. Da war die Schule von Art Blakeys Jazz Messengers schon eine andere, in denen Jarrett ab Herbst 1965 für vier Monate mitwirkte. Von Blakey wechselte er in die Band des Saxophonisten Charles Lloyd, dem er durch dessen Schlagzeuger Jack DeJohnette empfohlen worden war. Lloyds Quartett war “die erste Supergroup des Rockjazz”, und Sandner hört sich sowohl dessen Studio- wie auch die Liveaufnahmen an. 1967 gründete Jarrett sein erstes Trio mit Charlie Haden und Paul Motian, und als ihm Miles Davis 1969 zum wiederholten Mal anbot, in seiner Band mitzuwirken, sagte Jarrett zu, obwohl Miles mit Herbie Hancock und Chick Corea bereits zwei Pianisten in der Band hatte. Bei Miles musste er elektronische Keyboards und Orgel spielen, Instrumente, die ihm eigentlich zuwider waren. Zugleich setzte er sich noch mehr mit Klang auseinander, mit dem Sound der Instrumente, die er zu bedienen hatte genauso wie den Soundmöglichkeiten der Band, die für Miles im Mittelpunkt seiner “musikalischen Großräume, Klangkunstwerke” standen.

Ein eigenes Kapitel widmet Sandner der Partnerschaft zwischen Keith Jarrett und Manfred Eicher, der weit mehr war als ein Labelgründer und Plattenproduzent. Jarrett stand Anfang der 1970er Jahre eigentlich bei ABC unter Vertrag, ihm wurde aber erlaubt, Produktionen mit “ernster Musik” und ähnliche Aufnahmen ohne Gegenleistung anderswo einzuspielen, das könne sein Ansehen schließlich nur steigern. Dass Jarretts Aufnahmen für Eichers Edition of Contemporary Music zum Zugpferd für das Label ECM werden sollten, hatte niemand vorhergesehen. Im November 1971 also ging Jarrett erstmals in Oslo ins Studio und produzierte mit “Facing You” die erste von bis heute 28 Solo-Produktionen für Eicher, ein Album, das sowohl Jarretts Ruf als Solopianist begründete als auch Eichers Ruf als einer der offenohrigsten Produzenten des Jazz. Sandner erklärt, was die Partnerschaft und das Vertrauen der beiden zueinander begründe, die Tatsache etwa, dass Eicher selbst Musiker sei oder dass sein Interesse neben dem Jazz auch anderen Formen von Musik (oder Literatur oder Kunst oder Film) gelte. Eicher, schlussfolgert Sandner auch nach dem Gespräch mit anderen ECM-Künstlern, sei bei vielen seiner Produktionen der “dritte Mann”, auch wenn man ihn weder sehe noch höre.

Es gäbe etliche Musiker und Musikliebhaber, warnt Sandner schon im Vorwort seines Buchs, die meinen, über Musik solle man nicht so viel schreiben, da diese das Wesentliche doch eh in sich berge. Und dann tut er genau das, kongenial, so nämlich, dass seine Zeilen die Musik zwar heraufbeschwört, aber nirgends zu ersetzen trachtet. Über Jarretts Klavierspiel etwa schreibt er, man könne vielleicht die verschiedenen Techniken benennen, die seinen Personalstil ausmachten, komme dabei aber vor allem an einem Charakteristikum nicht vorbei, das Sandner die “Konzentration aufs Wesentliche” nennt und das er in Jarretts musikalischem Ansatz genauso findet wie in seiner Wahl der Mitmusiker oder in der klaren Gliederung seines Repertoires in Standards, eigene Kompositionen und freie Solo-Improvisationen.

An anderer Stelle verfolgt er Jarretts Vervollkommnung der authentisch-eigenen Stimme. Er betrachtet die Aufnahmen seines amerikanischen Quartetts mit Dewey Redman und seines europäischen Quartetts mit Jan Garbarek, beschreibt, was an diesen Aufnahmen so besonders sei, obwohl sie doch weder einen unerhörten Klang hervorbrächten noch eine neue Form oder eine außergewöhnliche ästhetische Haltung. Er nennt Jarrett einen “Solist ohne Grenzen”, verfolgt die unterschiedlichen pianistischen Ansätze, die der Künstler über die Jahre entwickelte. Und Sandner ist wie wenige deutsche Autoren ein Meister darin, Musik mit Worten näher zu kommen. Ein Beispiel: Über Jarretts Album “Staircase” schreibt er: “Alles, was Jarrett in den elf Stücken erklingen lässt, besitzt Körperlichkeit. Es gibt keine flachen Töne, nur runde, eckige, kubusartige, voller Tiefenschärfe. Wenn ein Ton verklingt, wird er nicht nur leiser, er verschwindet wie in einem Tunnel, verliert nicht nur sein Volumen, sondern wird augenscheinlich kleiner.” Er benennt die Beziehungen zwischen Jarretts Aufnahmen an der Barockorgel in Ottobeuren und seiner Suche nach Klangfarben einerseits und ähnlichen Suchen europäischer oder amerikanischer Komponisten andererseits, nicht aber, um daraus Einflüsse abzuleiten, sondern um zu zeigen, dass Jarrett sich da inmitten eines breiten Diskurses befindet, in dem seine eine gewichtige Stimme ist.

Zwischen ausführliche Beschreibungen der diversen Plattenprojekte streut Sandner aber auch Informationen über die Selbstzweifel des Künstlers, über persönliche und geschäftliche Krisen, über Rückenschmerzen und das chronische Erschöpfungssyndrom, dass Jarrett für einige Jahre aus dem Verkehr zog. Er beschreibt, wie all diese außermusikalischen Ereignisse ihren Widerhall in Jarretts Musik fanden. Nach seiner Genesung, fasst Sandner zusammen, sei Jarrett ” praktisch nicht mehr in ein Aufnahmestudio zurückgekehrt. Mit Ausnahme einer Duo-Aufnahme mit Charlie Haden und einer Einspielung von Bach-Sonaten für Violine und Klavier sind alle Aufnahmen danach bei Live-Auftritten entstanden.”

Natürlich nimmt das “Köln Concert” ein wichtiges Kapitel seines Buchs ein. Sandner beschreibt die bekannt widrigen Umstände des Konzerts, Rückenschmerzen, ein schlecht intoniertes Instrument, ein Stutzflügel, den die Bühnenarbeiter statt des eigentlich geplanten Bösendorfer Imperial auf die Bühne gestellt hatten, und er erzählt, wie Jarrett aus all diesen Widrigkeiten über sich herauswuchs, die Beschränkungen des Instruments zu Stärken seiner Aufnahme machte. Das “Köln Concert” wurde zu einem Riesenerfolg bei Kritik und Publikum gleichermaßen, und selbst der Perfektionist Jarrett musste später zugeben, dass die Ideen, “diese Klangfarben und diese Stimmführungen”, die auf der Aufnahme zu hören sind, schon einzigartig waren.

In weiteren Kapiteln seziert Sandner die Herangehensweise Jarretts an die Standards des American Popular Song, die er zusammen mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette ab 1983 einspielte und bald auch bei Konzerten spielte, seine Einspielungen klassischer Musik von Bach bis Lou Harrison, sowie Jarretts eigene Kompositionstätigkeit, die sich keinesfalls in der Komposition von Themen für eigene Improvisationen erschöpfte.

Sandners letztes Kapitel heiß “Einspruch” und ist unter all den lesenswerten Kapiteln dieses Buchs vielleicht das lesenswerteste. Sandner beginnt mit einer Eloge auf den kreativen Schöpfer, auf das Genie Keith Jarrett, um dann die Reaktion hervorzuheben, mit der Jarrett so oft, auf so vieles, reagiert, seine “Manie, etwas abzulehnen”. Der wichtigste Einspruch Jarretts gelte dabei musikalischen Trends, kurzlebigen Moden oder selbsternannten Kanonikern. Sandner findet diese Veto-Haltung auch im Klavierspiel des Meisters selbst, das “allen Regeln der traditionellen Klavierkunst widerspricht und wirkt, als sei das Instrument weniger ein Partner, vielmehr ein Gegner, den man bezwingen müsse, bisweilen mit List und Tücke, bisweilen mit tänzerischem Ablenkungsmanöver, manchmal mit brachialer Gewalt, nicht selten aber, indem man sich den Flügel einverleibt, mit ihm verschmilzt.” Es ist dieses Eins-Sein mit seiner Musik, das Jarrett auch außerhalb der Jazzanhängerschaft Wirkung verschafft hat. Henry Miller schrieb ihm einen Brief, nachdem er das “Köln Concert” gehört hatte, Sergiu Celibidache und Marcel Reich-Ranicki zeigten sich begeistert. Sandner argumentiert aber auch, dass diese Verweigerungshaltung neben seinen künstlerischen Entscheidungen auch Jarretts problematisches Bühnenverhalten beeinflusst habe, seine gelegentlichen Publikumsbeschimpfungen, die, wie Sandner schreibt, fast schon zum Ritual geworden seien, das Voyeure unter den Hörern erwarten oder gar herausfordern.

Wolfgang Sandners Buch gelingt es, der Musik Keith Jarretts nahe zu kommen, gerade, weil er sich, wie er im Vorwort erklärt, mit dem Künstler entzweit hat. Sandner besitzt den Überblick nicht nur über Jarretts Schaffen und nicht nur über die Jazzgeschichte, aus der heraus Jarretts Kunst kommt, sondern über die gesamte Kulturgeschichte, in die hinein Jarretts Musik wirkt. Es gelingt ihm, die verschiedenen Positionen zu definieren, die sich in der Musik und ihrer Rezeption widerspiegeln: die musikalische, ästhetische und wirtschaftliche Position Jarretts zu verschiedenen Zeiten, die Position der Labels, der Agenten, der Produzenten, die Position Manfred Eichers, die Position der Kritiker und des Publikums, und nicht zuletzt auch seine eigene Position, die Position Wolfgang Sandners. Dass er aus eigener Begeisterung heraus schreibt, lässt er nicht unerwähnt. Er bezeichnet Jarrett wiederholt als “Genie”, nennt ihn den größten Musiker, der je aus Allentown kam. Doch dient diese eigene Positionsbestimmung letztlich auch dem Vertrauen, das wir als Leser in Sandners Wertung der Musik haben können. Er lässt uns klar wissen, wo er als Autor steht, und so können wir viel leichter unsere eigene Position beziehen, überdenken, revidieren. Wolfgang Sandner ordnet Jarretts Aufnahmen dabei nicht nur in Jazz-, Musik- und Kulturgeschichte ein, er verleitet zum neuen, zum tieferen Hören, und er ermöglicht ein Verständnis – im besten Sinne des Wortes – über die Grenzen des emotionalen Hörens hinaus.

Wolfram Knauer (Dezember 2015)

Nachtrag Februar 2021:

Keith Jarrett. A Biography
by Wolfgang Sandner, translated by Chris Jarrett
Sheffield 2020 (Equinox)
215 Seiten. 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-800500129

Sandners Jarrett-Biographie ist inzwischen auf Englisch erschienen, übersetzt von keinem Geringerem als Jarretts Bruder, dem in Deutschland lebenden Pianisten Chris Jarrett. Für die englische Ausgabe hat Sandner seinen früheren Text erweitert und aktualisiert, hat neuere Aufnahmen und neue Veröffentlichungen aus früheren Jahren berücksichtigt und neue Erkenntnisse über Jarretts familiären Background geteilt. Mit dem Abschied Jarretts von der Bühne im vergangenen Oktober scheint auch seine Karriere abgeschlossen. Sandners Buch vertieft das Wissen und ermuntert zum Nachhören – jetzt vielleicht etwas wehmütiger als bei der ersten (deutschen) Lektüre vor sechs Jahren.


 

Als der Jazz nach Kassel kam. Streifzüge durch die Szene der ersten Nachkriegsjahre
von Ulrich Riedler
Berlin 2015 (B&S Siebenhaar Verlag)
104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN: 978-3-943132-39-7

2015riedlerDie großen Jazzmetropolen – Berlin, Hamburg, Köln, München – sind weitgehend dokumentiert. Auch für kleinere Städte haben sich Historiker und Hobbyhistoriker der Aufbereitung der Jazzgeschichte angenommen. Das kann schon mal seltsam wirken, wenn Provinzzentren wie der Mittelpunkt der Welt erscheinen, wo sie doch meist nur Durchgangsstationen für aufstrebende spätere oder etablierte, sich auf Tournee befindende Jazzstars waren. Tatsächlich aber sind regionalen Szenen bis heute wichtige Brutstätten künstlerischer Ideen, auch wenn viele der Musiker, die hier ihre Anfänge nehmen, irgendwann in die großen Zentren abwandern, in Städte mit bedeutenden Hochschulen etwa oder in solche mit einer lebendigen, großen Jazzszene.

Das nordhessische Kassel, in der Mitte der Republik, und doch kulturell vor allem durch die Brüder Grimm und die documenta bekannt, besitzt bis heute eine lebendige Szene, verschiedene Spielorte für Jazz und improvisierte Musik, und ein langjähriges Festival. Die alle fünf Jahre stattfindende documenta bringt es mit sich, dass die Bürger der Stadt sich sehr bewusst mit ästhetischen Diskursen der Avantgarde auseinandersetzen.

Der Journalist und Jazzfan Ulrich Riedler hat sich in seinem Buch auf die Suche nach den Anfängen des Jazz in der nordhessischen Stadt gemacht und diese im Frühjahr 1940 entdeckt, als sich junge Jazzfreunde im Gasthaus “Ledderhose” trafen, wo sie gemeinsam die neuesten Platten hörten. Irgendwann rückte die Gestapo ihnen auf den Leib, nahm die Jungs mitsamt ihrer Schellackschätze mit und unterzog sie einer gründlichen Befragung. Die Jazzfans wurden bald wieder entlassen, und einer von ihnen kann Riedler nicht nur von damals berichten, sondern ihm sogar noch die kurzfristig konfiszierten Platten zeigen. Die “Ledderhose” blieb auch nach dem Krieg ein Jazztreffpunkt, in dem die Mitglieder zu Platten tanzten, ab und zu aber auch selbst zum Instrument griffen.

Die 1950er Jahre dokumentiert ein Gespräch mit dem späteren Spiegel-Redakteur Alfred Nemeczek, von dem Riedler außerdem einen Bericht über das Jazzkontor Kassel aus dem Jahr 1959 andruckt, den Versuch, in Nordhessen einen Liveclub nach Vorbild des Frankfurter Jazzkellers zu etablieren. In den 1950er Jahren begannen die ersten amerikanischen Stars Deutschland zu erobern. Kassel erlebte Konzerte von Duke Ellington, Louis Armstrong, Lionel Hampton oder der Jam-Session-Truppe Jazz at the Philharmonic mit Ella Fitzgerald und vielen anderen.

Einer der Stammgäste der Kasseler Jazzszene war damals der Trompeter Manfred Schoof, der zwei Jahre an der Kasseler Musikakademie studierte, bevor er nach Köln weiterzog. Riedler spricht mit ihm über die Jazzszene jener Zeit, über Musiker und Musikerlegenden der Region, unter anderem den Tenorsaxophonisten Werner Apel, den, wie man sich erzählt, sogar Duke Ellington verpflichten wollte, weil er ihn bei einer Jam Session so beeindruckt habe, und natürlich auch über die GI-Clubs, in denen Schoof die amerikanische Kultur erst richtig kennenlernte.

Die Amerikaner waren im Stadtteil Rothwesten in Fuldatal stationiert und engagierten über die Special Service Agencies jede Menge deutscher Musiker für die Unterhaltung in den verschiedenen Clubs. Riedler blickt auf Orte, aufs Repertoire, auf das Jazzprogramm des örtlichen Amerika-Hauses, beschreibt aber auch andere Veranstaltungsorte der Stadt, deren Programm großteils von Vereinen organisiert, zum Teil auch von der Stadt unterstützt wurde. Er erzählt, wie Arnold Bode, der Vater der documenta, von der Band des Vibraphonisten und Gitarristen Fritz Bönsel so angetan war, dass er im Landesmuseum ein Konzert veranstaltete, das den Jazz endgültig in der Stadt etablierte.

Die Jazzszene jener Jahre beinhaltete traditionelle genauso wie moderne Stile, und so beschreibt auf der einen Seite die Dixieland-Szene der 1950er und 1960er Jahre mit ihren Riverboatshuffles und dem musikalischen Versuch, dem Original so nah wie möglich zu kommen, auf der anderen Seite aber auch, wie andere Musiker, Schoof und Gunter Hampel unter ihnen, dem modernen Jazz in Kassel zu Gehör verhalfen. Und schließlich spricht er mit dem Pianisten Joe Pentzlin, dessen Trio quasi die Hausband des Jazzclubs in der Orangerie gewesen war.

In einem abschließenden Kapitel schlägt Riedler einen knappen Bogen in die Regenwart, zu Musikern wie Matthias Schubert und Ernst Bier, die entweder aus Kassel stammen oder aber hier über längere Zeit Station machten und die Szene der Stadt mitprägten.

Riedlers Buch ist nicht als historische Dokumentation gedacht, denn vielmehr als eine flüssig zu lesende Erinnerung an die 1940er bis 1960er Jahre, ein liebevoll bebildeter Band über die Jazzszene in der deutschen Provinz, die – ähnlich wie die Szenen vieler anderer Städte mittlerer Größe – überaus lebendig war. Die Lektüre macht dem Leser deutlich, dass der Diskurs über den Jazz als aktuelle Kunstform nicht nur in den Metropolen stattfindet.

Wolfram Knauer (November 2015)


 

Music Wars 1937-1945. Propaganda, Götterfunken, Swing. Musik im Zweiten Weltkrieg
von Patrick Bade
Hamburg 2015 (Laika Verlag)
511 Seiten, 34 Euro
ISBN: 978-3-944233-41-3

Sounds of War. Music in the United States during World War II
von Annegret Fauser
New York 2013 (Oxford University Press)
366 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-994803-1

Victory Through Harmony. The BBC and Popular Music in World War II
von Christina L. Baade
New York 2012 (Oxford University Press)
275 Seiten, 31,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-537201-4

2013fauser Musik war immer schon kriegswichtig. Ob zum Anfeuern der Truppen im Marschrhythmus, ob zum Mobilmachen der Bevölkerung durch patriotische Hymnen, ob als Beruhigung und Selbstbestätigung, ob als Instrument der psychologischen Kriegsführung oder sogar als Foltermethode: Krieg ist ohne Musik – so seltsam diese Idee auch scheinen mag – kaum vorstellbar.

Drei kürzlich erschienene Bücher untersuchen die Rolle der Musik im Zweiten Weltkrieg. Der britische Historiker Patrick Bade berichtet über die verschiedenen musikalischen Strategien und Funktionen direkt vor Ort, in den Gebieten, in denen der Krieg tobte oder die am Krieg beteiligt waren, Frankreich, Deutschland, den USA, Russland, Großbritannien, dem nördlichen Afrika und dem Mittleren Osten. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Annegret Fauser beschränkt sich in ihrem Buch auf die klassische Musikszene in den Vereinigten Staaten. Die britische Musikhistorikerin Christina Baade schließlich untersucht, wie der BBC in den Kriegsjahren auf Jazz, Tanz- und Popmusik gesetzt habe, um die Moral der gesamten britischen Öffentlichkeit in den Kriegstagen zu stärken. Baades Studie gibt dabei einen Einblick in Programmentscheidungen eines öffentlichen Rundfunksenders und thematisiert, inwieweit die Öffnung des Senders für Jazz und amerikanische Popmusik auf Widerstände gestoßen sei. Fausers Fokus liegt auf der “concert music”, also der klassischen Musik, und im Umschlagtext heißt es, dass Dinah Shore, Duke Ellington und die Andrews Sisters vielleicht die Zivilisten zuhause und die Soldaten in Übersee unterhalten hätten, es tatsächlich aber vor allem die klassische Musik gewesen sei, die die Menschen für die Kriegsanstrengungen mobilisiert habe. Patrick Bade schließlich wagt den Rundumschlag, lässt also auch die sogenannte leichte Muse, Swing und Jazz, nicht aus. Während er dabei neben dem klassischen Repertoire und dem Swing auch einen Blick auf die Funktion von Radio, Film und Plattenindustrie wirft, außerdem in einem langen Kapitel Kriegslieder aus unterschiedlichen Ländern ins Visier nimmt, finden man in Fausers Buch Informationen über Musiker in der Armee, Auftragskompositionen für den Kriegseinsatz, ein Kapitel über Musik als Beruhigung der Bevölkerung und als Therapie für traumatisierte Soldaten sowie eines über die vielen Exilkomponisten, die durch den Krieg in den USA strandeten. Christina Baade schließlich diskutiert in ihrem Buch auch das Thema von Tanzmusik und Maskulinität, die Sorge um den Erfolg der amerikanische Popmusik und die Verdrängung eigener Traditionen, und die Bedeutung von Rundfunkprogrammen, in denen afro-amerikanische Musik in den Mittelpunkt gestellt wurden, für schwarze britische Musiker. Bei allen drei Autor/innen finden sich Diskussionen der Zuschreibung moralischer Qualitäten zur Musik, der Grundlage letzten Endes dessen, was in den USA später zur “cultural diplomacy”, zur Kulturdiplomatie werden sollte.

2012baadeFür Christina Baades Argumentationslinie spielt der Jazz eine zentrale Rolle; ihr Buch erlaubt dabei Rückschlüsse auf Entwicklungen des Nachkriegsjazz in Großbritannien, einschließlich der Hinwendung vieler junger Musiker insbesondere zu traditionellen Jazzstilen. Patrick Bade hat neben einem Kapitel über Jazz und Swing im Dritten Reich, in dem er auch auf das Phänomen der Propagandaband Charlie and His Orchestra eingeht, ein eigenes Kapitel über Musik im Feldlager, im Gefangenenlager und im Konzentrationslager. Fauser wiederum diskutiert in ihrem Buch ausführlich musikalischen Ausdruck von Nationalismus, etwa in Werken von Aaron Copland und Roy Harris.

Patrick Bade gibt am Schluss seines Buchs einen Ausblick auf die Nachwirkungen, erzählt etwa, dass Wagner im Bayreuther Festspielhaus kurzzeitig Cole Porter weichen musste, berichtet, wie Sänger/innen und Musiker/innen nach dem Krieg mit ihrer Karriere im Dritten Reich konfrontiert wurden oder diese sehr bewusst aus ihrer Biographie ausblendeten. Er endet mit dem kurzen Hinweis auf Werke, die sich bis ins 21ste Jahrhundert hinein mit den Gräueltaten des Kriegs auseinandersetzen. Christina Baades Buch endet mit der Ankunft der amerikanischen Truppen im August 1944 und der Entscheidungen des BBC, die auch die amerikanischen GIs mit ihrem Programm unterhalten wollte. In der Folge kam es zu einer Diskussion der Vermischung musikalischer Werte in der populären und Tanzmusik, über “Britishness” oder “Pseudo-American”. Ihr Buch verweist zwischen den Zeilen immer wieder, etwa Kapiteln über das vom Rundfunk mitgeprägte Bild der Frau oder im Versuch, die Ausstrahlung von Musik männlicher übersentimentaler Schlagersänger im Rundfunk zu unterbinden, auf Diskurse, die auch nach dem Krieg weitergingen und auf die letzten Endes BBC-Programmentscheidungen großen Einfluss hatten. Bei Fauser geht der Blick in die Nachkriegszeit über John Cage, dessen experimentelle Ideen sie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren verortet. Sie verweist darauf, dass Cage und seine Zeitgenossen ihre Lehren aus den Erfahrungen des Kriegs gezogen hätten, sich nach Ende des Kriegs von ihren nationalistischen Kompositionen distanziert oder aber diese in neue Werke integriert hätten.

2015badeZusammengefasst bietet Patrick Bade im breiteren Ansatz seines Buchs eine Art Rundumschlag über das Thema. Christina Baade wirft Licht auf die Verflechtungen zwischen Musik, Musikindustrie, öffentlicher Meinung und Publikumsgeschmack. Fausers Studie schließlich hätte von einer Erweiterung ihres Schwerpunkts vielleicht profitiert. Fauser begründet ihren eingeschränkten Blick im Vorwort damit, dass die Jazz- und Popmusikszene jener Jahre ja schon ausgiebig genug untersucht worden sei, während Forschungen zur klassischen Musik im Krieg weitgehend fehlten, vergibt sich damit aber die Chance einer differenzierten Darstellung, was vielleicht – nehmen wir einmal an, dass der Einband-Text vom Verlag und nicht von ihr stammte –, eine wertende Aussage wie die, dass Jazz und Popmusik die Bürger zuhause und die GIs in Übersee vielleicht unterhalten hätten, es aber die klassische Musik gewesen sei, die den wirklichen Unterschied gemacht habe, verhindert hätte.

Von solchen Anmerkungen abgesehen, haben alle drei Bücher ihre Meriten. Sie helfen bei der Kontextualisierung von Musikgeschichte in der späten ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, die letzten Endes Auswirkungen auch darauf hatte, wie Musik heute klingt und wie wir sie wahrnehmen.

Wolfram Knauer (Oktober 2015)


 

 

Giving Birth to Sound. Women in Creative Music
herausgegeben von Renate Da Rin & William Parker
Köln 2015 (Buddy’s Knife)
294 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-00-049279-2

2015darinVielleicht müsste am Anfang dieser Rezension erklärt werden, welchen Weg die Bücher durchlaufen, die im Jazzinstitut Darmstadt anlangen. Bevor wir uns die Bücher aussuchen, die wir rezensieren wollen, erfassen wir sie in unserem Jazz Index, einer computergestützten bibliographischen Datenbank, die von Forschern und Journalisten (und Fans) aus aller Welt genutzt wird. Das heißt, wir gehen das Buch von vorn bis hinten durch, ordnen jedes einzelne Kapitel einem Stichwort oder einem Musikernamen zu, tragen biographische Notizen wie etwa Geburtstag oder Geburtsort, nach, sofern sie in unserer Datenbank noch fehlen. Erst dann machen wir uns ans Lesen.

Aber schon bei diesem ersten Schritt des Erfassens fiel einiges auf beim Buch “Giving Birth to Sound”. Etliche der darin befragten Musikerinnen waren nämlich noch gar nicht in unserer Datenbank erfasst oder aber nur mit relativ kurzen bibliographischen Listen. Über sie wurde in der Jazzpresse bislang also nur wenig berichtet. Nun ja, mag man meinen, das hat sicher auch damit zu tun, dass Frauen ja so richtig erst in den letzten Jahren ins Rampenlicht des Jazz getreten sind. Weit gefehlt aber, und das war die zweite Überraschung: Viele Musikerinnen, die im Buch zu Worte kommen, gehören nämlich gar nicht der jungen (sagen wir: unter 40-jährigen) Generation an, sondern sind weit länger auf der Szene unterwegs. Die Gründe für ihre Unsichtbarkeit in der Jazzpresse mögen also doch woanders liegen.

Eine dritte Erkenntnis, die sich beim Durchblättern schnell ergibt, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Jede der Musikerinnen hat einen völlig anderen Zugang zum Thema. Mal analytisch, mal diskursiv, mal ausweichend, mal ablehnend, mal nüchtern gefasst, mal poetisch überhöht, mal kämpferisch, mal verteidigend. Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich schon in den Überschriften der Kapitel, die Renata Da Rin und William Parker aus der Frage “Was bedeutet Musik für Dich” abgeleitet hat. “Jeder Sound und jede Stille”, antwortet Renée Baker; “die Gründe für mein Leben”, sagt Amy Fraser; “ein abstrakter Ort, um das Leben zu teilen und zu fühlen”, meint Marilyn Mazur; “ein Lager der Erinnerungen”, findet Shelley Hirsch, “Leben, Magie, Geist”, beschreibt Maggie Nicols, oder aber, so Erika Stucky, “serious fun – a ‘Schnaps'”.

Oder aber die Einleitung: Nach dem Vorwort von Amina Claudine Myers haben die Herausgeber eine Anzahl von Reaktionen auf den Buchtitel zusammengefasst. “Giving Birth to Sound”? Schrecklicher Titel: Frauen wurden schließlich immer wieder aufs Gebären reduziert, meint eine der Gesprächspartnerinnen, während eine andere findet, der Titel passe, sei auch angenehm mehrdeutig. Naja, und bei allen Bedenken spräche der Titel ja auch vom Schaffen von etwas Neuem. Blödsinn, widerspricht eine weitere Stimme, Gebären sei doch eine passive, rein physische Tätigkeit, jede Kuh könne das. Musik zu erschaffen sei dagegen ein aktiver intellektueller Prozess und damit das exakte Gegenteil.

Das Konzept des Buchs: Ohne weitere Vorgaben schickten die Herausgeber den 48 Musikerinnen 20 Fragen, die vom Faktischen zum Nachdenken über den Prozess des Kreativen gehen, sich dabei immer wieder danach erkundigen, inwieweit das eigene Geschlecht bei musikalischen, ästhetischen oder beruflichen Entscheidungen eine Rolle gespielt habe. Tatsächlich sind nur sechs der Fragen konkret aufs Frau-Sein der Musikerinnen abgezielt: Wie hast Du deine Kreativität als kleines Mädchen ausgelebt? Wie hat die Tatsache, dass Du eine Frau bist, die Entwicklung Deiner musikalischen Karriere behindert? Wie siehst Du Deine Position als Frau in der Musikszene? Hat diese Position Dein Verhältnis zum Sound beeinflusst? Siehst oder spürst Du einen Unterschied im weiblichen und im männlichen Ansatz an Kreativität? Was würdest Du anderen / jungen Frauen empfehlen, die sich bemühen ein kreatives Leben zu führen?

Die Antworten auf diese und allgemeiner gehaltene Fragen fallen so unterschiedlich aus wie die Lebenswege der 48 Interviewten. Es macht nun mal einen Unterschied, ob man Ende der 1970er Jahre in Dänemark zum Jazz kommt wie Lotte Anker oder 1941 in Oklahoma wie Jay Clayton. Haben Männer und Frauen einen anderen kreativen Approach?, fragen die Herausgeber. “NEIN!” ruft Jay Clayton, in Großbuchstaben, keine weitere Diskussion duldend, während Marilyn Mazur einwirft, Frauen würden vielleicht weniger in Wettstreit treten, mehr ans Ganze und Kollektive denken. “Nein, ich sehe da keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen”, findet wiederum Amy X. Neuberg, um gleich anzuschließen, “das heißt aber nicht, dass es keine gäbe.” Klar gibt es einen Unterschied”, erklärt Kali Z. Fasteau, etwa, dass Männer in hierarchischen Systemen besser funktionierten als Frauen. Andererseits, urteilt Nicole Johänntgen, sei diese Frage ziemlich schwer zu beantworten, weil es nun mal so sehr viel mehr Männer als Frauen auf der Szene gäbe.

Nicole Mitchell beantwortet ihre Fragen in poetischen Erinnerungen und Reflexionen über schwarze Musik, den langen Atem der Bürgerrechtsbewegung und ihren eigenen Weg. Maggie Nicols auf der anderen Seite streicht heraus, dass ihre Musik immer sowohl politische wie auch spirituelle Untertöne besessen habe. Ob sie einen Preis bezahlt habe dafür, dass sie Musik mache, fragen die Herausgeber, und Angelika Niescier findet: Im Gegenteil, sie habe daraus sehr viel für sich gewonnen. Musikerin zu werden, sei nun mal eine Lebensentscheidung, finden auch viele ihrer Kolleginnen, niemand zwinge einen schließlich diesen Weg einzuschlagen.

Die weibliche Kreativität erlaube mehr “Raum”, meint Fay Victor, und zwar “sowohl mehr Raum im Sinn von Zeit und Raum wie auch mehr Raum für die Akzeptanz von Fehlern und Intuition”. Klar habe die Tatsache, dass sie eine Frau sei, ihr Verhältnis zum Sound beeinflusst, erklärt Joëlle Léandre. Frauen seien nun mal anders, sie hätten die Fähigkeit zur Distanz, die in diesem Geschäft wichtig sei, außerdem könne man mit ihnen viel besser lachen.

Sie sehen in dieser springend-vergleichenden Zusammenfassung einzelner Antworten bereits, wie ungemein gewinnbringend sich dieses Buch lesen lässt, wenn man blättert, Themen identifiziert, die die Herausgeber durch ihre Fragen ja nicht festgeklopft, sondern nur angestoßen haben, um dann zu sehen, welchen Kontext die verschiedenen Antworten beleuchten. Man erlebt die ja unabhängig voneinander befragten Musikerinnen bald wie in einer respekt- und kraftvollen Diskussion neugieriger, andere Meinungen (meistens) zulassender, vor allem aber ungemein selbstbewusster Musikerinnen.

Das Fazit des Buchs wusste man vielleicht schon vor der Lektüre: Eine einzelne Antwort auf die Frage nach dem kreativen Unterschied nämlich gibt es nicht. Der künstlerische Ansatz zwischen Männern und Frauen ist genauso unterschiedlich wie jener zwischen Männern und Männern oder zwischen Frauen und Frauen. Es gibt jedoch, und das wird in diesem Buch sehr deutlich, ein anderes Diskursverhalten, eine klare Selbstwahrnehmung der Rolle, in die man gesellschaftlich gedrängt wurde.

Unbedingt lesenswert also, ob von Buchdeckel zu Buchdeckel oder im laufenden Vor- und Zurückblättern. “Giving Birth to Sound” erklärt dem interessierten Leser nämlich in der persönlichen Selbstbefragung der Protagonistinnen und oft auch zwischen den Zeilen weit mehr über die Thematik, als man es etwa von wissenschaftlichen Studien erwarten dürfte.

[Naja, wir empfehlen dennoch den Besuch unseres Darmstädter Jazzforums zum Thema “Gender and Identity in Jazz” vom 1.-3. Oktober 2015 oder die spätere Lektüre unserer Beiträge zur Jazzforschung mit den referaten dieser Konferenz. Aber das ist natürlich nur Eigenwerbung…]

Wolfram Knauer (September 2015)


 

Beyond Jazz. Plink, Plonk & Scratch. The Golden Age of Free Music in London 1966-1972
von Trevor Barre
London 2015 (Compass Publishing)
330 Seiten, 12,99 Britische Pfund
ISBN 978-1-907308-84-0
Zu bestellen über trevorbarre@aol.com

Ekkehard Jost hat die Jahre zwischen 1960 und 1980 als eine Zeit beschrieben, in der Europas Jazz zu sich selbst fand, in der Musiker sich von ihren amerikanischen Vorbildern lösten und eigene Wege gingen. Einige dieser Wege führten fort vom, gingen also “beyond jazz”, und diese Entwicklung will Trevor Barre in seinem Buch mit demselben Titel nachzeichnen. Der Gitarrist Derek Bailey forderte eine Improvisation, die sich aus den idiomatischen Bezügen befreien, und auch andere Musiker begannen statt des Begriffs “Free Jazz” von “improvised music” zu sprechen. Barre interessiert, wie es überhaupt dazu kam, dass eine solch sperrige und alles andere als publikumsfreundliche Musik entstehen konnte und warum sie nicht angesichts ihres kommerziellen Misserfolgs einfach nach ein paar Jahren ausstarb. In seinem Fokus steht dabei die erste Generation der freien Improvisatoren, also Musiker wie Evan Parker, Derek Bailey, John Stevens, Kenny Wheeler, Barry Guy, Dave Holland, Trevor Watts, Tony Oxley, Paul Rutherford, Howard Riley, Eddie Prévost, Keith Rowe, Gavin Bryars und Cornelius Cardew.

Barre beginnt mit einer Definition seines Themas: Wo die meisten Jazzbücher den Jazz durch seine improvisatorischen Parameter beschreiben würden, sei Free Music, schreibt er, einzig durch den improvisatorischen Gehalt definiert. Er stellt unterschiedliche Formen freier Improvisation vor, solche, die näher am Jazz bleiben und solche, die eher der europäischen Avantgardetradition verpflichtet scheinen. Die beiden Hauptensembles seines Buchs sind das Spontaneous Music Ensemble und die Gruppe AMM. Barre ordnet deren Auftritte in die Jugend- und Protestkultur der 1960er Jahre ein und schildert, wie die globalen Entwicklungen von Pop, Rock und Folk jungen Musikern ein völlig neues Vokabularium an die Hand gab, sie auch zu neuen Herangehensweisen zwischen tiefer Ernsthaftigkeit und unbändigem Humor bewegten. Er beschreibt auch, welchen Platz sie in die Bandbreite des britischen Jazz jener Jahre zwischen Dixieland und Free Jazz hatten.

Barre zeichnet den Weg einzelner Protagonisten zur freien Improvisation nach, schildert insbesondere die Bedeutung des Little Theatre Club, in dem die jungen Musiker mit Kollegen auch aus dem europäischen Ausland experimentieren konnten. Er beschreibt, wie sie nach und nach merkten, dass es außer dem afro-amerikanischen Jazz auch anderes gab, dass beispielsweise südafrikanische Musiker um Chris McGregor dieser Musik eine neue Farbe geben konnten und dass sich Freiheit, wie sie der Free Jazz implizierte, auch ganz mit anderen Mitteln umsetzen ließ. Er diskutiert wichtige Aufnahmen der Zeit, wobei ihn vor allem die interaktiven Prozesse interessieren, die ästhetischen Diskurse, die sich aus der Improvisation der Aufnahmen ergaben. Das alles beleuchtet er anhand von zeitgenössischen genauso wie selbst geführten Interviews mit beteiligten Musikern. Das Spontaneous Music Ensemble und AMM nehmen zwei der umfangreichsten Kapitel ein, in denen Barre neben dein Einflüssen und den ästhetischen Diskussionen auch über Nachwirkungen schreibt, bewusste oder unbewusste Reaktionen auf die Klangexperimente in weit jüngerer Musik, der 1980er, 1990er Jahre und danach. Er betrachtet den Einfluss der Technologie, schaut auch auf die Bedeutung der visuellen Covergestaltung oder der Plattentexte. Das Label Incus nimmt ein eigenes Kapitel ein, wie FMP in Deutschland oder ICP in Holland ein von Musikern gegründetes Label, das Musik seiner Mitglieder nicht so sehr vermarkten als vielmehr dokumentieren wollte. Improvisation ist schließlich weit mehr als komponierte Musik auf das Medium der Tonaufzeichnung angewiesen – sonst verklingt sie.

In seinem Schlusskapitel betrachtet Barre kurz die “zweite Generation” der Free Music in London um das London Musicians’ Collective sowie eine “dritte Generation” um John Edwards, John Butcher und andere und setzt beide Entwicklungen mit jenem von ihm als “erste Generation” betrachteten Grundthema seines Buchs in Beziehung. Im Nachwort schließlich verfolgt er die Aktivitäten seiner Protagonisten bis in die Gegenwart.

Trevor Barres Buch ordnet die Entwicklung der Free Music der späten 1960er, frühen 1970er Jahre in die kulturelle Szene des “Swinging London” ein. Ihm gelingt dabei vor allem der Blick auf sich wandelnde ästhetische Ideale und eine Begründung derselben aus gesellschaftlichen und politischen Diskussionen heraus. Der Musik selbst kommt er vor allem in Interviews mit den beteiligten Musikern nahe. Die inhaltliche wie organisatorische Unabhängigkeit der britischen Improvisationsszene jener Jahre hat Auswirkungen bis heute. Initiativen wir F-Ire Collective wären ohne das Vordenken und Vormachen der hier beschriebenen Musiker und Gruppen nicht möglich gewesen. Von daher füllt Barres Buch eine Lücke. Dass er bestimmte Themen weitgehend außer Acht lässt – die Auseinandersetzung dieser Szene mit ihrem Publikum beispielsweise oder mit den Mainstream-Medien, der tatsächliche Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Szenen oder die Reaktion amerikanischer Musiker, zeigt nur, wie viele Perspektiven das Thema tatsächlich hat, die bislang kaum beleuchtet wurden. Barre jedenfalls stößt mit “Beyond Jazz” die Tür zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der musikalischen Freiheitsbewegung jener Zeit weit auf.

Wolfram Knauer (August 2015)


 

Little Satchmo. Living in the Shadow of my Father, Louis Daniel Armstrong
von Sharon Preston-Folta (mit Denene Millner)
Charleston/SC 2015 (self published)
112 Seiten, 12 US-Dollar
ISBN: 978-1-481227-23-7
Zu beziehen über www.littlesatchmo.com

2015prestonfoltaDie offizielle Version lautet: Louis Armstrong hatte nie Kinder. Er hätte immer gern welche gehabt, sagte seine letzte Frau und Witwe, Lucille Armstrong, aber er sei zeugungsunfähig gewesen. Nun kommt, 34 Jahre nach Satchmos Tod, Sharon Preston-Folta mit einem Buch heraus, in dem sie kundtut, sie sei die Tochter Louis Armstrongs aus einer außerehelichen Beziehung, die Satchmo in den 1950er Jahren hatte.

Ihr Leben lang habe sie diese Wahrheit herunterschlucken müssen. Sie wolle kein Geld, keinen Ruhm, aber immer selbst auf das öffentliche Wissen um ihren Vater verzichten zu müssen, sei einfach zu viel. In ihren Recherchen habe sie nur einen einzigen schriftlichen Hinweis auf Satchmos Vaterschaft gefunden, einen Brief des Trompeter an seinen Manager, Joe Glaser, aus dem Jahr 1955, in dem er diesen bat, vor der Ankunft seiner Frau Lucille in Las Vegas ein paar Geschäftsdinge zu klären, darunter Zahlungen an eine Freundin, von der er glaubt, dass sie ein Kind von ihm habe. Ihre Mutter habe sie immer beschworen, ihren Vater geheim zu halten, und so habe sie letzten Endes gehorcht und damit auch keine Ansprüche geltend gemacht auf sein physisches, historisches und finanzielles Erbe. Wenn sie etwas gekränkt habe bei ihren Recherchen, sei es, dass Louis Armstrong in seinen Briefen so offen über alles geredet habe, seine Musik, seine Kindheit, seine Liebe zum Essen und zu den Frauen, über Sex, sogar über seine Darmtätigkeit, dass er über seine Tochter aber sein Leben lang geschwiegen habe.

Warum er ihre Existenz verleugnet habe? Nun, erklärt Preston-Folta, Louis Armstrong sei ein gefeierter Künstler seiner Zeit gewesen und habe sich in der besten (weißen) Gesellschaft aufgehalten. Es habe einfach nicht gepasst, in dieser Zeit, wenn Nachrichten über ein uneheliches Kind mit einer Geliebten in die Schlagzeilen gekommen wären.

Prestons Mutter wurde 1921 in New York geboren und arbeitete bereits als 16-Jährige als Chorus Girl in diversen Shows. 1941 heiratete sie einen Tänzerkollegen; 1946 arbeiteten die beiden als Tanzpaar “Slim & Sweets” als Vorgruppen für große Swingorchester, unter ihnen auch Louis Armstrong, der sich mit ihnen anfreundete und in einen launigen Briefwechsel einstieg. 1950 starb Slim, und bei der Trauerfeier war auch Louis Armstrong dabei, der Lucille Preston in den Arm nahm und versprach: “Ich werde mich um dich kümmern.” In den nächsten vier Jahren reiste sie Pops hinterher und tauchte auf, wann immer Armstrongs in New York spielte. 1954 wurde Preston schwanger, und im November schrieb Satchmo ihr einen Brief, in dem er erklärt, wie sehr er sich auf das Kind freue und sogar vorschlägt, sie zu heiraten, sollte seine Frau (mit gleichem Namen Lucille) sich von ihm scheiden lassen. Armstrong war dann aber nicht dabei, als Sharon Louise (nach Louis) Preston am 24. Juni 1955 das Licht der Welt erblickte. Armstrongs rechtmäßige Ehefrau war “not amused” und habe ihm nach der Geburt der Tochter sogar vorgeschlagen, diese zu adoptieren, was ihre leibliche Mutter aber vehement ablehnte. Lucille (die Ehefrau) habe sogar die Alimente überwiesen, bis sie diese Aufgabe irgendwann Joe Glaser übertrug.

In ihrem Buch berichtet Sharon von den viel zu seltenen, sorgfältig geplanten und sehnsuchtsvoll erwarteten Treffen. Sie und ihre Mutter lebten eine Weile bei ihrem Onkel Kenny, der nach außen schon mal als Lucilles Ehemann auftrat und immer wieder auf seine Schwester eindrang, bei Satchmo mehr einzufordern: mehr Geld, mehr Fürsorge, am besten seinen Namen. Bei einzelnen Sommertourneen durfte Sharon mitreisen. Ansonsten aber war Satchmo vor allem durch die monatlichen Unterhaltszahlungen präsent, durch Broadway-Tickets, 1962 durch den Kauf eines Hauses in Mount Vernon, New York. In Harlem hatte sich niemand wirklich darum gekümmert, wie ihre Familienverhältnisse aussahen, erzählt Preston-Folta, in Mount Vernon aber begann eine Zeit der Lügen. Die Liaison dauerte ja bereits 12 Jahre, aber nach wie vor war nicht in Sicht, dass Armstrong auch öffentlich zu seiner Familie stehen würde. Mit zehn Jahren begriff Sharon erstmals, dass ihr Vater eine “andere Lucille” hatte, ein anderes Leben, das mit ihrem aber auch gar nichts zu tun hatte.

Etwas später seien sie gemeinsam in Atlantic City zu einem Auftritt Marvin Gayes gegangen, es habe einen Streit zwischen den Erwachsenen gegeben, bei dem ihre Mutter Satchmo fragte, wann er sie nun endlich zu heiraten gedachte, worauf er laut wurde: “Ich werde dich niemals heiraten” und mit Fingerzeig auf die Tochter fragte: “Sag mir einfach, was es kostet, für sie zu sorgen!” Das war das Ende der Beziehung.

Kaum war Armstrong gestorben, kamen auch die monatlichen Schecks nicht mehr. Ein paar im Voraus geleistete Zahlungen für Sharons Erziehung hielten sie und ihre Mutter über Wasser, mussten bald auch den Zuwachs zur Familie finanzieren, denn Sharon wurde mit 16 selbst Mutter. Sharon erzählt, wie ihr Leben weiterging, immer gezeichnet durch die Narben, die der fehlende Vater hinterlassen hatte. Irgendwann rebellierte sie gegen die eigene Bitterkeit und versuchte, das emotionale Band, das sie mit der verlorenen, nie gehabten Vergangenheit hatte, zu zerschneiden.

Sharon Preston-Foltas Buch endet mit einem Besuch im Armstrong House in Queens. Ein Anwalt hatte ihr empfohlen, einen Blick in Satchmos Testament zu werfen, das eine eidesstattliche Erklärung von Lucille, Armstrongs Frau, enthielt, Armstrong habe nie Kinder gehabt. Als Sharon diese Zeilen las, von Lucille eigenhändig korrigiert von “Der Verstorbene und ich hatten keine Kinder” in “Der Verstorbene hatte keine Kinder”, entschied sie sich, jetzt ihr Geschichte zu erzählen. Ihre Mutter, die sie immer zur Geheimhaltung gedrängt hatte, willigte endlich ein: “Mach, was Du meinst, dass du tun musst.”

Sharon Preston-Foltas Buch ist als eine Liebeserklärung an die von ihr immer vermisste Vaterfigur Louis Armstrong geschrieben, aber es ist eben auch eine leicht verbitterte Liebeserklärung geworden. An genügend Stellen legt man es zur Seite, unterschiedlich berührt von den Schuldzuweisungen, mit denen Preston-Folta ihre eigenen Lebensentscheidungen aus ihrer vaterlosen Kindheit und Jugend ableitet. Ein bedrückendes Schicksal, denkt man, und fragt sich zugleich, warum sie, die immer wieder von der DNA ihres Vaters schreibt, die in ihr fortlebe, nicht irgendwann, spätestens vor der Veröffentlichung dieses Buchs, auf einem DNA-Test bestanden habe. Doch ist es einem Kind, das sein Leben lang sicher ist, seine Eltern zu kennen, überhaupt zuzumuten, von einem auf den anderen Tag an der Tatsache der Vaterschaft zu zweifeln? Auch als skeptischer Leser sollte man jedenfalls für die Zeit der Lektüre erst einmal die Grundbehauptung der Vaterschaft Louis Armstrongs akzeptieren, sonst hat man wenig Spaß am Buch. Armstrong selbst schließlich scheint bis zu seinem Tod überzeugt davon gewesen zu sein, in Sharon eine Tochter gehabt zu haben.

Allen Fragen und sicher auch allen möglichen Zweifeln zum Trotz, die einem bei der überraschenden Enthüllung Sharon Preston-Foltas kommen mögen, lernt man einiges bei der Lektüre, und wenn nur, dass Scheinwerferlicht auch Schatten wirft, dass Stars wie Louis Armstrong das Leben vieler Menschen zum Teil viel direkter berührten, als man es wahrhaben mag, und nicht zuletzt, dass die Persönlichkeit großer Stars aus ihren emotionalen Stärken genauso besteht wie aus ihren emotionalen Unzulänglichkeiten. Am Glorienschein des großen Meisters mag das alles ein wenig kratzen; der Kraft seiner Musik tut es keinen Abbruch.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Theatrical Jazz. Performance, Àṣẹ, and the Power of the Present Moment
von Omi Osun Joni L. Jones
Columbus/OH 2015 (The Ohio State University Press)
270 Seiten, 99,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8142-1282-0

2015jonesDer Blick über den Tellerrand kann das Wesentliche erhellen, der Blick von außen Dinge erkennen lassen, die man im internen Diskurs oft nicht mehr sieht. Das ist einer der Hintergründe für die sogenannten “new jazz studies”, ein Konzept in der jüngeren Jazzforschung, das sich der untersuchten Materie neben der musikwissenschaftlichen Betrachtung interdisziplinär nähert. Die Feministin Omi Osun Joni L. Jones versucht in ihrem Buch eine Verbindung zwischen Jazzästhetik , theatralischer Performance und auf Yoruba basierender afrikanischer Theologie. Dabei beschreibt sie als eine der zentralen Prinzipien der Jazzästhetik die Fähigkeit, die eigenen intuitiven Kräfte freizusetzen. In ihrer Beschäftigung mit afrikanischer Spiritualität habe sie gelernt, dass auch in wissenschaftlichen Büchern die Auseinandersetzung mit spirituellen Impulsen nicht zu kurz kommen dürfte, ganz ähnlich wie dies auch Jazzgrößen wie John und Alice Coltrane immer gesehen hätten. Sie will mit ihrem Buch den Jazz gegen den Strich bürsten, seine Begriffe, Handlungen, Ausformungen kritisch hinterfragen, und zwar aus der Perspektive aller seiner unterschiedlichen Bedeutungen in musikalischer Ästhetik, Performance, gesellschaftlichem Spiegel, ethnischer Identität oder politischer Haltung. Es gäbe Kollegen, schreibt sie in ihrer Einleitung, die den Jazz als eine polyglotte Form ansähen und damit Gefahr liefen seine Wurzeln in der afro-amerikanischen Kultur zu leugnen. Tatsächlich aber sei die spirituelle Kraft nicht an irgendwelche Identitätsregeln gebunden. Die spirituelle Transzendenz des Jazz brauche keine Abwesenheit ethnischer Identität (“race”), sondern höchstens Abwesenheit solch einer ethnischen Identität (“race”) als Restriktion oder als Prognose.

Tatsächlich handelt ihr Buch allerdings zentral gar nicht von Musik, sondern vom Theater, und hier insbesondere von den drei Theaterautoren Laurie Carlos, Daniel Alexander Jones und Sharon Bridgforth. Jones bedient sich in ihrer Herangehensweisen an das Thema der feministischen und queeren Theorie, erklärt Wirkungen der Theaterperformance aus der Haltung des Jazz heraus und zugleich aus ihrer Interpretation von Yoruba-Traditionen. Als übergeordneten Approach versucht sie ihrem wissenschaftlichen Buch darüber hinaus aber auch improvisatorische Strukturen zu geben, indem sie Bilder, Fotos, Zeichnungen, Zitate einfließen lässt, die wie kurze solistische Kommentare neben ihrem Text stehen.

In ihrer Einleitung zitiert Jones einige Beispiele direkter Bezugnahme von Jazzmusikern wie Dizzy Gillespie und John Coltrane auf Yoruba-Beschwörungen, erinnert außerdem an die lebendige Avantgarde-Theaterszene von Austin, Texas, in der in den 190er Jahren die Verbindungen von Theater und Jazz besonders entwickelt wurden. Im ersten Kapitel betrachtet sie, wie biographische Erfahrungen die drei von ihr untersuchten Autoren prägten, Carlos’ Jugend im New Yorker East Village, Jones’ Aufwachsen im Arbeiterklasse-Milieu von Springfield, Massachusetts, Bridgforths Bustrips durch die verschiedenen Viertel von Los Angeles. Sie analysiert die dem Jazz nahestehenden Praktiken von Lehrer und Schüler im Theater, deren Lernprozesse dabei immer gegenseitig sind. Das zweite Kapitel untersucht Performance-Methoden, Ansätze an Regie, Probenphasen, das Beziehung-Herstellen zum Publikum, die Auswahl der Schauspieler, aber auch das Zulassen spiritueller Erfahrung im Verlauf der Performance. Im dritten Kapitel schließlich fragt sie danach, was die Performance beim Publikum (sie spricht gern von “witnesses” = Zeugen) auslöst, wie sie zu einer Perspektivverschiebung führen kann, einer aktiven Partizipation des Publikums, die das eigentliche Ziel aller Beteiligten sei.

Wenn ich Jones zu Beginn dieser Rezension in die Nähe der “new jazz studies” gestellt habe, so muss ich diese Aussage zumindest zum Teil revidieren. In den New Jazz Studies werden Aspekte des Jazz möglichst von vielen Seiten (und mit unterschiedlichen Methoden) betrachtet. Jones geht den entgegengesetzten Weg: Sie nutzt, was sie vom Jazz gelernt hat, um ihr eigentliches Thema, die Performance im Theater genauer zu definieren. Sie erkennt im Jazz Kommunikations- und Tradierungsmodelle, die so beispielhaft sind, dass sie ein anderes Genre besser verstehen lassen, vielleicht sogar Modell stehen können für neue, weitreichendere Regie- oder Performance-Ansätze. Ihr Buch ist darin so weitsichtig wie der Versuch früherer Literaturwissenschaftler wie Houston Baker, insbesondere den Bereich der afro-amerikanischen Literatur (aber durchaus darüber hinaus) durch die schon von Ralph Ellison oder Albert Murray identifizierte Blues Aesthetic zu beschreiben. Beide nahmen dabei sehr bewusst auf westafrikanische kulturelle Traditionen, Praktiken und Symbole Bezug, für den ungeübten Leser einerseits manchmal etwas schwer nachvollziehbar, gerade dadurch aber die Argumentation auch angenehm schnell aufbrechend und Rückschlüsse erlaubend.

Wenn nämlich die Praxis des Jazz als Erklärungsmodell für andere künstlerische Praktiken taugt, dann wirft das ein ganz anderes Licht auch auf den Stellenwert von Jazz und Improvisation.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


The Long Shadow of the Little Giant. The Life, Work and Legacy of Tubby Hayes
von Simon Spillett
Sheffield 2015 (Equinox)
377 Seiten, 19,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78179-173-8

2015spillettWie Hans Koller oder Lars Gullin war der britische saxophonist Tubby Hayes eine der europäischen Jazzgrößen, die ihren Kollegen genauso wie ihrem Publikum klar machten, dass der Jazz zwar eine afro-amerikanische Musik war, dass aber Europäer das Idiom durchaus beherrschten und ihre eigenen Beiträge zur Tradition des Jazz leisten konnten. Hayes kam aus der Swing-Mainstream-Tradition des Jazz, nahm erst Bebop, Hardbop, schließlich Einflüsse des Spiels John Coltranes in seinen Stil auf und starb 1973, gerademal 38 Jahre alt, in Folge einer Herz-Operation.

Dem Autor und Saxophonisten Simon Spillett gelingt es in seinem Buch “The Long Shadow of the Little Giant” mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews und Material aus Hayes’ persönlichem Archiv das Leben und die musikalische Karriere des Saxophonisten in den Jahren vom bombenerschütterten London der Nachkriegszeit über die jazzigen 1950er Jahre und die Swinging Sixties bis hin zur großen Krise des Jazz Anfang der 1970er Jahre nachzuzeichnen.

Hayes wurde in eine musikalische Familie geboren – sein Vater leitete in den 1930er Jahren verschiedene Tanzorchester, seine Mutter war Revuesängerin und -tänzerin. Schon früh war er vom Saxophon fasziniert, begann aber im Alter von acht Jahren erst einmal mit Geigenunterricht, und bekam schließlich zum elften Geburtstag das langersehnte Saxophon, das er größtenteils autodidaktisch meisterte. Er hatte ein gutes Gehör, und der Geigenunterricht hatte ihn zu einem exzellenten Notisten gemacht. Er hörte Charlie-Parker-Platten und bewegte sich in Kreisen Gleichgesinnter, spielte bald mit Ronnie Scott, Alan Skidmore und Kenny Baker, mit dem er im Juli 1951 auch seine ersten Aufnahmen machte.

Die Baker Band hatte jede Menge Fans, und die Presse wurde schnell auf Hayes aufmerksam, der bald als “boy wonder tenorist” vermarktet wurde und, noch nicht einmal 20 Jahre alt, mit den Modernisten der britischen Jazzszene spielte. Mit 18 heiratete er zum ersten Mal, hatte schon zuvor alle möglichen Drogen ausprobiert. Er spielte in den populären Bands von Vic Lewis, Jack Parnell, Tony Hall und hatte schließlich auch mit seiner eigenen Band einen vollen Terminkalender.

Spillett beschreibt, wie britische Musiker in jenen Jahren das US-amerikanische Idiom des Hardbop gemeistert hatten, die Musik von Art Blakey und Horace Silver, und wie Kollegen wie Sonny Rollins oder Hank Mobley ihre stilistischen Spuren in Hayes’ Spiel hinterließen. 1958 traten Hayes’ Jazz Couriers neben dem Dave Brubeck Quartet bei einer Tournee durch sechzehn Städte des Vereinigten Königreichs auf; 1959 wurde Hayes vom Melody Maker zum besten Tenorsaxphonisten gewählt.

Andere Musiker hatten die Entwicklung des amerikanischen Jazz genauso interessiert mit verfolgt; und um 1960 kamen erste Versuche “freier Form” auch in England an. Joe Harriott war einer der ersten, die sich an freieren Spielweisen versuchten; Hayes aber blieb skeptisch. Die Eröffnung von Ronnie Scott’s, bis heute einem der wichtigsten Clubs des Königreichs, war sowohl für die Präsenz des amerikanischen Jazz in England wichtig als auch für das Selbstbewusstsein der eigenen Szene. Der BBC schnitt Konzerte mit, und Plattenfirmen widmeten dem heimischen Jazz eigene Alben. 1961 trat Hayes erstmals in New York auf, wo ihn die Größen des amerikanischen Jazz hörten, unter ihnen Zoot Sims, Al Cohn und Miles Davis. Zurück in England erhielt er einerseits eine eigene Fernsehshow, “Tubby Plays Hayes”, hörte er andererseits erstmals John Coltrane, der sein Bild von den Möglichkeiten im Jazz genau wie das vieler anderer Kollegen völlig veränderte.

Als Duke Ellington 1964 in England auftrat, jammte Hayes mit Bandmitgliedern und wurde vom Duke gebeten für Paul Gonsalves einzuspringen, als dieser unpässlich war. In den nächsten Jahren war Hayes international unterwegs, trat im New Yorker Half Note genauso auf wie beim NDR Jazz Workshop in Hamburg. Er arbeitete wie besessen, hatte zugleich gesundheitliche Rückschläge, darunter eine Thrombose, die auch seine Lungenfunktion herabgesetzt hatte.

Ende der 1960er Jahre hatte der britische Jazz zwei Probleme: die Macht der Rockmusik auf der einen Seite und das Verlangen des Publikums nach amerikanischen Künstlern auf der anderen Seite. Hayes erlitt auch persönliche Rückschläge, etwa als seine Freundin starb und er daraufhin noch stärker zu Drogen griff. Er musste wegen Herzproblemen immer häufiger in ärztliche Behandlung, begann aber trotz aller gesundheitlichen Probleme ein musikalisches Comeback. Er spielte mit Musikern der britischen Avantgarde, John Stevens, Trevor Watts, Kenny Wheeler, beteiligte sich bei einem Benefizkonzert für Alan Skidmore, der nach einem Autounfall im Krankenhaus lag, starb aber schließlich nach einer Operation, bei der eine Herzklappe ausgetauscht werden sollte.

“The Long Shadow” heißt das Buch, und so widmet Spillett sein letztes Kapitel der kritischen Aufbereitung seiner musikalischen Bedeutung nach seinem Tod sowie dem Nachwirken Hayes’ auf der britischen Szene. Er schließt mit einer Diskographie die Aufnahmen des Saxophonisten zwischen 1951 bis 1973 verzeichnet.

Simon Spillett hat viel Sorgfalt in seine Recherchen gesteckt. Nebenbei wirft er immer wieder aufschlussreiche Blicke auf die Musik selbst, auf die Aufnahmen, die Hayes’ musikalische Entwicklung dokumentieren. Wenn überhaupt, so mangelt es dem Buch insbesondere in diesem Segment an Tiefe, etwa an Erklärungen, wo sich Einflüsse, ästhetische Umbrüche und anderes konkret festmachen lassen. Eingehend aber beschreibt er den Lebensweg, die persönlichen Probleme, die musikalischen und ästhetischen Entscheidungen und zieht die Verbindungen zu den allgemeinen Entwicklungen des Jazz in Großbritannien, in Europa und in den Vereinigten Staaten. Spillett konnte mit Zeitzeugen sprechen und hatte Zugriff auf Hayes’ persönliche Papiere. Sein Buch ist eine definitive Biographie, die viele Fragen beantwortet und dabei im umfassenden Apparat all die Dokumente benennt, die für eine solche Arbeit notwendig sind.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Musiktraumzimmer Jazzcampus
herausgegeben von Peter Rüedi & Steff Rohrbach
Basel 2015 (Jazzcampus / Echtzeit Verlag)
212 Seiten, 32 Euro
ISBN: 978-3-905800-78-4

B2015rueediasels Jazzschule ist zum Jazzcampus geworden, zu einer Hochschule für improvisierte Musik, in der, wie der Titel dieses Buchs suggeriert, jede Menge an Träumen und Visionen wahrgeworden sind. Da ist zuallererst die Vision des Gründers und Gitarristen Bernhard Ley, der erzählt, wie er die Schule in den Räumen eines Jugendkulturzentrums gründete und wie er es dann durch pädagogisches wie politisches Geschick, aber auch durch das Talent der Vernetzung, das die Schule zum Teil des Basler Kulturlebens werden ließ, erreichte, sie zu einem Kompetenzzentrum zu machen, in dem der musikalische Gehalt, die Arbeit von Lehrenden und Schüler/innen, sich auch in der architektonischen Umsetzung spiegelt.

Davon nämlich handelt dieses Buch, vom glücklichen Unterfangen, auf den Grundrissen einer ehemaligen Maschinenfabrik eine Musikschule zu bauen mit all der für eine solche notwendigen Infrastruktur, Club, Konzertsaal, Tonstudio, Probenräume etc. Ein Musiktraumzimmer sei das ganze geworden, eine Raumrealisation also, die dem Thema “Jazz” angemessen sei. Mitgeholfen hätten alle, die Architekten Lukas Buol und Marco Zünd, der Bauherr Georg Hasler von der Stiftung Levedo sowie Bernhard Ley, der als Studiengangsleiter den zukünftig alltäglichen Gebrauch im Blick behielt. Das Gespräch mit diesen vieren erklärt Fragen der Akustik, Diskussionen im Planungsverlauf, die Außenwirkung genauso wie den inneren Glanz (sprich: Farben, Bodenbeläde, Beleuchtung).

Solch eine theoretische Diskussion lässt sich nur durch Fotos und Raumpläne in Buchform einfangen. Eigentlich gehört Musik dazu, noch wichtiger wäre der tatsächliche Raumeindruck, der aber in der Architektur immer noch einzig durch einen Besuch ermöglicht wird.

Um die tatsächliche musikalische und pädagogische Nutzung der Räume geht es im zweiten, noch umfassenderen Teil des Buchs: um Konzepte der Jazzpädagogik, persönliche Herangehensweisen an Musik, ästhetische Vorstellungen, die Rückwirkung von Unterricht auf die eigene Kunst der unterrichtenden Musiker.

Wolfgang Muthspiel etwa betont, wie wichtig es neben einem festen Lehrerstamm sei, großartige internationale Kollegen als Gastdozenten an die Schule zu holen. Andy Scherrer erzählt, wie er zum Unterrichten wie die Jungfrau zum Kind gekommen sei, und wie er trotz vieler Schüler immer eine gesunde Skepsis gegenüber des Unterrichtens beibehalten habe. Malcolm Braff erklärt, dass er nicht so sehr das Klavier denn vielmehr sich selbst als das wirkliche Instrument empfinde und wie er in den letzten Jahren eine rhythmische Theorie entwickelt habe, die auch Grundlage seines Unterrichts an der Hochschule sei. Lisette Spinnler versteht die Stimme als Instrument und Texte als Ausgangspunkt für musikalische Erkundungen. Adrian Mears plädiert auch beim Lernen für Spielpraxis, egal mit was für Besetzungen. Bänz Oester vertraut auf die Motivation zukünftiger Musiker/innen, auf die Verantwortung für das Selbst, das Eigene. Domenic Landolf mag sich weder verbiegen noch sonderlich in den Vordergrund spielen. Jorge Rossy spricht über die Standards als Basis und über seine Arbeit mit Carla Bley und Steve Swallow. Matthieu Michel überlegt, wie man als junger Musiker neben der Technik vor allem zu einer eigenen Stimme gelangt. Hans Feigenwinter sieht seine analytischen Fähigkeiten als eine Grundlage seines Musikmachens, zugleich aber die Musik auch als laufenden Ansporn, sie analytisch zu begreifen. Gregor Hilbe berichtet über die Bedeutung des Schlagzeugers in einer rhythmischen Kultur, und zugleich über die Idee des Producing / Performance-Studiengangs am Jazzcampus Basel. Daniel Dettmeister hatte die Chance, als Tonmeister selbst Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung des Aufnahmesaals der Hochschule. Mit Martin Lachmann kommt zum Schluss auch noch der Akustiker selbst zu Wort, der die Räume eingerichtet hat.

Eine bunte Abfolge von Interviews, Reflexionen und Fotos also, die sehr umfassend das Konzept klarmachen, dass hinter dem Jazzcampus Basel steckt: Freiräume schaffen und beste akustische Möglichkeiten. “Musiktraumzimmer Jazzcampus” ist damit zwar vordergründig eine in Buchform gepresste Imagebroschüre der Hochschule, zugleich aber erheblich mehr: ein Manifest für eine Jazzausbildung, in der Kunst und Wirklichkeit, Klang und Akustik, Pädagogik und Freiheit sinnvoll miteinander in Beziehung stehen.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Résume. Eine deutsche Jazz-Geschichte
von Eberhard Weber
Stuttgart 2015 (sagas.edition)
252 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-944660-04-2

2015weberDer Autor kommt gleich zur Sache: Der Leser wisse ja bereits, dass er, Eberhard Weber, gut 40 Jahre lang als Jazzbassist aktiv war, vielleicht auch, dass er seine aktive Karriere nach einem Schlaganfall 2007 beenden musste. Der Leser wisse wahrscheinlich etliches über seine Karriere, wahrscheinlich auch über den Jazz – was könne er dazu noch beitragen…? Nun, wenn überhaupt, dann könne er aus seinen eigenen Erinnerungen erzählen, sehr persönliche Geschichten, die sich um die Musik drehen, die aber auch sein ästhetisches Weltbild und vieles darüber hinaus berühren. Webers Buch wird so zu seinem “Resumé”. Und es mag vielleicht nicht “die” deutsche Jazzgeschichte sein, aber es ist auf jeden Fall, wie der Untertitel verspricht, “eine deutsche Jazz-Geschichte”, ein Beispiel dafür, wieso ein junger Mann zu dieser Musik kommt, was ihn über all die Jahrzehnte an ihr faszinierte und wie er lernte, in ihr sich selbst auszudrücken.

Eberhard Weber, dem musikalischen Geschichtenerzähler, gelingt der narrative Bogen auch in Worten. Bereits das Eingangskapitel, das vom “Schlag” handelt, der ihn kurz vor einem Konzert mit Jan Garbarek in der Berliner Philharmonie traf, von der Unsicherheit über seinen Gesundheitszustand, von der Hoffnung, wieder spielen zu können, zeigt seine erzählerischen, auch zur Selbstironie fähigen schriftstellerischen Qualitäten.

Im zweiten Kapitel widmet sich Weber seiner eigenen Vorstellung von Jazz. “Jazz”, schreibt er ironisch, doch nicht ganz falsch, “ist, wenn es der Komponist, der Arrangeur oder der ausführende Musiker dem Hörer so schwer wie möglich macht, der Musik zu folgen – und trotzdem alle Spaß daran haben. Das unterscheidet ihn von der vermeintlich ‘Neuen Musik’.” Doch neben dem Jazz als großer Kunst will Weber in diesem Kapitel auch seiner eigenen Ästhetik auf die Schliche kommen. Wiederholungen, erkennt er, langweilen ihn in der Regel; die Schlüsse von Stücken, findet er, misslingen meist. Er weiß, dass Solisten auch mal ohne Inspiration sein können und weiterspielen müssen. Er weiß auch um seine eigenen Schwächen als Bassist und beschreibt, wie man nur, wenn man um die technischen Probleme des eigenen Spiels oder des eigenen Instruments weiß, diese überkommen und kreativ mit ihnen umgehen könne.

Weber selbst wurde die Musik in die Wiege gelegt. Sein Vater, erzählt er, hatte als Cellist klassische Musik gemacht, daneben aber auch Cello und Banjo im Tanzorchester von Bernard Etté gespielt. Weber kam mitten im Krieg in Esslingen zur Welt. Seine Mutter sang, und “im häuslichen Weber’schen Freundeskreis”, erinnert er sich, “triumphierte Gesang über Instrumentales”– vielleicht eine Vorbereitung auf seine eigene sangliche Haltung beim Instrumentalspiel? Gehörbildung fand im Kinderzimmer statt, wenn seine Schwester und er Automarken am Klang unterschieden und dabei lernten zuzuhören und zu differenzieren. Ein Vetter quartierte sich nach der Kriegsgefangenschaft bei ihnen ein und begann Flöte zu lernen. Man diskutierte über Wagner und spielte Kammermusik. Weber bekam Cellounterricht, dann entdeckte er den Jazz und mit ihm wechselte er zum Kontrabass.

Im Jazz brachte er sich das meiste selbst bei, berichtet von ersten Bühnenerfahrungen, von Stuttgarter Jazzern wie Horst Fischer und Ernst Mosch, vom ersten Einsatz in Erwin Lehns Orchester als Vertretung für dessen regulären Bassisten. Seine musikalische Leidenschaft führte dazu, dass Weber durchs Abitur rasselte, eine Lehre als Fotograf begann und Kameraassistent bei einer Fernsehfirma wurde. Nebenbei spielte er mit gleichaltrigen Musikern, lernte Anfang der 1960er Wolfgang Dauner kennen und wurde bald Mitglied in dessen Trio. Er erzählt von den unterschiedlichsten Auftrittsorten zwischen Nachtclub, Café, Tanz und Ami-Kaserne, von Einflüssen auf sein Bassspiel, davon, wie das Dauner-Trio seinen eigenen Stil fand. Zwischendurch gibt es reichlich Anekdoten, aber auch Einblicke in die technischen Seiten seiner Kunst: Instrumentenwahl, Akustik, Pickups, Verstärker, elektronische Spielereien.

Ende der 1960er Jahre wandten Dauner und Weber sich freieren Spielweisen zu. Weber weiß um seine Beobachtungsgabe, weiß auch, dass er sich gern mal zur Polemik hinreißen lässt. Doch er besitzt eben auch die Erfahrung, Beobachtetes, insbesondere, wenn es um Musik geht, passend einordnen zu können. Und so mag man mit mancher polemischen Äußerung, die seinem eigenen musikalischen Geschmack zuzuschreiben ist, nicht übereinstimmen, wird aber an richtiger Stelle durch ein Augenzwinkern darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor zwar eine feste Meinung hat, sich selbst aber auch nicht immer ganz so ernst nimmt.

Weber stand in seiner Karriere bei zwei Plattenfirmen unter Vertrag, die Weltgeltung besaßen, Hans-Georg Brunner Schwers MPS und Manfred Eichers ECM. Er beschreibt die Arbeiten zu “The Colours of Chloë” und den folgenden internationalen Erfolg. Er erzählt vom Zusammenspiel mit Gary Burton, von den Unterschieden zwischen amerikanischen und europäischen Gepflogenheiten in der Jazzszene, von Tourneen mit seiner eigenen Band Colours, durch Deutschland – Ost und West –, die USA und Australien. Er berichtet von seiner Zusammenarbeit mit Jan Garbarek, mit dem er auch offizielle Empfänge spielte, bei denen Politiker, Botschafter, Bundespräsidenten, gekrönte Häupter begeistert waren, “endlich mal kein Streichquartett hören zu müssen”.

Eberhard Weber ist ein vielgereister Musiker. Seine Berichte von Zollformalitäten, Einreisebestimmungen, fasst verpassten Flügen und sonstigen Widrigkeiten sind amüsante Anekdoten, die vor Augen führen, dass das Musikerdasein nicht nur der aus musikalischer Kreativität besteht, die das Publikum erwartet und zumeist auch bekommt. Eine Professur für Musik hatte er nie annehmen wollen. Seine Begründung, die wie ein Tenor seine ungemein flüssige und lesenswerte Autobiographie beendet: “Ich kann nicht Bass spielen. Aber ich weiß, wie’s geht.”

Wolfram Knauer (Juni 2015)


Coltrane sur le Vif
von Luc Bouquet
Nantes 2015 (Lenka Lente)
146 Seiten, 13 Euro
ISBN: 978-2-9545845-8-4

2015bouquetDie Großen des Jazz waren zumeist auch die Meistaufgenommenen, und neben den offiziellen Einspielungen im Studio gehörten über die Jahre Bootlegs dazu, Schwarzpressungen von legalen oder illegalen Mitschnitten, die in mal besserer, mal schlechterer Qualität auf den Markt kamen. Solche Bootlegs haben naturgemäß keine Studioqualität; zum Teil sogar einen unsäglich schlechten Sound. Aber sie sind nicht nur für den Fan, sondern auch für den Experten ein immens wichtiger Teil der Aufnahmegeschichte dieser Musiker. Sie dokumentieren nicht die perfekte Abmischung, sondern den Alltag des Konzerts, in dem das Solo völlig anders klingen kann, in dem die Künstler mit dem Material oder auch mit sich selbst zu kämpfen haben, in dem mal bessere, mal schlechtere Fassungen der großen Titel erklingen, vergleichen mit den auf den im Studio gefertigten Referenzaufnahmen.

Luc Bouquet hatte im französischen Magazin Improjazz eine Reihe über die Liveaufnahmen John Coltranes veröffentlicht und diese jetzt in die zwölf Kapitel des vorliegenden Buchs einfließen lassen. Ein erstes Kapitel beschreibt Coltranes erste Aufnahmen aus dem Jahr 1946 sowie zwei Sessions mit Dizzy Gillespie bzw. Johnny Hodges. Kapitel 2 widmet sich den Jahren 1955-57 und Livemitschnitten mit Miles Davis, Kapitel 3 der Zeit von 1957-58 und den erst jüngst entdeckten und doch schon legendären Aufnahmen Coltranes mit dem Thelonious Monk Quartet. Zwei weitere Miles Davis-Kapitel schließen sich an, 1958-59 in den USA sowie 1960 in Europa, dann beginnt mit Kapitel 6 die Aufnahmegeschichte von Coltranes eigenen Bands: sein klassisches Quartett, Trane und Dolphy, die diversen Besetzungen von 1962, 1963, 1964-65 bis hin zu seiner letzten Liveaufnahme, dem “Olatunji”-Konzert vom April 1967. Jede der Platten wird mit Besetzungs- und Inhaltsangaben gelistet, dazu kommt eine kurze Beschreibung dessen, was auf ihr zu hören ist. Allzu tief versteigt sich Bouquet dabei weder in die Musik noch in die Begleitumstände der Aufnahmen – so wäre etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Entdeckungsgeschichte der Bänder von Tranes Carnegie-Hall-Konzerts mit Thelonious Monk durchaus berichtenswert gewesen.

Bouquets Buch ist als eine Art annotierte Diskographie der Liveaufnahmen John Coltranes ein nützliches Handbuch sowohl beim Hören wie auch bei der Entscheidungsfindung, was man sich vielleicht noch zulegen könnte.

Wolfram Knauer, April 2015Rencontres du jazz et de la musique contemporaine
herausgegeben von Jean-Michel Court & Ludovic Florin
Toulouse 2015 (Presses Universitaires du Midi)
184 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-2-8107-0374-6

Das vorliegende Buch ist die Dokumentation einer Tagung, die im Oktober 2013 in Toulouse stattfand und sich mit aktuellen Beziehungen zwischen Jazz und Zeitgenössischer (sogenannter “Neuer”) Musik beschäftigte. Im Vorwort stecken die beiden Herausgeber das Feld ab, das irgendwo zwischen Anthony Braxton und IRCAM-Experimenten angesiedelt ist und bei dem oft die Genrebezeichnung, ob “Jazz” oder “Neue Musik”, im Weg steht, da die Musik selbst solche Grenzen inzwischen gern und oft überschreitet.

Die Beiträge selbst sind theoretisch-musikwissenschaftlicher Natur. Im ersten Teil findet Vincenzo Caporaletti, dass die jüngere Entwicklung im Kunstmusikbereich neue wissenschaftliche Ansätze benötigt und stellt sein “principe autiotactile” vor, durch das sich sowohl für komponierte wie auch für improvisierte Musik die performativen Prozesse genauso analysieren ließen wie die ästhetischen Prozesse, die durch die Musik wie auch durch äußere, etwa mediale Einwirkungen mitbestimmt werden. Alexandre Pierrepont nähert sich der Frage, inwieweit die genre-spezifische Einordnung und Wertung von Musik aus den Bereichen europäischer klassischer Musik und des afro-amerikanischen Jazz nicht auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser zu Missverständnissen führt, wenn die Querverbindungen, die ja zwischen den Genres bestehen, oft und gern mit kulturellen Konnotationen versehen werden. Pierre Sauvanet betrachtet, wie das Moment der “Tradition” von Musikern im Jazz, der Neuen Musik und in tatsächlich “traditionellen” Musikrichtungen unterschiedlich behandelt wird.

Im zweiten Teil des Buchs geht es an konkrete Analysen. Pierre Fargeton befasst sich mit Franz Koglmanns langjähriger Auseinandersetzung mit dem Third Stream, der Neuen Musik und anderen Kunstrichtungen. Konkret untersucht er Koglmanns “Join!” eine “Oper” aus dem Jahr 2013 auf diverse Bezüge (1.) zum Jazz und (2.) zur Zeitgenössischen Musik. Martin Guerpin analysiert die Komposition “Unisono” des israelischen Komponisten Ofer Pelz und identifiziert darin insbesondere die Jazzverweise. Wataru Miyakawa untersucht das Werk des japanischen Komponisten Toru Takemitsu, in dem ihn vor allem der Einfluss des Lyrian Chromatic Concept von George Russell interessiert.

Im dritten Teil des Bandes berichtet der Gitarrist Frédéric Maurin darüber, wie er Methoden der Spektralmusik, die in den 1970er Jahren im Kreis der IRCAM in Paris entwickelt wurde, etwa für seine Band Ping Machine nutzbar macht. Cécile Auzolle untersucht das “Wintermärchen” des belgischen Komponisten Philippe Boesmans von 1999 und hat dabei Einflüsse aus dem jazz sowie improvisatorische Passagen im Fokus, die in der Oper vom Ensemble Aka Moon ausgeführt wurden. Henri Fourès hinterfragt die Begriffe Jazz, Zeitgenössische Musik, Komposition, Notation und Improvisation auf ihre Wertigkeit in der Hochschullehre. Zum Schluss berichten die Bassistin Joëlle Léandre, der Saxophonist Douglas Ewart und der Trompeter Mike Mantler über ihre eigenen Erfahrungen im Feld zwischen den Welten von Jazz und Neuer Musik.

“Rencontres du jazz et de la musique contemporaine” wirft ein Schlaglicht auf eine offenbar immer noch wichtige Diskussion in den beiden darin angesprochenen Welten. Der einleitende Überblick listet frühere Beschäftigungen mit dem Thema auf (hier fehlt allerdings der Band “Jazz und Komposition”, der das 2. Darmstädter Jazzforum von 1991 dokumentiert und in dem dieses Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet wurde). Sowohl in den allgemein theoretischen wie auch den konkreter praktischen Kapiteln fehlt ein wenig – aber das ist bei einer Tagung, die das nicht ausdrücklich zum Thema machte, vielleicht auch kaum zu leisten – die grundlegende Diskussion einer anders als aus dem europäischem Wissenschaftsdiskurs entstandenen Reflexion über Musik, eine Perspektive also, die sowohl Jazz wie auch die in europäischer Tradition stehende Neue Musik etwa aus dem Blickwinkel von Community, von Macht, von Geschlechterungleichheit oder ähnlichem betrachtet, sich dabei nicht auf die bestehenden meist europäisch gefärbten und genormten Diskurstraditionen einlässt, sondern mutig nach neuen sucht. Das von George Lewis und Benjamin Piekut 2016 herausgegebene Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies geht da einen anderen Weg, braucht, um das Thema abzudecken allerdings auch über 1000 Seiten.

Wolfram Knauer (März 2018)


Bunk Monk & Funk – and other attractions
von Anders Stefansen (& Jan Søttrup)
Kopenhagen 2012 (People’s Press)
248 Seiten, 249 Dänische Kronen
ISBN: 978-8771-37035-5

Anders Stefansen ist ein bisschen der Fritz Rau Dänemarks: ein Konzertveranstalter, der eher zufällig ins Geschäft kam, in den frühen 1960er Jahren für Norman Granz dessen Skandinavien-Tourneen organisierte (so wie dies Lippmann + Rau in Deutschland taten), später auch populärere Acts betreute, von den Beatles bis zu den Rolling Stones. In seiner Autobiographie erinnert sich Stefansen an die vielen Freundschaften zu Musikern, die er in seinem Berufsleben schließen konnte, an das Tourleben, an Probleme und ihre jeweilige Lösung, und an Begegnungen wie die mit John Coltrane, Andrés Segovia, Count Basie, Duke Ellington, Ben Webster, Cecil Taylor und vielen anderen. Er beleuchtet die Realitäten des Business, schwelgt aber vor allem in Erinnerungen. Wenn es dabei auch mehr um die Menschen geht als um die Musik, so ist die Lektüre seines Buchs dennoch erhellend nicht nur für diejenigen, die von seiner Arbeit als Konzertveranstalter profitierten, etwa weil sie selbst im Publikum saßen. Seine Anekdoten beleuchtet zugleich eine ungewöhnliche Karriere zwischen Musik und guter Küche (Stefansen eröffnete eines der ersten French Cuisine Restaurants in Dänemark). Und seine Anekdoten über Henry Miller, den er traf, als er den Film “Ruhige Tage in Clichy” produzierte, sind besondere Zugaben der Lektüre.

Wolfram Knauer (Januar 2018)


Fashion and Jazz. Dress, Identity and Subcultural Improvisation
von Alphonso D. McClendon
London 2015 (Bloomsbury Academic)
194 Seiten, 24,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-85785-127-7

Von den Banduniformen der Swingorchester über die Gardenie im Haar von Billie Holiday bis zu Wynton Marsalis’ in Brooks Brothers-Anzüge gekleidetes Lincoln Center Jazz Orchestra: Jazzmusiker waren immer auch Mode-Ikonen. Miles Davis mag diese Facette seines Bühnenlebens am stärksten ausgelebt haben, doch findet sich das Bewusstsein für die Bühnengarderobe durch die Jazzgeschichte. Als Art Blakey seiner Band in den 1970er Jahren für eine Weile erlaubte, in Straßenklamotten aufzutreten, war das eine Ausnahme. Er wie andere Musiker wussten, dass sie als afro-amerikanische Künstler Vorbildfunktion hatten.

Alphonso D. McClendon ist Modeforscher und hat sich in seinem Buch “Fashion and Jazz” dem Subtext der Musikergarderobe durch die Jazzgeschichte angenommen. Ihm ist wichtig, auf die gegenseitigen Einflüsse zwischen Jazz und Mode hinzuweisen, wie er gleich im ersten Kapitel deutlich macht, in dem er Parallelen und Einflusswege nennt, dass nämlich sowohl Mode wie auch Jazz auf ihre jeweilige Art und Weise vom Freiheit des Ausdrucks handeln. Es habe im Jazz durchaus eine “Sprache der Kleidung” gegeben, sagt er – will heißen: die Bühnenpräsentation hatte immer auch etwas zu bedeuten, und Kleidung habe zur visuellen Ästhetik von Jazzmusikern beigetragen, ob in der Performance auf der Bühne oder in Abbildungen.

Im zweiten Kapitel geht McClendon das Thema dann chronologisch an. Er beschreibt die Mode der Ragtime-Ära und der Bluesmusiker, die Bühnenkostüme von Swing-Musikern und die Selbstdarstellung der Bebopper, die zugleich “die Konstruktion eines subkulturellen Stils” gewesen sei, und stellt schließlich fest, das sowohl Mode wie auch Jazz ähnliche Perioden von Konformität (1900-1920), populärem Einfluss (1920-1940) und Widerstand (1940-1960) durchgemacht hätten.

Kapitel 3 diskutiert Momente “der Moderne” bzw. “des Modernen” und die Kommunikation beider durch Mode und Spielpraktiken im Jazz. Im vierten Kapitel beschreibt McClendon Strategien der Distinktion durch Jazz und Mode, um sich im fünften Kapitel etwa auf die Darstellung von Frauen und Männern in frühen Sheet-Music-Covers zu konzentrieren. Kapitel 6 diskutiert subversive Konnotationen, die sich etwa in Texten von Bluessängerinnen finden oder im Eingang von Jazzthemen in die Literatur oder den Film. Kapitel 7 ist überschrieben “Narcotics and Jazz: A Fashionable Addiction” und beschreibt unter anderem, wie elegante Kleidung auch helfen konnte ein Leben im Schatten der Drogensucht zu verschleiern. Kapitel 8 fokussiert auf Billie Holiday als Musik- wie Mode-Ikone; Kapitel 9 beschreibt Duke Ellington und Benny Carter als “traditionellen Dandy” sowie Dizzy Gillespie und Gerry Mulligan als “modernen Dandy” und blickt kurz darauf, wie amerikanische Präsidenten wie Bill Clinton und Barack Obama ihre Nähe zum Jazz als Imagefaktor ausnutzten.

McClendons Buch reicht leider nur bis ins Jahr 1960 und verpasst damit die politische Garderobe von Dashikis, schwarzen Lederjacken oder soul-beeinflusster Hipstermode der 1960er und 1970er Jahre, thematisiert also auch nicht die Rückkehr zur ordentlichen Garderobe mit Aufkommen der Young Lions der 1980er Jahre. Er thematisiert damit weder die modetechnische Annäherung zwischen den Genres, etwa in Richtung Rock oder auch Neue Musik, noch die Unterschiede etwa in im Modeverhalten amerikanischer und europäischer Musiker. Doch gelingt ihm in diesem eigentlich auf der Hand liegenden und doch so ganz anderen Blick auf Jazzgeschichte eine Perspektive, die Aufschluss über Imagebildung, Selbstverständnis der Künstler und die gegenseitige Beeinflussung von Image und künstlerischem Anspruch erlaubt. Etliche Bilder, eine ausführliche Bibliographie und ein Namensindex schließen das Buch ab.

Wolfram Knauer (August 2017)


Sales Rectangles. Daunik Lazro. Vieux Carré
von Guillaume Belhomme
Nantes 2015 (Lenka Lente)
44 Seiten, 1 Mini-CD, 9 Euro
ISBN: 978-2-9545845-9-1

Am 21. Mai 2011 spielte der Saxophonist Daunik Lazro ein inspiriertes unbegleitetes Solokonzert in einen Buchladen in Rouen. Guillaume Belhomme versucht die Stimmung des Konzerts einzufangen, indem er eines der Stücke Lazros, eine lange Improvisation über Joe McPhees “Vieux Carré” mit kurzen Blicken in die Bücher, die um ihn herum stehen und liegen, verbindet. Seine knappen, aus jeweils nicht mehr als einem Satz bestehenden Kommentare lassen sich den diesen Büchern allerdings erst zuweisen, wenn man sie anhand der im Büchlein abgedruckten Barcodes (bzw. die diesen beigefügten ISBN-Nummern) sucht. Und tatsächlich gelingt es Belhomme dabei ein wenig, jene Stimmung eines Konzerts im Buchladen einzufangen, bei dem die Konzentration auf die Musik von den Blicken zu und in die Bücher, von der Wahrnehmung der Atmosphäre, von kurzen Reflektionen darüber, was man da aufblättert, während man zugleich zuhört, unterbrochen, aber durchaus auch bereichert wird. Ein ungewöhnliches, durchaus inspirierendes Experiment, das den Leser / Hörer quasi subkutan auf die Komplexität der Wahrnehmung von Musik aufmerksam macht.

Wolfram Knauer (März 2017)


Spirits Rejoice! Jazz and American Religion
von Jason C. Bivins
New York 2015 (Oxford University Press)
369 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-023091-3

Jazz und Spiritualität sind für viele Musiker eine zusammenhängende Einheit. Duke Ellington, John Coltrane, Albert Ayler, Rahsaan Roland Kirk, Yusef Lateef, Anthony Braxton – die Liste der Musiker, für die ihre musikalische immer auch eine spirituelle Suche war, ist lang. Der Religionswissenschaftler und Jazzgitarrist Jason Bivins beleuchtet in seinem Buch dieses Verhältnis zwischen Religion und Musik anhand zahlreicher Beispiele und legt, gerade weil er seine Studien aus der Perspektive eines Religionsforschers und mit dem Wissen eines Jazzers macht, ein wichtiges Buch vor, in dem das Thema weit fundierter angegangen wird als in vielen Biographien der bereits genannten Musiker.

In seinen “ersten Meditationen” zum Thema stellt Bivins fest, dass Jazz genauso wie Religion in ihrer jeweiligen Individualität der Wahrnehmung schwer fassbare Gebilde seien. Er weiß um die ganz unterschiedlichen Ausprägungen des Religiösen oder Spirituellen gerade in der Musik, die irgendwo zwischen Ritual und Weltforschung liegt. Er fragt, wie sich das spirituelle Umfeld, aus dem Musik heraus initiiert oder rezipiert wird, auf die Musik selbst auswirkt. Er befasst sich mit konkreten Traditionen, auf die Jazz sich immer wieder bezog. Er betrachtet Beispiele, in denen mit Jazz amerikanische Geschichte genauso wie religiöse Aspekte derselben dargestellt werden. Er befasst sich mit Jazz in religiös-musikalischer Praxis. Er hinterfragt das Klischee von Jazz als rituelle oder heilende Praxis. Er diskutiert Verweise im Jazz auf Mystizismus, Selbstlosigkeit, die klangliche Verbindung zu einem höheren Wesen. Es untersucht Kosmologien und metaphysische Theorien im Jazz. Er will damit nicht nur Aspekte der Jazzgeschichte durch ihre Verankerung in religiösen Praktiken erklären helfen, sondern zugleich die Religionsgeschichte in den USA seit den 1920er Jahren mithilfe ihres Widerhalls im Jazz beleuchten.

Bivins geht dabei weder chronologisch vor noch versucht er seine Thesen an zentralen Figuren festzumachen, wenn es auch an konkreten Beispielen nicht mangelt in seinem Buch. Natürlich spielt der Einfluss der schwarzen Kirche auf viele afro-amerikanischen Musiker eine wichtige Rolle. Er beschreibt das Zeugnis ablegende (“testifyin'”) Tenorsaxophonspiel Albert Aylers. Er findet Spiritualität in Charles Gayles Bühnen- genauso wie Straßenmusikauftritten. Er fragt nach den Gründen von Jazzmusikern zum Islam, zum Buddhismus, zum Bahá’í, zur Scientology zu konvertieren und ihre Reflektion über die jeweilige religiöse Praxis und ihre Auswirkung auf ihre Musik. Er befasst sich mit den Ausprägungen des “Radical Jewish jazz” und mit der Idee einer imaginären Folklore in den Vereinigten Staaten.

Er beschäftigt sich mit Beispielen, in denen Jazzmusiker bzw. ihre Werke religiöse Geschichte erzählen und verwebt dabei eng religiöse und politische Aussagen, etwa in den Aufnahmen von Charles Mingus, Archie Shepp, Max Roach und Abbey Lincoln. Auch der Saxophonist Fred Ho und sein Einsatz für einen Asian American Jazz kommen zur Sprache sowie Sun Ras Verweise auf weltumspannende Verbindungen, die weit über den Planeten Erde hinausreichen. Er geht auf Ellingtons “Sacred Concerts” ein und widmet eine längere Passage John Carters Komposition “Roots and Folklore”, die, wie er findet, ein würdiger Träger des Pulitzer Preises gewesen wäre, den Wynton Marsalis später für sein Oratorium “Blood On the Fields” erhielt.

Er entdeckt im Bemühen von Musikern seit den 1950er Jahren sich zu organisieren neben den politischen auch spirituelle Gründe, wie er etwa am Beispiel der AACM und der Black Artists Group zeigt. Die von Horace Tapscott gegründete Underground Musicians Association, die Saint John Coltrane African Orthodox Church und Alice Coltranes Ashram sind für ihn konkrete Beispiele, wie Jazz als spirituell-religiöses Ritual gelebt und zelebriert werden kann.

Im zweiten Teil seines Buchs beschäftigt sich Bivins mit den engen Verbindungen zwischen Ritual und Improvisation, nennt Beispiele aus dem Schaffen von Duke Ellington, Mary Lou Williams, Milford Graves, Cecil Taylor, bezieht sich aber auch auf das Feld des afro-kubanischen Jazz, auf Steve Colemans Studien zur Yoruba-Kultur und auf die Musik des Art Ensembles of Chicago.

Ein eigenes Kapitel befasst sich mit Meditation und Mystizismus und verweist dabei auf Musiker wie Steve Lacy, Arthur Blythe, William Parker und Davis S. Ware. Ornette Colemans Harmolodics und George Russells Lydian Chromatic Concept werden von Bivins nicht allein als musiktheoretische Abhandlungen verstanden, sondern als Beispiel für kosmologische und metaphysische Versuche Jazz, Improvisation, ja Musik ganz allgemein zu fassen. In dieses Kapitel gehören auch Anthony Braxtons Tri-Axium-System und Wadada Leo Smith’ Ankhrasmation.

In seinem Schlusskapitel stellt Bivins dann noch einmal klar, dass die Auseinandersetzung mit Jazz oder mit Religion notwendigerweise eine fragmentarische sein muss, dass beide Praktiken ein Versuch sind, sich der Komplexität der Welt zu nähern, unsere eigene Sicht aber immer durch das geprägt ist, was wir bereits “wissen”. Für einige sei Musik wie Religion, weiß er, das aber beinhalte weit mehr als die pure Hingabe. Wie die Religion in amerikanische (und weltweiter) Geschichte, habe auch die Musik subversive Funktionen gehabt, habe Einfluss auf die Wahrnehmung der Realität genommen und diese damit ändern können.

Bivins’ Entscheidung, keine klar strukturierte Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Jazz und verschiedenen Ausprägungen von Spiritualität zu wählen, sondern stattdessen Themen zu identifizieren und von verschiedenen Seiten zu beleuchten, führt dazu, dass man auch als Leser die Vorstellung von Religion, Spiritualität, Ritual weiter fasst. Wo man zu Beginn der Lektüre von der sehr offenen Fassung der Begriffe noch ein wenig irritiert sein mag, da ist man dem Autor am Ende genau dafür dankbar, da er es schafft, auch beim Lesen die schnellen Analogien zu vermeiden. Bivins gelingt es, diesen offenen Geist in seine Leser zu übertragen – für den europäischen Leser dann auch in Richtung all der Themen, die sich hierzulande in die verschieden Kapitel einflechten ließen.

Wolfram Knauer (März 2017)


Omniverse Sun Ra
von Hartmut Geerken & Chris Trent
Wartaweil 2015 (Waitawhile Books / Art Yard)
304 Seiten, 69 Euro
ISBN: 978-0-9933514-0-2

Von 1994 stammt das damals im LP-Schallplattenformat veröffentlichte, von Hartmut Geerken und Bernhard Hefele herausgegebene Buch “Omniverse Sun Ra”. Jetzt erschien eine Neuauflage dieses Werks, das das Universum des Meisters aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben versucht.

Geerken war in den 1960er bis 1980er Jahren Institutsleiter verschiedener Goethe-Institute. Als Perkussionist hat er daneben mit zahlreichen Musikern vor allem aus dem Bereich der improvisierten Musik zusammengearbeitet. In Jazzkreisen ist er dabei insbesondere als Kenner des Oeuvres Sun Ras bekannt und war für Konzerte des Arkestra verantwortlich, etwa 1971 in Kairo, wo er seinerzeit fürs Goethe-Institut wirkte. Sein Buch von 1994 war eine kleine Sensation für die Aufarbeitung des Ra’schen Oeuvres; die Neuauflage ist nicht weniger willkommen.

Was übernommen wurde: Amiri Baraka beginnt das coffeetable-große Buch mit einem einleitenden, sehr persönlichen Text über den Meister. Robert Campbell erzählt die irdische Biographie Herman Blounts von seiner Geburt in Birmingham, Alabama, im Jahr 1914 bis zu seinem Tod im Mai 1993 und ordnet zugleich die verschiedenen Besetzungen und musikalischen Phasen seines Schaffens zu. Sigrid Hauff untersucht die mythologische und spirituelle Welt, die Sun Ra musikalisch genauso wie in Texten oder Interviews heraufzubeschwören versuchte. Chris Cutler ordnet sein musikalisches Schaffen in den größeren Kontext von Jazz und afro-amerikanischer Musikgeschichte ein. Robert Lax versammelt mehr oder weniger unzusammenhängende Gesprächsfetzen, Bonmots und Aphorismen des Pianisten, Komponisten, Bandleaders und spirituellen Philosophen. Salah Ragab berichtet über Konzerte des Arkestra in Ägypten in den Jahren 1983 und 1984. Karlheinz Kessler hinterfragt die Verwendung von Ritualen in den Performances der Band. Gabi Geist schreibt ein Horoskop für jemanden, der immer sagte, dass sein Geburtstag und -ort höchstens irdisch seien, tatsächlich aber seiner Herkunft nicht gerecht würden. Hartmut Geerken schließlich erinnert sich an den Besuch des Arkestra in Ägypten im Dezember 1971. Zwischendrin finden sich zahlreiche Fotos, viele davon von der britischen Fotografin Val Wilmer.

Was neu ist: Ein Text Bernhard Helefes entfällt in der Neuauflage. Den ausführlichen diskographischen Teil des Buchs hat Chris Trent neu geordnet. Wieder gibt es einen umfangreichen Bildteil, der die Plattencovers zeigt.

“Omniverse Sun Ra” war schon in der ersten Ausgabe von 1994 eine labor of love. Die neue Ausgabe hat einen Hardcover-Einband, ein etwas handlicheres Format, einen Block mit Farbfotos der Band, die im früheren Buch nicht enthalten waren. Es verzichtet auf die Tapeologogy, also die Auflistung oft privater Konzertmitschnitte, sowie auf die ausführliche Bibliographie der früheren Ausgabe.

“Omniverse Sun Ra” bleibt bei alledem ein großartiges Buch, das in Wort, Bild und Tonträgerverweisen als hervorragendes Nachschlagewerk über die Welt und Weltsicht Sun Ras genauso zu nutzen ist wie als eine Dokumentation, in der auch “Nachgeborenen” die Bühnenperformance des Arkestra vor Augen geführt wird.

Wolfram Knauer (März 2017)


A City Called Heaven. Chicago and the Birth of Gospel Music
von Robert M. Marovich
Urbana/IL 2015 (University of Illinois Press)
488Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08069-2

Gospelmusik, erklärt Robert Marovich, Rundfunkmoderator, Herausgeber des Journal of Gospel Music und Musikhistoriker, sei die künstlerische Antwort auf die Great Migration gewesen, in der tausende und abertausende Afro-Amerikaner zu Beginn des 20sten Jahrhunderts aus den Südstaaten in den Norden zogen und insbesondere in Städten wie Chicago ein neues Zuhause fanden. Blues, sagte Mahalia Jackson einmal, seien Lieder der Verzweiflung gewesen, Gospel dagegen Lieder der Hoffnung. Das Genre, erklärt Makovich in seinem Buch, das sich auf die Verankerung der Musik im Chicago des 20sten Jahrhunderts fokussiert, sei wie eine soziale Organisation organisiert gewesen, die jeden, egal wie gut er oder sie singen konnte, willkommen geheißen hätte.

In seinem Buch beschreibt Marovich die Entwicklung der Gospelmusik von frühen Hymnen und Camp Meetings über die beschriebene Great Migration und die lebendige Gospelszene von Chicago bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sounds, Rhythmen und der Enthusiasmus dieser Musik Eingang in die Popmusik fanden und schließlich zur Begleitmusik der Bürgerrechtsbewegung wurden. Er greift auf Interviews und selten ausgewertete historische Quellen zurück, um die Einbettung der Musik in die Community zu beschreiben; er entdeckt die Bedeutung von Predigern, deren eindringliche Sermons ab den 1920er Jahren ja sogar auf Schallplatte veröffentlicht wurden; er berichtet von frühen Aufnahmen für das noch junge Radio genauso wie für die aufstrebende Plattenindustrie. Er geht auf weithin bekannte Gospel-Künstler ein, Thomas A. Dorsey etwa oder Mahalia Jackson, genauso aber auch auf weniger, oft nur lokal bekannte Musikerinnen und Musiker. Er weiß um die Hintergründe der Gospeltourneen, die in den 1930er Jahren große Erfolge feierten, und er beschreibt die Entwicklung des Gospelquartetts über die Jahre.

Die Zuwanderung nach Chicago aus dem Süden hielt bis in die 1940er Jahre an und vermittelte der Gospelmusik damit über lange Jahre jene wichtige Funktion des Haltgebens in der Fremde. Radio- und frühe Fernsehshows nahmen sich des Genres an, und immer mehr wurde Gospel auch zu einem kommerziellen Produkt. In seiner Übersicht über die verschiedenen Stränge des Genres kennt Marovich alle Solisten, Bands, Quartette und Chöre und beschreibt sowohl ihre Einbindung in die örtliche kirchliche Gemeinschaft wie auch ihr sehr unterschiedliches Verhältnis zur Plattenindustrie. Mitte der 1950er Jahre fiel der Gospelmusik schließlich eine neue Rolle zu, als Mahalia Jackson zu einer glühenden Vertreterin des Civil Rights Movement und einer engen Verbündeten Dr. Martin Luther Kings wurde.

Die große Zeit des Gospel war mit dem Tode Mahalia Jacksons und Roberta Martins vorbei; und hier endet auch Marovichs Buch, mit einem nur kurzen Ausblick auf die Gegenwart. “A City Called Heaven” ist ungemein detailreich, dadurch stellenweise etwas mühsam zu lesen, aber durch einen umfangreich aufgeschlüsselten Index ein gutes Nachschlagewerk zum Thema. Marovich zeigt anhand der Gospelmusik in Chicago, wie sich sich Genre- und Stadtgeschichtsschreibung miteinander verbinden lassen, weil die Nöte und Zwänge des Lebens in der Großstadt letztlich die Entwicklung einer Musik als spirituelles Gegengewicht befördert haben.

Wolfram Knauer (Januar 2017)


La Nuée. L’AACM: un jeu de société musicale
von Alexandre Pierrepont
Marseille 2015 (Éditions Parenthèses)
443 Seiten, 19 Euro
ISBN: 978-2-86364-669-4

2008 veröffentlichte George E. Lewis sein Buch “A Power Stronger Than Itself. The AACM and American Experimental Music”, das die musikalische und ästhetische Welt der Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago seit den 1960er Jahren aus der Ecke einer “nur” afro-amerikanischen Avantgarde holte und zeigte, wie sehr die darin Aktiven Teil eines generellen und weit über Amerika hinausreichenden künstlerischen Diskurses waren und sind.

Im Vorwort seines Buchs über die AACM schildert Alexandre Pierrepont, wie es dazu kam, dass er sich als Anthropologe entschied, eine Studie zur AACM zu schreiben, wie er mittendrin von Lewis’ Arbeit erfuhr und sofort bereit war, mit seinem eigenen Projekt zurückzustecken. Lewis aber habe ihn zum Weitermachen ermutigt: Sein Buch sei eine Innenansicht, so Lewis, ein so komplexes Thema aber brauche immer mehrere Perspektiven, und Pierreponts Arbeit könne vielleicht eine sinnvolle Außenansicht bieten. Und so ist mit “La Nuée” (“Der Schwarm”) jetzt ein zweites umfangreiches Buch auf dem Markt, das die AACM von den 1960er Jahren bis heute als einen künstlerische Ansatz beschreibt, der weit über die erklingende oder auf Tonträgern dokumentierte Musik hinausreicht, vor allem nämlich in den daran beteiligten Akteuren ein Selbstbewusstsein geschaffen hat, das sie weit über den Kreis des Jazz, der afro-amerikanischen oder sogar der amerikanischen Musik hinaus einordnen lässt.

Pierrepont präsentiert im ersten Kapitel 25 Gründe warum, und Erklärungen wie Afro-Amerikaner in den USA ausgegrenzt oder marginalisiert wurden. Er zeigt, dass Musik gerade in diesem Zusammenhang wichtige soziale Funktionen übernahm. Er schildert die Situation in Chicago und erklärt, wie sich hier ab den 1950er Jahren eine aktive experimentelle Musikszene herausbildete. Im zweiten Kapitel beschreibt er die Idee hinter der AACM, die unterschiedlichen Ensembles und Projekte, die aus dem Kreis der Musiker entstanden, die europäische Erfahrung von Mitgliedern etwa des Art Ensemble of Chicago zwischen den Jahren 1969 und 1974, die Verbindungen zwischen der Chicagoer und der New Yorker Avantgarde-Szene ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre (die viel damit zu tun hatte, dass etliche Chicagoer Musiker inzwischen an die Ostküste umgezogen waren), sowie den Einfluss der AACM und ihres Konzepts auf europäische Improvisations-Kollektive.

Im dritten Kapitel untersucht Pierrepont die AACM als Kooperative und Verein, als Geheimbund und Brüderschaft, als sozio-musikalische Bewegung und Weltschule, beschreibt ihre formale Organisation, aber auch die “respectful anarchy”, die sich aus ihren Verbindungen etwa zum Black Arts Movement und anderen auch politisch aktiven Organisationen ergaben. Dabei sei sie bis heute eine Vereinigung afro-amerikanischer Musiker geblieben. Egal ob in Tongebung, Improvisation oder Komposition sei eines der verbindenden Merkmale der aus der AACM entstandenen Musik zum einen die Betonung von Individualität, zum zweiten aber auch das Einbringen des Subjekts in kollektive Prozesse. Pierrepont beschreibt pädagogische Konzepte, die sich aus den Schulprojekten der Association ergaben, und umreißt musikalische als soziale Verbindungen und die daraus resultierenden Gruppenzugehörigkeits-Prozesse. Im vierten Kapitel beschreibt er die Offenheit der AACM-Mitglieder gegenüber Genre, kompositorischen und improvisatorischen Experimenten, der Verwendung und Aneignung im Jazz bislang eher unüblicher Instrumente, der Weiterentwicklung elektronischer Klang- (und musikalischer Reaktions)möglichkeiten, sowie der Arbeit im Solo- und großorchestralen Kontext. Das Art Ensemble of Chicago warb mit dem Slogan “Ancient to the Future”, und in dieser Haltung, dass die Formung jedweder (künstlerischen) Zukunft sich auf die eigene Interpretation der Vergangenheit beziehe, sieht Pierrepont eines der Geheimnisse hinter der Langlebigkeit der AACM als Organisation. “Ich ziehe die Mythokratie der Demokratie vor”, zitiert er Sun Ra. “Noch vor der Geschichte. Alles vor der Geschichte sind Mythen… Das ist der Ort, an dem die Schwarzen sind. Realität ist gleich Tod, weil alles, was real ist, einen Anfang und ein Ende hat. Die Mythen sprechen vom Unmöglichen, von Unsterblichkeit. Und da alles Mögliche bereits versucht wurde, müssen wir eben das Unmögliche versuchen.”

Alexandre Pierreponts Studie zur AACM bietet eine gelungene Interpretation dessen, wofür die Association for the Advancement of Creative Musicians stand und steht, eine Einordnung ästhetischer wie gesellschaftlicher Vorstellungen und Aktivitäten aus der Gruppe, und den Versuch, das alles in Verbindung zu bringen mit ästhetischen, kritischen, philosophischen und spirituellen Aspekten, die weit über die Arbeit der AACM-Mitglieder hinausgehen. Ihm ist dabei, in Gesprächen mit Musikern, in den Beschreibungen von Konzert- und Aktionssituationen, in der historischen genauso wie der anthropologischen Einordnung all dessen ein kluges Buch gelungen, das die Rolle der AACM im Jazz genauso zu verorten in der Lage ist wie in der aktuellen Musik des 20sten (und letzten Endes auch 21.) Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Jazz Tales from Jazz Legends. Oral Histories from the Fillius Jazz Archive at Hamilton College
Von Monk Rowe (& Romy Britell)
Rochester 2015 (Richard W. Couper Press)
209 Seiten, 20 US-Dollar
ISBN: 978-1-937370-17-6

Das Hamilton College ist eine relativ kleine Hochschule in Clinton, New York. Einer ihrer Absolventen, Milt Fillius Jr., zog nach seinem Diplom ans andere Ende des Landes, nach San Diego, hielt aber Kontakt zu seiner Alma Mater. Er liebte Jazz und er war ein guter Freund des Sängers Joe Williams, der 1988 die erste Ehrendoktorwürde des Hamilton College erhielt. Im Gespräch mit Williams und dem Bassisten Milt Hinton wurde Fillius bewusst, wie viel an Wissen über den Jazz tatsächlich nur in der Erinnerung der Musiker bewahrt und wie wichtig Oral History gerade in diesem Bereich ist. Er etablierte also ein umfassendes Interview-Projekt, für das mittlerweile weit über 300 Künstler/innen in Ton und Bild festgehalten wurden. Die Interviews, von denen viele der Hamilton-Archivar Monk Rowe selbst durchführte, dokumentieren die Welt des Swing genauso wie die des modernen Jazz. Die meisten dieser Erinnerungen sind auf der Website des Hamilton College nachzulesen; eine für die Jazzforschung ungemein hilfreiche Sammlung. Es handelt sich bei den Interviewten nicht unbedingt um die großen Stars der Jazzgeschichte, obwohl etwa mit Lionel Hampton, Nat Adderley, Herbie Hancock, James Moody, Oscar Peterson, Ruth Brown und anderen auch solche vertreten sind. Viele der Musikererinnerungen stammen stattdessen von Sidemen, die über ihre Zeit in den großen Bands berichten, über das Leben “on the road”, über die alltäglichen Probleme eines reisenden Musikers, über Rassismus und vieles mehr

In “Jazz Tales from Jazz Legends” zeigt Monk Rowe, was man aus diesen Interviews so alles lernen kann. Er filtert konkrete Themen heraus, für die er dann die verschiedenen Erfahrungen der Interviewten gegenüberstellt. Das Anfangskapitel widmet sich Joe Williams, dann folgt ein Abschnitt über das Schicksal der Sidemen bei Duke Ellington, Count Basie, Benny Goodman und in anderen Bigbands. Clark Terry erzählt etwa, wie der Duke ihn bei Basie abwarb, erinnert außerdem, was er bei beiden Bandleadern lernte, und Benny Powell weiß zu berichten, dass Basie ihm in den zwölf Jahren in der Band nie förmlich bestätigt habe, dass er engagiert sei. Im Kapitel “Road Travails” erzählen Eddie Bert von seiner Zeit bei Benny Goodman, Sonnie Igoe von einer Tournee mit Woody Herman, Bucky Pizzarelli vom Reisen mit dem Vaugn Monroe Orchestra, Jay McShann vom Problem mit schlechten Klavieren “on the road”, Jimmy Lewis von einem angst-machenden Flug mit der Basie-Band, Kenny Davern vom Stress, die 60 One-Nighters in 90 Tagen erzeugen können, Lanny Morgan darüber, dass die Gage oft von Hotel- und Reisekosten aufgefressen wurde, die die Musiker aus eigener Tasche zahlen mussten. “Arranging the Notes” heißt ein weiteres Kapitel, das sich mit den Ansprüchen an die Arrangeure der Bands befasst. Dick Hyman, Mike Abene, Bill Holman, Derrick Gardner, Ray Conniff, Manny Albam erzählen darin von der Arbeit eines Bandarrangeurs genauso wie von den Anforderungen an andere Arten von Musik, etwa für Hollywood; Lew Soloff erinnert sich an die Arrangements für Blood Sweat & Tears, und Dave Rivello und Maria Schneider geben einen Ausblick darauf, wie die Arbeit eines Arrangeurs im 21sten Jahrhundert funktioniert.

“Inside the Studio” ist ein Kapitel über Aufnahmeerfahrungen überschrieben, in dem sich Doc Cheatham an seine erste Platte mit Ma Raney erinnert, Richard Wyands einen typischen Aufnahmegig aus dem Jahr 1959 beschreibt, Orrin Keepnews erzählt, was Musikern für Aufnahmesitzungen üblicherweise bezahlt wurde, und Dick Hyman und Derek Smith verraten, dass sie sich natürlich auch mit Musik für Fernsehwerbung über Wasser halten mussten. Man müsse nicht alles mögen, was da im Studio produziert werde, erklärt Hyman, man müsse sich aber anstrengen, das, was von einem gefordert werde, möglichst gut zu spielen. Rassismus war für viele der interviewten Musiker ein täglich erlebtes Thema, und im Kapitel “The Color of Jazz” kommt auch dies zur Sprache. Clark Terry und Joe Williams haben genügend eigene Erlebnisse; Sonny Igoe erzählt, wie er auf einer Tournee durch den Süden, bei der er im Bus mit dem Art Tatum Trio mitreiste, als “White Trash” angepöbelt und aufgefordert wurde, er solle den Bus gefälligst verlassen. Louie Bellson und Red Rodney haben ähnliche Erinnerungen, und Frank Foster fasst zusammen, dass der Jazz zwar aus der schwarzen Erfahrung heraus geboren worden sei, dass der Melting Pot Amerika ihn aber schon seit langem zu einer amerikanischen, wenn nicht gar globalen Musik gemacht habe.

Im Kapitel “Thoughts on Improvisation” geben Marian McPartland, Clark Terry, Bill Charlap, Charles McPherson und andere Tipps, wie man sich der Improvisation nähern könne. Ken Peplowski fasst zusammen: “Lern es, dann vergiss es wieder!”, und Randy Sandke reflektiert, was während eines Solos so alles durch seinen Kopf ginge. Schließlich äußern sich Gary Smulyan, Ralph Lalama und Jan Weber über die Möglichkeit und die Chancen “falscher Töne” im Jazz. “Motivation and Inspiration” ist ein Kapitel überschrieben, das Erinnerungen an persönliche Einflüsse beinhaltet. Keter Betts etwas erzählt, dass er als Schlagzeuger begonnen habe und durch Milt Hinton (und reichlich Zufall) zum Bass gekommen sei. John Pizzarelli kam über die Beatles zur Gitarre, Kenny Davern übers Radio bei einer der Pflegefamilien, bei denen er aufwuchs, bis er sechs Jahre alt war, und auch Junior Mance war von Earl Hines begeistert, dem er spätabends heimlich im Radio lauschte. Jon Hendricks berichtet, wie er dazu kam, improvisierte Instrumentalsoli zu textieren. Und Eiji Kitamura erinnert sich, wie eine Platte von Benny Goodman in der Sammlung seines Vaters ihn zur Klarinette brachte. Schließlich gibt es im Schlusskapitel noch ein paar Haltungen zum Phänomen des Swing und zum Missverständnis des Free Jazz sowie Erinnerungen an unglücklich gelaufene Engagements und über die Arbeit mit Legenden.

“Jazz Tales from Jazz Legends” ist also ein vielfältiges Buch, das jede Menge unterschiedlicher Erfahrungen zusammenbringt. Zu Beginn der Lektüre wünscht man sich, die einzelnen Interviews im Zusammenhang zu lesen, aber das ist ja tatsächlich möglich, über die Website des Fillius Jazz Archive am Hamilton College. Und so sollte man Monk Rowes thematische Zusammenstellung als das sehen, was sie ist: ein exzellentes Beispiel, wie sich aus den gesammelten Interviews am Hamilton College Narrative zu den unterschiedlichsten Themengebieten der Jazzgeschichte exzerpieren lassen. Dann lässt sich umso interessanter verfolgen, wie die Interviews sich gegenseitig ergänzen und die unabhängig voneinander Befragten dabei fast miteinander ins Gespräch zu kommen scheinen.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


Swingin’ On Central Avenue. African American Jazz in Los Angeles
von Peter Vacher
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
331 Seiten, 55 US-Dollar
ISBN: 978-0-8108-8832-6

2015vacherJazzgeschichtsschreibung funktioniert normalerweise so: Louis Armstrong – Charlie Parker – Miles Davis – John Coltrane. Oder so: New Orleans – Chicago – Kansas City – New York. Oder so: Dixieland – Swing – Bebop – Cool Jazz – Hard Bop – Free Jazz – Fusion. Personen, Orte, Epochen… eine Geschichte der großen Männer (!), der lebendigen urbanen Szenen, der alles umwälzenden stilistischen Innovationen. Tatsächlich aber ist dieser Blick auf die Größen, die Zentren, die Stilbegriffe enorm einengend, wenn nicht gar: einfach nur falsch. Neben den großen Stilisten gibt es immer auch diejenigen, deren Kreativität entweder nicht den großen populären Erfolg hatte oder aber nicht lange genug anhielt, oder die sich einfach weniger gut “verkaufen” konnten. Neben den jazzgeschichtsmäßig bekannten Zentren gab es Städte und Landstriche, die musikalisch enorm lebendig waren, viele Musiker hervorbrachten, aber von der Geschichtsschreibung höchstens als potentielle Spielorte, nicht als Brutstätten dieser Musik dargestellt wurden. Und neben den etablierten Stilen gibt es unendlich viele Zwischenstufen, da kaum ein Musiker sich eines Stils “in Reinkultur” bediente”. Ganz davon zu schweigen, dass sich die meisten Jazzgeschichten, ja selbst die meisten Biographien an Aufnahmen entlanghangeln und dabei gern den performativen Aspekt des Jazz vergessen, die Tatsache also, dass die veröffentlichte Platte nur eine Momentaufnahme des kreativen Prozesses ist.

Peter Vacher füllt mit seinem Buch also eine Lücke. Er widmet es einer Szene, die nie so ganz im Mittelpunkt des Jazz stand (Los Angeles), und er fokussiert dabei auf Musiker, die höchstens regionale Stars blieben und kaum nationalen oder gar internationalen Erfolg einfuhren. Vacher ist Außenseiter (Brite); er kam im Laufe des Trad-Jazz-Booms der 1950er Jahre zum Jazz. In den 1980er Jahren arbeitete er mit dem Klarinettisten Joe Darensbourg an dessen Autobiographie, verbrachte währenddessen einige Zeit in Los Angeles und lernte damals Veteranen der schwarzen Musikszene der Westküstenmetropole kennen. Die Interviews, die er mit den sechzehn in diesem Buch dokumentierten Musikern führte, hatten ursprünglich nicht das Ziel einer Buchveröffentlichung, sondern dienten einzig seinem privaten Interesse an ihrer Geschichte. Wenige konnte er ein zweites Mal interviewen, bei anderen fühlte er sich im Nachhinein schlecht vorbereitet. Dennoch geben die Geschichten, die er anhand dieser 16 Musiker erzählt, einen Einblick in eine so ganz andere Musikszene als die an der Ostküste. Die Westküstenmusiker waren flexibel; sie spielten Jazz genauso wie R&B oder Dixieland. Viele von ihnen verdienten sich ihren Lebensunterhalt in den Studios Hollywoods, und viele zog es vielleicht mal für eine Tournee, selten aber für immer fort aus Kalifornien. Und wenn auch diese Szene Jazzgrößen wie Dexter Gordon, Wardell Gray, Teddy Edwards und Charles Mingus hervorbrachte, wenn auch Legenden wie Benny Carter, Red Callender und Buddy Collette von hier aus agierten, so blieb Los Angeles doch ein weitgehend ungeschriebenes Kapitel der US-amerikanischen Jazzgeschichte.

Die von Peter Vacher interviewten Musikern stammen aus der älteren Generation, und dokumentieren die Szene vor allem der 1930er bis 1950er Jahre. Noch weiter zurück geht es in den Erzählungen des Trompeters Andy Blakeney , der von seinen ersten musikalischen Erfahrungen im Chicago der 1920er Jahre berichtet, von seinem Umzug an die Westküste im Jahr 1925, von Reb Spikes, der ein Musikgeschäft in L.A. besaß und außerdem eine gut beschäftigte Band. Er erinnert an viele der Musiker in der Stadt und an Partys bei Orson Welles. Er erzählt aber auch von der Rassentrennung in der Stadt, und von den legendären Gigs, die Louis Armstrong und Duke Ellington Anfang der 1930er Jahre in Sebastian’s Cotton Club hatten, von Tagesjobs in einer Schiffswerft, von Gigs mit Kid Ory und Barney Bigard, und von verschiedenen Comebacks in den 1970er und 1980er Jahren. Beim Pianisten Gid Honoré musste Vacher erst Street Credibility beweisen (dadurch, dass er den Schlagzeuger Wallace Bishop kannte), bevor der sich zu einem Interview bereitfand. Honoré kam 1921 aus New Orleans nach Chicago und erzählt von den vielen Ensembles, mit denen er in den 1920er bis 1940er Jahren dort spielte – oft Bands alter Freunde aus New Orleans. 1948 zog er an die Westküste, wo er mit Kid Ory und Teddy Buckner spielte – seine Erinnerungen an die Szene in L.A. nehmen dabei gerade einmal ein Fünftel seines Kapitels ein. Der Trompeter George Orendorff hatte in den 1920er Jahren King Olivers Creole Jazz Band mit Louis Armstrong in Chicago gehört, kurz bevor er nach L.A. zog. Er erzählt vom Engagement in der Band von Les Hite, in der als Schlagzeuger Lionel Hampton mitwirkte, oder von einem Abend, an dem Fats Waller Bach und Beethoven spielte. 1946 war er im Billy Berg’s Club, als Dizzy Gillespie dort mit Charlie Parker spielte. Orendorff arbeitete schließlich 30 Jahre lang als Postbeamter und trat nur noch selten auf. Jeder in Los Angeles kannte den Schlagzeuger Monk Fay, den Vacher aber erst nach intensiver Suche in einem Seniorenheim fand. Der erzählt von seiner Popularität in Hawaii, von einer Gefängnisstrafe wegen Dealens mit Marihuana und von Gigs in Los Angeles in den 1940er und 1950er Jahren. Der Saxophonist Floyd Turnham erinnert sich an Britt Woodman und an Aufnahmen mit Johnny Otis; die Sängerin Betty Hall Jones weiß noch, wie Nellie Lutcher ihr einen Vertrag bei Capitol Records verschaffte. Der Trompeter Red Mack Morris war in Les Hites Band, als diese Louis Armstrong begleitete und führte später eine Weile einen eigenen Club, in dem er schwarz Alkohol ausschenkte. Der Klarinettist Caughey Roberts erzählt von seinen Lehrern und davon, wie er schließlich selbst unterrichtete, daneben aber auch von einer Reise nach China mit Buck Clayton, über seine Arbeit mit Count Basie und Fats Waller in den 1930er Jahren und über seine Dixieland-Aufnahmen in den 1950ern. Der Pianist Chester Lane war ein großer Fan von Earl Hines, arbeitete lange Zeit um St. Louis, und zog 1957 an die Westküste. Der Trompeter Monte Easter erinnert sich, wie er und Art Farmer Ende der 1940er Jahre in Jay McShanns Band saßen, berichtet über die Probleme der afro-amerikanischen Gewerkschaften und über seinen Broterwerb als Postbediensteter. Der Bassist Billy Hadnott erzählt ausführlich von seinen musikalischen Erlebnissen in Kansas City und hat seine eigene Erinnerung daran, wie Charlie Parker ins Sanatorium von Camarillo kam. Der Trompeter Norm Bowden weiß einiges über Reb Spikes und den Schlagzeuger “Boots” Douglas zu berichten, aber auch über den Club Alabam im berühmten Dunbar Hotel auf der Central Avenue. Der Posaunist John ‘Streamline’ Ewing hatte anfangs gut bezahlte Nebenjobs in den Hollywoodstudios, ging dann auf Anregung eines Musikerkollegen nach Chicago, tourte mit Bands wie denen von Horace Henderson und Earl Hines und spielte ab den 1950er Jahren mit Teddy Buckner in Disneyland. Der Saxophonist Chuck Thomas spielte vor allem in der Küstenregion (bis Las Vegas) und zuletzt ebenfalls mit Teddy Buckner. Der Schlagzeuger Jesse Sailes erinnert sich, wie all die großen Swingbands in den Theatern von Los Angeles auftraten und wie er später Platten mit Percy Mayfield, Ray Charles und B.B. King aufnahm. Der Schlagzeuger Minor Robinson spielte mit Buddy Collette und kannte Charles Mingus, als dieser vielleicht 15, 16 Jahre alt war.

Es sind persönliche Geschichten, von Sidemen-Karrieren und außermusikalischen Lebensentscheidungen. Die Namen wiederholen sich; aus den Erzählungen schält sich dabei eine Szene heraus, die zusammenhielt, auch wenn einzelne der Musiker die Stadt für kürzer oder für länger verließen. Peter Vacher beschreibt zu Beginn eines jeden der Kapitel, wie er den Musikern auf die Spur kam und erklärt einzelne der von den Interviewten mitgeteilten Anekdoten. Nebenbei erzählen diese von der Mobilität des Musikerberufs, von Karrieren, die in New Orleans oder Chicago begannen oder in Kansas City und New York Station machten, deren Protagonisten aber, nachdem sie kalifornische Luft geschnuppert hatten, von dieser nicht mehr loskamen. Es gibt schöne Geschichten über das Zusammentreffen des West-Coast-Größen mit durchreisenden Stars der großen Swingbands; es gibt Insiderberichte über alle möglichen Aspekte des Showbusiness’; es gibt immer wieder den Anruf aus der Ferne, der ihnen einen Job in einer der “name bands” anbietet, den sie entweder für kurze Zeit annehmen oder aber ablehnen. Es gibt Geschichten über Familienplanung und solche über Tagesjobs, mit denen man die Familie ernähren konnte. Central Avenue spielt eine bedeutende Rolle, jene Straße, die in Teilen zu einem kulturellen Zentrum der afro-amerikanischen Community der Stadt wurde.

Peter Vacher hat die Gespräche laufen lassen; sein ursprüngliches Interesse galt der Lebensgeschichte der Musiker, weniger dem Treiben in Los Angeles. Und so nehmen die Erinnerungen an Chicago oder Kansas City oft mehr Raum ein als die aktuelle Lebenswirklichkeit des Ortes, an dem die interviewten Musiker schließlich landeten. Doch wird eine Szene eben nicht nur durch das geprägt, was Musiker in ihr kreieren, sondern auch durch alles, was sie aus ihrer Vergangenheit mitbringen. Von daher ist Vachers Ansatz völlig richtig, die Geschichte der Central Avenue durch die Einflüsse zu erzählen, die hier zusammenkamen.

Beim Lesen wünschte man sich stellenweise entweder einen knappen biographischen Abriss vor oder nach den Kapiteln oder aber das Einstreuen von Jahreszahlen, um die Erinnerungen der Musiker besser einordnen zu können. Wer bei Los Angeles an die Westcoast-Szene denkt, sei gewarnt: alle der von Vacher interviewten Musiker sind vor allem der Swingära zuzuordnen; sie erzählen zum Teil von den jüngeren Musikern, die sie kannten, waren aber nie selbst Mitglied dieser Szene. In seinem Vorwort heb Vacher vor allem drei Interviews hervor, die besonders gut gelungen seien: jene mit Andy Blakeney, Billy Hadnott und Norman Bowden, mit Musikern also, mit denen er mehrfach sprechen und dabei mehr über ihr Leben und musikalisches Wirken lernen konnte. Tatsächlich aber sind auch jene Gespräche lesenswert, die etwas langsamer “auf den Punkt” kommen. “Swingin’ On Central Avenue” gelingt es dabei, Erhebliches zur Kulturgeschichte des afro-amerikanischen Jazz im Los Angeles der 1930er bis 1950er Jahre beizutragen. Das Buch erzählt von künstlerischen Idealen und von der Realität des alltäglichen Musikgeschäfts. Die Entscheidung, die Vacher – sicher mehr der Not gehorchend – getroffen hatte, war genau richtig: Seine Protagonisten sind eben nicht die großen Stars, weil die Szene, die er im Fokus hat, sich in keiner der stilbildenden Städte befand, weil die Community, die er in den Kapiteln seines Buchs abbildet, sich aus vielen sehr disparaten Erfahrungen zusammensetzte. Sein Buch ist auf jeden Fall eine Fundgrube für Jazzhistoriker mit vielen Anekdoten und Erinnerungen, die dieser Rezensent hier zum ersten Mal gelesen hat; zugleich ist es eine abwechslungsreiche Zeitzeugensammlung einer Szene, die bislang nur mäßig dokumentiert ist.

Wolfram Knauer (Juli 2016)


Invitation to Openness. The Jazz & Soul Photography of Les McCann, 1960-1980
herausgegeben von Pat Thomas & Alan Abrahams
Seattle 2015 (Fantagraphics Books)
200 Seiten, 39,99 US-Dollar
ISBN: 978-1-60699-786-4

2015mccannMusikerfotos – es gibt eine ganze Reihe an Jazzmusikern, deren Hobby auf Tournee das Fotografieren war. Milt Hinton ist der wohl namhafteste unter ihnen, doch jetzt zeigt ein neues Buch, dass auch Les McCann nicht nur gute Ohren, sondern auch ein exzellentes Auge hat. Das nämlich gehört dazu, auf dass das Buch eines fotografierenden Musikers nicht einzig wegen der Vorteile interessant ist, die sich daraus ergeben, dass der Mann hinter der Kamera zugleich auf der Bühne sitzt und von den Objekten seiner Begierde, also anderen Musikern, nicht als Störenfried, sondern als einer der ihren anerkannt wird.

Im Vorwort von “Invitation to Openness” erzählt A. Scott Galloway kurz die biographischen Stationen Les McCanns: geboren in Lexington, Kentucky, über Tuba und Snare-Drum zum Klavier gelangt, zusammen mit Eddie Harris mit “Compared to What” über Nacht einen Welthit geschaffen, der eine Solokarriere bedingte, die bis in jüngste Zeit anhielt. Pat Thomas erzählt die Genese des Buchprojekts: Er hatte gerade eine CD-Wiederveröffentlichung des McCann-Klassikers “Invitation to Openness” organisiert und McCann zu Hause besucht, als er in einer Ecke einen Stapel zerkratzter Abzüge von Fotos entdeckte, die der Pianist in den 1960er und 1970er Jahren gemacht, aber nie veröffentlicht hatte. Im Interview mit Thomas erzählt McCann, dass es in seiner Familie immer Fotoapparate gegeben habe. Er selbst habe sich eine Nikon gekauft und begonnen, auf der Bühne und daneben Menschen abzulichten. Als er sich ein Haus in Hollywood leisten konnte, richtete er sich eine Dunkelkammer ein und begann seine Aufnahmen selbst zu entwickeln.

Das Bemerkenswerteste an den Bildern ist vielleicht die Perspektive. Gerade die Bühnenaufnahmen sind eben nicht von vorn gemacht, aus dem Bühnengraben oder der ersten Reihe, sondern oft von der Seite oder leicht von hinten. Viele Bilder zeigen die Musiker backstage, in Vorbereitung fürs Konzert, in Freizeitklamotten beim Soundcheck. Das entspannte Lächeln Count Basies zeigt die entspannte Vertrautheit. Andere eindrucksvolle Motive sind etwa: Stanley Clarke mit abwartend-konzentrierter Miene (und einer denkwürdigen Frisur); Ben Webster am Flügel; Dexter Gordon und Joe Zawinul vor einem Motel; die junge Tina Turner; das Publikum aus Gefangenen im Cook County Jail; Cannonball Addlerley, der an einer Zigarette zieht, sein Gesicht halb in Rauch gehüllt. Neben Musikern gibt es Bilder von Schauspielern (Jack Lemmon, Bill Cosby, Jerry Lewis), Politikern (Jimmy Carter, Jesse Jackson, Stokely Carmichael, Dr. Martin Luther King), Sportlern (Muhamad Ali, Pelé), sowie einige wenige Bilder, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Doch auch diese Aufnahmen, etwa das eines alten Mannes mit Fahrrad, hätten das Potential zu Plattencovers.

Les McCann gibt zu einzelnen der Bilder Kommentare ab, in denen er Kolleginnen oder Kollegen erinnert. Auch die Identifizierung der Motive basiert auf McCanns Erinnerung, wobei es Motive gibt, zu denen er nicht wirklich mehr weiß, wo oder wann sie gemacht wurden, und zumindest eine falsche Zuschreibung (nein: das ist NICHT Eberhard Weber auf den beiden Fotos mit Sarah Vaughan, sondern Bob Magnusson!). Beim Durchblättern des Bandes kommt einem immer wieder in den Sinn, dass das Leben eines Jazzmusikers eben aus mehr besteht als der Bühnenwirklichkeit. Les McCanns “Invitation to Openness” bietet damit einen lohnenswerten und allemal mit Soul gefüllten Blick hinter die Kulissen sowohl der Musiker, die er darin dokumentiert, als auch seiner eigenen Konzertarbeit.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


Bitches Brew
von George Grella Jr.
New York 2015 (Bloomsbury Academic, 33 1/3)
128 Seiten, 14,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-6289-2943-0

D2015grellaie Buchreihe 33 1/3 des Bloomsbury-Verlags behandelt eigentlich Rockgeschichte. Jeder Band ist einem separaten Album gewidmet und wird historisch kontextualisiert. Miles Davis wurde jetzt die Ehre zuteil, als erster Jazzer in die Reihe aufgenommen zu werden, die immerhin schon mehr als 100 Bände umfasst. Sein Album “Bitches Brew” von 1969 schrieb eben nicht nur Jazz-, sondern genauso auch Popgeschichte.

In seinem ersten Kapitel betont George Grella, wie schwer es ist, “Bitches Brew” klar einem Genre zuzuordnen. Miles wollte weder ein klares Jazz- noch ein dezidiertes Rockalbum machen. “Bitches Brew”, meint Grella, sollte man daher am ehesten als experimentelle Musik hören, als Versuch, den überkommenen Normen von sowohl Jazz wie auch von Rock zu entkommen.

Im zweiten Kapitel erklärt Grella die seltsame Sektenhaltung, die Jazzrezeption manchmal annehmen kann und gegen die sich Miles Davis von früh an wehrte. Geht nicht gibt’s nicht, sei sein Motto gewesen, und Popsongs nahm er bereits lange vor “Time After Time” auf. Miles, fasst Grella zusammen, spielte Pop nicht um Popstar zu sein, sondern um Musik zu machen. Er erzählt von der Zeit des Trompeters mit Charlie Parker, vom Capitol-Nonet, das irgendwie die Geburtsstunde des Third Stream wurde, sowie von “Kind of Blue” und “Sketches of Spain”.

In Kapitel 3 erklärt Grella, welch völlig anderen Ansatz Miles an die Produktion eines Albums hatte, bei dem er sich ab 1968, ab dem Album “Circle in the Round”, vorbehielt, die musikalischen Versatzstücke nach Belieben zusammenzuschneiden.

In den Kapiteln 4 und 5 schließlich steht “Bitches Brew” selbst im Mittelpunkt, wenn Grella über Titel und Covergestaltung geflektiert und die einzelnen Titel beschreibt. Das liest sich stellenweise wie eine Sportreportage: wer, wann, was, Tonart, Einsatz, Intensität. Grella verweist auf die oft nicht wahrnehmbare Editiertechnik Teo Maceros und darauf, wie dies nur deshalb möglich war, weil alle Musiker immer deutlich aufeinander hörten. In “Pharoah’s Dance” benennt er eine “hippe Blueslinie bei 4:46” oder eine Coda, die “fast Beethoven’schen Charakter” habe. Im Titeltrack zeigt er auf viele der Nahtstellen, und dann verweist auf die Unterschiede der beiden Platten des Doppelalbums: “eine, um dich wegzublasen, die andere, um deinen Kopf wieder geradezurücken”.

Im letzten Kapitel widmet Grella sich den Nachwirkungen des Albums, in der Kritik genauso wie im Jazz. Mit Verweis auf Wynton Marsalis erklärt er, dass da zwei recht unterschiedliche Sichtweisen der Zukunftfähigkeit von Musik aufeinandergeprallt seien, um dann Miles’ Konzept auf dem kleinsten Nenner zusammenzufassen: “Indem er Rhythmus, Puls und Harmonien – und auf Tonband eingespielte Kompositionen – verwandte, die absichtlich nicht zu einer Auflösung fanden, organisierte Miles Zeit: und sowohl Form wie auch Zeit finden damit in der Musik zusammen”.

Eine kommentierte Diskographie beschließt das Büchlein, das sich wie ein sehr ausführlicher Plattentext mit vielen zusätzliche Informationen liest. Ja, Grella gelingt die Kontextualisierung, und doch kommt er der Musik selbst nur bedingt nahe, auch weil seine analytischen Anmerkungen etwas zu oberflächlich bleiben, weil er quasi nur parallel zur Musik beschreibt, was man eh hört, anstatt zusammenzufassen, was das alles “bedeutet”. Trotz dieser Einschränkung aber ist Grellas Büchlein ein lohnenswerter Begleiter zur nächsten abendlichen Abhörsession dieses Miles Davis-Klassikers.

Wolfram Knauer (Mai 2016)


Jazz Basel. Vier Jahrzehnte Stars und Szene
herausgegeben von Offbeat = Urs Ramseyer & Ruedi Ankli & Peewee Windmüller & Urs Blindenbacher
Basel 2015 (Christoph Merian Verlag)
180 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-85616-695-5

2015offbeatDie Geschichte regionaler Jazzszenen kann man auf unterschiedliche Weise erzählen. Man kann nostalgisch und sehnsuchtsvoll zurückblicken und von alten Zeiten schwärmen. Oder man kann auch Zurückliegendes vor allem aus dem Wissen um die Gegenwart verstehen.

Die Macher des offbeat-Festivals gehen in ihrem Buch über “Jazz Basel” den zweiten Weg. Das opulent bebilderte Buch widmet einzig sein Eingangskapitel (von Bruno Spoerri) den Anfängen des Jazz in Basel von den 1920er bis in die 1970er Jahre. 1974 gründete sich der Verein und die Konzertreihe jazz in basel, 1990 schließlich das Festival offbeat. Das Buch blickt auf die Musiker, die seither auf dem Festival spielten, aus skandinavische Gäste oder gesamtdeutsche Schwerpunkte, auf Jazz aus dem Mittelmeerraum und einen lateinamerikanischen Fokus, auf US-amerikanische Bands und die Schweizer Musiker, die hier auch immer zu hören waren. Es gibt Anekdoten aus dem Alltag von Festivalorganisatoren und Berichte von Backstage. Die Auswirkungen des Festivals in Stadt und Region werden thematisiert, Schulprojekte etwa oder die Präsenz im örtlichen Rundfunk. Und schließlich wird mit Stolz auf die Zusammenarbeit des offbeat Festivals mit dem Jazzcampus Basel und dem Club The Bird’s Eye berichtet.

Das alles ist kurzweilig geschrieben, vordergründig wohl vor allem für regionale Leser interessant, daneben aber genauso ein Bericht über die Verankerung einer regionalen wie internationalen Szene, aus dem auch Veranstalter anderswo etwas lernen können. Und schließlich sind da noch die 86 schwarz-weißen Abbildungen, Fotos von Bernhard Ley, Peewee Windmüller und Röné Bringold, die die Erinnerungen an die Geschichte von offbeat ungemein lebendig werden lassen.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher
von Detlef Siegfried
Göttingen 2015 (Wallstein)
455 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1673-7

2015siegfriedErnest Borneman war eine Mehrfachbegabung, so sehr, dass es genügend Menschen gaben, die dachten, es handele sich wahrscheinlich um mehrere Personen, die nur zufällig denselben Namen hätten. In den 1970er und 1980er Jahren war Borneman ein regelmäßiger Gast in deutschen Talkshows, wann immer es um das Thema Sexualität ging, hatte daneben eine Sex-Beratungskolumne in der Neuen Revue. Als Soziologe hatte er sich mit seinem Buch Das Patriarchat 1975 einen Namen gemacht. Vor seiner Beschäftigung mit Frauenbewegung und Feminismus hatte Borneman eine Karriere im Filmgeschäft gemacht, arbeitete für das National Film Board of Canada, für die UNESCO in Paris und war Programmdirektor des Freien Fernsehens, der ersten privaten Fernsehanstalt, die nach ihrem Verbot durch die Adenauer-Regierung quasi durch das ZDF abgelöst wurde. Und noch früher war Borneman nicht nur Jazzliebhaber und -experte, sondern einer der ersten Jazzforscher, ein Kenner des Jazz, der diese Musik zeitlebens als transkulturelle künstlerische Aussage verstand und 1944 mit seinem Artikelreihe “The Anthroprologist Looks at Jazz” eine der ersten übers Anekdotische hinausreichenden Kulturgeschichten des Jazz verfasste.

Borneman schied im Juni 1995 aus dem Leben. Sein Archiv ist in der Berliner Akademie der Künste untergekommen; jetzt hat der Historiker Detlef Siegfried die Biographie des vielfältigen Forschers vorgelegt. Diese hat er klar nach den verschiedenen Feldern gegliedert, in denen Borneman tätig war, überschrieben “Hören. Die Ethnologie des Jazz”, “Sehen. Das Leben auf der Leinwand” und “Berühren. Sex und Gesellschaft”.

Der 1915 in Berlin geborene Ernst Bornemann – wie er bis zu seiner Emigration 1933 hieß – hatte bereits 1930 Bertolt Brecht kennengelernt, als Mitglieder von Berliner Schulchören zu Proben des Lehrstücks Der Jasager geladen worden waren. Er und Brecht freundeten sich an, Brecht half ihm bei der Abfassung seines ersten Theaterstücks und Borneman Brecht bei einer Neuübersetzung des Dreigroschenromans ins Englische. Siegfried, der zu Beginn seines Buchs anschaulich erklärt, wie er sich durch Bornemans eigene “Autofiktionen”, wie er sie nennt arbeiten musste, durch falsche Fährten also, die Borneman aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten seiner Karriere legte, beschreibt Bornemans Exil als “nicht nur Flucht-, sondern auch Möglichkeitsraum”.

In London war Borneman regelmäßig bei Jazzkonzerten anzutreffen, verkehrte außerdem in einem Kreis linker und schwarzer Intellektueller. Bereits Mitte der 1930er Jahre hatte er einen Kriminalroman geschrieben, arbeitete bald auch an einem Drehbuch für einen möglichen eigenen Film, in dem auch der Jazz eine Rolle spielen sollte. Im Sommer 1940 wurde er als “feindlicher Ausländer” interniert, doch bereits zuvor produzierte er seine erste Rundfunksendung. Nach seiner Internierung wurde er nach Kanada deportiert, wo er nach seiner Entlassung beim National Film Board Arbeit fand.

Er knüpfte Kontakt zu Sammlern und Jazzkennern in den USA und sammelte Material für eine mögliche musikwissenschaftliche Dissertation und ein Buch zum Thema “American Negro Folk Music”, das von zwei Verlagen zur Publikation angenommen, dann aber wegen kriegsbedingten Papiermangels nicht gedruckt wurde. In seinen Jazzarbeiten, für die Borneman sich bei dem bekannten Musikethnologen Melville J. Herskovits um ein Stipendium bemühte, ging es, wie Siegfried zusammenfasst, “um zwei Themen: erstens um die Verbindungen von afroamerikanischer Volksmusik und moderner Tanzmusik der Gegenwart, und zweitens um die Verschränkungen von sozialen Verhältnissen und Populärkultur”. 1944 begann Borneman seine achtteilige Artikelserie “The Anthropologist Looks at Jazz”, die in der Zeitschrift The Record Changer erschien, der er bald auch als Mitherausgeber angehörte. Er schlug sich in der Debatte um den Bebop zwar auf die Seite des “authentischen” Jazz, konnte aber der romantischen Rückwärtsgewandtheit vieler der Traditionalisten wenig abgewinnen und versuchte daher immer wieder zwischen den Lagern zu vermitteln.

Mitte der 1940er Jahre lebte er in Paris, interviewte Louis Armstrongs Band anlässlich des ersten Jazzfestivals in Nizza im Jahr 1948, und freundete sich mit amerikanischen Expatriates und französischen Musikern wie Claude Bolling oder Boris Vian an. Er schrieb für den britischen Melody Maker und produzierte 1953 mit Betty Slow Drag einen experimentellen Kurzfilm, der seine beiden großen Interessen Jazz und Film miteinander verbinden sollte. Für den Melody Maker berichtete Borneman auch über den Jazz in Westdeutschland, konnte aber, selbst als Joachim Ernst Berendt versuchte ihn mit zeitgenössischen Musikrichtungen der 1960er Jahre anzufreunden, indem er ihn in ein Konzert John Coltranes mitnahm, mit dem modernen Jazz wenig anfangen.

Siegfried widmet Bornemans langer Auseinandersetzung mit den karibischen Wurzeln des Jazz ein eigenes Unterkapitel und berichtet davon, wie der spätere Beat Club von Radio Bremen auf Bornemans Ideen zurückzuführen gewesen sei. Er zeigt, dass Borneman in seinen Schriften einige Debatten angestoßen hatte, die in der Jazzkritik erst in den 1960er Jahren wirklich ausgetragen wurden, als er selbst an dieser Diskussion nicht mehr selbst teilnahm. Letzen Endes mag Borneman nicht mit allen seiner Thesen Recht gehabt haben, ohne Zweifel aber sei er ein Wegbereiter der internationalen Jazzforschung gewesen.

Der Jazz spielt auch in den weiteren Lebens- und Arbeitsphasen für Borneman eine wichtige Rolle, und Bornemans kritischer Geist, den Siegfried am Beispiel des Jazz ausgiebig beschrieben hat, lässt sich auch in diesen Bereichen zeigen. Detlef Siegfrieds Buch ist dabei ein faktenreicher Band, der biographische Stationen und Diskurse, an denen Borneman beteiligt war, laufend miteinander verschränkt. Ganz sicher war Borneman einer der schillerndsten Vordenker des Jazz; Siegfrieds Schilderung sowohl seines Lebens als auch der Diskussionen, an denen sich Borneman sein Leben lang beteiligte, zeigt ihn aber darüber hinaus als einen vielseitig gebildeten, einfachen Erklärungen zutiefst skeptisch gegenüberstehenden, zur Offenheit des Denkens neigenden Forscher.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Teddy Wilson. 19 Selected Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2015 (Blue Black Jazz)
44,95 Euro

Boogie Woogie, Volume 2. 17 Original Boogie Woogie and Blues Piano Transcriptions
Transkriptionen von Paul Marcorelles
Toulouse 2014 (Blue Black Jazz)
46,85 Euro
Zu beziehen über www.blueblackjazz.com

Paul Marcorelles hat bereits eine ganze Reihe an Transkriptionen von Pianisten des frühen Jazz vorgelegt, vorzugsweise von Musikern, die im Stride- oder Boogie-Woogie-Stil spielten. Seine jüngsten Veröffentlichungen widmen sich dem Swing-Stil Teddy Wilsons auf der einen und dem Repertoire einiger der Boogie-Woogie-Größen der frühen 1940er Jahre auf der anderen Seite.

2015marcorelles_wilsonFür Teddy Wilson hat Marcorelles sich Soli zwischen 1934 und 1946 ausgesucht, schnelle virtuose Titel wie “Rosetta”, den “Tiger Rag” oder “When You and I Were Young, Maggie” sowie Balladen wie “Don’t Blame Me”, “Out of Nowhere” oder “Body and Soul”. Seine Transkriptionen sind exakt, gut lesbar, reine Notationen ohne weitere Spielanweisungen oder analysierende Harmoniesymbole. Sie sind zum Nachspielen gedacht, brauchen allerdings Pianisten, die zum einen keine Probleme mit den bei Wilson so beliebten Dezimengängen der linken Hand haben und zum zweiten technisch fortgeschritten sind, um die virtuosen Arpeggien und die die Rhythmik aufbrechenden Läufe tatsächlich zum Swingen zu bringen. Wilsons linke Hand allein kann jedem Pianisten helfen, die antreibende Kraft des Swingens zu begreifen. Auch das Studium seiner Voicings lohnt, deren Alterationen den Akkorden zusätzliche Schwebungen verleihen. Wie immer bei Transkriptionen von eigentlich improvisierten Jazzsoli ist es mehr als hilfreich, sich die Soli auf Platte (oder über Streamingdienste) anzuhören.

2015marcorelles_boogieIm zweiten der beiden jüngst veröffentlichten Bände versammelt Marcorelles Transkriptionen von Hersal Thomas (“Hersal’s Blues”), Clarence ‘Pinetop’ Smith (“Pinetop’s Boogie Woogie”), Jimmy Yancey (etwa den “Five O’Clock Blues”), Pete Ammons (z.B. “Rock It Boogie”), Meade Lux Lewis (“Chicago Flyer” und “Glendale Glide”), Albert Ammons (etwa seinen “Swanee River Boogie”), Sammy Price (133rd Street Boogie”) und Pat Flowers (“Eight Mile Boogie”). Die rhythmischen Verschiebungen zwischen Bassfiguren und rechter Hand im Boogie Woogie sind dabei noch weit schwerer zu “lesen” und bedürfen noch stärker des Höreindrucks, um sie danach vom Papier in die Tasten zu übertragen und erlauben im Idealfall – und das wäre es ja eigentlich immer im Jazz – irgendwann das Loslassen und das eigene Erfinden melodischer und rhythmischer Muster, die eigene Improvisation.

Marcorelles’ neue Bände seien jedenfalls jedem interessierten Pianisten empfohlen als Übe- genauso wie Studienmaterial. Marcorelles bietet auf seiner Website übrigens alle insgesamt 202 Transkriptionen dieser wie früher erschienener Bände auch einzeln zum Download als PDF-Datei an

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Hot Music, Ragmentation, and the Bluing of American Literature
von Steven C. Tracy
Tuscaloosa 2015 (The University of Alabama Press)
537 Seiten, 64,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8173-1865-9

2015tracySteven C. Tracy ist Literaturwissenschaftler, Professor für Afro-American Studies, aber auch ein Blues-Harp-Spieler, der bereits in Vorgruppen für B.B. King, Muddy Waters und andere Stars der Szene auftrat. In seinem umfangreichen Buch stellt er die afro-amerikanische Musik der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, also Jazz und Blues, als Referenzpunkt dar, der helfen könne, die amerikanische Literaturgeschichte jener Zeit besser zu verstehen. Es geht ihm dabei nicht einzig um Romane oder Dichtung, die sich konkret und thematisch mit Musik beschäftigen, sondern auch um den Einfluss von Klanglichkeit, von Virtuosität, von improvisatorischer Haltung auf die amerikanische Literatur der Jahre bis 1930. Er greift hierfür immer wieder zurück auf konkrete Aufnahmen, um etwa Beispiele der afro-amerikanischer Stimme, des afro-amerikanischen Rhythmus, der Griot-Funktion des Bluessängers, der Bedeutung von Wiederholungen, der tiefen Doppeldeutigkeit, der politischen Untertöne herauszustreichen, die eben keine rein afro-amerikanischen Untertöne seien, sondern Befunde für den Zustand der gesamten amerikanischen Gesellschaft. Tracy verbindet die Genres, folkloristischen Blues, modernistischen Jazz, um aus dem Mix der Aufnahmen heraus, auf die er sich bezieht, neue Argumente zu entwickeln, die abseits der üblichen Beschreibung von Jazz-, Blues- oder Kulturgeschichte liegen. Er untersucht daneben auch Film- oder klassische Musikgeschichte nach Einflüssen von oder Analogien zu afro-amerikanischer Musik und findet den nachhaltigsten Widerhall außerhalb der Musik schließlich in der Literatur, bei T.S. Eliot, William Carlos Williams, Hart Crane, Gertrude Stein, Ezra Pount, und bei Abbe Niles, Langston Hughes, Countee Cullen, Zora Neale Hurston und anderen Dichtern und Schriftstellern der Harlem Renaissance.

Tracys schnelle Wechsel zwischen den Diskursen sind dabei sowohl inspirierend wie auch, da sie ein häufiges Vor- und Zurückblättern erfordern, zeitweise ermüdend. Sein intertextueller Ansatz ist auf jeden Fall ein Beispiel, wie sich aus dem Studium afro-amerikanischer Musik Aussagen über weit mehr als diese treffen lassen, wie stark tatsächlich diese Musik bereits in den ersten 30 Jahren des 20sten Jahrhunderts ihren Niederschlag im Denken, Handeln und Schreiben gefunden hat.

Wolfram Knauer (März 2016)


 

Friedel Keim
Das große Buch der Trompete (3)
Diskografie, Fotografien, Statistik, Nachträge
Fortsetzung des Trompeter-Lexikons, Band 3
Mainz 2015 [Eigenverlag
554 Seiten, 33,90 Euro
nur direkt zu beziehen über
Friedel Keim, e-mail: ruf.keim@t-online.de

2015keimDer Ur-Maizer Trompeter Friedel Keim hat nach den ersten beiden Auflagen von 2005 und 2009 nun den dritten Band seiner Trompeterbibel vorgelegt, ein sorgfältig recherchiertes Kompendium, das die verschiedensten Seiten des Instruments und seiner Musiker beleuchtet und dessen Spektrum von Klassik über Jazz bis zur volkstümlichen Musik reicht.

Keim kennt dabei keine Berührungsängste. Er versteht es genauso, sich über die Kunst der Barocktrompete auszulassen wie über die Probleme, die viele Jazzer mit der Ästhetik eines Wynton Marsalis haben. Und neben den großen Stars finden auch die Satzbläser wieder Erwähnung oder Musiker der aktuellen Szene.

Der lexikalische Teil von Band 3 enthält biographische Artikel von A wie “Abbott, Goivinda” bis Z wie “Zonshine, Michael”. Neben diesen teils ausführlichen Portraits gibt es Anmerkungen zur Interpretation von Werken aus Klassik, Marschmusik und anderen Genres, darunter auch analytische Anmerkungen und Notenbeispiele aus dem Jazzbereich, etwa eine Transkription des “West End Blues” in der Version von Louis Armstrong und seiner Hot Five von 1928, Dizzy Gillespies “Night in Tunisia”, oder Maynard Fergusons Version von “Body and Soul”. Korrekturen und Ergänzungen zu den beiden ersten Bänden erhalten ein eigenes Kapitel, und wieder gibt es den Block “Wissenswertes rund um die Trompete”, der etwa Informationen über das “Gansch-Horn” gibt oder über das flexibrass-Mundstück, über die Vuvuzela oder über die Trompete auf historischen Briefmarken, über den Trompetenbaum oder diverse Filme, in denen die Trompete im Mittelpunkt steht. Schließlich findet sich noch ein umfassendes Kapitel zu Horst Fischer, jenem legendären deutschen Trompeter, dessen Prolog zu einer Autobiographie Keim abdruckt, außerdem eine alphabetische Auflistung aller ihm bekannter Fischer-Aufnahmen.

Wie bereits in den vorherigen Bänden findet sich auch in Band 3 vieles, was sonst kaum irgendwo erierbar wäre. Friedel Keim weiß um Geburts- und Sterbedaten, berichtet über die Stars, aber eben genauso über die “kleinen” Vertretern des Instruments, über Satzspieler oder junge Musiker, die durchaus auch zwischen den stilistischen Welten leben und arbeiten, über Dixieland- und Swingtrompeter, die eher der Amateur- als der Profiszene angehören, aber dennoch gute Musiker sind, über Musiker von denen man noch nie gehört hat oder aber auch Musiker, die man persönlich kennt, aber nie in einem Lexikon vermutet hätte, weil ihr Arbeitsschwerpunkt doch eher regional begrenzt ist. Keim hat sich ihnen allen angenommen mit einem Vollständigkeitsanspruch, der jede Kritik an der Auswahl im Keim ersticken ließe (man entschuldige das Wortspiel). Und gerade in den Einträgen zu den kleinen Vertretern der Trompete erkennt man einmal mehr die “labor of love” dieses Buches, das zu alledem noch exzellent lesbar ist. Kein kritisches Buch vielleicht, dafür ein verlässliches Nachschlagewerk für jeden, der sich für die Trompete interessiert: eine Trompeterbibel fürwahr!

(Wolfram Knauer, Februar 2016)


 

Mein Onkel Pö
von Holger Jass
Hamburg 2015 (Offline-Verlag)
137 Seiten, 25,55 Euro
ISBN: 978-3-00-051272-8

2015jassEinen ersten Hinweis auf den Inhalt dieses Buchs gibt bereits der Preis: 25,55 Euro, entsprechend einem Cent pro Nacht im legendären Club, wie Holger Jass in der Presseankündigung zum Buch erklärt. Holger Jass hatte das Onkel Pö (Onkel Pö’s Carnegie Hall, wie es damals offiziell hieß) Anfang 1979 vom Vorbesitzer Peter Marxen übernommen, der ihn bei der Übergabe warnte: “Ich muss dich warnen. Pö-Jahre sind wie Hundejahre. Die zählen siebenfach.” Jass hielt es bis Anfang 1986 aus, führte das “Pö” im Sinne seines Kultstatus’ weiter und hat jetzt ein kurzweilig-amüsantes Buch über seine Erlebnisse mit Musikern, Medienmenschen, Kollegen und dem Publikum geschrieben, das ihm die ganzen Jahre über treu blieb, aus dessen Reihen sich aber partout kein Interessent für eine Nachfolge finden ließ.

“Jetzt macht Jass den Jazz im Onkel Pö” titelte das Hamburger Abendblatt, als Jass 1979 übernahm. Sein Buch handelt natürlich auch von Jazz. Er beschreibt, wie Michael Naura, damals Jazzredakteur des NDR viele der Jazzabende mitschnitt, die sich das Pö ansonsten kaum hätte leisten können. Den Flügel im Club hatte kein geringerer als Joachim Kühn ausgesucht und eingeweiht. Ansonsten bevölkern Jazzer wie Freddie Hubbard, Elvin Jones, Pat Metheny, Dexter Gordon die Seiten, aber auch Tom Waits, Charlie Watts, Joe Cocker, Hannes Wader, Truck Stop und natürlich Udo Lindenberg, der dem “Pö” in einem seiner Hits ein Denkmal setzte.

“Bei Onkel Pö spielt ‘ne Rentnerband”, hieß es da, “seit 20 Jahren Dixieland” – aber mit Dixieland ließ sich so ein Schuppen nicht finanzieren, bilanziert Jass trocken … obwohl man das Wort “trocken” selbst bei einer Rezension dieses Buchs nicht in den Mund nehmen sollte, denn trocken ging es ganz sicher nicht zu im Pö. Auch davon handelt das Buch, von den skurrilen Erlebnissen mit den Musikern, vom gesteigerten Alkoholkonsum, vom Pflegen einer Szene und davon, dass man, um Wirt zu sein, ein dickes Fell und viel Humor benötigt. Pineau ist das Zauberwort, jene süßliche Mischung aus Traubenmost und Cognac, die Jass als Allheilmittel vieler Probleme genauso beschreibt wie als Ursache anderer. Seine Anekdoten machen klar, dass man als Wirt und täglicher Konzertveranstalter selbst nicht ganz ohne solche “Medizin” auskommt: ein divenhafter Auftritt Freddie Hubbards etwa oder jener Abend mit Dexter Gordon, den Jass allerdings erst aus drogenbedingtem Tiefschlaf im Hotel um die Ecke wecken musste, den er für seine 57 Jahre als “bös klöterich” beschreibt, der dann aber nach einem dreifachen Whiskey ein denkwürdiges Konzert gegeben habe.

Sehr viel tiefer geht es sicher nicht in seinen Erinnerungen, die er mit viel Augenzwinkern und der humorvollen Abgeklärtheit der zeitlichen Distanz schreibt, und bei denen man schon mal über die eine oder andere schlüpfrige Anekdote hinweglesen muss. Bei all denen, die dabei waren in diesem zwischen Alternativszene und Hochkultur angesiedelten Zauberort in Eppendorf, wird er warme Erinnerungen wecken. Man meint den Fusel wieder zu schmecken und die dicke Luft wieder zu riechen, vor allem aber erinnert man sich an die musikalischen Hochgenüsse, die das Onkel Pö so oft und so viel vermittelte. Für diejenigen, die nicht dabei waren, gibt Jass ein launiges Portrait, einschließlich etlicher Fotos, ein Portrait, das stellenweise einer Filmdokumentation über verwunschene Zeiten ähnelt, bei denen man eigentlich gern dabei gewesen wäre.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Rhythm Is My Beat. Jazz Guitar Great Freddie Green and the Count Basie Sound
von Alfred Green
Lanham/MD 2015 (Rowman & Littlefield)
325 Seiten, 75 US-Dollar
ISBN: 978-1-4422-4246-3

2015greenCount Basies All American Rhythm Section gilt als die swingendste Rhythmusgruppe des Jazz. Die Art, wie Pianist Basie, Gitarrist Freddie Green, Bassist Walter Page und Schlagzeuger Jo Jones rhythmisch und harmonisch ineinandergriffen, um den vorwärtstreibenden Schwung zu schaffen, der zu ihrem Markenzeichen wurde, besaß so viel an Energie, dass Rhythmusgruppen überall auf der Welt sie zum Vorbild nahmen. Den wichtigsten Anteil an dieser Energie hatte, wie Basie selbst, aber auch zahllose andere Musiker bezeugen, Freddie Green, der dem Count Basie Orchester von 1937 bis zu Basies Tod im Jahr 1983 und der Band noch ein paar Jahre danach bis zu seinem eigenen Tod 1987 angehörte. Von Nichtmusikern wurde Green schon mal dafür bemitleidet, ein ganzes Leben lang nie ein wirkliches Solo gespielt, dafür immer nur “schrumm schrumm” gemacht zu haben, vier Schläge pro Takt, durchgehend vom ersten Akkord bis zum letzten; und doch ist ihm jemand kaum in der Kunst des Rhythmus nahegekommen, den dieser Vierschlag erzeugen konnte.

Jetzt hat Alfred Green, der Sohn des Gitarristen, eine Biographie vorgelegt, die weit mehr ist als die persönliche Erinnerung eines Verwandten. Greens Buch schafft den Spagat zwischen Insiderwissen, persönlicher Betroffenheit und nüchterner Beschreibung der Lebens- und Arbeitswirklichkeit eines Musikers der Bigbandära.

Die Geschichte beginnt in Charleston, South Carolina, wo Freddie Green 1911 geboren wurde, in einer Stadt mit einer überaus lebendigen schwarzen Musikszene. Nachdem er die erste Ukulele gegen ein viersaitiges Banjo ausgetauscht hatte, sammelte er erste musikalische Erfahrungen mit Freunden aus dem Jenkins Orphanage, einem berühmten Waisenhaus in Charleston, aus dem etliche spätere Musiker hervorgingen. Mit einer dieser Bands reiste er die Küste hoch bis nach Maine, wechselte irgendwann vom Banjo zur Gitarre und spielte mit dem Saxophonisten Lonnie Simmons und dem Stride-Pianisten Willie Gant. Als der Impresario John Hammond ihn hörte, empfahl er seinem Schützling Count Basie, sich den Gitarristen für sein Orchester zu sichern. Im Januar 1937 kam es zum Vorspiel erst in kleinem Kreis, dann mit der Bigband, und am 1. Februar begann sein mehr als 45-jähriges Engagement als Motor des Count Basie Orchestra.

Alfred Green erzählt nicht nur die Lebens- und Arbeitsstationen Greens, sondern nähert sich auch seinem Stil, fragt nach Einflüssen, erklärt die Besonderheit des Green’schen Sounds. Der Autor wurde im Februar 1938 geboren, im selben Jahr beendete seine Mutter ihre Beziehung zu seinem Vater, sicher auch, weil der inzwischen eine Romanze mit Billie Holiday begonnen hatte, die für kurze Zeit mit Basie reiste.

Green beschreibt die verschiedenen Besetzungen der Basie-Band der 1930er und 1940er, die Schwierigkeiten des Musikerlebens, und die zunehmenden Probleme der Musikindustrie, die schließlich dazu führten, dass Basie sein Orchester auflöste und kurze Zeit mit einem Sextett – ohne Gitarre – auftrat. Sein Vater nahm die Entscheidung nicht hin und tauchte einfach beim nächsten Gig des Sextetts mit seiner Gitarre auf. “Was machst du denn hier?”, fragte Basie, und Green antwortete, “Was glaubst du wohl? Du hast hier einen Gig, richtig? Ich habe dir die besten Jahre meines Lebens gegeben und du glaubst, mich einfach beiseiteschieben zu können? Keine Chance!”

Während die 1930er- und 1940er-Jahre-Band insbesondere ein Solistenorchester war, wurde der Sound der 1950er Jahre-Band durch ihre Arrangeure geprägt. Alfred Green berichtet, wie Green seinen Platz in den Arrangements fand, wie er sich zu den Schlagzeugern positionierte, und wie er seine Aufgabe immer als die eines Unterstützers der anderen gesehen habe.

Neben den Einsichten in Greens Karriere sind es vor allem die technischeren Kapitel, die im Buch faszinieren. Alfred Green beschreibt etwa die Spannung der Saiten, die besondere Haltung, die Green benutzte, bei der sein Instrument fast auf seinem Schoß lag, spricht über die Tatsache, dass Green kaum je mit nicht-akkordischen Soli zu hören war, über seine wenigen Aufnahmen unter eigenem Namen, über Gigs für andere Bandleader und anderes mehr.

Einem dicken Block mit seltenen Fotos folgen schließlich noch Analysen von Michael Petterson, M.D. Allen und Trevor de Clerq sowie Zitate anderer Gitarristen über Green, schließlich eine ausführliche Diskographie aller seiner Aufnahmen.

Es gibt eine Reihe an Büchern über das Count Basie Orchester, darunter natürlich auch Basies eigene Autobiographie, verfasst mit Hilfe Albert Murrays. Keines dieser Bücher aber bietet einen so persönlichen Einblick in die Band wie das Buch Alfred Greens über seinen Vater. Der Gitarrist Freddie Green war wahrscheinlich der wichtigste Musiker des Basie Orchesters, der nicht nur für den durchgehenden Swing und eine rhythmische Verlässlichkeit stand, sondern der Band auch, was oft übersehen wird, ihren ganz spezifischen Sound verlieh, der sie aus der Menge ihrer Konkurrenten auf dem großen Bigbandmarkt hervorhob. Greens Buch gelingt in diesem Umfeld gleich dreierlei: Er schreibt eine Biographie des Gitarristen Freddie Green, er erzählt Details aus der Bandgeschichte Count Basies (und damit aus dem Alltag der Swingära), und er teilt sehr persönliche Erinnerungen an seinen Vater mit dem Leser.

Ihm gelingt dabei der schwierige Spagat, Beobachter und Sohn zur selben Zeit zu bleiben. Zu Beginn liest sich das alles wie eine interessante, aber eher distanzierte Lebensdarstellung, bis Green aus einem Gespräch zitiert, das er mit seiner Mutter geführt hatte, und bei dem einen schlagartig klar wird, dass der Autor ja Sohn des Objekts seines Berichts ist, dass er mit dem Wissen eines Familienglieds, sicher auch mit eigener Betroffenheit schreibt. Solche Perspektivwechsel gelingen ihm hervorragend, wie man in etlichen bewegenden Passagen erkennen kann. Green verschweigt macht aus seinem Vater nirgends einen Heiligen, sondern stellt ihn als Menschen dar, der nach dem Besten strebte, aber durchaus fehlbar war.

“Rhythm Is My Beat” ist ein sehr empfehlenswertes Buch, über Freddie Green, über Count Basie, über die Swingära und vieles mehr. Alfred Greens Buch gibt einen tieferen Einblick als vieles, was man sonst so liest zu diesem Thema und ist eine spannende Lektüre für Fans, genauso wie für Musiker oder Forscher über diese Musik.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


 

Keith Jarrett. Eine Biographie
von Wolfgang Sandner
Berlin 2015 (rowohlt)
362 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-780-1

2015sandner“Mit freundlichen Künstlern ist die Welt nicht gesegnet”, beginnt Wolfgang Sandner sein Buch, das er mit Wohlwollen des Pianisten angegangen war, bis er mit diesem nach einem Konzert aneinandergerieten sei, weil es Jarrett nicht gefallen habe, dass Sandner sein “Köln Concert” als einen seiner größten Erfolge bezeichnete. “Das Ende eines Dialogs eröffnet jedoch auch eine Chance”, befindet Sandner. In der Folge nämlich habe er sich noch stärker auf die Musik konzentrieren müssen. Das Ergebnis ist ein Buch, das der Musik Jarretts als eines Künstlers gerecht wird, der seine Kraft aus der Improvisation des Jazz zieht, dessen Wirkung aber weit über dieses Genre hinausreicht.

Keith Jarrett wurde am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren, und Sandner sieht diesen Tag, Kriegsende, als symbolträchtig für die Jahrhundertkarriere des Pianisten. Ohne Europa, das durch den Krieg noch mehr für die Qualitäten des Jazz sensibilisiert war, erklärt Sandner, wäre Jarretts Karriere einerseits so nicht möglich gewesen, auf der anderen Seite habe Jarrett immer tief in den Traditionen der amerikanischen Avantgardeästhetik gestanden, in der Tradition auch eigenbrötlerischer Künstler wie Lou Harrison und Alan Hovhaness, deren Werke er Anfang der 1980er Jahre in Europa uraufführte.

Sandner zeichnet die Kindheit Jarretts in Allentown nach, die Erkenntnis seines Talents, das Trauma der Trennung seiner Eltern, dem er mit dem Rückzug in die Musik begegnete, und die musikalischen Bemühungen seiner Brüder. Jarrett spielte mit lokalen Bands, besuchte Workshops, gewann ein Stipendium fürs Berklee College, mit dessen die Musik eher regulierenden als zur Kreativität ermutigendem Lehrplan er allerdings wenig anzufangen wusste. Da war die Schule von Art Blakeys Jazz Messengers schon eine andere, in denen Jarrett ab Herbst 1965 für vier Monate mitwirkte. Von Blakey wechselte er in die Band des Saxophonisten Charles Lloyd, dem er durch dessen Schlagzeuger Jack DeJohnette empfohlen worden war. Lloyds Quartett war “die erste Supergroup des Rockjazz”, und Sandner hört sich sowohl dessen Studio- wie auch die Liveaufnahmen an. 1967 gründete Jarrett sein erstes Trio mit Charlie Haden und Paul Motian, und als ihm Miles Davis 1969 zum wiederholten Mal anbot, in seiner Band mitzuwirken, sagte Jarrett zu, obwohl Miles mit Herbie Hancock und Chick Corea bereits zwei Pianisten in der Band hatte. Bei Miles musste er elektronische Keyboards und Orgel spielen, Instrumente, die ihm eigentlich zuwider waren. Zugleich setzte er sich noch mehr mit Klang auseinander, mit dem Sound der Instrumente, die er zu bedienen hatte genauso wie den Soundmöglichkeiten der Band, die für Miles im Mittelpunkt seiner “musikalischen Großräume, Klangkunstwerke” standen.

Ein eigenes Kapitel widmet Sandner der Partnerschaft zwischen Keith Jarrett und Manfred Eicher, der weit mehr war als ein Labelgründer und Plattenproduzent. Jarrett stand Anfang der 1970er Jahre eigentlich bei ABC unter Vertrag, ihm wurde aber erlaubt, Produktionen mit “ernster Musik” und ähnliche Aufnahmen ohne Gegenleistung anderswo einzuspielen, das könne sein Ansehen schließlich nur steigern. Dass Jarretts Aufnahmen für Eichers Edition of Contemporary Music zum Zugpferd für das Label ECM werden sollten, hatte niemand vorhergesehen. Im November 1971 also ging Jarrett erstmals in Oslo ins Studio und produzierte mit “Facing You” die erste von bis heute 28 Solo-Produktionen für Eicher, ein Album, das sowohl Jarretts Ruf als Solopianist begründete als auch Eichers Ruf als einer der offenohrigsten Produzenten des Jazz. Sandner erklärt, was die Partnerschaft und das Vertrauen der beiden zueinander begründe, die Tatsache etwa, dass Eicher selbst Musiker sei oder dass sein Interesse neben dem Jazz auch anderen Formen von Musik (oder Literatur oder Kunst oder Film) gelte. Eicher, schlussfolgert Sandner auch nach dem Gespräch mit anderen ECM-Künstlern, sei bei vielen seiner Produktionen der “dritte Mann”, auch wenn man ihn weder sehe noch höre.

Es gäbe etliche Musiker und Musikliebhaber, warnt Sandner schon im Vorwort seines Buchs, die meinen, über Musik solle man nicht so viel schreiben, da diese das Wesentliche doch eh in sich berge. Und dann tut er genau das, kongenial, so nämlich, dass seine Zeilen die Musik zwar heraufbeschwört, aber nirgends zu ersetzen trachtet. Über Jarretts Klavierspiel etwa schreibt er, man könne vielleicht die verschiedenen Techniken benennen, die seinen Personalstil ausmachten, komme dabei aber vor allem an einem Charakteristikum nicht vorbei, das Sandner die “Konzentration aufs Wesentliche” nennt und das er in Jarretts musikalischem Ansatz genauso findet wie in seiner Wahl der Mitmusiker oder in der klaren Gliederung seines Repertoires in Standards, eigene Kompositionen und freie Solo-Improvisationen.

An anderer Stelle verfolgt er Jarretts Vervollkommnung der authentisch-eigenen Stimme. Er betrachtet die Aufnahmen seines amerikanischen Quartetts mit Dewey Redman und seines europäischen Quartetts mit Jan Garbarek, beschreibt, was an diesen Aufnahmen so besonders sei, obwohl sie doch weder einen unerhörten Klang hervorbrächten noch eine neue Form oder eine außergewöhnliche ästhetische Haltung. Er nennt Jarrett einen “Solist ohne Grenzen”, verfolgt die unterschiedlichen pianistischen Ansätze, die der Künstler über die Jahre entwickelte. Und Sandner ist wie wenige deutsche Autoren ein Meister darin, Musik mit Worten näher zu kommen. Ein Beispiel: Über Jarretts Album “Staircase” schreibt er: “Alles, was Jarrett in den elf Stücken erklingen lässt, besitzt Körperlichkeit. Es gibt keine flachen Töne, nur runde, eckige, kubusartige, voller Tiefenschärfe. Wenn ein Ton verklingt, wird er nicht nur leiser, er verschwindet wie in einem Tunnel, verliert nicht nur sein Volumen, sondern wird augenscheinlich kleiner.” Er benennt die Beziehungen zwischen Jarretts Aufnahmen an der Barockorgel in Ottobeuren und seiner Suche nach Klangfarben einerseits und ähnlichen Suchen europäischer oder amerikanischer Komponisten andererseits, nicht aber, um daraus Einflüsse abzuleiten, sondern um zu zeigen, dass Jarrett sich da inmitten eines breiten Diskurses befindet, in dem seine eine gewichtige Stimme ist.

Zwischen ausführliche Beschreibungen der diversen Plattenprojekte streut Sandner aber auch Informationen über die Selbstzweifel des Künstlers, über persönliche und geschäftliche Krisen, über Rückenschmerzen und das chronische Erschöpfungssyndrom, dass Jarrett für einige Jahre aus dem Verkehr zog. Er beschreibt, wie all diese außermusikalischen Ereignisse ihren Widerhall in Jarretts Musik fanden. Nach seiner Genesung, fasst Sandner zusammen, sei Jarrett ” praktisch nicht mehr in ein Aufnahmestudio zurückgekehrt. Mit Ausnahme einer Duo-Aufnahme mit Charlie Haden und einer Einspielung von Bach-Sonaten für Violine und Klavier sind alle Aufnahmen danach bei Live-Auftritten entstanden.”

Natürlich nimmt das “Köln Concert” ein wichtiges Kapitel seines Buchs ein. Sandner beschreibt die bekannt widrigen Umstände des Konzerts, Rückenschmerzen, ein schlecht intoniertes Instrument, ein Stutzflügel, den die Bühnenarbeiter statt des eigentlich geplanten Bösendorfer Imperial auf die Bühne gestellt hatten, und er erzählt, wie Jarrett aus all diesen Widrigkeiten über sich herauswuchs, die Beschränkungen des Instruments zu Stärken seiner Aufnahme machte. Das “Köln Concert” wurde zu einem Riesenerfolg bei Kritik und Publikum gleichermaßen, und selbst der Perfektionist Jarrett musste später zugeben, dass die Ideen, “diese Klangfarben und diese Stimmführungen”, die auf der Aufnahme zu hören sind, schon einzigartig waren.

In weiteren Kapiteln seziert Sandner die Herangehensweise Jarretts an die Standards des American Popular Song, die er zusammen mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette ab 1983 einspielte und bald auch bei Konzerten spielte, seine Einspielungen klassischer Musik von Bach bis Lou Harrison, sowie Jarretts eigene Kompositionstätigkeit, die sich keinesfalls in der Komposition von Themen für eigene Improvisationen erschöpfte.

Sandners letztes Kapitel heiß “Einspruch” und ist unter all den lesenswerten Kapiteln dieses Buchs vielleicht das lesenswerteste. Sandner beginnt mit einer Eloge auf den kreativen Schöpfer, auf das Genie Keith Jarrett, um dann die Reaktion hervorzuheben, mit der Jarrett so oft, auf so vieles, reagiert, seine “Manie, etwas abzulehnen”. Der wichtigste Einspruch Jarretts gelte dabei musikalischen Trends, kurzlebigen Moden oder selbsternannten Kanonikern. Sandner findet diese Veto-Haltung auch im Klavierspiel des Meisters selbst, das “allen Regeln der traditionellen Klavierkunst widerspricht und wirkt, als sei das Instrument weniger ein Partner, vielmehr ein Gegner, den man bezwingen müsse, bisweilen mit List und Tücke, bisweilen mit tänzerischem Ablenkungsmanöver, manchmal mit brachialer Gewalt, nicht selten aber, indem man sich den Flügel einverleibt, mit ihm verschmilzt.” Es ist dieses Eins-Sein mit seiner Musik, das Jarrett auch außerhalb der Jazzanhängerschaft Wirkung verschafft hat. Henry Miller schrieb ihm einen Brief, nachdem er das “Köln Concert” gehört hatte, Sergiu Celibidache und Marcel Reich-Ranicki zeigten sich begeistert. Sandner argumentiert aber auch, dass diese Verweigerungshaltung neben seinen künstlerischen Entscheidungen auch Jarretts problematisches Bühnenverhalten beeinflusst habe, seine gelegentlichen Publikumsbeschimpfungen, die, wie Sandner schreibt, fast schon zum Ritual geworden seien, das Voyeure unter den Hörern erwarten oder gar herausfordern.

Wolfgang Sandners Buch gelingt es, der Musik Keith Jarretts nahe zu kommen, gerade, weil er sich, wie er im Vorwort erklärt, mit dem Künstler entzweit hat. Sandner besitzt den Überblick nicht nur über Jarretts Schaffen und nicht nur über die Jazzgeschichte, aus der heraus Jarretts Kunst kommt, sondern über die gesamte Kulturgeschichte, in die hinein Jarretts Musik wirkt. Es gelingt ihm, die verschiedenen Positionen zu definieren, die sich in der Musik und ihrer Rezeption widerspiegeln: die musikalische, ästhetische und wirtschaftliche Position Jarretts zu verschiedenen Zeiten, die Position der Labels, der Agenten, der Produzenten, die Position Manfred Eichers, die Position der Kritiker und des Publikums, und nicht zuletzt auch seine eigene Position, die Position Wolfgang Sandners. Dass er aus eigener Begeisterung heraus schreibt, lässt er nicht unerwähnt. Er bezeichnet Jarrett wiederholt als “Genie”, nennt ihn den größten Musiker, der je aus Allentown kam. Doch dient diese eigene Positionsbestimmung letztlich auch dem Vertrauen, das wir als Leser in Sandners Wertung der Musik haben können. Er lässt uns klar wissen, wo er als Autor steht, und so können wir viel leichter unsere eigene Position beziehen, überdenken, revidieren. Wolfgang Sandner ordnet Jarretts Aufnahmen dabei nicht nur in Jazz-, Musik- und Kulturgeschichte ein, er verleitet zum neuen, zum tieferen Hören, und er ermöglicht ein Verständnis – im besten Sinne des Wortes – über die Grenzen des emotionalen Hörens hinaus.

Wolfram Knauer (Dezember 2015)

Nachtrag Februar 2021:

Keith Jarrett. A Biography
by Wolfgang Sandner, translated by Chris Jarrett
Sheffield 2020 (Equinox)
215 Seiten. 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-800500129

Sandners Jarrett-Biographie ist inzwischen auf Englisch erschienen, übersetzt von keinem Geringerem als Jarretts Bruder, dem in Deutschland lebenden Pianisten Chris Jarrett. Für die englische Ausgabe hat Sandner seinen früheren Text erweitert und aktualisiert, hat neuere Aufnahmen und neue Veröffentlichungen aus früheren Jahren berücksichtigt und neue Erkenntnisse über Jarretts familiären Background geteilt. Mit dem Abschied Jarretts von der Bühne im vergangenen Oktober scheint auch seine Karriere abgeschlossen. Sandners Buch vertieft das Wissen und ermuntert zum Nachhören – jetzt vielleicht etwas wehmütiger als bei der ersten (deutschen) Lektüre vor sechs Jahren.


 

Als der Jazz nach Kassel kam. Streifzüge durch die Szene der ersten Nachkriegsjahre
von Ulrich Riedler
Berlin 2015 (B&S Siebenhaar Verlag)
104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN: 978-3-943132-39-7

2015riedlerDie großen Jazzmetropolen – Berlin, Hamburg, Köln, München – sind weitgehend dokumentiert. Auch für kleinere Städte haben sich Historiker und Hobbyhistoriker der Aufbereitung der Jazzgeschichte angenommen. Das kann schon mal seltsam wirken, wenn Provinzzentren wie der Mittelpunkt der Welt erscheinen, wo sie doch meist nur Durchgangsstationen für aufstrebende spätere oder etablierte, sich auf Tournee befindende Jazzstars waren. Tatsächlich aber sind regionalen Szenen bis heute wichtige Brutstätten künstlerischer Ideen, auch wenn viele der Musiker, die hier ihre Anfänge nehmen, irgendwann in die großen Zentren abwandern, in Städte mit bedeutenden Hochschulen etwa oder in solche mit einer lebendigen, großen Jazzszene.

Das nordhessische Kassel, in der Mitte der Republik, und doch kulturell vor allem durch die Brüder Grimm und die documenta bekannt, besitzt bis heute eine lebendige Szene, verschiedene Spielorte für Jazz und improvisierte Musik, und ein langjähriges Festival. Die alle fünf Jahre stattfindende documenta bringt es mit sich, dass die Bürger der Stadt sich sehr bewusst mit ästhetischen Diskursen der Avantgarde auseinandersetzen.

Der Journalist und Jazzfan Ulrich Riedler hat sich in seinem Buch auf die Suche nach den Anfängen des Jazz in der nordhessischen Stadt gemacht und diese im Frühjahr 1940 entdeckt, als sich junge Jazzfreunde im Gasthaus “Ledderhose” trafen, wo sie gemeinsam die neuesten Platten hörten. Irgendwann rückte die Gestapo ihnen auf den Leib, nahm die Jungs mitsamt ihrer Schellackschätze mit und unterzog sie einer gründlichen Befragung. Die Jazzfans wurden bald wieder entlassen, und einer von ihnen kann Riedler nicht nur von damals berichten, sondern ihm sogar noch die kurzfristig konfiszierten Platten zeigen. Die “Ledderhose” blieb auch nach dem Krieg ein Jazztreffpunkt, in dem die Mitglieder zu Platten tanzten, ab und zu aber auch selbst zum Instrument griffen.

Die 1950er Jahre dokumentiert ein Gespräch mit dem späteren Spiegel-Redakteur Alfred Nemeczek, von dem Riedler außerdem einen Bericht über das Jazzkontor Kassel aus dem Jahr 1959 andruckt, den Versuch, in Nordhessen einen Liveclub nach Vorbild des Frankfurter Jazzkellers zu etablieren. In den 1950er Jahren begannen die ersten amerikanischen Stars Deutschland zu erobern. Kassel erlebte Konzerte von Duke Ellington, Louis Armstrong, Lionel Hampton oder der Jam-Session-Truppe Jazz at the Philharmonic mit Ella Fitzgerald und vielen anderen.

Einer der Stammgäste der Kasseler Jazzszene war damals der Trompeter Manfred Schoof, der zwei Jahre an der Kasseler Musikakademie studierte, bevor er nach Köln weiterzog. Riedler spricht mit ihm über die Jazzszene jener Zeit, über Musiker und Musikerlegenden der Region, unter anderem den Tenorsaxophonisten Werner Apel, den, wie man sich erzählt, sogar Duke Ellington verpflichten wollte, weil er ihn bei einer Jam Session so beeindruckt habe, und natürlich auch über die GI-Clubs, in denen Schoof die amerikanische Kultur erst richtig kennenlernte.

Die Amerikaner waren im Stadtteil Rothwesten in Fuldatal stationiert und engagierten über die Special Service Agencies jede Menge deutscher Musiker für die Unterhaltung in den verschiedenen Clubs. Riedler blickt auf Orte, aufs Repertoire, auf das Jazzprogramm des örtlichen Amerika-Hauses, beschreibt aber auch andere Veranstaltungsorte der Stadt, deren Programm großteils von Vereinen organisiert, zum Teil auch von der Stadt unterstützt wurde. Er erzählt, wie Arnold Bode, der Vater der documenta, von der Band des Vibraphonisten und Gitarristen Fritz Bönsel so angetan war, dass er im Landesmuseum ein Konzert veranstaltete, das den Jazz endgültig in der Stadt etablierte.

Die Jazzszene jener Jahre beinhaltete traditionelle genauso wie moderne Stile, und so beschreibt auf der einen Seite die Dixieland-Szene der 1950er und 1960er Jahre mit ihren Riverboatshuffles und dem musikalischen Versuch, dem Original so nah wie möglich zu kommen, auf der anderen Seite aber auch, wie andere Musiker, Schoof und Gunter Hampel unter ihnen, dem modernen Jazz in Kassel zu Gehör verhalfen. Und schließlich spricht er mit dem Pianisten Joe Pentzlin, dessen Trio quasi die Hausband des Jazzclubs in der Orangerie gewesen war.

In einem abschließenden Kapitel schlägt Riedler einen knappen Bogen in die Regenwart, zu Musikern wie Matthias Schubert und Ernst Bier, die entweder aus Kassel stammen oder aber hier über längere Zeit Station machten und die Szene der Stadt mitprägten.

Riedlers Buch ist nicht als historische Dokumentation gedacht, denn vielmehr als eine flüssig zu lesende Erinnerung an die 1940er bis 1960er Jahre, ein liebevoll bebildeter Band über die Jazzszene in der deutschen Provinz, die – ähnlich wie die Szenen vieler anderer Städte mittlerer Größe – überaus lebendig war. Die Lektüre macht dem Leser deutlich, dass der Diskurs über den Jazz als aktuelle Kunstform nicht nur in den Metropolen stattfindet.

Wolfram Knauer (November 2015)


 

Music Wars 1937-1945. Propaganda, Götterfunken, Swing. Musik im Zweiten Weltkrieg
von Patrick Bade
Hamburg 2015 (Laika Verlag)
511 Seiten, 34 Euro
ISBN: 978-3-944233-41-3

Sounds of War. Music in the United States during World War II
von Annegret Fauser
New York 2013 (Oxford University Press)
366 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-994803-1

Victory Through Harmony. The BBC and Popular Music in World War II
von Christina L. Baade
New York 2012 (Oxford University Press)
275 Seiten, 31,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-537201-4

2013fauser Musik war immer schon kriegswichtig. Ob zum Anfeuern der Truppen im Marschrhythmus, ob zum Mobilmachen der Bevölkerung durch patriotische Hymnen, ob als Beruhigung und Selbstbestätigung, ob als Instrument der psychologischen Kriegsführung oder sogar als Foltermethode: Krieg ist ohne Musik – so seltsam diese Idee auch scheinen mag – kaum vorstellbar.

Drei kürzlich erschienene Bücher untersuchen die Rolle der Musik im Zweiten Weltkrieg. Der britische Historiker Patrick Bade berichtet über die verschiedenen musikalischen Strategien und Funktionen direkt vor Ort, in den Gebieten, in denen der Krieg tobte oder die am Krieg beteiligt waren, Frankreich, Deutschland, den USA, Russland, Großbritannien, dem nördlichen Afrika und dem Mittleren Osten. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Annegret Fauser beschränkt sich in ihrem Buch auf die klassische Musikszene in den Vereinigten Staaten. Die britische Musikhistorikerin Christina Baade schließlich untersucht, wie der BBC in den Kriegsjahren auf Jazz, Tanz- und Popmusik gesetzt habe, um die Moral der gesamten britischen Öffentlichkeit in den Kriegstagen zu stärken. Baades Studie gibt dabei einen Einblick in Programmentscheidungen eines öffentlichen Rundfunksenders und thematisiert, inwieweit die Öffnung des Senders für Jazz und amerikanische Popmusik auf Widerstände gestoßen sei. Fausers Fokus liegt auf der “concert music”, also der klassischen Musik, und im Umschlagtext heißt es, dass Dinah Shore, Duke Ellington und die Andrews Sisters vielleicht die Zivilisten zuhause und die Soldaten in Übersee unterhalten hätten, es tatsächlich aber vor allem die klassische Musik gewesen sei, die die Menschen für die Kriegsanstrengungen mobilisiert habe. Patrick Bade schließlich wagt den Rundumschlag, lässt also auch die sogenannte leichte Muse, Swing und Jazz, nicht aus. Während er dabei neben dem klassischen Repertoire und dem Swing auch einen Blick auf die Funktion von Radio, Film und Plattenindustrie wirft, außerdem in einem langen Kapitel Kriegslieder aus unterschiedlichen Ländern ins Visier nimmt, finden man in Fausers Buch Informationen über Musiker in der Armee, Auftragskompositionen für den Kriegseinsatz, ein Kapitel über Musik als Beruhigung der Bevölkerung und als Therapie für traumatisierte Soldaten sowie eines über die vielen Exilkomponisten, die durch den Krieg in den USA strandeten. Christina Baade schließlich diskutiert in ihrem Buch auch das Thema von Tanzmusik und Maskulinität, die Sorge um den Erfolg der amerikanische Popmusik und die Verdrängung eigener Traditionen, und die Bedeutung von Rundfunkprogrammen, in denen afro-amerikanische Musik in den Mittelpunkt gestellt wurden, für schwarze britische Musiker. Bei allen drei Autor/innen finden sich Diskussionen der Zuschreibung moralischer Qualitäten zur Musik, der Grundlage letzten Endes dessen, was in den USA später zur “cultural diplomacy”, zur Kulturdiplomatie werden sollte.

2012baadeFür Christina Baades Argumentationslinie spielt der Jazz eine zentrale Rolle; ihr Buch erlaubt dabei Rückschlüsse auf Entwicklungen des Nachkriegsjazz in Großbritannien, einschließlich der Hinwendung vieler junger Musiker insbesondere zu traditionellen Jazzstilen. Patrick Bade hat neben einem Kapitel über Jazz und Swing im Dritten Reich, in dem er auch auf das Phänomen der Propagandaband Charlie and His Orchestra eingeht, ein eigenes Kapitel über Musik im Feldlager, im Gefangenenlager und im Konzentrationslager. Fauser wiederum diskutiert in ihrem Buch ausführlich musikalischen Ausdruck von Nationalismus, etwa in Werken von Aaron Copland und Roy Harris.

Patrick Bade gibt am Schluss seines Buchs einen Ausblick auf die Nachwirkungen, erzählt etwa, dass Wagner im Bayreuther Festspielhaus kurzzeitig Cole Porter weichen musste, berichtet, wie Sänger/innen und Musiker/innen nach dem Krieg mit ihrer Karriere im Dritten Reich konfrontiert wurden oder diese sehr bewusst aus ihrer Biographie ausblendeten. Er endet mit dem kurzen Hinweis auf Werke, die sich bis ins 21ste Jahrhundert hinein mit den Gräueltaten des Kriegs auseinandersetzen. Christina Baades Buch endet mit der Ankunft der amerikanischen Truppen im August 1944 und der Entscheidungen des BBC, die auch die amerikanischen GIs mit ihrem Programm unterhalten wollte. In der Folge kam es zu einer Diskussion der Vermischung musikalischer Werte in der populären und Tanzmusik, über “Britishness” oder “Pseudo-American”. Ihr Buch verweist zwischen den Zeilen immer wieder, etwa Kapiteln über das vom Rundfunk mitgeprägte Bild der Frau oder im Versuch, die Ausstrahlung von Musik männlicher übersentimentaler Schlagersänger im Rundfunk zu unterbinden, auf Diskurse, die auch nach dem Krieg weitergingen und auf die letzten Endes BBC-Programmentscheidungen großen Einfluss hatten. Bei Fauser geht der Blick in die Nachkriegszeit über John Cage, dessen experimentelle Ideen sie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren verortet. Sie verweist darauf, dass Cage und seine Zeitgenossen ihre Lehren aus den Erfahrungen des Kriegs gezogen hätten, sich nach Ende des Kriegs von ihren nationalistischen Kompositionen distanziert oder aber diese in neue Werke integriert hätten.

2015badeZusammengefasst bietet Patrick Bade im breiteren Ansatz seines Buchs eine Art Rundumschlag über das Thema. Christina Baade wirft Licht auf die Verflechtungen zwischen Musik, Musikindustrie, öffentlicher Meinung und Publikumsgeschmack. Fausers Studie schließlich hätte von einer Erweiterung ihres Schwerpunkts vielleicht profitiert. Fauser begründet ihren eingeschränkten Blick im Vorwort damit, dass die Jazz- und Popmusikszene jener Jahre ja schon ausgiebig genug untersucht worden sei, während Forschungen zur klassischen Musik im Krieg weitgehend fehlten, vergibt sich damit aber die Chance einer differenzierten Darstellung, was vielleicht – nehmen wir einmal an, dass der Einband-Text vom Verlag und nicht von ihr stammte –, eine wertende Aussage wie die, dass Jazz und Popmusik die Bürger zuhause und die GIs in Übersee vielleicht unterhalten hätten, es aber die klassische Musik gewesen sei, die den wirklichen Unterschied gemacht habe, verhindert hätte.

Von solchen Anmerkungen abgesehen, haben alle drei Bücher ihre Meriten. Sie helfen bei der Kontextualisierung von Musikgeschichte in der späten ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, die letzten Endes Auswirkungen auch darauf hatte, wie Musik heute klingt und wie wir sie wahrnehmen.

Wolfram Knauer (Oktober 2015)


 

 

Giving Birth to Sound. Women in Creative Music
herausgegeben von Renate Da Rin & William Parker
Köln 2015 (Buddy’s Knife)
294 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-00-049279-2

2015darinVielleicht müsste am Anfang dieser Rezension erklärt werden, welchen Weg die Bücher durchlaufen, die im Jazzinstitut Darmstadt anlangen. Bevor wir uns die Bücher aussuchen, die wir rezensieren wollen, erfassen wir sie in unserem Jazz Index, einer computergestützten bibliographischen Datenbank, die von Forschern und Journalisten (und Fans) aus aller Welt genutzt wird. Das heißt, wir gehen das Buch von vorn bis hinten durch, ordnen jedes einzelne Kapitel einem Stichwort oder einem Musikernamen zu, tragen biographische Notizen wie etwa Geburtstag oder Geburtsort, nach, sofern sie in unserer Datenbank noch fehlen. Erst dann machen wir uns ans Lesen.

Aber schon bei diesem ersten Schritt des Erfassens fiel einiges auf beim Buch “Giving Birth to Sound”. Etliche der darin befragten Musikerinnen waren nämlich noch gar nicht in unserer Datenbank erfasst oder aber nur mit relativ kurzen bibliographischen Listen. Über sie wurde in der Jazzpresse bislang also nur wenig berichtet. Nun ja, mag man meinen, das hat sicher auch damit zu tun, dass Frauen ja so richtig erst in den letzten Jahren ins Rampenlicht des Jazz getreten sind. Weit gefehlt aber, und das war die zweite Überraschung: Viele Musikerinnen, die im Buch zu Worte kommen, gehören nämlich gar nicht der jungen (sagen wir: unter 40-jährigen) Generation an, sondern sind weit länger auf der Szene unterwegs. Die Gründe für ihre Unsichtbarkeit in der Jazzpresse mögen also doch woanders liegen.

Eine dritte Erkenntnis, die sich beim Durchblättern schnell ergibt, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Jede der Musikerinnen hat einen völlig anderen Zugang zum Thema. Mal analytisch, mal diskursiv, mal ausweichend, mal ablehnend, mal nüchtern gefasst, mal poetisch überhöht, mal kämpferisch, mal verteidigend. Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich schon in den Überschriften der Kapitel, die Renata Da Rin und William Parker aus der Frage “Was bedeutet Musik für Dich” abgeleitet hat. “Jeder Sound und jede Stille”, antwortet Renée Baker; “die Gründe für mein Leben”, sagt Amy Fraser; “ein abstrakter Ort, um das Leben zu teilen und zu fühlen”, meint Marilyn Mazur; “ein Lager der Erinnerungen”, findet Shelley Hirsch, “Leben, Magie, Geist”, beschreibt Maggie Nicols, oder aber, so Erika Stucky, “serious fun – a ‘Schnaps'”.

Oder aber die Einleitung: Nach dem Vorwort von Amina Claudine Myers haben die Herausgeber eine Anzahl von Reaktionen auf den Buchtitel zusammengefasst. “Giving Birth to Sound”? Schrecklicher Titel: Frauen wurden schließlich immer wieder aufs Gebären reduziert, meint eine der Gesprächspartnerinnen, während eine andere findet, der Titel passe, sei auch angenehm mehrdeutig. Naja, und bei allen Bedenken spräche der Titel ja auch vom Schaffen von etwas Neuem. Blödsinn, widerspricht eine weitere Stimme, Gebären sei doch eine passive, rein physische Tätigkeit, jede Kuh könne das. Musik zu erschaffen sei dagegen ein aktiver intellektueller Prozess und damit das exakte Gegenteil.

Das Konzept des Buchs: Ohne weitere Vorgaben schickten die Herausgeber den 48 Musikerinnen 20 Fragen, die vom Faktischen zum Nachdenken über den Prozess des Kreativen gehen, sich dabei immer wieder danach erkundigen, inwieweit das eigene Geschlecht bei musikalischen, ästhetischen oder beruflichen Entscheidungen eine Rolle gespielt habe. Tatsächlich sind nur sechs der Fragen konkret aufs Frau-Sein der Musikerinnen abgezielt: Wie hast Du deine Kreativität als kleines Mädchen ausgelebt? Wie hat die Tatsache, dass Du eine Frau bist, die Entwicklung Deiner musikalischen Karriere behindert? Wie siehst Du Deine Position als Frau in der Musikszene? Hat diese Position Dein Verhältnis zum Sound beeinflusst? Siehst oder spürst Du einen Unterschied im weiblichen und im männlichen Ansatz an Kreativität? Was würdest Du anderen / jungen Frauen empfehlen, die sich bemühen ein kreatives Leben zu führen?

Die Antworten auf diese und allgemeiner gehaltene Fragen fallen so unterschiedlich aus wie die Lebenswege der 48 Interviewten. Es macht nun mal einen Unterschied, ob man Ende der 1970er Jahre in Dänemark zum Jazz kommt wie Lotte Anker oder 1941 in Oklahoma wie Jay Clayton. Haben Männer und Frauen einen anderen kreativen Approach?, fragen die Herausgeber. “NEIN!” ruft Jay Clayton, in Großbuchstaben, keine weitere Diskussion duldend, während Marilyn Mazur einwirft, Frauen würden vielleicht weniger in Wettstreit treten, mehr ans Ganze und Kollektive denken. “Nein, ich sehe da keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen”, findet wiederum Amy X. Neuberg, um gleich anzuschließen, “das heißt aber nicht, dass es keine gäbe.” Klar gibt es einen Unterschied”, erklärt Kali Z. Fasteau, etwa, dass Männer in hierarchischen Systemen besser funktionierten als Frauen. Andererseits, urteilt Nicole Johänntgen, sei diese Frage ziemlich schwer zu beantworten, weil es nun mal so sehr viel mehr Männer als Frauen auf der Szene gäbe.

Nicole Mitchell beantwortet ihre Fragen in poetischen Erinnerungen und Reflexionen über schwarze Musik, den langen Atem der Bürgerrechtsbewegung und ihren eigenen Weg. Maggie Nicols auf der anderen Seite streicht heraus, dass ihre Musik immer sowohl politische wie auch spirituelle Untertöne besessen habe. Ob sie einen Preis bezahlt habe dafür, dass sie Musik mache, fragen die Herausgeber, und Angelika Niescier findet: Im Gegenteil, sie habe daraus sehr viel für sich gewonnen. Musikerin zu werden, sei nun mal eine Lebensentscheidung, finden auch viele ihrer Kolleginnen, niemand zwinge einen schließlich diesen Weg einzuschlagen.

Die weibliche Kreativität erlaube mehr “Raum”, meint Fay Victor, und zwar “sowohl mehr Raum im Sinn von Zeit und Raum wie auch mehr Raum für die Akzeptanz von Fehlern und Intuition”. Klar habe die Tatsache, dass sie eine Frau sei, ihr Verhältnis zum Sound beeinflusst, erklärt Joëlle Léandre. Frauen seien nun mal anders, sie hätten die Fähigkeit zur Distanz, die in diesem Geschäft wichtig sei, außerdem könne man mit ihnen viel besser lachen.

Sie sehen in dieser springend-vergleichenden Zusammenfassung einzelner Antworten bereits, wie ungemein gewinnbringend sich dieses Buch lesen lässt, wenn man blättert, Themen identifiziert, die die Herausgeber durch ihre Fragen ja nicht festgeklopft, sondern nur angestoßen haben, um dann zu sehen, welchen Kontext die verschiedenen Antworten beleuchten. Man erlebt die ja unabhängig voneinander befragten Musikerinnen bald wie in einer respekt- und kraftvollen Diskussion neugieriger, andere Meinungen (meistens) zulassender, vor allem aber ungemein selbstbewusster Musikerinnen.

Das Fazit des Buchs wusste man vielleicht schon vor der Lektüre: Eine einzelne Antwort auf die Frage nach dem kreativen Unterschied nämlich gibt es nicht. Der künstlerische Ansatz zwischen Männern und Frauen ist genauso unterschiedlich wie jener zwischen Männern und Männern oder zwischen Frauen und Frauen. Es gibt jedoch, und das wird in diesem Buch sehr deutlich, ein anderes Diskursverhalten, eine klare Selbstwahrnehmung der Rolle, in die man gesellschaftlich gedrängt wurde.

Unbedingt lesenswert also, ob von Buchdeckel zu Buchdeckel oder im laufenden Vor- und Zurückblättern. “Giving Birth to Sound” erklärt dem interessierten Leser nämlich in der persönlichen Selbstbefragung der Protagonistinnen und oft auch zwischen den Zeilen weit mehr über die Thematik, als man es etwa von wissenschaftlichen Studien erwarten dürfte.

[Naja, wir empfehlen dennoch den Besuch unseres Darmstädter Jazzforums zum Thema “Gender and Identity in Jazz” vom 1.-3. Oktober 2015 oder die spätere Lektüre unserer Beiträge zur Jazzforschung mit den referaten dieser Konferenz. Aber das ist natürlich nur Eigenwerbung…]

Wolfram Knauer (September 2015)


 

Beyond Jazz. Plink, Plonk & Scratch. The Golden Age of Free Music in London 1966-1972
von Trevor Barre
London 2015 (Compass Publishing)
330 Seiten, 12,99 Britische Pfund
ISBN 978-1-907308-84-0
Zu bestellen über trevorbarre@aol.com

Ekkehard Jost hat die Jahre zwischen 1960 und 1980 als eine Zeit beschrieben, in der Europas Jazz zu sich selbst fand, in der Musiker sich von ihren amerikanischen Vorbildern lösten und eigene Wege gingen. Einige dieser Wege führten fort vom, gingen also “beyond jazz”, und diese Entwicklung will Trevor Barre in seinem Buch mit demselben Titel nachzeichnen. Der Gitarrist Derek Bailey forderte eine Improvisation, die sich aus den idiomatischen Bezügen befreien, und auch andere Musiker begannen statt des Begriffs “Free Jazz” von “improvised music” zu sprechen. Barre interessiert, wie es überhaupt dazu kam, dass eine solch sperrige und alles andere als publikumsfreundliche Musik entstehen konnte und warum sie nicht angesichts ihres kommerziellen Misserfolgs einfach nach ein paar Jahren ausstarb. In seinem Fokus steht dabei die erste Generation der freien Improvisatoren, also Musiker wie Evan Parker, Derek Bailey, John Stevens, Kenny Wheeler, Barry Guy, Dave Holland, Trevor Watts, Tony Oxley, Paul Rutherford, Howard Riley, Eddie Prévost, Keith Rowe, Gavin Bryars und Cornelius Cardew.

Barre beginnt mit einer Definition seines Themas: Wo die meisten Jazzbücher den Jazz durch seine improvisatorischen Parameter beschreiben würden, sei Free Music, schreibt er, einzig durch den improvisatorischen Gehalt definiert. Er stellt unterschiedliche Formen freier Improvisation vor, solche, die näher am Jazz bleiben und solche, die eher der europäischen Avantgardetradition verpflichtet scheinen. Die beiden Hauptensembles seines Buchs sind das Spontaneous Music Ensemble und die Gruppe AMM. Barre ordnet deren Auftritte in die Jugend- und Protestkultur der 1960er Jahre ein und schildert, wie die globalen Entwicklungen von Pop, Rock und Folk jungen Musikern ein völlig neues Vokabularium an die Hand gab, sie auch zu neuen Herangehensweisen zwischen tiefer Ernsthaftigkeit und unbändigem Humor bewegten. Er beschreibt auch, welchen Platz sie in die Bandbreite des britischen Jazz jener Jahre zwischen Dixieland und Free Jazz hatten.

Barre zeichnet den Weg einzelner Protagonisten zur freien Improvisation nach, schildert insbesondere die Bedeutung des Little Theatre Club, in dem die jungen Musiker mit Kollegen auch aus dem europäischen Ausland experimentieren konnten. Er beschreibt, wie sie nach und nach merkten, dass es außer dem afro-amerikanischen Jazz auch anderes gab, dass beispielsweise südafrikanische Musiker um Chris McGregor dieser Musik eine neue Farbe geben konnten und dass sich Freiheit, wie sie der Free Jazz implizierte, auch ganz mit anderen Mitteln umsetzen ließ. Er diskutiert wichtige Aufnahmen der Zeit, wobei ihn vor allem die interaktiven Prozesse interessieren, die ästhetischen Diskurse, die sich aus der Improvisation der Aufnahmen ergaben. Das alles beleuchtet er anhand von zeitgenössischen genauso wie selbst geführten Interviews mit beteiligten Musikern. Das Spontaneous Music Ensemble und AMM nehmen zwei der umfangreichsten Kapitel ein, in denen Barre neben dein Einflüssen und den ästhetischen Diskussionen auch über Nachwirkungen schreibt, bewusste oder unbewusste Reaktionen auf die Klangexperimente in weit jüngerer Musik, der 1980er, 1990er Jahre und danach. Er betrachtet den Einfluss der Technologie, schaut auch auf die Bedeutung der visuellen Covergestaltung oder der Plattentexte. Das Label Incus nimmt ein eigenes Kapitel ein, wie FMP in Deutschland oder ICP in Holland ein von Musikern gegründetes Label, das Musik seiner Mitglieder nicht so sehr vermarkten als vielmehr dokumentieren wollte. Improvisation ist schließlich weit mehr als komponierte Musik auf das Medium der Tonaufzeichnung angewiesen – sonst verklingt sie.

In seinem Schlusskapitel betrachtet Barre kurz die “zweite Generation” der Free Music in London um das London Musicians’ Collective sowie eine “dritte Generation” um John Edwards, John Butcher und andere und setzt beide Entwicklungen mit jenem von ihm als “erste Generation” betrachteten Grundthema seines Buchs in Beziehung. Im Nachwort schließlich verfolgt er die Aktivitäten seiner Protagonisten bis in die Gegenwart.

Trevor Barres Buch ordnet die Entwicklung der Free Music der späten 1960er, frühen 1970er Jahre in die kulturelle Szene des “Swinging London” ein. Ihm gelingt dabei vor allem der Blick auf sich wandelnde ästhetische Ideale und eine Begründung derselben aus gesellschaftlichen und politischen Diskussionen heraus. Der Musik selbst kommt er vor allem in Interviews mit den beteiligten Musikern nahe. Die inhaltliche wie organisatorische Unabhängigkeit der britischen Improvisationsszene jener Jahre hat Auswirkungen bis heute. Initiativen wir F-Ire Collective wären ohne das Vordenken und Vormachen der hier beschriebenen Musiker und Gruppen nicht möglich gewesen. Von daher füllt Barres Buch eine Lücke. Dass er bestimmte Themen weitgehend außer Acht lässt – die Auseinandersetzung dieser Szene mit ihrem Publikum beispielsweise oder mit den Mainstream-Medien, der tatsächliche Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Szenen oder die Reaktion amerikanischer Musiker, zeigt nur, wie viele Perspektiven das Thema tatsächlich hat, die bislang kaum beleuchtet wurden. Barre jedenfalls stößt mit “Beyond Jazz” die Tür zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der musikalischen Freiheitsbewegung jener Zeit weit auf.

Wolfram Knauer (August 2015)


 

Little Satchmo. Living in the Shadow of my Father, Louis Daniel Armstrong
von Sharon Preston-Folta (mit Denene Millner)
Charleston/SC 2015 (self published)
112 Seiten, 12 US-Dollar
ISBN: 978-1-481227-23-7
Zu beziehen über www.littlesatchmo.com

2015prestonfoltaDie offizielle Version lautet: Louis Armstrong hatte nie Kinder. Er hätte immer gern welche gehabt, sagte seine letzte Frau und Witwe, Lucille Armstrong, aber er sei zeugungsunfähig gewesen. Nun kommt, 34 Jahre nach Satchmos Tod, Sharon Preston-Folta mit einem Buch heraus, in dem sie kundtut, sie sei die Tochter Louis Armstrongs aus einer außerehelichen Beziehung, die Satchmo in den 1950er Jahren hatte.

Ihr Leben lang habe sie diese Wahrheit herunterschlucken müssen. Sie wolle kein Geld, keinen Ruhm, aber immer selbst auf das öffentliche Wissen um ihren Vater verzichten zu müssen, sei einfach zu viel. In ihren Recherchen habe sie nur einen einzigen schriftlichen Hinweis auf Satchmos Vaterschaft gefunden, einen Brief des Trompeter an seinen Manager, Joe Glaser, aus dem Jahr 1955, in dem er diesen bat, vor der Ankunft seiner Frau Lucille in Las Vegas ein paar Geschäftsdinge zu klären, darunter Zahlungen an eine Freundin, von der er glaubt, dass sie ein Kind von ihm habe. Ihre Mutter habe sie immer beschworen, ihren Vater geheim zu halten, und so habe sie letzten Endes gehorcht und damit auch keine Ansprüche geltend gemacht auf sein physisches, historisches und finanzielles Erbe. Wenn sie etwas gekränkt habe bei ihren Recherchen, sei es, dass Louis Armstrong in seinen Briefen so offen über alles geredet habe, seine Musik, seine Kindheit, seine Liebe zum Essen und zu den Frauen, über Sex, sogar über seine Darmtätigkeit, dass er über seine Tochter aber sein Leben lang geschwiegen habe.

Warum er ihre Existenz verleugnet habe? Nun, erklärt Preston-Folta, Louis Armstrong sei ein gefeierter Künstler seiner Zeit gewesen und habe sich in der besten (weißen) Gesellschaft aufgehalten. Es habe einfach nicht gepasst, in dieser Zeit, wenn Nachrichten über ein uneheliches Kind mit einer Geliebten in die Schlagzeilen gekommen wären.

Prestons Mutter wurde 1921 in New York geboren und arbeitete bereits als 16-Jährige als Chorus Girl in diversen Shows. 1941 heiratete sie einen Tänzerkollegen; 1946 arbeiteten die beiden als Tanzpaar “Slim & Sweets” als Vorgruppen für große Swingorchester, unter ihnen auch Louis Armstrong, der sich mit ihnen anfreundete und in einen launigen Briefwechsel einstieg. 1950 starb Slim, und bei der Trauerfeier war auch Louis Armstrong dabei, der Lucille Preston in den Arm nahm und versprach: “Ich werde mich um dich kümmern.” In den nächsten vier Jahren reiste sie Pops hinterher und tauchte auf, wann immer Armstrongs in New York spielte. 1954 wurde Preston schwanger, und im November schrieb Satchmo ihr einen Brief, in dem er erklärt, wie sehr er sich auf das Kind freue und sogar vorschlägt, sie zu heiraten, sollte seine Frau (mit gleichem Namen Lucille) sich von ihm scheiden lassen. Armstrong war dann aber nicht dabei, als Sharon Louise (nach Louis) Preston am 24. Juni 1955 das Licht der Welt erblickte. Armstrongs rechtmäßige Ehefrau war “not amused” und habe ihm nach der Geburt der Tochter sogar vorgeschlagen, diese zu adoptieren, was ihre leibliche Mutter aber vehement ablehnte. Lucille (die Ehefrau) habe sogar die Alimente überwiesen, bis sie diese Aufgabe irgendwann Joe Glaser übertrug.

In ihrem Buch berichtet Sharon von den viel zu seltenen, sorgfältig geplanten und sehnsuchtsvoll erwarteten Treffen. Sie und ihre Mutter lebten eine Weile bei ihrem Onkel Kenny, der nach außen schon mal als Lucilles Ehemann auftrat und immer wieder auf seine Schwester eindrang, bei Satchmo mehr einzufordern: mehr Geld, mehr Fürsorge, am besten seinen Namen. Bei einzelnen Sommertourneen durfte Sharon mitreisen. Ansonsten aber war Satchmo vor allem durch die monatlichen Unterhaltszahlungen präsent, durch Broadway-Tickets, 1962 durch den Kauf eines Hauses in Mount Vernon, New York. In Harlem hatte sich niemand wirklich darum gekümmert, wie ihre Familienverhältnisse aussahen, erzählt Preston-Folta, in Mount Vernon aber begann eine Zeit der Lügen. Die Liaison dauerte ja bereits 12 Jahre, aber nach wie vor war nicht in Sicht, dass Armstrong auch öffentlich zu seiner Familie stehen würde. Mit zehn Jahren begriff Sharon erstmals, dass ihr Vater eine “andere Lucille” hatte, ein anderes Leben, das mit ihrem aber auch gar nichts zu tun hatte.

Etwas später seien sie gemeinsam in Atlantic City zu einem Auftritt Marvin Gayes gegangen, es habe einen Streit zwischen den Erwachsenen gegeben, bei dem ihre Mutter Satchmo fragte, wann er sie nun endlich zu heiraten gedachte, worauf er laut wurde: “Ich werde dich niemals heiraten” und mit Fingerzeig auf die Tochter fragte: “Sag mir einfach, was es kostet, für sie zu sorgen!” Das war das Ende der Beziehung.

Kaum war Armstrong gestorben, kamen auch die monatlichen Schecks nicht mehr. Ein paar im Voraus geleistete Zahlungen für Sharons Erziehung hielten sie und ihre Mutter über Wasser, mussten bald auch den Zuwachs zur Familie finanzieren, denn Sharon wurde mit 16 selbst Mutter. Sharon erzählt, wie ihr Leben weiterging, immer gezeichnet durch die Narben, die der fehlende Vater hinterlassen hatte. Irgendwann rebellierte sie gegen die eigene Bitterkeit und versuchte, das emotionale Band, das sie mit der verlorenen, nie gehabten Vergangenheit hatte, zu zerschneiden.

Sharon Preston-Foltas Buch endet mit einem Besuch im Armstrong House in Queens. Ein Anwalt hatte ihr empfohlen, einen Blick in Satchmos Testament zu werfen, das eine eidesstattliche Erklärung von Lucille, Armstrongs Frau, enthielt, Armstrong habe nie Kinder gehabt. Als Sharon diese Zeilen las, von Lucille eigenhändig korrigiert von “Der Verstorbene und ich hatten keine Kinder” in “Der Verstorbene hatte keine Kinder”, entschied sie sich, jetzt ihr Geschichte zu erzählen. Ihre Mutter, die sie immer zur Geheimhaltung gedrängt hatte, willigte endlich ein: “Mach, was Du meinst, dass du tun musst.”

Sharon Preston-Foltas Buch ist als eine Liebeserklärung an die von ihr immer vermisste Vaterfigur Louis Armstrong geschrieben, aber es ist eben auch eine leicht verbitterte Liebeserklärung geworden. An genügend Stellen legt man es zur Seite, unterschiedlich berührt von den Schuldzuweisungen, mit denen Preston-Folta ihre eigenen Lebensentscheidungen aus ihrer vaterlosen Kindheit und Jugend ableitet. Ein bedrückendes Schicksal, denkt man, und fragt sich zugleich, warum sie, die immer wieder von der DNA ihres Vaters schreibt, die in ihr fortlebe, nicht irgendwann, spätestens vor der Veröffentlichung dieses Buchs, auf einem DNA-Test bestanden habe. Doch ist es einem Kind, das sein Leben lang sicher ist, seine Eltern zu kennen, überhaupt zuzumuten, von einem auf den anderen Tag an der Tatsache der Vaterschaft zu zweifeln? Auch als skeptischer Leser sollte man jedenfalls für die Zeit der Lektüre erst einmal die Grundbehauptung der Vaterschaft Louis Armstrongs akzeptieren, sonst hat man wenig Spaß am Buch. Armstrong selbst schließlich scheint bis zu seinem Tod überzeugt davon gewesen zu sein, in Sharon eine Tochter gehabt zu haben.

Allen Fragen und sicher auch allen möglichen Zweifeln zum Trotz, die einem bei der überraschenden Enthüllung Sharon Preston-Foltas kommen mögen, lernt man einiges bei der Lektüre, und wenn nur, dass Scheinwerferlicht auch Schatten wirft, dass Stars wie Louis Armstrong das Leben vieler Menschen zum Teil viel direkter berührten, als man es wahrhaben mag, und nicht zuletzt, dass die Persönlichkeit großer Stars aus ihren emotionalen Stärken genauso besteht wie aus ihren emotionalen Unzulänglichkeiten. Am Glorienschein des großen Meisters mag das alles ein wenig kratzen; der Kraft seiner Musik tut es keinen Abbruch.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Theatrical Jazz. Performance, Àṣẹ, and the Power of the Present Moment
von Omi Osun Joni L. Jones
Columbus/OH 2015 (The Ohio State University Press)
270 Seiten, 99,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-8142-1282-0

2015jonesDer Blick über den Tellerrand kann das Wesentliche erhellen, der Blick von außen Dinge erkennen lassen, die man im internen Diskurs oft nicht mehr sieht. Das ist einer der Hintergründe für die sogenannten “new jazz studies”, ein Konzept in der jüngeren Jazzforschung, das sich der untersuchten Materie neben der musikwissenschaftlichen Betrachtung interdisziplinär nähert. Die Feministin Omi Osun Joni L. Jones versucht in ihrem Buch eine Verbindung zwischen Jazzästhetik , theatralischer Performance und auf Yoruba basierender afrikanischer Theologie. Dabei beschreibt sie als eine der zentralen Prinzipien der Jazzästhetik die Fähigkeit, die eigenen intuitiven Kräfte freizusetzen. In ihrer Beschäftigung mit afrikanischer Spiritualität habe sie gelernt, dass auch in wissenschaftlichen Büchern die Auseinandersetzung mit spirituellen Impulsen nicht zu kurz kommen dürfte, ganz ähnlich wie dies auch Jazzgrößen wie John und Alice Coltrane immer gesehen hätten. Sie will mit ihrem Buch den Jazz gegen den Strich bürsten, seine Begriffe, Handlungen, Ausformungen kritisch hinterfragen, und zwar aus der Perspektive aller seiner unterschiedlichen Bedeutungen in musikalischer Ästhetik, Performance, gesellschaftlichem Spiegel, ethnischer Identität oder politischer Haltung. Es gäbe Kollegen, schreibt sie in ihrer Einleitung, die den Jazz als eine polyglotte Form ansähen und damit Gefahr liefen seine Wurzeln in der afro-amerikanischen Kultur zu leugnen. Tatsächlich aber sei die spirituelle Kraft nicht an irgendwelche Identitätsregeln gebunden. Die spirituelle Transzendenz des Jazz brauche keine Abwesenheit ethnischer Identität (“race”), sondern höchstens Abwesenheit solch einer ethnischen Identität (“race”) als Restriktion oder als Prognose.

Tatsächlich handelt ihr Buch allerdings zentral gar nicht von Musik, sondern vom Theater, und hier insbesondere von den drei Theaterautoren Laurie Carlos, Daniel Alexander Jones und Sharon Bridgforth. Jones bedient sich in ihrer Herangehensweisen an das Thema der feministischen und queeren Theorie, erklärt Wirkungen der Theaterperformance aus der Haltung des Jazz heraus und zugleich aus ihrer Interpretation von Yoruba-Traditionen. Als übergeordneten Approach versucht sie ihrem wissenschaftlichen Buch darüber hinaus aber auch improvisatorische Strukturen zu geben, indem sie Bilder, Fotos, Zeichnungen, Zitate einfließen lässt, die wie kurze solistische Kommentare neben ihrem Text stehen.

In ihrer Einleitung zitiert Jones einige Beispiele direkter Bezugnahme von Jazzmusikern wie Dizzy Gillespie und John Coltrane auf Yoruba-Beschwörungen, erinnert außerdem an die lebendige Avantgarde-Theaterszene von Austin, Texas, in der in den 190er Jahren die Verbindungen von Theater und Jazz besonders entwickelt wurden. Im ersten Kapitel betrachtet sie, wie biographische Erfahrungen die drei von ihr untersuchten Autoren prägten, Carlos’ Jugend im New Yorker East Village, Jones’ Aufwachsen im Arbeiterklasse-Milieu von Springfield, Massachusetts, Bridgforths Bustrips durch die verschiedenen Viertel von Los Angeles. Sie analysiert die dem Jazz nahestehenden Praktiken von Lehrer und Schüler im Theater, deren Lernprozesse dabei immer gegenseitig sind. Das zweite Kapitel untersucht Performance-Methoden, Ansätze an Regie, Probenphasen, das Beziehung-Herstellen zum Publikum, die Auswahl der Schauspieler, aber auch das Zulassen spiritueller Erfahrung im Verlauf der Performance. Im dritten Kapitel schließlich fragt sie danach, was die Performance beim Publikum (sie spricht gern von “witnesses” = Zeugen) auslöst, wie sie zu einer Perspektivverschiebung führen kann, einer aktiven Partizipation des Publikums, die das eigentliche Ziel aller Beteiligten sei.

Wenn ich Jones zu Beginn dieser Rezension in die Nähe der “new jazz studies” gestellt habe, so muss ich diese Aussage zumindest zum Teil revidieren. In den New Jazz Studies werden Aspekte des Jazz möglichst von vielen Seiten (und mit unterschiedlichen Methoden) betrachtet. Jones geht den entgegengesetzten Weg: Sie nutzt, was sie vom Jazz gelernt hat, um ihr eigentliches Thema, die Performance im Theater genauer zu definieren. Sie erkennt im Jazz Kommunikations- und Tradierungsmodelle, die so beispielhaft sind, dass sie ein anderes Genre besser verstehen lassen, vielleicht sogar Modell stehen können für neue, weitreichendere Regie- oder Performance-Ansätze. Ihr Buch ist darin so weitsichtig wie der Versuch früherer Literaturwissenschaftler wie Houston Baker, insbesondere den Bereich der afro-amerikanischen Literatur (aber durchaus darüber hinaus) durch die schon von Ralph Ellison oder Albert Murray identifizierte Blues Aesthetic zu beschreiben. Beide nahmen dabei sehr bewusst auf westafrikanische kulturelle Traditionen, Praktiken und Symbole Bezug, für den ungeübten Leser einerseits manchmal etwas schwer nachvollziehbar, gerade dadurch aber die Argumentation auch angenehm schnell aufbrechend und Rückschlüsse erlaubend.

Wenn nämlich die Praxis des Jazz als Erklärungsmodell für andere künstlerische Praktiken taugt, dann wirft das ein ganz anderes Licht auch auf den Stellenwert von Jazz und Improvisation.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


The Long Shadow of the Little Giant. The Life, Work and Legacy of Tubby Hayes
von Simon Spillett
Sheffield 2015 (Equinox)
377 Seiten, 19,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1-78179-173-8

2015spillettWie Hans Koller oder Lars Gullin war der britische saxophonist Tubby Hayes eine der europäischen Jazzgrößen, die ihren Kollegen genauso wie ihrem Publikum klar machten, dass der Jazz zwar eine afro-amerikanische Musik war, dass aber Europäer das Idiom durchaus beherrschten und ihre eigenen Beiträge zur Tradition des Jazz leisten konnten. Hayes kam aus der Swing-Mainstream-Tradition des Jazz, nahm erst Bebop, Hardbop, schließlich Einflüsse des Spiels John Coltranes in seinen Stil auf und starb 1973, gerademal 38 Jahre alt, in Folge einer Herz-Operation.

Dem Autor und Saxophonisten Simon Spillett gelingt es in seinem Buch “The Long Shadow of the Little Giant” mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews und Material aus Hayes’ persönlichem Archiv das Leben und die musikalische Karriere des Saxophonisten in den Jahren vom bombenerschütterten London der Nachkriegszeit über die jazzigen 1950er Jahre und die Swinging Sixties bis hin zur großen Krise des Jazz Anfang der 1970er Jahre nachzuzeichnen.

Hayes wurde in eine musikalische Familie geboren – sein Vater leitete in den 1930er Jahren verschiedene Tanzorchester, seine Mutter war Revuesängerin und -tänzerin. Schon früh war er vom Saxophon fasziniert, begann aber im Alter von acht Jahren erst einmal mit Geigenunterricht, und bekam schließlich zum elften Geburtstag das langersehnte Saxophon, das er größtenteils autodidaktisch meisterte. Er hatte ein gutes Gehör, und der Geigenunterricht hatte ihn zu einem exzellenten Notisten gemacht. Er hörte Charlie-Parker-Platten und bewegte sich in Kreisen Gleichgesinnter, spielte bald mit Ronnie Scott, Alan Skidmore und Kenny Baker, mit dem er im Juli 1951 auch seine ersten Aufnahmen machte.

Die Baker Band hatte jede Menge Fans, und die Presse wurde schnell auf Hayes aufmerksam, der bald als “boy wonder tenorist” vermarktet wurde und, noch nicht einmal 20 Jahre alt, mit den Modernisten der britischen Jazzszene spielte. Mit 18 heiratete er zum ersten Mal, hatte schon zuvor alle möglichen Drogen ausprobiert. Er spielte in den populären Bands von Vic Lewis, Jack Parnell, Tony Hall und hatte schließlich auch mit seiner eigenen Band einen vollen Terminkalender.

Spillett beschreibt, wie britische Musiker in jenen Jahren das US-amerikanische Idiom des Hardbop gemeistert hatten, die Musik von Art Blakey und Horace Silver, und wie Kollegen wie Sonny Rollins oder Hank Mobley ihre stilistischen Spuren in Hayes’ Spiel hinterließen. 1958 traten Hayes’ Jazz Couriers neben dem Dave Brubeck Quartet bei einer Tournee durch sechzehn Städte des Vereinigten Königreichs auf; 1959 wurde Hayes vom Melody Maker zum besten Tenorsaxphonisten gewählt.

Andere Musiker hatten die Entwicklung des amerikanischen Jazz genauso interessiert mit verfolgt; und um 1960 kamen erste Versuche “freier Form” auch in England an. Joe Harriott war einer der ersten, die sich an freieren Spielweisen versuchten; Hayes aber blieb skeptisch. Die Eröffnung von Ronnie Scott’s, bis heute einem der wichtigsten Clubs des Königreichs, war sowohl für die Präsenz des amerikanischen Jazz in England wichtig als auch für das Selbstbewusstsein der eigenen Szene. Der BBC schnitt Konzerte mit, und Plattenfirmen widmeten dem heimischen Jazz eigene Alben. 1961 trat Hayes erstmals in New York auf, wo ihn die Größen des amerikanischen Jazz hörten, unter ihnen Zoot Sims, Al Cohn und Miles Davis. Zurück in England erhielt er einerseits eine eigene Fernsehshow, “Tubby Plays Hayes”, hörte er andererseits erstmals John Coltrane, der sein Bild von den Möglichkeiten im Jazz genau wie das vieler anderer Kollegen völlig veränderte.

Als Duke Ellington 1964 in England auftrat, jammte Hayes mit Bandmitgliedern und wurde vom Duke gebeten für Paul Gonsalves einzuspringen, als dieser unpässlich war. In den nächsten Jahren war Hayes international unterwegs, trat im New Yorker Half Note genauso auf wie beim NDR Jazz Workshop in Hamburg. Er arbeitete wie besessen, hatte zugleich gesundheitliche Rückschläge, darunter eine Thrombose, die auch seine Lungenfunktion herabgesetzt hatte.

Ende der 1960er Jahre hatte der britische Jazz zwei Probleme: die Macht der Rockmusik auf der einen Seite und das Verlangen des Publikums nach amerikanischen Künstlern auf der anderen Seite. Hayes erlitt auch persönliche Rückschläge, etwa als seine Freundin starb und er daraufhin noch stärker zu Drogen griff. Er musste wegen Herzproblemen immer häufiger in ärztliche Behandlung, begann aber trotz aller gesundheitlichen Probleme ein musikalisches Comeback. Er spielte mit Musikern der britischen Avantgarde, John Stevens, Trevor Watts, Kenny Wheeler, beteiligte sich bei einem Benefizkonzert für Alan Skidmore, der nach einem Autounfall im Krankenhaus lag, starb aber schließlich nach einer Operation, bei der eine Herzklappe ausgetauscht werden sollte.

“The Long Shadow” heißt das Buch, und so widmet Spillett sein letztes Kapitel der kritischen Aufbereitung seiner musikalischen Bedeutung nach seinem Tod sowie dem Nachwirken Hayes’ auf der britischen Szene. Er schließt mit einer Diskographie die Aufnahmen des Saxophonisten zwischen 1951 bis 1973 verzeichnet.

Simon Spillett hat viel Sorgfalt in seine Recherchen gesteckt. Nebenbei wirft er immer wieder aufschlussreiche Blicke auf die Musik selbst, auf die Aufnahmen, die Hayes’ musikalische Entwicklung dokumentieren. Wenn überhaupt, so mangelt es dem Buch insbesondere in diesem Segment an Tiefe, etwa an Erklärungen, wo sich Einflüsse, ästhetische Umbrüche und anderes konkret festmachen lassen. Eingehend aber beschreibt er den Lebensweg, die persönlichen Probleme, die musikalischen und ästhetischen Entscheidungen und zieht die Verbindungen zu den allgemeinen Entwicklungen des Jazz in Großbritannien, in Europa und in den Vereinigten Staaten. Spillett konnte mit Zeitzeugen sprechen und hatte Zugriff auf Hayes’ persönliche Papiere. Sein Buch ist eine definitive Biographie, die viele Fragen beantwortet und dabei im umfassenden Apparat all die Dokumente benennt, die für eine solche Arbeit notwendig sind.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Musiktraumzimmer Jazzcampus
herausgegeben von Peter Rüedi & Steff Rohrbach
Basel 2015 (Jazzcampus / Echtzeit Verlag)
212 Seiten, 32 Euro
ISBN: 978-3-905800-78-4

B2015rueediasels Jazzschule ist zum Jazzcampus geworden, zu einer Hochschule für improvisierte Musik, in der, wie der Titel dieses Buchs suggeriert, jede Menge an Träumen und Visionen wahrgeworden sind. Da ist zuallererst die Vision des Gründers und Gitarristen Bernhard Ley, der erzählt, wie er die Schule in den Räumen eines Jugendkulturzentrums gründete und wie er es dann durch pädagogisches wie politisches Geschick, aber auch durch das Talent der Vernetzung, das die Schule zum Teil des Basler Kulturlebens werden ließ, erreichte, sie zu einem Kompetenzzentrum zu machen, in dem der musikalische Gehalt, die Arbeit von Lehrenden und Schüler/innen, sich auch in der architektonischen Umsetzung spiegelt.

Davon nämlich handelt dieses Buch, vom glücklichen Unterfangen, auf den Grundrissen einer ehemaligen Maschinenfabrik eine Musikschule zu bauen mit all der für eine solche notwendigen Infrastruktur, Club, Konzertsaal, Tonstudio, Probenräume etc. Ein Musiktraumzimmer sei das ganze geworden, eine Raumrealisation also, die dem Thema “Jazz” angemessen sei. Mitgeholfen hätten alle, die Architekten Lukas Buol und Marco Zünd, der Bauherr Georg Hasler von der Stiftung Levedo sowie Bernhard Ley, der als Studiengangsleiter den zukünftig alltäglichen Gebrauch im Blick behielt. Das Gespräch mit diesen vieren erklärt Fragen der Akustik, Diskussionen im Planungsverlauf, die Außenwirkung genauso wie den inneren Glanz (sprich: Farben, Bodenbeläde, Beleuchtung).

Solch eine theoretische Diskussion lässt sich nur durch Fotos und Raumpläne in Buchform einfangen. Eigentlich gehört Musik dazu, noch wichtiger wäre der tatsächliche Raumeindruck, der aber in der Architektur immer noch einzig durch einen Besuch ermöglicht wird.

Um die tatsächliche musikalische und pädagogische Nutzung der Räume geht es im zweiten, noch umfassenderen Teil des Buchs: um Konzepte der Jazzpädagogik, persönliche Herangehensweisen an Musik, ästhetische Vorstellungen, die Rückwirkung von Unterricht auf die eigene Kunst der unterrichtenden Musiker.

Wolfgang Muthspiel etwa betont, wie wichtig es neben einem festen Lehrerstamm sei, großartige internationale Kollegen als Gastdozenten an die Schule zu holen. Andy Scherrer erzählt, wie er zum Unterrichten wie die Jungfrau zum Kind gekommen sei, und wie er trotz vieler Schüler immer eine gesunde Skepsis gegenüber des Unterrichtens beibehalten habe. Malcolm Braff erklärt, dass er nicht so sehr das Klavier denn vielmehr sich selbst als das wirkliche Instrument empfinde und wie er in den letzten Jahren eine rhythmische Theorie entwickelt habe, die auch Grundlage seines Unterrichts an der Hochschule sei. Lisette Spinnler versteht die Stimme als Instrument und Texte als Ausgangspunkt für musikalische Erkundungen. Adrian Mears plädiert auch beim Lernen für Spielpraxis, egal mit was für Besetzungen. Bänz Oester vertraut auf die Motivation zukünftiger Musiker/innen, auf die Verantwortung für das Selbst, das Eigene. Domenic Landolf mag sich weder verbiegen noch sonderlich in den Vordergrund spielen. Jorge Rossy spricht über die Standards als Basis und über seine Arbeit mit Carla Bley und Steve Swallow. Matthieu Michel überlegt, wie man als junger Musiker neben der Technik vor allem zu einer eigenen Stimme gelangt. Hans Feigenwinter sieht seine analytischen Fähigkeiten als eine Grundlage seines Musikmachens, zugleich aber die Musik auch als laufenden Ansporn, sie analytisch zu begreifen. Gregor Hilbe berichtet über die Bedeutung des Schlagzeugers in einer rhythmischen Kultur, und zugleich über die Idee des Producing / Performance-Studiengangs am Jazzcampus Basel. Daniel Dettmeister hatte die Chance, als Tonmeister selbst Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung des Aufnahmesaals der Hochschule. Mit Martin Lachmann kommt zum Schluss auch noch der Akustiker selbst zu Wort, der die Räume eingerichtet hat.

Eine bunte Abfolge von Interviews, Reflexionen und Fotos also, die sehr umfassend das Konzept klarmachen, dass hinter dem Jazzcampus Basel steckt: Freiräume schaffen und beste akustische Möglichkeiten. “Musiktraumzimmer Jazzcampus” ist damit zwar vordergründig eine in Buchform gepresste Imagebroschüre der Hochschule, zugleich aber erheblich mehr: ein Manifest für eine Jazzausbildung, in der Kunst und Wirklichkeit, Klang und Akustik, Pädagogik und Freiheit sinnvoll miteinander in Beziehung stehen.

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Résume. Eine deutsche Jazz-Geschichte
von Eberhard Weber
Stuttgart 2015 (sagas.edition)
252 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-944660-04-2

2015weberDer Autor kommt gleich zur Sache: Der Leser wisse ja bereits, dass er, Eberhard Weber, gut 40 Jahre lang als Jazzbassist aktiv war, vielleicht auch, dass er seine aktive Karriere nach einem Schlaganfall 2007 beenden musste. Der Leser wisse wahrscheinlich etliches über seine Karriere, wahrscheinlich auch über den Jazz – was könne er dazu noch beitragen…? Nun, wenn überhaupt, dann könne er aus seinen eigenen Erinnerungen erzählen, sehr persönliche Geschichten, die sich um die Musik drehen, die aber auch sein ästhetisches Weltbild und vieles darüber hinaus berühren. Webers Buch wird so zu seinem “Resumé”. Und es mag vielleicht nicht “die” deutsche Jazzgeschichte sein, aber es ist auf jeden Fall, wie der Untertitel verspricht, “eine deutsche Jazz-Geschichte”, ein Beispiel dafür, wieso ein junger Mann zu dieser Musik kommt, was ihn über all die Jahrzehnte an ihr faszinierte und wie er lernte, in ihr sich selbst auszudrücken.

Eberhard Weber, dem musikalischen Geschichtenerzähler, gelingt der narrative Bogen auch in Worten. Bereits das Eingangskapitel, das vom “Schlag” handelt, der ihn kurz vor einem Konzert mit Jan Garbarek in der Berliner Philharmonie traf, von der Unsicherheit über seinen Gesundheitszustand, von der Hoffnung, wieder spielen zu können, zeigt seine erzählerischen, auch zur Selbstironie fähigen schriftstellerischen Qualitäten.

Im zweiten Kapitel widmet sich Weber seiner eigenen Vorstellung von Jazz. “Jazz”, schreibt er ironisch, doch nicht ganz falsch, “ist, wenn es der Komponist, der Arrangeur oder der ausführende Musiker dem Hörer so schwer wie möglich macht, der Musik zu folgen – und trotzdem alle Spaß daran haben. Das unterscheidet ihn von der vermeintlich ‘Neuen Musik’.” Doch neben dem Jazz als großer Kunst will Weber in diesem Kapitel auch seiner eigenen Ästhetik auf die Schliche kommen. Wiederholungen, erkennt er, langweilen ihn in der Regel; die Schlüsse von Stücken, findet er, misslingen meist. Er weiß, dass Solisten auch mal ohne Inspiration sein können und weiterspielen müssen. Er weiß auch um seine eigenen Schwächen als Bassist und beschreibt, wie man nur, wenn man um die technischen Probleme des eigenen Spiels oder des eigenen Instruments weiß, diese überkommen und kreativ mit ihnen umgehen könne.

Weber selbst wurde die Musik in die Wiege gelegt. Sein Vater, erzählt er, hatte als Cellist klassische Musik gemacht, daneben aber auch Cello und Banjo im Tanzorchester von Bernard Etté gespielt. Weber kam mitten im Krieg in Esslingen zur Welt. Seine Mutter sang, und “im häuslichen Weber’schen Freundeskreis”, erinnert er sich, “triumphierte Gesang über Instrumentales”– vielleicht eine Vorbereitung auf seine eigene sangliche Haltung beim Instrumentalspiel? Gehörbildung fand im Kinderzimmer statt, wenn seine Schwester und er Automarken am Klang unterschieden und dabei lernten zuzuhören und zu differenzieren. Ein Vetter quartierte sich nach der Kriegsgefangenschaft bei ihnen ein und begann Flöte zu lernen. Man diskutierte über Wagner und spielte Kammermusik. Weber bekam Cellounterricht, dann entdeckte er den Jazz und mit ihm wechselte er zum Kontrabass.

Im Jazz brachte er sich das meiste selbst bei, berichtet von ersten Bühnenerfahrungen, von Stuttgarter Jazzern wie Horst Fischer und Ernst Mosch, vom ersten Einsatz in Erwin Lehns Orchester als Vertretung für dessen regulären Bassisten. Seine musikalische Leidenschaft führte dazu, dass Weber durchs Abitur rasselte, eine Lehre als Fotograf begann und Kameraassistent bei einer Fernsehfirma wurde. Nebenbei spielte er mit gleichaltrigen Musikern, lernte Anfang der 1960er Wolfgang Dauner kennen und wurde bald Mitglied in dessen Trio. Er erzählt von den unterschiedlichsten Auftrittsorten zwischen Nachtclub, Café, Tanz und Ami-Kaserne, von Einflüssen auf sein Bassspiel, davon, wie das Dauner-Trio seinen eigenen Stil fand. Zwischendurch gibt es reichlich Anekdoten, aber auch Einblicke in die technischen Seiten seiner Kunst: Instrumentenwahl, Akustik, Pickups, Verstärker, elektronische Spielereien.

Ende der 1960er Jahre wandten Dauner und Weber sich freieren Spielweisen zu. Weber weiß um seine Beobachtungsgabe, weiß auch, dass er sich gern mal zur Polemik hinreißen lässt. Doch er besitzt eben auch die Erfahrung, Beobachtetes, insbesondere, wenn es um Musik geht, passend einordnen zu können. Und so mag man mit mancher polemischen Äußerung, die seinem eigenen musikalischen Geschmack zuzuschreiben ist, nicht übereinstimmen, wird aber an richtiger Stelle durch ein Augenzwinkern darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor zwar eine feste Meinung hat, sich selbst aber auch nicht immer ganz so ernst nimmt.

Weber stand in seiner Karriere bei zwei Plattenfirmen unter Vertrag, die Weltgeltung besaßen, Hans-Georg Brunner Schwers MPS und Manfred Eichers ECM. Er beschreibt die Arbeiten zu “The Colours of Chloë” und den folgenden internationalen Erfolg. Er erzählt vom Zusammenspiel mit Gary Burton, von den Unterschieden zwischen amerikanischen und europäischen Gepflogenheiten in der Jazzszene, von Tourneen mit seiner eigenen Band Colours, durch Deutschland – Ost und West –, die USA und Australien. Er berichtet von seiner Zusammenarbeit mit Jan Garbarek, mit dem er auch offizielle Empfänge spielte, bei denen Politiker, Botschafter, Bundespräsidenten, gekrönte Häupter begeistert waren, “endlich mal kein Streichquartett hören zu müssen”.

Eberhard Weber ist ein vielgereister Musiker. Seine Berichte von Zollformalitäten, Einreisebestimmungen, fasst verpassten Flügen und sonstigen Widrigkeiten sind amüsante Anekdoten, die vor Augen führen, dass das Musikerdasein nicht nur der aus musikalischer Kreativität besteht, die das Publikum erwartet und zumeist auch bekommt. Eine Professur für Musik hatte er nie annehmen wollen. Seine Begründung, die wie ein Tenor seine ungemein flüssige und lesenswerte Autobiographie beendet: “Ich kann nicht Bass spielen. Aber ich weiß, wie’s geht.”

Wolfram Knauer (Juni 2015)


Coltrane sur le Vif
von Luc Bouquet
Nantes 2015 (Lenka Lente)
146 Seiten, 13 Euro
ISBN: 978-2-9545845-8-4

2015bouquetDie Großen des Jazz waren zumeist auch die Meistaufgenommenen, und neben den offiziellen Einspielungen im Studio gehörten über die Jahre Bootlegs dazu, Schwarzpressungen von legalen oder illegalen Mitschnitten, die in mal besserer, mal schlechterer Qualität auf den Markt kamen. Solche Bootlegs haben naturgemäß keine Studioqualität; zum Teil sogar einen unsäglich schlechten Sound. Aber sie sind nicht nur für den Fan, sondern auch für den Experten ein immens wichtiger Teil der Aufnahmegeschichte dieser Musiker. Sie dokumentieren nicht die perfekte Abmischung, sondern den Alltag des Konzerts, in dem das Solo völlig anders klingen kann, in dem die Künstler mit dem Material oder auch mit sich selbst zu kämpfen haben, in dem mal bessere, mal schlechtere Fassungen der großen Titel erklingen, vergleichen mit den auf den im Studio gefertigten Referenzaufnahmen.

Luc Bouquet hatte im französischen Magazin Improjazz eine Reihe über die Liveaufnahmen John Coltranes veröffentlicht und diese jetzt in die zwölf Kapitel des vorliegenden Buchs einfließen lassen. Ein erstes Kapitel beschreibt Coltranes erste Aufnahmen aus dem Jahr 1946 sowie zwei Sessions mit Dizzy Gillespie bzw. Johnny Hodges. Kapitel 2 widmet sich den Jahren 1955-57 und Livemitschnitten mit Miles Davis, Kapitel 3 der Zeit von 1957-58 und den erst jüngst entdeckten und doch schon legendären Aufnahmen Coltranes mit dem Thelonious Monk Quartet. Zwei weitere Miles Davis-Kapitel schließen sich an, 1958-59 in den USA sowie 1960 in Europa, dann beginnt mit Kapitel 6 die Aufnahmegeschichte von Coltranes eigenen Bands: sein klassisches Quartett, Trane und Dolphy, die diversen Besetzungen von 1962, 1963, 1964-65 bis hin zu seiner letzten Liveaufnahme, dem “Olatunji”-Konzert vom April 1967. Jede der Platten wird mit Besetzungs- und Inhaltsangaben gelistet, dazu kommt eine kurze Beschreibung dessen, was auf ihr zu hören ist. Allzu tief versteigt sich Bouquet dabei weder in die Musik noch in die Begleitumstände der Aufnahmen – so wäre etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Entdeckungsgeschichte der Bänder von Tranes Carnegie-Hall-Konzerts mit Thelonious Monk durchaus berichtenswert gewesen.

Bouquets Buch ist als eine Art annotierte Diskographie der Liveaufnahmen John Coltranes ein nützliches Handbuch sowohl beim Hören wie auch bei der Entscheidungsfindung, was man sich vielleicht noch zulegen könnte.

Wolfram Knauer, April 2015[:][:]

[:de]Neue Bücher 2014[:en]New Books 2014[:]

[:de]The Sound of a City? New York und Bebop 1941-1949
von Jan Bäumer
Münster 2014 (Waxmann)
384 Seiten, 39,90 Euro
ISBN: 978-3-8309-2963-5

Der Jazz war von Anbeginn an eine Musik der Stadt. Zentren wie New Orleans, Chicago, Kansas City, vor allem aber New York prägten seine Entwicklung; zugleich prägte aber auch der Jazz die Erfahrung solcher Städte. Jan Bäumer hat für seine Dissertation ein Musterbeispiel dieser Wechselwirkung herausgegriffen und untersucht, wie der Bebop gerade in New York entstehen konnte, wie er zugleich in den 1940er Jahren (und darüber hinaus) das kulturelle Erlebnis dieser Stadt maßgeblich prägte.

Im Vorwort erklärt Bäumer die Komplexität des Forschungsgegenstands, da man Jazz nicht nur als musikalische, sondern auch als kulturelle und soziale Praxis begreifen müsse und es daher die Aufgabe seines musikgeographischen Ansatzes sei, diese verschiedenen Sichtweisen herauszuarbeiten und miteinander zu verknüpfen. Er thematisiert die zur Verfügung stehenden Quellen, mündliche Zeitzeugenberichte, Musikaufnahmen und zeitgenössische Presseberichte. Dann beschreibt er die Vorbedingungen für die Entstehung des Bebop, wobei er bereits hier die Funktion von Ort als geographische, soziale und damit auch ästhetische Dimension diskutiert. Er unterscheidet zwischen “hearth” und “stages”, also weitgehend isolierten bzw. privaten Experimentier- und öffentlichen Aufführungsräumen, und erklärt die Attraktivität einer so diversen Metropole wie New York für Musiker ganz allgemein. New York war Anfang der 1940er Jahre bereits Medienhauptstadt, besaß in Harlem eine kreative afro-amerikanische Community, zugleich ein großes Netz von Veranstaltungsorten, war außerdem im 20sten Jahrhundert im wahrsten Sinne des Wortes die “Stadt, die niemals schläft”.

Im nächsten Kapitel legt Bäumer die Lupe an seinen Untersuchungsgegenstand. Er beschreibt die “hearths”, die Experimentierorte für Jazz, beleuchtet beispielsweise die Gemeinde um Minton’s Playhouse, fragt nach der Funktion dieses Clubs für die Bebop-Musiker und beschreibt die in Aufnahmen dokumentierte Musik dieser Zeit, rhythmische, harmonische und improvisatorische Neuerungen, die sich aus ihnen ablesen lassen. Dieselbe Abfolge an Fragen und Beschreibungen lässt er Monroe’s Uptown House angedeihen, aber auch anderen Experimentierorten wie der privaten Wohnung oder der Bigband.

Im dritten Kapitel beschreibt Bäumer die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die Entwicklung des Jazz. Er nennt die Transportbeschränkungen, die Tourneen immer schwieriger machten, die Wehrpflicht, die den Bigbands ihre besten Musiker entriss, schreibt über die Auswirkungen des Kriegs auf die Wahrnehmung des amerikanischen Alltagsrassismus und nennt New York in diesem Zusammenhang einen “Karrierehelfer” für viele der Musiker.

Die öffentlichen Bühnen unterscheiden sich von den “hearths” durch ihre Sichtbarkeit auf dem Markt des Unterhaltungsgeschäfts. Bäumer blickt auf die 52nd Street, auf der vor allem kleine Ensembles zu hören waren, beschreibt die ersten organisierten Jam Sessions, die nicht so sehr als Experimentierplattform fungierten, sondern als besonderes Erlebnis fürs Publikum, schaut etwas näher auf den Onyx Club, in dem 1943 mit Dizzy Gillespies und Oscar Pettifords Band die “erste Bebop-Gruppe” auftrat und nimmt sich dann analytisch dem Repertoire und der Spielweise des Bebop an. Ein neues Selbstverständnis hätten sie alle entwickelt, schreibt er, quasi ein neues Kapitel des Jazz aufgeschlagen. Er nennt die Billy Eckstine Band “stage” und “hearth” in einem und fragt danach, wie schnell sich der “neue Sound” des Bebop in New York ausbreitete. Als besonders wichtigen öffentlichen Raum identifiziert er den Schallplattenmarkt, beschreibt den Aufnahmebann von 1942 bis 1944, erklärt, warum es Ende der 1930er, Anfang der 1940er Jahre zur Gründung unabhängiger Plattenlabels kam und wie wichtig diese gerade für die Entwicklung des Bebop waren. Er vollzieht nach, wie Charlie Parker und Dizzy Gillespie im Three Deuces auftraten, das Konzerte in der New Yorker Town Hall den Schritt in den Konzertsaal bedeuteten und damit auch Symbol eines gesellschaftlichen Aufstiegs darstellten.

Kapitel 5 widmet sich den “musikalischen Konturen des Bebop”. Er beschreibt das Repertoire des Stils, formale Usancen, die Verwendung von originalen Kompositionen oder Kontrafakten, die Bedeutung des Blues für den Stil; er erklärt die Funktion knapper Arrangements, melodische Besonderheiten, Phrasierung und Virtuosität, fixiert sich auf die Aufgabe der einzelnen Instrumente in der Rhythmusgruppe und die Interaktion aller, und er beschreibt die harmonischen Neuerungen der Zeit.

Im sechsten Kapitel widmet Bäumer sich den “außermusikalischen Konturen” dieser Musik, fragt, ob die Bebopper sich denn tatsächlich als “Außenseiter” verstanden, verweist auf Mode, Sprache, die zur Identität des modernen Jazzmusikers beitrugen, aber auch auf den in der Szene nicht unüblichen Drogenkonsum. Er verweist kurz darauf, dass auch außerhalb New Yorks kreative Musik stattfand, diskutiert die Ausflüge New Yorker Musiker an die Westküste und was sie dort (musikalisch) vorfanden. Die Auftritte Charlie Parkers und Dizzy Gillespies in der Carnegie Hall mögen ein Karrierehöhepunkt für beide gewesen sein; parallel begann bereits der Niedergang der 52nd Street. Ab 1950 hielt eigentlich nur noch das Birdland die Fahne des Bebop hoch.

Zum Schluss geht Bäumer auf die Rezeption des Stils ein, diskutiert die Kontroversen zwischen Traditionalisten und Modernisten, untersucht die mediale Darstellung des Bebop, und fragt danach, inwieweit der Stil eher ein Minderheitenpublikum angesprochen hat bzw. wie er vom Massenpublikum wahrgenommen wurde. Tatsächlich habe sich in diesen Jahren eine Art neues Publikum herausgebildet, argumentiert er, und dieser “Insider”-Kreis sei der Urtyp des Jazzpublikums bis heute.

Jan Bäumers Studie ist gerade in der Verflechtung der verschiedenen Stränge, die in seinem Blickfeld liegen, bemerkenswert. Städtischer Raum und die Möglichkeiten die sich in ihm ergeben, Community als Initiator und zugleich Abnehmer künstlerischer Projekte, die Beschreibung der geografischen, sozialen und ästhetischen Diskurse, innerhalb derer diese Musik sich entwickeln konnte, all das bündelt er mit vielen Verweisen auf Primär- und Sekundärliteratur sowie analytischen Anmerkungen zur Besonderheit des Bebop. Ihm gelingt es dabei die Komplexität seines Themas ein wenig zu ordnen, den Fokus seiner Leser auf immer wieder andere Perspektiven zu lenken und damit die Entstehung und die Bedeutung dieses Stils in der und für die Jazzgeschichte ein wenig zu entmythologisieren.

Bäumers Buch ist eine musikwissenschaftliche Dissertation, aber auch für den musikalisch interessierten Laien gut zu lesen. Er verliert die verschiedenen Argumentationsstränge, die er über die Kapitel entwickelt, nicht aus den Augen und ermöglicht seinen Lesern an jeder Stelle mit frischem Blick auf die Musik und ihren Kontext zu blicken. “The Sound of a City?” beschreibt dabei am Ende tatsächlich den Sound einer Stadt und macht zugleich klar, dass “Sound” nie nur ein klangliches Phänomen ist, sondern immer aus dem Zusammenleben und Wirken von Menschen entsteht.

Wolfram Knauer (Juli 2018)


Jazz im Film. Beiträge zu Geschichte und Theorie eines intermedialen Phänomens
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erausgegeben von Willem Strank & Claus Tieber
Münster 2014 (Lit Verlag)
246 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-643-50614-6

Die Herausgeber dieses Bandes und Mitorganisatoren des Symposiums haben aus Referaten, die bei der Jahrestagung der Kieler Gesellschaft für Filmmusikforschung im Oktober 2011 gehalten wurden sowie weiterführenden Artikeln von Autoren, die in Kiel nicht dabei sein konnten, eine facettenreiche Dokumentation über die Funktion von Jazz im Film auf der einen Seite und seine Repräsentation auf der anderen Seite vorgelegt. In ihrer Einleitung verweisen sie auf die verschiedenen Situationen, in denen Jazz mit der Leinwand in Verbindung tritt, auf die Stummfilmbegleitung etwa, auf Musik-Kurz- und Animationsfilme, auf die Verbindung von Jazz und Experimentalfilmen, auf Dokumentar- und Konzertfilme, auf den Jazz im Live-Fernsehen, auf Jazz als Soundtrack, sowie auf Biopics und auf “Scenopics”, die die Jazzwelt als Thema nimmt.

Claus Tieber diskutiert das Phänomen der Improvisation in Jazz und Film und inwieweit sich diese aufeinander beziehen können. Andrea Oberheiden-Brent beleuchtet Al Jolsons Blackface-Maske in “The Jazz Singer” und anderen Filmen, die sie nicht allen als Bezug auf Black Minstrelsy sieht, sondern darin auch den Versuch erkennt jüdische Identität aufrecht zu erhalten. Lena Christolova untersucht, wie man rassistische Klischees, die sich in den Jazz-Cartoons mit Betty Boop finden, anders lesen könne, nämlich, wie sie schreibt, als ein Argument im Diskurs der Zeit, das “das Problem ethnischer Stereotypen längst spielerisch gelöst” habe.

Moritz Panning betrachtet den deutschen Revuefilm “Kora Terry” von 1940 und ordnet die Filmmusik Peter Kreuders in die ästhetische Diskussion des Nationalsozialismus über Jazz und eine vom System normierte deutsche Unterhaltungsmusik ein. Wolfgang Thiel sieht Spielfilme der DEFA aus den 1950er bis 1970er Jahren mit dem spezifischen Fokus auf Jazzszenen sowie die Verwendung von Jazzelementen in der Filmmusik an, beschreibt dabei auch, wie in den 1970ern die Beat- bzw. Rockmusik die Funktion des Jazz übernahm, eine “gewünschte optimistische Grundhaltung im sozialistischen Alltag zu ‘benennen’ und hierbei insbesondere das Lebensgefühl der Jugend anzusprechen”.

Hanna Walsdorf diskutiert Otto Premingers “Bonjour Tristesse” von 1957 mit einem speziellen Fokus auf mit Jazz eng verbundene Tanzszenen. Irene Kletschke beschreibt die Haltung etlicher Hollywood-Biopics am Beispiel der “Glenn Miller Story”. Max Annas diskutiert die Modellhaftigkeit des afro-amerikanischen Jazz für die südafrikanische Freiheitsbewegung, aber auch die Rolle, die dieser Musik etwa in Lionel Rogosins Film “Come Back, Africa” von 1959 oder im amerikanisch-südafrikanisch-deutschen Dokumentarfilm “Drum” von 1994 zukommt, in dem der Jazz mehr als “Soundtrack und Quelle bunter Bilder” verwandt, seine Funktion innerhalb der Freiheitsbewegung aber wenig Rechnung getragen werde. Andreas Münzmay beleuchtet die Interaktion zwischen Musik, Handlung und filmischer Dramaturgie in John Cassavetes’ “Shadows” von 1959, beschreibt, wie der Regisseur Musik als “‘musikalische’ Bild- oder Sprachmotive einsetzte”, und diskutiert improvisatorische Momente des Soundtracks, für den Cassavetes, bevor er Charles Mingus engagierte, eigentlich Miles Davis im Blick gehabt hatte.

Frank-Dietrich Neidel versucht Ähnlichkeiten in der Entwicklung des Bebop und Luc Godards Film “À bout de souffle” von 1959 aufzuzeigen, verweist dabei etwa auf dem “Sprung aus der Tradition und die ästhetischen Konsequenzen”, auf eine neue Rhythmik sowie auf Themen wie melodische Kompexität oder Nachvollziehbarkeit. Konstantin Jahn untersucht den legendären Sun Ra-Film “Space Is the Place” von 1974 auf das Spiel mit den Film-Genres (Biopic, Blaxploitation, Science Fiction), aber auch auf musikalischen Momente (Call and Response, Riff, Inside-Outside etc.), die direkten Einfluss auf die filmische Umsetzung hatten. Willem Strank betrachtet die Filme “Ornette: Made in America” von 1985, “Cecil Taylor – All the Notes” von 2004 sowie “Brötzmann” von 2011 und diskutiert zu welchen filmischen Umsetzungen die freie Improvisation der Protagonisten die jeweiligen Regisseure veranlasst hat.

Guido Heldt sieht “Step Across the Border” als einen Dokumentarfilm über Fred Frith, zugleich aber auch als einen Film “durch” Fred Frith, “der sich seine Strukturen und Muster (…) ausleiht und versucht, seinem Gegenstand nicht in der Draufsicht, sondern im Nachvollzug nahe zu kommen”. Sarah Greifenstein sieht Parallelen in den “episodischen Bewegungsmustern” in Woody Allens “You Will Meet a Tall Dark Stranger” und diskutiert die “Erfahrungsformen des Improvisierten” in der Musik und den Gesten des Films. Claudia Relota schließlich betrachtet die amerikanischen Fernsehserie “Treme” im Nachklang des Hurrikans Katrina und fragt dabei, inwieweit die Serie dem Anspruch “einer möglichst detaillierten und spezifischen Repräsentation der Musikkultur – dem Konzept des Authentischen in ‘Treme’ – im Format des Seriellen” gerecht wird, wie die Musik als “soziale Praxis zwischen musikalischen Traditionen” dargestellt wird und zugleich für eine “ungewöhnliche erzählerische Dichte” sorgt.

Als Tagungsband ist “Jazz im Film” sicher kein Einstiegsbuch über die unterschiedlichen Beziehungen zwischen den beiden vielleicht bedeutsamsten künstlerischen Entwicklungen des 20sten Jahrhunderts. Das Buch bietet aber gerade in der Verschiedenheit der Ansätze einen hervorragenden Einblick in die unterschiedlichen Facetten des Diskurses über Jazz im Film – ob als Soundtrack oder als Thema.

Wolfram Knauer (Dezember 2017)


Jackie McLean
von Guillaume Belhomme
Nantes 2014 (Lenka Lente)
117 Seiten, 11 Euro
ISBN: 978-2-9545845-4-6

Jackie McLean war irgendwie zeitlebens ein “musicians’ musician”, ein Musiker, der unter Kollegen bekannt, beliebt und einflussreich war und doch außer einem Kennerpublikum eher mäßigen populären Erfolg hatte. In seiner Biographie spürt Guillaume Belhomme dem Leben und Schaffen des Saxophonisten nach, identifiziert Einflüsse auf ihn und erklärt die Bedeutung seines musikalischen Schaffens. Wie Sonny Rollins spielte McLean Ende der 1940er Jahre kurzzeitig mit dem Gedanken, vom Altsaxophon, das durch Charlie Parkers Wirken doch sehr vorbelastet war, auf ein anderes Instrument umzusteigen, und tatsächlich machte er, wie wir lernen, seine erste Aufnahme 1949 mit einer Rhythm-and-Blues-Band auf dem Baritonsaxophon.

Belhomme erzählt von der Szene, in der McLean in jenen Jahren verkehrte, von McLeans Freundschaft zu den Brüdern Richie und Bud Powell, von der beängstigenden Präsenz Charlie Parkers und von der Tatsache, dass nicht nur McLean selbst sich laufend mit Bird vergleichen musste, sondern dass das auch die Kollegen um ihn herum taten. Er verfolgt Aufnahmen des Saxophonisten mit Miles Davis ab 1951, und er beleuchtet McLeans ersten Platten unter eigenem Namen seit 1955. 1959 wirkte McLean an der Theaterproduktion “The Connection” mit, für die Freddie Redd die Musik geschrieben hatte; daneben spielte er mit etlichen Größen des New Yorker Hardbop. Ab den Mitt-1960er Jahren engagierte er sich zudem in den ersten Bemühungen einer auf die breitere Bevölkerung gerichteten Jazzpädagogik, wirkte des weiteren auch bei politischen Aktivitäten der Bürgerrechtsbewegung mit. Er tat sich mit dem Trompeter Lee Morgan zusammen, hatte daneben aber auch ein Ohr für die freieren Spielformen der Zeit, wie er etwa im Album “New and Old Gospel” bewies, das er 1967 zusammen mit Ornette Coleman (an der Trompete) aufnahm. Er unterrichtete an der Hartford University und war in den 1970er Jahre immer wieder in Europa zu hören.

Belhommes Buch gibt in kurzen Kapitel die Fakten, nennt die Namen und Titel und ordnet McLeans Lebensstationen in die Entwicklungen der Zeit ein. Die Gründe, die für McLeans Engagement in der Jazzpädagogik eine Rolle spielten, werden höchstens gestreift und seine Heroinabhängigkeit gerade mal am Rande erwähnt. Nun mag man meinen, dass solche Aspekte nebensächlich seien, wo es doch in der Hauptsache um die Musik gehe, allerdings kommt Belhomme der Musik selbst auch nur selten wirklich nah. Und so bleibt sein Büchlein ein wenig an der Oberfläche. Für Liebhaber von McLeans Musik ist es allemal ein handliches Nachschlagewerk, dass es ermöglicht, die verschiedenen Alben des Saxophonisten einzuordnen – mehr aber auch nicht.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


An Unholy Row. Jazz in Britain and its Audience, 1945-1960
von Dave Gelly
Sheffield 2014 (equinox)
167 Seiten, 25 Britische Pfund
ISBN: 978-1-84563-712-8

2014gellyDave Gelly ist Autor von Biographien etwa über Stan Getz und Lester Young, schreibt für britische Fachzeitschriften und Tageszeitungen und moderierte eine wöchentliche Rundfunksendung im BBC. Der Untertitel seines neuestes Buchs liest sich, als handele es sich dabei um eine soziologische Studie über “den Jazz in Großbritannien und sein Publikum” in der Nachkriegszeit. Tatsächlich besteht das Publikum, das Gelly meint, zu einem großen Teil auch aus britischen Musikern. Gelly berichtet von den unterschiedlichen Weisen, auf die diese mit dem Jazz in Berührung kamen, in Clubs und bei Tanzveranstaltungen, im Rundfunk, in der Armee, in halb-öffentlichen Expertenzirkeln oder bei Tourneen der amerikanischen Heroen, für die London allein der mangelnden Sprachbarriere wegen immer einer der ersten und wichtigsten Anlaufpunkte war.

Dabei verfolgt Gelly etwa den Weg des jungen Humphrey Lyttelton zum Jazz, berichtet über Widerstände und Hingabe, über den Effekt von Louis Armstrongs Musik auch bei jenen Musikern, die ihn nicht 1931 bei seinen ersten Konzerten in London erlebt hatten, über die Vielfalt an Jazzsendungen im britischen Rundfunk der Nachkriegsjahre und über Repertoire und musikalische Ästhetik der ersten Bands, in denen Lyttelton mitwirkte. Jazz bedeutete damals vor allem Dixieland oder Swing; Bebop spielte in Lytteltons musikalischer Umgebung keine große Rolle.

Einen weiteren Blick wirft Gelly auf George Webb’s Dixielanders und auf Musiker, die unter traditionellem Jazz vor allem eine nicht-kommerzielle Musik verstanden. Gelly beschreibt, wie sich aus der Jazzszene der direkten Nachkriegszeit langsam eine Art Jugendkultur entwickelte, die zugleich die Klassenunterschiede der britischen Gesellschaft konterkarierte wie unterstrich. Viele der Konzerte fanden in Hinterzimmern von Gasthäusern oder Hotels statt, hatten einen Grassroots-Geschmack, den, wie Gelly schreibt, selbst noch die tourenden Jazzveteranen, die England in den 1960er Jahren heimsuchten, recht charmant fanden.

Mit dem Saxophonisten Johnny Dankworth stellt Gelly dieser Szene einen modernen Protagonisten gegenüber und beschreibt die kleine, verschworene Gemeinde von Bebop-Anhängern im Großbritannien der ausklingenden 1940er und 1950er Jahre. Dieser Stil, erklärt Gelly, war im Vergleich zum Jazz-Revival ein später Ankömmling, und der Kontrast zwischen beiden Stilen nicht nur musikalisch, sondern auch sozial. Für das Jazzrevival seien vor allem nicht-musizierende Fans verantwortlich gewesen, für den Bebop dagegen junge, eine musikalische Karriere anstrebende Musiker. Das breite Publikum stand beiden anfangs eher verständnislos gegenüber. Wo der Revival-Jazz in den Hinterzimmern der Pubs erklang, hörte man Bebop, gespielt von Instrumentalisten, die in professionellen Tanzkapellen spielten, meist in speziellen Musikerkneipen im Londoner Westend. Gelly beschreibt die Szene, irgendwo zwischen Konservatorium und Tanzkapellen, in der Dankworth und Ronnie Scott arbeiteten; er nennt Bands wie das Tito Burns Sextet oder das Ray Ellington Quartet, und er beschreibt die Atmosphäre des Club Eleven, der im Dezember 1948 seine Pforten öffnete, zwei Jahre später auf die Carnaby Street umzog, aber nach nur wenigen Monaten und einer Drogenrazzia der Polizei schließen musste.

Daneben kam es Anfang der 1950er Jahre zu einer neuen Form von Jazz-Traditionsaufbereitung im New-Orleans-Purismus. Gelly zeichnet das Wiederaufleben des archaischen New Orleans-Jazz in den Vereinigten Staaten nach, das Musiker wie Bunk Johnson und George Lewis in den Mittelpunkt stellte und fokussiert dann auf Johnsons englischen Jünger, den Kornettisten Ken Colyer, dessen Crane River Jazz Band ein starkes musikalisches wie ästhetisches Statement bot, das weit über den reinen Revival-Jazz hinaus zu hören war. Über kurz oder lang ging Colyer selbst nach New Orleans und beeindruckte etliche der dort lebenden Musikveteranen mit seinem Ton und seinem musikalischen Ansatz. Sein Posaunist Chris Barber gründete 1954 seine erste Band, deren erstes Album “New Orleans Joys” 60.000 Exemplare verkaufte. Wer, fragt Gelly, kaufte diese Platten?, und schlussfolgert, es seien vor allem Schüler gewesen, die sich durch die Musik abgrenzten. Damals sei der Begriff “Trad” geprägt worden, um eine besonders populäre Form des traditionellen Jazz zu bezeichnen. Jazz, fasst Gelly zusammen, sei eine Jugendkultur gewesen, die auf Livemusik gründete.

Der moderne Jazz um Dankworth und Scott wurde im Verlauf der 1950er Jahre populärer und nahm Einflüsse aus Hardbop, Cool Jazz oder afro-kubanischem Jazz auf. Zugleich bildete sich unter den Musikern ein Bewusstsein darüber, dass es vielleicht tatsächlich so etwas wie “britischen Jazz” gäbe, was zu ganz unterschiedlichen Streits darüber führte, wie die verschiedenen Stränge eines solchen nationalen Stils (Trad hier, modern dort) sich entwickeln sollten. Ein Middleground, auf dem sich viele trafen, war der Mainstream, der Elemente aus traditionelleren und moderneren Spielweisen in sich aufnahm und vermittelte.

Die Skiffle-Welle der späten 1950er Jahre bildet den Mittelpunkt eines eigenen Kapitels, in dem Gelly zugleich auf die Faszination britischer Musiker und Fans mit dem authentischen Blues in den Vereinigten Staaten blickt und vorausdeutet, wie all die Diskurse, die er zuvor dargestellt hatte, letzten Endes auch Grundstein für die Ausbildung einer eigenen britischen Art von Popmusik sein sollten. Gelly verfolgt den Niedergang der Bigbands und der konventioneller spielenden Tanzorchester, die ja insbesondere den modernen Musikern finanziellen Halt geboten hatten. Er erwähnt einige der herausragenden Figuren, Tubby Hayes etwa und Joe Harriott, und schildert die Gründung eines neuen Clubs, Ronnie Scott’s in Soho. Die letzten beiden Kapitel blicken auf die Entwicklung des Trad-Booms, der erst durch den Erfolg der Beatles beendet wurde, sowie auf eine moderne Szene, der es gelang eine eigene Stimme auszubilden, eine Stimme, für die Gelly Stan Traceys “Jazz Suite: Under Milk Wood” und Johnny Dankworths “What the Dickens!” als symptomatisch sieht.

Dave Gelly fragt in seinem Buch nach den Gründen für musikalische Moden, und seine Erklärungen kommen aus der Szene selbst. Dem Blick auf den Jazz “und sein Publikum” hätte stellenweise auch die Sicht auf den Rest des Publikums wohlgetan, also auf die Debatten, die nicht allein innerhalb der Szene, sondern darüber hinaus und insbesondere auch über den Jazz abliefen. Und so sehr auch die Eingrenzung seines Themas auf die Dualität zwischen traditionellen und modernen Stilrichtungen in den 1940er und 1950er Jahren verständlich ist, so wäre ein zumindest spekulativer Ausblick ganz hilfreich gewesen, welche Auswirkungen die Diskussionen, die er für die Jazzszene jener Jahre schildert, auf die britische Jazzentwicklung auch nach der von Gelly betrachteten Zeit hatten.

Alldem zum Trotz aber gelingt es Gelly etliche dieser Diskurse sorgfältig herauszuarbeiten und ihre Unterschiede etwa zu ähnlichen Diskursen in den Vereinigten Staaten deutlich zu machen. Vor allem macht die Lektüre einmal mehr deutlich, dass Jazzgeschichtsschreibung nicht einzig die Entwicklung des Experiments verfolgen sollte, sondern dass auch der Blick aufs Bewahrende, auf die Traditionsverbundenheit, auf die Konnotationen archaischer Stilrichtungen wichtig ist.

Wolfram Knauer (August 2016)


Black Popular Music in Britain Since 1945
herausgegeben von Jon Stratton & Nabeel Zuberi
Farnham, Surrey 2014 (Ashgate)
240 Seiten, 65 Britische Pfund
ISBN: 978-1-4094-6913-1

Black British Jazz. Routes, Ownership and Performance
herausgegeben von Jason Toynbee & Catherine Tackley & Mark Doffman
Farnham, Surrey 2014 (Ashgate)
230 Seiten , 65 Britische Pfund
ISBN: 978-1-4724-1756-5

Großbritannien hat die Nase vorn, wenn es um Jazz geht. In London waren es die ersten Jazzkonzerte zu hören, noch vor Paris oder Berlin, hier ließen sich – allein schon wegen der geringeren Sprachbarriere – amerikanische Musiker nieder, auch wenn sie eigentlich durch Europa touren wollten. Armstrong und Ellington waren Anfang der 1930er Jahre live zu erleben, und so ist es kein Wunder, das die britische Jazzszene bereits in den 1930er Jahren zu den avanciertesten Europas gehörte. In den 1940er Jahren entwickelten sich hier eine neue Art von traditionellem Jazz, daneben aber auch Mischformen aus Jazz und Blues wie der Skiffle, die allesamt von Einfluss auf die populäre Musik aus England waren.

Die Jazzszene Großbritanniens wird gern – wie die meisten Jazzszenen Europas – als eine weiße, europäische Jazzszene wahrgenommen, als eine Entwicklung der Re-Akkulturation afro-amerikanischer (also eigentlich afro-euro-amerikanischer) Musik nach Europa. Tatsächlich aber hatte die Kolonialmacht England genügend schwarze Musiker aus ihren (früheren) Kolonien, insbesondere der Karibik, die das kulturelle Leben der Hauptstadt belebten. Die beiden Bücher “Black British Jazz” und “Black Popular Music” widmen sich dieser oft vernachlässigten Seite der britischen Musikgeschichte.

Während  “Black British Jazz” die verschiedenen Wege untersucht, auf denen – neben den Tourneen afro-amerikanischer Stars – schwarze Einflüsse in England bemerkbar wurden, die Aneignung einer afro-britischen Identität seit dem Avantgarde-Jazz der späten 1960er Jahre bis hin zu jungen Musikern der Gegenwart wie Soweto Kinch, sowie konkrete Beispiele eines ästhetischen Diskurses im Königreich, ist “Black Popular Music” sehr breiter angelegt, deckt Jazz vor allem im ersten Kapitel der Musikwissenschaftlerin Catherine Tackley ab, um dann populäre Stile wie Ska, “Afro-Trends”, Rock, Soul, Hip-Hop und vieles dazwischen zu untersuchen, immer mit der Frage, wie sich eine schwarze britische Identität in der Musik abbilde und welchen Widerhall die Musik im Publikum hat.

2014toynbeeIm Vorwort zu “Black British Jazz” skizzieren die Herausgeber fünf prägende Momente in dieser Geschichte: (1.) die Tournee des Southern Syncopated Orchestra 1919 in England, das dem Land zum ersten Mal das Bewusstsein brachte, dass es da eine aus schwarzer Ästhetik geborene neue Musikrichtung gab; (2.) eine Musikszene um Musiker aus Jamaika und anderen karibischen Ländern, die oft genug ihre Instrumente in den Militärkapellen der Kolonialherren gelernt hatten; (3.) die Bebopszene im London der 1950er Jahre, die deutlich das schwarze Element der Improvisation in den Vordergrund stellte; (4.) die Anwesenheit südafrikanischer Expatriates in den 1960er Jahren, sowie (5.) das Erwachen eines auch politischen afro-britischen Bewusstseins spätestens in den 1980er Jahren.

Howard Rye skizziert in seinem Kapitel die Akkulturation schwarzer Musik bis 1935, und verweist sowohl aufs Musiktheater (“In Dahomey”), auf Tourneen afro-amerikanischer Musiker und auf die ersten schwarzen britischen Bands. Catherine Tackley widmet sich dem Thema der Migration und fokussiert beispielsweise auf die “Tiger Bay”, ein Viertel in Cardiff, das insbesondere Musiker kolonialer Herkunft anzog. Kenneth Bilby fragt, ob Reggae und karibische Musik für den britischen Jazz das darstellten, was für den amerikanischen Jazz der Blues sei.

Mark Banks und Jason Toynbee befassen sich mit der öffentlichen Jazzförderung in Großbritannien seit 1968, die die Ausbildung einer britischen Avantgarde-Szene erst ermöglichte, fragen nach den Diskursen dieser Szene und der Beteiligung afro-britischer Musiker an ihr. Mark Doffman stellt dieselbe Frage noch allgemeiner, beschreibt, welcher Anstrengungen es bedürfe, den britischen Jazz als Teil einer schwarzen Diaspora zu verstehen. Justin A. Williams beschäftigt sich mit dem Beispiel des Saxophonisten Soweto Kinch, der Hybridität der Genres Jazz und Hip-Hop, und beschreibt das Selbstverständnis und das Selbstbewusstsein, das sich in Kinchs Projekten einer Verbindung der beiden Genres ableitet.

George McKay wirft einen Blick auf die aus Trinidad stammende Pianistin Winifred Atwell und fragt, warum sie in den Geschichtsbüchern zum britischen Jazz nicht vorkomme. George Burrows betrachtet den Modernismus in Reginald Foreysthes Musik vor dem Hintergrund der Adorno’schen Moderne-Diskussion. Byron Dueck schließlich fragt nach der sozialen Situation der britischen Jazzszene, die sich bis heute vor allem aus weißen, der Mittelklasse verbundenen Mitgliedern zusammensetzt, und er fragt nach den Gründen für die Faszination mit schwarzer Musik.

Ist also “schwarzer britischer Jazz” die Musik, die von schwarzen Musikern in Großbritannien gespielt wird? Oder handelt es sich vielmehr um eine ästhetische Größe, die sich in Musikern jedweder Hautfarbe wiederfinden kann? Die Antwort auf diese Frage ist komplex, denn die Vor- und Nachteile von schwarzer Authentizität oder weiß-dominierter Kulturszene geraden bei fast jedem Argument stark ins Kippen.

2014stratton“Black Popular Music in Britain since 1945” verfolgt einen stilistisch breiteren Ansatz. Hier fragt Catherine Tackley etwa nach der nationalen Identität west-indischer Musiker, die sich selbst als britische Jazzmusiker verstanden und wohl auch waren, weil die spezifische Art von Musik, die sie machten, nur in der Londoner Szene sich entwickeln konnte. Jon Stratton untersucht den Einfluss afrikanischer Musik sowie der Tourneen afro-amerikanischer Bluesmusiker in den 1950er und 1960er Jahre auf die britische Musikszene. Markus Coester hinterfragt die Klischees, die in der musikalischen Mode des “Afro Trend” der 1960er und 1970er Jahre zu finden sind, ästhetische Stereotype irgendwo zwischen Authentizität, Diversität und Happiness.

Robert Strachan schaut auf die Britfunk-Welle der 1980er Jahre, stellt daneben Fragen nach Gender und Identität, wie sie sich in diesem Genre ausdrückten. Rehan Hyder fokussiert auf die Stadt Bristol, die durch Zuwanderung eine multiethnische Bevölkerung und eine starke schwarze Community besitzt, und stellt die Musik in den schwarzen Clubs der Stadt in den 1970er und 1980er Jahren vor, die durchaus eine Art eigenen Sound kreieren halfen. Mykaell Riley ist Gründungsmitglied der Reggae-Band Steel Pulse  und berichtet damit aus eigener Erfahrung über die Reggae- und Bass-Culture-Szene der 1960er und 1970er Jahre.

Lisa Amanda Palmer fragt nach schwarzer Maskulinität und der Feminisierung des sogenannten “lovers rock”, des “soft reggae” der 1980er Jahre. Julian Henriques und Beatrice Ferrara werfen einen Blick auf das multikulturelle Londoner Straßenfest Notting Hill Carnival, in dem Musik Raum, Ort und Territorium markiere. Hillegonda C. Rietveld blickt auf HipHop-affine Stile, Electro-Funk, House, Acid-House, Madchester, Haçienda, Techno und andere. Jeremy Gilbert nimmt sich die elektronische Tanzmusik der 1990er bis 2000er Jahre vor. Nabeel Zuberi schließlich fragt nach den Stimmen der MC-Kultur, nach Sprache, Klangverfremdung, kultureller Identität, die sich in den Raps der Hip-Hop- und Grime-Künstler der jüngsten Generation ausdrückt.

Beide Bücher, die in derselben Reihe des Verlags erschienen sind, ergänzen sich dabei hervorragend. Sie sind beide keine historischen Abhandlungen, in denen die Geschichte schwarzer Musik in England chronologisch vorgeführt wird, sondern versammeln Aufsätze, die sich auf verschiedene Aspekte dieser Geschichte fokussieren und sind damit Teil eines kulturwissenschaftlichen Diskurses, der sehr bewusst über den Tellerrand der jeweiligen Genres hinausblickt. Bleibt anzumerken, dass beide Bücher Musik vor allem als kulturellen Ausdruck betrachten und dabei kaum einen Blick auf die Musik selbst werfen, auf den konkreten Ausdruck, der sich in Melodien, Rhythmen, Formen und Sounds widerspiegelt.

Wolfram Knauer (August 2016)


Canterbury Scene. Jazzrock in England
von Bernward Halbscheffel
Leipzig 2014 (Halbscheffel Verlag)
342 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-943483-00-0

2014halbscheffelEine besondere Facette des britischen Jazz stellt die Canterbury Scene der 1960er Jahre dar, eine musikalische Haltung, die sich aus einem Musikerkreis um Daevid Allen, Hugh Hopper und Robert Wyatt entwickelte, die ihrerseits mit der Verbindung experimenteller Rock- und experimenteller Jazzmusik experimentierten. Bands wie Soft Machine, Caravan, Henry Cow, Hatfield and the North und andere waren selbst in den 1970er Jahren nur Eingeweihten bekannt, sind aber für das Verständnis der Rock- und auch der Jazzentwicklung unverzichtbar, fügten sie doch, wie Bernward Halbscheffel im Vorwort seines Buchs zur “Canterbury Scene” schreibt, “dem Jazz der 1980er und 1990er Jahre einige europäische Farben hinzu”.

Halbscheffel, der im eigenen Verlag bereits ein zweiteiliges Sachlexikon Rockmusik sowie ein Lexikon Progressive Rock vorgelegt hat, hat auch sein Buch zur Canterbury Scene lexikalisch angelegt. Neben einer chronologischen Darstellung der historischen Entwicklung bebildert er diese dabei durch analytische Details oder Anekdoten, für die das Alphabet die Struktur vorgibt. Von “A” wie “Allen, Daevid Christopher” bis “Z” wie “Zeuhl”, einer “Spielart des Progressive Rock, initiiert von Christian Vander” finden sich Namen und Sachbegriffe, bündige Artikel zu einzelnen Bands und Biographien der wichtigsten Musiker.

Jedes Stichwort lädt den Leser zum Perspektivenwechsel ein, denn in jedem Eintrag wird aus anderer Warte auf das Thema des Buchs geschaut, auf den experimentellen Umgang mit Rockgeschichte und Improvisation. Dabei diskutiert Halbscheffel neben ästhetischen Haltungen auch genreübergreifende Begriffe wie “Avantgarde”, oder den britischen Unternehmer Richard Branson, der vor seinen Billigfliegern mit Virgin Records eine wichtige Plattenfirma gegründet hatte. Neben den mit der Canterbury-Szene verbundenen Bands und Musikern behandelt Halbscheffel auch die Auswirkungen etwa auf die deutsche Szene, wo mit dem Krautrock ein eigenes musikalisches Phänomen heranwuchs, wo Bands wie Cassiber enge Kontakte zu Canterbury-Musikern knüpften, oder wo oder das kurzlebige Plattenlabel “Hör Zu Black Label” in einer genreübergreifenden Veröffentlichungspolitik die Musik von Stockhausen und Albert Mangelsdorff genauso herausbrachte wie jene von Dagmar Krause oder Inga Rumpf.

Von Jazzseite sind neben den Artikeln über stilbildende Musiker etwa jene über den “Jazz” und über “Jazzrock” von Interesse, mit 16 Seiten immerhin einer der umfangreichten Einträge des Lexikons. Halbscheffel erzählt die Jazzgeschichte wie andere auch, von New Orleans bis Free Jazz und Fusion, interessiert sich aber naturgemäß vor allem für die jüngeren Entwicklungen, die Diskurse der 1970er bis 1990er Jahre. Er zeichnet die Geschichte des Genres in Europa nach, schildert die Entwicklung von Faszination über Nachahmung bis zur aktuellen insbesondere deutschen Szene, die, wie er schreibt, “spätestens seit den 1980er-Jahren zu einer Minderheitenmusik geworden” sei. In seinem “Jazzrock”-Eintrag versucht er zu unterscheiden, welche Einflüsse und welche Unterschiede für beide Seiten der Gleichung gelten (Rock wie Jazz), diskutiert den Jazzrock um 1970 als Stil und Stilmittel sowie die unterschiedliche Rezeption des Genres von Rock- und Jazzhörerseite.

In der abschließenden Abhandlung über die Canterbury Scene erzählt Halbscheffel, wie aus einer Anfang der 1960er Jahre gegründeten Schülerband eine “Szene” entstand, die ihre eigenen ästhetischen Vorstellungen entwickelte, wie nach und nach ein größeres Publikum die aus dieser Szene entstandenen Musik entdeckte, wie die Bands Soft Machine und Caravan auch kommerziellen Erfolg hatten, es daneben aber auch andere Konzepte gab, wie die Strömung Ende der 1970er Jahre verebbte, um in den 190er Jahren als eine einflussreiche Entwicklung wiederentdeckt zu werden. Er analysiert Aufnahmen der Bands Soft Machine, Caravan und Henry Cow und diskutiert das Element von Erfolg und mangelndem Erfolg und ihre Auswirkungen auf die Realität des Musikmachens am Beispiel der Canterbury Scene.

Halbscheffels “Canterbury Scene. Jazzrock in England” ist Fachbuch und Lexikon in einem, ein umfassender und vielschichtiger Überblick über eine wichtige Szene der europäischen Avantgarde zwischen Jazz und Popmusik, ein Buch für Liebhaber genauso wie ein Nachschlagewerk für den interessierten Laien.

Wolfram Knauer (August 2016)


Sidney Bechet in Switzerland / Sidney Bechet en Suisse
von Fabrice Zammarchi & Roland Hippenmeyer
Genf 2014 (United Music Foundation)
216 Seiten, 4 CDs, 179 Schweizer Franken
http://www.unitedmusic.ch

2014zammarchiWenn ein Musiker den Weg des Jazz nach Europa symbolisiert, dann ist es Sidney Bechet. Der Klarinettist und Sopransaxophonist kam 1919 zum ersten Mal in die “Alte Welt”, als er mit dem Southern Syncopated Orchestra hier tourte. Bei einem Konzert in Lausanne beeindruckte sein Klarinettensolo über den Blues den klassischen Dirigenten Ernest Ansermet so sehr, dass dieser eine viel zitierte Kritik in der “Revue Romande” verfasste, die erste ernsthafte Würdigung eines Jazzsolisten überhaupt. Mit einem Faksimile dieser Kritik beginnt das Buch “Sidney Bechet in Switzerland”, das akribisch – und zweisprachig, also auf Englisch und Französisch – Bechets Besuche in der Schweiz von 1919 bis 1958 dokumentiert.

In den 1920er Jahren lebte Bechet für längere Zeit in Europa; bereiste die Schweiz 1926 beispielsweise mit der Revue Négre” und der Show “Black People”. Seinen Wohnsitz hatte er damals in Paris, wurde allerdings 1929 nach einer Schießerei aus Frankreich ausgewiesen. Nach einem knapp zweijährigen Gastspiel in Berlin kehrte Bechet 1931 in die Vereinigten Staaten zurück.

Achtzehn Jahre später war Bechet dann wieder in Europa und ließ sich in Paris nieder. Man hörte ihn überall auf dem Kontinent, und in der Schweiz war er ein gern gesehener Gast, tourte das Land mit den Bands von Claude Luter, von André Reweliotty, mit Schweizer oder anderen europäischen Kollegen.

Fabrice Zammarci und Roland Hippenmeyer, die jeder für sich bereits fundierte Bücher über Sidney Bechet geschrieben haben, sammelten für dieses opulente Coffee-Table-Buch seltene Fotos, Zeitungsartikel, Programmhefte und zahlreiche andere Dokumente, die Bechets Auftritte in der Schweiz dokumentieren. Sie sprachen mit Zeitzeugen und noch lebenden Musikerkollegen, mit Bechets Sohn Daniel oder mit seinem ehemaligen Manager Claude Wolff. Das Ergebnis ist ein Schatz an spannenden Geschichten, an Erinnerungen und visuellen Dokumenten, denen es gelingt die Faszination für die Musik des Sopransaxophonisten lebendig werden zu lassen.

Richtig lebendig wird das alles dann allerdings insbesondere durch die vier dem Buch beiheftenden CDs, die Bechets Besuche in den 1950er Jahren dokumentieren. Hier finden sich Konzertmitschnitte zwischen Mai 1949 und April 1958, aus Genf, Lausanne, Zürich und Sion, die er Schweizer Rundfunk mitschnitt. Daneben enthalten die CDs aber auch mehrere Interviews, in denen sich Bechet in exzellentem Französisch vor allem an seine Jugend in New Orleans erinnert, daneben aber auch über seine Ballettmusik “La Nuit est une Sorcière” spricht und im Duo mit dem Pianisten Charles Lewis Auszüge daraus spielt. Gerade die Livekonzerte machen deutlich, welch begnadeter Solist Bechet war, mit einem Ton und einem Drive, dem sich seine Mitmusiker genauso wenig entziehen können wie sein Publikum.

“Sidney Bechet in Switzerland” ist eine großartige “labor of love”. Das Buch sei jedem Freund traditioneller Stilrichtungen dringend ans Herz gelegt, mag aber auch künftigen Forschern des Zusammenspiels amerikanischer und europäischer Musiker in der Nachkriegszeit als exzellente Quelle dienen, weil zwischen den Zeilen immer wieder Aspekte erwähnt werden, die in der Jazzgeschichtsschreibung sonst selten zur Sprache kommen. Wobei Sidney Bechet, und das ist vielleicht die überzeugendste Botschaft dieses Buchs, sich schon zu Beginn der 1950er Jahre keinesweigs als ein “American expatriate” empfand. Er war, wenn überhaupt, ein Franzose aus New Orleans, ein überzeugter Weltbürger.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


The View From The Back Of The Band. The Life and Music of Mel Lewis
von Chris Smith
Denton/TX 2014 (University of North Texas Press)
399 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-57441-574-2

^2014_smithIm Vorwort zu dieser Biographie des Schlagzeugers Mel Lewis betont John Mosca, dass dem einen oder anderen vielleicht bewusst sein mag, wie wichtig ein Drummer für die Energie einer Bigband ist, dass er selbst allerdings, als er Lewis zum ersten Mal hörte, vor allem beeindruckt davon war, was Lewis entschied NICHT zu spielen. Mosca erwähnt auch, dass, wenn das vorliegende Buch zwar eine Biographie Mel Lewis’ sei, man die beiden Partner der Thad Jones / Mel Lewis Big Band immer zusammen denken müsse, weil sie beide das Talent des jeweils anderen so gut komplementierten, und dass man insbesondere an ihrer Zusammenarbeit die Größe eines jeden einzelnen erkenne.

Chris Smith, selbst ein in New York lebender professioneller Schlagzeuger, beginnt sein Buch mit einem Auszug aus dem Manuskript für Lewis’ eigene, nie veröffentlichte Autobiographie, “The View from the Back of the Band”. Sein Vater, schreibt Mel darin, sei bereits Schlagzeuger gewesen. Im Kindergarten habe er die Becken bedient, bald darauf, in der ersten Klasse die Basstrommel. Irgendwann habe er seinen Vater bei einer jüdischen Hochzeit ersetzt und sich seit dem Zeitpunkt als professioneller Musiker verstanden.

Melvin Sokoloff (so sein richtiger Name) wurde 1929 in Buffalo, New York, geboren, und die Hochzeit, von der er hier sprach, fand 1935 statt. Bereits in den frühen 1940er Jahren war er ein gefragter Schlagzeuger in der Region um Buffalo, spielte in Swing- und Polka-Bands, für Hochzeiten oder Tanzveranstaltungen. Mit 14 wurde er Drummer für die Bob Seib Band, 1946 tourte er mit Bernie Burns’ Orchester durch den Mittleren Westen. Sein Schlagzeug-Kollege Frankie Dunlop erweckte sein Interesse für den Bebop, der auch die Musik der Lenny Lewis Big Band prägte, in der Mel in jenen Jahren spielte. Im Rückblick identifiziert Mel die frühen Einflüsse auf sein Spiel: ein bisschen Jo Jones, ein bisschen Gene Krupa, noch nicht wirklich Max Roach, sicher Shadow Wilson, besonders aber Big Sid Catlett.

1948 zog es Mel Lewis mit der Lennie Lewis Band dorthin, wo es jeden jungen Jazzmusiker zog, damals wie heute, nach New York City. Count Basie hörte ihn und entschied sich, Mel für sein eigenes Orchester zu sichern, dem er ein moderneres Gesicht verpassen wollte. Kurz vor dem Gig aber wurde er wieder ausgeladen, auch deshalb, weil Basies Management gerade eine Tournee durch die Südstaaten gebucht hatte, und es für einen jungen weißen Musiker nicht sicher gewesen wäre, mit einer schwarzen Band zu reisen. Mel folgte Tiny Kahn als Schlagzeuger des Boyd Raeburn Orchestra, spielte dann mit Alvino Reys Tanzkapelle. Ray Anthony, mit dem er als nächstes auftrat, gab ihm seinen künftigen Bühnennamen Mel Lewis. Anthony sei ein Despot gewesen, und ihre musikalischen Ansichten hätten weit auseinander gelegen, und doch habe er in seiner Zeit bei Anthony eine Menge gelernt, insbesondere Disziplin. Während er mit Tex Benekes Band spielte, traf er seine spätere Frau Doris, konnte den Bandleader daneben aber auch überzeugen, einen Freund, den Ventilposaunisten Bob Brookmeyer zu engagieren, den er 1949 in Chicago kennengelernt hatte. Basie bot ihm ein zweites Mal den Schlagzeugstuhl an, zahlte aber nicht genug, und Stan Kentons Angebot, mit dessen Band zu spielen, zog Kenton gleich darauf zurück, weil sein bisheriger Drummer zurückgekehrt war. 1954 allerdings rief Kenton ein zweites Mal an, und Lewis hatte zum ersten Mal die Möglichkeit mit einer der Top-Bands des Landes zu arbeiten.

Während seiner Zeit bei Stan Kenton traf Mel Lewis erstmals auf den jungen Trompeter Thad Jones, der damals noch bei Count Basie spielte. Lewis lebte damals in Los Angeles, wirkte bei Platten der West Coast Jazzszene mit, war mehr und mehr auch für kleiner besetzte Studioalben gefragt. 1959 erhielt der Vibraphonist Terry Gibbs einen Gig in einem Club in Hollywood und Lewis war mit von der Partie. Er machte Aufnahmen mit Art Pepper, Ben Webster und Gerry Mulligan, in dessen Concert Jazz Band er am Schlagzeug saß. Er reiste mit Dizzy Gillespie durch Europa und mit Benny Goodman in die Sowjetunion, trat regelmäßig in New York auf und hatte Studiogigs in Hollywood.

Nachdem er sich 1963 entschieden hatte, wieder ganz nach New York zu ziehen, zog er sofort viele Jobs an Land, Jazz-Engagements genauso wie Studiogigs etwa für die Jimmy Dean Show auf ABC. Mit Pepper Adams und Thad Jones, der Clark Terry in Gerry Mulligans Concert Jazz Band ersetzt hatte, trat er in kleiner Besetzung auf, und nachdem Mulligan sein Orchester aufgelöst hatte, entwickelten die beiden den Plan einer eigenen Big Band. Ende 1964 probten sie, suchten nach einem Auftrittsort und fanden diesen schließlich im Village Vanguard, das der Band den Montagabend zur Verfügung stellte, den finanziell für New Yorker Clubs erfahrungsgemäß schlechtesten Abend der Woche.

Am 7. Februar 1966 war das Orchester erstmals zu hören und hatte sofort großen Erfolg. Jeder der Musiker erhielt damals gerade mal 16 Dollar pro Abend, was nur deshalb ging, weil alle mit Herzblut dabei waren und außerdem andere Gigs, meist in den Studios oder am Broadway hatten. Smith berichtet von Alben für Solid State und von Tourneen, die nicht alle erfolgreich waren. So fest geschrieben die Arrangements auch waren, so behielten sie immer auch ein Moment des Improvisierten, wie Eddie Daniels berichtet, der sich erinnert, dass sich viele der schweren Arrangements von Thad Jones noch während des Auftritts veränderten, wenn Jones etwa dem Saxophonsatz Licks zusang und alle Musiker die Spannung der Live-Komposition spürten.

1971 hofften die beiden Bandleader auf einen Grammy für das “Best Large Jazz Ensemble”, der dann aber an Miles Davis’ “Bitches Brew” ging. Smith beschreibt personelle Wechsel in der Band, einen Wechsel der Plattenfirma, eine Konzertreise in die Sowjetunion 1972 und andere ausgedehnte Tourneen. Er nennt Höhepunkte und Streits und er schildert ausführlich die Entscheidung Thad Jones’, die Band zu verlassen und nach Kopenhagen zu ziehen, wo ihm ein Posten mit der Danish Radio Big Band angeboten worden war. Mel Lewis fühlte sich betrogen, künstlerisch, finanziell, persönlich, entschied dann aber nach langen Gesprächen mit Vertrauten, die Band fortzuführen.

Mel Lewis and The Jazz Orchestra, wie das Ensemble jetzt hieß, hatte das Repertoire von Thad Jones, hatte einen der wohl antreibendsten Schlagzeuger des Jazz, nämlich Mel Lewis, und fand nun in Bob Brookmeyer und einigen anderen Arrangeure, die das Repertoire mit neuen Stücken auffüllte. Der Besuch im Vanguard ging allerdings ohne Thad zurück, was sich erst änderte, als kein geringerer als Miles Davis die Band auch öffentlich lobte (und einmal sogar mit einstieg). Sein Geld verdiente Mel nach wie vor mit Studiogigs, mit Tourneen kleinerer Bands, ab den 1980er Jahren aber auch mit regelmäßigen Aufträgen durch die WDR Big Band.

Der Saxophonist Ted Nash erzählt, wie Cecil Taylor zu ihren größten Fans gehörte und vorschlug, sie sollten doch mal eine seiner Kompositionen spielen, dann aber ohne Noten kam, immer nur Schnipsel am Klavier vorspielte und die Band nach drei Stunden vielleicht mal 20 Takte zusammenhatte. 1985 trafen Thad und Mel sich noch einmal in Stuckholm und sprachen über mögliche gemeinsame Zukunftspläne. Dann aber starb Thad, und nicht lang danach streute der Hautkrebst, der bei Lewis 1985 diagnostiziert worden war, bis in die Lungen. Mel Lewis spielte bis zum seinem Ende, er starb am 2. Februar 1990.

Chris Smiths’ Buch verfolgt die Karriere von Melvin Sokoloff ausführlich, wenn er auch spätestens seit 1965 das Jones / Lewis Orchester und seine Nachfolger in den Vordergrund stellt. Im Anhang nähert sich Smith dem Schlagzeuger Lewis als Kollege, analysiert und transkribiert diverse Drum-Partien in Aufnahmen kleiner Besetzungen genauso wie in solchen mit Bigband. Eine ausgewählte Diskographie und ein Personen-Index beschließen das Buch.

“The View from the Back of the Band” ist eine Biographie des Schlagzeugers Mel Lewis, überzeugt aber letzten Endes insbesondere als Dokumentation über Lewis’ größtes Vermächtnis, die von ihm und Thad Jones gegründete Bigband, die dafür sorgte, dass der in den Mitt-1960er Jahren totgesagte Bigband-Jazz nicht starb.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


Louis Armstrong. Master of Modernism
von Thomas Brothers
New York 2014 (W.W. Norton & Company)
594 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-393-66582-4

2014brothersDieses Buch ist bereits das dritte, das Thomas Brothers über Louis Armstrong geschrieben hat. In “Louis Armstrong. In His Own Words” legte er eine Dokumentation diverser Korrespondenzen und selbstverfasster Manuskripte des Vielschreibers und Trompeters vor, In “Louis Armstong’s New Orleans” portraitierte er Satchmos Jugendjahre in seiner Heimatstadt. Mit “Louis Armstrong. Master of Modernism” erfährt letzteres Buch nun eine Art Fortsetzung, in der Brothers vor allem Armstrongs Aktivitäten in den 1920er Jahren betrachtet. Er verfolgt dabei die Zusammenarbeit Armstrongs mit King Oliver’s Creole Jazz Band, die Ausbildung eines eigenen Stils, den Brothers als “modernen Stil” bezeichnet und Armstrong damit zu einem “Meister der Moderne” kürt und in eine Reihe mit anderen Ausprägungen der Moderne stellt, Erfindungen der frühen Unterhaltungsindustrie genauso wie einer wachsenden Distanz zum sittenstrengen Konventionen des Viktorianismus. Armstrong aber, so Brothers, erfand nicht nur einen, sondern gleich zwei moderne Kunstformen, von denen eine vor allem auf sein schwarzes Publikum, die andere an den Mainstream-Markt der weißen Fans gerichtet war. Er veränderte die traditionellen Herangehensweisen ans Zusammenspiel in der Band, und er wandte Methoden des Showbusiness auf die Musik an und beeinflusste damit den Jazz als Kunstrichtung, daneben aber auch die Musik ganz allgemein nachhaltig. Mit dieser Interpretation von Armstrongs Kunst als einem großen Beitrag zur intellektuellen Kulturgeschichte des 20sten Jahrhunderts will Brothers ganz bewusst von jenen im Rassismus der Vereinigten Staaten begründeten Lesarten abrücken, die das Bild eines ungelernten Musikers hochhalten, der nicht viel über das nachdenke, was er da spiele, sondern stattdessen einfach intuitiv Musik macht. Für Armstrongs Kunst, schreibt Brothers, war eine künstlerische Disziplin notwendig, die der eines Beethoven, Strawinsky usw. in nichts nachstünde. Zur Akzeptanz dieser Seite der Moderne gehöre aber auch zu verstehen, dass sich Armstrongs Kreativität zuallererst in seiner Kunst ausdrückte und damit einen nicht-verbalen Diskurs der Moderne wiedergebe.

Brothers beginnt sein Buch am 8. August 1922, als der 21-jährige Louis Armstrong in New Orleans den Zug nach Chicago bestieg, wohin ihn Joe Oliver eingeladen hatte, um seine Creole Jazz Band zu verstärken. Er beschreibt die Arbeitsumgebung in der Stadt im Norden, die Tanzhallen, aber auch das schwarze Leben in Chicago, das durch viele der kulturellen Traditionen beeinflusst gewesen sei, die Afro-Amerikaner aus den Plantagen des Südens mitgebracht hätten. Solche Einflüsse fänden sich beispielsweise in der Bluesphrasierung, die damals ihren Weg von der Vokal- auch in die Instrumentalmusik fand, etwa jene ersten Aufnahmen, die Armstrong 1923 mit Oliver machte.

Brothers beschreibt Armstrongs Leben in Chicago, seine Beziehung zu Lil Hardin, die in Olivers Band als Pianistin mitwirkte und die er 1923 heiratete, und er beschreibt darüber hinaus Hardins Einfluss auf seine künstlerische Entwicklung genauso wie auf seine populäre Karriere. 1924 brach die Band auseinander, und Brothers hat in seinem Buch genügend Platz die verschiedenen Versionen über die Gründe für die Auflösung zu diskutieren. Armstrong nahm die Einladung Fletcher Hendersons an, in seinem Orchester zu spielen, in dem er sich aber nie recht wohl und von dem er sich immer ein wenig von oben herab behandelt fühlte. New York aber, erklärt Brothers, war ein weiterer Meilenstein seiner Karriere, eine neue Herausforderung in einer Umgebung, in der es nicht wie in Chicago eine große Community anderer Musiker aus New Orleans gab.

Im New York der Harlem Renaissance, die die Stärke der schwarzen Kultur ein wenig nach eurozentrischen Kriterien darstellte, war das scheinbar Archaische des Blues eine wichtige Klangfarbe, die aber erst durch die künstlerische Bearbeitung erhöht werden sollte. Armstrong bei Henderson war also eine Art Zusammenbringen unterschiedlicher Welten. Brothers beleuchtet die Aufnahmen, die Satchmo als “hot soloist” mit dem Orchester machte, hört sich aber auch Aufnahmen mit kleineren Besetzungen an, an denen mit Sidney Bechet ein weiterer wichtiger Solist des frühen Jazz beteiligt war. Er begleitet Armstrong zurück nach Chicago, ins Dreamland Café, ins Vendome Theater, und hört schließlich die ersten Hot Five-Aufnahmen des Trompeters. Er greift sich einzelne Stücke heraus, “Heebie Jeebies” etwa, das die Plattenfirma OKeh versuchte zu einem populären Tanz hochzupushen. Die Studioaufnahmen, die Satchmo in Folge mit seinem Quintett und Septett vorlegte, wurden zu kunstvollen Statements, seine eigenen Soli – Brothers beschreibt Armstrong hier vor allem als Meister der Melodie – zu Musterbeispielen für eine virtuose tour-de-force im Jazz. In Chicago war der 27-jährige bereits eine Legende, “eine Art Gott” zumindest für sein schwarzes Publikum. Dann, Ende 1928, nahm Armstrong sich vor, auch das weiße Publikum zu erobern. Paul Whiteman war schließlich ein weit bekannterer Bandleader als er, und auch ein Musiker wie Guy Lombardo, den Satchmo durchaus bewunderte, erreichte mehr Menschen. Mit der Aufnahme von “I Can’t Give You Anything But Love” begann nicht nur eine weitere Erfolgsgeschichte in seiner Karriere, sondern daneben auch eine das Publikum überaus ansprechende Art der Interpretation populärer Schlager. Brothers beschreibt die verschiedenen Facetten, die zum Erfolg in der weißen Musikwelt beitrugen, die Bühnenshows am Broadway, die Aufnahmen populärer Schlager und schließlich die Filmwelt, die sich mehr und mehr auch der Musik öffnete.

Armstrongs Musik habe sich vier verschiedener Ansätze an die Melodie bedient, resümiert Brothers: dem Blues, dem Lead, dem Hot Solo und der Paraphrase. Alle hätten unterschiedliche Funktionen, unterschiedliche Formen, unterschiedliche Geschichten besessen. Alle seien in der Welt, in der Satchmo groß geworden war, in New Orleans, wichtig gewesen, und alle vier hülfen, Armstrongs künstlerische Entwicklung zu verstehen. Brothers gelingt das Nachzeichnen dieser melodischen Kraft in seinem Buch auch deshalb so gut, weil er sich nicht scheut, in die Aufnahmen hineinzuhören, in verständlicher Sprache über die melodische Innovation zu schreiben, die Einflüsse auseinanderzudröseln, Querbeziehungen zu nennen und die Wirkung auf zeitgenössische Hörer zu erklären. Dass die Reduzierung dieses Musikers der “Moderne” auf seine melodische Erfindungsgabe nicht ausreicht, ist auch Brothers klar. Seine Konzentration aber insbesondere auf dieses Merkmal in Satchmos Spiel hilft dem Leser sich auf eine vielleicht zu selten in den Mittelpunkt gestellte Perspektive seines Spiels zu konzentrieren.

Thomas Brothers Buch ist gut recherchiert und äußerst flüssig geschrieben. Ein umfangreicher Apparat an Anmerkungen und Literaturverweisen, ein ausführliches Register und viele Fotos runden das Buch ab, das einmal mehr beweist, dass auch über einen Künstler, über den bereits alles erforscht zu sein scheint, Neues zu schreiben ist. Vor allem die Einordnung Armstrongs in die amerikanische Musikindustrie der 1920er Jahre und die differenzierte Beschreibung der unterschiedlichen Szenen in Chicago und New York machen das Buch daneben zu einem wichtigen Beitrag zur Erforschung der frühen Jazzgeschichte.

Wolfram Knauer (Dezember 2015)


The New Orleans Scene, 1970-2000. A Personal Retrospective
von Thomas W. Jacobsen
Baton Rouge 2014 (Louisiana State University Press)
199 Seiten, 25 US-Dollar
ISBN: 978-0-8071-5698-8

2014jacobsenDer 1935 geborene Thomas Jacobson wuchs in einem kleinen Ort in Minnessota auf. Er spielte ein wenig Klarinette und wurde in seiner Jugend zum Jazzfan. Ihn interessierte der Swing, vor allem aber faszinierte ihn die authentische Musik, die er in einem Radiosender aus New Orleans hörte. Ende der 1980er Jahre verbrachte er ein Jahr lang als Gastprofessor in der Geburtsstadt des Jazz und entschied sich, nach seiner Pensionierung dorthin zu ziehen. Seither hat er in Fachblättern und seinem Buch “Traditional New Orleans Jazz” über die Szene der Stadt berichtet. Jetzt legte Jacobsen ein neues Buch vor, in dem er chronologisch die Jazzszene in New Orleans von 1970 bis 2000 beschreibt, Musiker, Bands, Veranstaltungsorte, Festivals, Ausbildungsmöglichkeiten und vieles mehr. Seine Entscheidung, diese Chronologie 1970 beginnen zu lassen, hängt mit einem anderen Buch zusammen, Charles Suhors “Jazz in New Orleans. The Postwar Years through 1970”, das genau in dem Jahr aufhörte und das er sich auch in seiner Darstellungsstruktur als Vorbild für sein Manuskript nahm. Wie Suhor war es Jacobsen dabei wichtig, alle Aspekte des Jazzlebens in der Crescent City zu dokumentieren und sich nicht auf die frühen Stile zu beschränken, wenn diese auch, wie er anmerkt, die Musik im French Quarter in der Zeit, die er betrachtet, überdurchschnittlich beherrscht habe.

Jacobsen beginnt in den 1960er Jahren, als die “Beatlemania” die Popmusik prägte. Der Jazz sei damals quasi tot gewesen in der Stadt, die ihn einst hervorgebracht habe, klagten viele Journalisten, aber auch Jazzkenner. Tatsächlich brannte das Feuer des Jazz aber nur auf kleiner Flamme. Jacobsen nennt die Namen all der Musiker, die in diesem Jahrzehnt entweder wiederentdeckt wurden oder aber über kurz oder lang in ihre Heimatstadt zurückkamen und diese neu belebten. Vier Faktoren hätten in den 1960er Jahren ihren Ursprung gehabt, die für das Fortbestehen der Stadt als Jazzmekka sorgen sollten: die Eröffnung der Preservation Hall, die ab 1961 den älteren Musikern der Stadt Respekt zollte, die Gründung des Jazzmuseums, das später ins Louisiana State Museum übergeführt wurde, der Beginn des New Orleans Jazz and Heritage Festivals, sowie das wachsende Bewusstsein, dass auch die moderneren Spielarten ihren Ursprung in New Orleans hatten.

Jacobsens Buch handelt die dreißig Jahre jahrzehnteweise ab, und auch innerhalb dieser Großkapitel chronologisch. Er beginnt mit dem Tod Louis Armstrong 1971, der neben den Trauerfeierlichkeiten in New York auch mit einer Parade in New Orleans bedacht wurde. Jacobsen zählt die Clubs auf, bekannte wie Pete Fountain’s oder Al Hirt’s auf der Bourbon Street, und unbekanntere, kurzlebige genauso wie solche, die immer noch bestehen (darunter Fritzel’s European Jazz Pub”). Der Impresario George Wein machte das Jazz and Heritage Festival zu einem Publikumsmagneten; viele der hier lebenden Musiker sorgten in Repertoireorchestern wie dem New Orleans Ragtime Orchestra oder dem Louisiana Repertory Jazz Ensemble dafür, dass die musikalische Tradition der Stadt am Leben erhalten wurde. Jacobsen streicht die Bedeutung der Brassbands heraus und die Institutionalisierung von pädagogischen Programmen.

Die Struktur dieses Kapitels nehmen auch die folgenden Seiten auf. Für die 1980er Jahre erwähnt Jacobsen etwa das neue French Quarter Festival, schreibt über Brassbands, die den traditionellen Jazz mit Pop, Soul und modernem Jazz verbanden, über die Marsalis-Brüder, die anfingen weltweit von sich reden zu machen, und erwähnt eine neue Veröffentlichung für die städtische Musikszene, die Zeitschrift “OffBeat”. Für die 1990er Jahre berichtet er außerdem über das Bechet Centennial von 1997, über Doc Cheatham und Henry Butler, die das Musikleben der Stadt bereicherten, und endet mit der Beschreibung des Jazzdiskurses dieses Jahrzehnts, in dem es auch um die Deutungshoheit über die Jazzgeschichte ging und in dem Wynton Marsalis insbesondere die Stellung von New Orleans besonders zu betonen wusste.

Im Schlusskapitel macht sich Jacobsen Gedanken über das Alter des Publikums, aber auch über dessen Geschmack, die stärkere Akzeptanz mehrerer Genres bei jüngeren Hörern anstelle des alten Spartendenkens. Er regt eine demographische Untersuchung über das Jazzpublikum an, die etwa während des JazzFests durchgeführt werden könnte und von dessen Zahlen er sich erhofft, das sie die landesweite Studie zum Thema auf die Region herunterbrechen würden. Er reißt kurz die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Musikern an, die Tatsache, dass sich nur wenige von ihnen eine Krankenversicherung leisten können, und er betont die Bedeutung von Initiativen wie der New Orleans Musicians’ Clinic. Dabei bleibt er optimistisch, findet, dass die Musikszene in New Orleans nach wie vor ungemein kreativ ist und die Musiker selbst dafür sorgen, dass sie das auch bleibt.

Thomas Jacobsen bleibt in seinem Buch Chronist mit klaren Vorlieben. Er blickt nur sporadisch über die Jazzszene hinaus, obwohl der Jazz auch und gerade in New Orleans so eng mit der gesamten Kulturszene der Stadt verbunden ist. Blues oder Zydeco und andere in der Stadt mindestens genauso präsenten Spielformen kommen kaum vor. Nur in Nebensätzen spricht er die außerdem die Spannungen an, die sich aus dem Spagat zwischen Arm und Reich, aus dem in der Region nach wie vor herrschenden Rassismus ergeben. Jacobsen wollte Suhors Buch fortschreiben, vielleicht aber wäre es klug gewesen, statt der Zäsur der Jahrtausendwende noch zehn Jahre weiter zu gehen. Gerade in der Katrina-Katastrophe und dem Umgang der Stadt mit den Folgen nämlich erkennt man die Stärken der Communities, aus denen heraus einst auch der Jazz entstanden war. Ned Sublette hat in seinem Buch “The Year Before the Flood” (2009) gezeigt, wie hilfreich eine solch breitere Sicht sein kann.

Aber natürlich war das nicht Jacobsens Ansatz. Und so bleibt das Buch genau das, was der Titel verspricht: eine sehr persönliche Retrospektive über die Jazzszene in New Orleans über drei Jahrzehnte. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Für Freunde des New Orleans-Jazz ist es damit eine mehr als willkommene Übersicht über die Entwicklungen im letzten Viertel des 20sten Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (September 2015)


Verve. The Sound of America
von Richard Havers
München 2014 (Sieveking Verlag)
400 Seiten (78,00 Euro)
ISBN 978-3-944874-06-7

2014haversEin dicker Schinken… Man betrachtet die in jüngster Zeit gern publizierten Coffeetable-Books mit gemischten Gefühlen. In der Regel sind sie gut aufgemacht, reich an Fotos, ein wenig teuer, zumindest aber ein exzellentes Geschenk. Oft richten sich die Texte einfach deshalb, weil die Bücher sich verkaufen müssen, um sich zu finanzieren, an ein breiteres Publikum und sind damit für den Jazzfan, der bereits viel weiß, zwar ein nützliches, aber irgendwie auch überflüssiges Beiwerk. Für den Autor der vorliegenden dicken Schwarte über das Jazzlabel Verve war es also eine durchaus nicht einfache Aufgabe, die eingefleischten Fans genauso zu bedienen wie die bloß Interessierten, Wissen zu vermitteln über die verschiedenen Seiten der Plattengeschäfts von den 1940er Jahren bis in die Gegenwart, über die Künstler genauso zu berichten wie über ihre Produkte, über die Bedingungen der Aufnahme genauso wie über die Auswahl von Plattencovern, und das alles dann noch in den Kontext der Jazzgeschichte zu stellen.

Richard Havers hat diese Aufgabe mit seinem Buch über Norman Granz’ legendäres Verve-Label mustergültig bewältigt. Er zeichnet die Jazzentwicklung bis Swing und Bebop als eine Geschichte der Tonaufzeichnung und Plattenvermarktung nach. Drei der großen Namen seines Labels eröffnen die blockweise eingestreuten biographischen Kapitel: Louis Armstrong, Duke Ellington und Billie Holiday. Einen umfassenden Block nehmen die Tourneen und Plattenveröffentlichungen der Jam-Session-Truppe Jazz at the Philharmonic ein, die Granz 1944 erstmals zusammenbrachte und die seine Karriere als Plattenboss über die Jahrzehnte begleiten sollte. Havers schreibt über das Konzept, den Erfolg, aber auch über Granz’s Einsatz gegen Rassismus in jenen Jahren, wenn er öffentlich und notfalls auch gerichtlich gegen jede Art der Diskriminierung gegen seine Künstler vorging.

Der Anfang von JatP lag noch vor Granz’s Arbeit als Plattenchef. Und vor Verve gab es erst einmal die Labels Clef und Norgran, von denen Havers im dritten Großkapitel erzählt. Er bildet die Seiten des 1949 erschienen Plattenalbums “The Jazz Scene” ab, eines einmaligen Projekts, in dem Granz die aktuellsten Strömungen im Jazz der Zeit dokumentieren wollte. Diese Veröffentlichung bestand aus 12 Schellackplatten, deren Cover in einem Album – ja, hier kommt der Begriff her – zusammengebunden waren. Erst mit dem Aufkommen der Langspielplatte Anfang der 1950er Jahre stieg Granz dann aber wirklich ins Plattengeschäft ein. Havers streift die Bedeutung David Stone Martins, der viele der frühen LP-Cover entwarf, und er bildet diese genauso wie die damals nicht weniger aufschlussreichen Labels selbst, also die runden Aufkleber auf der Vinylplatte, auf etlichen Seiten ab.

In den 1950er Jahren wurde das Label Verve zur wichtigsten Heimat des swingenden Mainstream. Mitschnitte vom Newport-Festival, Aufnahmen mit Charlie Parker, jede Menge Besetzungen um Meister wie Ella Fitzgerald Oscar Peterson, Ben Webster, Lester Young und viele andere schrieben Jazzgeschichte. Modernere Produktionen der 1960er Jahre mit Jimmy Smith, Stan Getz, Gerry Mulligan oder Gary McFarland hatte zum großen Teil schon nicht mehr Norman Granz zu verantworten, der sein Label 1960 für 2,5 Millionen Dollar an MGM verkauft hatte. In den 1970ern gründete Granz mit Pablo eine neue Plattenfirma, die an seinen alten Erfolg anknüpfte und viele der ihm wichtigen Künstler produzierte. Zugleich wurde sich Polygram, die inzwischen MGM und damit auch Verve geschluckt hatte, irgendwann bewusst, welch enormer Schatz da in den Archiven schlummerte und welch ikonische Bedeutung insbesondere auch der Labelname besaß. Junge Künstler wurden in den Katalog aufgenommen, auch nachdem Polygram 1999 in die Universal Music Group überführt wurde.

Richard Havers Buch ist ein beeindruckendes Werk. Der Text liest sich flüssig und bleibt dabei nicht in Details über einzelne Produktionen stecken, die man lieber in den dazugehörigen Plattentexten liest, sondern lässt den Leser an den programmatischen Entscheidungen des Labels teilhaben. Die kurzen Kapitel über die auf Verve produzierten Musiker sind vor allem biographische Einordnungen, bei denen man durchaus etwas mehr Labelbezug wünschen könnte. Dafür aber entschädigen die großartigen Fotos, sowohl Promo-Shots als auch seltene Bilder der Künstler auf der Bühne oder im Studio und die nach wie vor beeindruckenden Reproduktionen der Plattencover aus mehr als 60 Jahren Plattengeschichte.

Ein dicker Schinken… aber die Lektüre allemal wert!

Wolfram Knauer (August 2015)


Softly, with Feeling. Joe Wilder and the Breaking of Barriers in American Music
von Edward Berger
Philadelphia 2014 (Temple University Press)
400 Seiten, 35,00 US-Dollar
ISBN 978-1-43991-127-3

2014bergerJoe Wilder war einer der stilleren Musiker der Jazzgeschichte, ein zuverlässiger Sectionman und Solist, immer Gentleman, keine Skandale, eine Karriere zwischen Jazz-Bigbands, Studioarbeit und klassischer Musik. Wilder war bei seinen Kollegen hoch angesehen, wegen seiner musikalischen Souveränität, aber auch, weil er wusste, was er wollte und seine Ansichten auch kundtat. 1953 tourte Wilder mit der Count Basie-Band und traf bei einem Konzert ein junges Mädchen. Sie sprach kaum Englisch, und er ließ ihr den Wunsch übersetzen, ob er ihre Adresse haben dürfe. Wilder begann eine Korrespondenz, erst auf Englisch, was sie sich übersetzen lassen musste, dann auf Schwedisch, das er eigens für sie lernte und dabei sogar darauf achtete, ihren regionalen Dialekt zu beherrschen. Sie schrieben einander täglich, und Wilder korrespondierte auch mit ihren Eltern. Per Post hielt er drei Jahre später um ihre Hand an. Sie reiste nach New York, und die beiden heirateten. Sie blieben ein Paar bis zu seinem Tod, kurz nach Fertigstellung dieses Buchs, seiner Biographie, die Edward Berger mit Hilfe der Wilder-Familie und ihrer Erinnerungen schrieb, für die er aber auch mit vielen der Kollegen Wilders sprach und deren Geschichten er immer wieder in die Zeitgeschehnisse einpasst.

Wilder kam 1922 in Philadelphia zur Welt, in einer Familie, für die Musik wichtig war. Sein Vater verdiente war Lastwagenfahrer, spielte daneben anfangs Kornett, später Sousaphon und sogar Kontrabass. Joe lernte Kornett von einem Trompeter, der seinen Schülern vor allem einen klassischen Ansatz vermittelte. Wilder erzählt, wie er in den frühen 1930er Jahren Teil einer Radio-Jugendkapelle war, die regelmäßig von den namhaftesten Bands des Landes unterstützt – und angespornt – wurde. Wilder hatte das absolute Gehör und entwickelte schon früh den Ehrgeiz, auf seinem Instrument auch Stimmen zu spielen, die eigentlich für andere Instrumente geschrieben waren. Von der High School wechselte er auf eine Schule, deren Musikunterricht rein klassisch ausgerichtet war. Zu seinen Schulkameraden gehörten hier allerdings auch die späteren Jazzkollegen Red Rodney und Buddy DeFranco. Als seine Eltern sich scheiden ließen, war die Familie auf jeden Verdienst angewiesen, und Joe spielte mit verschiedenen Tanzorchestern der Stadt. 1941 wurde er Satztrompeter in der Les Hite Band, wechselte dann als erster Trompeter in Lionel Hamptons Band. Er trat seinen Wehrdienst bei den Black Marines an, kehrte zu Hampton zurück, spielte schließlich mit Jimmie Luncefords Band, mit Lucky Millinder, Sam Donahue und Herbie Fields. Zwischendurch saß er 1947 auch eine Weile in Dizzy Gillespies Bebop-Bigband, in der er, eher Swingspieler, sich etwas fremd fühlte, auch wenn er als versierter Musiker ein fester Anker des Trompetensatzes war.

Anfang der 1950er Jahre gehörte Wilder zu den ersten schwarzen Musikern, die in einer der Broadway-Show-Orchester spielen durften. Seit 1957 war er reguläres Mitglied des ABC Orchesters, spielte im Auftrag des Senders Jazz, Werbung, Livemusik zu Radioshows, aber auch klassische Konzerte. 1962 war er mit von der Partie, als Benny Goodman vom amerikanischen State Department auf eine Tournee in die Sowjetunion geschickt wurde. Die Reise machte später auch wegen der Art und Weise Furore, wie Goodman seine Musiker behandelte – und Wilder verklagte ihn am Ende vor dem Schiedsgericht der Musikergewerkschaft, weil der Klarinettist ihm die Gage gekürzt hatte.

Berger erklärt Wilders Stil anhand des Albums “Wilder ‘n’ Wilder” aus dem Jahr 1956 und insbesondere anhand Wilders Solo über “Cherokee”, das einen ungeheuren Einfluss auf nachfolgende Trompeter hatte, auch wenn Wilder selbst nie einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde. Seine klassische Technik machte ihn zu einem beliebten Musiker für komplexere Third-Stream-Kompositionen, etwa von Gunther Schuller oder in Johnny Richards wenig bekannten “Annotations of the Muses”.

Wilder hatte mit klassischer Musik begonnen, sich dem Jazz dann gezwungenermaßen zugewandt, weil er wusste, dass er als Schwarzer in diesem Genre keine Chancen hatte. Edward Berger widmet diesem Phänomen des Rassismus in amerikanischen Sinfonieorchestern ein eigenes Kapitel. Wilder wurde 1964 Mitglied der Symphony of the New World, eines neuen Orchesters, in dem sich das ganze Amerika widerspiegeln können sollte. Berger erzählt, wie allein die Existenz eines solchen “integrierten Orchesters” zu einem geänderten Bewusstsein und auch dazu führte, dass zwei Musiker, nämlich der Bassist Art Davis und der Cellist Earl Madison, das New York Philharmonische Orchester vor der New York City Commission on Human Rights verklagten. Wilder war als Zeuge bei der Anhörung beteiligt. In den 1960er und frühen 1970er Jahren jedenfalls war Wilder in diversen klassischen Ensembles aktiv. Ein Höhepunkt dieser Arbeit war gewiss die “Sonate für Trompete und Piano”, die der Komponist Alec Wilder (nicht verwandt) ihm auf den Leib schrieb.

In den frühen 1970er Jahren begannen die Fernsehanstalten aus Kostengründen auf Livebands zu verzichten. Wilder saß in der Band der “Dick Cavett Show”, bis diese 1974 abgesetzt wurde; danach war er wieder Freiberufler. Er kehrte in Broadway-Bands zurück oder spielte mit dem Tanzorchester von Peter Duchin, nahm aber auch an jazz-haltigeren Aufnahmesessions von Kollegen wie Johnny Hartman, Helen Humes, Teresa Brewer oder Anita O’Day teil. Er trat mit einem Bruder-im-Geiste auf, dem Saxophonisten und Komponisten Benny Carter, und er wurde Mitglied in diversen Repertory-Bands, die in diesen Jahren aufkamen. 1992 tourte er mit dem Lincoln Center Jazz Orchestra, von 1991 bis 2002 gehörte er dem Smithsonian Jazz Masterworks Orchestra an. Nebenbei begann er zu unterrichten, seit 2002 an der renommierten Juilliard School in New York.

Ed Bergers Biographie ist voller interessanter Facetten zwischen Jazz- und amerikanischer Kulturgeschichte. Persönliche Aspekte im Leben des Trompeters Joe Wilder bleiben – von der frühen Jugend und der Geschichte seiner zweiten schwedischen Frau einmal abgesehen – meist außen vor. Bergers Exkurse in die Welt der Studiobands New Yorks, der Broadway-Orchester, der Fernseh- und Plattenstudios und der sinfonischen Musik sind neben dem eigentlichen Thema (also: Wilder selbst) wertvolle Ergänzungen eines oft viel zu eingeengt betrachteten Jazzkontextes. Auch Jazzmusiker sind schließlich nicht nur auf einem Feld aktiv, und jeder Bereich, in dem sie sich tummeln, hat seine eigenen ästhetischen und wirtschaftlichen Regeln. Berger gelingt es genau diese Unterschiede deutlich zu machen, kaum wertend und damit wohl sehr im Sinne Wilders, für den im Vordergrund stand, sein technisches Können so einzusetzen, dass die Musik, die er gerade machte, möglichst gut wurde.

Manchmal scheint sich Berger in Details zu verlieren, allerdings verlangt die Vielseitigkeit seines Sujets nun mal ein Portrait auf verschiedenen Ebenen. Die Diskographie am Ende seines Buchs ist durchaus beispielhaft für das Problem seines Projekts: Sie listet eben nicht nur die Jazztitel auf, sondern auch Aufnahmen aus dem Pop und leichten klassischen Kontext. “Softly, with Feeling” ist ein würdiges Portrait eines der vielleicht würdigsten Musiker des Jazz, der bei Mitmusikern durch die Bank so beliebt war, dass die einzige annähernd kritische Bemerkung, die Berger einem Kollegen entlocken konnte, die Aussage Dick Hymans war: “Er zog sich immer ein bisschen förmlicher an als eigentlich nötig war.”

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Berlin / Berlin. Kunststücke aus Ost und West
herausgegeben von Ulli Blobel & Ulrich Steinmetzger
Berlin 2014 (jazzwerkstatt)
211 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-981-14852-6-4

2014blobelRainer Bratfisch gab vor kurzem eine dicke Schwarte heraus, in der er der Jazzstadt Berlin ein würdiges Denkmal setzte. Ja, Berlin war bereits in den 1920er Jahren eine Metropole des Jazz in Europa gewesen und blieb dies bis ins 21ste Jahrhundert hinein. Die Faszination der Hauptstadt für Musiker und Künstler aber versteht man nicht mit der selektiven Lupe auf ein ausgewähltes Genre, sondern erst im Blick auf das kreative Ganze, das Berlin ausmachte. Ulli Blobel und Ulrich Steinmetzger haben in ihrem Buch genau diese Vielfalt im Blick, die Vielfalt in der doppelten Hauptstadt Berlin (Ost) und Berlin (West).

Ihr Buch beginnt mit der Teilung, mit Bertold Brechts Gedicht “O Deutschland, wie bist du zerrissen” und mit Georg-Albrecht Eckles Blick auf Brechts Hoffnungen für ein neues Deutschland. Karl Dietrich Gräwe betrachtet mit Boris Blacher und Paul Dessau zwei Komponisten, die sich beide in ihrem Leben für die Wahlheimat Berlin entschieden hatten, um sich dann aber in zwei unterschiedlichen Hälften der Stadt wiederzufinden. Friederike Wißmann geht ähnlich an Hanns Eisler und Hans Werner Henze heran, die sie insbesondere in ihren Vokalkompositionen miteinander vergleicht. Insa Wilke stellt den Dichter Thomas Brasch vor, der seine Lyrik mit der Rockmusik verglich. Judith Kuckart beleuchtet die DDR-Tournee des Tanztheaters Wuppertal unter Pina Bausch im Jahr 1987. Klaus Völker betrachtet die Theaterlandschaft in Ost und West zwischen 1945 und 1989. Andreas Öhler porträtiert Wolf Biermann, Andreas Tretner die freie Musik eines Anthony Braxton, Ronald Galenza den, wie er es nennt, “Kalten Krieg der Konzerte”, Rock- und Popevents der 1970er bis 1980er Jahre. Christoph Dieckmann betrachtet die DDR-Rockszene der späten 1980er Jahre, Rainer Bratfisch die Lebens- und Arbeitsreise des Saxophonisten Ernst-Ludwig Petrowsky und der Sängerin Uschi Brüning, Christian Broecking die Hingabe des Pianisten Alexander von Schlippenbach. Bert Noglik identifiziert Einflüsse auf und die musikalische Identität des Pianisten Ulrich Gumpert. Kapitel über die Berliner Festspiele (Torsten Maß), Die Untergangsfeiern der DDR (Christoph Funke) und die ersten Jahre nach 1989 (Helmut Böttiger) beschließen das reich bebilderte Buch, dem es damit tatsächlich gelingt, ein wenig der Spannung dieser Frontstadt zwischen Ost und West zu vermitteln, der lebendigen Kultur, der Diskurse, die von beiden Seiten angestachelt, aber nie richtig ausdiskutiert wurden.

Wolfram Knauer (Juni 2015)


Tal Farlow. Un accord parfait. Une biographie illustré / A Life in Jazz Guitar. An Illustrated Biography
von Jean-Luc Katchoura mit Michele Hyk-Farlow
Paris 2014 (Paris Jazz Corner)
342 Seiten, 1 beigeheftete CD, 69 Euro
Zu bestellen über Paris Jazz Corner

2014katchoura1983 half der junge Architekturstudent Jean-Luc Katchoura bei der Organisation eines Gitarrenfestivals in Frankreich, wo er zum ersten Mal den Gitarristen Tal Farlow hörte. Schon im folgenden Jahr begleitete er diesen auf seiner Sommertournee als sein europäischer Agent. Sie blieben in Kontakt, und nach Farlows Tod entwickelten seine Witwe und Katchoura die Idee, die vielen Erinnerungsstücke, die sich in ihrem Besitz befanden, in einem Buch zu präsentieren.

Es ist eine überaus dokumentenreiche Biographie geworden, zweisprachig auf Englisch und Französisch gehalten, mit Familienfotos, Postkarten und vielen anderen Dokumenten sowie einer lebendig erzählten Biographie des Gitarristen, der 1921 in North Carolina geboren wurde, sich mit neun Jahren selbst das Mandolinespiel beibrachte und schließlich durch Platten von Charlie Christian und Art Tatum zum Jazz kam. Der Pianist Jimmy Lyon überredete ihn, die Musik zum Beruf zu machen. Farlow spielte in der Band des Schlagzeugers Billy Bank, dann mit der Pianistin Dardanelle, mit der er unter anderem im Cove in Philadelphia auftrat, wo sich das Trio mit Art Tatum abwechselte. 1945 ging Farlow zurück in seine Heimatstadt und verdiente sich sein Geld mit Schildermalen, was er vor seiner musikalischen Laufbahn gelernt hatte. Er mischte in Jam Sessions mit, bis er 1948 Mundell Lowe im Trio der Vibraphonistin Marjorie Hyams ersetzte.

Farlow zog nach New York, und wurde 1949 Mitglied im Red Norvo Trio, erst mit Red Kelly, dann mit Charles Mingus am Kontrabass. 1953 machte er seine erste Aufnahme für Blue Note, spielte außerdem in der Gramercy Five des Klarinettisten Artie Shaw. All diese Erfahrungen ermöglichten es ihm 1954 selbst als Bandleader in Erscheinung zu treten, mit Alben erst auf Blue Note, dann auf Norman Granz’s Norgran-Label. Farlow machte sich einen Namen mit seinem Trio, dem der Pianist Eddie Costa angehörte, nahm aber auch an Aufnahmesessions etwa mit Oscar Pettiford oder den Metronome All Stars teil. Er zog nach Sea Bridge, einem Fischerstädtchen in New Jersey, ging fischen, malte Schilder, gab Gitarrenunterricht und trat ab und an in nahegelegenen Clubs auf. Erst 1967, fast zehn Jahre nach seinem Umzug nach Sea Bridge, kehrte er auf die New Yorker Jazzszene zurück. Er wurde für die Newport All-Stars engagiert, spielte Duos etwa mit Barney Kessel oder Joe Pass. In den Mitt-1970er Jahren profitierte er von dem wiedererstarkten Interesse an den Künstlern des Mainstream-Jazz, nahm etliche Platten für Concord und andere Labels auf und stand im Fokus eines 1980 gedrehten Dokumentarfilms über seine Kunst. Farlow ging auf Tournee durch Europa und Japan, mit eigenen Bands, als Solist in anderen Bands oder mit den Great Guitars, in dem Farlow anfangs Herb Ellis ersetzte, wann immer der anderweitig beschäftigt war, und schließlich Barney Kessel, als der nach einem Schlaganfall nicht mehr spielen konnte. In den 1990er Jahren gab es eine Neuausgabe dieser Band mit Farlow, Attila Zoller und Jimmy Raney. 1997 wurde ein Speiseröhrenkarzinom bei Farlow festgestellt, das bereits Metastasen gebildet hatte und an dessen Folgen er am 25. Juli 1998 verstarb.

Katchoura erzählt die Lebensgeschichte Tal Farlows vor allem anhand von Interviewauszügen und persönlichen Fotos und Dokumenten. Neben Biographischen erfahren wir dabei auch Details etwa über die verschiedenen Gitarren, die er über die Jahre spielte, oder über den Entwurf eines Amplifier-Stuhls, den Farlow in den 1960er Jahren tatsächlich baute. Eigene Kapitel befassen sich mit für Farlow wichtigen Kollegen, den Pianisten Jimmy Lyon und Dardanelle, dem Vibraphonisten Red Norvo und dem Bassisten Charles Mingus. Eine Diskographie und eine Bibliographie beschließen das Buch; doch ganz am Ende heftet dann auch noch eine Zugabe, eine CD mit elf Tracks, Interviewausschnitten einer Radiosendung mit Phil Schaap und unveröffentlichten Titeln etwa von Duos mit Gene Bertoncini, Red Mitchell oder Jack Wilkins.

“Tal Farlow. A Life in Jazz Guitar” ist eine labor of love, eine umfangreiche Dokumentation seines Lebens und kommt in der dabei eher unkritischen Herangehensweise einer subjektiven (aber nie geschriebenen) Autobiographie des Gitarristen vielleicht am nächsten.

Wolfram Knauer (Mai 2015)


Charlie Parker i Sverige – med en avstickare till Köpenhamn
von Martin Westin
Stockholm 2014 (Premium Publishing)
181 Seiten, 283 Schwedische Kronen
ISBN: 978-91-87581-05-2

2014westinIm November 1950 besuchte Charlie Parker für 10 Tage Skandinavien. Seit 1947 wurden seine Platten bereits in Schweden rezipiert; 1948 hatte Dizzy Gillespies Bigband hier Konzerte gegeben, und als Parker 1949 zum Jazzfestival nach Paris eingeladen wurde, schloss er erste Kontakte zu schwedischen Musikern und Redakteuren. Der Journalist und Konzertveranstalter Nils Hellström hatte dabei die Idee, Parker im nächsten Jahr direkt nach Schweden einzuladen. Er verhandelte mit Parkers New Yorker Agenten Billy Shaw und einigte sich auf Gagen- und Reisekosten.

Parker reiste in ein Land, in dem erst im Monat zuvor ein neuer König gekrönt worden war. Mit ihm kam auch Roy Eldridge in Stockholm an, der aus Paris anreiste, wo er mit Benny Goodmans Band gespielt hatte. Sie wurden von Hellström sowie von jungen schwedischen Musikern und Fans empfangen. Im Doppelprogramm spielte Eldridge mit der Band des Pianisten Charles Norman und Parker mit jener des Trompeters Rolf Ericson und dem Saxophonisten Arne Domnérus, in der auch der Baritonsaxophonist Lars Gullin mitwirkte. Sie traten im renommierten Stockholmer Konserthuset auf, danach aber mischte Parker auch bei Jam Sessions mit. Am nächsten Tag fuhren alle gemeinsam mit dem Zug nach Göteborg, danach hatte Eldridge ein Konzert in Kopenhagen, während Parker nach Malmö weiterreiste. Am 3. November kam auch Parker nach Kopenhagen, wo sie das Doppelkonzert in den K.B. Hallen wiederholten. Parker spielte im Folkparken von Helsingborg und in Jönköping und kehrte dann über Gävle nach Stockholm zurück, wo er unter anderem mit Pute Wickman und Toots Thielemans in einer Session auftrat.

Auf dem Rückweg nach New York machte Parker schließlich noch in Paris Station, wurde dort von Charles Delaunay in Empfang genommen und besuchte den Schlagzeuger Kenny Clarke und seine damalige Lebensgefährtin, die hochschwangere Sängerin Annie Ross. Delaunay hatte eine Aufnahme mit Parker sowie einen Auftritt beim Paris Jazz Festival geplant, den Parker aber kurzfristig absagen musste, weil er sich nicht wohl fühlte und stattdessen über London zurück nach New York flog.

Martin Weston hat die Reise Parkers nach Skandinavien sorgfältig recherchiert. Er hat in alten Zeitschriften geblättert, fand zeitgenössische Konzerthinweise und Zeitungsrezensionen, den Vertrag, den Parker mit Hellström abgeschlossen hatte, vor allem aber jede Menge an Fotodokumenten, seltene, bisher kaum gesehene Bilder, die Bird auf der Bühne oder mit Kollegen und Fans zeigen. Er zitiert aus Interviews mit Zeitzeugen, und er listet die Aufnahmen auf, die Parker in diesen wenigen Tagen machte.

Für die schwedischen Musikerkollegen war Parkers Besuch ein Ohrenöffnen sondergleichen. Sein so völlig anderes rhythmisches Konzept schlug die einen in seinen Bann, während es andere eher abschreckte und in der Folge den stärker aufs Melodische fokussierten Cool Jazz als ihr Spielfeld wählen ließ.

“Charlie Parker i Sverige” ist eine spannende Detailstudie über einen Musiker, dessen Reise nach Schweden auch eine kurze Flucht aus der Realität seiner New Yorker Drogensucht war, sowie über eine junge schwedische Jazzszene, die durch diesen Besuch angespornt wurde, den modernen Jazz als Aufbruch zu verstehen.

Wolfram Knauer (April 2015)


Art. Why I Stuck with a Junkie Jazzman
von Laurie Pepper
Richmond/CA 2014 (Widow’s Taste / Art Pepper Music Corp.)
374 Seiten, 20 US-Dollar
ISBN: 978-1494297572

2014pepperIn den 1970er Jahren erschien “Straight Life”, Art Peppers Lebensgeschichte, aufgezeichnet von seiner Frau, Laurie Pepper, in der sich der Saxophonist, wie sie im Vorwort ihres neuen Buchs schreibt, als “verlorenes, verzweifeltes Genie” darstellte und sie als seinen Schutzengel. “Während unserer Ehe gelang es uns erfolgreich diese Geschichte darzustellen”, schreibt sie. “Aber ich war kein Engel, und wir retteten uns gegenseitig.” Dieses neue Buch nun sei ihre eigene Geschichte.

Es beginnt düster, im August 1968, als Laurie nach einer langen Leidensgeschichte mit Depressionen und Drogenmissbrauch einen erfolglosen Selbstmordversuch unternahm und sich danach selbst in Kaliforniens erste Drogenklink Synanon einweisen ließ. Hier traf sie neun Monate später auf Art Pepper. Als Synanon Ende 1971 ein Rauchverbot einführte, hielt der es nicht mehr aus. Er verließ die Klinik. Laurie folgte ihm wenige Monate später.

Schon in Synanon fand Laurie, dass die vielen Geschichten, die Art ihr aus seinem Leben erzählt hatte, genügend Stoff für ein Buch böten. Beide waren Leseratten, Laurie hatte darüber hinaus ein wenig journalistische Erfahrung, als Fotografin, aber auch durch kleine Artikel, die sie für linke Zeitungen geschrieben hatte. Sie besorgte sich einen billigen Kassettenrecorder und stellte die erste Frage: “Art, sag mir, warum du dieses Buch machen willst.” – “Eigentlich ist das doch deine Idee gewesen”, antwortete Pepper, erinnerte sich dann aber auch gleich: Schon im Gefängnis von San Quentin habe man ihn darauf angesprochen, dass sein Leben genügend Stoff für ein Buch böte. Und da er ahne, dass er nicht mehr lange zu leben habe, fände er, dass es an der Zeit sei, damit zu beginnen.

So also entstand “Straight Life”. Laurie erinnert sich daran, wie Art seine Geschichten mit dramaturgischem Gespür für die Wendungen und den Verlauf erzählen konnte, ganz so als ob er ein Solo auf seinem Saxophon spielte. Die Arbeit am Buch habe auch ihm bewusst gemacht, wie groß sein Talent zum Geschichtenerzählen war. Sie stellte zugleich eine Art Therapie dar, die Neuinterpretation seines Lebens. Einige seiner Anekdoten ließ Laurie ihn wieder und wieder erzählen, um mehr zu erfahren und tiefer einzudringen. Sie berichtet, wie der Prozess des Schreibens teilweise zum Kampf wurde, wenn Art betrunken war oder high durch andere Substanzen. Er habe zwei Seiten gehabt, und die, die sie nicht mochte, nannte sie irgendwann “Ruthra” oder “Reppep”, also Arthur bzw. Pepper rückwärts gelesen. Laurie erzählt vom gemeinsamen Leben, nachdem der Saxophonist sich in ein Methadonprogramm eingeschrieben hatte, von den wenigen Freunden, die sie hatten und die alle irgendwie im Netzwerk der Drogen, von Synanon oder Methadon steckten.

Eines Tages wurde Art Pepper eingeladen einen Workshop an der Ostküste zu geben – ausgerechnet auf der Klarinette, einen Instrument, das er eigentlich nur ab und zu als Zweitinstrument gespielt hatte. Sie zogen in ein kleines Haus in Van Nuys, einem Vorort von Los Angeles, und Pepper trat häufiger auf, erst mit lokalen Musikern, dann mit dem experimentellen Don Ellis Orchestra, bald aber auch bei Festivals oder in namhaften Clubs.

Anschaulich berichtet Laurie von den zwei Seiten im Leben ihres Mannes: dem glamourösen der gefeierten Konzerte und dem des Drogenabsturzes, der an jeder Ecke lauerte. Sie berichtet von Arts erster Reise nach Japan und wie sie das Methadon für ihren Mann in einer Shampoo-Flasche schmuggelte, aber auch vom Misstrauen Peppers gegenüber seinen Mitmusikern.

Durch einen Fan kam Laurie in Kontakt zu einem Verlag für “Straight Life”. Im September 1978 schloss Pepper einen Vertrag mit der Plattenfirma Fantasy ab und ging bald darauf ins Studio. Im nächsten Jahr erschien das Buch und erhielt höchstes Lob in einigen der wichtigsten Gazetten des Landes. Das Buch gab Peppers Karriere einen neuen Schub, Tourneetermine überall in den USA und in Europa, die Chance für eine Aufnahme mit Streichern.

Laurie war inzwischen Managerin, Krankenschwester, Dealerin, Psychotherapeutin, und das alles in einem Zustand, in dem sie gut selbst Therapie vertragen hätte. Sie sorgte dafür, dass Art seine Zahnprothesen trug, dass sein Buch mit einem Gürtel fest umbunden war, der seine riesige Hernie im Platz hielt und ihm die Bauchmuskulatur gab, die er fürs Spielen benötigte, seit einem Milzriss Ende der 1960er Jahre aber nicht mehr hatte. Am 30. Mai 1982 trat der Saxophonist bei einem Festival in Washington auf, fand, dass die Zeit für seinen Set zu kurz war und konnte daher sein Schlussthema, “Straight Life” nicht mehr spielen. So kam es, erzählt Laurie Pepper, dass “When You’re Smiling” zum letzten Titel wurde, den Art Pepper in seinem Leben gespielt hatte. Er habe es auf der Klarinette gespielt, dem Instrument, auf dem er begonnen hatte. Neun Tage später lag er im Koma. Sechs Tage darauf war er tot.

Im Rest ihres Buchs erzählt Laurie Pepper, wie sie nach dem Tod Ihres Mannes ihr Leben meisterte, sich auf Tugenden und Talente besann, die sie zwar auch genutzt hatte, um Art am Leben zu halten, die jetzt aber ihr selbst helfen konnten. Sie befasste sich mit den juristischen Fallstricken des Musikgeschäfts und sorgte dafür, dass der Gewinn, den Arts Musik immer noch einfuhr, auch ihr zugute kam.

In ihrem Buch “Art. Why I Stuck With a Junkie Jazzman” wollte Laurie Peppers über sich selbst statt über Art Pepper erzählen. Der größte Teil ihres Buchs handelt allerdings von niemand anderem als Art Pepper, seiner Sucht, seiner Musik, seinen Problemen. Die Frage, warum sie es so lange mit einem Junkie erhält hat am Ende zwei Antworten: Gewiss war es vor allem Liebe, daneben aber hatte sie schnell erkannt, dass, indem sie sich um Art Pepper kümmerte, sie die Dämonen in sich selbst zähmen konnte. Und wenn man erkennt, dass Laurie Pepper sich irgendwann, nachdem sie einander in Synanon begegnet waren, durch ihn definierte, liest man ihre Darstellung der Beziehung, ihre Sicht auf seine Krankheit und seine Musik auch als einen Blick ins Innere der Autorin selbst.

Wie “Straight Life” ist auch “Art. Why I Stuck With a Junkie Jazzman” schonungslos, bietet stellenweise eine fast schon schmerzhafte Lektüre, und doch auch einen tiefem Einblick in die Realität eines Musikerlebens.

Wolfram Knauer (April 2015)


Benson. The Autobiography of a Jazz Legend
von George Benson (& Alan Goldsher)
Boston 2014 (Da Capo Press)
222 Seiten, 25,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-306-82229-2

2014benson1982 nahm George Benson die Einladung an, mehrere Konzerte in Südafrika zu spielen, das damals noch vom Apartheid-Regime regiert wurde. Benson war naiv in die Angelegenheit hineingestolpert und musste nun sehen, wie er die Konzerte zu einem Erfolg brachte, der von Menschen aller Hautfarben genossen werden konnte. Irgendwie gelang es ihm, und beim Abschlusskonzert in Kapstadt sorgte er dafür, dass Schwarz und Weiß im ausverkauften Saal nebeneinander saßen und alle, Publikum wie Musiker, zu Tränen gerührt waren von der Macht der Musik. 23 Jahre später spielte er wieder in Südafrika und traf auf einen Mann, der ihn fragte, ob er sich noch an ihn erinnere. “Klar, du hast damals mit meinen Bodyguards herumgehangen”, antwortete Benson, worauf der Mann erklärte: “Das stimmt, nur waren das keine Bodyguards. Die Männer hätten dich umgebracht, wenn es einen Aufstand gegeben hätte. Man hätte gesagt, du wärst im Zuge der Unruhen ums Leben gekommen, und Südafrika hätte nie wieder ein gemischtes Konzert erlebt.” Wie zum Teufel, schließt George Benson diese Anekdote, hat es nur dazu kommen können, dass ein Kid aus ärmlichen Verhältnissen in Pittsburgh in die Lage geriet, mitten in Südafrika fast Ziel eines Attentats geworden zu sein?

Pittsburgh also ist der Ausgangspunkt dieser Karriere, Industriestadt, Arbeiterstadt, Rassentrennung. Pittsburgh hatte eine Reihe wichtiger Jazzmusiker hervorgebracht, Earl Hines, Erroll Garner und Art Blakey unter ihnen… und George Benson, der hier 1943 geboren wurde. Die Kirche brachte ihn zur Musik; in der Schule fiel seine Stimme auf; er spielte ein wenig Klavier und Geige. Sein Stiefvater brachte eine Gitarre mit ins Haus, aber da die zu groß für ihn war, lernte er seine ersten Akkorde auf einer Ukulele. Er verkaufte Zeitungen und merkte eines Tages, dass er mit ein wenig Ukulele-Spiel und Gesang mehr verdienen konnte. Ein Nightclub-Besitzer entdeckte ihn und bot seiner Mutter an, ihn für 40 Dollar pro Abend am Wochenende bei sich auftreten zu lassen. Und so ging es weiter… nur in Amerika! Ein Friseur um die Ecke ließ ihn rufen, damit er seine Gibson-Gitarre spielen könne; dann der Besitzer einer Imbissstube, der ihn nach New York mitnahm, um eine Platte aufzunehmen. Damit wurde es nichts, doch sechs Monate später ging Benson für RCA ins Studio und spielte, gerade mal elf Jahre alt und noch nicht im Stimmbruch, seine ersten vier Titel ein.

Mit 15 gründete Benson mit seinem Cousin die Altairs, eine Doo-Wop-Gruppe. Die Leute mochten sein Gitarrenspiel, aber er selbst sah sich vor allem als Sänger. Er hörte Platten und fragte alle Instrumentalisten aus, die in die Stadt kamen. Ihm gefielen die Orgel-Combos, die in den späten 1950er, frühen 1960er Jahren populär waren; er begann sich für Jazzgeschichte zu interessieren, für Musiker wie Lester Young oder Charlie Parker, und er hörte Platten von Kenny Burrell, Grant Green und Wes Montgomery. Und plötzlich war er selbst, der sich nie als Jazzmusiker gesehen hatte, als Gitarrist in Brother Jack McDuffs Trio in New York aktiv. Der Organist war von Bensons Groove und Sound angetan, hätte ihn aber beinahe gleich wieder rausgeschmissen, als er entdeckte, dass Benson zwar Rhythm ‘n’ Blues spielen konnte, von Jazzimprovisation aber keine Ahnung zu haben schien. Benson erzählt, wie er die anderen Bands auscheckte, die in den Clubs des Big Apple zu hören waren, und wie er sich sein Jazz-Handwerkszeug nach und nach draufgeschafft habe, mal neugierig und begeistert, mal eher widerwillig. McDuff lehrte ihn, wie man mit Groove und Rhythmus das Publikum für sich gewinnen, ihnen mit Technik zeigen könne, dass man sein Instrument beherrsche, dass aber der Blues die Grundlage des Ganzen sei, weil er alles zusammenbinde.

Mitte der 1960er Jahre hatte Benson für sich akzeptiert wohl doch Jazzmusiker zu sein, doch Mitte der 1960er Jahre wurde es für Jazzmusiker zugleich immer schwerer, von ihrer Musik leben zu können. Benson, der 1964 für das Label Prestige sein erstes Album unter eigenem Namen aufgenommen hatte, spielte in Striptease-Clubs und billigen Kneipen, und in einer solchen wurde er von John Hammond angesprochen, dem legendären Produzenten, der ihm einen Vertrag bei Columbia Records anbot. Benson hatte schon zu diesem Zeitpunkt ein feines Gespür für die Balance zwischen Musikalität und Kommerz. Seine erste Columbia-Platte verband seine Liebe zum Jazz mit aktuellen Soul-Covern. Sein Crossover-Stil war erfolgreich, wurde von Jazzerseite aber auch kritisiert. Als nächstes unterschrieb er beim Label Verve, das damals von Creed Taylor geleitet wurde und Wes Montgomery einige seiner besten Platten beschert hatte. Taylor engagierte Herbie Hancock und Ron Carter für eine Platte, und kurz danach rief Miles Davis an und schlug Benson vor, gemeinsam ins Studio zu gehen. Die Erinnerungen des Gitarristen an die denkwürdige Aufnahmesitzung für “Miles in the Sky” ist ein besonders lesenswertes Kapitel des Buchs, über den Trompeter, sein Verhältnis zu Mitmusikern, und seinen allgemeinen Zorn, der aus der Stimmung der Zeit und den Spannungen zwischen Schwarz und Weiß heraus zu verstehen ist. In der Folge bot Miles Benson sogar einen Platz in seiner Band an, doch der wollte seine eigene Karriere forcieren.

Creed Taylor nahm Benson mit zum Label CTI Records, auf dem der Gitarrist seine Mischung aus Soul, Funk und Modern Jazz weiter entwickelte. Er war einer der wenigen Künstler, dem der Spagat zwischen Jazz und populärer Musik nachhaltig gelang. Seine Soulalben verkauften sich, seine Konzerte waren voll mit Fans, daneben aber war auch Benny Goodman von einer Fernseh-Jam Session, in der Benson Charlie Christians Repertoire spielte, so begeistert, dass er ihn am liebsten für seine Band verpflichtet hätte.

1976 erhielt Benson einen Vertrag bei Warner Brothers und landete mit “This Masquerade” auf dem Album “Breezin'” einen Riesenhit, gefolgt von “On Broadway”, das als obskure Doo-Wop-Nummer begonnen hatte und durch Bensons Version zu einem Jazz- und Popstandard wurde. Von hier an beginnt das Buch sich zu wiederholen. Die Anekdoten über Bensons erfolgreiche Jahre wirken entweder zu vorsichtig (bloß niemanden verletzen!) oder aber unzusammenhängend. Der Gitarrist lobt Kollegen; er gibt sich bescheiden; er fühlt sich geehrt, wenn Frank Sinatra ihn von der Bühne im Publikum grüßt; er verweist auf die großen Vorbilder; und immer wieder beteuert er, wie unglaublich es doch sei, dass er es tatsächlich so weit gebracht habe.

Vielleicht stimmt es ja, dass man erst mit einem gewissen Abstand die wichtigsten Ereignisse auch seines eigenen Lebens richtig bewerten kann. In Autobiographien jedenfalls – egal ob von Jazzmusikern oder anderen Personen des öffentlichen Lebens – fällt immer wieder auf, dass die prägenden Jahre die interessantere Geschichte ausmachen. Nicht anders also liest sich auch George Bensons Buch. Seine Erinnerungen an den Beginn seiner Karriere, daran, wie die Musik ihn letzten Endes immer wieder gerettet hatte, lesen sich flüssig und spannend. Die Geschichten des erfolgreichen Stars dagegen fallen deutlich ab, enthalten weit weniger Höhepunkte oder überraschende Wendungen. Und für eine bloße Verlaufsbeschreibung dieser zweiten Hälfte seiner Karriere hätte Bensons Mitautor ab und an eine Jahreszahl und gerne auch den Nachnamen der oft nur mit Vornamen benannten Freunde und Kollegen einfließen lassen können, um dem immer noch geneigten Leser das Zurückblättern zu ersparen.

Sein Buch zeigt George Benson als einen geübten Anekdotenerzähler, der sich bewusst ist, dass seine Karriere vielleicht kein Zufall, aber auch keine Selbstverständlichkeit war. Je näher der Autor allerdings der Gegenwart kommt, desto vorsichtiger wird er, Persönliches mitzuteilen. Wo wir zu Beginn jede Menge an Informationen über Familie und Freunde erhalten, sind es zum Schluss vor allem die eh bekannten Stars und Kollegen, über die Benson berichtet. Frau, Familie, Zuhause, Religion, politische Einstellung – all das findet sich, wenn überhaupt, höchstens zwischen den Zeilen. Aber das ist natürlich die Crux einer jeden Autobiographie, insbesondere von Künstlern, die nach wie vor im Geschäft sind: dass sie den Spagat wagen wollen, auf der einen Seite ihr Leben zu erklären, ohne auf der anderen Seite zu viel von sich preiszugeben. Was im Gedächtnis bleibt nach der Lektüre, ist die sympathische Selbsteinschätzung des Gitarristen und Gesangsstars George Benson, der, wie es scheint, bis heute kaum glauben mag, dass er, der kleine Junge aus Pittsburgh, der nie Noten lesen gelernt hatte, der seine eigene Stimme für zu dünn hielt und der sich sicher war, seinen großen Vorbildern, Charlie Christian und Wes Montgomery nie das Wasser reichen zu können, in der Jazzwelt ernst genommen wird und dass es ausgerechnet ihm gelingen konnte, den Jazz mit der Popindustrie zu vermählen.

Wolfram Knauer (März 2015)


The Original Guitar Hero and the Power of Music. The Legendary Lonnie Johnson, Music and Civil Rights
von Dean Alger
Denton/TX 2014 (University of North Texas Press)
366 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-57441-546-9

alger_lonnie_johnsonDie Bedeutung von Künstlern ist nicht immer an ihrer Bekanntheit abzulesen, sehr viel mehr wohl an ihrem künstlerischen Einfluss. Wenn es danach geht, gehört der Gitarrist Lonnie Johnson in den Olymp der Jazz- und Bluesgeschichte des 20sten Jahrhunderts. Das jedenfalls meint Dean Alger, dessen Buch das Leben und Wirken (und Nachwirken) Johnsons zum Thema hat.

Lonnie Johnson wurde 1894 in New Orleans geboren. Alger schildert das bunte Musikleben in der Stadt am Mississippi-Delta, in dem der Jazz entstand, in dem aber auch der Blues eine wichtige Rolle spielte – nicht als zwölftaktiges, formal klar umrissenes Genre, als der er spätestens ab den 1920er Jahren bekannt wurde, sondern als eine Art Übergangsstil zwischen Field-Holler des 19ten und kunstvollem Volkslied des 20sten Jahrhunderts. Alger diskutiert die widersprüchlichen Quellen um die Geburt des Lonnie Johnsons und beschreibt die Nachbarschaft, in der er aufwuchs. Die ganze Familie habe aus Musikern bestanden, bezeugte Johnson später, sein erstes Instrument sei die Geige gewesen, bevor er zur Gitarre wechselte, mit er irgendwann zwischen 1912 und 1917 Johnson durch die Sümpfe Lousianas reiste, den Trompeter Punch Miller begleitend, um sich mit Musik sein Geld zu verdienen.

1917, liest man in mehreren Quellen, reiste Johnson nach London, um dort in einer nicht näher bekannten Revue aufzutreten. Alger entdeckt in einem Blues ein alternatives Narrativ für diese Jahre in Johnsons Leben: “1917 Uncle Sam called me”, heißt es darin, und so schlussfolgert der Autor, wahrscheinlich sei Johnson im I. Weltkrieg mit einer Theatertruppe zur Truppenbetreuung nach Europa gereist. Als er 1919 nach New Orleans zurückkehrte, waren die meisten seiner Verwandten an einer Grippeepidemie verstorben. Johnson verließ seine Heimatstadt und zog nach St. Louis. Dort habe der Blues ganz anders geklungen als in New Orleans; authentischer, mit stärkerem Bezug zum Leben der schwarzen Bevölkerung. Johnson trat auf den Riverboats auf, die in St. Louis anlegten, und er begann mit Varietétruppen zu reisen, in denen auch einige der “klassischen” Bluessängerinnen auftraten, Clara oder Mamie Smith etwa. 1925 heiratete er; die Ehe hielt allerdings nicht allzu lang, offenbar auch wegen der Affären, die er nebenbei hatte (unter anderem mit Bessie Smith). Es gab, je nach Lesart, einen Sohn oder sechs Töchter, wie Alger aus Zeitzeugenberichten und Interviews mit Kollegen und Freunden des Gitarristen recherchiert.

Im Oktober 1925 gewann Johnson einen Blues-Gesangswettbewerb; kurz darauf machte er seine ersten Plattenaufnahmen, auf denen er mal als Gitarrist, mal als Geiger und mal als Sänger zu hören ist. Gleich einer der ersten Titel, “Mr. Johnson’s Blues” vom 4. November 1925, wurde zu einem Verkaufsschlager. In der Folge tourte Johnson fleißig, seine Platten verkauften sich blendend, und 1928 war er einer der seltenen nicht dem Orchester angehörenden instrumentalen Gäste des Duke Ellington Orchestra, mit dem er vier Stücke einspielte, unter ihnen “The Mooch”. 1928 und 1929 ging er für mehrere Duettaufnahmen mit dem anderen großen Gitarrenvirtuosen der 1920er Jahre, Eddie Lang, ins Studio, der dafür unter dem Namen “Blind Willie Dunn” firmierte. In einigen der Aufnahmen spielte Johnson eine 12-saitige Gitarre, deren Machart und Stimmung Gitarrenexperten über Jahrzehnte Rätsel aufgab.

Lonnie Johnson war eine Art früher Fusion-Musiker, der sich in Bluesumgebung genauso wohl fühlte wie in Jazzaufnahmen etwa mit Ellington oder Louis Armstrong. Tatsächlich klingt seine Gitarrenbegleitung etwa in Armstrong’s “Hotter Than That” von 1927 moderner als das Spiel der meisten anderen Gitarristen jener Zeit, und so ist es sicher nicht ganz falsch, in ihm einen Vorläufer der Kunst Charlie Christians zu sehen.

In den 1930er Jahren lebte Johnson in Philadelphia, New York und Cleveland, ging als Solist ins Studio oder mit kleinen Besetzungen. Um Geld zu verdienen, verdingte er sich aber auch als Stahlarbeiter in East St. Louis. Ende der 1930er Jahre war er dann in Chicago, spielte mit Baby Dodds und anderen älteren Musikern aus New Orleans, entdeckte daneben die elektrische Gitarre für sich und war auf Aufnahmen früher Rhythm ‘n’ Blues-Künstler zu hören. Sein Einfluss auf den Rock ‘n’ Roll der 1950er Jahre sei enorm gewesen, betont Alger und zitiert B.B. King, Buddy Guy und andere. Konkret verweist er auf “Tomorrow Night”, einen Hit, den Johnson 1947 einspielte und dessen Coverversion 1954 von Elvis Presley deutliche Parallelen sowohl im Konzept der Aufnahme wie auch in Presleys Stimmbehandlung besitzt.

1952 machte Johnson eine Englangtournee, bei der ein junger Gitarrist namens Tony Donegan ihn als Vorbild für sich entdeckte und sich aus Verehrung für den älteren Meister künftig Lonnie Donegan nannte. Immer wieder musste Johnson aber auch Jobs annehmen, die nichts mit Musik zu tun hatten, arbeitete etwa als Hausmeister in einem Hotel in Philadelphia, wo Chris Albertson ihn 1959 entdeckte und ihn für mehrere LPs ins Studio brachte. Während einer Art dritten Comebacks wurde Johnson als Zeuge für die Anfänge des Blues gefeiert. 1963 war er einer der Künstler des von Horst Lippmann und Fritz Rau organisierten American Folk Blues Festivals, machte 1967 wichtige Einspielungen für das Folkways-Label, in denen man sehr gut hören kann, wie sich die Traditionen von Blues und Jazz vermischen. 1969 wurde er bei einem Autounfall schwer verletzt, trat danach zwar noch einige Male auf, erholte sich aber nie völlig und starb im Juni 1970 im Alter von 76 Jahren.

Der Autor des Buchs, Dean Alger, ist ein Fan Lonnie Johnsons, und so sehr seine Begeisterung ihn zu extensiven Recherchen antrieb, so sehr trübt sie leider auch ein wenig die Lesefreude. Schon in der Einleitung beklagt er sich, dass so viele Verlage sein Manuskript aus Unwissenheit über die Bedeutung seines Subjekts abgelehnt hätten, und im folgenden Text finden sich neben stark übertrieben wirkenden Superlativen zu Johnson immer wieder Seitenhiebe auf Musiker und Autoren, die dessen Bedeutung nicht erkannt hätten.

Alger lässt seine Leser an den Schwierigkeiten der Recherche teilhaben, präsentiert unterschiedliche Versionen für Stationen in Johnsons Karriere, um dann zu erklären, warum er meint, diese oder jene sei die wahrscheinlichste. So berichtet er beispielsweise von einem Antrag auf Sozialversicherung vom April 1937, auf dem Johnson eine Adresse in Nashville angegeben und seine Geburt auf Februar 1909 datiert habe – das eine nicht verifizierbar, das zweite glatt falsch. Damit bietet Alger auf der einen Seite einen spannenden Blick in die Rechercheprobleme über frühe afro-amerikanische Musikgeschichte, erschwert seinen Lesern auf der anderen Seite aber enorm die Lektüre. Zu oft verlässt er den Geschichtsfluss, um die spätere Rezeption zu erklären und nebenbei noch, wieso andere Autoren zu bestimmten Schlussfolgerungen gekommen seien und wieso er selbst diese nicht teile.

Für seine analytischen Beschreibungen verlässt Alger sich meist auf fremde Quellen statt auf die eigenen Ohren; seine eigenen Beschreibungen sind stattdessen mit Adjektiven wie “wonderful”, “appealing”, “memorable”, “perfect” durchzogen. Warum er Ellingtons “The Mooche” als “popmusikalischen Gegenpart zu Strawinskis ‘Le Sacré du printemps'” bezeichnet, bleibt ein Rätsel. Seine (eigene) Beschreibung von Johnsons Kazoo-Spiel im “Five O’Clock Blues” liest sich folgendermaßen: “Lonnie spielt in der ersten Hälfte des Stücks eine schöne, weinende Bluesgeige. Später steigt Lonnie aufs Kazoo um, und diesmal klingt das Kazoo wie eine sehr alte Katze, die gerade erwürgt wird, die aber kaum mehr genügend Energie hat sich zu beschweren.” Es sei doch ganz gut zu wissen, zitiert er dann einen Kollegen, dass auch Lonnie Johnson nur menschlich gewesen sei, “er war nicht auf jedem Instrument brillant.”

Immer wieder spricht er seine Leser direkt an, ist sich dabei aber offenbar nicht ganz sicher, um wen es sich dabei wohl handelt, erklärt Details afro-amerikanischer Musikgeschichte mal sehr detailliert und für Uneingeweihte, um an anderen Stellen die Geduld des Kenners mit dem Klein-Klein seiner Recherchen zu überfordern. Das Erbe Lonnie Johnsons bestehe, so die Überschriften seines letzten Kapitels, aus “dem nicht ausreichend gewürdigten Kaliber seines Gesangs”, einem “äußerst raren Fall von Großartigkeit”, der “nicht angemessenen Würdigung seiner exzellenten Texte”, der “exzeptionellen thematischen Stimmigkeit in seinem Gitarrenstil” – und diese Superlative klingen auch im englischen Original nicht viel sachlicher. Immer wieder zitiert er Loblieder auf andere Größen des Jazz, Ellington, Armstrong beispielsweise, um anschließend zu bemerken, genau dasselbe könne man aber auch über Johnson sagen.

Im Anhang findet sich schließlich noch eine völlig zusammenhangslose Besprechung einer Aufnahme von Sidney Bechet sowie ein Kapitel über die Beziehung von Jazz- und Bluesmusikern zur Bürgerrechtsbewegung, in dem Johnson kaum erwähnt wird, Wenn es dieses Kapitel ist, auf das sich der Untertitel des Buchs, “Music and Civil Rights” bezieht, so ist das zumindest irreführendes Marketing des Verlags. Denn darum geht es im Buch wirklich nur am Rande.

Alles in allem enthält Dean Algers Buch jede Menge wertvoller Information über einen weithin verkannten Künstler, wenn der Autor seinen Lesern auch viel Geduld und Nachsicht abverlangt und man sich über weite Strecken die hilfreiche Hand eines kritischen Lektorats gewünscht hätte, das ihm zu einer klareren Strukturierung seines Text und zum Streichen vieler der Asides geraten hätte und das alles damit besser lesbar gemacht hätte. Algers “labor of love” wird alleine der Fülle seiner Recherchen wegen ein Nachschlagewerk bleiben; für eine nächste Auflage wünscht man ihm und künftigen Lesern eine sorgfältige Überarbeitung.

Wolfram Knauer (Februar 2015)


Livejazz in München
von Christina Maria Bauer
München 2014 (München Verlag)
152 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-3-7630-4025-4

2014bauerFrankfurt war in den 1950er und 1960er Jahren die Jazzhauptstadt Deutschlands; heute gilt das wohl vor allem für Berlin und Köln. Aber die Metropolen dieser Republiken haben nach wie vor eine lebendige Szene und jede für sich eine eigene regionale Jazzidentität. Hamburg klingt anders als Stuttgart, anders als Dresden, anders als Hannover, anders als Dortmund, anders als Leipzig, anders als Darmstadt (!) und eben auch anders als München. Und auch die stilistischen Zuweisungen, die einst regionale Jazzszenen fixieren halfen, gelten nicht mehr. Das wegen seiner Traditionsliebe ehemals als “Freie und Barberstadt” bekannte Hamburg hat heute genauso eine zeitgenössische Jazzszene, in Berlin gibt es neben der Avantgarde auch eine reiche traditionelle Szene, Frankfurt besteht nicht nur aus der Moderne in der Nachfolge Albert Mangelsdorffs, sondern auch aus elektronischen Experimenten, und München ist genauso bunt wie jede andere Stadt dieser Größe.

Christina Maria Bauer hat die Vielfalt dieser Münchner Szene zu einer buchlangen Darstellung animiert, die sich vor allem die Spielorte vornimmt, meist intime Clubs, Cafés, Säle, deren Atmosphäre nicht nur im Liveerlebnis rüberkommt, sondern auch in den Fotos, von denen es in ihrem Buch nicht mangelt. Von der Unterfahrt über den Bayerischen Hof, die Jazzbar Vogler über die Waldwirtschaft und den Hirschau-Biergarten bis hin zum Ruffini und Veranstaltungen in der Circus Krone oder der Pasinger Fabrik beschreibt sie die Orte, die Macher und die Musiker, die an ausgewählten Tagen dort auftreten. Den gut lesbaren, an Einträge in einem guten Reiseführer erinnernden Texten folgt eine Zusammenfassung auf Englisch sowie die Kontaktdaten der Clubs.

Was fehlt, wäre vielleicht noch ein Sampler, der Aufnahmen insbesondere Münchner Ensembles enthalten könnte, aber dann soll man genau dafür ja in die Clubs gehen, um zu hören, worum es in diesem Buch geht: nämlich “Livejazz in München”.

Wolfram Knauer (Januar 2015)


Blue Note. The Finest in Jazz Since 1939
von Richard Havers
München 2014 (Sieveking Verlag)
400 Seiten, 78 Euro
ISBN: 978-3-944874-07-4

Talkin’ About Blue Note. Painted Jazz!
von Dietrich Rünger & Rainer Placke
Bad Oeynhausen 2014 (jazzprezzo)
236 Seiten, 2 CD, 75,00 Euro
ISBN: 978-3-9816642-0-1

2014haversDas Plattenlabel Blue Note feierte letztes Jahr seinen 75sten Geburtstag, und gleich zwei Prachtbände feiern mit. Sie haben recht unterschiedliche Ansätze, ergänzen sich dabei aber so glänzend, dass man kaum zu entscheiden vermag, welches den Nerv des Labels am besten trifft, seine Geschichte am überzeugendsten erzählt.

Richard Havers hatte vor kurzen bereits einen nicht weniger aufwändigen Band über das Label Verve herausgebracht. Sein 400 Seiten starkes Buch nimmt eher den historischen Weg. Havers beginnt mit einem kurzen Kapitel über die Jugend der Firmengründer Alfred Lion und Francis Wolff in ihrer Heimatstadt Berlin, leitet dann recht schnell ins New York der späten 1920er, frühen 1930er Jahre über, das Alfred Lion bereits 1928 zum ersten Mal besuchte, um dann, auf Umwegen – zurück nach Deutschland und dann nach Südamerika – 1936 endgültig in den USA zu landen.

Havers schildert die Umstände der ersten Aufnahmen, die der Jazzfan und Plattensammler Alfred Lion 1939 mit den beiden Pianisten Albert Ammons und Pete Johnson machte, weil er überzeugt war, dass diese Musik ein breiteres Publikum verdiene. Einspielungen mit Frankie Newton und Sidney Bechet folgten. Im Oktober 1939 stieß sein alter Freund Francis Wolff hinzu, der mit dem letzten Schiff kurz nach Kriegsbeginn aus Deutschland ausreisen konnte. Lion musste zwei Jahre mit seinem Geschäft pausieren, weil die amerikanische Musikergewerkschaft zum Streik der Plattenfirmen aufgerufen hatte. Als er 1944 wieder mit der Produktion loslegte, nahm er neben den älteren Namen zum ersten Mal auch jüngere Musiker in sein Programm auf, die eher dem neuen Bebop zuzurechnen waren. Tadd Dameron, Fats Navarro und Thelonious Monk, begründeten den Ruf des Labels als am Puls der Zeit.

Havers erzählt die Geschichte des Labels, beschreibt Veränderungen in der musikalischen Basis, auf der das Geschäft gründete, aber auch Veränderungen in der Aufnahmetechnik oder in der Gestaltung der Platten. Und er beschreibt den Niedergang von Blue Note durch den kommerziellen Erfolg der Rockmusik in den 1960er Jahren und schließlich und den Verkauf des Labels an Liberty Records. Danach führt er seine Leser in die Jetztzeit, berichtet über die diversen Wiederbelebungsversuche und über die immer wieder neuen Stars, die im Idealfall die Experimentierlust des ursprünglichen Blue-Note-Labels weiterleben lassen.

Havers Buch liest sich schnell und flüssig; es enthält jede Menge Einzeldarstellungen bedeutender Schallplatten, die die Musik sowohl in die Geschichte des Labels wie auch in die Jazzgeschichte einzuordnen versuchen. Und es bietet eine Unmenge wunderbarer Fotos, Bilder aus dem Archiv von Francis Wolff vor allem, daneben aber auch historische Aufnahmen aus Berlin und New York, die recht schnell die Atmosphäre der Erzählung nachempfinden lassen. Vereinzelt finden sich schließlich auch Faksimiles aus den Notizbüchern zu einzelnen Plattensitzungen oder ganze Kontaktbögen von Fotonegativen, die die Arbeit des Fotografen Francis Wolff nachvollziehen lassen.

2014ruengerDas von Dietrich Rünger und Rainer Placke herausgegebene Buch über Blue Note hat in etwa dasselbe Gewicht, aber einen ganz anderen Ansatz. Über die Geschichte des Labels erfährt man in teilweise recht persönlichen Rückblicken von Fachleuten und Mitstreitern, etwa dem Produzenten Michael Cuscuna, der Historikern Theresia Giese, dem Filmemacher Julian Benedikt, dem Jazz-Experten Bert Noglik, und dem Journalisten (und Plattentextschreiber) Ira Gitler.

Neben dem Label wird in diesem Buch aber auch die Kunst des deutschen Malers Dietrich Rünger gefeiert, der sich seit langem von den Platten in seiner Blue-Note-Sammlung zu immer neuen, meist großformatigen Acrylbildern inspirieren lässt. Abbildungen dieser Bilder nehmen jeweils viele der rechten Seiten des Buchs ein, während auf den jeweils gegenüberliegenden Seiten Musiker, Experten, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens über ihre eigenen Blue-Note-Erfahrungen zu den betreffenden Alben berichten, so dass im Konzept des Buchs Persönliches (Rüngers visuelle Interpretation der Musik) mit Persönlichem (Reflexionen) konfrontiert wird.

Zu Wort kommen dabei Musiker wie Joe Lovano, José James, Till Brönner, Nils Landgren, Rolf und Joachim Kühn, Martin Tingvall, Udo Lindenberg oder Esperanza Spalding, Jazzexperten wie Josef Engels, Stefan Gerdes, Hans Hielscher, Karl Lippegaus (aber auch Arndt Weidler und Wolfram Knauer vom Jazzinstitut Darmstadt), Angehörige der “Szene”, also Produzenten, Veranstalter, Macher aller Art wie Siggi Loch, Sedal Sardan, Axel Stinshoff oder Rainer Haarmann, sowie schließlich Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens die den Jazz nicht nur als heimliche Liebe pflegen, etwa die Schauspieler August Zirner und Joachim Król, der Politiker Hans-Olaf Henkel oder der Journalist Roger Willemsen. Sie alle durften sich einzelne Platten aus dem großen Blue-Note-Katalog aussuchen und darüber berichten, wie diese sie berührt haben; und ihr Spektrum reicht tatsächlich von Sidney Bechet bis zu Cecil Taylor.

Und dann gibt es noch einen Zusatzbonus, der dem Leser die Blue-Note-Gründer direkt vor Ohren führt: zwei CDs, auf denen eine Rundfunkserie zu hören ist, die der Norddeutsche Rundfunk 1964 mit Alfred Lion und Frances Wolff produzierte und in denen die beiden die Geschichte ihrer Firma erzählen und einige der bedeutendsten Aufnahmen vorstellen.

Die Bedeutung des Labels Blue Note mag sich allein an der Tatsache zeigen, dass etwa zur selben Zeit zwei großformatige schwere Bücher erscheinen, die sich dennoch inhaltlich kaum überschneiden. Havers hat die schöneren historischen Fotos; Rünger/Placke zeigen dafür beispielsweise eine Seite aus der Kladde, in der Frances Wolffs Berliner Plattensammlung dokumentiert ist (aus dem Bestand des Jazzinstituts Darmstadt). Havers kann durch seinen narrativen Ansatz tiefer in die Geschichte des Labels eindringen; Rünger/Placke versammeln mit den zahlreichen einzelnen Reflexionen mehr Facetten. Havers’ Buch ist das traditionellere der beiden, und bei Rünger/Placke mag sich der eine oder andere über die kleine und, weil weiß auf schwarz, schwer lesbare Schrift der Gastbeiträge beschweren. Rünger/Placke ist auf der anderen Seite eher ein aus dem Heute auf das Label blickendes Werk, während Havers einzig der Darstellung der Geschichte verhaftet bleibt. Und Rünger/Placke haben natürlich die beiden wunderbaren CDs dabei, auf denen man die Blue-Note-Gründer selbst zu hören bekommt. Keines der Bücher liefert eine wirklich kritische Bestandsaufnahme, beide Bände richten sich vor allem an Fans. Durch die Vielseitigkeit der Aussagen und die Befragung insbesondere auch von Musikern gelingt es Rünger/Placke vielleicht, der Musik etwas näher zu kommen, für die das Label steht. Letzten Endes aber bleibt dem wahren Blue-Note-Fan nichts anderes übrig, als 7,5 cm im Bücherregal freizuräumen und sich gleich beide Bücher zu holen.

Wolfram Knauer (Januar 2015)


Blues Queens. 2013 Blues Calendar.
Rare Vintage Photographs by Martin Feldmann
Attendorn 2014 (Pixelbolide)
15,90 plus Versand (Wandkalender)
9,50 Euro plus Versand (Notizkalender)
23,95 Euro plus Versand (beide Kalender)
Zu bestellen über www.blueskalender.de

2014feldmannIn den 1970er und 1980er Jahren reiste der Frankfurter Journalist und Fotograf Martin Feldmann regelmäßig durch die USA, besuchte dort Jazz- und Bluesclubs, fotografierte aber auch auf den wichtigsten Bluesfestivals in Europa. Seine Berichte erschienen in der Frankfurter Rundschau sowie in diversen Fachzeitschriften. Zum wiederholten Mal hat Feldmann jetzt eine Auswahl seiner Bilder getroffen, um sie zu einem stimmungsvollen Wand- oder Notizkalender zusammenzustellen. Das Thema des Kalenders 2015 sind die “Blues Queens”, die Blues-Frauen, Sängerinnen und Instrumentalistinnen, die dieses Genre genauso prägten wie ihre männlichen Kollegen. Neben den zwölf Monats-Bildern von Lady B.J. Crosby, Koko Taylor, Honey Piazza, Big Time Sarah, Lady Bianca Thornton, Princess Patience Burton, Sylvia Embry, Carrie Smith, Rosay Wortham, Margie Evans, Tina Mayfield, Angela Brown finden sich im Vorwort des Kalenders noch eindringliche Bilder von Sippie Wallace, Katie Webster und Maxine Howard, Dottie Ivory sowie Beverly Stovall. Feldmann begleitet all diese Bilder mit kurzen Würdigungen der Künstlerinnen. Die Kalender sind direkt online zu beziehen.

Wolfram Knauer (Oktober 2014)


Jazz and Culture in a Global Age
von Stuart Nicholson
Boston 2014 (Northeastern University Press)
294 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-55553-844-6

2014nicholsonStuart Nicholson ist als streitbarer Geist bekannt. In seinem letzten Buch, “Is Jazz Dead? (Or Has It Moved to a New Address?)” betrachtete er den Stand des aktuellen Jazz und befand, dass die alternativen Jazzszenen in Europa dem Status Quo des Jazz in den USA bisweilen den Rang abliefen. Sein neues Buch hat einen noch weiter gefassten Titel, beschäftigt sich nicht nur mit Jazz, sondern gleich mit “Jazz und Kultur in einem globalen Zeitalter” und knüpft doch dort an, wo sein voriges Buch aufgehört hatte.

Wie also, lautet die Grundfrage seines Buchs, ist die Position des Jazz im Zeitalter der Globalisierung, und zwar an jedem einzelnen der verschiedenen Orte, die diese Globalisierung ja erst ausmachen und die jeder für sich eine andere Sicht auf die Sache an und für sich besitzen als der Ursprungsort, Amerika?

In seinem ersten Kapitel stellt Nicholson fest, dass der Jazz im Großen und Ganzen den wirtschaftlichen und finanziellen Erfolg Amerikas im 20sten Jahrhundert widerspiegele. Zugleich habe sich er sich aber auch immer weiter von der populären Musik entfernt, und dabei erlebt, dass innerhalb dieser Entwicklung einzelne regionale oder nationale Szenen gar nicht mehr auf Amerika als Maß aller Dinge schauten. Die Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre habe dazu geführt, dass junge Musiker in den USA durch ihre Kunst kaum mehr genug zum Leben verdienen könnten. Selbst diejenigen, die halbwegs gut seien, würden bis zu 75 Prozent ihres Jahreseinkommens durch Tourneen in Europa erbringen. Gewiss, New York besitze immer noch eine der lebendigsten Jazzszenen der Welt; eine nationale amerikanische Jazzszene sei allerdings so gut wie nicht existent. In den USA baue man jetzt deshalb auf “education”, auf verschiedene Konzepte des “audience development”. Auch Pädagogik aber könne gegen den Erfolg des Konsums nicht ankämpfen. Jazz sei nun mal im schlechten wie im guten Sinne mit dem Klischee des Elitären behaftet. Die Diskurse, die in den 1990er Jahren um die Gestaltungshoheit des Jazz aufkamen, seien tatsächlich Diskurse um kulturelle Identität gewesen. In der heutigen Zeit müsse man mit einer durch den Konsum beförderten kürzeren Aufmerksamkeitsspanne der Hörer leben. Und da käme dem Jazz dann vor allem eine Erkenntnis zupass, die viele Musiker vergessen hätten, dass nämlich die Melodie wichtiger sei als Patterns, dass man seine Hörer durchs Geschichtenerzählen erreiche, dass neue Kompositionen den Zuhörer bewegen müssten. Der Jazz, stellt Nicholson fest, dürfe keine rein intellektuelle Übung bleiben, er müsse die Herzen der Zuhörer erreichen. Dafür müsse er sich seinen eigenen Platz in einer ihm eigentlich feindlich gegenüberstehenden Medienlandschaft zurückerobern. Jazz mag nicht länger populär sein, schreibt er, doch müsse er unbedingt für diejenigen relevant bleiben, die ihm folgen wollen.

Im zweiten Kapitel beschreibt Nicholson den internationalen Erfolg des Jazz seit seinen Anfangsjahren. Er stellt fest, dass Jazz zwar unter Musikern immer eine lingua franca gewesen sein mag, die Musik von Hörern verschiedener Länder und Kulturkreise allerdings durchaus unterschiedlich wahrgenommen werde. Musik sei nun mal eine Form von Kommunikation, und Urteile über Musik unterlägen deshalb immer gesellschaftlich bedingten Regeln, unterschiedlichen Konnotationen und Erwartungen, und damit, wie er an Beispielen aus England und Polen festmacht, eines reichlich unterschiedlichen Erlebens derselben Musik.

Im dritten Kapitel befasst sich Nicholson mit der Wahrnehmung von Jazz als Zeichen der “Moderne” im frühen 20sten Jahrhundert. Jazz habe sich immer in zwei Bedeutungsfeldern befunden, sei zum einen aus einer Kultur des Konsums heraus entstanden, zum anderen aber mehr und mehr mit unterschiedlichsten Diskursen um “Freiheit” assoziiert worden. Amerika habe Kultur bald als weichen Faktor erkannt, der nach innen wie nach außen amerikanische Identität vermitteln könne. Hollywood sei das erste erfolgreiche Beispiel dieser Erkenntnis gewesen, auch die Musik aber habe recht bald ihren Platz in diesem kulturpolitischen Geflecht gefunden. Nicholson dekliniert Beispiele durch, von James Reese Europe über Glenn Miller bis zu den State Department-Tourneen seit den 1950er Jahren. Aus welchen Gründen auch immer der Staat sich des Jazz bediene, habe das in der Regel zu einem Geben und Nehmen zwischen staatlicher Subvention und wirtschaftlicher Vermarktung geführt. Als konkretes Beispiel führt Nicholson Norwegen an, wo es durch staatliche Förderung tatsächlich gelungen sei, eine internationale Nachfrage zu schaffen. All solche internationalen Vermarktungsmechanismen lebten vom “Halo Effect”, bei dem der Ruf großer Musiker auf der einen sowie Werte wie Moderne, Zukunftsorientiertheit und Cringe-Aspekte auf der anderen Seite unbewusst auf das ganze Genre übertragen werden (und sich dabei als hervorragende Marketinginstrumente erweisen).

Im letzten Kapitel betrachtet Nicholson eine andere globalisierte Thematik, die nämlich der “klassischen” Moderne. Der Jazz, erklärt er, habe bereits im frühen 20sten Jahrhundert eine entscheidende Rolle für die Künstler der Moderne gespielt, Maler, Bildhauer, Schriftsteller, Komponisten und Filmemacher. In den USA habe die Wahrnehmung des Jazz als einer modernen Kunstform zur selben Zeit auch gesellschaftliche und rassistische Untertöne besessen. Nicholson hebt Paul Whitemans Rolle bei der Entwicklung des Jazz zu einer künstlerischen Aussage der Moderne hervor, dem etliche spätere weiße wie schwarze Musiker verpflichtet gewesen seien, nicht zuletzt auch Duke Ellington. Er betrachtet konkrete Kompositionen, von den durch Whiteman beauftragten Suiten über Ellington, James P. Johnson, Raymond Scott oder Reginald Foresythe bis zu Arrangeuren der 1940er Jahre, die mit einem weniger auf populären Erfolg ausgerichteten Ansatz arbeiteten, um schließlich festzustellen, dass in den USA der Jazz und die Moderne sich erst näher kommen konnten, als Charlie Parker und die jungen Bebopper die unterschiedlichen Ansätze in Komposition und Improvisation angleichen konnten. Über Brubeck und Tristano geht es noch kurz zu Wynton Marsalis’ “Majesty of the Blues” und Marsalis Ansicht, Jazz sei insgesamt eine Musik der Moderne.

Tja, und dann ist da noch Kapitel 4, überschrieben “The Globalization of Jazz”, das viele interessante Denkansätze enthält und trotzdem die problematischste Lektüre des Buchs darstellt. Die Finanzkrise 2007/2008, beginnt Nicholson, sei ein hervorragendes Beispiel dafür, wie heutzutage alles mit allem zusammenhänge. Der Terminus “Globalisierung” stünde dabei durchaus für unterschiedliche Aspekte: für freie Marktwirtschaft etwa, für westliche Dominanz (Amerikanisierung), aber auch für die Hoffnung auf eine globale Community. Die am wenigsten erwartete Nebenwirkung der Globalisierung sei der wachsende Nationalismus gewesen. Nicholson diskutiert unterschiedliche Modelle der Auswirkung von Globalisierung auf die Kultur, schaut, wie sich die kommerzielle Popmusik in diese Modelle einpassen lässt und blickt dann auf den Jazz und sein inzwischen gespaltenes Verhältnis zu amerikanischer Authentizität. Er stellt für den Jazz eine Hybridisierung fest, in der globalisierte kulturelle Praktiken lokal rezipiert werden und dabei neue, in die lokalen Kontexte eingepasste Bedeutungen erlangten. Für den Jazz betont Nicholson insbesondere, dass im Zuge dieser gern als Glocalization bezeichneten Entwicklung die Idee von “Eigentum” an einer kulturellen Tradition immer unwichtiger wurde, weil “Ursprung” durch lokale Aneignung inklusive hybrider Methoden, also dem gleichzeitigen Verweis auf Traditionen des Jazz und Traditionen der eigenen kulturellen Herkunft, wettgemacht wurde.

Einem Exkurs in die Erfahrungen mit Nationalismus in der klassischen Musikwelt folgt Nicholson mit dem Unterkapitel “Jazz und Relativismus”. Relativismus, erklärt er, ginge davon aus, dass es eine objektive Wahrheit nicht gäbe, weil immer verschiedene Sichtweisen vorherrschten, die alle ihre Berechtigung hätten. Die “Doktrin des kulturellen Relativismus” habe, wie Nicholson schreibt, dazu geführt, dass Wissenschaftler, die dem Relativismus anhingen, historische Fakten zugunsten unterschiedlicher Sichtweisen anzweifelten. Insbesondere in den New Jazz Studies, einem interdisziplinären Forschungsansatz, für den etwa der amerikanische Wissenschaftler Krin Gabbard oder der Brite Tony Whyton stehen, habe die scheinbare Erweiterung bisheriger Sichtweisen um neue Perspektiven, die außerhalb der formalistischen Musikwissenschaft liegen, für reichhaltige Erkenntnisse sorgen sollen. Tatsächlich allerdings, findet Nicholson, habe eine solche Sicht auf den Jazz mit Ungenauigkeiten, historischen genauso wie Denkfehlern gearbeitet und damit die Geschichte verfälscht. Er stellt Paul Gilroys Theorien zum Black Atlantic (sehr verkürzt) als Gegenmodell zum Weltverständnis aus der Sicht von Nationalstaaten vor, und betont, Gilroys Thesen läge zumindest Whytons Modell der New Jazz Studies und seiner Sicht des Jazz als einer transnationalen Musik zugrunde. Die New Jazz Studies plädierten dafür, schreibt Nicholson, dass man im Jazz nicht von nationalen Kulturen sprechen solle, weil, frei nach Gilroy, die Diaspora, also das Modell transnationaler Entwicklungen größere Bedeutung habe als der Druck zu nationaler Einmütigkeit.

Und dann holt Nicholson aus: Es sei doch nachweisbar falsch, dass nationale Charaktere keinen Einfluss auf die Musik hätten. Man müsse doch nur auf den Einfluss von Sprachen auf Rhythmik oder Melodik schauen. Und auch im Jazz gäbe es doch unzählige spezifische Codes, die Jazzmusiker benutzten und die klar ihre kulturelle Herkunft markierten. Whyton würde etwa die Idee eines nordischen Tons im Jazz herunterspielen und als bloße Marketingstrategie interpretieren, an der eben auch Musiker beteiligt seien. Dabei würde er völlig außer Acht lassen, dass es bereits lange Forschungen zum Phänomen des nordischen Tons gäbe, die zwar im Bereich der komponierten Musik angestellt wurden, sich aber ohne weiteres auch auf den Jazz übertragen ließen. Gerade der norwegische oder schwedische Jazz sei doch ein hervorragendes Beispiel dafür, wie lokale, regionale, nationale Kultur den Jazz hin zu einem eigenständigen Idiom beeinflussen könne.

Nicholsons Scharmützel mit den New Jazz Studies sind für den Außenseiter etwas – nun: vielleicht ja nur britisch. Paul Gilroys Thesen seien schon lange widerlegt. Krin Gabbards Buch würde vor Fehlern nur so strotzen, und Tony Whyton würde sich nach wie vor fast schon ideologisch auf Gilroy beziehen. Die Wirklichkeit sei ihnen wohl, zitiert er Richard Dawkins’ Postmodernismus-Kritik, zu uncool. Nicht nur, dass Nicholsons Einengung der Diskussion auf Gabbard und vor allem Whyton den New Jazz Studies nicht gerecht wird, die viel weiter greifen und weit mehr Autoren umfassen, als Nicholson hier benennt, tatsächlich ist sein eigener Ansatz in diesem wie auch in seinem früheren Buch ja einer, der dem interdisziplinären Anspruch der New Jazz Studies durchaus entspricht. Nur gehört zu den New Jazz Studies eben auch das Hinterfragen der eigenen Meinung, was Nicholson, der im britischen Jazzwise Magazine eine Kolumne mit dem augenzwinkernden Titel “Putting the World to Rights” hat, offenbar nicht ganz leicht fällt. Seine Beispiele für Glocalization im Jazz sind mehr als hilfreich, viele seiner Denkansätze sind diskutabel, doch die Spiegelfechterei mit Gegnern, denen er letzten Endes auch ein wenig das Wort auf der Seite herumdreht, wäre nicht nur nicht nötig, liest sich auch ein wenig beckmesserisch.

Wie schon sein früheres Buch, so hat also auch “Jazz and Culture in a Global Age” etliche wertvolle Ansätze. Die fünf Kapitel stehen jedes für sich, wobei die ersten vier klar aufeinander bezogen sind, während das letzte sich ein wenig unglücklich abseits der früheren Argumente wiederfindet, obwohl die Ausführungen über unterschiedliche Auffassungen von Moderne durchaus in Nicholsons Argumentation gepasst hätten. Die Hauptthese des Autors ist jene, dass der Jazz als eine ur-amerikanische Musik entstanden sei, die zu Zeiten nationalstaatlicher Identität sowohl nach innen wie auch nach außen identitätsstiftende Wirkung besaß. Jazz konnte auf der einen Seite als amerikanischer Beitrag zur Moderne rezipiert werden, wie es vor allem in Europa geschah; er konnte aber auch als Abbild einer multi-ethnischen Gesellschaft in einem durch und durch demokratisch verfassten System gedeutet werden, wie es insbesondere die amerikanische Politik in den Zeiten des Kalten Kriegs tat. Nicht zuletzt war Jazz auch ein Werkzeug der amerikanischen Musikindustrie, die von Anfang an darauf ausgerichtet war, über die eigenen Grenzen hinaus zu agieren, musikalische Werte weltweit zu etablieren, um damit im selben Radius ihren kommerziellen Profit einfahren zu können. So war der Jazz quasi Teil einer künstlerischen Globalisierungsstrategie, die wirtschaftlich genauso wie politisch gewollt war, die der Musik im Effekt aber ihre Position als identitätsstiftende nationalstaatliche Kennziffer nahm. Hier setzt Nicholsons Argument der Glocalization ein, das beobachtet, dass eine Musik, die so sozial und kommunikativ ausgerichtet ist wie der Jazz, einer Verortung in der Community bedarf, dass man nämlich Kreativität nicht so gern nur konsumiert, sondern darum wissen möchte, dass sie im persönlichen Umfeld möglich ist. Glocalization bezeichnet nach dieser Interpretation die Balance zwischen dem Wissen um die Herkunft der kulturellen Tradition des Jazz und der Erfahrung, dass die spannendsten Momente in dieser Musik dort geschehen, wo Musiker oder Musikerinnen sich ihrer eigenen Herkunft besinnen. Der Jazz unserer Tage wird von Künstlern gemacht, die sich ihrer Position sowohl im Kontinuum der Jazz- wie auch der Musikgeschichte bewusst sind, die ihre sozialen und kulturellen Erfahrungen übereinanderlegen, um aus der Authentizität ihrer Herkunft die Sprache des Jazz voranzutreiben.

Nicholsons Buch nähert sich dieser Erkenntnis mit dem Anspruch, die These der Glocalization, der Verortung kultureller Entwicklung in der internationalen Community des Jazz einerseits und der regionalen Community des eigenen Lebens der Musiker andererseits, tauge als generelles Erklärungsmodell für vieles, was im Jazz unserer Tage geschieht. Vor allem erkläre sie die unterschiedlichen Richtungen, die die Entwicklung des Jazz in den letzten Jahrzehnten in Europa und den USA genommen habe.

So ist “Jazz and Culture in a Global Age”, ganz wie der Klappentext es ankündigt, durchaus ein Denkanstöße gebendes und zugleich klar Stellung beziehendes Buch geworden. Dieser Rezensent hätte sich statt des etwas abseits stehenden Moderne-Schlusskapitels eine knappe und verbindende Zusammenfassung der vorhergehenden Argumente gewünscht. Nicholsons Beobachtungen mögen nicht überall stimmig erscheinen, einige der Debatten die er eröffnet, wirken unnötig, insgesamt aber regt er seine Leser ganz gewiss zum Weiterdiskutieren an.

Wolfram Knauer (Dezember 2014)


Warum Jazz? 111 gute Gründe
von Kevin Whitehead
Stuttgart 2014 (Reclam)
209 Seiten, 9,95 Euro
ISBN: 978-3-15-020359-0

2014whiteheadWarum Jazz? Das ist tatsächlich eine Frage, die diejenigen, die sich mit Jazz befassen – ob beruflich oder in ihrer Freizeit – immer wieder zu hören bekommen. Warum ausgerechnet Jazz? Was ist denn so schön an dieser Musik, die kaum mitsingbar ist, die manchmal zu altmodisch und dann wieder zu komplex oder avantgardistisch klingt. Warum eine Musik, die vom Hörer irgendwie Mitarbeit fordert?

Kevin Whitehead findet 111 gute Gründe, aber mehr noch, er gibt 111 Antworten auf durchaus ernst gemeinte Fragen. Sein Buch “Warum Jazz?” wirkt damit auf den ersten Blick wie ein Vademecum für den Anfänger, der sich dem Jazz nähern möchte, sich aber unsicher fühlt, weil er nicht genau weiß, worauf er denn zu achten habe bei dieser Musikrichtung, bei der alle Konzertbesucher Experten zu sein scheinen. “Muss ich die Geschichte des Jazz kennen, um ihn schätzen zu können?” lautet gleich die zweite Frage, und Whiteheads korrekte Antwort ist: Nein, aber wie bei so vielem im Leben kann Erfahrung einem noch mehr Genuss bieten. “Erfahrene Hörer”, erklärt er also, “haben immer wieder Aha-Erlebnisse, das heißt, es gibt Momente, in denen sie erkennen, dass ein frischer oder neuer Klang auf alten Elementen gründet.” Vor allem kommt es auf Neugier an bei dieser Musik, auf die Fähigkeit, sich auf Überraschungen einlassen zu wollen. Dann erlebt man den Jazz vielleicht nicht länger als “altmodisch”, sondern als eine aktuelle Musik, eine musikalische Herangehensweise, die sich aus den Standards der Vergangenheit genauso nährt wie aus Einflüssen der Gegenwart.

Wie oft in Konversationen führen die Fragen auch Whitehead schnell dazu auszuholen. “Was ist Jazz?”, beginnt das Kapitel über “Grundlegendes”, in dem der Autor Improvisation und swing genauso abhandelt wie den Einfluss des Blues, das Repertoire des Jazz, Virtuosität oder die Bedeutung und Wirkung musikalischer Zitate.

“Konnte es nur in Amerika zur Vermischung afrikanischer und europäischer Elemente kommen?”, lautet eine der Fragen, die sein historisches Kapitel über den frühen Jazz einleitet, und seine Antwort versucht hier wie anderswo mit Legenden aufzuräumen. Die Kulturen, schreibt er, hätten sich bereits seit Jahrtausenden miteinander vermischt. Die Entstehung des Jazz im New Orleans des frühen 20sten Jahrhunderts sei höchstens ein Kulminationspunkt des Ganzen gewesen. Er erklärt den bandaufbau früher Jazzkapellen, beschreibt die Bedeutung von Musikern wie Buddy Bolden, Louis Armstrong oder Bix Beiderbecke und erwähnt die Rassentrennung in den USA, die dazu führte, dass schwarze und weiße Musiker nur selten miteinander spielten. Er betrachtet die Entwicklung des Jazzensembles hin zur Bigband, diskutiert die Bedeutung Duke Ellingtons und erklärt, warum der Jazz in den 1930er Jahren eine Art Popmusik war. Benny Goodman, Kansas City, Billie Holiday; die Fragen und Themen wechseln sich ab, und mit Django Reinhardt wird auch der Jazz in Europa kurz gestreift.

Whiteheads Fragestunde zum modernen Jazz beginnt sinnigerweise mit dem Dixieland-Revival der 1940er Jahre, dann erklärt er die harmonischen, rhythmischen und ästhetischen Neuerungen des Bebop, den Einfluss afro-kubanischer Elemente, aber auch die Frage, warum Jazzmusiker so gerne Aufnahmen mit Streichern machen. Cool Jazz, Hard Bop, Miles Davis, Bill Evans, Bürgerrechtsbewegung und Tourneen für das State-Department – viele der Fragen sind in diesen historischen Kapiteln so allgemein gehalten, dass sie Whitehead einfach nur zu knappen Zusammenfassungen von Jazzgeschichte animieren. Die Frage-Antwort-Struktur des Buchs erlaubt es ihm dabei allerdings, den Erzählfluss zu unterbrechen und das nächste Kapitel mit Ausrichtung auf die neue Frage jeweils aus einer anderen Perspektive zu beantworten.

“Was ist Avantgarde-Jazz”, beginnt eine weitere historische Abteilung, in der er bald über verschiedene Aspekte des Free Jazz, der Fusion, der 1970er und 1980er Jahre reflektiert. Und im letzten Kapitel nähert er sich sowohl Wynton Marsalis und den Young Lions als auch der aktuellen Jazzausbildung an Hochschulen. Steve Colemans Konzept der “M-Base” wird erklärt, aber auch die Conduction, also die Improvisationsdirigate etwa von Butch Morris. “Sind alle großen Jazzmusiker in New York zu Hause?” lautet eine Frage, und Whiteheads Antwort ist: Sicher nicht, aber vor allem in New York bekommen sie die größere Beachtung.

Die Frage der Fragen steht fast am Schluss des Buches: “Gibt es überhaupt noch eine Jazz-Avantgarde?” heißt sie, und Whitehead stellt klar, dass vieles, was unter diesem Label vermarktet wird, inzwischen eigentlich selbst als historisch bezeichnet werden müsste, weil die Parameter, nach denen sich die musikalische Ästhetik etwa freier Improvisationsmusik oder anderer sogenannter “cutting-edge”-Programme richtet, bereits vor Jahrzehnten festgelegt wurden.

“Warum Jazz? 111 gute Gründe” ersetzt keine Jazzgeschichte, aber in der häppchenartigen Weise, in der Kevin Whitehead sowohl allgemeine wie auch recht spezielle Fragen zum Jazz beantwortet, erfährt man nicht nur als Laie jede Menge über den Jazz, sondern wird auch als Kenner auf Facetten gestoßen, die einem Teile der Jazzgeschichte in neuem Licht erscheinen lassen. Dass der Autor die Entwicklungen in Europa bis auf wenige Seiten weitestgehend ausklammert, ist wohl vor allem der Tatsache zu verdanken, dass er sein Buch ursprünglich für ein amerikanisches Publikum geschrieben hat. Eine Erklärung hierzu – im Vorwort oder zumindest im Rahmen einer 112. Frage wäre ganz sinnvoll gewesen, zumal Whitehead selbst lange Zeit in Europa lebte und einen guten Einblick in die Entwicklungen hierzulande besitzt. Aber vielleicht ist es nicht die schlechteste Schlussfolgerung, wenn man sich nach 111 Fragen und Antworten dazu gedrängt fühlt, noch weitere zu stellen…

Wolfram Knauer (Juli 2014)


Jazz Me Blues. The Autobiography of Chris Barber
von Chris Barber (mit Alyn Shipton)
Sheffield 2014 (equinox)
172 Seiten, 19,999 Britische Pfund
ISBN: 978-1-84553-088-4

2014barberChris Barber hat auf seine eigene Art Jazzgeschichte geschrieben. Er hat den britischen Trad-Jazz, der lange Zeit recht puristisch auf New Orleans, auf kollektives Zusammenspiel, auf die Stilhaltung des Jazz der 1920er Jahre fokussiert war, in eine Gegenwart geholt, in der Skiffle, Blues und Rock ‘n’ Roll eine nicht minder wichtige Rolle spielten. Er entwickelte einen Stil, der auf der einen Seite die archaischen Seiten des frühen Jazz auf europäisches Ebenmaß glättete, verlor auf der anderen Seite nie den Respekt vor den Ursprüngen des Jazz aus den Augen und war sich durchaus auch der Entwicklungen dieser, “seiner” Musik bewusst, dessen Fans Barbers eigenen musikalischen Offenheit vielfach wohl nicht gefolgt wären.

In Zusammenarbeit mit Alyn Shipton hat Barber jetzt seine Autobiographie vorgelegt. In ihr erzählt er von seiner Kindheit in Londons Vorstädten, seiner Sozialisation in einem bewusst sozialistischen Haushalt und seiner ersten Begegnung mit dem Jazz durch den BBC. Er erhielt Geigenunterricht, kaufte sich seine ersten Jazzplatten, Louis Armstrong, Bessie Smith, Jelly Roll Morton, Duke Ellington, aber auch Blues von Sleepy John Estes oder Cow Cow Davenport. Nach dem Krieg zog seine Familie nach London, wo Barber Humphrey Lytteltons Band hörte und sich entschied, dass er Posaune spielen wollte. Er begann ein Mathematikstudium, dass er dann zugunsten der Musik aufgab. Er spielte mit verschiedenen Londoner Bands und erzählt, wie er und seine Musikfreunde verschiedenen Idolen des frühen Jazz anhingen, sie sich gegenseitig vorstellten und dabei immer tiefer in die Musik eindrangen.

Barber gründete eine Band zusammen mit dem Klarinettisten Monty Sunshine, der bald auch der Kornettist Ken Colyer und der Banjospieler und Gitarrist Lonnie Donegan angehörten und die 1953 und 1954, nachdem Colyer von einer längeren Reise nach New Orleans zurückgekehrt war, unter dem Namen Ken Colyer’s Jazzmen ihre ersten Aufnahmen vorlegte. Sie spielten Jazz ihrer Idole, daneben aber auch Trionummern mit Gesang und Banjo (Donegan), Gitarre (Colyer) und Bass (Barber), eine Besetzung, die die englische Tradition der Skiffle Musik begründete. Pat Halcox ersetzte Colyer, Donegan machte eine Solokarriere, Sunshine wurde Anfang der 1960er Jahre durch Ian Wheeler ersetzt, außerdem kam die die irische Sängerin Ottilie Patterson hinzu. Barbers Band aber war ab etwa 1953 ein Erfolgsmodell, tourte regelmäßig durch ganz Europa und beeinflusste mit ihrer Art eines weniger archaischen Dixieland eine ganze Generation von Jazzmusikern insbesondere in Skandinavien und Deutschland (wo nicht ganz ohne Grund die Hansestadt Hamburg unter traditionellen Jazzfreunden bald nur noch “Freie und Barberstadt Hamburg” hieß).

“Petite Fleur”, aufgenommen 1959, wurde ein Hit selbst in den USA, und Barber begründet die Tatsache, dass ihre Aufnahme sich besser verkaufte als das Original von Sidney Bechet mit der Tatsache, dass Monty Sunshine das Stück von einem Plattenspieler abgehört habe, der ein wenig zu schnell lief und es daher einen Halbton höher spielte als Bechet, was bestimmten Harmoniewechseln im Stück besonders gut getan hätte. In der Folge tourte Barber 1960 durch die Vereinigten Staaten, hörte jede Menge Jazz und Blues, traf auf traditionelle Kollegen, hörte aber auch die Musik der Zeit, etwa beim Monterey Jazz Festival, wo seine Band am selben Abend auftrat wie Ben Webster, Coleman Hawkins, J.J. Johnson und Ornette Coleman.

Zu seine großen Tourneen lud Barber sich immer amerikanische Stars ein, angefangen bei Bluesgrößen wie Sister Rosetta Tharpe, Sonny Terry, Brownie McGhee, Jimmy Witherspoon über Vertreter des klassischen Jazz wie Ed Hall, Albert Nicholas, Musiker des swingenden Mainstream wie Ray Nance oder Wild Bill Davis, R ‘n’ B-Musiker wie Louis Jordan, moderne Kollegen wie Joe Harriott oder John Lewis oder Musiker aus dem Poplager wie Van Morrison oder Paul McCartney.

Vielleicht ist es der Bescheidenheit Barbers zu verdanken, die ihn so liebenswert und unter Kollegen unterschiedlichster Stilrichtungen so beliebt gemacht hat, dass seine Autobiographie nicht selbst-erforschender ist, nicht weiter in die Tiefe dringt. Er nennt die Namen, viele Sessions, etliche Anekdoten. Über ihn selbst selbst aber erfahren wir leider recht wenig, auch seine musikalische Ästhetik scheint eher zwischen den Zeilen durch. Und so ist das Buch vor allem eine in Prosa gefasste Chronologie von Ereignissen, Plattenaufnahmen, Konzerten, wechselnden Besetzungen, mit dazwischen gestreuten, selbsterlebten oder von Kollegen gehörten Anekdoten. “Jazz Me Blues” ist damit ein stellenweise etwas namenslastiges, nicht überall flüssig zu lesendes Buch, das dennoch wichtige Facetten einer Spielart des europäischen Jazz beleuchtet. Und vielleicht ist es ja wirklich anderen überlassen, das alles etwas kritischer und mit Bezug auf die gesellschaftlichen wie musikalischen Veränderungen der Zeit, die Barber ja selbst mit geprägt hat, zu beschreiben.

Wolfram Knauer (August 2014)


Chet Baker. The Missing Years. A Memoir by Artt Frank
von Artt Frank
Charleston/SC 2014 (BooksEndependant)
215 Seiten, 19,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-9887687-4-1

CBMY_Cover_CS_v20140213_01.inddArtt Frank ist ein eher unbekannter Musiker des Jazz. In Tom Lords Diskographie sind gerade mal vier Sessions verzeichnet, die Frank ab 1997 als Schlagzeuger tätigte. Sein eigener “claim to fame” aber reicht zurück bis in die Mitt-1950er Jahre, als er zum ersten Mal Chet Baker im Bostoner Storyville Jazzclub hörte. Sie freundeten sich an, naja, sie sprachen anfangs des öfteren miteinander, und wann immer Frank in der Gegend war, in der Baker auftrat, stellte er sicher, dass er beim Konzert vorbeischaute. Ende der 1960er Jahre aber, als Baker nicht weit entfernt von Frank wohnte, der in Los Angeles als Maler arbeitete, wurde die Freundschaft enger, sie trafen sich immer wieder, und der Trompeter vertraute Frank viel Persönliches an, über seine Familie, über seine Drogensucht, über künstlerische und geschäftliche Entscheidungen.

Franks Memoiren bilden diese Gespräche mit Baker ungemein lebendig erzählt ab, zum Teil mit erinnerten wortwörtlichen Zitaten. Ein wenig literarisch mutet das zum Teil an und man fragt sich, wie sehr man der Erinnerung des Autors trauen darf. Aber dann ist Geschichte nun mal immer die Sammlung von Erinnerungen, und Franks Erinnerung an Baker ist sicher weitaus tiefer als die selbst der meisten Biographen des Trompeters.

Mit dem Wissen also, dass man weder eine Biographie noch eine fundierte historische Studie vor sich hat, lässt sich aus Franks Buch eine Menge über Bakers Persönlichkeit herauslesen. Ein zweiter Band ist geplant.

Wolfram Knauer (August 2014)


Free Jazz and Improvisation on Vinyl 1965-1985. A Guide to 60 Independent Labels
von Johannes Rød
Oslo 2014 (Rune Grammofon)
110 Seiten, 299 Norwegische Kronen
ISBN: 82-92598-87-1

2014rodOrnette Coleman brachte seine großen Quartettaufnahmen bei Atlantic heraus, Cecil Taylor nahm für Blue Note auf, John Coltrane für Impulse – zu Zeiten, als diese Labels bereits den Schritt von unabhängigen Plattenfirmen zu den Majors gegangen waren. Die meisten Entwicklungen des Free Jazz der Jahre 1965 bis 1985 aber wurden auf kleinen unabhängigen Labels veröffentlicht, oft genug Ein-Personen-Firmen, die mal weniger, mal mehr Produktionen pro Jahr herausbringen konnte und selten Mittel für aufwändige Produktionen besaßen. Und so waren die Platten in der Regel eine labor of love, aus dem Drang entstanden, eine Musik zu dokumentieren, die, weil der freien Improvisation verpflichtet, ansonsten verklungen wäre.

Johannes Rød hat 60 dieser kleinen Labels in seinem Buch dokumentiert, von “A” wie dem Label About Time bis “V” wie der Firma Vinyl. Die Klassiker sind dabei, allen voran die deutschen FMP und Moers Music, das Schweizer HatHut Label, Black Saint und Soul Note aus Italien, ICP aus Holland, Incus aus Großbritannien, BYG Actuel aus Frankreich sowie die vielen amerikanischen Kleinstlabels wie Delmark, ESP, Flying Dutchman, Nessa, Strata-East oder Saturn. Rød beginnt jedes Kapitel mit einer Kurzdarstellung der Labelgeschichte, Hintergründen zur Entstehung, zu den Menschen, die die Musik produzierten, zur Programmpolitik. Dann folgt, wie auf Linienpapier eines altertümlichen Bestandsbuches die Diskographie im Bereich des Free Jazz bzw. der frei improvisierten Musik: Plattennummer, Künstler und Titel der Platte sowie Jahr der Veröffentlichung. Kurz und prägnant; weder Angaben zur Besetzung noch über eventuelle Wiederveröffentlichungen. Einige der großen, einflussreichen Labels erhalten einen ausführlicheren, bis zu einer Seite umfassenden Darstellungstext, ansonsten sind es meist nur wenige Zeilen. In der Mitte des Buchs finden sich sechzehn farbige Seiten, auf denen jeweils vier Plattencover abgebildet sind. Ein Epilog verweist auf weitere Veröffentlichungen, aber auch auf Entscheidungen des Autors, welche Labels er aufnehmen, welche er außer Acht lassen wollte. Schließlich findet sich noch ein Interview, dass der Journalist Rob Young mit dem norwegischen Labelchef Rune Kristoffersen führte, in dessen Verlag das Buch ja auch erschien und in dem dieser die Bedeutung der unabhängigen Labels für die Geschichte insbesondere des Free Jazz seit den 1960er Jahren erzählt. Er reflektiert darüber hinaus über Unterschiede zwischen europäischen und amerikanischen Produktionen und über die Veränderungen des Marktes während der 20 Jahre, die das Buch abdeckt sowie der Zeit danach.

Johannes Røds Buch ist ein wenig Dokumentation von Dokumentation, eine in ihrer Nüchternheit fast buchhalterische Darstellung des Free Jazz als einer Musik, die ihre historische Komponente auch dank der Leistung all dieser kleinen freien Labels erhielt. Das Buch wendet sich letzten Endes an Sammler, die mit ihm einen Katalog der wichtigsten Kleinauflagen des Genres an die Hand bekommen, edel gebunden, auf gutem Papier gedruckt und in einem Layout, das deutlich macht, dass nicht nur die Arbeit all dieser Labels, sondern auch die Leidenschaft der vielen Sammler eine labor of love ist.

Wolfram Knauer (August 2014)


Philosophie des Jazz
von Daniel Martin Feige
Frankfurt 2014 (Suhrkamp)
142 Seiten, 14,40 Euro
ISBN: 978-3-518-29696-7

2014feigeWas ist eigentlich Jazz? Diese Frage wird unterschiedlich beantwortet, je nachdem aus welcher Warte der Gefragte auf die Musik blickt. Der Musikwissenschaftler wird die harmonischen, rhythmischen, formalen, konzeptionellen Strukturen der Musik erklären können, der Historiker wird auf Entwicklungs- und Einflussstränge verweisen, der Soziologe wird sich vielleicht mit der Improvisation als einem gesellschaftlichen Modell befassen, der Linguist mit den musikalischen Äquivalenten von Vokabeln und Satzstrukturen, der Musiker wird einfach spielen, der Fan wird verzückt hören.

Was aber antwortet der Philosoph? Nun, Philosophen haben sich selten über Jazz geäußert, und wenn sie es taten, dann durchaus schon mal mit gehörigem Missverständnis wie im Fall Theodor W. Adornos, dessen Äußerungen zum Jazz eigentlich erst dann Sinn ergeben, wenn man sich die Musik vor Augen hält, die Adorno zur Zeit, als er diese Aufsätze schrieb, kennen konnte (oder kennen wollte). Ein großes Problem aller Auseinandersetzung mit dem Jazz nämlich ist ein terminologisches: Welchen Jazz meinen wir eigentlich? Sprechen wir von Jazz und denken dabei an eine im Volkstum von New Orleans verankerte Kunst, so haben wir eine grundsätzlich andere Situation als wenn wir von Jazz sprechen, aber die frei denkende und improvisierende Szene der europäischen 1960er und 1970er Jahre vor Augen haben.

Es ist also an der Zeit, dass sich ein veritabler Philosoph mit dieser Musik auseinandersetzt, und es ist angesichts der ausgeführten Probleme vielleicht ganz passend, dass Daniel Martin Feige seine Ausführungen nicht etwa mit der Frage nach dem Jazz beginnen lässt. Stattdessen beginnt er mit der Frage: “Was ist eine Philosophie des Jazz?”, und arbeitet erst einmal die Merkmale der Philosophie heraus, um dann auf Besonderheiten des Jazz einzugehen. “Man kann”, schreibt er, “über den Jazz nicht nachdenken, ohne zugleich kontrastiv über andere Arten von Musik und hier vor allem die Tradition der europäischen Kunstmusik nachzudenken.” Bei solch einem vergleichenden Ansatz bestünde die Gefahr falscher Maßstäbe, wenn man den Jazz aber kontrastiv zur europäischen Kunstmusik erläutere, ließe sich diesem Einwand trefflich begegnen.

In seinen einzelnen Kapiteln diskutiert Feige das improvisatorische Unterscheidungsmerkmal des Jazz (zur komponierten europäischen Kunstmusik), das Verhältnis zwischen improvisierten Performances und dem Werkverständnis (und der Bedeutung von Standards im Jazz), befasst sich mit den individuellen und kollektiven Aspekten in der musikalischen Praxis und hier insbesondere mit dem interaktiven Moment künstlerischen Handelns als verkörperter Tradition, um schließlich vom kontrastierenden Ansatz abzuweichen und eine generelle These aufzustellen, dass nämlich Jazz etwas explizit mache, was für Kunst als solche wesentlich sei. Somit gelangt Feige am Schluss seines Buchs von der Frage danach, was denn eine Philosophie des Jazz wohl ausmache, zu einer These über die philosophische Relevanz des Jazz über die rein musikalische Praxis hinaus.

Daniel Martin Feiges “Philosophie des Jazz” ist keine leichte Lektüre. Weder ersetzt das Buch eine Jazzgeschichte noch fasst es bisheriges ästhetisches oder philosophisches Nachdenken über Jazz konzis zusammen. Feige entwickelt seine Philosophie des Jazz aus dem intensiven Nachdenken über eine Musik, die ihm als mitteleuropäischer Philosoph natürlich auch die eigene Denkhaltung permanent vor Augen führt, und die schon von daher eine Kontrastierung mit der ästhetischen Wirklichkeit, aus der heraus er Musik erfährt, sinnvoll macht. Man möge daher vielleicht die Einschränkung erlauben, dass es sich bei Feiges Buch vor allem um eine “Europäische Philosophie des Jazz” handelt oder wenigstens um eine “Philosophie des Jazz aus europäischer Sicht”, denn die Kontrastierung mit der europäischen Kunstmusik, aus der heraus er seine Thesen entwickelt, kommt gewiss zu anderen Schlussfolgerungen als es eine Kontrastierung etwa mit afro-amerikanischen Traditionen tun würde. Westliche Philosophie, kritisiert Alison Baile, produziere immer noch Erkenntnisse über Wissen, Realität, Moral und die menschliche Natur, für die sie Aspekte wie Hautfarbe oder Geschlecht als nicht notwendige Kriterien erachte [“In its quest for certainty, Western philosophy continues to generate what it imagines to be colorless and genderless accounts of knowledge, reality, morality, and human nature” (Center on Democracy in a Multiracial Society. Towards a Bibliography of Critical Whiteness Studies, Urbana/IL 2006: p. 9)]. Eine Perspektivklärung aber ist von jeder Seite her notwendig, um eine Sache möglichst umfassend zu verstehen. Und so ist Daniel Martin Feiges Perspektive auf den Jazz aus europäischer philosophischer Sicht ein trefflicher, notwendiger und weiter-zu-diskutierender Beitrag zum Nachdenken über Jazz als universelle künstlerische Äußerung, ein Beitrag, wohlgemerkt, zu einer noch zu schreibenden umfassenderen Philosophie des Jazz.

Wolfram Knauer (September 2014)


Das zeitgenössische Jazzorchester in Europa. Einblick in Tendenzen, Strömungen und musikalische Einflüsse des großorchestralen Jazz
von Daniel Lindenblatt

München 2014 (Akademische Verlagsgemeinschaft)
117 Seiten, 34,90 Euro
ISBN: 978-3-86924-593-5

2014lindenblattIst Bigband-Jazz nach wie vor eine aktuelle Musik? Neben großbesetzten Ensembles, die in der Tradition der klassischen Jazz-Bigband spielen, gibt es etliche Projekte, die den Sound dieser Instrumentierung erweitern und die Bigband damit ins 21ste Jahrhundert überführen. Eine Spurensuche der Möglichkeiten unternimmt Daniel Lindenblatt in seiner wissenschaftlichen Arbeit über Aspekte des aktuellen Bigbandjazz in Europa.

Lindenblatt beginnt seine Darstellung mit dem Versuch einer terminologischen Unterscheidung zwischen “Bigband” und “Jazzorchester” (die so kategorial nicht ausfällt, wie es im Klappentext des Buchs behauptet wird), um dann über die Jahrzehnte seit der Swingära die Besetzungscharakteristika zu verfolgen und insbesondere die Besonderheiten des großorchestralen Jazz in Deutschland herauszustreichen, einem Land, dass nicht zuletzt durch seine Rundfunk-Bigbands eine besonders aktive und kreative Szene in diesem Bereich besitzt. Ein zweites Kapitel widmet sich Definitionsfragen im Jazz ganz allgemein, erläutert den Begriff des “ästhetischen Felds” des Jazz, das sich aus der Summe seiner Geschichte speist, und geht auf das Verständnis von Jazz als einer “grundsätzlichen Spielhaltung” ein, wie es insbesondere von europäischen Musikern gehegt wird. Ein Unterkapitel widmet sich dem für sein Thema besonders wichtigen Bereich der Komposition im Jazz, wobei Lindenblatt auch diskutiert, inwieweit die aus der klassischen Musik übernommene Idee eines Werkcharakters im Jazz funktioniere bzw. gegebenenfalls anders gefasst werden müsse.

Im praktisch-analytischen Teil seiner Arbeit greift Lindenblatt dann vier Fallbeispiele heraus, die er analysiert, um Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Tendenzen herauszuarbeiten. Für Geir Lysne etwa stellt er fest, dass dieser auch die improvisatorischen Teile seiner Kompositionen in dramaturgische Bögen einbinde, dass er bewusst folkloristische Elemente benutze, um “über das kompositorische Handwerk hinaus weitere charakterisierende Elemente” einzubringen, und dass er seine Stücke gern modal konzipiere. Diese Erkenntnisse baut er schließlich in eine Diskussion des “nordischen Tons” ein, der sicher nicht nur im Jazz, hier aber besonders geführt wird. Am Beispiel Rainer Tempels zeigt Lindenblatt, wie dieser sich sowohl einer traditionellen Bigband-Sprache als auch eher aus dem zeitgenössischen Kompositionsbereich abgeleiteter serieller Kompositionsprinzipien bediene. Monika Roscher wiederum benutze darüber hinaus auch “Einflüsse aus moderner Popularmusik und dessen Klangästhetik(en)” und erreiche dadurch eine bewusste Abwendung von “tradierten Konventionen des Bigband-Jazz”. Das Backyard Jazzorchestra schließlich arbeite insbesondere mit Elementen verschiedener folkloristischer Provenienz.

Die beiden Richtungen, die Lindenblatt in seinen Beispielen herausstreicht, beleuchten auf der einen Seite den Umgang der Bigband mit den Konventionen ihres eigenen Subgenres, auf der anderen Seite die Möglichkeiten dieser Besetzung, folkloristische Elemente aufzunehmen. Insbesondere in Europa gäbe es hier Entwicklungen, die weit von der jazz-spezifischen Traditionsbindung fortführten (wie sie in Amerika immer noch das Klangbild der Jazzorchester bestimmt).

Lindenblatts Arbeit entstand als wissenschaftliche Studie und liest sich entsprechend akademisch. Seinen Lesern kommt der Autor in kurzen Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel entgegen, lässt aber leider eine konzis formulierte Fragestellung vermissen. Seine im Vorwort des Buchs vorgetragenen Thesen haben stattdessen etwas Gemeinplatz-artiges (“Die ästhetischen Entwicklungen des zeitgenössischen Jazz spiegeln sich weiterhin in zeitgenössischen Großformationen des Jazz wi[e]der” / “Für das zeitgenössische Jazzorchester lassen sich Tendenzen und musikalische Einflüsse feststellen, deren Herkunft sich eindeutig auf eine europäische Musikkultur zurückführen lassen” / “Eine ‘Vielfalt der Stile’ kann in eine Vielfalt der Ästhetiken übersetzt werden”), und auch die lobenswerten Lupenblicke auf vier konkrete Beispiele führen nicht wirklich über das hinaus, was man bereits geahnt hat. Immerhin richtet Lindenblatt sein Augenmerk wirklich auf aktuelle Großformationen, bleibt aber auch hier zu musikimmanent, beschreibt und schlussfolgert, fragt jedoch nirgends nach dem Warum. Diese Frage allerdings bleibt dem Leser (zumindest diesem Leser) nach der Lektüre im Kopf. Warum schreiben Lysne, Tempel, Roscher oder Schultze so, wie sie schreiben, warum klingen die Bands so, wie sie klingen, welche konkreten Erkenntnisse lassen sich aus den zahlreichen analytischen Beobachtungen, die Lindenblatt anstellt, ziehen, und zwar mit klarem Bezug zu einer (zu welcher?) grundlegenden Fragestellung?

Wolfram Knauer (September 2014)


Piano Works
von Hank Jones
Santa Monica/CA ca. 2014 (Universal Music Publishing Group)
40 Seiten, 29,20 Euro

2014jonesHank Jones war einer der bedeutendsten Pianisten des 20sten Jahrhunderts. Er ist ab den 1940er Jahren auf unzähligen Aufnahmen präsent als immer geschmackssicherer Begleiter und virtuoser Solist. Seit den 1950er Jahren hat er zudem viele Einspielungen mit eigenem Trio gemacht. In den 1970er Jahren machte insbesondere das Great Jazz Trio von sich Reden, in dem Jones mit Ron Carter und Tony Williams zusammenspielte. Auf solchen Einspielungen war Jones vor allem als Interpret von Standards zu hören; daneben aber war er immer auch als Komponist aktiv.

Die in diesem Band enthaltenen Stücke stammen zumeist aus der Zeit nach 1970 und zeigen, wie Bob Blumenthal in seinem Vorwort betont, dass er die harmonischen Entwicklungen seines Bruders Thad, Oliver Nelsons und anderer Zeitgenossen wahrgenommen habe. Es gibt Blues (“Peedlum”) und harmonisch offenere Stücke (Passing Time”), Balladen (“Take a Good Look”) und Walzer (“Lullaby”). Die Lead-Sheets enthalten die themenmelodie, z.T. akkordisch gesetzt, sodass man einen kleinen Eindruck der typisch Jone’schen Voicings erhält, sowie die Harmoniegrundlagen der Improvisationschorusse, für einzelne Titel (“Alone & Blue”, “Good Night”) auch Texte. Weitere Titel sind “A Darker Hue of Blue”, “A Major Minor Contention”, “Ah Oui”, “Bangoon”, “Duplex”, “Good Night”, “Interface”, “Intimidation”, “Orientation” und “Sublime”.

Zwischen Bebop, Uptempo und Ballade finden sich in diesem Band wunderbare Piècen, die den Geist Hank Jones’ hervorrufen, zugleich aber auch jedes Repertoire bereichern können.

Wolfram Knauer (April 2014)


We Thought We Could Change the World. Conversations with Gérard Rouy
von Peter Brötzmann & Gérard Rouy
Hofheim 2014 (Wolke Verlag)
191 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3-95593-047-9

2014broetzmannGérard Rouy begleitete den Filmemacher Bernard Josse im November 2008 und im August 2009, als dieser seinen Film “Soldier of the Road” über Peter Brötzmann drehte. Rouy war dafür zuständig, den Saxophonisten zum Erzählen zu bringen, und Rouy berichtet, wie frustrierend es für ihn gewesen sei, dass der Film naturgemäß nur einen Bruchteil der Gespräche wiedergeben konnte. Im vorliegenden Buch werden diese Gespräche nun auf 100 Seiten gesammelt, daneben enthält es knapp 60 Seiten Fotos, die Gérard Rouy über die Jahrzehnte von Brötzmann machte, sowie Abbildungen diverser Kunstwerke des Saxophonisten, eine knappe Diskographie und einen Namensindex.

Die Gespräche drehen sich vor allem um Biographisches und Ästhetisches. Brötzmann erzählt über seine Kindheit in Schlawe im heutigen Polen, seine Jugend in Remscheid. Er erzählt vom Einfluss der Nachkriegszeit auf seine musikalische Haltung, vom Unterschied der ästhetischen Ansätze gleichaltriger europäischer Musiker, die durch ihre jeweiligen nationalen Erfahrungen geprägt waren. Brötzmann las Joachim Ernst Berendts Jazzbuch und hörte Willis Conovers Jazzsendung auf der Voice of America und war anfangs vor allem vom traditionellen Jazz fasziniert. Er spielte Klarinette zu den Platten, die er besaß und baute sich ein eigenes Schlagzeugset. Mit 17 Jahren entschloss er sich die Schule zu schmeißen und an der Kunstakademie in Wuppertal zu studieren. Auf dem Saxophon sei er reiner Autodidakt gewesen; seinen eigenen Sound sieht er als Resultat seines technisch “falschen” Ansatzes. In der Wuppertaler Galerie Parnass half er 1962 bei einer Ausstellung Nam June Paiks aus, der ihm die Welt John Cages öffnete.

Brötzmann erzählt vom deutschen Jazz der 1960er Jahre, von den ersten Schlagzeugern, mit denen er zusammenspielte, von Auftritten mit Alexander von Schlippenbachs Globe Unity Orchestra und ersten pan-europäischen Projekten. Er resümiert über die Weltveränderungsgedanken, die 1968 auch durch die Jazzszene schwappten, zeigt sich aber auch als Realist, der schnell erkannte, dass “wir vielleicht nicht die Welt nicht verändern können, dass wir aber sehr wohl von Zeit zu Zeit das Denken der Menschen beeinflussen können”. Ein eigenes Kapitel ist dem Projekt “Free Music Production” gewidmet, an deren Entstehung Brötzmann und Peter Kowald beteiligt waren. FMP schuf auch eine Verbindung zu Musikern aus dem Osten Deutschlands, und Brötzmann erzählt von Konzerten in der DDR und der Schwierigkeit, mit der Ostgage sinnvolle Dinge zu erstehen, da das Geld im Westen nur einen Bruchteil wert war. Er berichtet über sein Trio mit Fred van Hove und Han Bennink und über gemeinsame Projekte mit Albert Mangelsdorff, die halfen, dass einige der vehementen Kritiker seiner Musik ihm eine weitere Chance gaben.

Das Kapitel “Freundschaften” handelt von Misha Mengelberg, Frank Wright, Sonny Sharrock, geht aber auch auf gesellschaftspolitische Ansichten Brötzmanns ein. Er erzählt ausführlich von Parallelen zwischen seiner Musik und seinen bildenden Kunstwerken – der Unterschied der beiden Berufe sei vor allem, dass man als Maler allein arbeite – und identifiziert einzelne ikonographische Versatzstücke seiner Malerei. Er erzählt offen über seine Alkoholprobleme in der Vergangenheit und darüber, dass er Glück gehabt habe, den Absprung geschafft zu haben. Es gibt Leute, die meinen, im Alter sei Brötzmann melodischer geworden; er selbst aber findet, dass dieses Interesse an der Melodie immer dagewesen sei. Auch habe ihm bei allem Bemühen “sein eigenes Ding” zu machen, der amerikanische musikalische Ansatz in Bezug auf Songs oder den Blues immer gefallen. Improvisation sieht er größtenteils als Vergnügen, aber auch als Risiko, wobei sich diese beiden Seiten nicht ausschlössen. Er besäße sehr unterschiedliche Instrumente; seine Saxophonsammlung allein sei mittlerweile fast zu groß geworden.

Musiker zu sein, sei immer ein schweres Brot gewesen, die Zukunft der Musik aber sei in Gefahr, wenn selbst bei staatlich subventionierten Maßnahmen nur der breite Erfolg zähle. Es gäbe da sicher eine gehörige Überproduktion an Kunst, ihn selber eingeschlossen, im großen und ganzen aber seien vor allem die Strukturen, die noch in den 1970er und 1980er Jahren funktioniert hätten, den Bach runtergegangen. “Die jungen Leute kommunizieren nur noch über das Internet”, bedauert er und prophezeit: “Ich glaube, das ist sowieso das Ende aller Musik.” Bei allem Pessimismus müsse man als Musiker aber versuchen, das, was man selber mache, möglichst gut zu machen, um die Menschen zu erreichen und zu überzeugen.

“We Thought We Could Change the World” ist eine ausgesprochen lesenswerte Reflektion über Brötzmanns eigenen Lebensweg, seine Ideale und die Wirkung seiner Kunst. Die Musik ersetzt ein solches Buch nicht, aber sie bietet erhebliche zusätzliche Information. Rouys Fotos begleiten Brötzmann in diversen Projekten zwischen 1972 und 2009 und leiten sehr gelungen zu dem über, was auch nach der Lektüre dieses Buchs im Mittelpunkt stehen sollte: den Genuss einer Platte oder die Vorfreude aufs nächste Konzert.

Wolfram Knauer (April 2014)


Thelonious Monk Quartet with John Coltrane at Carnegie Hall
von Gabriel Solis
New York 2014 (Oxford University Press)
183 Seiten, 16,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-974436-7

2014solisIn 1957 John Coltrane followed Sonny Rollins as tenor saxophonist in Thelonious Monk’s band for half a year which resulted in one of the most important partnerships in jazz. The two made a couple of studio recordings, and later several bootlegs added to their discography. In 2005, Larry Appelbaum discovered tapes of a benefit concert played at Carnegie Hall, made for the Voice of America, but never broadcast. The recording was issued and celebrated by fans and critics alike. One main difference to bootlegs was that, unlike most other live recordings, this concert had originally been meant to be recorded and broadcast.

Gabriel Solis who is the author of one of the major studies of Thelonious Monk’s music, “Monk’s Music. Thelonious Monk and Jazz History in the Making” from 2008, examines the resulting album as a document of a crucial period in the musical development of both John Coltrane and Thelonious Monk, but he also asks “questions about changes in jazz over the course of the twentieth century, and critical questions about jazz’s place in American culture”.

In his introduction Solis places the recording within jazz history of its time, pointing out that the 1950s were “an exceptional moment for live jazz recordings”, introducing a different consciousness for the music both within the listener and the musicians. Solis then discusses the concepts of improvisation, composition, interaction, and repetition in jazz to lay ground for an understanding of his later analyses. Solis follows the concept of repetition from small to large, from motif, groove, and rhythm to chorus and repetition of pieces in a repertoire. He shortly touches upon aesthetic connotations of repetition in an African-American context. Solis then raises the question of composition and improvisation, terms which often are used too rigidly to do the music itself justice. Rather than view the two as antitheses, he refers to Bruno Nettl who described them as fundamentally part of the same idea. Solis focuses the reader’s attention on connotations of these and other terms so that they will read them with caution in his later text, that they will understand that whenever he speaks of composition there is an improvisational element present and vice versa. From small to big, Solis ends this part of his discussion with a reflection upon the “Werkbegriff” in jazz, a highly European concept that had an influence on jazz insofar as it has influenced all judgement of “established” music and kept jazz on the other side of the field for a long time. The result was, Solis concludes, that not Ellington, Parker, Coltrane, Monk earned the first Pulitzer for a jazz piece but Wynton Marsalis’ “semiclassical oratorio ‘Blood on the Fields'”. Solis ends his introduction with a short overview of the book’s chapter outline, part 1 looking at the careers of both protagonists up to the time of the concert as well as at the occasion of the concert, a benefit for the Morningside Heights Community Center, and the concert program aside from the Coltrane/Monk bill; part 2 analysing the eight tracks issued in four chapters, focusing on “the most compelling aspects of the particular performances”; and part 3 looking at the recording’s release in 2005 and its critical and aesthetic reception.

Chapter 1 looks at the musical partnership between Thelonious Monk and John Coltrane and how it affected both of their musical aesthetic and careers. Solis explains the different perception of the two artists, Monk as a composer, Coltrane as a performer/improviser. He discusses the various sidemen Monk hired for recordings since the 1940s and how their participation in and interpretation of his music affected his own style. Biographical asides are left at that, no explanation, for instance as to why Monk lost his cabaret card, but that is in line with the argument of his book which tries not to be biographical in the least and should be read alongside the biographies Solis lists in his bibliography (his own included). Solis mentions influences and experiences on John Coltrane’s much more recent career and his period working with Miles Davis. He explains how Coltrane and Monk got together in 1957 and then gives a short run-down of the existing studio recordings by the two musical partners. Monk’s influence on Coltrane is attested to, not the least by the saxophonist himself who acknowledged that he had learned “a lot, (…) little things” while working with Monk. The influence, Solis argues, was not merely musical, but aesthetic as well: “Monk gave Coltrane space and freedom”. And, he continues, Coltrane learned “a more sophisticated conception of form in solos”, he learned “musical direction”, he learned how to pay attention to “musical form”.

Chapter 2 starts with a discussion of the “‘jazz concert’ phenomenon” and how a concert on the stage of Carnegie Hall had to differ from a set in a New York night club. Solis looks at the idea of a jazz concert as a genre upon itself, discussing its history from the Clef Club through Benny Goodman’s and Duke Ellington’s Carnegie Hall concerts and Norman Granz’s Jazz at the Philharmonic events. He describes the specific story behind the benefit for the Morningside Heights Community Center and lists the other artists on the program, Sonny Rollins, Billie Holiday, Dizzy Gillespie, Ray Charles, Austin Cromer, Chet Baker, and Zoot Sims. He looks at the admission fees and asks who the potential audience might have been, and he quotes from contemporary reviews of the concert.

Chapter 3 finally approaches the music itself, the two slow pieces of the first 30-minute set, “Monk’s Mood” and “Crepuscule with Nellie”, two interpretations with hardly any solo playing focused on “the formal structure of the compositions themselves”. Solis is both interested in the ballad approach of the two protagonists and in how Monk’s complex harmonic writing connects with the melodic direction of the pieces. Solis shows the orchestral qualities of “Monk’s Mood”. He describes the two melodies that form the piece, and he explains what he calls “a characteristically ‘Monkish’ ambiguity” in the harmonic approach. He runs down earlier interpretations of the piece by Monk and different bands, then analyses the Carnegie Hall performance, especially pointing out pianistic influences on Monk. Unlike “Monk’s Mood”, “Crepuscule with Nellie” was a new piece in Monk’s repertoire, which, as Solis explains, he continued to treat as “a more or less fixed composition”, never using it as a vehicle for extended improvisation. Solis points to possible influences from Debussy or Chopin and sees the piece’s concept as more pianistic or at least instrumental than that for “Monk’s Mood”. He compares the Carnegie Hall interpretation with later recordings and notices how all of them are similar.

Chapter 4 looks at the two up-tempo numbers from the first set, “Evidence” and “Nutty”. “Evidence”, based upon the harmonies of the standard “Just You, Just Me”, was a staple in Monk’s repertoire, likely to be recognized by the audience, and “Nutty” had a simple harmonic structure. In both pieces, Solis is interested in Coltrane’s solo language and in his reactions to Monk’s “idiosyncratic way of voicing chords”. With Monk, in these pieces, Solis is mostly interested in the way he works with the rhythm section and with the soloist. Solis calls “Evidence” “a study in dissonance”. He looks at the interaction between Monk and drummer Shadow Wilson who mostly keeps time, yet “adds a significant layer of complexity, keeping the head even more rhythmically unpredictable”. He points to changes in tension when Coltrane’s solo starts which he sees as “one large statement, rather than three self-contained choruses”. He also listens closely to Monk’s accompaniment heavily relying on material from the head of the composition. “Nutty” is taken a bit faster than in other recordings of the piece, and Solis compares’ Coltrane’s solo to a studio recording the two had done a bit earlier. Monk’s solo is based upon motivic references to the head.

Chapter 5 examines “Bye-Ya” and “Sweet and Lovely” from the second set, and the author’s interest lies in how the band treats “the songs holistically, approaching them melodically, harmonically, rhythmically, and motivically as complex entities, with musical challenges but also historical contexts and meanings to themselves and their audiences”. As to “Bye-Ya”, Solis discusses connotations of Latin influences in Monk’s life and music. He follows Coltrane through his solo and describes the interaction between the four musicians. “Sweet and Lovely” was the only standard of the evening, and Solis takes the chance to follow the song’s success through Monk’s youth and to ask about his possible interest in the tune which he first recorded in 1952. He examines the composition (“the head”) itself and discovers “Monkish” elements in it, then looks at the interpretation which starts “angular”. He discusses Monk’s approach to what Solis calls his “transitional” solo, points out how he plays with melodic and harmonic motifs and expectations, and how Coltrane follows with a “similarly organized chorus”. After the three choruses, the band pauses, then “jumps into a double time groove that is also at a significantly faster underlying tempo”.

Chapter 6 looks at the final “Blue Monk” and the band’s theme song “Epistrophy”. “Blue Monk” is a starting point for discussing the use of the blues with Monk and Coltrane. Short versions of “Epistrophy” ended both sets of the concert, and Solis asks about “how they placed Monk within the models of artistry and entertainment in the jazz world at the time”. The fact alone that the band had a theme song was unusual for a modern jazz combo. Solis describes the tune as “a cyclical, riff-driven piece, ideally suited to open-ended, vamp-like performances that build energy and can be extended or foreshortened in response to the energy in a room.”

Chapter 7 looks at the recording history of the never-broadcast Voice of America tapes and at the aesthetic context into which it was released in 2005. The release was celebrated by both the jazz and some mass media. Its success, Solis explains, has to be seen in context with the “Young Lions” movement of the 1990s which had revitalized a hardbop approach to jazz and given artists like Monk and Coltrane even more of a canonical status. Solis then focuses on the Blue Note label and its own role in the canonization of certain jazz musicians and asks about how the Carnegie Hall album fit into Blue Note’s catalogue of 2005. Finally he offers an aside about jazz education in the 2000s, the collegiate jazz scene and the university curriculum which jazz had entered by this time and which has “built a particular vision of the canon”.

Gabriel Solis’ book takes a single event, the Carnegie Hall concert by Thelonious Monk with John Coltrane, and uses it to explain what happens in the music itself, how it relates to the musical development of the two protagonists of the concert, how it fits into the context of the jazz aesthetic of the 1950s and how it fits into the context of the time of its release in 2005. The text is heavy on analytical aspects, yet manages to put these into context with the overall questions which the author never leaves out of his and his readers’ attention. It is an excellent addition to the scholarly literature on jazz, looking at details yet explaining so much more.

Wolfram Knauer (April 2014)

Ab Goldap. Rüdiger Carl im Gespräch mit Oliver Augst
Frankfurt/Main 2014 (weissbooks)
224 Seiten (208 Textseiten / 16 Seiten Bildtafel)
beiheftende CD mit 17 Liedern von Rüdiger Carl
30 Euro
ISBN: 978-86337-079-4
(Voraussichtlich im Handel ab 15. Mai 2014)

2014carlRüdiger Carl ist ein Multiinstrumentalist, der die Szene der frei improvisierten Musik in Deutschland seit den 1960er Jahren mitprägte, zugleich aber immer ein wenig zwischen den Stühlen der Avantgarde zu sitzen schien, die sich seit den frühen 1980er Jahren am liebsten von allen Genrefestschreibungen zu distanzieren versuchte. Nun hat Carl auf Anregung von und im Gespräch mit Oliver Augst eine Erzählbiographie vorgelegt, wie man solche Projekte vielleicht am besten nennen sollte, die in letzter Zeit immer öfter erscheinen und die subjektive Sicht ihrer Protagonisten auf ihre eigene Geschichte und die Welt überall durchscheinen lassen. Carls Erinnerungen sind dabei durchaus exemplarisch für den Versuch einer Generation, in einer wie auch immer zu definierenden Avantgarde auf gesellschaftliche Verhältnisse einerseits zu reagieren, sie andererseits zu spiegeln und künstlerisch zu kommentieren.

Das Gespräch beginnt mit Carls Schulzeit in Kassel, einem Klassenlehrer, der politisches genauso wie menschliches Vorbild war. Nebenbei pflegte er Kontakte zum örtlichen Jazzclub. Zwischendrin Rückblenden in die “Urkindheit”, wie Augst sie nennt, die direkte Nachkriegszeit, Hunger, Armut, die Rückkehr des Vaters aus der Kriegsgefangenschaft, eine Welt, die in Carls nüchterner Erinnerung ein wenig an Arno Schmidts Erzählungen exakt derselben Lebenssituationen erinnert: das Schicksal einer Flüchtlingsfamilie – in Ostpreußen geboren kam Carl auf den Fluchtwirren der Zeit über Wien und andere Stationen nach Kassel –, das Schicksal von Spätheimkehrern, die aller Illusionen beraubt waren. Nach der mittleren Reife machte Carl eine Lehre als Schriftsetzer beim Bärenreiter Verlag, wo er Noten genauso wie Mozartbriefe setzte. Er erinnert sich an eine Jugend in den 1950er Jahren zwischen Literaturgesprächen, Konzertabenden und einer Lehre, die ihn einerseits unterforderte, andererseits jede Menge Inspiration für seine spätere künstlerische Arbeit in ihm weckte. Nach der Ausbildung ging er nach Berlin, bewarb sich an der Staatlichen Hochschule für bildende Künste, die ihn ablehnte, jobbte als Schriftsetzer und machte nebenbei Musik. Sein Akkordeon hatte ihm seine Großmutter bereits in Kassel geschenkt; bald tauschte er es gegen eine Querflöte ein, die er autodidaktisch erlernte. Er berichtet von seinen ersten Jazzerfahrungen in Kassel, Standards und Hardbop, von den seltsamen Verbindungen zwischen Grafikdesign und Jazz in jenen Jahren, vom Umstieg erst aufs Saxophon, dann auf die Klarinette.

“Jazz”. sagt Carl, “das ist ja ein alter Begriff und beschreibt auch ein altes Ding.” Er beklagt die Naivität in dem, was er heute so im Radio als Jazz hört, und er beschreibt, wie sich Europa in den 1960er Jahren freistrampelte von der amerikanischen Tradition, mehr Chaos einbrachte, “vor allem mehr Witz und Strapaze, das war etwas zeitversetzt der europäische Anteil, während die amerikanische 60er Jahre-Avantgarde manchmal fast den Ernst von Religionsgründern hatte”. Für ihn war irgendwann, als der Jazz mehr und mehr von Fusion durchdrängt wurde, die Luft raus. Jenen “grobkörnigen Typ von Musiker”, den er bevorzugt, gäbe es schon lange nicht mehr. An einer Stelle wagt er eine Selbstdefinition: “Als Dilettant war ich ja nun fast alles. Unterhaltungsmusiker und Querulant und Freejazzer und vielleicht sogar konzeptueller Komponist. Vielleicht sogar Minimal-Musiker.” Er habe versucht, keine Genregrenzen abzustecken, sondern offen zu bleiben, das Unerwartete, vielleicht auch das Unerhörte zu wagen. Das Wort “Musizieren” benutzt er oft spricht vom “Arbeiten” an der Musik, vom “Entdecken”, “Ausprobieren. Und was das “Freie” im Free Jazz anbelangt, so findet er, dieses müsse eben auch die Freiheit beinhalten, die Musik zu spielen, die einem just in dem Augenblick gerade so gefalle.

Carl erzählt von Kollegen und Freunden, von Musikern und Bildenden Künstlern, von ästhetischen Diskussionen und seiner heutigen Sicht über sie. Die Gespräche zwischen Augst und Carl wirken dabei selbst wie eine Art Improvisation, chronologisch angelegt aber mit weiten Exkursen: in Erinnerungen, in die Gegenwart, in die Interviewsituation, auch in Belange des Interviewers. Diese Verschobenheit in der Erzählung erlaubt tiefere Einblicke als es eine chronologische Erzählung täte: Carl erzählt aus dem Bauch heraus, und kein Redakteur presst dies in Kapitelüberschriften. Der Leser erfährt die Intensität des Gesprächs, hört quasi selbst mit zu.

Carmell Jones, Alexander von Schlippenbach, Peter Brötzmann, Sven-Åke Johansson, Jost Gebers: Carls Erzählung vermittelt eine lebendige Berliner Szene, schildert daneben auch die Realität des Überlebenmüssens und des Mixes verrückter Figuren. Er hatte Jobs in der Bundesdruckerei und als Bahnwärter, bevor er Anfang der 1970er Jahre nach Wuppertal zog, wo seine Profimusikerkarriere begann. Carl erzählt, wie er zum Akkordeon zurückkehrte, von seiner Zusammenarbeit mit Irène Schweizer, über das Globe Unity Orchestra, die Probleme des Frei-Spielens, über Pina Bausch, Joseph Beuys, Hans Reichel, der Faszination Thelonious Monks, über die Gefahr und die Chancen musikalischer Klischees und über die künstlerische Grundhaltung von “Verweigerung”. Er unternahm Tourneen durch die DDR, spielte beim legendären Festival in Peitz, trat mit dem Bergisch-Brandenburgischen Quartett mit Ernst Ludwig Petrowsky auf, erhielt Ost-Gagen, die man möglichst in Naturalien umtauschen musste, um einen brauchbaren Gegenwert zu erhalten.

Anfang der 1980er Jahre zog er nach Frankfurt, in eine damals äußerst lebendige und genreübergreifende Avantgardeszene. Er organisierte Konzerte im Porticus, wirkte in der FIM mit (Forum improvisierender Musiker), berichtet daneben auch über seine Kontakte (aber auch über die Nicht-Kontakte) zur örtlichen Jazzszene. Das berühmte Forsythe-Ballett habe ihm nie imponiert, der habe ja sicher auch nie einen Ton von ihm gehört; das Ensemble Modern sei brav, ordentlich, sauber, man müsse das aber nicht dauernd hören. Solche Passagen fallen zurück in den von den Weltläuften enttäuschten Anfangsduktus, der diesen Rezensenten die Lektüre dieses Buchs etwas skeptisch beginnen ließ. Da erwartet man dann Gegenwartspessimismus, romantisches wenn auch selbstkritisches Zurückerinnern an schwere Zeiten, die doch so viel inspirierter gewesen seien. Daneben aber swingt im Gespräch bald, ganz schnell eigentlich, noch etwas anderes dabei mit: eine nicht minder romantische Hoffnung darauf, nein ein Wissen darum, dass künstlerische Inspiration zu jeder Zeit möglich ist, dass gesellschaftliche Verhältnisse (auch Kunst-Verhältnisse) immer in Frage gestellt werden müssen, dass man seine Sache ernst nehmen muss, sich selbst aber nie zu ernst nehmen darf. Nach wenigen Seiten ist man gefangen vom lockeren Plaudern der beiden Freunde, die auf gemeinsame Bekannte rekurrieren, sich aufs Abendessen freuen oder aufs nächste Treffen.

Persönliche Fotos sowie ein Namensindex der im Text genannten Personen runden das Buch ab. Bastian Zimmermann lässt sich von der Lektüre zu einer zusammenfassenden Würdigung hinreißen (Nachwort); und Astrid Ihle beschreibt in ihrem Vorwort die Entstehungsgeschichte des Buchs, das mit einer CD kommt, die einen Liederzyklus mit 17 autobiographisch geprägten Stücken enthält, “komponiert, getextet, gesungen und am Klavier begleitet von Carl himself”. All das macht “Ab Goldap” zu einer überaus lesenswerten, mehr als runden Würdigung des Multiinstrumentalisten und – irgendwie – Avantgardephilosophen Rüdiger Carl.

Goldap, dies sei zum Schluss noch erläutert, ist der Ort in Ostpreußen, aus dem seine Familie kam, Ab Goldap also, über Kassel, Berlin bis Frankfurt…

Wolfram Knauer (Mai 2014)

Black Fire! New Spirits! Images of a Revolution. Radical Jazz in the USA 1960-75
herausgegeben von Stuart Baker
London 2014 (Soul Jazz Records)
189 Seiten, 30 Britische Pfund
ISBN: 978-09572600-1-6

2014bakerBlack Music, Black Power: Die schwarze Musik begleitete die Bürgerrechtsbewegung in den USA als ein kongenialer Soundtrack. Vielleicht waren die Soulmusiker näher dran an der Bewegung, aus deren Reihen James Brown seine Hymne “Say It Loud: I’m Black and I’m Proud” einbrachte. Der Avantgardejazz der 1960er und 1970er Jahre aber hatte engste Berührungspunkte zur Bewegung, zu den friedlichen Protesten genauso wie zu den radikalen Wortführern ihrer Zeit, und die Musik vieler Free-Jazz-Musiker wurde nicht nur im Nachhinein als eine Reaktion auf die gesellschaftlichen Verhältnisse gelesen, als eine Rebellion gegen die Vorherrschaft weißer Wertesysteme. Etliche Künstler, die dem New Thing verbunden waren, betonten damals, ihre Musik sei eigentlich apolitisch, wann immer sie als schwarze Musiker aber in den amerikanischen Südstaaten spielten, wurden sie mit der politischen Realität des alltäglichen Rassismus konfrontiert, aus dem heraus ihre Musik genauso viel an Kraft und Widerstandspotential zog wie aus der langen und stolzen Tradition afro-amerikanischer Kultur.

Stuart Baker dokumentiert in diesem Coffeetable-Buch die afro-amerikanische Avantgarde der 1960er und frühen 1970er Jahre als eine Musikszene, die im Auftreten, in der Selbstdarstellung, aber auch in Mode und Musik ein schwarzes Selbstbewusstsein vorlebte, das einmal mehr zeigt, dass Musik, egal unter welchen Umständen sie gemacht wird, gesellschaftliche Verhältnisse abbildet und oft genug Wege zu einer besseren Gesellschaft fordert oder gar aufzeigt. Bakers Einleitungstext schildert die Situation: Nachdem das Oberste Gericht in den Vereinigten Staaten die Gleichheit zwischen den Hautfarben noch einmal bekräftigt hatte, begannen schwarze Aktivisten die Umsetzung der Gerichtsurteile in der gesellschaftlichen Realität zu verlangen. Diskussionen jener Jahre drehten sich um Gewalt oder Gewaltlosigkeit, um die Stärkung der eigenen Community auch in ihrem Wissen um Wurzeln und eigene Geschichte, in der Musikergemeinschaft darüber hinaus auch um die Produktions- und Besitzverhältnisse an den von ihnen geschaffenen Werken.

Die von Baker ausgesuchten knapp 170 Fotos zeigen, wie er im Vorwort schreibt, vor allem eines: das unbedingte Selbstbewusstsein der Künstler, eine Selbstbestimmung, die sich deutlich darin äußert, wie sie sich der Kamera präsentieren. Jedem Künstler sind ein bis zwei Seiten gewidmet, aussagekräftige Fotos und ein kurzer biographischer Text. Baker hat darauf verzichtet, in diese kurzen Texte weitere politische Interpretationen zu packen, lässt stattdessen die Bilder für sich sprechen. Herbie Hancock in stolzer Pose vor dem Flügel, Nina Simone kämpferischem in die Kamera blickend, Famoudou Don Moye mit pseudo-afrikanischer Kriegsbemalung, Archie Shepp nachdenklich, Leon Thomas mit afrikanischer Trommel, AACM-Musiker vor einem Plakat des Improvisational Theatre, Jimmy Smith, der mit seinem eigenen Fotoapparat in die Kamera blickt, Tony Williams rauchend und am Arbeitsinstrument wartend, Stanley Cowell und Charles Tolliver in sympathischen Portraitfotos, die offenbar vor demselben Hintergrund und vom selben Fotografen geschossen wurden, Horace Silver vor der Blue-Note-Auslage eines Plattenladens, Cecil Taylor, in sich und in seine Musik vertieft, Thelonious Monk am heimischen, vollgepackten Flügel, George Benson im Cabriolet vor dem Village Vanguard, Pheeroan akLaff auf die Trommelstöcke konzentriert,.

Neben dem Blick, neben den Posen scheint auch die Mode der Zeit kämpferische Untertöne zu besitzen, sei es nun Elvin Jones’ lange Lederweste, Sun Ras außerweltliches Ornat, Gary Bartzs weite Schlaghose, Phil Upchurchs buntestem Bühnenkostüm oder in der Person von Miles Davis, der gleich in verschiedenen Modestilen gezeigt wird.

Mary Lou Williams ist neben Sun Ra die älteste der hier abgebildeten Musiker; weiße Kollegen muss man dagegen buchstäblich mit der Lupe suchen (fündig wurden wir auf Seite 92/93 im Ornette Coleman Quartett, in dem Charlie Haden aber fast vollständig von seinem Kontrabass verdeckt wird). Und so dokumentiert dieses Buch auch die Macht der Bilder, die den Jazz als eine ungemein kraftvolle, eine selbstbewusste (ja, dieses Wort muss noch einmal benutzt werden), als eine rebellierende und nach vorne blickende afro-amerikanische Musik darstellen.

Auf eine Identifizierung der Sidemen verzichtet der Herausgeber, und auch die Foto-Credits verweisen nur recht allgemein auf Getty Images, die Quelle der meisten der benutzten Bilder. Ein aussagekräftiges Buch ist dieser Bildband allemal und macht doppelt Lust aufs Hören der Musik, die ja nicht weniger kraftvoll und selbstbewusst daherkommt.

Wolfram Knauer (Juni 2014)


Jazz in Berlin
von Rainer Bratfisch
Berlin 2014 (Nicolai Verlag)
472 Seiten (im Schuber), 129 Euro
ISBN: 978-3-89479-802-4

2014bratfischRainer Bratfischs schwergewichtiges Buch “Jazz in Berlin” enthält weit mehr als jazzmusikalische Lokalgeschichten aus der Hauptstadt. Es ist in der Vernetzung der Berliner Jazzszene mit dem Rest Deutschlands (Ost wie West) eine eigentlich nur räumlich fokussierte Jazzgeschichte Deutschlands geworden, ein Steinbruch vielfältiger Informationen, die ausgewogen von den Anfängen der Jazzrezeption in den 1920er Jahren über die dunklen Kapitel des 3. Reichs, die geteilten Jazzszenen der 1950er bis 1980er Jahre in Ost und West bis in die wiedervereinigte Gegenwart einer der lebendigsten Jazzszenen Europas reicht. Ausführlich und aussagekräftig bebildert werden Musiker, Bands, Spielorte, Festivals beschrieb, die sogenannte Jazzszene(n) also, zwischen Tradition und Avantgarde, einschließlich ihres unterschiedlichen Publikums. Eine Geschichte des Jazz in Berlin ist dabei zwangsläufig auch eine Geschichte von Musik als Widerständigkeit, von Jazz als einer von Nazis und Stasi misstrauisch beäugten oder gar verbotenen Kunst, sowie eine Geschichte der Wege, Orte und Möglichkeiten, die seine Anhänger immer wieder fanden, die Musik trotzdem zu hören oder zu spielen.

Bratfisch hatte 2005 den Band “Freie Szene. Die Jazzszene in der DDR” herausgegeben, der eine umfängliche Dokumentation der ostdeutschen Jazzgeschichte darstellt. In seinem Berlin-Buch hat er sich für kleine, thematisch fokussierte Kapitel entschieden, die einzelne Künstler oder Bands behandeln (Weintraub Syncopators, Charlie and his Orchestra, Zentralquartett, Coco Schumann), die Clubszene näher beleuchten, über den Jazz im Rundfunk berichten, über Initiativen, Festivals, Konzertreihen, über Jazzförderung oder über die Möglichkeit, Jazz zu studieren. Insbesondere im historischen Teil seines Buchs gelingen ihm dabei Schlaglichter auf eine Welt zwischen Faszination an der immer noch exotischen Musik des Jazz und Professionalisierung einer mehr und mehr selbstbewussten deutschen Jazzszene. Die Darstellung der aktuellen Szene versucht möglichst vollständig alle Aktivitäten zu erwähnen und dabei die Vielfältigkeit des Berliner Jazz zu berücksichtigen, der eben aus weit mehr als traditionellen und modernen Stilrichtungen besteht, über den Tellerrand blickt und mit Einflüssen aus anderen Genres experimentiert, so dass die Grenzen schon mal verschwimmen. Er reicht dabei tatsächlich bis kurz vor Drucklegung – die aktuellsten Informationen, die er verarbeitet, stammen vom Herbst 2013.

Bratfisch ist Journalist, seine Erzählung daher vor allem eine von Menschen und ihren Aktivitäten. In die Musik selbst steigt er kaum ein, hier verlässt er sich auf das Vorwissen seiner Leser über Stile, klangliche Klischees und alle mit ihnen verbundenen Befindsamkeiten. “Jazz in Berlin” ist in seiner Konzeption ein gelungenes Buch zum Blättern, zum Nachlesen, zur Referenz über Entwicklungen des deutschen (also nicht nur Berliner) Jazz. Der Anhang enthält biographische Notizen zu 85 wichtigen Musikerinnen und Musikern, quer durch alle geschichtlichen und stilistischen Epochen des Hauptstadtjazz. Der Preis des Buchs ist sicher erheblich, die Aufmachung jedoch, sorgfältig gebundenes Hardcover im Pappschuber, und die vielen Fotodokumente machen es zu einem wichtigen Dokument zur gesamtdeutschen Jazzgeschichte.

Wolfram Knauer (März 2014)


Charlie Parker
von Wolfram Knauer
Stuttgart 2014 (Reclam)
203 Seiten, 12,95 Euro
ISBN: 978-3-15-020342-2

2014knauerAus dem Vorwort:

Als die Nachricht vom Tod Charlie Parkers am 15. März 1955 die Runde machte, war die Betroffenheit groß. Charles Mingus fasste die Lücke vielleicht am besten zusammen, die der Altsaxophonist auf der Jazzszene hinterließ: “Die meisten der Solisten im Birdland mussten immer auf Parkers nächste Platte warten, um herauszufinden, was sie als nächstes spielen sollten. Was werden die wohl jetzt tun?”

Charlie Parker ist eine der prägenden Persönlichkeiten der Musik des 20sten Jahrhunderts. Er tauchte just zu dem Zeitpunkt auf, als der Jazz sich von einer reinen Unterhaltungsmusik hin zu einer Kunstform entwickelte, die neben gesellschaftlichem Vergnügen eine ästhetische Aussage in den Vordergrund stellte. Parker war ein instrumentaler Virtuose auf seinem Instrument, dem Altsaxophon; er war darüber hinaus ein musikalischer Innovator, dessen Neuerungen auf der Tradition basierten. Man hat ihn als Revolutionär des Jazz bezeichnet, und man hat ihn den größten Bluesmusiker dieser Musik genannt, ihn also mit der Avantgarde genauso wie mit der Tradition afro-amerikanischer Musik in Verbindung gebracht.

Parkers Musik hat den Jazz beeinflusst wie vor ihm nur die von Louis Armstrong, wie nach ihm die von John Coltrane und Miles Davis. Viele seiner musikalischen Phrasen wurden von so vielen Musikern aller Instrumentengattungen nachgespielt, dass sie quasi ins Standard-Improvisationsvokabular des Jazz übergingen. Aber Parker war noch mehr als ein großartiger Musiker. Er lebte ein Leben, das Dichtern und Philosophen als das Musterbeispiel des Künstlers erschien, weil es neben der künstlerischen Perfektion auch das Chaos und Scheitern beinhaltete. Musik, Alkohol, Drogen – Parker wurde zum Synonym für das bewunderte musikalische Genie, dem es nicht gelang, sein Privatleben in Ordnung zu bringen. Und sein früher Tod mit gerade mal 34 Jahren sorgte mit dafür, dass seine Legende weiterlebt bis in unsere Tage.

Parkers Musik ist in bald 1.000 Aufnahmen dokumentiert, in Studiositzungen für die Labels Dial, Savoy und Verve sowie in Livemitschnitten aus diversen Clubs in New York, Los Angeles und anderswo. Seine Musik ist seine Hinterlassenschaft, zugleich aber auch klingende Gegenwart, denn sein Einfluss im Jazz dauert, direkt oder über inzwischen mehrere Generationen gebrochen, bis heute an.

Die Literatur zu Parker ist auch ohne dieses Büchlein riesig. Der Saxophonist, sein Leben und seine Musik diente als Vorbild für Kurzgeschichten, Romane, Gedichte, Gemälde, Skulpturen, und er wurde in Clint Eastwoods Bird selbst zur Filmfigur. Kurz nach seinem Tod tauchten erste Graffiti an New Yorker Hauswänden auf, die behaupteten: “Bird Lives!” Wie kann ein Mann tot sein, dessen Musik so viel an Kreativität inspiriert hat und in Werken so vieler anderer Künstler – aller Kunstgattungen – weiterlebt? Was aber machte ihn zu einem so bewunderten Künstler? Was trieb ihn an und was hinderte ihn, neben der Musik auch sein Leben in den Griff zu kriegen? Oder: Was war, was blieb? Die Grundfrage jeder Lebenserzählung…

Wolfram Knauer (Februar 2014)[:en]The Sound of a City? New York und Bebop 1941-1949
von Jan Bäumer
Münster 2014 (Waxmann)
384 Seiten, 39,90 Euro
ISBN: 978-3-8309-2963-5

Der Jazz war von Anbeginn an eine Musik der Stadt. Zentren wie New Orleans, Chicago, Kansas City, vor allem aber New York prägten seine Entwicklung; zugleich prägte aber auch der Jazz die Erfahrung solcher Städte. Jan Bäumer hat für seine Dissertation ein Musterbeispiel dieser Wechselwirkung herausgegriffen und untersucht, wie der Bebop gerade in New York entstehen konnte, wie er zugleich in den 1940er Jahren (und darüber hinaus) das kulturelle Erlebnis dieser Stadt maßgeblich prägte.

Im Vorwort erklärt Bäumer die Komplexität des Forschungsgegenstands, da man Jazz nicht nur als musikalische, sondern auch als kulturelle und soziale Praxis begreifen müsse und es daher die Aufgabe seines musikgeographischen Ansatzes sei, diese verschiedenen Sichtweisen herauszuarbeiten und miteinander zu verknüpfen. Er thematisiert die zur Verfügung stehenden Quellen, mündliche Zeitzeugenberichte, Musikaufnahmen und zeitgenössische Presseberichte. Dann beschreibt er die Vorbedingungen für die Entstehung des Bebop, wobei er bereits hier die Funktion von Ort als geographische, soziale und damit auch ästhetische Dimension diskutiert. Er unterscheidet zwischen “hearth” und “stages”, also weitgehend isolierten bzw. privaten Experimentier- und öffentlichen Aufführungsräumen, und erklärt die Attraktivität einer so diversen Metropole wie New York für Musiker ganz allgemein. New York war Anfang der 1940er Jahre bereits Medienhauptstadt, besaß in Harlem eine kreative afro-amerikanische Community, zugleich ein großes Netz von Veranstaltungsorten, war außerdem im 20sten Jahrhundert im wahrsten Sinne des Wortes die “Stadt, die niemals schläft”.

Im nächsten Kapitel legt Bäumer die Lupe an seinen Untersuchungsgegenstand. Er beschreibt die “hearths”, die Experimentierorte für Jazz, beleuchtet beispielsweise die Gemeinde um Minton’s Playhouse, fragt nach der Funktion dieses Clubs für die Bebop-Musiker und beschreibt die in Aufnahmen dokumentierte Musik dieser Zeit, rhythmische, harmonische und improvisatorische Neuerungen, die sich aus ihnen ablesen lassen. Dieselbe Abfolge an Fragen und Beschreibungen lässt er Monroe’s Uptown House angedeihen, aber auch anderen Experimentierorten wie der privaten Wohnung oder der Bigband.

Im dritten Kapitel beschreibt Bäumer die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die Entwicklung des Jazz. Er nennt die Transportbeschränkungen, die Tourneen immer schwieriger machten, die Wehrpflicht, die den Bigbands ihre besten Musiker entriss, schreibt über die Auswirkungen des Kriegs auf die Wahrnehmung des amerikanischen Alltagsrassismus und nennt New York in diesem Zusammenhang einen “Karrierehelfer” für viele der Musiker.

Die öffentlichen Bühnen unterscheiden sich von den “hearths” durch ihre Sichtbarkeit auf dem Markt des Unterhaltungsgeschäfts. Bäumer blickt auf die 52nd Street, auf der vor allem kleine Ensembles zu hören waren, beschreibt die ersten organisierten Jam Sessions, die nicht so sehr als Experimentierplattform fungierten, sondern als besonderes Erlebnis fürs Publikum, schaut etwas näher auf den Onyx Club, in dem 1943 mit Dizzy Gillespies und Oscar Pettifords Band die “erste Bebop-Gruppe” auftrat und nimmt sich dann analytisch dem Repertoire und der Spielweise des Bebop an. Ein neues Selbstverständnis hätten sie alle entwickelt, schreibt er, quasi ein neues Kapitel des Jazz aufgeschlagen. Er nennt die Billy Eckstine Band “stage” und “hearth” in einem und fragt danach, wie schnell sich der “neue Sound” des Bebop in New York ausbreitete. Als besonders wichtigen öffentlichen Raum identifiziert er den Schallplattenmarkt, beschreibt den Aufnahmebann von 1942 bis 1944, erklärt, warum es Ende der 1930er, Anfang der 1940er Jahre zur Gründung unabhängiger Plattenlabels kam und wie wichtig diese gerade für die Entwicklung des Bebop waren. Er vollzieht nach, wie Charlie Parker und Dizzy Gillespie im Three Deuces auftraten, das Konzerte in der New Yorker Town Hall den Schritt in den Konzertsaal bedeuteten und damit auch Symbol eines gesellschaftlichen Aufstiegs darstellten.

Kapitel 5 widmet sich den “musikalischen Konturen des Bebop”. Er beschreibt das Repertoire des Stils, formale Usancen, die Verwendung von originalen Kompositionen oder Kontrafakten, die Bedeutung des Blues für den Stil; er erklärt die Funktion knapper Arrangements, melodische Besonderheiten, Phrasierung und Virtuosität, fixiert sich auf die Aufgabe der einzelnen Instrumente in der Rhythmusgruppe und die Interaktion aller, und er beschreibt die harmonischen Neuerungen der Zeit.

Im sechsten Kapitel widmet Bäumer sich den “außermusikalischen Konturen” dieser Musik, fragt, ob die Bebopper sich denn tatsächlich als “Außenseiter” verstanden, verweist auf Mode, Sprache, die zur Identität des modernen Jazzmusikers beitrugen, aber auch auf den in der Szene nicht unüblichen Drogenkonsum. Er verweist kurz darauf, dass auch außerhalb New Yorks kreative Musik stattfand, diskutiert die Ausflüge New Yorker Musiker an die Westküste und was sie dort (musikalisch) vorfanden. Die Auftritte Charlie Parkers und Dizzy Gillespies in der Carnegie Hall mögen ein Karrierehöhepunkt für beide gewesen sein; parallel begann bereits der Niedergang der 52nd Street. Ab 1950 hielt eigentlich nur noch das Birdland die Fahne des Bebop hoch.

Zum Schluss geht Bäumer auf die Rezeption des Stils ein, diskutiert die Kontroversen zwischen Traditionalisten und Modernisten, untersucht die mediale Darstellung des Bebop, und fragt danach, inwieweit der Stil eher ein Minderheitenpublikum angesprochen hat bzw. wie er vom Massenpublikum wahrgenommen wurde. Tatsächlich habe sich in diesen Jahren eine Art neues Publikum herausgebildet, argumentiert er, und dieser “Insider”-Kreis sei der Urtyp des Jazzpublikums bis heute.

Jan Bäumers Studie ist gerade in der Verflechtung der verschiedenen Stränge, die in seinem Blickfeld liegen, bemerkenswert. Städtischer Raum und die Möglichkeiten die sich in ihm ergeben, Community als Initiator und zugleich Abnehmer künstlerischer Projekte, die Beschreibung der geografischen, sozialen und ästhetischen Diskurse, innerhalb derer diese Musik sich entwickeln konnte, all das bündelt er mit vielen Verweisen auf Primär- und Sekundärliteratur sowie analytischen Anmerkungen zur Besonderheit des Bebop. Ihm gelingt es dabei die Komplexität seines Themas ein wenig zu ordnen, den Fokus seiner Leser auf immer wieder andere Perspektiven zu lenken und damit die Entstehung und die Bedeutung dieses Stils in der und für die Jazzgeschichte ein wenig zu entmythologisieren.

Bäumers Buch ist eine musikwissenschaftliche Dissertation, aber auch für den musikalisch interessierten Laien gut zu lesen. Er verliert die verschiedenen Argumentationsstränge, die er über die Kapitel entwickelt, nicht aus den Augen und ermöglicht seinen Lesern an jeder Stelle mit frischem Blick auf die Musik und ihren Kontext zu blicken. “The Sound of a City?” beschreibt dabei am Ende tatsächlich den Sound einer Stadt und macht zugleich klar, dass “Sound” nie nur ein klangliches Phänomen ist, sondern immer aus dem Zusammenleben und Wirken von Menschen entsteht.

Wolfram Knauer (Juli 2018)


Jazz im Film. Beiträge zu Geschichte und Theorie eines intermedialen Phänomens
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erausgegeben von Willem Strank & Claus Tieber
Münster 2014 (Lit Verlag)
246 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-643-50614-6

Die Herausgeber dieses Bandes und Mitorganisatoren des Symposiums haben aus Referaten, die bei der Jahrestagung der Kieler Gesellschaft für Filmmusikforschung im Oktober 2011 gehalten wurden sowie weiterführenden Artikeln von Autoren, die in Kiel nicht dabei sein konnten, eine facettenreiche Dokumentation über die Funktion von Jazz im Film auf der einen Seite und seine Repräsentation auf der anderen Seite vorgelegt. In ihrer Einleitung verweisen sie auf die verschiedenen Situationen, in denen Jazz mit der Leinwand in Verbindung tritt, auf die Stummfilmbegleitung etwa, auf Musik-Kurz- und Animationsfilme, auf die Verbindung von Jazz und Experimentalfilmen, auf Dokumentar- und Konzertfilme, auf den Jazz im Live-Fernsehen, auf Jazz als Soundtrack, sowie auf Biopics und auf “Scenopics”, die die Jazzwelt als Thema nimmt.

Claus Tieber diskutiert das Phänomen der Improvisation in Jazz und Film und inwieweit sich diese aufeinander beziehen können. Andrea Oberheiden-Brent beleuchtet Al Jolsons Blackface-Maske in “The Jazz Singer” und anderen Filmen, die sie nicht allen als Bezug auf Black Minstrelsy sieht, sondern darin auch den Versuch erkennt jüdische Identität aufrecht zu erhalten. Lena Christolova untersucht, wie man rassistische Klischees, die sich in den Jazz-Cartoons mit Betty Boop finden, anders lesen könne, nämlich, wie sie schreibt, als ein Argument im Diskurs der Zeit, das “das Problem ethnischer Stereotypen längst spielerisch gelöst” habe.

Moritz Panning betrachtet den deutschen Revuefilm “Kora Terry” von 1940 und ordnet die Filmmusik Peter Kreuders in die ästhetische Diskussion des Nationalsozialismus über Jazz und eine vom System normierte deutsche Unterhaltungsmusik ein. Wolfgang Thiel sieht Spielfilme der DEFA aus den 1950er bis 1970er Jahren mit dem spezifischen Fokus auf Jazzszenen sowie die Verwendung von Jazzelementen in der Filmmusik an, beschreibt dabei auch, wie in den 1970ern die Beat- bzw. Rockmusik die Funktion des Jazz übernahm, eine “gewünschte optimistische Grundhaltung im sozialistischen Alltag zu ‘benennen’ und hierbei insbesondere das Lebensgefühl der Jugend anzusprechen”.

Hanna Walsdorf diskutiert Otto Premingers “Bonjour Tristesse” von 1957 mit einem speziellen Fokus auf mit Jazz eng verbundene Tanzszenen. Irene Kletschke beschreibt die Haltung etlicher Hollywood-Biopics am Beispiel der “Glenn Miller Story”. Max Annas diskutiert die Modellhaftigkeit des afro-amerikanischen Jazz für die südafrikanische Freiheitsbewegung, aber auch die Rolle, die dieser Musik etwa in Lionel Rogosins Film “Come Back, Africa” von 1959 oder im amerikanisch-südafrikanisch-deutschen Dokumentarfilm “Drum” von 1994 zukommt, in dem der Jazz mehr als “Soundtrack und Quelle bunter Bilder” verwandt, seine Funktion innerhalb der Freiheitsbewegung aber wenig Rechnung getragen werde. Andreas Münzmay beleuchtet die Interaktion zwischen Musik, Handlung und filmischer Dramaturgie in John Cassavetes’ “Shadows” von 1959, beschreibt, wie der Regisseur Musik als “‘musikalische’ Bild- oder Sprachmotive einsetzte”, und diskutiert improvisatorische Momente des Soundtracks, für den Cassavetes, bevor er Charles Mingus engagierte, eigentlich Miles Davis im Blick gehabt hatte.

Frank-Dietrich Neidel versucht Ähnlichkeiten in der Entwicklung des Bebop und Luc Godards Film “À bout de souffle” von 1959 aufzuzeigen, verweist dabei etwa auf dem “Sprung aus der Tradition und die ästhetischen Konsequenzen”, auf eine neue Rhythmik sowie auf Themen wie melodische Kompexität oder Nachvollziehbarkeit. Konstantin Jahn untersucht den legendären Sun Ra-Film “Space Is the Place” von 1974 auf das Spiel mit den Film-Genres (Biopic, Blaxploitation, Science Fiction), aber auch auf musikalischen Momente (Call and Response, Riff, Inside-Outside etc.), die direkten Einfluss auf die filmische Umsetzung hatten. Willem Strank betrachtet die Filme “Ornette: Made in America” von 1985, “Cecil Taylor – All the Notes” von 2004 sowie “Brötzmann” von 2011 und diskutiert zu welchen filmischen Umsetzungen die freie Improvisation der Protagonisten die jeweiligen Regisseure veranlasst hat.

Guido Heldt sieht “Step Across the Border” als einen Dokumentarfilm über Fred Frith, zugleich aber auch als einen Film “durch” Fred Frith, “der sich seine Strukturen und Muster (…) ausleiht und versucht, seinem Gegenstand nicht in der Draufsicht, sondern im Nachvollzug nahe zu kommen”. Sarah Greifenstein sieht Parallelen in den “episodischen Bewegungsmustern” in Woody Allens “You Will Meet a Tall Dark Stranger” und diskutiert die “Erfahrungsformen des Improvisierten” in der Musik und den Gesten des Films. Claudia Relota schließlich betrachtet die amerikanischen Fernsehserie “Treme” im Nachklang des Hurrikans Katrina und fragt dabei, inwieweit die Serie dem Anspruch “einer möglichst detaillierten und spezifischen Repräsentation der Musikkultur – dem Konzept des Authentischen in ‘Treme’ – im Format des Seriellen” gerecht wird, wie die Musik als “soziale Praxis zwischen musikalischen Traditionen” dargestellt wird und zugleich für eine “ungewöhnliche erzählerische Dichte” sorgt.

Als Tagungsband ist “Jazz im Film” sicher kein Einstiegsbuch über die unterschiedlichen Beziehungen zwischen den beiden vielleicht bedeutsamsten künstlerischen Entwicklungen des 20sten Jahrhunderts. Das Buch bietet aber gerade in der Verschiedenheit der Ansätze einen hervorragenden Einblick in die unterschiedlichen Facetten des Diskurses über Jazz im Film – ob als Soundtrack oder als Thema.

Wolfram Knauer (Dezember 2017)


Jackie McLean
von Guillaume Belhomme
Nantes 2014 (Lenka Lente)
117 Seiten, 11 Euro
ISBN: 978-2-9545845-4-6

Jackie McLean war irgendwie zeitlebens ein “musicians’ musician”, ein Musiker, der unter Kollegen bekannt, beliebt und einflussreich war und doch außer einem Kennerpublikum eher mäßigen populären Erfolg hatte. In seiner Biographie spürt Guillaume Belhomme dem Leben und Schaffen des Saxophonisten nach, identifiziert Einflüsse auf ihn und erklärt die Bedeutung seines musikalischen Schaffens. Wie Sonny Rollins spielte McLean Ende der 1940er Jahre kurzzeitig mit dem Gedanken, vom Altsaxophon, das durch Charlie Parkers Wirken doch sehr vorbelastet war, auf ein anderes Instrument umzusteigen, und tatsächlich machte er, wie wir lernen, seine erste Aufnahme 1949 mit einer Rhythm-and-Blues-Band auf dem Baritonsaxophon.

Belhomme erzählt von der Szene, in der McLean in jenen Jahren verkehrte, von McLeans Freundschaft zu den Brüdern Richie und Bud Powell, von der beängstigenden Präsenz Charlie Parkers und von der Tatsache, dass nicht nur McLean selbst sich laufend mit Bird vergleichen musste, sondern dass das auch die Kollegen um ihn herum taten. Er verfolgt Aufnahmen des Saxophonisten mit Miles Davis ab 1951, und er beleuchtet McLeans ersten Platten unter eigenem Namen seit 1955. 1959 wirkte McLean an der Theaterproduktion “The Connection” mit, für die Freddie Redd die Musik geschrieben hatte; daneben spielte er mit etlichen Größen des New Yorker Hardbop. Ab den Mitt-1960er Jahren engagierte er sich zudem in den ersten Bemühungen einer auf die breitere Bevölkerung gerichteten Jazzpädagogik, wirkte des weiteren auch bei politischen Aktivitäten der Bürgerrechtsbewegung mit. Er tat sich mit dem Trompeter Lee Morgan zusammen, hatte daneben aber auch ein Ohr für die freieren Spielformen der Zeit, wie er etwa im Album “New and Old Gospel” bewies, das er 1967 zusammen mit Ornette Coleman (an der Trompete) aufnahm. Er unterrichtete an der Hartford University und war in den 1970er Jahre immer wieder in Europa zu hören.

Belhommes Buch gibt in kurzen Kapitel die Fakten, nennt die Namen und Titel und ordnet McLeans Lebensstationen in die Entwicklungen der Zeit ein. Die Gründe, die für McLeans Engagement in der Jazzpädagogik eine Rolle spielten, werden höchstens gestreift und seine Heroinabhängigkeit gerade mal am Rande erwähnt. Nun mag man meinen, dass solche Aspekte nebensächlich seien, wo es doch in der Hauptsache um die Musik gehe, allerdings kommt Belhomme der Musik selbst auch nur selten wirklich nah. Und so bleibt sein Büchlein ein wenig an der Oberfläche. Für Liebhaber von McLeans Musik ist es allemal ein handliches Nachschlagewerk, dass es ermöglicht, die verschiedenen Alben des Saxophonisten einzuordnen – mehr aber auch nicht.

Wolfram Knauer (Dezember 2016)


An Unholy Row. Jazz in Britain and its Audience, 1945-1960
von Dave Gelly
Sheffield 2014 (equinox)
167 Seiten, 25 Britische Pfund
ISBN: 978-1-84563-712-8

2014gellyDave Gelly ist Autor von Biographien etwa über Stan Getz und Lester Young, schreibt für britische Fachzeitschriften und Tageszeitungen und moderierte eine wöchentliche Rundfunksendung im BBC. Der Untertitel seines neuestes Buchs liest sich, als handele es sich dabei um eine soziologische Studie über “den Jazz in Großbritannien und sein Publikum” in der Nachkriegszeit. Tatsächlich besteht das Publikum, das Gelly meint, zu einem großen Teil auch aus britischen Musikern. Gelly berichtet von den unterschiedlichen Weisen, auf die diese mit dem Jazz in Berührung kamen, in Clubs und bei Tanzveranstaltungen, im Rundfunk, in der Armee, in halb-öffentlichen Expertenzirkeln oder bei Tourneen der amerikanischen Heroen, für die London allein der mangelnden Sprachbarriere wegen immer einer der ersten und wichtigsten Anlaufpunkte war.

Dabei verfolgt Gelly etwa den Weg des jungen Humphrey Lyttelton zum Jazz, berichtet über Widerstände und Hingabe, über den Effekt von Louis Armstrongs Musik auch bei jenen Musikern, die ihn nicht 1931 bei seinen ersten Konzerten in London erlebt hatten, über die Vielfalt an Jazzsendungen im britischen Rundfunk der Nachkriegsjahre und über Repertoire und musikalische Ästhetik der ersten Bands, in denen Lyttelton mitwirkte. Jazz bedeutete damals vor allem Dixieland oder Swing; Bebop spielte in Lytteltons musikalischer Umgebung keine große Rolle.

Einen weiteren Blick wirft Gelly auf George Webb’s Dixielanders und auf Musiker, die unter traditionellem Jazz vor allem eine nicht-kommerzielle Musik verstanden. Gelly beschreibt, wie sich aus der Jazzszene der direkten Nachkriegszeit langsam eine Art Jugendkultur entwickelte, die zugleich die Klassenunterschiede der britischen Gesellschaft konterkarierte wie unterstrich. Viele der Konzerte fanden in Hinterzimmern von Gasthäusern oder Hotels statt, hatten einen Grassroots-Geschmack, den, wie Gelly schreibt, selbst noch die tourenden Jazzveteranen, die England in den 1960er Jahren heimsuchten, recht charmant fanden.

Mit dem Saxophonisten Johnny Dankworth stellt Gelly dieser Szene einen modernen Protagonisten gegenüber und beschreibt die kleine, verschworene Gemeinde von Bebop-Anhängern im Großbritannien der ausklingenden 1940er und 1950er Jahre. Dieser Stil, erklärt Gelly, war im Vergleich zum Jazz-Revival ein später Ankömmling, und der Kontrast zwischen beiden Stilen nicht nur musikalisch, sondern auch sozial. Für das Jazzrevival seien vor allem nicht-musizierende Fans verantwortlich gewesen, für den Bebop dagegen junge, eine musikalische Karriere anstrebende Musiker. Das breite Publikum stand beiden anfangs eher verständnislos gegenüber. Wo der Revival-Jazz in den Hinterzimmern der Pubs erklang, hörte man Bebop, gespielt von Instrumentalisten, die in professionellen Tanzkapellen spielten, meist in speziellen Musikerkneipen im Londoner Westend. Gelly beschreibt die Szene, irgendwo zwischen Konservatorium und Tanzkapellen, in der Dankworth und Ronnie Scott arbeiteten; er nennt Bands wie das Tito Burns Sextet oder das Ray Ellington Quartet, und er beschreibt die Atmosphäre des Club Eleven, der im Dezember 1948 seine Pforten öffnete, zwei Jahre später auf die Carnaby Street umzog, aber nach nur wenigen Monaten und einer Drogenrazzia der Polizei schließen musste.

Daneben kam es Anfang der 1950er Jahre zu einer neuen Form von Jazz-Traditionsaufbereitung im New-Orleans-Purismus. Gelly zeichnet das Wiederaufleben des archaischen New Orleans-Jazz in den Vereinigten Staaten nach, das Musiker wie Bunk Johnson und George Lewis in den Mittelpunkt stellte und fokussiert dann auf Johnsons englischen Jünger, den Kornettisten Ken Colyer, dessen Crane River Jazz Band ein starkes musikalisches wie ästhetisches Statement bot, das weit über den reinen Revival-Jazz hinaus zu hören war. Über kurz oder lang ging Colyer selbst nach New Orleans und beeindruckte etliche der dort lebenden Musikveteranen mit seinem Ton und seinem musikalischen Ansatz. Sein Posaunist Chris Barber gründete 1954 seine erste Band, deren erstes Album “New Orleans Joys” 60.000 Exemplare verkaufte. Wer, fragt Gelly, kaufte diese Platten?, und schlussfolgert, es seien vor allem Schüler gewesen, die sich durch die Musik abgrenzten. Damals sei der Begriff “Trad” geprägt worden, um eine besonders populäre Form des traditionellen Jazz zu bezeichnen. Jazz, fasst Gelly zusammen, sei eine Jugendkultur gewesen, die auf Livemusik gründete.

Der moderne Jazz um Dankworth und Scott wurde im Verlauf der 1950er Jahre populärer und nahm Einflüsse aus Hardbop, Cool Jazz oder afro-kubanischem Jazz auf. Zugleich bildete sich unter den Musikern ein Bewusstsein darüber, dass es vielleicht tatsächlich so etwas wie “britischen Jazz” gäbe, was zu ganz unterschiedlichen Streits darüber führte, wie die verschiedenen Stränge eines solchen nationalen Stils (Trad hier, modern dort) sich entwickeln sollten. Ein Middleground, auf dem sich viele trafen, war der Mainstream, der Elemente aus traditionelleren und moderneren Spielweisen in sich aufnahm und vermittelte.

Die Skiffle-Welle der späten 1950er Jahre bildet den Mittelpunkt eines eigenen Kapitels, in dem Gelly zugleich auf die Faszination britischer Musiker und Fans mit dem authentischen Blues in den Vereinigten Staaten blickt und vorausdeutet, wie all die Diskurse, die er zuvor dargestellt hatte, letzten Endes auch Grundstein für die Ausbildung einer eigenen britischen Art von Popmusik sein sollten. Gelly verfolgt den Niedergang der Bigbands und der konventioneller spielenden Tanzorchester, die ja insbesondere den modernen Musikern finanziellen Halt geboten hatten. Er erwähnt einige der herausragenden Figuren, Tubby Hayes etwa und Joe Harriott, und schildert die Gründung eines neuen Clubs, Ronnie Scott’s in Soho. Die letzten beiden Kapitel blicken auf die Entwicklung des Trad-Booms, der erst durch den Erfolg der Beatles beendet wurde, sowie auf eine moderne Szene, der es gelang eine eigene Stimme auszubilden, eine Stimme, für die Gelly Stan Traceys “Jazz Suite: Under Milk Wood” und Johnny Dankworths “What the Dickens!” als symptomatisch sieht.

Dave Gelly fragt in seinem Buch nach den Gründen für musikalische Moden, und seine Erklärungen kommen aus der Szene selbst. Dem Blick auf den Jazz “und sein Publikum” hätte stellenweise auch die Sicht auf den Rest des Publikums wohlgetan, also auf die Debatten, die nicht allein innerhalb der Szene, sondern darüber hinaus und insbesondere auch über den Jazz abliefen. Und so sehr auch die Eingrenzung seines Themas auf die Dualität zwischen traditionellen und modernen Stilrichtungen in den 1940er und 1950er Jahren verständlich ist, so wäre ein zumindest spekulativer Ausblick ganz hilfreich gewesen, welche Auswirkungen die Diskussionen, die er für die Jazzszene jener Jahre schildert, auf die britische Jazzentwicklung auch nach der von Gelly betrachteten Zeit hatten.

Alldem zum Trotz aber gelingt es Gelly etliche dieser Diskurse sorgfältig herauszuarbeiten und ihre Unterschiede etwa zu ähnlichen Diskursen in den Vereinigten Staaten deutlich zu machen. Vor allem macht die Lektüre einmal mehr deutlich, dass Jazzgeschichtsschreibung nicht einzig die Entwicklung des Experiments verfolgen sollte, sondern dass auch der Blick aufs Bewahrende, auf die Traditionsverbundenheit, auf die Konnotationen archaischer Stilrichtungen wichtig ist.

Wolfram Knauer (August 2016)


Black Popular Music in Britain Since 1945
herausgegeben von Jon Stratton & Nabeel Zuberi
Farnham, Surrey 2014 (Ashgate)
240 Seiten, 65 Britische Pfund
ISBN: 978-1-4094-6913-1

Black British Jazz. Routes, Ownership and Performance
herausgegeben von Jason Toynbee & Catherine Tackley & Mark Doffman
Farnham, Surrey 2014 (Ashgate)
230 Seiten , 65 Britische Pfund
ISBN: 978-1-4724-1756-5

Großbritannien hat die Nase vorn, wenn es um Jazz geht. In London waren es die ersten Jazzkonzerte zu hören, noch vor Paris oder Berlin, hier ließen sich – allein schon wegen der geringeren Sprachbarriere – amerikanische Musiker nieder, auch wenn sie eigentlich durch Europa touren wollten. Armstrong und Ellington waren Anfang der 1930er Jahre live zu erleben, und so ist es kein Wunder, das die britische Jazzszene bereits in den 1930er Jahren zu den avanciertesten Europas gehörte. In den 1940er Jahren entwickelten sich hier eine neue Art von traditionellem Jazz, daneben aber auch Mischformen aus Jazz und Blues wie der Skiffle, die allesamt von Einfluss auf die populäre Musik aus England waren.

Die Jazzszene Großbritanniens wird gern – wie die meisten Jazzszenen Europas – als eine weiße, europäische Jazzszene wahrgenommen, als eine Entwicklung der Re-Akkulturation afro-amerikanischer (also eigentlich afro-euro-amerikanischer) Musik nach Europa. Tatsächlich aber hatte die Kolonialmacht England genügend schwarze Musiker aus ihren (früheren) Kolonien, insbesondere der Karibik, die das kulturelle Leben der Hauptstadt belebten. Die beiden Bücher “Black British Jazz” und “Black Popular Music” widmen sich dieser oft vernachlässigten Seite der britischen Musikgeschichte.

Während “Black British Jazz” die verschiedenen Wege untersucht, auf denen – neben den Tourneen afro-amerikanischer Stars – schwarze Einflüsse in England bemerkbar wurden, die Aneignung einer afro-britischen Identität seit dem Avantgarde-Jazz der späten 1960er Jahre bis hin zu jungen Musikern der Gegenwart wie Soweto Kinch, sowie konkrete Beispiele eines ästhetischen Diskurses im Königreich, ist “Black Popular Music” sehr breiter angelegt, deckt Jazz vor allem im ersten Kapitel der Musikwissenschaftlerin Catherine Tackley ab, um dann populäre Stile wie Ska, “Afro-Trends”, Rock, Soul, Hip-Hop und vieles dazwischen zu untersuchen, immer mit der Frage, wie sich eine schwarze britische Identität in der Musik abbilde und welchen Widerhall die Musik im Publikum hat.

2014toynbeeIm Vorwort zu “Black British Jazz” skizzieren die Herausgeber fünf prägende Momente in dieser Geschichte: (1.) die Tournee des Southern Syncopated Orchestra 1919 in England, das dem Land zum ersten Mal das Bewusstsein brachte, dass es da eine aus schwarzer Ästhetik geborene neue Musikrichtung gab; (2.) eine Musikszene um Musiker aus Jamaika und anderen karibischen Ländern, die oft genug ihre Instrumente in den Militärkapellen der Kolonialherren gelernt hatten; (3.) die Bebopszene im London der 1950er Jahre, die deutlich das schwarze Element der Improvisation in den Vordergrund stellte; (4.) die Anwesenheit südafrikanischer Expatriates in den 1960er Jahren, sowie (5.) das Erwachen eines auch politischen afro-britischen Bewusstseins spätestens in den 1980er Jahren.

Howard Rye skizziert in seinem Kapitel die Akkulturation schwarzer Musik bis 1935, und verweist sowohl aufs Musiktheater (“In Dahomey”), auf Tourneen afro-amerikanischer Musiker und auf die ersten schwarzen britischen Bands. Catherine Tackley widmet sich dem Thema der Migration und fokussiert beispielsweise auf die “Tiger Bay”, ein Viertel in Cardiff, das insbesondere Musiker kolonialer Herkunft anzog. Kenneth Bilby fragt, ob Reggae und karibische Musik für den britischen Jazz das darstellten, was für den amerikanischen Jazz der Blues sei.

Mark Banks und Jason Toynbee befassen sich mit der öffentlichen Jazzförderung in Großbritannien seit 1968, die die Ausbildung einer britischen Avantgarde-Szene erst ermöglichte, fragen nach den Diskursen dieser Szene und der Beteiligung afro-britischer Musiker an ihr. Mark Doffman stellt dieselbe Frage noch allgemeiner, beschreibt, welcher Anstrengungen es bedürfe, den britischen Jazz als Teil einer schwarzen Diaspora zu verstehen. Justin A. Williams beschäftigt sich mit dem Beispiel des Saxophonisten Soweto Kinch, der Hybridität der Genres Jazz und Hip-Hop, und beschreibt das Selbstverständnis und das Selbstbewusstsein, das sich in Kinchs Projekten einer Verbindung der beiden Genres ableitet.

George McKay wirft einen Blick auf die aus Trinidad stammende Pianistin Winifred Atwell und fragt, warum sie in den Geschichtsbüchern zum britischen Jazz nicht vorkomme. George Burrows betrachtet den Modernismus in Reginald Foreysthes Musik vor dem Hintergrund der Adorno’schen Moderne-Diskussion. Byron Dueck schließlich fragt nach der sozialen Situation der britischen Jazzszene, die sich bis heute vor allem aus weißen, der Mittelklasse verbundenen Mitgliedern zusammensetzt, und er fragt nach den Gründen für die Faszination mit schwarzer Musik.

Ist also “schwarzer britischer Jazz” die Musik, die von schwarzen Musikern in Großbritannien gespielt wird? Oder handelt es sich vielmehr um eine ästhetische Größe, die sich in Musikern jedweder Hautfarbe wiederfinden kann? Die Antwort auf diese Frage ist komplex, denn die Vor- und Nachteile von schwarzer Authentizität oder weiß-dominierter Kulturszene geraden bei fast jedem Argument stark ins Kippen.

2014stratton“Black Popular Music in Britain since 1945” verfolgt einen stilistisch breiteren Ansatz. Hier fragt Catherine Tackley etwa nach der nationalen Identität west-indischer Musiker, die sich selbst als britische Jazzmusiker verstanden und wohl auch waren, weil die spezifische Art von Musik, die sie machten, nur in der Londoner Szene sich entwickeln konnte. Jon Stratton untersucht den Einfluss afrikanischer Musik sowie der Tourneen afro-amerikanischer Bluesmusiker in den 1950er und 1960er Jahre auf die britische Musikszene. Markus Coester hinterfragt die Klischees, die in der musikalischen Mode des “Afro Trend” der 1960er und 1970er Jahre zu finden sind, ästhetische Stereotype irgendwo zwischen Authentizität, Diversität und Happiness.

Robert Strachan schaut auf die Britfunk-Welle der 1980er Jahre, stellt daneben Fragen nach Gender und Identität, wie sie sich in diesem Genre ausdrückten. Rehan Hyder fokussiert auf die Stadt Bristol, die durch Zuwanderung eine multiethnische Bevölkerung und eine starke schwarze Community besitzt, und stellt die Musik in den schwarzen Clubs der Stadt in den 1970er und 1980er Jahren vor, die durchaus eine Art eigenen Sound kreieren halfen. Mykaell Riley ist Gründungsmitglied der Reggae-Band Steel Pulse und berichtet damit aus eigener Erfahrung über die Reggae- und Bass-Culture-Szene der 1960er und 1970er Jahre.

Lisa Amanda Palmer fragt nach schwarzer Maskulinität und der Feminisierung des sogenannten “lovers rock”, des “soft reggae” der 1980er Jahre. Julian Henriques und Beatrice Ferrara werfen einen Blick auf das multikulturelle Londoner Straßenfest Notting Hill Carnival, in dem Musik Raum, Ort und Territorium markiere. Hillegonda C. Rietveld blickt auf HipHop-affine Stile, Electro-Funk, House, Acid-House, Madchester, Haçienda, Techno und andere. Jeremy Gilbert nimmt sich die elektronische Tanzmusik der 1990er bis 2000er Jahre vor. Nabeel Zuberi schließlich fragt nach den Stimmen der MC-Kultur, nach Sprache, Klangverfremdung, kultureller Identität, die sich in den Raps der Hip-Hop- und Grime-Künstler der jüngsten Generation ausdrückt.

Beide Bücher, die in derselben Reihe des Verlags erschienen sind, ergänzen sich dabei hervorragend. Sie sind beide keine historischen Abhandlungen, in denen die Geschichte schwarzer Musik in England chronologisch vorgeführt wird, sondern versammeln Aufsätze, die sich auf verschiedene Aspekte dieser Geschichte fokussieren und sind damit Teil eines kulturwissenschaftlichen Diskurses, der sehr bewusst über den Tellerrand der jeweiligen Genres hinausblickt. Bleibt anzumerken, dass beide Bücher Musik vor allem als kulturellen Ausdruck betrachten und dabei kaum einen Blick auf die Musik selbst werfen, auf den konkreten Ausdruck, der sich in Melodien, Rhythmen, Formen und Sounds widerspiegelt.

Wolfram Knauer (August 2016)


Canterbury Scene. Jazzrock in England
von Bernward Halbscheffel
Leipzig 2014 (Halbscheffel Verlag)
342 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-943483-00-0

2014halbscheffelEine besondere Facette des britischen Jazz stellt die Canterbury Scene der 1960er Jahre dar, eine musikalische Haltung, die sich aus einem Musikerkreis um Daevid Allen, Hugh Hopper und Robert Wyatt entwickelte, die ihrerseits mit der Verbindung experimenteller Rock- und experimenteller Jazzmusik experimentierten. Bands wie Soft Machine, Caravan, Henry Cow, Hatfield and the North und andere waren selbst in den 1970er Jahren nur Eingeweihten bekannt, sind aber für das Verständnis der Rock- und auch der Jazzentwicklung unverzichtbar, fügten sie doch, wie Bernward Halbscheffel im Vorwort seines Buchs zur “Canterbury Scene” schreibt, “dem Jazz der 1980er und 1990er Jahre einige europäische Farben hinzu”.

Halbscheffel, der im eigenen Verlag bereits ein zweiteiliges Sachlexikon Rockmusik sowie ein Lexikon Progressive Rock vorgelegt hat, hat auch sein Buch zur Canterbury Scene lexikalisch angelegt. Neben einer chronologischen Darstellung der historischen Entwicklung bebildert er diese dabei durch analytische Details oder Anekdoten, für die das Alphabet die Struktur vorgibt. Von “A” wie “Allen, Daevid Christopher” bis “Z” wie “Zeuhl”, einer “Spielart des Progressive Rock, initiiert von Christian Vander” finden sich Namen und Sachbegriffe, bündige Artikel zu einzelnen Bands und Biographien der wichtigsten Musiker.

Jedes Stichwort lädt den Leser zum Perspektivenwechsel ein, denn in jedem Eintrag wird aus anderer Warte auf das Thema des Buchs geschaut, auf den experimentellen Umgang mit Rockgeschichte und Improvisation. Dabei diskutiert Halbscheffel neben ästhetischen Haltungen auch genreübergreifende Begriffe wie “Avantgarde”, oder den britischen Unternehmer Richard Branson, der vor seinen Billigfliegern mit Virgin Records eine wichtige Plattenfirma gegründet hatte. Neben den mit der Canterbury-Szene verbundenen Bands und Musikern behandelt Halbscheffel auch die Auswirkungen etwa auf die deutsche Szene, wo mit dem Krautrock ein eigenes musikalisches Phänomen heranwuchs, wo Bands wie Cassiber enge Kontakte zu Canterbury-Musikern knüpften, oder wo oder das kurzlebige Plattenlabel “Hör Zu Black Label” in einer genreübergreifenden Veröffentlichungspolitik die Musik von Stockhausen und Albert Mangelsdorff genauso herausbrachte wie jene von Dagmar Krause oder Inga Rumpf.

Von Jazzseite sind neben den Artikeln über stilbildende Musiker etwa jene über den “Jazz” und über “Jazzrock” von Interesse, mit 16 Seiten immerhin einer der umfangreichten Einträge des Lexikons. Halbscheffel erzählt die Jazzgeschichte wie andere auch, von New Orleans bis Free Jazz und Fusion, interessiert sich aber naturgemäß vor allem für die jüngeren Entwicklungen, die Diskurse der 1970er bis 1990er Jahre. Er zeichnet die Geschichte des Genres in Europa nach, schildert die Entwicklung von Faszination über Nachahmung bis zur aktuellen insbesondere deutschen Szene, die, wie er schreibt, “spätestens seit den 1980er-Jahren zu einer Minderheitenmusik geworden” sei. In seinem “Jazzrock”-Eintrag versucht er zu unterscheiden, welche Einflüsse und welche Unterschiede für beide Seiten der Gleichung gelten (Rock wie Jazz), diskutiert den Jazzrock um 1970 als Stil und Stilmittel sowie die unterschiedliche Rezeption des Genres von Rock- und Jazzhörerseite.

In der abschließenden Abhandlung über die Canterbury Scene erzählt Halbscheffel, wie aus einer Anfang der 1960er Jahre gegründeten Schülerband eine “Szene” entstand, die ihre eigenen ästhetischen Vorstellungen entwickelte, wie nach und nach ein größeres Publikum die aus dieser Szene entstandenen Musik entdeckte, wie die Bands Soft Machine und Caravan auch kommerziellen Erfolg hatten, es daneben aber auch andere Konzepte gab, wie die Strömung Ende der 1970er Jahre verebbte, um in den 190er Jahren als eine einflussreiche Entwicklung wiederentdeckt zu werden. Er analysiert Aufnahmen der Bands Soft Machine, Caravan und Henry Cow und diskutiert das Element von Erfolg und mangelndem Erfolg und ihre Auswirkungen auf die Realität des Musikmachens am Beispiel der Canterbury Scene.

Halbscheffels “Canterbury Scene. Jazzrock in England” ist Fachbuch und Lexikon in einem, ein umfassender und vielschichtiger Überblick über eine wichtige Szene der europäischen Avantgarde zwischen Jazz und Popmusik, ein Buch für Liebhaber genauso wie ein Nachschlagewerk für den interessierten Laien.

Wolfram Knauer (August 2016)


Sidney Bechet in Switzerland / Sidney Bechet en Suisse
von Fabrice Zammarchi & Roland Hippenmeyer
Genf 2014 (United Music Foundation)
216 Seiten, 4 CDs, 179 Schweizer Franken
http://www.unitedmusic.ch

2014zammarchiWenn ein Musiker den Weg des Jazz nach Europa symbolisiert, dann ist es Sidney Bechet. Der Klarinettist und Sopransaxophonist kam 1919 zum ersten Mal in die “Alte Welt”, als er mit dem Southern Syncopated Orchestra hier tourte. Bei einem Konzert in Lausanne beeindruckte sein Klarinettensolo über den Blues den klassischen Dirigenten Ernest Ansermet so sehr, dass dieser eine viel zitierte Kritik in der “Revue Romande” verfasste, die erste ernsthafte Würdigung eines Jazzsolisten überhaupt. Mit einem Faksimile dieser Kritik beginnt das Buch “Sidney Bechet in Switzerland”, das akribisch – und zweisprachig, also auf Englisch und Französisch – Bechets Besuche in der Schweiz von 1919 bis 1958 dokumentiert.

In den 1920er Jahren lebte Bechet für längere Zeit in Europa; bereiste die Schweiz 1926 beispielsweise mit der Revue Négre” und der Show “Black People”. Seinen Wohnsitz hatte er damals in Paris, wurde allerdings 1929 nach einer Schießerei aus Frankreich ausgewiesen. Nach einem knapp zweijährigen Gastspiel in Berlin kehrte Bechet 1931 in die Vereinigten Staaten zurück.

Achtzehn Jahre später war Bechet dann wieder in Europa und ließ sich in Paris nieder. Man hörte ihn überall auf dem Kontinent, und in der Schweiz war er ein gern gesehener Gast, tourte das Land mit den Bands von Claude Luter, von André Reweliotty, mit Schweizer oder anderen europäischen Kollegen.

Fabrice Zammarci und Roland Hippenmeyer, die jeder für sich bereits fundierte Bücher über Sidney Bechet geschrieben haben, sammelten für dieses opulente Coffee-Table-Buch seltene Fotos, Zeitungsartikel, Programmhefte und zahlreiche andere Dokumente, die Bechets Auftritte in der Schweiz dokumentieren. Sie sprachen mit Zeitzeugen und noch lebenden Musikerkollegen, mit Bechets Sohn Daniel oder mit seinem ehemaligen Manager Claude Wolff. Das Ergebnis ist ein Schatz an spannenden Geschichten, an Erinnerungen und visuellen Dokumenten, denen es gelingt die Faszination für die Musik des Sopransaxophonisten lebendig werden zu lassen.

Richtig lebendig wird das alles dann allerdings insbesondere durch die vier dem Buch beiheftenden CDs, die Bechets Besuche in den 1950er Jahren dokumentieren. Hier finden sich Konzertmitschnitte zwischen Mai 1949 und April 1958, aus Genf, Lausanne, Zürich und Sion, die er Schweizer Rundfunk mitschnitt. Daneben enthalten die CDs aber auch mehrere Interviews, in denen sich Bechet in exzellentem Französisch vor allem an seine Jugend in New Orleans erinnert, daneben aber auch über seine Ballettmusik “La Nuit est une Sorcière” spricht und im Duo mit dem Pianisten Charles Lewis Auszüge daraus spielt. Gerade die Livekonzerte machen deutlich, welch begnadeter Solist Bechet war, mit einem Ton und einem Drive, dem sich seine Mitmusiker genauso wenig entziehen können wie sein Publikum.

“Sidney Bechet in Switzerland” ist eine großartige “labor of love”. Das Buch sei jedem Freund traditioneller Stilrichtungen dringend ans Herz gelegt, mag aber auch künftigen Forschern des Zusammenspiels amerikanischer und europäischer Musiker in der Nachkriegszeit als exzellente Quelle dienen, weil zwischen den Zeilen immer wieder Aspekte erwähnt werden, die in der Jazzgeschichtsschreibung sonst selten zur Sprache kommen. Wobei Sidney Bechet, und das ist vielleicht die überzeugendste Botschaft dieses Buchs, sich schon zu Beginn der 1950er Jahre keinesweigs als ein “American expatriate” empfand. Er war, wenn überhaupt, ein Franzose aus New Orleans, ein überzeugter Weltbürger.

Wolfram Knauer (Juni 2016)


The View From The Back Of The Band. The Life and Music of Mel Lewis
von Chris Smith
Denton/TX 2014 (University of North Texas Press)
399 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-57441-574-2

^2014_smithIm Vorwort zu dieser Biographie des Schlagzeugers Mel Lewis betont John Mosca, dass dem einen oder anderen vielleicht bewusst sein mag, wie wichtig ein Drummer für die Energie einer Bigband ist, dass er selbst allerdings, als er Lewis zum ersten Mal hörte, vor allem beeindruckt davon war, was Lewis entschied NICHT zu spielen. Mosca erwähnt auch, dass, wenn das vorliegende Buch zwar eine Biographie Mel Lewis’ sei, man die beiden Partner der Thad Jones / Mel Lewis Big Band immer zusammen denken müsse, weil sie beide das Talent des jeweils anderen so gut komplementierten, und dass man insbesondere an ihrer Zusammenarbeit die Größe eines jeden einzelnen erkenne.

Chris Smith, selbst ein in New York lebender professioneller Schlagzeuger, beginnt sein Buch mit einem Auszug aus dem Manuskript für Lewis’ eigene, nie veröffentlichte Autobiographie, “The View from the Back of the Band”. Sein Vater, schreibt Mel darin, sei bereits Schlagzeuger gewesen. Im Kindergarten habe er die Becken bedient, bald darauf, in der ersten Klasse die Basstrommel. Irgendwann habe er seinen Vater bei einer jüdischen Hochzeit ersetzt und sich seit dem Zeitpunkt als professioneller Musiker verstanden.

Melvin Sokoloff (so sein richtiger Name) wurde 1929 in Buffalo, New York, geboren, und die Hochzeit, von der er hier sprach, fand 1935 statt. Bereits in den frühen 1940er Jahren war er ein gefragter Schlagzeuger in der Region um Buffalo, spielte in Swing- und Polka-Bands, für Hochzeiten oder Tanzveranstaltungen. Mit 14 wurde er Drummer für die Bob Seib Band, 1946 tourte er mit Bernie Burns’ Orchester durch den Mittleren Westen. Sein Schlagzeug-Kollege Frankie Dunlop erweckte sein Interesse für den Bebop, der auch die Musik der Lenny Lewis Big Band prägte, in der Mel in jenen Jahren spielte. Im Rückblick identifiziert Mel die frühen Einflüsse auf sein Spiel: ein bisschen Jo Jones, ein bisschen Gene Krupa, noch nicht wirklich Max Roach, sicher Shadow Wilson, besonders aber Big Sid Catlett.

1948 zog es Mel Lewis mit der Lennie Lewis Band dorthin, wo es jeden jungen Jazzmusiker zog, damals wie heute, nach New York City. Count Basie hörte ihn und entschied sich, Mel für sein eigenes Orchester zu sichern, dem er ein moderneres Gesicht verpassen wollte. Kurz vor dem Gig aber wurde er wieder ausgeladen, auch deshalb, weil Basies Management gerade eine Tournee durch die Südstaaten gebucht hatte, und es für einen jungen weißen Musiker nicht sicher gewesen wäre, mit einer schwarzen Band zu reisen. Mel folgte Tiny Kahn als Schlagzeuger des Boyd Raeburn Orchestra, spielte dann mit Alvino Reys Tanzkapelle. Ray Anthony, mit dem er als nächstes auftrat, gab ihm seinen künftigen Bühnennamen Mel Lewis. Anthony sei ein Despot gewesen, und ihre musikalischen Ansichten hätten weit auseinander gelegen, und doch habe er in seiner Zeit bei Anthony eine Menge gelernt, insbesondere Disziplin. Während er mit Tex Benekes Band spielte, traf er seine spätere Frau Doris, konnte den Bandleader daneben aber auch überzeugen, einen Freund, den Ventilposaunisten Bob Brookmeyer zu engagieren, den er 1949 in Chicago kennengelernt hatte. Basie bot ihm ein zweites Mal den Schlagzeugstuhl an, zahlte aber nicht genug, und Stan Kentons Angebot, mit dessen Band zu spielen, zog Kenton gleich darauf zurück, weil sein bisheriger Drummer zurückgekehrt war. 1954 allerdings rief Kenton ein zweites Mal an, und Lewis hatte zum ersten Mal die Möglichkeit mit einer der Top-Bands des Landes zu arbeiten.

Während seiner Zeit bei Stan Kenton traf Mel Lewis erstmals auf den jungen Trompeter Thad Jones, der damals noch bei Count Basie spielte. Lewis lebte damals in Los Angeles, wirkte bei Platten der West Coast Jazzszene mit, war mehr und mehr auch für kleiner besetzte Studioalben gefragt. 1959 erhielt der Vibraphonist Terry Gibbs einen Gig in einem Club in Hollywood und Lewis war mit von der Partie. Er machte Aufnahmen mit Art Pepper, Ben Webster und Gerry Mulligan, in dessen Concert Jazz Band er am Schlagzeug saß. Er reiste mit Dizzy Gillespie durch Europa und mit Benny Goodman in die Sowjetunion, trat regelmäßig in New York auf und hatte Studiogigs in Hollywood.

Nachdem er sich 1963 entschieden hatte, wieder ganz nach New York zu ziehen, zog er sofort viele Jobs an Land, Jazz-Engagements genauso wie Studiogigs etwa für die Jimmy Dean Show auf ABC. Mit Pepper Adams und Thad Jones, der Clark Terry in Gerry Mulligans Concert Jazz Band ersetzt hatte, trat er in kleiner Besetzung auf, und nachdem Mulligan sein Orchester aufgelöst hatte, entwickelten die beiden den Plan einer eigenen Big Band. Ende 1964 probten sie, suchten nach einem Auftrittsort und fanden diesen schließlich im Village Vanguard, das der Band den Montagabend zur Verfügung stellte, den finanziell für New Yorker Clubs erfahrungsgemäß schlechtesten Abend der Woche.

Am 7. Februar 1966 war das Orchester erstmals zu hören und hatte sofort großen Erfolg. Jeder der Musiker erhielt damals gerade mal 16 Dollar pro Abend, was nur deshalb ging, weil alle mit Herzblut dabei waren und außerdem andere Gigs, meist in den Studios oder am Broadway hatten. Smith berichtet von Alben für Solid State und von Tourneen, die nicht alle erfolgreich waren. So fest geschrieben die Arrangements auch waren, so behielten sie immer auch ein Moment des Improvisierten, wie Eddie Daniels berichtet, der sich erinnert, dass sich viele der schweren Arrangements von Thad Jones noch während des Auftritts veränderten, wenn Jones etwa dem Saxophonsatz Licks zusang und alle Musiker die Spannung der Live-Komposition spürten.

1971 hofften die beiden Bandleader auf einen Grammy für das “Best Large Jazz Ensemble”, der dann aber an Miles Davis’ “Bitches Brew” ging. Smith beschreibt personelle Wechsel in der Band, einen Wechsel der Plattenfirma, eine Konzertreise in die Sowjetunion 1972 und andere ausgedehnte Tourneen. Er nennt Höhepunkte und Streits und er schildert ausführlich die Entscheidung Thad Jones’, die Band zu verlassen und nach Kopenhagen zu ziehen, wo ihm ein Posten mit der Danish Radio Big Band angeboten worden war. Mel Lewis fühlte sich betrogen, künstlerisch, finanziell, persönlich, entschied dann aber nach langen Gesprächen mit Vertrauten, die Band fortzuführen.

Mel Lewis and The Jazz Orchestra, wie das Ensemble jetzt hieß, hatte das Repertoire von Thad Jones, hatte einen der wohl antreibendsten Schlagzeuger des Jazz, nämlich Mel Lewis, und fand nun in Bob Brookmeyer und einigen anderen Arrangeure, die das Repertoire mit neuen Stücken auffüllte. Der Besuch im Vanguard ging allerdings ohne Thad zurück, was sich erst änderte, als kein geringerer als Miles Davis die Band auch öffentlich lobte (und einmal sogar mit einstieg). Sein Geld verdiente Mel nach wie vor mit Studiogigs, mit Tourneen kleinerer Bands, ab den 1980er Jahren aber auch mit regelmäßigen Aufträgen durch die WDR Big Band.

Der Saxophonist Ted Nash erzählt, wie Cecil Taylor zu ihren größten Fans gehörte und vorschlug, sie sollten doch mal eine seiner Kompositionen spielen, dann aber ohne Noten kam, immer nur Schnipsel am Klavier vorspielte und die Band nach drei Stunden vielleicht mal 20 Takte zusammenhatte. 1985 trafen Thad und Mel sich noch einmal in Stuckholm und sprachen über mögliche gemeinsame Zukunftspläne. Dann aber starb Thad, und nicht lang danach streute der Hautkrebst, der bei Lewis 1985 diagnostiziert worden war, bis in die Lungen. Mel Lewis spielte bis zum seinem Ende, er starb am 2. Februar 1990.

Chris Smiths’ Buch verfolgt die Karriere von Melvin Sokoloff ausführlich, wenn er auch spätestens seit 1965 das Jones / Lewis Orchester und seine Nachfolger in den Vordergrund stellt. Im Anhang nähert sich Smith dem Schlagzeuger Lewis als Kollege, analysiert und transkribiert diverse Drum-Partien in Aufnahmen kleiner Besetzungen genauso wie in solchen mit Bigband. Eine ausgewählte Diskographie und ein Personen-Index beschließen das Buch.

“The View from the Back of the Band” ist eine Biographie des Schlagzeugers Mel Lewis, überzeugt aber letzten Endes insbesondere als Dokumentation über Lewis’ größtes Vermächtnis, die von ihm und Thad Jones gegründete Bigband, die dafür sorgte, dass der in den Mitt-1960er Jahren totgesagte Bigband-Jazz nicht starb.

Wolfram Knauer (Februar 2016)


Louis Armstrong. Master of Modernism
von Thomas Brothers
New York 2014 (W.W. Norton & Company)
594 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-393-66582-4

2014brothersDieses Buch ist bereits das dritte, das Thomas Brothers über Louis Armstrong geschrieben hat. In “Louis Armstrong. In His Own Words” legte er eine Dokumentation diverser Korrespondenzen und selbstverfasster Manuskripte des Vielschreibers und Trompeters vor, In “Louis Armstong’s New Orleans” portraitierte er Satchmos Jugendjahre in seiner Heimatstadt. Mit “Louis Armstrong. Master of Modernism” erfährt letzteres Buch nun eine Art Fortsetzung, in der Brothers vor allem Armstrongs Aktivitäten in den 1920er Jahren betrachtet. Er verfolgt dabei die Zusammenarbeit Armstrongs mit King Oliver’s Creole Jazz Band, die Ausbildung eines eigenen Stils, den Brothers als “modernen Stil” bezeichnet und Armstrong damit zu einem “Meister der Moderne” kürt und in eine Reihe mit anderen Ausprägungen der Moderne stellt, Erfindungen der frühen Unterhaltungsindustrie genauso wie einer wachsenden Distanz zum sittenstrengen Konventionen des Viktorianismus. Armstrong aber, so Brothers, erfand nicht nur einen, sondern gleich zwei moderne Kunstformen, von denen eine vor allem auf sein schwarzes Publikum, die andere an den Mainstream-Markt der weißen Fans gerichtet war. Er veränderte die traditionellen Herangehensweisen ans Zusammenspiel in der Band, und er wandte Methoden des Showbusiness auf die Musik an und beeinflusste damit den Jazz als Kunstrichtung, daneben aber auch die Musik ganz allgemein nachhaltig. Mit dieser Interpretation von Armstrongs Kunst als einem großen Beitrag zur intellektuellen Kulturgeschichte des 20sten Jahrhunderts will Brothers ganz bewusst von jenen im Rassismus der Vereinigten Staaten begründeten Lesarten abrücken, die das Bild eines ungelernten Musikers hochhalten, der nicht viel über das nachdenke, was er da spiele, sondern stattdessen einfach intuitiv Musik macht. Für Armstrongs Kunst, schreibt Brothers, war eine künstlerische Disziplin notwendig, die der eines Beethoven, Strawinsky usw. in nichts nachstünde. Zur Akzeptanz dieser Seite der Moderne gehöre aber auch zu verstehen, dass sich Armstrongs Kreativität zuallererst in seiner Kunst ausdrückte und damit einen nicht-verbalen Diskurs der Moderne wiedergebe.

Brothers beginnt sein Buch am 8. August 1922, als der 21-jährige Louis Armstrong in New Orleans den Zug nach Chicago bestieg, wohin ihn Joe Oliver eingeladen hatte, um seine Creole Jazz Band zu verstärken. Er beschreibt die Arbeitsumgebung in der Stadt im Norden, die Tanzhallen, aber auch das schwarze Leben in Chicago, das durch viele der kulturellen Traditionen beeinflusst gewesen sei, die Afro-Amerikaner aus den Plantagen des Südens mitgebracht hätten. Solche Einflüsse fänden sich beispielsweise in der Bluesphrasierung, die damals ihren Weg von der Vokal- auch in die Instrumentalmusik fand, etwa jene ersten Aufnahmen, die Armstrong 1923 mit Oliver machte.

Brothers beschreibt Armstrongs Leben in Chicago, seine Beziehung zu Lil Hardin, die in Olivers Band als Pianistin mitwirkte und die er 1923 heiratete, und er beschreibt darüber hinaus Hardins Einfluss auf seine künstlerische Entwicklung genauso wie auf seine populäre Karriere. 1924 brach die Band auseinander, und Brothers hat in seinem Buch genügend Platz die verschiedenen Versionen über die Gründe für die Auflösung zu diskutieren. Armstrong nahm die Einladung Fletcher Hendersons an, in seinem Orchester zu spielen, in dem er sich aber nie recht wohl und von dem er sich immer ein wenig von oben herab behandelt fühlte. New York aber, erklärt Brothers, war ein weiterer Meilenstein seiner Karriere, eine neue Herausforderung in einer Umgebung, in der es nicht wie in Chicago eine große Community anderer Musiker aus New Orleans gab.

Im New York der Harlem Renaissance, die die Stärke der schwarzen Kultur ein wenig nach eurozentrischen Kriterien darstellte, war das scheinbar Archaische des Blues eine wichtige Klangfarbe, die aber erst durch die künstlerische Bearbeitung erhöht werden sollte. Armstrong bei Henderson war also eine Art Zusammenbringen unterschiedlicher Welten. Brothers beleuchtet die Aufnahmen, die Satchmo als “hot soloist” mit dem Orchester machte, hört sich aber auch Aufnahmen mit kleineren Besetzungen an, an denen mit Sidney Bechet ein weiterer wichtiger Solist des frühen Jazz beteiligt war. Er begleitet Armstrong zurück nach Chicago, ins Dreamland Café, ins Vendome Theater, und hört schließlich die ersten Hot Five-Aufnahmen des Trompeters. Er greift sich einzelne Stücke heraus, “Heebie Jeebies” etwa, das die Plattenfirma OKeh versuchte zu einem populären Tanz hochzupushen. Die Studioaufnahmen, die Satchmo in Folge mit seinem Quintett und Septett vorlegte, wurden zu kunstvollen Statements, seine eigenen Soli – Brothers beschreibt Armstrong hier vor allem als Meister der Melodie – zu Musterbeispielen für eine virtuose tour-de-force im Jazz. In Chicago war der 27-jährige bereits eine Legende, “eine Art Gott” zumindest für sein schwarzes Publikum. Dann, Ende 1928, nahm Armstrong sich vor, auch das weiße Publikum zu erobern. Paul Whiteman war schließlich ein weit bekannterer Bandleader als er, und auch ein Musiker wie Guy Lombardo, den Satchmo durchaus bewunderte, erreichte mehr Menschen. Mit der Aufnahme von “I Can’t Give You Anything But Love” begann nicht nur eine weitere Erfolgsgeschichte in seiner Karriere, sondern daneben auch eine das Publikum überaus ansprechende Art der Interpretation populärer Schlager. Brothers beschreibt die verschiedenen Facetten, die zum Erfolg in der weißen Musikwelt beitrugen, die Bühnenshows am Broadway, die Aufnahmen populärer Schlager und schließlich die Filmwelt, die sich mehr und mehr auch der Musik öffnete.

Armstrongs Musik habe sich vier verschiedener Ansätze an die Melodie bedient, resümiert Brothers: dem Blues, dem Lead, dem Hot Solo und der Paraphrase. Alle hätten unterschiedliche Funktionen, unterschiedliche Formen, unterschiedliche Geschichten besessen. Alle seien in der Welt, in der Satchmo groß geworden war, in New Orleans, wichtig gewesen, und alle vier hülfen, Armstrongs künstlerische Entwicklung zu verstehen. Brothers gelingt das Nachzeichnen dieser melodischen Kraft in seinem Buch auch deshalb so gut, weil er sich nicht scheut, in die Aufnahmen hineinzuhören, in verständlicher Sprache über die melodische Innovation zu schreiben, die Einflüsse auseinanderzudröseln, Querbeziehungen zu nennen und die Wirkung auf zeitgenössische Hörer zu erklären. Dass die Reduzierung dieses Musikers der “Moderne” auf seine melodische Erfindungsgabe nicht ausreicht, ist auch Brothers klar. Seine Konzentration aber insbesondere auf dieses Merkmal in Satchmos Spiel hilft dem Leser sich auf eine vielleicht zu selten in den Mittelpunkt gestellte Perspektive seines Spiels zu konzentrieren.

Thomas Brothers Buch ist gut recherchiert und äußerst flüssig geschrieben. Ein umfangreicher Apparat an Anmerkungen und Literaturverweisen, ein ausführliches Register und viele Fotos runden das Buch ab, das einmal mehr beweist, dass auch über einen Künstler, über den bereits alles erforscht zu sein scheint, Neues zu schreiben ist. Vor allem die Einordnung Armstrongs in die amerikanische Musikindustrie der 1920er Jahre und die differenzierte Beschreibung der unterschiedlichen Szenen in Chicago und New York machen das Buch daneben zu einem wichtigen Beitrag zur Erforschung der frühen Jazzgeschichte.

Wolfram Knauer (Dezember 2015)


The New Orleans Scene, 1970-2000. A Personal Retrospective
von Thomas W. Jacobsen
Baton Rouge 2014 (Louisiana State University Press)
199 Seiten, 25 US-Dollar
ISBN: 978-0-8071-5698-8

2014jacobsenDer 1935 geborene Thomas Jacobson wuchs in einem kleinen Ort in Minnessota auf. Er spielte ein wenig Klarinette und wurde in seiner Jugend zum Jazzfan. Ihn interessierte der Swing, vor allem aber faszinierte ihn die authentische Musik, die er in einem Radiosender aus New Orleans hörte. Ende der 1980er Jahre verbrachte er ein Jahr lang als Gastprofessor in der Geburtsstadt des Jazz und entschied sich, nach seiner Pensionierung dorthin zu ziehen. Seither hat er in Fachblättern und seinem Buch “Traditional New Orleans Jazz” über die Szene der Stadt berichtet. Jetzt legte Jacobsen ein neues Buch vor, in dem er chronologisch die Jazzszene in New Orleans von 1970 bis 2000 beschreibt, Musiker, Bands, Veranstaltungsorte, Festivals, Ausbildungsmöglichkeiten und vieles mehr. Seine Entscheidung, diese Chronologie 1970 beginnen zu lassen, hängt mit einem anderen Buch zusammen, Charles Suhors “Jazz in New Orleans. The Postwar Years through 1970”, das genau in dem Jahr aufhörte und das er sich auch in seiner Darstellungsstruktur als Vorbild für sein Manuskript nahm. Wie Suhor war es Jacobsen dabei wichtig, alle Aspekte des Jazzlebens in der Crescent City zu dokumentieren und sich nicht auf die frühen Stile zu beschränken, wenn diese auch, wie er anmerkt, die Musik im French Quarter in der Zeit, die er betrachtet, überdurchschnittlich beherrscht habe.

Jacobsen beginnt in den 1960er Jahren, als die “Beatlemania” die Popmusik prägte. Der Jazz sei damals quasi tot gewesen in der Stadt, die ihn einst hervorgebracht habe, klagten viele Journalisten, aber auch Jazzkenner. Tatsächlich brannte das Feuer des Jazz aber nur auf kleiner Flamme. Jacobsen nennt die Namen all der Musiker, die in diesem Jahrzehnt entweder wiederentdeckt wurden oder aber über kurz oder lang in ihre Heimatstadt zurückkamen und diese neu belebten. Vier Faktoren hätten in den 1960er Jahren ihren Ursprung gehabt, die für das Fortbestehen der Stadt als Jazzmekka sorgen sollten: die Eröffnung der Preservation Hall, die ab 1961 den älteren Musikern der Stadt Respekt zollte, die Gründung des Jazzmuseums, das später ins Louisiana State Museum übergeführt wurde, der Beginn des New Orleans Jazz and Heritage Festivals, sowie das wachsende Bewusstsein, dass auch die moderneren Spielarten ihren Ursprung in New Orleans hatten.

Jacobsens Buch handelt die dreißig Jahre jahrzehnteweise ab, und auch innerhalb dieser Großkapitel chronologisch. Er beginnt mit dem Tod Louis Armstrong 1971, der neben den Trauerfeierlichkeiten in New York auch mit einer Parade in New Orleans bedacht wurde. Jacobsen zählt die Clubs auf, bekannte wie Pete Fountain’s oder Al Hirt’s auf der Bourbon Street, und unbekanntere, kurzlebige genauso wie solche, die immer noch bestehen (darunter Fritzel’s European Jazz Pub”). Der Impresario George Wein machte das Jazz and Heritage Festival zu einem Publikumsmagneten; viele der hier lebenden Musiker sorgten in Repertoireorchestern wie dem New Orleans Ragtime Orchestra oder dem Louisiana Repertory Jazz Ensemble dafür, dass die musikalische Tradition der Stadt am Leben erhalten wurde. Jacobsen streicht die Bedeutung der Brassbands heraus und die Institutionalisierung von pädagogischen Programmen.

Die Struktur dieses Kapitels nehmen auch die folgenden Seiten auf. Für die 1980er Jahre erwähnt Jacobsen etwa das neue French Quarter Festival, schreibt über Brassbands, die den traditionellen Jazz mit Pop, Soul und modernem Jazz verbanden, über die Marsalis-Brüder, die anfingen weltweit von sich reden zu machen, und erwähnt eine neue Veröffentlichung für die städtische Musikszene, die Zeitschrift “OffBeat”. Für die 1990er Jahre berichtet er außerdem über das Bechet Centennial von 1997, über Doc Cheatham und Henry Butler, die das Musikleben der Stadt bereicherten, und endet mit der Beschreibung des Jazzdiskurses dieses Jahrzehnts, in dem es auch um die Deutungshoheit über die Jazzgeschichte ging und in dem Wynton Marsalis insbesondere die Stellung von New Orleans besonders zu betonen wusste.

Im Schlusskapitel macht sich Jacobsen Gedanken über das Alter des Publikums, aber auch über dessen Geschmack, die stärkere Akzeptanz mehrerer Genres bei jüngeren Hörern anstelle des alten Spartendenkens. Er regt eine demographische Untersuchung über das Jazzpublikum an, die etwa während des JazzFests durchgeführt werden könnte und von dessen Zahlen er sich erhofft, das sie die landesweite Studie zum Thema auf die Region herunterbrechen würden. Er reißt kurz die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Musikern an, die Tatsache, dass sich nur wenige von ihnen eine Krankenversicherung leisten können, und er betont die Bedeutung von Initiativen wie der New Orleans Musicians’ Clinic. Dabei bleibt er optimistisch, findet, dass die Musikszene in New Orleans nach wie vor ungemein kreativ ist und die Musiker selbst dafür sorgen, dass sie das auch bleibt.

Thomas Jacobsen bleibt in seinem Buch Chronist mit klaren Vorlieben. Er blickt nur sporadisch über die Jazzszene hinaus, obwohl der Jazz auch und gerade in New Orleans so eng mit der gesamten Kulturszene der Stadt verbunden ist. Blues oder Zydeco und andere in der Stadt mindestens genauso präsenten Spielformen kommen kaum vor. Nur in Nebensätzen spricht er die außerdem die Spannungen an, die sich aus dem Spagat zwischen Arm und Reich, aus dem in der Region nach wie vor herrschenden Rassismus ergeben. Jacobsen wollte Suhors Buch fortschreiben, vielleicht aber wäre es klug gewesen, statt der Zäsur der Jahrtausendwende noch zehn Jahre weiter zu gehen. Gerade in der Katrina-Katastrophe und dem Umgang der Stadt mit den Folgen nämlich erkennt man die Stärken der Communities, aus denen heraus einst auch der Jazz entstanden war. Ned Sublette hat in seinem Buch “The Year Before the Flood” (2009) gezeigt, wie hilfreich eine solch breitere Sicht sein kann.

Aber natürlich war das nicht Jacobsens Ansatz. Und so bleibt das Buch genau das, was der Titel verspricht: eine sehr persönliche Retrospektive über die Jazzszene in New Orleans über drei Jahrzehnte. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Für Freunde des New Orleans-Jazz ist es damit eine mehr als willkommene Übersicht über die Entwicklungen im letzten Viertel des 20sten Jahrhunderts.

Wolfram Knauer (September 2015)


Verve. The Sound of America
von Richard Havers
München 2014 (Sieveking Verlag)
400 Seiten (78,00 Euro)
ISBN 978-3-944874-06-7

2014haversEin dicker Schinken… Man betrachtet die in jüngster Zeit gern publizierten Coffeetable-Books mit gemischten Gefühlen. In der Regel sind sie gut aufgemacht, reich an Fotos, ein wenig teuer, zumindest aber ein exzellentes Geschenk. Oft richten sich die Texte einfach deshalb, weil die Bücher sich verkaufen müssen, um sich zu finanzieren, an ein breiteres Publikum und sind damit für den Jazzfan, der bereits viel weiß, zwar ein nützliches, aber irgendwie auch überflüssiges Beiwerk. Für den Autor der vorliegenden dicken Schwarte über das Jazzlabel Verve war es also eine durchaus nicht einfache Aufgabe, die eingefleischten Fans genauso zu bedienen wie die bloß Interessierten, Wissen zu vermitteln über die verschiedenen Seiten der Plattengeschäfts von den 1940er Jahren bis in die Gegenwart, über die Künstler genauso zu berichten wie über ihre Produkte, über die Bedingungen der Aufnahme genauso wie über die Auswahl von Plattencovern, und das alles dann noch in den Kontext der Jazzgeschichte zu stellen.

Richard Havers hat diese Aufgabe mit seinem Buch über Norman Granz’ legendäres Verve-Label mustergültig bewältigt. Er zeichnet die Jazzentwicklung bis Swing und Bebop als eine Geschichte der Tonaufzeichnung und Plattenvermarktung nach. Drei der großen Namen seines Labels eröffnen die blockweise eingestreuten biographischen Kapitel: Louis Armstrong, Duke Ellington und Billie Holiday. Einen umfassenden Block nehmen die Tourneen und Plattenveröffentlichungen der Jam-Session-Truppe Jazz at the Philharmonic ein, die Granz 1944 erstmals zusammenbrachte und die seine Karriere als Plattenboss über die Jahrzehnte begleiten sollte. Havers schreibt über das Konzept, den Erfolg, aber auch über Granz’s Einsatz gegen Rassismus in jenen Jahren, wenn er öffentlich und notfalls auch gerichtlich gegen jede Art der Diskriminierung gegen seine Künstler vorging.

Der Anfang von JatP lag noch vor Granz’s Arbeit als Plattenchef. Und vor Verve gab es erst einmal die Labels Clef und Norgran, von denen Havers im dritten Großkapitel erzählt. Er bildet die Seiten des 1949 erschienen Plattenalbums “The Jazz Scene” ab, eines einmaligen Projekts, in dem Granz die aktuellsten Strömungen im Jazz der Zeit dokumentieren wollte. Diese Veröffentlichung bestand aus 12 Schellackplatten, deren Cover in einem Album – ja, hier kommt der Begriff her – zusammengebunden waren. Erst mit dem Aufkommen der Langspielplatte Anfang der 1950er Jahre stieg Granz dann aber wirklich ins Plattengeschäft ein. Havers streift die Bedeutung David Stone Martins, der viele der frühen LP-Cover entwarf, und er bildet diese genauso wie die damals nicht weniger aufschlussreichen Labels selbst, also die runden Aufkleber auf der Vinylplatte, auf etlichen Seiten ab.

In den 1950er Jahren wurde das Label Verve zur wichtigsten Heimat des swingenden Mainstream. Mitschnitte vom Newport-Festival, Aufnahmen mit Charlie Parker, jede Menge Besetzungen um Meister wie Ella Fitzgerald Oscar Peterson, Ben Webster, Lester Young und viele andere schrieben Jazzgeschichte. Modernere Produktionen der 1960er Jahre mit Jimmy Smith, Stan Getz, Gerry Mulligan oder Gary McFarland hatte zum großen Teil schon nicht mehr Norman Granz zu verantworten, der sein Label 1960 für 2,5 Millionen Dollar an MGM verkauft hatte. In den 1970ern gründete Granz mit Pablo eine neue Plattenfirma, die an seinen alten Erfolg anknüpfte und viele der ihm wichtigen Künstler produzierte. Zugleich wurde sich Polygram, die inzwischen MGM und damit auch Verve geschluckt hatte, irgendwann bewusst, welch enormer Schatz da in den Archiven schlummerte und welch ikonische Bedeutung insbesondere auch der Labelname besaß. Junge Künstler wurden in den Katalog aufgenommen, auch nachdem Polygram 1999 in die Universal Music Group überführt wurde.

Richard Havers Buch ist ein beeindruckendes Werk. Der Text liest sich flüssig und bleibt dabei nicht in Details über einzelne Produktionen stecken, die man lieber in den dazugehörigen Plattentexten liest, sondern lässt den Leser an den programmatischen Entscheidungen des Labels teilhaben. Die kurzen Kapitel über die auf Verve produzierten Musiker sind vor allem biographische Einordnungen, bei denen man durchaus etwas mehr Labelbezug wünschen könnte. Dafür aber entschädigen die großartigen Fotos, sowohl Promo-Shots als auch seltene Bilder der Künstler auf der Bühne oder im Studio und die nach wie vor beeindruckenden Reproduktionen der Plattencover aus mehr als 60 Jahren Plattengeschichte.

Ein dicker Schinken… aber die Lektüre allemal wert!

Wolfram Knauer (August 2015)


Softly, with Feeling. Joe Wilder and the Breaking of Barriers in American Music
von Edward Berger
Philadelphia 2014 (Temple University Press)
400 Seiten, 35,00 US-Dollar
ISBN 978-1-43991-127-3

2014bergerJoe Wilder war einer der stilleren Musiker der Jazzgeschichte, ein zuverlässiger Sectionman und Solist, immer Gentleman, keine Skandale, eine Karriere zwischen Jazz-Bigbands, Studioarbeit und klassischer Musik. Wilder war bei seinen Kollegen hoch angesehen, wegen seiner musikalischen Souveränität, aber auch, weil er wusste, was er wollte und seine Ansichten auch kundtat. 1953 tourte Wilder mit der Count Basie-Band und traf bei einem Konzert ein junges Mädchen. Sie sprach kaum Englisch, und er ließ ihr den Wunsch übersetzen, ob er ihre Adresse haben dürfe. Wilder begann eine Korrespondenz, erst auf Englisch, was sie sich übersetzen lassen musste, dann auf Schwedisch, das er eigens für sie lernte und dabei sogar darauf achtete, ihren regionalen Dialekt zu beherrschen. Sie schrieben einander täglich, und Wilder korrespondierte auch mit ihren Eltern. Per Post hielt er drei Jahre später um ihre Hand an. Sie reiste nach New York, und die beiden heirateten. Sie blieben ein Paar bis zu seinem Tod, kurz nach Fertigstellung dieses Buchs, seiner Biographie, die Edward Berger mit Hilfe der Wilder-Familie und ihrer Erinnerungen schrieb, für die er aber auch mit vielen der Kollegen Wilders sprach und deren Geschichten er immer wieder in die Zeitgeschehnisse einpasst.

Wilder kam 1922 in Philadelphia zur Welt, in einer Familie, für die Musik wichtig war. Sein Vater verdiente war Lastwagenfahrer, spielte daneben anfangs Kornett, später Sousaphon und sogar Kontrabass. Joe lernte Kornett von einem Trompeter, der seinen Schülern vor allem einen klassischen Ansatz vermittelte. Wilder erzählt, wie er in den frühen 1930er Jahren Teil einer Radio-Jugendkapelle war, die regelmäßig von den namhaftesten Bands des Landes unterstützt – und angespornt – wurde. Wilder hatte das absolute Gehör und entwickelte schon früh den Ehrgeiz, auf seinem Instrument auch Stimmen zu spielen, die eigentlich für andere Instrumente geschrieben waren. Von der High School wechselte er auf eine Schule, deren Musikunterricht rein klassisch ausgerichtet war. Zu seinen Schulkameraden gehörten hier allerdings auch die späteren Jazzkollegen Red Rodney und Buddy DeFranco. Als seine Eltern sich scheiden ließen, war die Familie auf jeden Verdienst angewiesen, und Joe spielte mit verschiedenen Tanzorchestern der Stadt. 1941 wurde er Satztrompeter in der Les Hite Band, wechselte dann als erster Trompeter in Lionel Hamptons Band. Er trat seinen Wehrdienst bei den Black Marines an, kehrte zu Hampton zurück, spielte schließlich mit Jimmie Luncefords Band, mit Lucky Millinder, Sam Donahue und Herbie Fields. Zwischendurch saß er 1947 auch eine Weile in Dizzy Gillespies Bebop-Bigband, in der er, eher Swingspieler, sich etwas fremd fühlte, auch wenn er als versierter Musiker ein fester Anker des Trompetensatzes war.

Anfang der 1950er Jahre gehörte Wilder zu den ersten schwarzen Musikern, die in einer der Broadway-Show-Orchester spielen durften. Seit 1957 war er reguläres Mitglied des ABC Orchesters, spielte im Auftrag des Senders Jazz, Werbung, Livemusik zu Radioshows, aber auch klassische Konzerte. 1962 war er mit von der Partie, als Benny Goodman vom amerikanischen State Department auf eine Tournee in die Sowjetunion geschickt wurde. Die Reise machte später auch wegen der Art und Weise Furore, wie Goodman seine Musiker behandelte – und Wilder verklagte ihn am Ende vor dem Schiedsgericht der Musikergewerkschaft, weil der Klarinettist ihm die Gage gekürzt hatte.

Berger erklärt Wilders Stil anhand des Albums “Wilder ‘n’ Wilder” aus dem Jahr 1956 und insbesondere anhand Wilders Solo über “Cherokee”, das einen ungeheuren Einfluss auf nachfolgende Trompeter hatte, auch wenn Wilder selbst nie einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde. Seine klassische Technik machte ihn zu einem beliebten Musiker für komplexere Third-Stream-Kompositionen, etwa von Gunther Schuller oder in Johnny Richards wenig bekannten “Annotations of the Muses”.

Wilder hatte mit klassischer Musik begonnen, sich dem Jazz dann gezwungenermaßen zugewandt, weil er wusste, dass er als Schwarzer in diesem Genre keine Chancen hatte. Edward Berger widmet diesem Phänomen des Rassismus in amerikanischen Sinfonieorchestern ein eigenes Kapitel. Wilder wurde 1964 Mitglied der Symphony of the New World, eines neuen Orchesters, in dem sich das ganze Amerika widerspiegeln können sollte. Berger erzählt, wie allein die Existenz eines solchen “integrierten Orchesters” zu einem geänderten Bewusstsein und auch dazu führte, dass zwei Musiker, nämlich der Bassist Art Davis und der Cellist Earl Madison, das New York Philharmonische Orchester vor der New York City Commission on Human Rights verklagten. Wilder war als Zeuge bei der Anhörung beteiligt. In den 1960er und frühen 1970er Jahren jedenfalls war Wilder in diversen klassischen Ensembles aktiv. Ein Höhepunkt dieser Arbeit war gewiss die “Sonate für Trompete und Piano”, die der Komponist Alec Wilder (nicht verwandt) ihm auf den Leib schrieb.

In den frühen 1970er Jahren begannen die Fernsehanstalten aus Kostengründen auf Livebands zu verzichten. Wilder saß in der Band der “Dick Cavett Show”, bis diese 1974 abgesetzt wurde; danach war er wieder Freiberufler. Er kehrte in Broadway-Bands zurück oder spielte mit dem Tanzorchester von Peter Duchin, nahm aber auch an jazz-haltigeren Aufnahmesessions von Kollegen wie Johnny Hartman, Helen Humes, Teresa Brewer oder Anita O’Day teil. Er trat mit einem Bruder-im-Geiste auf, dem Saxophonisten und Komponisten Benny Carter, und er wurde Mitglied in diversen Repertory-Bands, die in diesen Jahren aufkamen. 1992 tourte er mit dem Lincoln Center Jazz Orchestra, von 1991 bis 2002 gehörte er dem Smithsonian Jazz Masterworks Orchestra an. Nebenbei begann er zu unterrichten, seit 2002 an der renommierten Juilliard School in New York.

Ed Bergers Biographie ist voller interessanter Facetten zwischen Jazz- und amerikanischer Kulturgeschichte. Persönliche Aspekte im Leben des Trompeters Joe Wilder bleiben – von der frühen Jugend und der Geschichte seiner zweiten schwedischen Frau einmal abgesehen – meist außen vor. Bergers Exkurse in die Welt der Studiobands New Yorks, der Broadway-Orchester, der Fernseh- und Plattenstudios und der sinfonischen Musik sind neben dem eigentlichen Thema (also: Wilder selbst) wertvolle Ergänzungen eines oft viel zu eingeengt betrachteten Jazzkontextes. Auch Jazzmusiker sind schließlich nicht nur auf einem Feld aktiv, und jeder Bereich, in dem sie sich tummeln, hat seine eigenen ästhetischen und wirtschaftlichen Regeln. Berger gelingt es genau diese Unterschiede deutlich zu machen, kaum wertend und damit wohl sehr im Sinne Wilders, für den im Vordergrund stand, sein technisches Können so einzusetzen, dass die Musik, die er gerade machte, möglichst gut wurde.

Manchmal scheint sich Berger in Details zu verlieren, allerdings verlangt die Vielseitigkeit seines Sujets nun mal ein Portrait auf verschiedenen Ebenen. Die Diskographie am Ende seines Buchs ist durchaus beispielhaft für das Problem seines Projekts: Sie listet eben nicht nur die Jazztitel auf, sondern auch Aufnahmen aus dem Pop und leichten klassischen Kontext. “Softly, with Feeling” ist ein würdiges Portrait eines der vielleicht würdigsten Musiker des Jazz, der bei Mitmusikern durch die Bank so beliebt war, dass die einzige annähernd kritische Bemerkung, die Berger einem Kollegen entlocken konnte, die Aussage Dick Hymans war: “Er zog sich immer ein bisschen förmlicher an als eigentlich nötig war.”

Wolfram Knauer (Juli 2015)


Berlin / Berlin. Kunststücke aus Ost und West
herausgegeben von Ulli Blobel & Ulrich Steinmetzger
Berlin 2014 (jazzwerkstatt)
211 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-981-14852-6-4

2014blobelRainer Bratfisch gab vor kurzem eine dicke Schwarte heraus, in der er der Jazzstadt Berlin ein würdiges Denkmal setzte. Ja, Berlin war bereits in den 1920er Jahren eine Metropole des Jazz in Europa gewesen und blieb dies bis ins 21ste Jahrhundert hinein. Die Faszination der Hauptstadt für Musiker und Künstler aber versteht man nicht mit der selektiven Lupe auf ein ausgewähltes Genre, sondern erst im Blick auf das kreative Ganze, das Berlin ausmachte. Ulli Blobel und Ulrich Steinmetzger haben in ihrem Buch genau diese Vielfalt im Blick, die Vielfalt in der doppelten Hauptstadt Berlin (Ost) und Berlin (West).

Ihr Buch beginnt mit der Teilung, mit Bertold Brechts Gedicht “O Deutschland, wie bist du zerrissen” und mit Georg-Albrecht Eckles Blick auf Brechts Hoffnungen für ein neues Deutschland. Karl Dietrich Gräwe betrachtet mit Boris Blacher und Paul Dessau zwei Komponisten, die sich beide in ihrem Leben für die Wahlheimat Berlin entschieden hatten, um sich dann aber in zwei unterschiedlichen Hälften der Stadt wiederzufinden. Friederike Wißmann geht ähnlich an Hanns Eisler und Hans Werner Henze heran, die sie insbesondere in ihren Vokalkompositionen miteinander vergleicht. Insa Wilke stellt den Dichter Thomas Brasch vor, der seine Lyrik mit der Rockmusik verglich. Judith Kuckart beleuchtet die DDR-Tournee des Tanztheaters Wuppertal unter Pina Bausch im Jahr 1987. Klaus Völker betrachtet die Theaterlandschaft in Ost und West zwischen 1945 und 1989. Andreas Öhler porträtiert Wolf Biermann, Andreas Tretner die freie Musik eines Anthony Braxton, Ronald Galenza den, wie er es nennt, “Kalten Krieg der Konzerte”, Rock- und Popevents der 1970er bis 1980er Jahre. Christoph Dieckmann betrachtet die DDR-Rockszene der späten 1980er Jahre, Rainer Bratfisch die Lebens- und Arbeitsreise des Saxophonisten Ernst-Ludwig Petrowsky und der Sängerin Uschi Brüning, Christian Broecking die Hingabe des Pianisten Alexander von Schlippenbach. Bert Noglik identifiziert Einflüsse auf und die musikalische Identität des Pianisten Ulrich Gumpert. Kapitel über die Berliner Festspiele (Torsten Maß), Die Untergangsfeiern der DDR (Christoph Funke) und die ersten Jahre nach 1989 (Helmut Böttiger) beschließen das reich bebilderte Buch, dem es damit tatsächlich gelingt, ein wenig der Spannung dieser Frontstadt zwischen Ost und West zu vermitteln, der lebendigen Kultur, der Diskurse, die von beiden Seiten angestachelt, aber nie richtig ausdiskutiert wurden.

Wolfram Knauer (Juni 2015)


Tal Farlow. Un accord parfait. Une biographie illustré / A Life in Jazz Guitar. An Illustrated Biography
von Jean-Luc Katchoura mit Michele Hyk-Farlow
Paris 2014 (Paris Jazz Corner)
342 Seiten, 1 beigeheftete CD, 69 Euro
Zu bestellen über Paris Jazz Corner

2014katchoura1983 half der junge Architekturstudent Jean-Luc Katchoura bei der Organisation eines Gitarrenfestivals in Frankreich, wo er zum ersten Mal den Gitarristen Tal Farlow hörte. Schon im folgenden Jahr begleitete er diesen auf seiner Sommertournee als sein europäischer Agent. Sie blieben in Kontakt, und nach Farlows Tod entwickelten seine Witwe und Katchoura die Idee, die vielen Erinnerungsstücke, die sich in ihrem Besitz befanden, in einem Buch zu präsentieren.

Es ist eine überaus dokumentenreiche Biographie geworden, zweisprachig auf Englisch und Französisch gehalten, mit Familienfotos, Postkarten und vielen anderen Dokumenten sowie einer lebendig erzählten Biographie des Gitarristen, der 1921 in North Carolina geboren wurde, sich mit neun Jahren selbst das Mandolinespiel beibrachte und schließlich durch Platten von Charlie Christian und Art Tatum zum Jazz kam. Der Pianist Jimmy Lyon überredete ihn, die Musik zum Beruf zu machen. Farlow spielte in der Band des Schlagzeugers Billy Bank, dann mit der Pianistin Dardanelle, mit der er unter anderem im Cove in Philadelphia auftrat, wo sich das Trio mit Art Tatum abwechselte. 1945 ging Farlow zurück in seine Heimatstadt und verdiente sich sein Geld mit Schildermalen, was er vor seiner musikalischen Laufbahn gelernt hatte. Er mischte in Jam Sessions mit, bis er 1948 Mundell Lowe im Trio der Vibraphonistin Marjorie Hyams ersetzte.

Farlow zog nach New York, und wurde 1949 Mitglied im Red Norvo Trio, erst mit Red Kelly, dann mit Charles Mingus am Kontrabass. 1953 machte er seine erste Aufnahme für Blue Note, spielte außerdem in der Gramercy Five des Klarinettisten Artie Shaw. All diese Erfahrungen ermöglichten es ihm 1954 selbst als Bandleader in Erscheinung zu treten, mit Alben erst auf Blue Note, dann auf Norman Granz’s Norgran-Label. Farlow machte sich einen Namen mit seinem Trio, dem der Pianist Eddie Costa angehörte, nahm aber auch an Aufnahmesessions etwa mit Oscar Pettiford oder den Metronome All Stars teil. Er zog nach Sea Bridge, einem Fischerstädtchen in New Jersey, ging fischen, malte Schilder, gab Gitarrenunterricht und trat ab und an in nahegelegenen Clubs auf. Erst 1967, fast zehn Jahre nach seinem Umzug nach Sea Bridge, kehrte er auf die New Yorker Jazzszene zurück. Er wurde für die Newport All-Stars engagiert, spielte Duos etwa mit Barney Kessel oder Joe Pass. In den Mitt-1970er Jahren profitierte er von dem wiedererstarkten Interesse an den Künstlern des Mainstream-Jazz, nahm etliche Platten für Concord und andere Labels auf und stand im Fokus eines 1980 gedrehten Dokumentarfilms über seine Kunst. Farlow ging auf Tournee durch Europa und Japan, mit eigenen Bands, als Solist in anderen Bands oder mit den Great Guitars, in dem Farlow anfangs Herb Ellis ersetzte, wann immer der anderweitig beschäftigt war, und schließlich Barney Kessel, als der nach einem Schlaganfall nicht mehr spielen konnte. In den 1990er Jahren gab es eine Neuausgabe dieser Band mit Farlow, Attila Zoller und Jimmy Raney. 1997 wurde ein Speiseröhrenkarzinom bei Farlow festgestellt, das bereits Metastasen gebildet hatte und an dessen Folgen er am 25. Juli 1998 verstarb.

Katchoura erzählt die Lebensgeschichte Tal Farlows vor allem anhand von Interviewauszügen und persönlichen Fotos und Dokumenten. Neben Biographischen erfahren wir dabei auch Details etwa über die verschiedenen Gitarren, die er über die Jahre spielte, oder über den Entwurf eines Amplifier-Stuhls, den Farlow in den 1960er Jahren tatsächlich baute. Eigene Kapitel befassen sich mit für Farlow wichtigen Kollegen, den Pianisten Jimmy Lyon und Dardanelle, dem Vibraphonisten Red Norvo und dem Bassisten Charles Mingus. Eine Diskographie und eine Bibliographie beschließen das Buch; doch ganz am Ende heftet dann auch noch eine Zugabe, eine CD mit elf Tracks, Interviewausschnitten einer Radiosendung mit Phil Schaap und unveröffentlichten Titeln etwa von Duos mit Gene Bertoncini, Red Mitchell oder Jack Wilkins.

“Tal Farlow. A Life in Jazz Guitar” ist eine labor of love, eine umfangreiche Dokumentation seines Lebens und kommt in der dabei eher unkritischen Herangehensweise einer subjektiven (aber nie geschriebenen) Autobiographie des Gitarristen vielleicht am nächsten.

Wolfram Knauer (Mai 2015)


Charlie Parker i Sverige – med en avstickare till Köpenhamn
von Martin Westin
Stockholm 2014 (Premium Publishing)
181 Seiten, 283 Schwedische Kronen
ISBN: 978-91-87581-05-2

2014westinIm November 1950 besuchte Charlie Parker für 10 Tage Skandinavien. Seit 1947 wurden seine Platten bereits in Schweden rezipiert; 1948 hatte Dizzy Gillespies Bigband hier Konzerte gegeben, und als Parker 1949 zum Jazzfestival nach Paris eingeladen wurde, schloss er erste Kontakte zu schwedischen Musikern und Redakteuren. Der Journalist und Konzertveranstalter Nils Hellström hatte dabei die Idee, Parker im nächsten Jahr direkt nach Schweden einzuladen. Er verhandelte mit Parkers New Yorker Agenten Billy Shaw und einigte sich auf Gagen- und Reisekosten.

Parker reiste in ein Land, in dem erst im Monat zuvor ein neuer König gekrönt worden war. Mit ihm kam auch Roy Eldridge in Stockholm an, der aus Paris anreiste, wo er mit Benny Goodmans Band gespielt hatte. Sie wurden von Hellström sowie von jungen schwedischen Musikern und Fans empfangen. Im Doppelprogramm spielte Eldridge mit der Band des Pianisten Charles Norman und Parker mit jener des Trompeters Rolf Ericson und dem Saxophonisten Arne Domnérus, in der auch der Baritonsaxophonist Lars Gullin mitwirkte. Sie traten im renommierten Stockholmer Konserthuset auf, danach aber mischte Parker auch bei Jam Sessions mit. Am nächsten Tag fuhren alle gemeinsam mit dem Zug nach Göteborg, danach hatte Eldridge ein Konzert in Kopenhagen, während Parker nach Malmö weiterreiste. Am 3. November kam auch Parker nach Kopenhagen, wo sie das Doppelkonzert in den K.B. Hallen wiederholten. Parker spielte im Folkparken von Helsingborg und in Jönköping und kehrte dann über Gävle nach Stockholm zurück, wo er unter anderem mit Pute Wickman und Toots Thielemans in einer Session auftrat.

Auf dem Rückweg nach New York machte Parker schließlich noch in Paris Station, wurde dort von Charles Delaunay in Empfang genommen und besuchte den Schlagzeuger Kenny Clarke und seine damalige Lebensgefährtin, die hochschwangere Sängerin Annie Ross. Delaunay hatte eine Aufnahme mit Parker sowie einen Auftritt beim Paris Jazz Festival geplant, den Parker aber kurzfristig absagen musste, weil er sich nicht wohl fühlte und stattdessen über London zurück nach New York flog.

Martin Weston hat die Reise Parkers nach Skandinavien sorgfältig recherchiert. Er hat in alten Zeitschriften geblättert, fand zeitgenössische Konzerthinweise und Zeitungsrezensionen, den Vertrag, den Parker mit Hellström abgeschlossen hatte, vor allem aber jede Menge an Fotodokumenten, seltene, bisher kaum gesehene Bilder, die Bird auf der Bühne oder mit Kollegen und Fans zeigen. Er zitiert aus Interviews mit Zeitzeugen, und er listet die Aufnahmen auf, die Parker in diesen wenigen Tagen machte.

Für die schwedischen Musikerkollegen war Parkers Besuch ein Ohrenöffnen sondergleichen. Sein so völlig anderes rhythmisches Konzept schlug die einen in seinen Bann, während es andere eher abschreckte und in der Folge den stärker aufs Melodische fokussierten Cool Jazz als ihr Spielfeld wählen ließ.

“Charlie Parker i Sverige” ist eine spannende Detailstudie über einen Musiker, dessen Reise nach Schweden auch eine kurze Flucht aus der Realität seiner New Yorker Drogensucht war, sowie über eine junge schwedische Jazzszene, die durch diesen Besuch angespornt wurde, den modernen Jazz als Aufbruch zu verstehen.

Wolfram Knauer (April 2015)


Art. Why I Stuck with a Junkie Jazzman
von Laurie Pepper
Richmond/CA 2014 (Widow’s Taste / Art Pepper Music Corp.)
374 Seiten, 20 US-Dollar
ISBN: 978-1494297572

2014pepperIn den 1970er Jahren erschien “Straight Life”, Art Peppers Lebensgeschichte, aufgezeichnet von seiner Frau, Laurie Pepper, in der sich der Saxophonist, wie sie im Vorwort ihres neuen Buchs schreibt, als “verlorenes, verzweifeltes Genie” darstellte und sie als seinen Schutzengel. “Während unserer Ehe gelang es uns erfolgreich diese Geschichte darzustellen”, schreibt sie. “Aber ich war kein Engel, und wir retteten uns gegenseitig.” Dieses neue Buch nun sei ihre eigene Geschichte.

Es beginnt düster, im August 1968, als Laurie nach einer langen Leidensgeschichte mit Depressionen und Drogenmissbrauch einen erfolglosen Selbstmordversuch unternahm und sich danach selbst in Kaliforniens erste Drogenklink Synanon einweisen ließ. Hier traf sie neun Monate später auf Art Pepper. Als Synanon Ende 1971 ein Rauchverbot einführte, hielt der es nicht mehr aus. Er verließ die Klinik. Laurie folgte ihm wenige Monate später.

Schon in Synanon fand Laurie, dass die vielen Geschichten, die Art ihr aus seinem Leben erzählt hatte, genügend Stoff für ein Buch böten. Beide waren Leseratten, Laurie hatte darüber hinaus ein wenig journalistische Erfahrung, als Fotografin, aber auch durch kleine Artikel, die sie für linke Zeitungen geschrieben hatte. Sie besorgte sich einen billigen Kassettenrecorder und stellte die erste Frage: “Art, sag mir, warum du dieses Buch machen willst.” – “Eigentlich ist das doch deine Idee gewesen”, antwortete Pepper, erinnerte sich dann aber auch gleich: Schon im Gefängnis von San Quentin habe man ihn darauf angesprochen, dass sein Leben genügend Stoff für ein Buch böte. Und da er ahne, dass er nicht mehr lange zu leben habe, fände er, dass es an der Zeit sei, damit zu beginnen.

So also entstand “Straight Life”. Laurie erinnert sich daran, wie Art seine Geschichten mit dramaturgischem Gespür für die Wendungen und den Verlauf erzählen konnte, ganz so als ob er ein Solo auf seinem Saxophon spielte. Die Arbeit am Buch habe auch ihm bewusst gemacht, wie groß sein Talent zum Geschichtenerzählen war. Sie stellte zugleich eine Art Therapie dar, die Neuinterpretation seines Lebens. Einige seiner Anekdoten ließ Laurie ihn wieder und wieder erzählen, um mehr zu erfahren und tiefer einzudringen. Sie berichtet, wie der Prozess des Schreibens teilweise zum Kampf wurde, wenn Art betrunken war oder high durch andere Substanzen. Er habe zwei Seiten gehabt, und die, die sie nicht mochte, nannte sie irgendwann “Ruthra” oder “Reppep”, also Arthur bzw. Pepper rückwärts gelesen. Laurie erzählt vom gemeinsamen Leben, nachdem der Saxophonist sich in ein Methadonprogramm eingeschrieben hatte, von den wenigen Freunden, die sie hatten und die alle irgendwie im Netzwerk der Drogen, von Synanon oder Methadon steckten.

Eines Tages wurde Art Pepper eingeladen einen Workshop an der Ostküste zu geben – ausgerechnet auf der Klarinette, einen Instrument, das er eigentlich nur ab und zu als Zweitinstrument gespielt hatte. Sie zogen in ein kleines Haus in Van Nuys, einem Vorort von Los Angeles, und Pepper trat häufiger auf, erst mit lokalen Musikern, dann mit dem experimentellen Don Ellis Orchestra, bald aber auch bei Festivals oder in namhaften Clubs.

Anschaulich berichtet Laurie von den zwei Seiten im Leben ihres Mannes: dem glamourösen der gefeierten Konzerte und dem des Drogenabsturzes, der an jeder Ecke lauerte. Sie berichtet von Arts erster Reise nach Japan und wie sie das Methadon für ihren Mann in einer Shampoo-Flasche schmuggelte, aber auch vom Misstrauen Peppers gegenüber seinen Mitmusikern.

Durch einen Fan kam Laurie in Kontakt zu einem Verlag für “Straight Life”. Im September 1978 schloss Pepper einen Vertrag mit der Plattenfirma Fantasy ab und ging bald darauf ins Studio. Im nächsten Jahr erschien das Buch und erhielt höchstes Lob in einigen der wichtigsten Gazetten des Landes. Das Buch gab Peppers Karriere einen neuen Schub, Tourneetermine überall in den USA und in Europa, die Chance für eine Aufnahme mit Streichern.

Laurie war inzwischen Managerin, Krankenschwester, Dealerin, Psychotherapeutin, und das alles in einem Zustand, in dem sie gut selbst Therapie vertragen hätte. Sie sorgte dafür, dass Art seine Zahnprothesen trug, dass sein Buch mit einem Gürtel fest umbunden war, der seine riesige Hernie im Platz hielt und ihm die Bauchmuskulatur gab, die er fürs Spielen benötigte, seit einem Milzriss Ende der 1960er Jahre aber nicht mehr hatte. Am 30. Mai 1982 trat der Saxophonist bei einem Festival in Washington auf, fand, dass die Zeit für seinen Set zu kurz war und konnte daher sein Schlussthema, “Straight Life” nicht mehr spielen. So kam es, erzählt Laurie Pepper, dass “When You’re Smiling” zum letzten Titel wurde, den Art Pepper in seinem Leben gespielt hatte. Er habe es auf der Klarinette gespielt, dem Instrument, auf dem er begonnen hatte. Neun Tage später lag er im Koma. Sechs Tage darauf war er tot.

Im Rest ihres Buchs erzählt Laurie Pepper, wie sie nach dem Tod Ihres Mannes ihr Leben meisterte, sich auf Tugenden und Talente besann, die sie zwar auch genutzt hatte, um Art am Leben zu halten, die jetzt aber ihr selbst helfen konnten. Sie befasste sich mit den juristischen Fallstricken des Musikgeschäfts und sorgte dafür, dass der Gewinn, den Arts Musik immer noch einfuhr, auch ihr zugute kam.

In ihrem Buch “Art. Why I Stuck With a Junkie Jazzman” wollte Laurie Peppers über sich selbst statt über Art Pepper erzählen. Der größte Teil ihres Buchs handelt allerdings von niemand anderem als Art Pepper, seiner Sucht, seiner Musik, seinen Problemen. Die Frage, warum sie es so lange mit einem Junkie erhält hat am Ende zwei Antworten: Gewiss war es vor allem Liebe, daneben aber hatte sie schnell erkannt, dass, indem sie sich um Art Pepper kümmerte, sie die Dämonen in sich selbst zähmen konnte. Und wenn man erkennt, dass Laurie Pepper sich irgendwann, nachdem sie einander in Synanon begegnet waren, durch ihn definierte, liest man ihre Darstellung der Beziehung, ihre Sicht auf seine Krankheit und seine Musik auch als einen Blick ins Innere der Autorin selbst.

Wie “Straight Life” ist auch “Art. Why I Stuck With a Junkie Jazzman” schonungslos, bietet stellenweise eine fast schon schmerzhafte Lektüre, und doch auch einen tiefem Einblick in die Realität eines Musikerlebens.

Wolfram Knauer (April 2015)


Benson. The Autobiography of a Jazz Legend
von George Benson (& Alan Goldsher)
Boston 2014 (Da Capo Press)
222 Seiten, 25,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-306-82229-2

2014benson1982 nahm George Benson die Einladung an, mehrere Konzerte in Südafrika zu spielen, das damals noch vom Apartheid-Regime regiert wurde. Benson war naiv in die Angelegenheit hineingestolpert und musste nun sehen, wie er die Konzerte zu einem Erfolg brachte, der von Menschen aller Hautfarben genossen werden konnte. Irgendwie gelang es ihm, und beim Abschlusskonzert in Kapstadt sorgte er dafür, dass Schwarz und Weiß im ausverkauften Saal nebeneinander saßen und alle, Publikum wie Musiker, zu Tränen gerührt waren von der Macht der Musik. 23 Jahre später spielte er wieder in Südafrika und traf auf einen Mann, der ihn fragte, ob er sich noch an ihn erinnere. “Klar, du hast damals mit meinen Bodyguards herumgehangen”, antwortete Benson, worauf der Mann erklärte: “Das stimmt, nur waren das keine Bodyguards. Die Männer hätten dich umgebracht, wenn es einen Aufstand gegeben hätte. Man hätte gesagt, du wärst im Zuge der Unruhen ums Leben gekommen, und Südafrika hätte nie wieder ein gemischtes Konzert erlebt.” Wie zum Teufel, schließt George Benson diese Anekdote, hat es nur dazu kommen können, dass ein Kid aus ärmlichen Verhältnissen in Pittsburgh in die Lage geriet, mitten in Südafrika fast Ziel eines Attentats geworden zu sein?

Pittsburgh also ist der Ausgangspunkt dieser Karriere, Industriestadt, Arbeiterstadt, Rassentrennung. Pittsburgh hatte eine Reihe wichtiger Jazzmusiker hervorgebracht, Earl Hines, Erroll Garner und Art Blakey unter ihnen… und George Benson, der hier 1943 geboren wurde. Die Kirche brachte ihn zur Musik; in der Schule fiel seine Stimme auf; er spielte ein wenig Klavier und Geige. Sein Stiefvater brachte eine Gitarre mit ins Haus, aber da die zu groß für ihn war, lernte er seine ersten Akkorde auf einer Ukulele. Er verkaufte Zeitungen und merkte eines Tages, dass er mit ein wenig Ukulele-Spiel und Gesang mehr verdienen konnte. Ein Nightclub-Besitzer entdeckte ihn und bot seiner Mutter an, ihn für 40 Dollar pro Abend am Wochenende bei sich auftreten zu lassen. Und so ging es weiter… nur in Amerika! Ein Friseur um die Ecke ließ ihn rufen, damit er seine Gibson-Gitarre spielen könne; dann der Besitzer einer Imbissstube, der ihn nach New York mitnahm, um eine Platte aufzunehmen. Damit wurde es nichts, doch sechs Monate später ging Benson für RCA ins Studio und spielte, gerade mal elf Jahre alt und noch nicht im Stimmbruch, seine ersten vier Titel ein.

Mit 15 gründete Benson mit seinem Cousin die Altairs, eine Doo-Wop-Gruppe. Die Leute mochten sein Gitarrenspiel, aber er selbst sah sich vor allem als Sänger. Er hörte Platten und fragte alle Instrumentalisten aus, die in die Stadt kamen. Ihm gefielen die Orgel-Combos, die in den späten 1950er, frühen 1960er Jahren populär waren; er begann sich für Jazzgeschichte zu interessieren, für Musiker wie Lester Young oder Charlie Parker, und er hörte Platten von Kenny Burrell, Grant Green und Wes Montgomery. Und plötzlich war er selbst, der sich nie als Jazzmusiker gesehen hatte, als Gitarrist in Brother Jack McDuffs Trio in New York aktiv. Der Organist war von Bensons Groove und Sound angetan, hätte ihn aber beinahe gleich wieder rausgeschmissen, als er entdeckte, dass Benson zwar Rhythm ‘n’ Blues spielen konnte, von Jazzimprovisation aber keine Ahnung zu haben schien. Benson erzählt, wie er die anderen Bands auscheckte, die in den Clubs des Big Apple zu hören waren, und wie er sich sein Jazz-Handwerkszeug nach und nach draufgeschafft habe, mal neugierig und begeistert, mal eher widerwillig. McDuff lehrte ihn, wie man mit Groove und Rhythmus das Publikum für sich gewinnen, ihnen mit Technik zeigen könne, dass man sein Instrument beherrsche, dass aber der Blues die Grundlage des Ganzen sei, weil er alles zusammenbinde.

Mitte der 1960er Jahre hatte Benson für sich akzeptiert wohl doch Jazzmusiker zu sein, doch Mitte der 1960er Jahre wurde es für Jazzmusiker zugleich immer schwerer, von ihrer Musik leben zu können. Benson, der 1964 für das Label Prestige sein erstes Album unter eigenem Namen aufgenommen hatte, spielte in Striptease-Clubs und billigen Kneipen, und in einer solchen wurde er von John Hammond angesprochen, dem legendären Produzenten, der ihm einen Vertrag bei Columbia Records anbot. Benson hatte schon zu diesem Zeitpunkt ein feines Gespür für die Balance zwischen Musikalität und Kommerz. Seine erste Columbia-Platte verband seine Liebe zum Jazz mit aktuellen Soul-Covern. Sein Crossover-Stil war erfolgreich, wurde von Jazzerseite aber auch kritisiert. Als nächstes unterschrieb er beim Label Verve, das damals von Creed Taylor geleitet wurde und Wes Montgomery einige seiner besten Platten beschert hatte. Taylor engagierte Herbie Hancock und Ron Carter für eine Platte, und kurz danach rief Miles Davis an und schlug Benson vor, gemeinsam ins Studio zu gehen. Die Erinnerungen des Gitarristen an die denkwürdige Aufnahmesitzung für “Miles in the Sky” ist ein besonders lesenswertes Kapitel des Buchs, über den Trompeter, sein Verhältnis zu Mitmusikern, und seinen allgemeinen Zorn, der aus der Stimmung der Zeit und den Spannungen zwischen Schwarz und Weiß heraus zu verstehen ist. In der Folge bot Miles Benson sogar einen Platz in seiner Band an, doch der wollte seine eigene Karriere forcieren.

Creed Taylor nahm Benson mit zum Label CTI Records, auf dem der Gitarrist seine Mischung aus Soul, Funk und Modern Jazz weiter entwickelte. Er war einer der wenigen Künstler, dem der Spagat zwischen Jazz und populärer Musik nachhaltig gelang. Seine Soulalben verkauften sich, seine Konzerte waren voll mit Fans, daneben aber war auch Benny Goodman von einer Fernseh-Jam Session, in der Benson Charlie Christians Repertoire spielte, so begeistert, dass er ihn am liebsten für seine Band verpflichtet hätte.

1976 erhielt Benson einen Vertrag bei Warner Brothers und landete mit “This Masquerade” auf dem Album “Breezin'” einen Riesenhit, gefolgt von “On Broadway”, das als obskure Doo-Wop-Nummer begonnen hatte und durch Bensons Version zu einem Jazz- und Popstandard wurde. Von hier an beginnt das Buch sich zu wiederholen. Die Anekdoten über Bensons erfolgreiche Jahre wirken entweder zu vorsichtig (bloß niemanden verletzen!) oder aber unzusammenhängend. Der Gitarrist lobt Kollegen; er gibt sich bescheiden; er fühlt sich geehrt, wenn Frank Sinatra ihn von der Bühne im Publikum grüßt; er verweist auf die großen Vorbilder; und immer wieder beteuert er, wie unglaublich es doch sei, dass er es tatsächlich so weit gebracht habe.

Vielleicht stimmt es ja, dass man erst mit einem gewissen Abstand die wichtigsten Ereignisse auch seines eigenen Lebens richtig bewerten kann. In Autobiographien jedenfalls – egal ob von Jazzmusikern oder anderen Personen des öffentlichen Lebens – fällt immer wieder auf, dass die prägenden Jahre die interessantere Geschichte ausmachen. Nicht anders also liest sich auch George Bensons Buch. Seine Erinnerungen an den Beginn seiner Karriere, daran, wie die Musik ihn letzten Endes immer wieder gerettet hatte, lesen sich flüssig und spannend. Die Geschichten des erfolgreichen Stars dagegen fallen deutlich ab, enthalten weit weniger Höhepunkte oder überraschende Wendungen. Und für eine bloße Verlaufsbeschreibung dieser zweiten Hälfte seiner Karriere hätte Bensons Mitautor ab und an eine Jahreszahl und gerne auch den Nachnamen der oft nur mit Vornamen benannten Freunde und Kollegen einfließen lassen können, um dem immer noch geneigten Leser das Zurückblättern zu ersparen.

Sein Buch zeigt George Benson als einen geübten Anekdotenerzähler, der sich bewusst ist, dass seine Karriere vielleicht kein Zufall, aber auch keine Selbstverständlichkeit war. Je näher der Autor allerdings der Gegenwart kommt, desto vorsichtiger wird er, Persönliches mitzuteilen. Wo wir zu Beginn jede Menge an Informationen über Familie und Freunde erhalten, sind es zum Schluss vor allem die eh bekannten Stars und Kollegen, über die Benson berichtet. Frau, Familie, Zuhause, Religion, politische Einstellung – all das findet sich, wenn überhaupt, höchstens zwischen den Zeilen. Aber das ist natürlich die Crux einer jeden Autobiographie, insbesondere von Künstlern, die nach wie vor im Geschäft sind: dass sie den Spagat wagen wollen, auf der einen Seite ihr Leben zu erklären, ohne auf der anderen Seite zu viel von sich preiszugeben. Was im Gedächtnis bleibt nach der Lektüre, ist die sympathische Selbsteinschätzung des Gitarristen und Gesangsstars George Benson, der, wie es scheint, bis heute kaum glauben mag, dass er, der kleine Junge aus Pittsburgh, der nie Noten lesen gelernt hatte, der seine eigene Stimme für zu dünn hielt und der sich sicher war, seinen großen Vorbildern, Charlie Christian und Wes Montgomery nie das Wasser reichen zu können, in der Jazzwelt ernst genommen wird und dass es ausgerechnet ihm gelingen konnte, den Jazz mit der Popindustrie zu vermählen.

Wolfram Knauer (März 2015)


The Original Guitar Hero and the Power of Music. The Legendary Lonnie Johnson, Music and Civil Rights
von Dean Alger
Denton/TX 2014 (University of North Texas Press)
366 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-57441-546-9

alger_lonnie_johnsonDie Bedeutung von Künstlern ist nicht immer an ihrer Bekanntheit abzulesen, sehr viel mehr wohl an ihrem künstlerischen Einfluss. Wenn es danach geht, gehört der Gitarrist Lonnie Johnson in den Olymp der Jazz- und Bluesgeschichte des 20sten Jahrhunderts. Das jedenfalls meint Dean Alger, dessen Buch das Leben und Wirken (und Nachwirken) Johnsons zum Thema hat.

Lonnie Johnson wurde 1894 in New Orleans geboren. Alger schildert das bunte Musikleben in der Stadt am Mississippi-Delta, in dem der Jazz entstand, in dem aber auch der Blues eine wichtige Rolle spielte – nicht als zwölftaktiges, formal klar umrissenes Genre, als der er spätestens ab den 1920er Jahren bekannt wurde, sondern als eine Art Übergangsstil zwischen Field-Holler des 19ten und kunstvollem Volkslied des 20sten Jahrhunderts. Alger diskutiert die widersprüchlichen Quellen um die Geburt des Lonnie Johnsons und beschreibt die Nachbarschaft, in der er aufwuchs. Die ganze Familie habe aus Musikern bestanden, bezeugte Johnson später, sein erstes Instrument sei die Geige gewesen, bevor er zur Gitarre wechselte, mit er irgendwann zwischen 1912 und 1917 Johnson durch die Sümpfe Lousianas reiste, den Trompeter Punch Miller begleitend, um sich mit Musik sein Geld zu verdienen.

1917, liest man in mehreren Quellen, reiste Johnson nach London, um dort in einer nicht näher bekannten Revue aufzutreten. Alger entdeckt in einem Blues ein alternatives Narrativ für diese Jahre in Johnsons Leben: “1917 Uncle Sam called me”, heißt es darin, und so schlussfolgert der Autor, wahrscheinlich sei Johnson im I. Weltkrieg mit einer Theatertruppe zur Truppenbetreuung nach Europa gereist. Als er 1919 nach New Orleans zurückkehrte, waren die meisten seiner Verwandten an einer Grippeepidemie verstorben. Johnson verließ seine Heimatstadt und zog nach St. Louis. Dort habe der Blues ganz anders geklungen als in New Orleans; authentischer, mit stärkerem Bezug zum Leben der schwarzen Bevölkerung. Johnson trat auf den Riverboats auf, die in St. Louis anlegten, und er begann mit Varietétruppen zu reisen, in denen auch einige der “klassischen” Bluessängerinnen auftraten, Clara oder Mamie Smith etwa. 1925 heiratete er; die Ehe hielt allerdings nicht allzu lang, offenbar auch wegen der Affären, die er nebenbei hatte (unter anderem mit Bessie Smith). Es gab, je nach Lesart, einen Sohn oder sechs Töchter, wie Alger aus Zeitzeugenberichten und Interviews mit Kollegen und Freunden des Gitarristen recherchiert.

Im Oktober 1925 gewann Johnson einen Blues-Gesangswettbewerb; kurz darauf machte er seine ersten Plattenaufnahmen, auf denen er mal als Gitarrist, mal als Geiger und mal als Sänger zu hören ist. Gleich einer der ersten Titel, “Mr. Johnson’s Blues” vom 4. November 1925, wurde zu einem Verkaufsschlager. In der Folge tourte Johnson fleißig, seine Platten verkauften sich blendend, und 1928 war er einer der seltenen nicht dem Orchester angehörenden instrumentalen Gäste des Duke Ellington Orchestra, mit dem er vier Stücke einspielte, unter ihnen “The Mooch”. 1928 und 1929 ging er für mehrere Duettaufnahmen mit dem anderen großen Gitarrenvirtuosen der 1920er Jahre, Eddie Lang, ins Studio, der dafür unter dem Namen “Blind Willie Dunn” firmierte. In einigen der Aufnahmen spielte Johnson eine 12-saitige Gitarre, deren Machart und Stimmung Gitarrenexperten über Jahrzehnte Rätsel aufgab.

Lonnie Johnson war eine Art früher Fusion-Musiker, der sich in Bluesumgebung genauso wohl fühlte wie in Jazzaufnahmen etwa mit Ellington oder Louis Armstrong. Tatsächlich klingt seine Gitarrenbegleitung etwa in Armstrong’s “Hotter Than That” von 1927 moderner als das Spiel der meisten anderen Gitarristen jener Zeit, und so ist es sicher nicht ganz falsch, in ihm einen Vorläufer der Kunst Charlie Christians zu sehen.

In den 1930er Jahren lebte Johnson in Philadelphia, New York und Cleveland, ging als Solist ins Studio oder mit kleinen Besetzungen. Um Geld zu verdienen, verdingte er sich aber auch als Stahlarbeiter in East St. Louis. Ende der 1930er Jahre war er dann in Chicago, spielte mit Baby Dodds und anderen älteren Musikern aus New Orleans, entdeckte daneben die elektrische Gitarre für sich und war auf Aufnahmen früher Rhythm ‘n’ Blues-Künstler zu hören. Sein Einfluss auf den Rock ‘n’ Roll der 1950er Jahre sei enorm gewesen, betont Alger und zitiert B.B. King, Buddy Guy und andere. Konkret verweist er auf “Tomorrow Night”, einen Hit, den Johnson 1947 einspielte und dessen Coverversion 1954 von Elvis Presley deutliche Parallelen sowohl im Konzept der Aufnahme wie auch in Presleys Stimmbehandlung besitzt.

1952 machte Johnson eine Englangtournee, bei der ein junger Gitarrist namens Tony Donegan ihn als Vorbild für sich entdeckte und sich aus Verehrung für den älteren Meister künftig Lonnie Donegan nannte. Immer wieder musste Johnson aber auch Jobs annehmen, die nichts mit Musik zu tun hatten, arbeitete etwa als Hausmeister in einem Hotel in Philadelphia, wo Chris Albertson ihn 1959 entdeckte und ihn für mehrere LPs ins Studio brachte. Während einer Art dritten Comebacks wurde Johnson als Zeuge für die Anfänge des Blues gefeiert. 1963 war er einer der Künstler des von Horst Lippmann und Fritz Rau organisierten American Folk Blues Festivals, machte 1967 wichtige Einspielungen für das Folkways-Label, in denen man sehr gut hören kann, wie sich die Traditionen von Blues und Jazz vermischen. 1969 wurde er bei einem Autounfall schwer verletzt, trat danach zwar noch einige Male auf, erholte sich aber nie völlig und starb im Juni 1970 im Alter von 76 Jahren.

Der Autor des Buchs, Dean Alger, ist ein Fan Lonnie Johnsons, und so sehr seine Begeisterung ihn zu extensiven Recherchen antrieb, so sehr trübt sie leider auch ein wenig die Lesefreude. Schon in der Einleitung beklagt er sich, dass so viele Verlage sein Manuskript aus Unwissenheit über die Bedeutung seines Subjekts abgelehnt hätten, und im folgenden Text finden sich neben stark übertrieben wirkenden Superlativen zu Johnson immer wieder Seitenhiebe auf Musiker und Autoren, die dessen Bedeutung nicht erkannt hätten.

Alger lässt seine Leser an den Schwierigkeiten der Recherche teilhaben, präsentiert unterschiedliche Versionen für Stationen in Johnsons Karriere, um dann zu erklären, warum er meint, diese oder jene sei die wahrscheinlichste. So berichtet er beispielsweise von einem Antrag auf Sozialversicherung vom April 1937, auf dem Johnson eine Adresse in Nashville angegeben und seine Geburt auf Februar 1909 datiert habe – das eine nicht verifizierbar, das zweite glatt falsch. Damit bietet Alger auf der einen Seite einen spannenden Blick in die Rechercheprobleme über frühe afro-amerikanische Musikgeschichte, erschwert seinen Lesern auf der anderen Seite aber enorm die Lektüre. Zu oft verlässt er den Geschichtsfluss, um die spätere Rezeption zu erklären und nebenbei noch, wieso andere Autoren zu bestimmten Schlussfolgerungen gekommen seien und wieso er selbst diese nicht teile.

Für seine analytischen Beschreibungen verlässt Alger sich meist auf fremde Quellen statt auf die eigenen Ohren; seine eigenen Beschreibungen sind stattdessen mit Adjektiven wie “wonderful”, “appealing”, “memorable”, “perfect” durchzogen. Warum er Ellingtons “The Mooche” als “popmusikalischen Gegenpart zu Strawinskis ‘Le Sacré du printemps'” bezeichnet, bleibt ein Rätsel. Seine (eigene) Beschreibung von Johnsons Kazoo-Spiel im “Five O’Clock Blues” liest sich folgendermaßen: “Lonnie spielt in der ersten Hälfte des Stücks eine schöne, weinende Bluesgeige. Später steigt Lonnie aufs Kazoo um, und diesmal klingt das Kazoo wie eine sehr alte Katze, die gerade erwürgt wird, die aber kaum mehr genügend Energie hat sich zu beschweren.” Es sei doch ganz gut zu wissen, zitiert er dann einen Kollegen, dass auch Lonnie Johnson nur menschlich gewesen sei, “er war nicht auf jedem Instrument brillant.”

Immer wieder spricht er seine Leser direkt an, ist sich dabei aber offenbar nicht ganz sicher, um wen es sich dabei wohl handelt, erklärt Details afro-amerikanischer Musikgeschichte mal sehr detailliert und für Uneingeweihte, um an anderen Stellen die Geduld des Kenners mit dem Klein-Klein seiner Recherchen zu überfordern. Das Erbe Lonnie Johnsons bestehe, so die Überschriften seines letzten Kapitels, aus “dem nicht ausreichend gewürdigten Kaliber seines Gesangs”, einem “äußerst raren Fall von Großartigkeit”, der “nicht angemessenen Würdigung seiner exzellenten Texte”, der “exzeptionellen thematischen Stimmigkeit in seinem Gitarrenstil” – und diese Superlative klingen auch im englischen Original nicht viel sachlicher. Immer wieder zitiert er Loblieder auf andere Größen des Jazz, Ellington, Armstrong beispielsweise, um anschließend zu bemerken, genau dasselbe könne man aber auch über Johnson sagen.

Im Anhang findet sich schließlich noch eine völlig zusammenhangslose Besprechung einer Aufnahme von Sidney Bechet sowie ein Kapitel über die Beziehung von Jazz- und Bluesmusikern zur Bürgerrechtsbewegung, in dem Johnson kaum erwähnt wird, Wenn es dieses Kapitel ist, auf das sich der Untertitel des Buchs, “Music and Civil Rights” bezieht, so ist das zumindest irreführendes Marketing des Verlags. Denn darum geht es im Buch wirklich nur am Rande.

Alles in allem enthält Dean Algers Buch jede Menge wertvoller Information über einen weithin verkannten Künstler, wenn der Autor seinen Lesern auch viel Geduld und Nachsicht abverlangt und man sich über weite Strecken die hilfreiche Hand eines kritischen Lektorats gewünscht hätte, das ihm zu einer klareren Strukturierung seines Text und zum Streichen vieler der Asides geraten hätte und das alles damit besser lesbar gemacht hätte. Algers “labor of love” wird alleine der Fülle seiner Recherchen wegen ein Nachschlagewerk bleiben; für eine nächste Auflage wünscht man ihm und künftigen Lesern eine sorgfältige Überarbeitung.

Wolfram Knauer (Februar 2015)


Livejazz in München
von Christina Maria Bauer
München 2014 (München Verlag)
152 Seiten, 22,95 Euro
ISBN: 978-3-7630-4025-4

2014bauerFrankfurt war in den 1950er und 1960er Jahren die Jazzhauptstadt Deutschlands; heute gilt das wohl vor allem für Berlin und Köln. Aber die Metropolen dieser Republiken haben nach wie vor eine lebendige Szene und jede für sich eine eigene regionale Jazzidentität. Hamburg klingt anders als Stuttgart, anders als Dresden, anders als Hannover, anders als Dortmund, anders als Leipzig, anders als Darmstadt (!) und eben auch anders als München. Und auch die stilistischen Zuweisungen, die einst regionale Jazzszenen fixieren halfen, gelten nicht mehr. Das wegen seiner Traditionsliebe ehemals als “Freie und Barberstadt” bekannte Hamburg hat heute genauso eine zeitgenössische Jazzszene, in Berlin gibt es neben der Avantgarde auch eine reiche traditionelle Szene, Frankfurt besteht nicht nur aus der Moderne in der Nachfolge Albert Mangelsdorffs, sondern auch aus elektronischen Experimenten, und München ist genauso bunt wie jede andere Stadt dieser Größe.

Christina Maria Bauer hat die Vielfalt dieser Münchner Szene zu einer buchlangen Darstellung animiert, die sich vor allem die Spielorte vornimmt, meist intime Clubs, Cafés, Säle, deren Atmosphäre nicht nur im Liveerlebnis rüberkommt, sondern auch in den Fotos, von denen es in ihrem Buch nicht mangelt. Von der Unterfahrt über den Bayerischen Hof, die Jazzbar Vogler über die Waldwirtschaft und den Hirschau-Biergarten bis hin zum Ruffini und Veranstaltungen in der Circus Krone oder der Pasinger Fabrik beschreibt sie die Orte, die Macher und die Musiker, die an ausgewählten Tagen dort auftreten. Den gut lesbaren, an Einträge in einem guten Reiseführer erinnernden Texten folgt eine Zusammenfassung auf Englisch sowie die Kontaktdaten der Clubs.

Was fehlt, wäre vielleicht noch ein Sampler, der Aufnahmen insbesondere Münchner Ensembles enthalten könnte, aber dann soll man genau dafür ja in die Clubs gehen, um zu hören, worum es in diesem Buch geht: nämlich “Livejazz in München”.

Wolfram Knauer (Januar 2015)


Blue Note. The Finest in Jazz Since 1939
von Richard Havers
München 2014 (Sieveking Verlag)
400 Seiten, 78 Euro
ISBN: 978-3-944874-07-4

Talkin’ About Blue Note. Painted Jazz!
von Dietrich Rünger & Rainer Placke
Bad Oeynhausen 2014 (jazzprezzo)
236 Seiten, 2 CD, 75,00 Euro
ISBN: 978-3-9816642-0-1

2014haversDas Plattenlabel Blue Note feierte letztes Jahr seinen 75sten Geburtstag, und gleich zwei Prachtbände feiern mit. Sie haben recht unterschiedliche Ansätze, ergänzen sich dabei aber so glänzend, dass man kaum zu entscheiden vermag, welches den Nerv des Labels am besten trifft, seine Geschichte am überzeugendsten erzählt.

Richard Havers hatte vor kurzen bereits einen nicht weniger aufwändigen Band über das Label Verve herausgebracht. Sein 400 Seiten starkes Buch nimmt eher den historischen Weg. Havers beginnt mit einem kurzen Kapitel über die Jugend der Firmengründer Alfred Lion und Francis Wolff in ihrer Heimatstadt Berlin, leitet dann recht schnell ins New York der späten 1920er, frühen 1930er Jahre über, das Alfred Lion bereits 1928 zum ersten Mal besuchte, um dann, auf Umwegen – zurück nach Deutschland und dann nach Südamerika – 1936 endgültig in den USA zu landen.

Havers schildert die Umstände der ersten Aufnahmen, die der Jazzfan und Plattensammler Alfred Lion 1939 mit den beiden Pianisten Albert Ammons und Pete Johnson machte, weil er überzeugt war, dass diese Musik ein breiteres Publikum verdiene. Einspielungen mit Frankie Newton und Sidney Bechet folgten. Im Oktober 1939 stieß sein alter Freund Francis Wolff hinzu, der mit dem letzten Schiff kurz nach Kriegsbeginn aus Deutschland ausreisen konnte. Lion musste zwei Jahre mit seinem Geschäft pausieren, weil die amerikanische Musikergewerkschaft zum Streik der Plattenfirmen aufgerufen hatte. Als er 1944 wieder mit der Produktion loslegte, nahm er neben den älteren Namen zum ersten Mal auch jüngere Musiker in sein Programm auf, die eher dem neuen Bebop zuzurechnen waren. Tadd Dameron, Fats Navarro und Thelonious Monk, begründeten den Ruf des Labels als am Puls der Zeit.

Havers erzählt die Geschichte des Labels, beschreibt Veränderungen in der musikalischen Basis, auf der das Geschäft gründete, aber auch Veränderungen in der Aufnahmetechnik oder in der Gestaltung der Platten. Und er beschreibt den Niedergang von Blue Note durch den kommerziellen Erfolg der Rockmusik in den 1960er Jahren und schließlich und den Verkauf des Labels an Liberty Records. Danach führt er seine Leser in die Jetztzeit, berichtet über die diversen Wiederbelebungsversuche und über die immer wieder neuen Stars, die im Idealfall die Experimentierlust des ursprünglichen Blue-Note-Labels weiterleben lassen.

Havers Buch liest sich schnell und flüssig; es enthält jede Menge Einzeldarstellungen bedeutender Schallplatten, die die Musik sowohl in die Geschichte des Labels wie auch in die Jazzgeschichte einzuordnen versuchen. Und es bietet eine Unmenge wunderbarer Fotos, Bilder aus dem Archiv von Francis Wolff vor allem, daneben aber auch historische Aufnahmen aus Berlin und New York, die recht schnell die Atmosphäre der Erzählung nachempfinden lassen. Vereinzelt finden sich schließlich auch Faksimiles aus den Notizbüchern zu einzelnen Plattensitzungen oder ganze Kontaktbögen von Fotonegativen, die die Arbeit des Fotografen Francis Wolff nachvollziehen lassen.

2014ruengerDas von Dietrich Rünger und Rainer Placke herausgegebene Buch über Blue Note hat in etwa dasselbe Gewicht, aber einen ganz anderen Ansatz. Über die Geschichte des Labels erfährt man in teilweise recht persönlichen Rückblicken von Fachleuten und Mitstreitern, etwa dem Produzenten Michael Cuscuna, der Historikern Theresia Giese, dem Filmemacher Julian Benedikt, dem Jazz-Experten Bert Noglik, und dem Journalisten (und Plattentextschreiber) Ira Gitler.

Neben dem Label wird in diesem Buch aber auch die Kunst des deutschen Malers Dietrich Rünger gefeiert, der sich seit langem von den Platten in seiner Blue-Note-Sammlung zu immer neuen, meist großformatigen Acrylbildern inspirieren lässt. Abbildungen dieser Bilder nehmen jeweils viele der rechten Seiten des Buchs ein, während auf den jeweils gegenüberliegenden Seiten Musiker, Experten, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens über ihre eigenen Blue-Note-Erfahrungen zu den betreffenden Alben berichten, so dass im Konzept des Buchs Persönliches (Rüngers visuelle Interpretation der Musik) mit Persönlichem (Reflexionen) konfrontiert wird.

Zu Wort kommen dabei Musiker wie Joe Lovano, José James, Till Brönner, Nils Landgren, Rolf und Joachim Kühn, Martin Tingvall, Udo Lindenberg oder Esperanza Spalding, Jazzexperten wie Josef Engels, Stefan Gerdes, Hans Hielscher, Karl Lippegaus (aber auch Arndt Weidler und Wolfram Knauer vom Jazzinstitut Darmstadt), Angehörige der “Szene”, also Produzenten, Veranstalter, Macher aller Art wie Siggi Loch, Sedal Sardan, Axel Stinshoff oder Rainer Haarmann, sowie schließlich Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens die den Jazz nicht nur als heimliche Liebe pflegen, etwa die Schauspieler August Zirner und Joachim Król, der Politiker Hans-Olaf Henkel oder der Journalist Roger Willemsen. Sie alle durften sich einzelne Platten aus dem großen Blue-Note-Katalog aussuchen und darüber berichten, wie diese sie berührt haben; und ihr Spektrum reicht tatsächlich von Sidney Bechet bis zu Cecil Taylor.

Und dann gibt es noch einen Zusatzbonus, der dem Leser die Blue-Note-Gründer direkt vor Ohren führt: zwei CDs, auf denen eine Rundfunkserie zu hören ist, die der Norddeutsche Rundfunk 1964 mit Alfred Lion und Frances Wolff produzierte und in denen die beiden die Geschichte ihrer Firma erzählen und einige der bedeutendsten Aufnahmen vorstellen.

Die Bedeutung des Labels Blue Note mag sich allein an der Tatsache zeigen, dass etwa zur selben Zeit zwei großformatige schwere Bücher erscheinen, die sich dennoch inhaltlich kaum überschneiden. Havers hat die schöneren historischen Fotos; Rünger/Placke zeigen dafür beispielsweise eine Seite aus der Kladde, in der Frances Wolffs Berliner Plattensammlung dokumentiert ist (aus dem Bestand des Jazzinstituts Darmstadt). Havers kann durch seinen narrativen Ansatz tiefer in die Geschichte des Labels eindringen; Rünger/Placke versammeln mit den zahlreichen einzelnen Reflexionen mehr Facetten. Havers’ Buch ist das traditionellere der beiden, und bei Rünger/Placke mag sich der eine oder andere über die kleine und, weil weiß auf schwarz, schwer lesbare Schrift der Gastbeiträge beschweren. Rünger/Placke ist auf der anderen Seite eher ein aus dem Heute auf das Label blickendes Werk, während Havers einzig der Darstellung der Geschichte verhaftet bleibt. Und Rünger/Placke haben natürlich die beiden wunderbaren CDs dabei, auf denen man die Blue-Note-Gründer selbst zu hören bekommt. Keines der Bücher liefert eine wirklich kritische Bestandsaufnahme, beide Bände richten sich vor allem an Fans. Durch die Vielseitigkeit der Aussagen und die Befragung insbesondere auch von Musikern gelingt es Rünger/Placke vielleicht, der Musik etwas näher zu kommen, für die das Label steht. Letzten Endes aber bleibt dem wahren Blue-Note-Fan nichts anderes übrig, als 7,5 cm im Bücherregal freizuräumen und sich gleich beide Bücher zu holen.

Wolfram Knauer (Januar 2015)


Blues Queens. 2013 Blues Calendar.
Rare Vintage Photographs by Martin Feldmann
Attendorn 2014 (Pixelbolide)
15,90 plus Versand (Wandkalender)
9,50 Euro plus Versand (Notizkalender)
23,95 Euro plus Versand (beide Kalender)
Zu bestellen über www.blueskalender.de

2014feldmannIn den 1970er und 1980er Jahren reiste der Frankfurter Journalist und Fotograf Martin Feldmann regelmäßig durch die USA, besuchte dort Jazz- und Bluesclubs, fotografierte aber auch auf den wichtigsten Bluesfestivals in Europa. Seine Berichte erschienen in der Frankfurter Rundschau sowie in diversen Fachzeitschriften. Zum wiederholten Mal hat Feldmann jetzt eine Auswahl seiner Bilder getroffen, um sie zu einem stimmungsvollen Wand- oder Notizkalender zusammenzustellen. Das Thema des Kalenders 2015 sind die “Blues Queens”, die Blues-Frauen, Sängerinnen und Instrumentalistinnen, die dieses Genre genauso prägten wie ihre männlichen Kollegen. Neben den zwölf Monats-Bildern von Lady B.J. Crosby, Koko Taylor, Honey Piazza, Big Time Sarah, Lady Bianca Thornton, Princess Patience Burton, Sylvia Embry, Carrie Smith, Rosay Wortham, Margie Evans, Tina Mayfield, Angela Brown finden sich im Vorwort des Kalenders noch eindringliche Bilder von Sippie Wallace, Katie Webster und Maxine Howard, Dottie Ivory sowie Beverly Stovall. Feldmann begleitet all diese Bilder mit kurzen Würdigungen der Künstlerinnen. Die Kalender sind direkt online zu beziehen.

Wolfram Knauer (Oktober 2014)


Jazz and Culture in a Global Age
von Stuart Nicholson
Boston 2014 (Northeastern University Press)
294 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-55553-844-6

2014nicholsonStuart Nicholson ist als streitbarer Geist bekannt. In seinem letzten Buch, “Is Jazz Dead? (Or Has It Moved to a New Address?)” betrachtete er den Stand des aktuellen Jazz und befand, dass die alternativen Jazzszenen in Europa dem Status Quo des Jazz in den USA bisweilen den Rang abliefen. Sein neues Buch hat einen noch weiter gefassten Titel, beschäftigt sich nicht nur mit Jazz, sondern gleich mit “Jazz und Kultur in einem globalen Zeitalter” und knüpft doch dort an, wo sein voriges Buch aufgehört hatte.

Wie also, lautet die Grundfrage seines Buchs, ist die Position des Jazz im Zeitalter der Globalisierung, und zwar an jedem einzelnen der verschiedenen Orte, die diese Globalisierung ja erst ausmachen und die jeder für sich eine andere Sicht auf die Sache an und für sich besitzen als der Ursprungsort, Amerika?

In seinem ersten Kapitel stellt Nicholson fest, dass der Jazz im Großen und Ganzen den wirtschaftlichen und finanziellen Erfolg Amerikas im 20sten Jahrhundert widerspiegele. Zugleich habe sich er sich aber auch immer weiter von der populären Musik entfernt, und dabei erlebt, dass innerhalb dieser Entwicklung einzelne regionale oder nationale Szenen gar nicht mehr auf Amerika als Maß aller Dinge schauten. Die Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre habe dazu geführt, dass junge Musiker in den USA durch ihre Kunst kaum mehr genug zum Leben verdienen könnten. Selbst diejenigen, die halbwegs gut seien, würden bis zu 75 Prozent ihres Jahreseinkommens durch Tourneen in Europa erbringen. Gewiss, New York besitze immer noch eine der lebendigsten Jazzszenen der Welt; eine nationale amerikanische Jazzszene sei allerdings so gut wie nicht existent. In den USA baue man jetzt deshalb auf “education”, auf verschiedene Konzepte des “audience development”. Auch Pädagogik aber könne gegen den Erfolg des Konsums nicht ankämpfen. Jazz sei nun mal im schlechten wie im guten Sinne mit dem Klischee des Elitären behaftet. Die Diskurse, die in den 1990er Jahren um die Gestaltungshoheit des Jazz aufkamen, seien tatsächlich Diskurse um kulturelle Identität gewesen. In der heutigen Zeit müsse man mit einer durch den Konsum beförderten kürzeren Aufmerksamkeitsspanne der Hörer leben. Und da käme dem Jazz dann vor allem eine Erkenntnis zupass, die viele Musiker vergessen hätten, dass nämlich die Melodie wichtiger sei als Patterns, dass man seine Hörer durchs Geschichtenerzählen erreiche, dass neue Kompositionen den Zuhörer bewegen müssten. Der Jazz, stellt Nicholson fest, dürfe keine rein intellektuelle Übung bleiben, er müsse die Herzen der Zuhörer erreichen. Dafür müsse er sich seinen eigenen Platz in einer ihm eigentlich feindlich gegenüberstehenden Medienlandschaft zurückerobern. Jazz mag nicht länger populär sein, schreibt er, doch müsse er unbedingt für diejenigen relevant bleiben, die ihm folgen wollen.

Im zweiten Kapitel beschreibt Nicholson den internationalen Erfolg des Jazz seit seinen Anfangsjahren. Er stellt fest, dass Jazz zwar unter Musikern immer eine lingua franca gewesen sein mag, die Musik von Hörern verschiedener Länder und Kulturkreise allerdings durchaus unterschiedlich wahrgenommen werde. Musik sei nun mal eine Form von Kommunikation, und Urteile über Musik unterlägen deshalb immer gesellschaftlich bedingten Regeln, unterschiedlichen Konnotationen und Erwartungen, und damit, wie er an Beispielen aus England und Polen festmacht, eines reichlich unterschiedlichen Erlebens derselben Musik.

Im dritten Kapitel befasst sich Nicholson mit der Wahrnehmung von Jazz als Zeichen der “Moderne” im frühen 20sten Jahrhundert. Jazz habe sich immer in zwei Bedeutungsfeldern befunden, sei zum einen aus einer Kultur des Konsums heraus entstanden, zum anderen aber mehr und mehr mit unterschiedlichsten Diskursen um “Freiheit” assoziiert worden. Amerika habe Kultur bald als weichen Faktor erkannt, der nach innen wie nach außen amerikanische Identität vermitteln könne. Hollywood sei das erste erfolgreiche Beispiel dieser Erkenntnis gewesen, auch die Musik aber habe recht bald ihren Platz in diesem kulturpolitischen Geflecht gefunden. Nicholson dekliniert Beispiele durch, von James Reese Europe über Glenn Miller bis zu den State Department-Tourneen seit den 1950er Jahren. Aus welchen Gründen auch immer der Staat sich des Jazz bediene, habe das in der Regel zu einem Geben und Nehmen zwischen staatlicher Subvention und wirtschaftlicher Vermarktung geführt. Als konkretes Beispiel führt Nicholson Norwegen an, wo es durch staatliche Förderung tatsächlich gelungen sei, eine internationale Nachfrage zu schaffen. All solche internationalen Vermarktungsmechanismen lebten vom “Halo Effect”, bei dem der Ruf großer Musiker auf der einen sowie Werte wie Moderne, Zukunftsorientiertheit und Cringe-Aspekte auf der anderen Seite unbewusst auf das ganze Genre übertragen werden (und sich dabei als hervorragende Marketinginstrumente erweisen).

Im letzten Kapitel betrachtet Nicholson eine andere globalisierte Thematik, die nämlich der “klassischen” Moderne. Der Jazz, erklärt er, habe bereits im frühen 20sten Jahrhundert eine entscheidende Rolle für die Künstler der Moderne gespielt, Maler, Bildhauer, Schriftsteller, Komponisten und Filmemacher. In den USA habe die Wahrnehmung des Jazz als einer modernen Kunstform zur selben Zeit auch gesellschaftliche und rassistische Untertöne besessen. Nicholson hebt Paul Whitemans Rolle bei der Entwicklung des Jazz zu einer künstlerischen Aussage der Moderne hervor, dem etliche spätere weiße wie schwarze Musiker verpflichtet gewesen seien, nicht zuletzt auch Duke Ellington. Er betrachtet konkrete Kompositionen, von den durch Whiteman beauftragten Suiten über Ellington, James P. Johnson, Raymond Scott oder Reginald Foresythe bis zu Arrangeuren der 1940er Jahre, die mit einem weniger auf populären Erfolg ausgerichteten Ansatz arbeiteten, um schließlich festzustellen, dass in den USA der Jazz und die Moderne sich erst näher kommen konnten, als Charlie Parker und die jungen Bebopper die unterschiedlichen Ansätze in Komposition und Improvisation angleichen konnten. Über Brubeck und Tristano geht es noch kurz zu Wynton Marsalis’ “Majesty of the Blues” und Marsalis Ansicht, Jazz sei insgesamt eine Musik der Moderne.

Tja, und dann ist da noch Kapitel 4, überschrieben “The Globalization of Jazz”, das viele interessante Denkansätze enthält und trotzdem die problematischste Lektüre des Buchs darstellt. Die Finanzkrise 2007/2008, beginnt Nicholson, sei ein hervorragendes Beispiel dafür, wie heutzutage alles mit allem zusammenhänge. Der Terminus “Globalisierung” stünde dabei durchaus für unterschiedliche Aspekte: für freie Marktwirtschaft etwa, für westliche Dominanz (Amerikanisierung), aber auch für die Hoffnung auf eine globale Community. Die am wenigsten erwartete Nebenwirkung der Globalisierung sei der wachsende Nationalismus gewesen. Nicholson diskutiert unterschiedliche Modelle der Auswirkung von Globalisierung auf die Kultur, schaut, wie sich die kommerzielle Popmusik in diese Modelle einpassen lässt und blickt dann auf den Jazz und sein inzwischen gespaltenes Verhältnis zu amerikanischer Authentizität. Er stellt für den Jazz eine Hybridisierung fest, in der globalisierte kulturelle Praktiken lokal rezipiert werden und dabei neue, in die lokalen Kontexte eingepasste Bedeutungen erlangten. Für den Jazz betont Nicholson insbesondere, dass im Zuge dieser gern als Glocalization bezeichneten Entwicklung die Idee von “Eigentum” an einer kulturellen Tradition immer unwichtiger wurde, weil “Ursprung” durch lokale Aneignung inklusive hybrider Methoden, also dem gleichzeitigen Verweis auf Traditionen des Jazz und Traditionen der eigenen kulturellen Herkunft, wettgemacht wurde.

Einem Exkurs in die Erfahrungen mit Nationalismus in der klassischen Musikwelt folgt Nicholson mit dem Unterkapitel “Jazz und Relativismus”. Relativismus, erklärt er, ginge davon aus, dass es eine objektive Wahrheit nicht gäbe, weil immer verschiedene Sichtweisen vorherrschten, die alle ihre Berechtigung hätten. Die “Doktrin des kulturellen Relativismus” habe, wie Nicholson schreibt, dazu geführt, dass Wissenschaftler, die dem Relativismus anhingen, historische Fakten zugunsten unterschiedlicher Sichtweisen anzweifelten. Insbesondere in den New Jazz Studies, einem interdisziplinären Forschungsansatz, für den etwa der amerikanische Wissenschaftler Krin Gabbard oder der Brite Tony Whyton stehen, habe die scheinbare Erweiterung bisheriger Sichtweisen um neue Perspektiven, die außerhalb der formalistischen Musikwissenschaft liegen, für reichhaltige Erkenntnisse sorgen sollen. Tatsächlich allerdings, findet Nicholson, habe eine solche Sicht auf den Jazz mit Ungenauigkeiten, historischen genauso wie Denkfehlern gearbeitet und damit die Geschichte verfälscht. Er stellt Paul Gilroys Theorien zum Black Atlantic (sehr verkürzt) als Gegenmodell zum Weltverständnis aus der Sicht von Nationalstaaten vor, und betont, Gilroys Thesen läge zumindest Whytons Modell der New Jazz Studies und seiner Sicht des Jazz als einer transnationalen Musik zugrunde. Die New Jazz Studies plädierten dafür, schreibt Nicholson, dass man im Jazz nicht von nationalen Kulturen sprechen solle, weil, frei nach Gilroy, die Diaspora, also das Modell transnationaler Entwicklungen größere Bedeutung habe als der Druck zu nationaler Einmütigkeit.

Und dann holt Nicholson aus: Es sei doch nachweisbar falsch, dass nationale Charaktere keinen Einfluss auf die Musik hätten. Man müsse doch nur auf den Einfluss von Sprachen auf Rhythmik oder Melodik schauen. Und auch im Jazz gäbe es doch unzählige spezifische Codes, die Jazzmusiker benutzten und die klar ihre kulturelle Herkunft markierten. Whyton würde etwa die Idee eines nordischen Tons im Jazz herunterspielen und als bloße Marketingstrategie interpretieren, an der eben auch Musiker beteiligt seien. Dabei würde er völlig außer Acht lassen, dass es bereits lange Forschungen zum Phänomen des nordischen Tons gäbe, die zwar im Bereich der komponierten Musik angestellt wurden, sich aber ohne weiteres auch auf den Jazz übertragen ließen. Gerade der norwegische oder schwedische Jazz sei doch ein hervorragendes Beispiel dafür, wie lokale, regionale, nationale Kultur den Jazz hin zu einem eigenständigen Idiom beeinflussen könne.

Nicholsons Scharmützel mit den New Jazz Studies sind für den Außenseiter etwas – nun: vielleicht ja nur britisch. Paul Gilroys Thesen seien schon lange widerlegt. Krin Gabbards Buch würde vor Fehlern nur so strotzen, und Tony Whyton würde sich nach wie vor fast schon ideologisch auf Gilroy beziehen. Die Wirklichkeit sei ihnen wohl, zitiert er Richard Dawkins’ Postmodernismus-Kritik, zu uncool. Nicht nur, dass Nicholsons Einengung der Diskussion auf Gabbard und vor allem Whyton den New Jazz Studies nicht gerecht wird, die viel weiter greifen und weit mehr Autoren umfassen, als Nicholson hier benennt, tatsächlich ist sein eigener Ansatz in diesem wie auch in seinem früheren Buch ja einer, der dem interdisziplinären Anspruch der New Jazz Studies durchaus entspricht. Nur gehört zu den New Jazz Studies eben auch das Hinterfragen der eigenen Meinung, was Nicholson, der im britischen Jazzwise Magazine eine Kolumne mit dem augenzwinkernden Titel “Putting the World to Rights” hat, offenbar nicht ganz leicht fällt. Seine Beispiele für Glocalization im Jazz sind mehr als hilfreich, viele seiner Denkansätze sind diskutabel, doch die Spiegelfechterei mit Gegnern, denen er letzten Endes auch ein wenig das Wort auf der Seite herumdreht, wäre nicht nur nicht nötig, liest sich auch ein wenig beckmesserisch.

Wie schon sein früheres Buch, so hat also auch “Jazz and Culture in a Global Age” etliche wertvolle Ansätze. Die fünf Kapitel stehen jedes für sich, wobei die ersten vier klar aufeinander bezogen sind, während das letzte sich ein wenig unglücklich abseits der früheren Argumente wiederfindet, obwohl die Ausführungen über unterschiedliche Auffassungen von Moderne durchaus in Nicholsons Argumentation gepasst hätten. Die Hauptthese des Autors ist jene, dass der Jazz als eine ur-amerikanische Musik entstanden sei, die zu Zeiten nationalstaatlicher Identität sowohl nach innen wie auch nach außen identitätsstiftende Wirkung besaß. Jazz konnte auf der einen Seite als amerikanischer Beitrag zur Moderne rezipiert werden, wie es vor allem in Europa geschah; er konnte aber auch als Abbild einer multi-ethnischen Gesellschaft in einem durch und durch demokratisch verfassten System gedeutet werden, wie es insbesondere die amerikanische Politik in den Zeiten des Kalten Kriegs tat. Nicht zuletzt war Jazz auch ein Werkzeug der amerikanischen Musikindustrie, die von Anfang an darauf ausgerichtet war, über die eigenen Grenzen hinaus zu agieren, musikalische Werte weltweit zu etablieren, um damit im selben Radius ihren kommerziellen Profit einfahren zu können. So war der Jazz quasi Teil einer künstlerischen Globalisierungsstrategie, die wirtschaftlich genauso wie politisch gewollt war, die der Musik im Effekt aber ihre Position als identitätsstiftende nationalstaatliche Kennziffer nahm. Hier setzt Nicholsons Argument der Glocalization ein, das beobachtet, dass eine Musik, die so sozial und kommunikativ ausgerichtet ist wie der Jazz, einer Verortung in der Community bedarf, dass man nämlich Kreativität nicht so gern nur konsumiert, sondern darum wissen möchte, dass sie im persönlichen Umfeld möglich ist. Glocalization bezeichnet nach dieser Interpretation die Balance zwischen dem Wissen um die Herkunft der kulturellen Tradition des Jazz und der Erfahrung, dass die spannendsten Momente in dieser Musik dort geschehen, wo Musiker oder Musikerinnen sich ihrer eigenen Herkunft besinnen. Der Jazz unserer Tage wird von Künstlern gemacht, die sich ihrer Position sowohl im Kontinuum der Jazz- wie auch der Musikgeschichte bewusst sind, die ihre sozialen und kulturellen Erfahrungen übereinanderlegen, um aus der Authentizität ihrer Herkunft die Sprache des Jazz voranzutreiben.

Nicholsons Buch nähert sich dieser Erkenntnis mit dem Anspruch, die These der Glocalization, der Verortung kultureller Entwicklung in der internationalen Community des Jazz einerseits und der regionalen Community des eigenen Lebens der Musiker andererseits, tauge als generelles Erklärungsmodell für vieles, was im Jazz unserer Tage geschieht. Vor allem erkläre sie die unterschiedlichen Richtungen, die die Entwicklung des Jazz in den letzten Jahrzehnten in Europa und den USA genommen habe.

So ist “Jazz and Culture in a Global Age”, ganz wie der Klappentext es ankündigt, durchaus ein Denkanstöße gebendes und zugleich klar Stellung beziehendes Buch geworden. Dieser Rezensent hätte sich statt des etwas abseits stehenden Moderne-Schlusskapitels eine knappe und verbindende Zusammenfassung der vorhergehenden Argumente gewünscht. Nicholsons Beobachtungen mögen nicht überall stimmig erscheinen, einige der Debatten die er eröffnet, wirken unnötig, insgesamt aber regt er seine Leser ganz gewiss zum Weiterdiskutieren an.

Wolfram Knauer (Dezember 2014)


Warum Jazz? 111 gute Gründe
von Kevin Whitehead
Stuttgart 2014 (Reclam)
209 Seiten, 9,95 Euro
ISBN: 978-3-15-020359-0

2014whiteheadWarum Jazz? Das ist tatsächlich eine Frage, die diejenigen, die sich mit Jazz befassen – ob beruflich oder in ihrer Freizeit – immer wieder zu hören bekommen. Warum ausgerechnet Jazz? Was ist denn so schön an dieser Musik, die kaum mitsingbar ist, die manchmal zu altmodisch und dann wieder zu komplex oder avantgardistisch klingt. Warum eine Musik, die vom Hörer irgendwie Mitarbeit fordert?

Kevin Whitehead findet 111 gute Gründe, aber mehr noch, er gibt 111 Antworten auf durchaus ernst gemeinte Fragen. Sein Buch “Warum Jazz?” wirkt damit auf den ersten Blick wie ein Vademecum für den Anfänger, der sich dem Jazz nähern möchte, sich aber unsicher fühlt, weil er nicht genau weiß, worauf er denn zu achten habe bei dieser Musikrichtung, bei der alle Konzertbesucher Experten zu sein scheinen. “Muss ich die Geschichte des Jazz kennen, um ihn schätzen zu können?” lautet gleich die zweite Frage, und Whiteheads korrekte Antwort ist: Nein, aber wie bei so vielem im Leben kann Erfahrung einem noch mehr Genuss bieten. “Erfahrene Hörer”, erklärt er also, “haben immer wieder Aha-Erlebnisse, das heißt, es gibt Momente, in denen sie erkennen, dass ein frischer oder neuer Klang auf alten Elementen gründet.” Vor allem kommt es auf Neugier an bei dieser Musik, auf die Fähigkeit, sich auf Überraschungen einlassen zu wollen. Dann erlebt man den Jazz vielleicht nicht länger als “altmodisch”, sondern als eine aktuelle Musik, eine musikalische Herangehensweise, die sich aus den Standards der Vergangenheit genauso nährt wie aus Einflüssen der Gegenwart.

Wie oft in Konversationen führen die Fragen auch Whitehead schnell dazu auszuholen. “Was ist Jazz?”, beginnt das Kapitel über “Grundlegendes”, in dem der Autor Improvisation und swing genauso abhandelt wie den Einfluss des Blues, das Repertoire des Jazz, Virtuosität oder die Bedeutung und Wirkung musikalischer Zitate.

“Konnte es nur in Amerika zur Vermischung afrikanischer und europäischer Elemente kommen?”, lautet eine der Fragen, die sein historisches Kapitel über den frühen Jazz einleitet, und seine Antwort versucht hier wie anderswo mit Legenden aufzuräumen. Die Kulturen, schreibt er, hätten sich bereits seit Jahrtausenden miteinander vermischt. Die Entstehung des Jazz im New Orleans des frühen 20sten Jahrhunderts sei höchstens ein Kulminationspunkt des Ganzen gewesen. Er erklärt den bandaufbau früher Jazzkapellen, beschreibt die Bedeutung von Musikern wie Buddy Bolden, Louis Armstrong oder Bix Beiderbecke und erwähnt die Rassentrennung in den USA, die dazu führte, dass schwarze und weiße Musiker nur selten miteinander spielten. Er betrachtet die Entwicklung des Jazzensembles hin zur Bigband, diskutiert die Bedeutung Duke Ellingtons und erklärt, warum der Jazz in den 1930er Jahren eine Art Popmusik war. Benny Goodman, Kansas City, Billie Holiday; die Fragen und Themen wechseln sich ab, und mit Django Reinhardt wird auch der Jazz in Europa kurz gestreift.

Whiteheads Fragestunde zum modernen Jazz beginnt sinnigerweise mit dem Dixieland-Revival der 1940er Jahre, dann erklärt er die harmonischen, rhythmischen und ästhetischen Neuerungen des Bebop, den Einfluss afro-kubanischer Elemente, aber auch die Frage, warum Jazzmusiker so gerne Aufnahmen mit Streichern machen. Cool Jazz, Hard Bop, Miles Davis, Bill Evans, Bürgerrechtsbewegung und Tourneen für das State-Department – viele der Fragen sind in diesen historischen Kapiteln so allgemein gehalten, dass sie Whitehead einfach nur zu knappen Zusammenfassungen von Jazzgeschichte animieren. Die Frage-Antwort-Struktur des Buchs erlaubt es ihm dabei allerdings, den Erzählfluss zu unterbrechen und das nächste Kapitel mit Ausrichtung auf die neue Frage jeweils aus einer anderen Perspektive zu beantworten.

“Was ist Avantgarde-Jazz”, beginnt eine weitere historische Abteilung, in der er bald über verschiedene Aspekte des Free Jazz, der Fusion, der 1970er und 1980er Jahre reflektiert. Und im letzten Kapitel nähert er sich sowohl Wynton Marsalis und den Young Lions als auch der aktuellen Jazzausbildung an Hochschulen. Steve Colemans Konzept der “M-Base” wird erklärt, aber auch die Conduction, also die Improvisationsdirigate etwa von Butch Morris. “Sind alle großen Jazzmusiker in New York zu Hause?” lautet eine Frage, und Whiteheads Antwort ist: Sicher nicht, aber vor allem in New York bekommen sie die größere Beachtung.

Die Frage der Fragen steht fast am Schluss des Buches: “Gibt es überhaupt noch eine Jazz-Avantgarde?” heißt sie, und Whitehead stellt klar, dass vieles, was unter diesem Label vermarktet wird, inzwischen eigentlich selbst als historisch bezeichnet werden müsste, weil die Parameter, nach denen sich die musikalische Ästhetik etwa freier Improvisationsmusik oder anderer sogenannter “cutting-edge”-Programme richtet, bereits vor Jahrzehnten festgelegt wurden.

“Warum Jazz? 111 gute Gründe” ersetzt keine Jazzgeschichte, aber in der häppchenartigen Weise, in der Kevin Whitehead sowohl allgemeine wie auch recht spezielle Fragen zum Jazz beantwortet, erfährt man nicht nur als Laie jede Menge über den Jazz, sondern wird auch als Kenner auf Facetten gestoßen, die einem Teile der Jazzgeschichte in neuem Licht erscheinen lassen. Dass der Autor die Entwicklungen in Europa bis auf wenige Seiten weitestgehend ausklammert, ist wohl vor allem der Tatsache zu verdanken, dass er sein Buch ursprünglich für ein amerikanisches Publikum geschrieben hat. Eine Erklärung hierzu – im Vorwort oder zumindest im Rahmen einer 112. Frage wäre ganz sinnvoll gewesen, zumal Whitehead selbst lange Zeit in Europa lebte und einen guten Einblick in die Entwicklungen hierzulande besitzt. Aber vielleicht ist es nicht die schlechteste Schlussfolgerung, wenn man sich nach 111 Fragen und Antworten dazu gedrängt fühlt, noch weitere zu stellen…

Wolfram Knauer (Juli 2014)


Jazz Me Blues. The Autobiography of Chris Barber
von Chris Barber (mit Alyn Shipton)
Sheffield 2014 (equinox)
172 Seiten, 19,999 Britische Pfund
ISBN: 978-1-84553-088-4

2014barberChris Barber hat auf seine eigene Art Jazzgeschichte geschrieben. Er hat den britischen Trad-Jazz, der lange Zeit recht puristisch auf New Orleans, auf kollektives Zusammenspiel, auf die Stilhaltung des Jazz der 1920er Jahre fokussiert war, in eine Gegenwart geholt, in der Skiffle, Blues und Rock ‘n’ Roll eine nicht minder wichtige Rolle spielten. Er entwickelte einen Stil, der auf der einen Seite die archaischen Seiten des frühen Jazz auf europäisches Ebenmaß glättete, verlor auf der anderen Seite nie den Respekt vor den Ursprüngen des Jazz aus den Augen und war sich durchaus auch der Entwicklungen dieser, “seiner” Musik bewusst, dessen Fans Barbers eigenen musikalischen Offenheit vielfach wohl nicht gefolgt wären.

In Zusammenarbeit mit Alyn Shipton hat Barber jetzt seine Autobiographie vorgelegt. In ihr erzählt er von seiner Kindheit in Londons Vorstädten, seiner Sozialisation in einem bewusst sozialistischen Haushalt und seiner ersten Begegnung mit dem Jazz durch den BBC. Er erhielt Geigenunterricht, kaufte sich seine ersten Jazzplatten, Louis Armstrong, Bessie Smith, Jelly Roll Morton, Duke Ellington, aber auch Blues von Sleepy John Estes oder Cow Cow Davenport. Nach dem Krieg zog seine Familie nach London, wo Barber Humphrey Lytteltons Band hörte und sich entschied, dass er Posaune spielen wollte. Er begann ein Mathematikstudium, dass er dann zugunsten der Musik aufgab. Er spielte mit verschiedenen Londoner Bands und erzählt, wie er und seine Musikfreunde verschiedenen Idolen des frühen Jazz anhingen, sie sich gegenseitig vorstellten und dabei immer tiefer in die Musik eindrangen.

Barber gründete eine Band zusammen mit dem Klarinettisten Monty Sunshine, der bald auch der Kornettist Ken Colyer und der Banjospieler und Gitarrist Lonnie Donegan angehörten und die 1953 und 1954, nachdem Colyer von einer längeren Reise nach New Orleans zurückgekehrt war, unter dem Namen Ken Colyer’s Jazzmen ihre ersten Aufnahmen vorlegte. Sie spielten Jazz ihrer Idole, daneben aber auch Trionummern mit Gesang und Banjo (Donegan), Gitarre (Colyer) und Bass (Barber), eine Besetzung, die die englische Tradition der Skiffle Musik begründete. Pat Halcox ersetzte Colyer, Donegan machte eine Solokarriere, Sunshine wurde Anfang der 1960er Jahre durch Ian Wheeler ersetzt, außerdem kam die die irische Sängerin Ottilie Patterson hinzu. Barbers Band aber war ab etwa 1953 ein Erfolgsmodell, tourte regelmäßig durch ganz Europa und beeinflusste mit ihrer Art eines weniger archaischen Dixieland eine ganze Generation von Jazzmusikern insbesondere in Skandinavien und Deutschland (wo nicht ganz ohne Grund die Hansestadt Hamburg unter traditionellen Jazzfreunden bald nur noch “Freie und Barberstadt Hamburg” hieß).

“Petite Fleur”, aufgenommen 1959, wurde ein Hit selbst in den USA, und Barber begründet die Tatsache, dass ihre Aufnahme sich besser verkaufte als das Original von Sidney Bechet mit der Tatsache, dass Monty Sunshine das Stück von einem Plattenspieler abgehört habe, der ein wenig zu schnell lief und es daher einen Halbton höher spielte als Bechet, was bestimmten Harmoniewechseln im Stück besonders gut getan hätte. In der Folge tourte Barber 1960 durch die Vereinigten Staaten, hörte jede Menge Jazz und Blues, traf auf traditionelle Kollegen, hörte aber auch die Musik der Zeit, etwa beim Monterey Jazz Festival, wo seine Band am selben Abend auftrat wie Ben Webster, Coleman Hawkins, J.J. Johnson und Ornette Coleman.

Zu seine großen Tourneen lud Barber sich immer amerikanische Stars ein, angefangen bei Bluesgrößen wie Sister Rosetta Tharpe, Sonny Terry, Brownie McGhee, Jimmy Witherspoon über Vertreter des klassischen Jazz wie Ed Hall, Albert Nicholas, Musiker des swingenden Mainstream wie Ray Nance oder Wild Bill Davis, R ‘n’ B-Musiker wie Louis Jordan, moderne Kollegen wie Joe Harriott oder John Lewis oder Musiker aus dem Poplager wie Van Morrison oder Paul McCartney.

Vielleicht ist es der Bescheidenheit Barbers zu verdanken, die ihn so liebenswert und unter Kollegen unterschiedlichster Stilrichtungen so beliebt gemacht hat, dass seine Autobiographie nicht selbst-erforschender ist, nicht weiter in die Tiefe dringt. Er nennt die Namen, viele Sessions, etliche Anekdoten. Über ihn selbst selbst aber erfahren wir leider recht wenig, auch seine musikalische Ästhetik scheint eher zwischen den Zeilen durch. Und so ist das Buch vor allem eine in Prosa gefasste Chronologie von Ereignissen, Plattenaufnahmen, Konzerten, wechselnden Besetzungen, mit dazwischen gestreuten, selbsterlebten oder von Kollegen gehörten Anekdoten. “Jazz Me Blues” ist damit ein stellenweise etwas namenslastiges, nicht überall flüssig zu lesendes Buch, das dennoch wichtige Facetten einer Spielart des europäischen Jazz beleuchtet. Und vielleicht ist es ja wirklich anderen überlassen, das alles etwas kritischer und mit Bezug auf die gesellschaftlichen wie musikalischen Veränderungen der Zeit, die Barber ja selbst mit geprägt hat, zu beschreiben.

Wolfram Knauer (August 2014)


Chet Baker. The Missing Years. A Memoir by Artt Frank
von Artt Frank
Charleston/SC 2014 (BooksEndependant)
215 Seiten, 19,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-9887687-4-1

CBMY_Cover_CS_v20140213_01.inddArtt Frank ist ein eher unbekannter Musiker des Jazz. In Tom Lords Diskographie sind gerade mal vier Sessions verzeichnet, die Frank ab 1997 als Schlagzeuger tätigte. Sein eigener “claim to fame” aber reicht zurück bis in die Mitt-1950er Jahre, als er zum ersten Mal Chet Baker im Bostoner Storyville Jazzclub hörte. Sie freundeten sich an, naja, sie sprachen anfangs des öfteren miteinander, und wann immer Frank in der Gegend war, in der Baker auftrat, stellte er sicher, dass er beim Konzert vorbeischaute. Ende der 1960er Jahre aber, als Baker nicht weit entfernt von Frank wohnte, der in Los Angeles als Maler arbeitete, wurde die Freundschaft enger, sie trafen sich immer wieder, und der Trompeter vertraute Frank viel Persönliches an, über seine Familie, über seine Drogensucht, über künstlerische und geschäftliche Entscheidungen.

Franks Memoiren bilden diese Gespräche mit Baker ungemein lebendig erzählt ab, zum Teil mit erinnerten wortwörtlichen Zitaten. Ein wenig literarisch mutet das zum Teil an und man fragt sich, wie sehr man der Erinnerung des Autors trauen darf. Aber dann ist Geschichte nun mal immer die Sammlung von Erinnerungen, und Franks Erinnerung an Baker ist sicher weitaus tiefer als die selbst der meisten Biographen des Trompeters.

Mit dem Wissen also, dass man weder eine Biographie noch eine fundierte historische Studie vor sich hat, lässt sich aus Franks Buch eine Menge über Bakers Persönlichkeit herauslesen. Ein zweiter Band ist geplant.

Wolfram Knauer (August 2014)


Free Jazz and Improvisation on Vinyl 1965-1985. A Guide to 60 Independent Labels
von Johannes Rød
Oslo 2014 (Rune Grammofon)
110 Seiten, 299 Norwegische Kronen
ISBN: 82-92598-87-1

2014rodOrnette Coleman brachte seine großen Quartettaufnahmen bei Atlantic heraus, Cecil Taylor nahm für Blue Note auf, John Coltrane für Impulse – zu Zeiten, als diese Labels bereits den Schritt von unabhängigen Plattenfirmen zu den Majors gegangen waren. Die meisten Entwicklungen des Free Jazz der Jahre 1965 bis 1985 aber wurden auf kleinen unabhängigen Labels veröffentlicht, oft genug Ein-Personen-Firmen, die mal weniger, mal mehr Produktionen pro Jahr herausbringen konnte und selten Mittel für aufwändige Produktionen besaßen. Und so waren die Platten in der Regel eine labor of love, aus dem Drang entstanden, eine Musik zu dokumentieren, die, weil der freien Improvisation verpflichtet, ansonsten verklungen wäre.

Johannes Rød hat 60 dieser kleinen Labels in seinem Buch dokumentiert, von “A” wie dem Label About Time bis “V” wie der Firma Vinyl. Die Klassiker sind dabei, allen voran die deutschen FMP und Moers Music, das Schweizer HatHut Label, Black Saint und Soul Note aus Italien, ICP aus Holland, Incus aus Großbritannien, BYG Actuel aus Frankreich sowie die vielen amerikanischen Kleinstlabels wie Delmark, ESP, Flying Dutchman, Nessa, Strata-East oder Saturn. Rød beginnt jedes Kapitel mit einer Kurzdarstellung der Labelgeschichte, Hintergründen zur Entstehung, zu den Menschen, die die Musik produzierten, zur Programmpolitik. Dann folgt, wie auf Linienpapier eines altertümlichen Bestandsbuches die Diskographie im Bereich des Free Jazz bzw. der frei improvisierten Musik: Plattennummer, Künstler und Titel der Platte sowie Jahr der Veröffentlichung. Kurz und prägnant; weder Angaben zur Besetzung noch über eventuelle Wiederveröffentlichungen. Einige der großen, einflussreichen Labels erhalten einen ausführlicheren, bis zu einer Seite umfassenden Darstellungstext, ansonsten sind es meist nur wenige Zeilen. In der Mitte des Buchs finden sich sechzehn farbige Seiten, auf denen jeweils vier Plattencover abgebildet sind. Ein Epilog verweist auf weitere Veröffentlichungen, aber auch auf Entscheidungen des Autors, welche Labels er aufnehmen, welche er außer Acht lassen wollte. Schließlich findet sich noch ein Interview, dass der Journalist Rob Young mit dem norwegischen Labelchef Rune Kristoffersen führte, in dessen Verlag das Buch ja auch erschien und in dem dieser die Bedeutung der unabhängigen Labels für die Geschichte insbesondere des Free Jazz seit den 1960er Jahren erzählt. Er reflektiert darüber hinaus über Unterschiede zwischen europäischen und amerikanischen Produktionen und über die Veränderungen des Marktes während der 20 Jahre, die das Buch abdeckt sowie der Zeit danach.

Johannes Røds Buch ist ein wenig Dokumentation von Dokumentation, eine in ihrer Nüchternheit fast buchhalterische Darstellung des Free Jazz als einer Musik, die ihre historische Komponente auch dank der Leistung all dieser kleinen freien Labels erhielt. Das Buch wendet sich letzten Endes an Sammler, die mit ihm einen Katalog der wichtigsten Kleinauflagen des Genres an die Hand bekommen, edel gebunden, auf gutem Papier gedruckt und in einem Layout, das deutlich macht, dass nicht nur die Arbeit all dieser Labels, sondern auch die Leidenschaft der vielen Sammler eine labor of love ist.

Wolfram Knauer (August 2014)


Philosophie des Jazz
von Daniel Martin Feige
Frankfurt 2014 (Suhrkamp)
142 Seiten, 14,40 Euro
ISBN: 978-3-518-29696-7

2014feigeWas ist eigentlich Jazz? Diese Frage wird unterschiedlich beantwortet, je nachdem aus welcher Warte der Gefragte auf die Musik blickt. Der Musikwissenschaftler wird die harmonischen, rhythmischen, formalen, konzeptionellen Strukturen der Musik erklären können, der Historiker wird auf Entwicklungs- und Einflussstränge verweisen, der Soziologe wird sich vielleicht mit der Improvisation als einem gesellschaftlichen Modell befassen, der Linguist mit den musikalischen Äquivalenten von Vokabeln und Satzstrukturen, der Musiker wird einfach spielen, der Fan wird verzückt hören.

Was aber antwortet der Philosoph? Nun, Philosophen haben sich selten über Jazz geäußert, und wenn sie es taten, dann durchaus schon mal mit gehörigem Missverständnis wie im Fall Theodor W. Adornos, dessen Äußerungen zum Jazz eigentlich erst dann Sinn ergeben, wenn man sich die Musik vor Augen hält, die Adorno zur Zeit, als er diese Aufsätze schrieb, kennen konnte (oder kennen wollte). Ein großes Problem aller Auseinandersetzung mit dem Jazz nämlich ist ein terminologisches: Welchen Jazz meinen wir eigentlich? Sprechen wir von Jazz und denken dabei an eine im Volkstum von New Orleans verankerte Kunst, so haben wir eine grundsätzlich andere Situation als wenn wir von Jazz sprechen, aber die frei denkende und improvisierende Szene der europäischen 1960er und 1970er Jahre vor Augen haben.

Es ist also an der Zeit, dass sich ein veritabler Philosoph mit dieser Musik auseinandersetzt, und es ist angesichts der ausgeführten Probleme vielleicht ganz passend, dass Daniel Martin Feige seine Ausführungen nicht etwa mit der Frage nach dem Jazz beginnen lässt. Stattdessen beginnt er mit der Frage: “Was ist eine Philosophie des Jazz?”, und arbeitet erst einmal die Merkmale der Philosophie heraus, um dann auf Besonderheiten des Jazz einzugehen. “Man kann”, schreibt er, “über den Jazz nicht nachdenken, ohne zugleich kontrastiv über andere Arten von Musik und hier vor allem die Tradition der europäischen Kunstmusik nachzudenken.” Bei solch einem vergleichenden Ansatz bestünde die Gefahr falscher Maßstäbe, wenn man den Jazz aber kontrastiv zur europäischen Kunstmusik erläutere, ließe sich diesem Einwand trefflich begegnen.

In seinen einzelnen Kapiteln diskutiert Feige das improvisatorische Unterscheidungsmerkmal des Jazz (zur komponierten europäischen Kunstmusik), das Verhältnis zwischen improvisierten Performances und dem Werkverständnis (und der Bedeutung von Standards im Jazz), befasst sich mit den individuellen und kollektiven Aspekten in der musikalischen Praxis und hier insbesondere mit dem interaktiven Moment künstlerischen Handelns als verkörperter Tradition, um schließlich vom kontrastierenden Ansatz abzuweichen und eine generelle These aufzustellen, dass nämlich Jazz etwas explizit mache, was für Kunst als solche wesentlich sei. Somit gelangt Feige am Schluss seines Buchs von der Frage danach, was denn eine Philosophie des Jazz wohl ausmache, zu einer These über die philosophische Relevanz des Jazz über die rein musikalische Praxis hinaus.

Daniel Martin Feiges “Philosophie des Jazz” ist keine leichte Lektüre. Weder ersetzt das Buch eine Jazzgeschichte noch fasst es bisheriges ästhetisches oder philosophisches Nachdenken über Jazz konzis zusammen. Feige entwickelt seine Philosophie des Jazz aus dem intensiven Nachdenken über eine Musik, die ihm als mitteleuropäischer Philosoph natürlich auch die eigene Denkhaltung permanent vor Augen führt, und die schon von daher eine Kontrastierung mit der ästhetischen Wirklichkeit, aus der heraus er Musik erfährt, sinnvoll macht. Man möge daher vielleicht die Einschränkung erlauben, dass es sich bei Feiges Buch vor allem um eine “Europäische Philosophie des Jazz” handelt oder wenigstens um eine “Philosophie des Jazz aus europäischer Sicht”, denn die Kontrastierung mit der europäischen Kunstmusik, aus der heraus er seine Thesen entwickelt, kommt gewiss zu anderen Schlussfolgerungen als es eine Kontrastierung etwa mit afro-amerikanischen Traditionen tun würde. Westliche Philosophie, kritisiert Alison Baile, produziere immer noch Erkenntnisse über Wissen, Realität, Moral und die menschliche Natur, für die sie Aspekte wie Hautfarbe oder Geschlecht als nicht notwendige Kriterien erachte [“In its quest for certainty, Western philosophy continues to generate what it imagines to be colorless and genderless accounts of knowledge, reality, morality, and human nature” (Center on Democracy in a Multiracial Society. Towards a Bibliography of Critical Whiteness Studies, Urbana/IL 2006: p. 9)]. Eine Perspektivklärung aber ist von jeder Seite her notwendig, um eine Sache möglichst umfassend zu verstehen. Und so ist Daniel Martin Feiges Perspektive auf den Jazz aus europäischer philosophischer Sicht ein trefflicher, notwendiger und weiter-zu-diskutierender Beitrag zum Nachdenken über Jazz als universelle künstlerische Äußerung, ein Beitrag, wohlgemerkt, zu einer noch zu schreibenden umfassenderen Philosophie des Jazz.

Wolfram Knauer (September 2014)


Das zeitgenössische Jazzorchester in Europa. Einblick in Tendenzen, Strömungen und musikalische Einflüsse des großorchestralen Jazz
von Daniel Lindenblatt

München 2014 (Akademische Verlagsgemeinschaft)
117 Seiten, 34,90 Euro
ISBN: 978-3-86924-593-5

2014lindenblattIst Bigband-Jazz nach wie vor eine aktuelle Musik? Neben großbesetzten Ensembles, die in der Tradition der klassischen Jazz-Bigband spielen, gibt es etliche Projekte, die den Sound dieser Instrumentierung erweitern und die Bigband damit ins 21ste Jahrhundert überführen. Eine Spurensuche der Möglichkeiten unternimmt Daniel Lindenblatt in seiner wissenschaftlichen Arbeit über Aspekte des aktuellen Bigbandjazz in Europa.

Lindenblatt beginnt seine Darstellung mit dem Versuch einer terminologischen Unterscheidung zwischen “Bigband” und “Jazzorchester” (die so kategorial nicht ausfällt, wie es im Klappentext des Buchs behauptet wird), um dann über die Jahrzehnte seit der Swingära die Besetzungscharakteristika zu verfolgen und insbesondere die Besonderheiten des großorchestralen Jazz in Deutschland herauszustreichen, einem Land, dass nicht zuletzt durch seine Rundfunk-Bigbands eine besonders aktive und kreative Szene in diesem Bereich besitzt. Ein zweites Kapitel widmet sich Definitionsfragen im Jazz ganz allgemein, erläutert den Begriff des “ästhetischen Felds” des Jazz, das sich aus der Summe seiner Geschichte speist, und geht auf das Verständnis von Jazz als einer “grundsätzlichen Spielhaltung” ein, wie es insbesondere von europäischen Musikern gehegt wird. Ein Unterkapitel widmet sich dem für sein Thema besonders wichtigen Bereich der Komposition im Jazz, wobei Lindenblatt auch diskutiert, inwieweit die aus der klassischen Musik übernommene Idee eines Werkcharakters im Jazz funktioniere bzw. gegebenenfalls anders gefasst werden müsse.

Im praktisch-analytischen Teil seiner Arbeit greift Lindenblatt dann vier Fallbeispiele heraus, die er analysiert, um Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Tendenzen herauszuarbeiten. Für Geir Lysne etwa stellt er fest, dass dieser auch die improvisatorischen Teile seiner Kompositionen in dramaturgische Bögen einbinde, dass er bewusst folkloristische Elemente benutze, um “über das kompositorische Handwerk hinaus weitere charakterisierende Elemente” einzubringen, und dass er seine Stücke gern modal konzipiere. Diese Erkenntnisse baut er schließlich in eine Diskussion des “nordischen Tons” ein, der sicher nicht nur im Jazz, hier aber besonders geführt wird. Am Beispiel Rainer Tempels zeigt Lindenblatt, wie dieser sich sowohl einer traditionellen Bigband-Sprache als auch eher aus dem zeitgenössischen Kompositionsbereich abgeleiteter serieller Kompositionsprinzipien bediene. Monika Roscher wiederum benutze darüber hinaus auch “Einflüsse aus moderner Popularmusik und dessen Klangästhetik(en)” und erreiche dadurch eine bewusste Abwendung von “tradierten Konventionen des Bigband-Jazz”. Das Backyard Jazzorchestra schließlich arbeite insbesondere mit Elementen verschiedener folkloristischer Provenienz.

Die beiden Richtungen, die Lindenblatt in seinen Beispielen herausstreicht, beleuchten auf der einen Seite den Umgang der Bigband mit den Konventionen ihres eigenen Subgenres, auf der anderen Seite die Möglichkeiten dieser Besetzung, folkloristische Elemente aufzunehmen. Insbesondere in Europa gäbe es hier Entwicklungen, die weit von der jazz-spezifischen Traditionsbindung fortführten (wie sie in Amerika immer noch das Klangbild der Jazzorchester bestimmt).

Lindenblatts Arbeit entstand als wissenschaftliche Studie und liest sich entsprechend akademisch. Seinen Lesern kommt der Autor in kurzen Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel entgegen, lässt aber leider eine konzis formulierte Fragestellung vermissen. Seine im Vorwort des Buchs vorgetragenen Thesen haben stattdessen etwas Gemeinplatz-artiges (“Die ästhetischen Entwicklungen des zeitgenössischen Jazz spiegeln sich weiterhin in zeitgenössischen Großformationen des Jazz wi[e]der” / “Für das zeitgenössische Jazzorchester lassen sich Tendenzen und musikalische Einflüsse feststellen, deren Herkunft sich eindeutig auf eine europäische Musikkultur zurückführen lassen” / “Eine ‘Vielfalt der Stile’ kann in eine Vielfalt der Ästhetiken übersetzt werden”), und auch die lobenswerten Lupenblicke auf vier konkrete Beispiele führen nicht wirklich über das hinaus, was man bereits geahnt hat. Immerhin richtet Lindenblatt sein Augenmerk wirklich auf aktuelle Großformationen, bleibt aber auch hier zu musikimmanent, beschreibt und schlussfolgert, fragt jedoch nirgends nach dem Warum. Diese Frage allerdings bleibt dem Leser (zumindest diesem Leser) nach der Lektüre im Kopf. Warum schreiben Lysne, Tempel, Roscher oder Schultze so, wie sie schreiben, warum klingen die Bands so, wie sie klingen, welche konkreten Erkenntnisse lassen sich aus den zahlreichen analytischen Beobachtungen, die Lindenblatt anstellt, ziehen, und zwar mit klarem Bezug zu einer (zu welcher?) grundlegenden Fragestellung?

Wolfram Knauer (September 2014)


Piano Works
von Hank Jones
Santa Monica/CA ca. 2014 (Universal Music Publishing Group)
40 Seiten, 29,20 Euro

2014jonesHank Jones war einer der bedeutendsten Pianisten des 20sten Jahrhunderts. Er ist ab den 1940er Jahren auf unzähligen Aufnahmen präsent als immer geschmackssicherer Begleiter und virtuoser Solist. Seit den 1950er Jahren hat er zudem viele Einspielungen mit eigenem Trio gemacht. In den 1970er Jahren machte insbesondere das Great Jazz Trio von sich Reden, in dem Jones mit Ron Carter und Tony Williams zusammenspielte. Auf solchen Einspielungen war Jones vor allem als Interpret von Standards zu hören; daneben aber war er immer auch als Komponist aktiv.

Die in diesem Band enthaltenen Stücke stammen zumeist aus der Zeit nach 1970 und zeigen, wie Bob Blumenthal in seinem Vorwort betont, dass er die harmonischen Entwicklungen seines Bruders Thad, Oliver Nelsons und anderer Zeitgenossen wahrgenommen habe. Es gibt Blues (“Peedlum”) und harmonisch offenere Stücke (Passing Time”), Balladen (“Take a Good Look”) und Walzer (“Lullaby”). Die Lead-Sheets enthalten die themenmelodie, z.T. akkordisch gesetzt, sodass man einen kleinen Eindruck der typisch Jone’schen Voicings erhält, sowie die Harmoniegrundlagen der Improvisationschorusse, für einzelne Titel (“Alone & Blue”, “Good Night”) auch Texte. Weitere Titel sind “A Darker Hue of Blue”, “A Major Minor Contention”, “Ah Oui”, “Bangoon”, “Duplex”, “Good Night”, “Interface”, “Intimidation”, “Orientation” und “Sublime”.

Zwischen Bebop, Uptempo und Ballade finden sich in diesem Band wunderbare Piècen, die den Geist Hank Jones’ hervorrufen, zugleich aber auch jedes Repertoire bereichern können.

Wolfram Knauer (April 2014)


We Thought We Could Change the World. Conversations with Gérard Rouy
von Peter Brötzmann & Gérard Rouy
Hofheim 2014 (Wolke Verlag)
191 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3-95593-047-9

2014broetzmannGérard Rouy begleitete den Filmemacher Bernard Josse im November 2008 und im August 2009, als dieser seinen Film “Soldier of the Road” über Peter Brötzmann drehte. Rouy war dafür zuständig, den Saxophonisten zum Erzählen zu bringen, und Rouy berichtet, wie frustrierend es für ihn gewesen sei, dass der Film naturgemäß nur einen Bruchteil der Gespräche wiedergeben konnte. Im vorliegenden Buch werden diese Gespräche nun auf 100 Seiten gesammelt, daneben enthält es knapp 60 Seiten Fotos, die Gérard Rouy über die Jahrzehnte von Brötzmann machte, sowie Abbildungen diverser Kunstwerke des Saxophonisten, eine knappe Diskographie und einen Namensindex.

Die Gespräche drehen sich vor allem um Biographisches und Ästhetisches. Brötzmann erzählt über seine Kindheit in Schlawe im heutigen Polen, seine Jugend in Remscheid. Er erzählt vom Einfluss der Nachkriegszeit auf seine musikalische Haltung, vom Unterschied der ästhetischen Ansätze gleichaltriger europäischer Musiker, die durch ihre jeweiligen nationalen Erfahrungen geprägt waren. Brötzmann las Joachim Ernst Berendts Jazzbuch und hörte Willis Conovers Jazzsendung auf der Voice of America und war anfangs vor allem vom traditionellen Jazz fasziniert. Er spielte Klarinette zu den Platten, die er besaß und baute sich ein eigenes Schlagzeugset. Mit 17 Jahren entschloss er sich die Schule zu schmeißen und an der Kunstakademie in Wuppertal zu studieren. Auf dem Saxophon sei er reiner Autodidakt gewesen; seinen eigenen Sound sieht er als Resultat seines technisch “falschen” Ansatzes. In der Wuppertaler Galerie Parnass half er 1962 bei einer Ausstellung Nam June Paiks aus, der ihm die Welt John Cages öffnete.

Brötzmann erzählt vom deutschen Jazz der 1960er Jahre, von den ersten Schlagzeugern, mit denen er zusammenspielte, von Auftritten mit Alexander von Schlippenbachs Globe Unity Orchestra und ersten pan-europäischen Projekten. Er resümiert über die Weltveränderungsgedanken, die 1968 auch durch die Jazzszene schwappten, zeigt sich aber auch als Realist, der schnell erkannte, dass “wir vielleicht nicht die Welt nicht verändern können, dass wir aber sehr wohl von Zeit zu Zeit das Denken der Menschen beeinflussen können”. Ein eigenes Kapitel ist dem Projekt “Free Music Production” gewidmet, an deren Entstehung Brötzmann und Peter Kowald beteiligt waren. FMP schuf auch eine Verbindung zu Musikern aus dem Osten Deutschlands, und Brötzmann erzählt von Konzerten in der DDR und der Schwierigkeit, mit der Ostgage sinnvolle Dinge zu erstehen, da das Geld im Westen nur einen Bruchteil wert war. Er berichtet über sein Trio mit Fred van Hove und Han Bennink und über gemeinsame Projekte mit Albert Mangelsdorff, die halfen, dass einige der vehementen Kritiker seiner Musik ihm eine weitere Chance gaben.

Das Kapitel “Freundschaften” handelt von Misha Mengelberg, Frank Wright, Sonny Sharrock, geht aber auch auf gesellschaftspolitische Ansichten Brötzmanns ein. Er erzählt ausführlich von Parallelen zwischen seiner Musik und seinen bildenden Kunstwerken – der Unterschied der beiden Berufe sei vor allem, dass man als Maler allein arbeite – und identifiziert einzelne ikonographische Versatzstücke seiner Malerei. Er erzählt offen über seine Alkoholprobleme in der Vergangenheit und darüber, dass er Glück gehabt habe, den Absprung geschafft zu haben. Es gibt Leute, die meinen, im Alter sei Brötzmann melodischer geworden; er selbst aber findet, dass dieses Interesse an der Melodie immer dagewesen sei. Auch habe ihm bei allem Bemühen “sein eigenes Ding” zu machen, der amerikanische musikalische Ansatz in Bezug auf Songs oder den Blues immer gefallen. Improvisation sieht er größtenteils als Vergnügen, aber auch als Risiko, wobei sich diese beiden Seiten nicht ausschlössen. Er besäße sehr unterschiedliche Instrumente; seine Saxophonsammlung allein sei mittlerweile fast zu groß geworden.

Musiker zu sein, sei immer ein schweres Brot gewesen, die Zukunft der Musik aber sei in Gefahr, wenn selbst bei staatlich subventionierten Maßnahmen nur der breite Erfolg zähle. Es gäbe da sicher eine gehörige Überproduktion an Kunst, ihn selber eingeschlossen, im großen und ganzen aber seien vor allem die Strukturen, die noch in den 1970er und 1980er Jahren funktioniert hätten, den Bach runtergegangen. “Die jungen Leute kommunizieren nur noch über das Internet”, bedauert er und prophezeit: “Ich glaube, das ist sowieso das Ende aller Musik.” Bei allem Pessimismus müsse man als Musiker aber versuchen, das, was man selber mache, möglichst gut zu machen, um die Menschen zu erreichen und zu überzeugen.

“We Thought We Could Change the World” ist eine ausgesprochen lesenswerte Reflektion über Brötzmanns eigenen Lebensweg, seine Ideale und die Wirkung seiner Kunst. Die Musik ersetzt ein solches Buch nicht, aber sie bietet erhebliche zusätzliche Information. Rouys Fotos begleiten Brötzmann in diversen Projekten zwischen 1972 und 2009 und leiten sehr gelungen zu dem über, was auch nach der Lektüre dieses Buchs im Mittelpunkt stehen sollte: den Genuss einer Platte oder die Vorfreude aufs nächste Konzert.

Wolfram Knauer (April 2014)


Thelonious Monk Quartet with John Coltrane at Carnegie Hall
von Gabriel Solis
New York 2014 (Oxford University Press)
183 Seiten, 16,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-974436-7

2014solisIn 1957 John Coltrane followed Sonny Rollins as tenor saxophonist in Thelonious Monk’s band for half a year which resulted in one of the most important partnerships in jazz. The two made a couple of studio recordings, and later several bootlegs added to their discography. In 2005, Larry Appelbaum discovered tapes of a benefit concert played at Carnegie Hall, made for the Voice of America, but never broadcast. The recording was issued and celebrated by fans and critics alike. One main difference to bootlegs was that, unlike most other live recordings, this concert had originally been meant to be recorded and broadcast.

Gabriel Solis who is the author of one of the major studies of Thelonious Monk’s music, “Monk’s Music. Thelonious Monk and Jazz History in the Making” from 2008, examines the resulting album as a document of a crucial period in the musical development of both John Coltrane and Thelonious Monk, but he also asks “questions about changes in jazz over the course of the twentieth century, and critical questions about jazz’s place in American culture”.

In his introduction Solis places the recording within jazz history of its time, pointing out that the 1950s were “an exceptional moment for live jazz recordings”, introducing a different consciousness for the music both within the listener and the musicians. Solis then discusses the concepts of improvisation, composition, interaction, and repetition in jazz to lay ground for an understanding of his later analyses. Solis follows the concept of repetition from small to large, from motif, groove, and rhythm to chorus and repetition of pieces in a repertoire. He shortly touches upon aesthetic connotations of repetition in an African-American context. Solis then raises the question of composition and improvisation, terms which often are used too rigidly to do the music itself justice. Rather than view the two as antitheses, he refers to Bruno Nettl who described them as fundamentally part of the same idea. Solis focuses the reader’s attention on connotations of these and other terms so that they will read them with caution in his later text, that they will understand that whenever he speaks of composition there is an improvisational element present and vice versa. From small to big, Solis ends this part of his discussion with a reflection upon the “Werkbegriff” in jazz, a highly European concept that had an influence on jazz insofar as it has influenced all judgement of “established” music and kept jazz on the other side of the field for a long time. The result was, Solis concludes, that not Ellington, Parker, Coltrane, Monk earned the first Pulitzer for a jazz piece but Wynton Marsalis’ “semiclassical oratorio ‘Blood on the Fields'”. Solis ends his introduction with a short overview of the book’s chapter outline, part 1 looking at the careers of both protagonists up to the time of the concert as well as at the occasion of the concert, a benefit for the Morningside Heights Community Center, and the concert program aside from the Coltrane/Monk bill; part 2 analysing the eight tracks issued in four chapters, focusing on “the most compelling aspects of the particular performances”; and part 3 looking at the recording’s release in 2005 and its critical and aesthetic reception.

Chapter 1 looks at the musical partnership between Thelonious Monk and John Coltrane and how it affected both of their musical aesthetic and careers. Solis explains the different perception of the two artists, Monk as a composer, Coltrane as a performer/improviser. He discusses the various sidemen Monk hired for recordings since the 1940s and how their participation in and interpretation of his music affected his own style. Biographical asides are left at that, no explanation, for instance as to why Monk lost his cabaret card, but that is in line with the argument of his book which tries not to be biographical in the least and should be read alongside the biographies Solis lists in his bibliography (his own included). Solis mentions influences and experiences on John Coltrane’s much more recent career and his period working with Miles Davis. He explains how Coltrane and Monk got together in 1957 and then gives a short run-down of the existing studio recordings by the two musical partners. Monk’s influence on Coltrane is attested to, not the least by the saxophonist himself who acknowledged that he had learned “a lot, (…) little things” while working with Monk. The influence, Solis argues, was not merely musical, but aesthetic as well: “Monk gave Coltrane space and freedom”. And, he continues, Coltrane learned “a more sophisticated conception of form in solos”, he learned “musical direction”, he learned how to pay attention to “musical form”.

Chapter 2 starts with a discussion of the “‘jazz concert’ phenomenon” and how a concert on the stage of Carnegie Hall had to differ from a set in a New York night club. Solis looks at the idea of a jazz concert as a genre upon itself, discussing its history from the Clef Club through Benny Goodman’s and Duke Ellington’s Carnegie Hall concerts and Norman Granz’s Jazz at the Philharmonic events. He describes the specific story behind the benefit for the Morningside Heights Community Center and lists the other artists on the program, Sonny Rollins, Billie Holiday, Dizzy Gillespie, Ray Charles, Austin Cromer, Chet Baker, and Zoot Sims. He looks at the admission fees and asks who the potential audience might have been, and he quotes from contemporary reviews of the concert.

Chapter 3 finally approaches the music itself, the two slow pieces of the first 30-minute set, “Monk’s Mood” and “Crepuscule with Nellie”, two interpretations with hardly any solo playing focused on “the formal structure of the compositions themselves”. Solis is both interested in the ballad approach of the two protagonists and in how Monk’s complex harmonic writing connects with the melodic direction of the pieces. Solis shows the orchestral qualities of “Monk’s Mood”. He describes the two melodies that form the piece, and he explains what he calls “a characteristically ‘Monkish’ ambiguity” in the harmonic approach. He runs down earlier interpretations of the piece by Monk and different bands, then analyses the Carnegie Hall performance, especially pointing out pianistic influences on Monk. Unlike “Monk’s Mood”, “Crepuscule with Nellie” was a new piece in Monk’s repertoire, which, as Solis explains, he continued to treat as “a more or less fixed composition”, never using it as a vehicle for extended improvisation. Solis points to possible influences from Debussy or Chopin and sees the piece’s concept as more pianistic or at least instrumental than that for “Monk’s Mood”. He compares the Carnegie Hall interpretation with later recordings and notices how all of them are similar.

Chapter 4 looks at the two up-tempo numbers from the first set, “Evidence” and “Nutty”. “Evidence”, based upon the harmonies of the standard “Just You, Just Me”, was a staple in Monk’s repertoire, likely to be recognized by the audience, and “Nutty” had a simple harmonic structure. In both pieces, Solis is interested in Coltrane’s solo language and in his reactions to Monk’s “idiosyncratic way of voicing chords”. With Monk, in these pieces, Solis is mostly interested in the way he works with the rhythm section and with the soloist. Solis calls “Evidence” “a study in dissonance”. He looks at the interaction between Monk and drummer Shadow Wilson who mostly keeps time, yet “adds a significant layer of complexity, keeping the head even more rhythmically unpredictable”. He points to changes in tension when Coltrane’s solo starts which he sees as “one large statement, rather than three self-contained choruses”. He also listens closely to Monk’s accompaniment heavily relying on material from the head of the composition. “Nutty” is taken a bit faster than in other recordings of the piece, and Solis compares’ Coltrane’s solo to a studio recording the two had done a bit earlier. Monk’s solo is based upon motivic references to the head.

Chapter 5 examines “Bye-Ya” and “Sweet and Lovely” from the second set, and the author’s interest lies in how the band treats “the songs holistically, approaching them melodically, harmonically, rhythmically, and motivically as complex entities, with musical challenges but also historical contexts and meanings to themselves and their audiences”. As to “Bye-Ya”, Solis discusses connotations of Latin influences in Monk’s life and music. He follows Coltrane through his solo and describes the interaction between the four musicians. “Sweet and Lovely” was the only standard of the evening, and Solis takes the chance to follow the song’s success through Monk’s youth and to ask about his possible interest in the tune which he first recorded in 1952. He examines the composition (“the head”) itself and discovers “Monkish” elements in it, then looks at the interpretation which starts “angular”. He discusses Monk’s approach to what Solis calls his “transitional” solo, points out how he plays with melodic and harmonic motifs and expectations, and how Coltrane follows with a “similarly organized chorus”. After the three choruses, the band pauses, then “jumps into a double time groove that is also at a significantly faster underlying tempo”.

Chapter 6 looks at the final “Blue Monk” and the band’s theme song “Epistrophy”. “Blue Monk” is a starting point for discussing the use of the blues with Monk and Coltrane. Short versions of “Epistrophy” ended both sets of the concert, and Solis asks about “how they placed Monk within the models of artistry and entertainment in the jazz world at the time”. The fact alone that the band had a theme song was unusual for a modern jazz combo. Solis describes the tune as “a cyclical, riff-driven piece, ideally suited to open-ended, vamp-like performances that build energy and can be extended or foreshortened in response to the energy in a room.”

Chapter 7 looks at the recording history of the never-broadcast Voice of America tapes and at the aesthetic context into which it was released in 2005. The release was celebrated by both the jazz and some mass media. Its success, Solis explains, has to be seen in context with the “Young Lions” movement of the 1990s which had revitalized a hardbop approach to jazz and given artists like Monk and Coltrane even more of a canonical status. Solis then focuses on the Blue Note label and its own role in the canonization of certain jazz musicians and asks about how the Carnegie Hall album fit into Blue Note’s catalogue of 2005. Finally he offers an aside about jazz education in the 2000s, the collegiate jazz scene and the university curriculum which jazz had entered by this time and which has “built a particular vision of the canon”.

Gabriel Solis’ book takes a single event, the Carnegie Hall concert by Thelonious Monk with John Coltrane, and uses it to explain what happens in the music itself, how it relates to the musical development of the two protagonists of the concert, how it fits into the context of the jazz aesthetic of the 1950s and how it fits into the context of the time of its release in 2005. The text is heavy on analytical aspects, yet manages to put these into context with the overall questions which the author never leaves out of his and his readers’ attention. It is an excellent addition to the scholarly literature on jazz, looking at details yet explaining so much more.

Wolfram Knauer (April 2014)

Ab Goldap. Rüdiger Carl im Gespräch mit Oliver Augst
Frankfurt/Main 2014 (weissbooks)
224 Seiten (208 Textseiten / 16 Seiten Bildtafel)
beiheftende CD mit 17 Liedern von Rüdiger Carl
30 Euro
ISBN: 978-86337-079-4
(Voraussichtlich im Handel ab 15. Mai 2014)

2014carlRüdiger Carl ist ein Multiinstrumentalist, der die Szene der frei improvisierten Musik in Deutschland seit den 1960er Jahren mitprägte, zugleich aber immer ein wenig zwischen den Stühlen der Avantgarde zu sitzen schien, die sich seit den frühen 1980er Jahren am liebsten von allen Genrefestschreibungen zu distanzieren versuchte. Nun hat Carl auf Anregung von und im Gespräch mit Oliver Augst eine Erzählbiographie vorgelegt, wie man solche Projekte vielleicht am besten nennen sollte, die in letzter Zeit immer öfter erscheinen und die subjektive Sicht ihrer Protagonisten auf ihre eigene Geschichte und die Welt überall durchscheinen lassen. Carls Erinnerungen sind dabei durchaus exemplarisch für den Versuch einer Generation, in einer wie auch immer zu definierenden Avantgarde auf gesellschaftliche Verhältnisse einerseits zu reagieren, sie andererseits zu spiegeln und künstlerisch zu kommentieren.

Das Gespräch beginnt mit Carls Schulzeit in Kassel, einem Klassenlehrer, der politisches genauso wie menschliches Vorbild war. Nebenbei pflegte er Kontakte zum örtlichen Jazzclub. Zwischendrin Rückblenden in die “Urkindheit”, wie Augst sie nennt, die direkte Nachkriegszeit, Hunger, Armut, die Rückkehr des Vaters aus der Kriegsgefangenschaft, eine Welt, die in Carls nüchterner Erinnerung ein wenig an Arno Schmidts Erzählungen exakt derselben Lebenssituationen erinnert: das Schicksal einer Flüchtlingsfamilie – in Ostpreußen geboren kam Carl auf den Fluchtwirren der Zeit über Wien und andere Stationen nach Kassel –, das Schicksal von Spätheimkehrern, die aller Illusionen beraubt waren. Nach der mittleren Reife machte Carl eine Lehre als Schriftsetzer beim Bärenreiter Verlag, wo er Noten genauso wie Mozartbriefe setzte. Er erinnert sich an eine Jugend in den 1950er Jahren zwischen Literaturgesprächen, Konzertabenden und einer Lehre, die ihn einerseits unterforderte, andererseits jede Menge Inspiration für seine spätere künstlerische Arbeit in ihm weckte. Nach der Ausbildung ging er nach Berlin, bewarb sich an der Staatlichen Hochschule für bildende Künste, die ihn ablehnte, jobbte als Schriftsetzer und machte nebenbei Musik. Sein Akkordeon hatte ihm seine Großmutter bereits in Kassel geschenkt; bald tauschte er es gegen eine Querflöte ein, die er autodidaktisch erlernte. Er berichtet von seinen ersten Jazzerfahrungen in Kassel, Standards und Hardbop, von den seltsamen Verbindungen zwischen Grafikdesign und Jazz in jenen Jahren, vom Umstieg erst aufs Saxophon, dann auf die Klarinette.

“Jazz”. sagt Carl, “das ist ja ein alter Begriff und beschreibt auch ein altes Ding.” Er beklagt die Naivität in dem, was er heute so im Radio als Jazz hört, und er beschreibt, wie sich Europa in den 1960er Jahren freistrampelte von der amerikanischen Tradition, mehr Chaos einbrachte, “vor allem mehr Witz und Strapaze, das war etwas zeitversetzt der europäische Anteil, während die amerikanische 60er Jahre-Avantgarde manchmal fast den Ernst von Religionsgründern hatte”. Für ihn war irgendwann, als der Jazz mehr und mehr von Fusion durchdrängt wurde, die Luft raus. Jenen “grobkörnigen Typ von Musiker”, den er bevorzugt, gäbe es schon lange nicht mehr. An einer Stelle wagt er eine Selbstdefinition: “Als Dilettant war ich ja nun fast alles. Unterhaltungsmusiker und Querulant und Freejazzer und vielleicht sogar konzeptueller Komponist. Vielleicht sogar Minimal-Musiker.” Er habe versucht, keine Genregrenzen abzustecken, sondern offen zu bleiben, das Unerwartete, vielleicht auch das Unerhörte zu wagen. Das Wort “Musizieren” benutzt er oft spricht vom “Arbeiten” an der Musik, vom “Entdecken”, “Ausprobieren. Und was das “Freie” im Free Jazz anbelangt, so findet er, dieses müsse eben auch die Freiheit beinhalten, die Musik zu spielen, die einem just in dem Augenblick gerade so gefalle.

Carl erzählt von Kollegen und Freunden, von Musikern und Bildenden Künstlern, von ästhetischen Diskussionen und seiner heutigen Sicht über sie. Die Gespräche zwischen Augst und Carl wirken dabei selbst wie eine Art Improvisation, chronologisch angelegt aber mit weiten Exkursen: in Erinnerungen, in die Gegenwart, in die Interviewsituation, auch in Belange des Interviewers. Diese Verschobenheit in der Erzählung erlaubt tiefere Einblicke als es eine chronologische Erzählung täte: Carl erzählt aus dem Bauch heraus, und kein Redakteur presst dies in Kapitelüberschriften. Der Leser erfährt die Intensität des Gesprächs, hört quasi selbst mit zu.

Carmell Jones, Alexander von Schlippenbach, Peter Brötzmann, Sven-Åke Johansson, Jost Gebers: Carls Erzählung vermittelt eine lebendige Berliner Szene, schildert daneben auch die Realität des Überlebenmüssens und des Mixes verrückter Figuren. Er hatte Jobs in der Bundesdruckerei und als Bahnwärter, bevor er Anfang der 1970er Jahre nach Wuppertal zog, wo seine Profimusikerkarriere begann. Carl erzählt, wie er zum Akkordeon zurückkehrte, von seiner Zusammenarbeit mit Irène Schweizer, über das Globe Unity Orchestra, die Probleme des Frei-Spielens, über Pina Bausch, Joseph Beuys, Hans Reichel, der Faszination Thelonious Monks, über die Gefahr und die Chancen musikalischer Klischees und über die künstlerische Grundhaltung von “Verweigerung”. Er unternahm Tourneen durch die DDR, spielte beim legendären Festival in Peitz, trat mit dem Bergisch-Brandenburgischen Quartett mit Ernst Ludwig Petrowsky auf, erhielt Ost-Gagen, die man möglichst in Naturalien umtauschen musste, um einen brauchbaren Gegenwert zu erhalten.

Anfang der 1980er Jahre zog er nach Frankfurt, in eine damals äußerst lebendige und genreübergreifende Avantgardeszene. Er organisierte Konzerte im Porticus, wirkte in der FIM mit (Forum improvisierender Musiker), berichtet daneben auch über seine Kontakte (aber auch über die Nicht-Kontakte) zur örtlichen Jazzszene. Das berühmte Forsythe-Ballett habe ihm nie imponiert, der habe ja sicher auch nie einen Ton von ihm gehört; das Ensemble Modern sei brav, ordentlich, sauber, man müsse das aber nicht dauernd hören. Solche Passagen fallen zurück in den von den Weltläuften enttäuschten Anfangsduktus, der diesen Rezensenten die Lektüre dieses Buchs etwas skeptisch beginnen ließ. Da erwartet man dann Gegenwartspessimismus, romantisches wenn auch selbstkritisches Zurückerinnern an schwere Zeiten, die doch so viel inspirierter gewesen seien. Daneben aber swingt im Gespräch bald, ganz schnell eigentlich, noch etwas anderes dabei mit: eine nicht minder romantische Hoffnung darauf, nein ein Wissen darum, dass künstlerische Inspiration zu jeder Zeit möglich ist, dass gesellschaftliche Verhältnisse (auch Kunst-Verhältnisse) immer in Frage gestellt werden müssen, dass man seine Sache ernst nehmen muss, sich selbst aber nie zu ernst nehmen darf. Nach wenigen Seiten ist man gefangen vom lockeren Plaudern der beiden Freunde, die auf gemeinsame Bekannte rekurrieren, sich aufs Abendessen freuen oder aufs nächste Treffen.

Persönliche Fotos sowie ein Namensindex der im Text genannten Personen runden das Buch ab. Bastian Zimmermann lässt sich von der Lektüre zu einer zusammenfassenden Würdigung hinreißen (Nachwort); und Astrid Ihle beschreibt in ihrem Vorwort die Entstehungsgeschichte des Buchs, das mit einer CD kommt, die einen Liederzyklus mit 17 autobiographisch geprägten Stücken enthält, “komponiert, getextet, gesungen und am Klavier begleitet von Carl himself”. All das macht “Ab Goldap” zu einer überaus lesenswerten, mehr als runden Würdigung des Multiinstrumentalisten und – irgendwie – Avantgardephilosophen Rüdiger Carl.

Goldap, dies sei zum Schluss noch erläutert, ist der Ort in Ostpreußen, aus dem seine Familie kam, Ab Goldap also, über Kassel, Berlin bis Frankfurt…

Wolfram Knauer (Mai 2014)

Black Fire! New Spirits! Images of a Revolution. Radical Jazz in the USA 1960-75
herausgegeben von Stuart Baker
London 2014 (Soul Jazz Records)
189 Seiten, 30 Britische Pfund
ISBN: 978-09572600-1-6

2014bakerBlack Music, Black Power: Die schwarze Musik begleitete die Bürgerrechtsbewegung in den USA als ein kongenialer Soundtrack. Vielleicht waren die Soulmusiker näher dran an der Bewegung, aus deren Reihen James Brown seine Hymne “Say It Loud: I’m Black and I’m Proud” einbrachte. Der Avantgardejazz der 1960er und 1970er Jahre aber hatte engste Berührungspunkte zur Bewegung, zu den friedlichen Protesten genauso wie zu den radikalen Wortführern ihrer Zeit, und die Musik vieler Free-Jazz-Musiker wurde nicht nur im Nachhinein als eine Reaktion auf die gesellschaftlichen Verhältnisse gelesen, als eine Rebellion gegen die Vorherrschaft weißer Wertesysteme. Etliche Künstler, die dem New Thing verbunden waren, betonten damals, ihre Musik sei eigentlich apolitisch, wann immer sie als schwarze Musiker aber in den amerikanischen Südstaaten spielten, wurden sie mit der politischen Realität des alltäglichen Rassismus konfrontiert, aus dem heraus ihre Musik genauso viel an Kraft und Widerstandspotential zog wie aus der langen und stolzen Tradition afro-amerikanischer Kultur.

Stuart Baker dokumentiert in diesem Coffeetable-Buch die afro-amerikanische Avantgarde der 1960er und frühen 1970er Jahre als eine Musikszene, die im Auftreten, in der Selbstdarstellung, aber auch in Mode und Musik ein schwarzes Selbstbewusstsein vorlebte, das einmal mehr zeigt, dass Musik, egal unter welchen Umständen sie gemacht wird, gesellschaftliche Verhältnisse abbildet und oft genug Wege zu einer besseren Gesellschaft fordert oder gar aufzeigt. Bakers Einleitungstext schildert die Situation: Nachdem das Oberste Gericht in den Vereinigten Staaten die Gleichheit zwischen den Hautfarben noch einmal bekräftigt hatte, begannen schwarze Aktivisten die Umsetzung der Gerichtsurteile in der gesellschaftlichen Realität zu verlangen. Diskussionen jener Jahre drehten sich um Gewalt oder Gewaltlosigkeit, um die Stärkung der eigenen Community auch in ihrem Wissen um Wurzeln und eigene Geschichte, in der Musikergemeinschaft darüber hinaus auch um die Produktions- und Besitzverhältnisse an den von ihnen geschaffenen Werken.

Die von Baker ausgesuchten knapp 170 Fotos zeigen, wie er im Vorwort schreibt, vor allem eines: das unbedingte Selbstbewusstsein der Künstler, eine Selbstbestimmung, die sich deutlich darin äußert, wie sie sich der Kamera präsentieren. Jedem Künstler sind ein bis zwei Seiten gewidmet, aussagekräftige Fotos und ein kurzer biographischer Text. Baker hat darauf verzichtet, in diese kurzen Texte weitere politische Interpretationen zu packen, lässt stattdessen die Bilder für sich sprechen. Herbie Hancock in stolzer Pose vor dem Flügel, Nina Simone kämpferischem in die Kamera blickend, Famoudou Don Moye mit pseudo-afrikanischer Kriegsbemalung, Archie Shepp nachdenklich, Leon Thomas mit afrikanischer Trommel, AACM-Musiker vor einem Plakat des Improvisational Theatre, Jimmy Smith, der mit seinem eigenen Fotoapparat in die Kamera blickt, Tony Williams rauchend und am Arbeitsinstrument wartend, Stanley Cowell und Charles Tolliver in sympathischen Portraitfotos, die offenbar vor demselben Hintergrund und vom selben Fotografen geschossen wurden, Horace Silver vor der Blue-Note-Auslage eines Plattenladens, Cecil Taylor, in sich und in seine Musik vertieft, Thelonious Monk am heimischen, vollgepackten Flügel, George Benson im Cabriolet vor dem Village Vanguard, Pheeroan akLaff auf die Trommelstöcke konzentriert,.

Neben dem Blick, neben den Posen scheint auch die Mode der Zeit kämpferische Untertöne zu besitzen, sei es nun Elvin Jones’ lange Lederweste, Sun Ras außerweltliches Ornat, Gary Bartzs weite Schlaghose, Phil Upchurchs buntestem Bühnenkostüm oder in der Person von Miles Davis, der gleich in verschiedenen Modestilen gezeigt wird.

Mary Lou Williams ist neben Sun Ra die älteste der hier abgebildeten Musiker; weiße Kollegen muss man dagegen buchstäblich mit der Lupe suchen (fündig wurden wir auf Seite 92/93 im Ornette Coleman Quartett, in dem Charlie Haden aber fast vollständig von seinem Kontrabass verdeckt wird). Und so dokumentiert dieses Buch auch die Macht der Bilder, die den Jazz als eine ungemein kraftvolle, eine selbstbewusste (ja, dieses Wort muss noch einmal benutzt werden), als eine rebellierende und nach vorne blickende afro-amerikanische Musik darstellen.

Auf eine Identifizierung der Sidemen verzichtet der Herausgeber, und auch die Foto-Credits verweisen nur recht allgemein auf Getty Images, die Quelle der meisten der benutzten Bilder. Ein aussagekräftiges Buch ist dieser Bildband allemal und macht doppelt Lust aufs Hören der Musik, die ja nicht weniger kraftvoll und selbstbewusst daherkommt.

Wolfram Knauer (Juni 2014)


Jazz in Berlin
von Rainer Bratfisch
Berlin 2014 (Nicolai Verlag)
472 Seiten (im Schuber), 129 Euro
ISBN: 978-3-89479-802-4

2014bratfischRainer Bratfischs schwergewichtiges Buch “Jazz in Berlin” enthält weit mehr als jazzmusikalische Lokalgeschichten aus der Hauptstadt. Es ist in der Vernetzung der Berliner Jazzszene mit dem Rest Deutschlands (Ost wie West) eine eigentlich nur räumlich fokussierte Jazzgeschichte Deutschlands geworden, ein Steinbruch vielfältiger Informationen, die ausgewogen von den Anfängen der Jazzrezeption in den 1920er Jahren über die dunklen Kapitel des 3. Reichs, die geteilten Jazzszenen der 1950er bis 1980er Jahre in Ost und West bis in die wiedervereinigte Gegenwart einer der lebendigsten Jazzszenen Europas reicht. Ausführlich und aussagekräftig bebildert werden Musiker, Bands, Spielorte, Festivals beschrieb, die sogenannte Jazzszene(n) also, zwischen Tradition und Avantgarde, einschließlich ihres unterschiedlichen Publikums. Eine Geschichte des Jazz in Berlin ist dabei zwangsläufig auch eine Geschichte von Musik als Widerständigkeit, von Jazz als einer von Nazis und Stasi misstrauisch beäugten oder gar verbotenen Kunst, sowie eine Geschichte der Wege, Orte und Möglichkeiten, die seine Anhänger immer wieder fanden, die Musik trotzdem zu hören oder zu spielen.

Bratfisch hatte 2005 den Band “Freie Szene. Die Jazzszene in der DDR” herausgegeben, der eine umfängliche Dokumentation der ostdeutschen Jazzgeschichte darstellt. In seinem Berlin-Buch hat er sich für kleine, thematisch fokussierte Kapitel entschieden, die einzelne Künstler oder Bands behandeln (Weintraub Syncopators, Charlie and his Orchestra, Zentralquartett, Coco Schumann), die Clubszene näher beleuchten, über den Jazz im Rundfunk berichten, über Initiativen, Festivals, Konzertreihen, über Jazzförderung oder über die Möglichkeit, Jazz zu studieren. Insbesondere im historischen Teil seines Buchs gelingen ihm dabei Schlaglichter auf eine Welt zwischen Faszination an der immer noch exotischen Musik des Jazz und Professionalisierung einer mehr und mehr selbstbewussten deutschen Jazzszene. Die Darstellung der aktuellen Szene versucht möglichst vollständig alle Aktivitäten zu erwähnen und dabei die Vielfältigkeit des Berliner Jazz zu berücksichtigen, der eben aus weit mehr als traditionellen und modernen Stilrichtungen besteht, über den Tellerrand blickt und mit Einflüssen aus anderen Genres experimentiert, so dass die Grenzen schon mal verschwimmen. Er reicht dabei tatsächlich bis kurz vor Drucklegung – die aktuellsten Informationen, die er verarbeitet, stammen vom Herbst 2013.

Bratfisch ist Journalist, seine Erzählung daher vor allem eine von Menschen und ihren Aktivitäten. In die Musik selbst steigt er kaum ein, hier verlässt er sich auf das Vorwissen seiner Leser über Stile, klangliche Klischees und alle mit ihnen verbundenen Befindsamkeiten. “Jazz in Berlin” ist in seiner Konzeption ein gelungenes Buch zum Blättern, zum Nachlesen, zur Referenz über Entwicklungen des deutschen (also nicht nur Berliner) Jazz. Der Anhang enthält biographische Notizen zu 85 wichtigen Musikerinnen und Musikern, quer durch alle geschichtlichen und stilistischen Epochen des Hauptstadtjazz. Der Preis des Buchs ist sicher erheblich, die Aufmachung jedoch, sorgfältig gebundenes Hardcover im Pappschuber, und die vielen Fotodokumente machen es zu einem wichtigen Dokument zur gesamtdeutschen Jazzgeschichte.

Wolfram Knauer (März 2014)


Charlie Parker
von Wolfram Knauer
Stuttgart 2014 (Reclam)
203 Seiten, 12,95 Euro
ISBN: 978-3-15-020342-2

2014knauerAus dem Vorwort:

Als die Nachricht vom Tod Charlie Parkers am 15. März 1955 die Runde machte, war die Betroffenheit groß. Charles Mingus fasste die Lücke vielleicht am besten zusammen, die der Altsaxophonist auf der Jazzszene hinterließ: “Die meisten der Solisten im Birdland mussten immer auf Parkers nächste Platte warten, um herauszufinden, was sie als nächstes spielen sollten. Was werden die wohl jetzt tun?”

Charlie Parker ist eine der prägenden Persönlichkeiten der Musik des 20sten Jahrhunderts. Er tauchte just zu dem Zeitpunkt auf, als der Jazz sich von einer reinen Unterhaltungsmusik hin zu einer Kunstform entwickelte, die neben gesellschaftlichem Vergnügen eine ästhetische Aussage in den Vordergrund stellte. Parker war ein instrumentaler Virtuose auf seinem Instrument, dem Altsaxophon; er war darüber hinaus ein musikalischer Innovator, dessen Neuerungen auf der Tradition basierten. Man hat ihn als Revolutionär des Jazz bezeichnet, und man hat ihn den größten Bluesmusiker dieser Musik genannt, ihn also mit der Avantgarde genauso wie mit der Tradition afro-amerikanischer Musik in Verbindung gebracht.

Parkers Musik hat den Jazz beeinflusst wie vor ihm nur die von Louis Armstrong, wie nach ihm die von John Coltrane und Miles Davis. Viele seiner musikalischen Phrasen wurden von so vielen Musikern aller Instrumentengattungen nachgespielt, dass sie quasi ins Standard-Improvisationsvokabular des Jazz übergingen. Aber Parker war noch mehr als ein großartiger Musiker. Er lebte ein Leben, das Dichtern und Philosophen als das Musterbeispiel des Künstlers erschien, weil es neben der künstlerischen Perfektion auch das Chaos und Scheitern beinhaltete. Musik, Alkohol, Drogen – Parker wurde zum Synonym für das bewunderte musikalische Genie, dem es nicht gelang, sein Privatleben in Ordnung zu bringen. Und sein früher Tod mit gerade mal 34 Jahren sorgte mit dafür, dass seine Legende weiterlebt bis in unsere Tage.

Parkers Musik ist in bald 1.000 Aufnahmen dokumentiert, in Studiositzungen für die Labels Dial, Savoy und Verve sowie in Livemitschnitten aus diversen Clubs in New York, Los Angeles und anderswo. Seine Musik ist seine Hinterlassenschaft, zugleich aber auch klingende Gegenwart, denn sein Einfluss im Jazz dauert, direkt oder über inzwischen mehrere Generationen gebrochen, bis heute an.

Die Literatur zu Parker ist auch ohne dieses Büchlein riesig. Der Saxophonist, sein Leben und seine Musik diente als Vorbild für Kurzgeschichten, Romane, Gedichte, Gemälde, Skulpturen, und er wurde in Clint Eastwoods Bird selbst zur Filmfigur. Kurz nach seinem Tod tauchten erste Graffiti an New Yorker Hauswänden auf, die behaupteten: “Bird Lives!” Wie kann ein Mann tot sein, dessen Musik so viel an Kreativität inspiriert hat und in Werken so vieler anderer Künstler – aller Kunstgattungen – weiterlebt? Was aber machte ihn zu einem so bewunderten Künstler? Was trieb ihn an und was hinderte ihn, neben der Musik auch sein Leben in den Griff zu kriegen? Oder: Was war, was blieb? Die Grundfrage jeder Lebenserzählung…

Wolfram Knauer (Februar 2014)[:]

Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung

Ekkehard Jost (Hg.): Darmstädter Jazzforum 89. Beiträge zur Jazzforschung
Hofheim 1990 (Wolke Verlag), 237 Seiten, ISBN 3-923997-40-X, 19 €

1989_darmstaedter-jazzforumBeim 1. Darmstädter Jazzforum trafen sich im Dezember 1989 Jazzforscher aus ganz Deutschland zu einem informellen, inhaltlich noch bunt-gemischten Symposium.

Die Beiträge:

  • Bert Noglik: Improvisierte Musik in der Folge des Free Jazz
  • Jürg Solothurnmann: Die aktuelle Situation des Jazz und der improvisierten Musik
  • Hans Kumpf: Sowjetischer Jazz
  • Klaus Scheuer: Zur Improvisationsweise Bix Beiderbeckes
  • Wolfram Knauer: Die Entwicklung des Jazz zwischen Bebop und Free Jazz
  • Ekkehard Jost: Cecil Taylor – Solo
  • Günter Sommer: Die Jazzszene in der DDR
  • Dieter Glawischnig: Eine Gemeinschaftsproduktion mit Ernst Jandl
  • Bernd Konrad: Probleme der Jazzpädagogik
  • Ludolf Kuchenbuch: “Notation” im Amateurjazz der 60er und 70er Jahre
  • Wolfgang Schickhaus: Das Phänomen Swing
  • Peter Niklas Wilson: Syntax und Ästhetik der Musik Ornette Colemans
  • Herbert Hellhund: Einige Strukturprinzipien improvisierter Avantgardemusik

Wolfram Knauer (Hg.): Jazz und Komposition. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Bd. 2
Hofheim 1992 (Wolke Verlag), 225 Seiten, ISBN 3-923997-41-8, 19 €

1991_jazz-und-kompositionBeim 2. Darmstädter Jazzforum ging es um unterschiedlichste Konzepte jazzmusikalischen Komponierens.

Die Beiträge:

  • J. Bradford Robinson: “Jazz”-Rezeption in der Weimarer Periode
  • Hans Ulrich Engelmann: Hans Ulrich Engelmann und der Jazz
  • Lutz Neitzert: Über das problematische Verhältnis der bürgerlichen Musikkultur zu improvisierter Musik
  • Gerhard Putschögl: John Coltrane. Strukturelle Organisation als orale Komposition
  • Wolfram Knauer: Charles Mingus. Jazzkomposition nach Ellington
  • Peter Niklas Wilson: Musikalische Systemphilosophie nach ihrem Ende. Anthony Braxtons musikalische Metaphysik
  • Ekkehard Jost: Typen jazzmusikalischer Komposition
  • Ran Blake: Third Stream – Vorrang des Ohrs
  • Hermann Keller: Komplexe Vorgänge – einfache Grundlagen. Was vom kompositorischen Handwerk in meine Improvisationen eingeht
  • Ulrich Kurth: Zur Rolle der Streichinstrumente. Kompositionen von Tony Oxley, Peter Herborn und Mark Dresser
  • Bert Noglik: Komposition und Improvisation. Anmerkungen zu einem spannungsreichen Verhältnis

Wolfram Knauer (Hg.): Jazz in Europa. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Bd. 3
Hofheim 1994 (Wolke Verlag), 261 Seiten, ISBN 3-923997-42-6, 19 €

1993_jazz-in-europaDas 3. Darmstädter Jazzforum versuchte eine Rundreise mit allgemeinen genauso wie mit ganz speziellen Beiträgen zum europäischen Jazz.

Die Beiträge:

  • Marko Paysan: Transatlantic Rhythm. Jazzkontakte zwischen Deutschland und den USA vor 1945
  • Erik Wiedemann: Jazz in Dänemark 1933 bis 1945
  • Kees Wouters: Von den Wandervögeln zum Wanderers Hotclub
  • Theo Mäusli: Jazz und Geistige Landesverteidigun. Zur Rezeption des Jazz in der Schweiz der Jahre 1933 bis 1945
  • Walter Ojakäär: Jazz in Estland. Hoffnungen und Wirklichkeit
  • Virgil Mihaiu: Entwicklung und Probleme des Jazz in Rumänien 1965 bis 1993
  • Lubomir Doruzka: Jazz in der Tschechoslowakei 1945 bis 1993
  • Bert Noglik: Osteuropäischer Jazz im Umbruch der Verhältnisse. Vom Wandel der Sinne im Prozeß gesellschaftlicher Veränderungen
  • Misha Mengelberg: Misha Mengelberg spricht über seine Musik
  • Wolfram Knauer: “Musicianer”, oder: Der Jazzmusiker als Musikant. Anmerkungen zum Verhältnis von Jazz und Folklore
  • Jürg Solothurnmann: Die Alpine Jazz Herd. Zeitgenössischer Jazz und natonale Folklore, paßt das zusammen?
  • Erik Kjellberg: “Old Folklore in Swedish Modern”. Zum Thema Volksmusik und Jazz in Schweden
  • Ekkehard Jost: Über das Europäische im europäischen Jazz

Wolfram Knauer (Hg.): Jazz in Deutschland. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Bd. 4
Hofheim 1996 (Wolke Verlag), 287 Seiten, ISBN 3-923997-70-1, 19 €

1995_jazz-in-deutschlandBeim 4. Darmstädter Jazzforum wurde der deutsche Jazz thematisiert: von den 30er Jahren bis in die Gegenwart.

Die Beiträge:

  • Horst Bergmeier & Rainer Lotz: Charlie and his Orchestra. Ein obskures Kapitel der deutschen Jazzgeschichte
  • Guido Fackler: Jazz im KZ. Ein Forschungsbericht
  • Bernd Hoffmann: Die “Mitteilungen”. Anmerkungen zu einer “verbotenen Fanpostille”; Die “Mitteilungen (Reproduktion)
  • Wolfram Knauer: Emanzipation wovon? Zum Verhältnis des amerikanischen und des deutschen Jazz in den 50er und 60er Jahren
  • Musikergespräch mit Michael Naura: Es war ein lustiges Völkchen
  • Komponistengespräch mit Klaus König: Reviews (A Revue for Frank Zappa)
  • Bert Noglik: Hürdenlauf zum freien Spiel. Ein Rückblick auf den Jazz der DDR
  • Ernst Ludwig Pettrowsky & Uschi Brüning: Gednaken eines Menschen aus Güstrow, der zwischen Nazi-Märschen, Stalin-Panzern und FDJ-Liedern der Faszination des Jazz erlag
  • Ulrich Kurth: “Kurze Geschichten”. Die 90er Jahre
  • Joachim Ernst Berendt: Wandel und Widerstand

Wolfram Knauer (Hg.): Jazz und Sprache, Sprache und Jazz. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Bd. 5
Hofheim 1998 (Wolke Verlag), 189 Seiten, ISBN 3-923997-79-5, 19 €

1997_jazz-und-spracheBeim 5. Darmstädter Jazzforum im Oktober 1997 ging es um den Einfluß des Jazz auf die Literatur, um den Einfluß von Literatur und Literaturästhetik auf das Verständnis des Jazz, um Lyrik-und-Jazz-Projekte in den USA wie in Europa, um die Umsetzung sprachlich-literarischer Vorlagen im kleinen wie im großen Umfang, um die Sprachlichkeit oder Sprachähnlichkeit von Jazznimprovisation, um Bezüge zwischen dem Sprechen über Musik (also: Jazzkritik) und der Musik selbst.

Die Beiträge:

  • Wolfram Knauer: Jazz – Sprache – Lyrik – Kritik. Einige grundsätzliche Anmerkungen
  • Stephan Richter: Magic Books and a Jam Session. Das Spannungsfeld von Literatur, Literaturtheorie und Jazz
  • Heinz Steinert: “… und in dem allen ist der Gestus von Musik der Stimme entlehnt, die redet.” Über das komplexe Arbeitsbündnis des Genres “Jazz und Lyrik”
  • Ernst Jandl & Dieter Glawischnig: ….. ‘texte und Jazz’ …..
  • Mike Westbrook: The Westbrook Song Book
  • Ekkehard Jost: Zum Sprachcharakter von Musik im allgemeinen und Jazz im speziellen
  • Hans Ulrich Engelmann: Zur szenischen Kantate “Die Mauer”
  • Wolfram Knauer: From Ellington to Malcolm X. Vom Umgang mit Texten/Libretti im Jazz
  • George Gruntz: Jazz – Was für ein Theater?
  • Christian Broecking: Viel Lärm um große Worte. Auch fiese Sätze können swingen. Wynton Marsalis und die Verbalisierung des Jazz in den 90er Jahren

Wolfram Knauer (Hg.): Duke Ellington und die Folgen. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Bd. 6
Hofheim 2000 (Wolke Verlag), 276 Seiten, ISBN 3-923997-91-4, 19 €

1999_duke-ellingtonDas 6. Darmstädter Jazzforum widmete sich erstmals einem einzelnen Musiker. Aus Anlass seines 100. Geburtstages beschäftigten sich die Referate und Konzerte im September/Oktober 1999 mit der Musik des Pianisten, Komponisten und Bandleaders Edward Kennedy “Duke” Ellington. Ellington, einer der wenigen stilübergreifenden Persönlichkeiten der Jazzgeschichte, war auf Musiker der 1920er und 1930er Jahre genauso einflussreich wie auf solche der 1960er bis 1990er Jahre. Die Referate des Darmstädter Jazzforums untersuchen ganz unterschiedliche Aspekte in Ellingtons Schaffen. Es geht um seine Rolle als Komponist, Arrangeur und Pianist, um seinen Einfluss auf die Musiker seiner eigenen Bands sowie viele nachfolgende Musiker, um seine Ästhetik und um die Rezeption seiner Konzerte in Deutschland. Die Vielfalt der Ansätze zwischen musikalischer Analyse und musikästhetischer Betrachtung lässt bekannte wie weniger bekannte Seiten seines Schaffens in neuem Licht erscheinen.

Die Beiträge:

  • Wolfram Knauer: “Each Man Prays In His Own Language…” Duke Ellington und seine Welt
  • Wolfram Knauer: “Reminiscing in Tempo”. Tradition und musikästhetische Ideale in Ellingtons kompositorischem OEuvre
  • Bernd Hoffmann: “Zugunsten der deutschen Jugend”. Zur Rezeption afro-amerikanischer Musik in der Nachkriegszeit
  • Peter Niklas Wilson: “Money Jungle”. Fäden eines Beziehungsnetzes
  • Ekkehard Jost: “Open Letter to Duke”. Was Charles Mingus an Duke Ellington schrieb
  • Franz Krieger: “Piano in the Foreground?”. Zum Klavierstil Duke Ellingtons
  • Günter Lenz: “Die kulturelle Dynamik der afroamerikanischen Musik”. Duke Ellingtons Kulturbegriff und seine Bedeutung in der afro-amerikanischen Literatur
  • Bill Dobbins: “Mood Indigo”. Die harmonische Sprache Duke Ellingtons
  • Walter van de Leur: “Scores of Scores”. Einige Anmerkungen zu Manuscripten der Billy-Strayhorn- und Duke-Ellington-Sammlungen in den USA

Martin Pfleiderer: “Far East of the Blues”. Ellington und Weltmusik


Wolfram Knauer (Hg.): Jazz und Gesellschaft. Sozialgeschichtliche Aspekte des Jazz. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Bd. 7
Hofheim 2002 (Wolke Verlag), 304 Seiten, ISBN 3-936000-01-8, 19 €

2003_jazz-und-gesellschaftDer Jazz war immer eine gesellschaftlich relevante Musik. Er hat das 20. Jahrhundert begleitet wie keine andere Musikrichtung, stand für kulturelle Entwicklungen, die auch auf anderen Gebieten von Bedeutung waren: den Wandel vom Euro- zum Amerikazentrismus, die Einführung neuer Medien zur massenkulturellen Verwertung, den Vorrang von Interpretation vor Komposition und individuellem Sound vor klassischem Klangideal. Um die unterschiedlichsten Aspekte der gegenseitigen Einflüsse von Jazzmusik und Gesellschaft, um die Lebensumstände der Musiker in den USA wie in Europa, um musikästhetische Fragen, um den Themenkreis Jazz und Kritik, um eine kritische Bestandsaufnahme soziologischer Forschungen zum Jazz und dergleichen mehr ging es beim 7. Darmstädter Jazzforum, dessen Referate in diesem Band zusammengefasst sind. Das 7. Darmstädter Jazzforum fand gerade mal zwei Wochen nach dem 11. September 2001 statt. Seine Beiträge über die soziale Relevanz von Kunst erhalten dadurch besondere Aktualität.

Die Beiträge:

  • Ralf-Peter Fuchs: Neue Menschen und Kultur der Moderne. Der Jazz und sein Publikum in der deutschen Nachkriegspresse 1945 – 1953
  • Christian Broecking: Adorno versus Berendt revisited. Was bleibt von der Kontroverse im Merkur 1953?
  • Tobias Richtsteig: Jazz und Zahlen. www.jazzpublikum.de – Sozialpsychologische Basisdaten im Zeitvergleich. Ein Forschungsbericht
  • Wolfram Knauer: “Wegweiser Jazz“. Anmerkungen zum Zustand der deutschen Jazzszene
  • Heinz Steinert: Musik und Lebensweise. Warum und wie sich Jazz-Musik eignet, eine soziale Position zu markieren
  • Wolfgang Sandner: Verbaler Impressionismus, wohlmeinende Apologie. Probleme der Jazzkritik
  • Ursel Schlicht: Individuelle Musik auf Jazzbasis. Arbeitsbedingungen und Ausdrucksformen von Musikerinnen in Hamburg und New York
  • Lewis A. Erenberg: Swing Left. Linke Politik und Bigband-Jazz in der Zeit des New-Deal
  • Ingrid Monson: Über Jazz, Geschichte und soziale Theorie. Theoretische Hintergründe der “Freedom Sounds“
  • George E. Lewis: “Gittin’ to know y’all“. Von improvisierter Musik, vom Treffen der Kulturen und von der “racial imagination“
  • Mike Heffley: Vom Anarchischen zum Archaischen. Zur Theorie der freienImprovisation
  • Peter Niklas Wilson: Von der sozialen Irrelevanz improvisierter Musik
  • Ekkehard Jost: Reflexionen über die Soziologie des Jazz

Wolfram Knauer (Hg.): improvisieren… Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Bd. 8
Hofheim 2004 (Wolke Verlag), 248 Seiten, ISBN 3-936000-02-6, 19,- €

2001_improvisieren… keine Definition des Jazz wird um diesen Eingangssatz herumkommen. Viele andere Momente spielen eine wichtige Rolle – swing, drive, Instrumentation, spezifische Soundcharakteristika – aber wo zu verschiedenen Zeiten all solche Parameter Schwankungen unterworfen, wechselbar waren, da bleibt die Improvisation sicheres Kontinuum in der Geschichte dieser Musik. Ein großartiger Musiker ist sicher auch, wer gut zu swingen vermag, an erster Stelle aber steht die Fähigkeit, in der Improvisation eine „gute Geschichte“ erzählen zu können. Die Improvisation wurde so sehr zum zentralen Merkmal des Jazz, dass die beiden fast synonym schienen: Wenn sich in den USA oder Europa ab den 1960er Jahren jemand als „improvising musician“, als „improvisierender Musiker“ bezeichnete, so erhielt er sicher in der Regel die Antwort, „Ach ja, Jazz!“ Solche Gleichsetzung zeigt nur, dass die Musikgeschichte offenbar vergesslich ist, denn auch die europäische Musik besaß ja über lange Zeit ihre ganz eigenen Improvisationstraditionen. Und in außereuropäischen Musikkulturen ist Improvisation bis heute selbstverständlich – und hier übrigens wiederum eine ganz andere Form von Improvisation als jene, die im Jazz entwickelt wurde.

Die Beiträge:

  • Wolfram Knauer: Noodlin’ and Doodlin’ and Playin’ Around…Zum sich wandelnden Selbstverständnis des Jazz als improvisierter Musik
  • Lawrence Gushee: Improvisation im frühen Jazz
  • Martin Pfleiderer: Improvisieren – ästhetische Mythen und psychologische Einsichten
  • Thomas Mießgang: Die Kunst des Spontanen. Kann ein Bild improvisiert werden? Über Free Jazz, automatische Saxophone, Jack the Dripper, Materialaktionen und letzte Lockerungen
  • Christopher Dell: Möglicherweise Improvisation
  • George E. Lewis: “Voyager“ … Improvisieren mit dem Computer
  • Ekkehard Jost: Notizen zur Improvisation
  • Joachim Kühn und Bert Noglik im Gespräch: Improvisation und musikalische Realität
  • Paul F. Steinhardt: between the lines. Die verwunderliche Verbindung von Geld und Musik
  • Michael Rüsenberg: Improvisation als Modell wirtschaftlichen Handelns. Eine Erkundung
  • Peter Niklas Wilson: Neue Paradigmen in der improvisierten Musik

Wolfram Knauer (Hg.): Jazz goes Pop goes Jazz. Der Jazz und sein gespaltenes Verhältnis zur Popularmusik. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Bd. 9
Hofheim 2006 (Wolke Verlag), 284 Seiten, ISBN: 3-936000-03-4; 22 €

2005_jazz-goes-popDer Jazz saß zeitlebens zwischen den Stühlen der ästhetischen Schubladen: Für die einen war er die populäre Musik der 1930er Jahre und Grundlage für viele Musikstile in der späteren Popmusik, für die anderen eine dezidierte Kunstmusik, ein Gegenentwurf zu den kommerziellen Seiten der Popmusik. Mit diesem Spagat mussten Jazzmusiker immer leben, mit ihm mussten sie sich auseinandersetzen, ihn konnten sie allerdings durchaus auch für ihre Zwecke nutzen. Beim 9. Darmstädter Jazzforum werden die verschiedenen Seiten im Verhältnis von populärer Musik und Jazz beleuchtet. Dabei geht es um grundsätzliche Fragen (Was macht Musik populär?), um historische Einordnungen (Wo trennen sich Jazz und Popmusik und wie entwickelte sich ihr Verhältnis zueinander?), um wirtschaftliche Fragen (den Einfluss der Plattenfirmen), um aktuelle Tendenzen (das bewusste Spiel mit Popmusik in Aktivitäten jüngerer Musiker), um ästhetische Fragen (Jazz als Kunstmusik und der suspekte Charakter des kommerziellen Erfolgs) und vieles mehr. Neben Wissenschaftlern aus Deutschland, Österreich, Dänemark und Australien kommen auch Praktiker zu Wort wie der britische Komponist Colin Towns, der New Yorker Paul D. Miller alias DJ Spooky. Schließlich kommen in einer Diskussionsrunde Vertreter aus der Plattenproduktion, diverser Medien, Agenturen aber auch Musiker zusammen.

Die Beiträge:

  • Martin Pfleiderer: Was macht Musik populär? Überlegungen zur (Un-)Popularität im Jazz und anderswo
  • Andrew Hurley: Joachim Ernst Berendt – Jazz, U-Musik, Pop-Jazz und die Ambivalenz (1950-1970)
  • Fabian Holt: Not a Silent Way. Populäre Musik und Jazzmodernismus nach Elvis
  • Wolfram Knauer: Healing Force of the Universe? Warum der Free Jazz zahm wurde
  • Jürgen Schwab: New Standards – Die (gar nicht mal so) neue Lust am Covern im Jazz
  • Frithjof Strauß: Zwischen Mystizismus und Funktionalismus. Zur Popularität des Jazz aus Skandinavien
  • Doris Schröder: Bunte Musik. Die Jazzbilder Tony Munzlingers zwischen Karikatur, Popart und Gebrauchskunst
  • Roundtable zu Aspekten der Produktion und Vermarktung von Jazz mit Veit Bremme, Bodo Jacoby, Harald Justin, Reiner Michalke und Olaf Schönborn
  • Peter Kemper: Wer wär nicht gern ein Global Player? – Über die orthodoxe und paradoxe Annäherung von Jazz und Pop
  • Colin Towns: Musik für Herz, Kopf und Füße. Die unterschiedlichen musikalischen Seiten des Colin Towns
  • Wolfram Knauer: Die Wissenschaft vom Rhythmus. DJ Spooky, der Philosoph der Plattenleger, erklärt die DJ-Kunst
  • Andreas Felber: Alter Greis auf der Suche nach neuer Jugend? Anmerkungen zur neuen Offenheit zwischen Jazz und populärer Musik in den 90er- und 00er-Jahren
  • Diedrich Diederichsen: Jazz als Concept-Art

Wolfram Knauer (Hg.): Begegnungen. The World Meets Jazz. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Bd. 10
Hofheim 2008 (Wolke Verlag), 320 Seiten, ISBN: 3-936000-04-7; 24 €

2007_begegnungen-the-worldDer Jazz ist eine Musik mit afro-amerikanischen Wurzeln, doch er blüht überall auf der Welt in allen möglichen (Klang)-Farben. Jazz ist eine produktive Kunst: Musiker in aller Welt, die sich ihm zuwandten, mussten seine Wurzeln als afro-amerikanische Musik genauso kennen und respektieren wie sie aufgefordert waren, ihre eigenen Traditionen mit einzubringen. Von diesen Prozessen zwischen Respekt und Eigenständigkeit handelt dieses Buch. Es geht dabei nicht so sehr um “Weltmusik“ an sich als vielmehr um die produktive Auseinandersetzung mit den Traditionen, und um die Tatsache, dass der Jazz mittlerweile jede Menge Impulse aus allen möglichen Ecken der Welt erhält, wo man ihn auch als eigene Musik begreift.

Dieser Band enthält die Referate des 10. Darmstädter Jazzforums, in denen unterschiedliche musikalische Annäherungen, Adaptionen oder Adoptionen näher beleuchtet werden. Oft handelt es sich dabei um Ideen, die zwar aus ethnischen Musikrichtungen stammen, aber mit der Spielhaltung des Jazz so hervorragend harmonieren, dass es schwer fällt, die musikalischen Ergebnisse noch unter gängigen Genrebegriffen abzulegen. Weder kann man dann nämlich wirklich von „Weltmusik“ sprechen, noch ist es Mainstream-Jazz im herkömmlichen Sinne. Es ist ein kreativer Austausch, der den Jazz verändert, egal ob einem das gefällt oder nicht.

Die Beiträge:

  • Andrew W. Hurley: But Did the World Meet Jazz? Ein Blick hinter Joachim Ernst Berendts Plattenreihe”Jazz Meets the World”
  • Martin Pfleiderer: The World Meets Jazz. Zur Ästhetik des Jazz im Zeitalter der Globalisierung
  • Maximilian Hendler: Jazz oder nicht Jazz? Rollenpolyphonie und ihr Vorkommen auch außerhalb des Jazz
  • Torsten Eßer: Jazz in Lateinamerika – Eine periphere Erscheinung?
  • Wolfram Knauer: Blowin’ Up a (European) Storm. Eine Annäherung an die Personalstile von Harry Beckett, Tomasz Stanko und Enrico Rava
  • Gerhard Putschögl: Flamenco Jazz
  • Timothy R. Mangin: Cosmopolitan Roots. Jazz im Senegal
  • Gerhard Kubik: Referentielle Elementarpulsationen. Bemerkungen zur konzeptuellen Welt unseres Jazz aus dem südlichen Afrika
  • Günther Huesmann: John Zorn und der japanische Traditionsbegriff
  • Ralf Dombrowski: Das Originale und das Originelle. Techniken kultureller Aneignung am Beispiel des Oriental Jazz
  • Gilad Atzmon: Jazz und Jihad. Ein (Bird-)Fundamentalist erklärt seine Sicht des Jazz
  • Karl Berger: Skizzen weltmusikalischer Erfahrungen
  • Harald Justin: Jazz und World Music im Fadenkreuz des Kulturkampfes

Wolfram Knauer (Hg.): Albert Mangelsdorff. Tension | Spannung. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Bd. 11
Hofheim 2010 (Wolke Verlag), 320 Seiten, ISBN: 078-3-936000-05-4; 27,- €

2009_albert-mangelsdorffAlbert Mangelsdorff galt seit den 1950er Jahren als die überragende Persönlichkeit des deutschen Jazz. Er war ein Musiker, der stil- und genreübergreifend Anerkennung fand und an Projekten beteiligt war, die zwischen Tradition, Avantgarde und Rock/Pop wechselten. Man achtete ihn international als einen Künstler mit einem ausgewiesen eigenständigen Stil, als einen Virtuosen auf der Posaune, als einen bedeutenden Komponisten und als einen Wegbereiter des Jazz in Deutschland. Für die Autoren dieses Bandes ist Mangelsdorff Ideengeber für Beiträge, in denen es um Albert Mangelsdorff geht, um die Geschichte des Jazz in Deutschland, um Instrumentaltechnik, um Free Jazz, die Frankfurter Szene, um vokale Expressivität im Jazz, soziale Ordnung im Free-Jazz-Kontext, ein erwachendes politisches Bewusstsein bei Musikern der 1960er Jahre oder das neue ästhetische Selbstbewusstsein europäischer Jazzmusiker heute.

Der Band enthält die Referate des 11. Darmstädter Jazzforums vom Oktober 2009. Er beleuchtet Facetten im Schaffen des Posaunisten, schaut auf musikalische und ästhetische Parallelentwicklungen, aber auch auf jüngste Entwicklungen im deutschen Jazz. Der rote Faden ist dabei letztlich die musikalische Offenheit, die Albert Mangelsdorff vorgelebt hat.

Beiträge:

  • Wolfgang Sandner: Ein Prototyp und Sonderfall: Albert Mangelsdorff, Jazzmusiker in Deutschland
  • Rüdiger Ritter: Jazz-Musiker als „Gründungsväter“ für nationale Jazzszenen? Krzysztof Komeda und der polnische Jazz
  • René Grohnert: Bilder zur Musik. Jazzplakate (von Günther Kieser und Niklaus Troxler) zwischen Ankündigung und Erinnerung
  • Wolfram Knauer: Es sungen drei Engel. Zum Umgang von Jazzmusikern mit deutscher Musiktradition
  • Martin Pfleiderer: Singin’ the Blues. Vokale Expressivität im instrumentalen Jazz
  • Kai Stefan Lothwesen: Emanzipation, Jazz-Dissidenten und Paradigmenwechsel. Anmerkungen zur Diversität des europäischen Jazz
  • Harald Kisiedu: „European Freedom“. Zum Verhältnis von Musik und Politik bei Peter Brötzmann
  • William Bares: Play Your Own Thing „Our“ Thing: „Young German Jazz“ und die deutsche Jazzidentität
  • Silvana K. Figueroa-Dreher: Was kann die Soziologie vom Free Jazz lernen?
  • Harald Justin: Jenseits des Skandals. Albert Mangelsdorff: Autobiographisches Erzählen im Kontext (und mögliche Paradigmenwechsel im deutschen Jazz)
  • Michael Rieth: Goethe und der Blues, Kropotkin und die Krone, Albert und die Anarchie
  • Jürgen Schwab: „50 Jahre institutionalisierte Subkultur“. Das hr-Jazzensemble, eine Bestandsaufnahme
  • Michael Rüsenberg: „Ein musikalisches Zwiegespräch zwischen dem weltberühmten Posaunisten und dem unbekannten Wal“. Anmerkungen zu Albert Mangelsdorff

Wolfram Knauer (Hg.): JAZZ.SCHULE.MEDIEN. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 12
Hofheim 2012 (Wolke Verlag), 256 Seiten, ISBN: 978-3-936000-92-4; 24,- €

2011_jazz-schule-medienAuch eine unmittelbare Musik wie der Jazz kommt nicht um Vermittlungsstrategien herum. Die Beiträge in diesem Buch beleuchten unterschiedliche Facetten einer solchen Jazzvermittlung. In einem ersten Block geht es darum, welchen Stellenwert Jazz im schulischen Unterricht besitzt, wie er in Lehrpläne eingebaut werden kann, welche pädagogischen Ansätze sich mit jazzaffinen Themen verbinden lassen, worauf die Musiklehrerausbildung achten muss, um Jazz und Popularmusik an Allgemeinbildenden Schulen gezielt einsetzen zu können. In einem zweiten Block wird aus unterschiedlichen Sichtweisen der Stellenwert diskutiert, den Jazz in den tagesaktuellen Medien besitzt, also in Tageszeitungen, Blogs etc. Schließlich kommen auch Jazzmusiker selbst zu Wort, die über Strategien berichten, ihr Publikum zu erreichen, in einer Zeit der kurzen Aufmerksamkeitsspanne Lust auf die Konzentration machen, die der Jazz verlangt, Neugier zu wecken auf das spontane Experiment der musikalischen Improvisation.

Die in diesem Band enthaltenen Beiträge entstanden aus Anlass des 12. Darmstädter Jazzforums im September 2011, das der theoretischen Diskussion über Jazzvermittlung auch einige praktische Workshops und Konzerte zur Seite stellte. Mit der Publikation wollen wir den Leser mit in den Diskurs darüber einbinden, wie der Jazz auch in Zukunft ein breites Publikum erreichen kann, ohne sich zu verbiegen, ohne seine kreative Freiheit aufzugeben.

Beiträge:

  • Walter Turkenburg: Jazzpädagogik in Europa . Straße und Schule
  • Joe Viera: Jazzpädagogik. Zur Geschichte in Deutschland nach 1945. Aufgaben – Methoden – Zukunft
  • Siegried Busch: Jazz für Lehrer
  • Bert Gerhardt: Jazz in der Schule – nur was für die Elite?
  • Jürgen Terhag: Jazz als Basis der musikpädagogischen Arbeit mit Populärer Musik. Wege aus dem Ghetto
  • Günter B. Schmidt und Cordula Groß: Black Music als Teil der Schulsozialarbeit
  • Daphne Lipp und Sascha Wild: Jazz und improvisierte Musik in der Schule.! Eine Förderausschreibung der Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt am Main
  • Olaf Stötzler und Jochen Stolla: Vermittlung durch Begegnung. Jugendprojekte der hr-Bigband. Bedingungen und Chancen musikalischer Bildung durch eine Rundfunk-Bigband
  • Wolfram Knauer: jazzwissen.de. Online-Modul als Hilfe zur Vermittlung von Jazz im Schulunterricht
  • Michael Rüsenberg: “Amylgada: das Jazz-Zentrum im Gehirn”. Eine Exkursion zu den Neurowissenschaften
  • Elena Ungeheuer: Herausforderungen der Musikvermittlung heute
  • Bernd Hoffmann: Spieglein, Spieglein an der Wand. Präsentationen des Jazz in deutschsprachigen Medien
  • Hans-Jürgen Linke: Alltagsraunen. Über inhaltliche FRagen, Jazz in der Tagespresse, Feulleton-Betrieb und andere langsam veraltende Probleme
  • Reinhard Köchl: Jazzjournalismus heute: Ohne Anzeige keine Zeile?
  • Nils Wülker: Über dem Publikum muss die Sonne aufgehen
  • Roundtable Jazzjournalismus: Reporter, Kritiker, Vermittler
  • Arndt Weidler: PSSST! … und wenn das Jazzpublikum schuld daran ist, dass so wenig Publikum zu Jazzkonzerten kommt?!
  • Roundtable Musiker: Das Publikum: Amorphe Masse oder Energiespender?

Wolfram Knauer (ed./Hg.): Jazz Debates / Jazzdebatten, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung Bd. 13
Wolke Verlag (Hofheim), 2014, English and German, 224 pp., Photos, Paperback, € 24,-, ISBN: 978-3-95593-013-4

2013_debatten

Debatten in der Jazzgeschichte sind ästhetische Wegmarken. Sie spiegeln Entscheidungsdiskurse darüber wider, wie es in der Musik weitergehen kann. Beim Darmstädter Jazzforum im September 2013 ergründeten Experten aus Europa und den USA, wie solche Debatten bis heute die Wahrnehmung des Jazz bestimmen. Die Beiträge dieses Buchs fragen etwa nach den Auswirkungen von Debatten auf das ästhetische Urteil. Sie beleuchten historische und aktuelle Jazzdebatten der deutschen Jazzszene. Sie diskutieren die Genderdebatte, fragen also, wie das Ideal von Maskulinität die Musik und ihre Rezeption prägt und wo in den Jazzdiskursen Raum etwa für Frauen oder die LGBT-Community ist. Und sie thematisieren die jüngste Debatte über den Begriff “Jazz” selbst und damit die Frage, wem der Jazz seiner historischen und ästhetischen Entwicklung nach “gehört”.

Beiträge:

  • Jürgen Arndt: Schlager, Jazz und Argumente: 1953 und 60 Jahre danach oder: Als der Jazz seine Stimme verlor
  • Siegfried Schmidt-Joos: Jazzpapst Revisited. Rückblick auf einen Konflikt
  • Martin Pfleiderer / Wolf-Georg Zaddach: Der gegenwärtige Jazzdiskurs in Deutschland. Versuch einer empirischen Rekonstruktion anhand von Jazzzeitschriften
  • John Gennari:  Remapping the Boundaries of Jazz: The Case of Jason Moran
  • Peter Elsdon: The Potential of the Jazz Record
  • Nichole Rustin-Paschal: Self Portrait: On Emotion and Experience As Useful Categories of Gender Analysis in Jazz History
  • John Gill: Miles in the Sky: Dismantling the glass closet in jazz
  • Tony Whyton: Crosscurrents: the cultural dynamics of jazz
  • Christian Broecking: Not Black enough? Debating jazz in the post-blackness time space
  • Wolfram Knauer “Jazz” or not “Jazz”. From Word to Non-Word and Back

Wolfram Knauer (ed./Hg.): Gender and Identity in Jazz, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung Bd. 14
Wolke Verlag (Hofheim), 2016, English and German, 308 pp., Photos, Paperback, € 28,-, ISBN: 978-3-95593-014-1

2016knauer

Das 14. Darmstädter Jazzforum im Oktober 2015 befasste sich mit ganz unterschiedlichen Aspekten von Identität im Jazz. Es ging um die Wahrnehmung von Instrumentalistinnen, um “männlichen” oder “weiblichen” Sound, um Homosexualität, Körperlichkeit und die Verleugnung des erotischen Moments in der Musik, um Jutta Hipp, Ivy Benson, Clare Fischer, Sun Ra und andere. Die Teilnehmer der Konferenz reflektierten über Jazzgeschichte und schauten selbstbewusst auf die Gegenwart. Sie diskutierten Wege, wie sich Vorurteile überwinden lassen und wie man den Gender-Diskurs des 21sten Jahrhunderts im Jazz angemessen beschreiben kann. Dass der Blick auf den Jazz verfälscht wird, wenn man seine Protagonisten auf einzelne Teile ihrer vielfältigen Identität reduziert, ist klar. Diese jedoch in Jazzgeschichte und -gegenwart völlig außer Acht zu lassen, ist ein genauso großes Versäumnis. In diesem Buch wollen wir somit einen Diskurs fortführen, der auch in unserer bereits erheblich veränderten Welt wichtig bleibt.

Beiträge:

  • Wolfram Knauer: Clash of Identities
  • Mario Dunkel: Sexuality, Eroticism, and the Construction of the Jazz Tradition
  • Katherine Williams: “Alright for a Girl”, and Other Jazz Myths
  • Michael Kahr: Chromaticism and Identity in the Music of Clare Fischer
  • Yoko Suzuki: Gendering Musical Sound in Jazz Saxophone Performance
  • Ilona Haberkamp: Hipp Style or Adaption?
  • Martin Niederauer: Male Hegemony in Jazz – Trying to Understand One Important Element of Jazz’s Gender Relations
  • Joy Ellis and Adam Osmianski: Women and the Jazz Jam
  • Christopher Dennison: One-Armed Ball Players: The Language of Homophobia in Jazz
  • Jenna Bailey: “Play Like a Man and Look Like a Woman”, Exploring the Role of Gender in Ivy Benson’s All Girl Band
  • Ilka Siedenburg: Bigbandklassen: Ein Weg zur musikalischen Praxis jenseits von Geschlechterstereotypen?
  • Mane Stelzer: „Für uns war es fremde Musik“, Wie junge Instrumentalistinnen zum Jazz finden (oder auch nicht)
  • Nicole Johänntgen: SOFIA und mehr, Eine persönliche Annäherung an ein Frauen-Musikprojekt
  • Sherrie Tucker: A Conundrum is a Woman-in-Jazz: Enduring Improvisations on the Categorical Exclusions of Being Included
  • John Murph: Exploring Queer Notions Inside Sun Ra’s Outer Space Ways
  • Christian Broecking: “Authentic Lesbian As I Am”, Aspects of Gender, Marginalization and Political Protest in the Life and Work of Irène Schweizer
  • Nicolas Pillai: Watching Men Play. The Erotics of the Hollywood Jazz Film

Wolfram Knauer (ed./Hg.): Jazz@100. An alternative to a story of heroes. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung Bd. 15
Wolke Verlag (Hofheim), 2018, English, 296 pp., Photos, Paperback, € 28,-, ISBN: 978-3-95593-015-8

Im hundertsten Geburtsjahr des Jazz warf das Darmstädter Jazzforum 2017 einen Blick auf die Tücken einer Jazzgeschichtsschreibung, in der Legenden oft den Blick auf das verstellen, worauf es in dieser Musik noch viel mehr ankommt: auf die Multiperspektivität einer Musik, die nicht nur von den großen Meistern, auf jeden Fall aber von vielen Individualisten geprägt wird. Die fünfzehn Aufsätze in diesem Buch wagen die Perspektivverschiebung im Blick auf Personen, Orte oder Stile. Sie legen den Fokus auf scheinbar Bekanntes, um genau das zu hinterfragen, und sie machen uns dadurch darauf aufmerksam, auf welche Weise unser Verständnis von Jazz, seiner Geschichte und Ästhetik geprägt wurde und wie es bis in die Gegenwart Veränderungen unterworfen ist.

Beiträge:

  • Arne Reimer: My Encounters with American Jazz Heroes
  • Nicholas Gebhardt: Reality Remade. Narrative and the historical imagination in Alan Lomax’s Mister Jelly Roll
  • Katherine M. Leo: The ODJB at 100. Revisiting Essential Narratives and Copyright Control of Victor 18255
  • Klaus Frieler: A Feature History of Jazz Improvisation
  • Andrew Wright Hurley: In and Out: Processes of Inclusion and Exclusion in Joachim Ernst Berendt’s Jazzbuch, or Towards the Biography of a Book
  • Tony Whyton: A Familial Story: Hidden Musicians and Cosmopolitan Connections in Jazz History
  • Mario Dunkel: Darcy James Argue’s Uchronic Jazz
  • A talk with pianist and composer Orrin Evans: “Just be me!”
  • Krin Gabbard: Syncopated Women. Gender and Jazz History in 1942 Hollywood
  • Wolfram Knauer: Four Sides of a House. How Jazz Spaces Irritate, Fascinate, Stimulate Creativity or Become Icons
  • Oleg Pronitschew: Die Institutionalisierung des Jazz. Wie die westdeutsche Jazzdebatte der 1970er Jahre das Selbstverständnis einer Szene veränderte
  • Rüdiger Ritter: Myths in Jazz – Artistic Prison or Productive Element? The Shaping of “Polish Jazz”
  • Karen A. Chandler: Bin Yah (Been Here). Africanisms and Jazz Influences in Gullah Culture
  • Scott DeVeaux: Was Bebop a Mistake?
  • Nicolas Pillai: A Star Named Miles. Tracking Jazz Musicians Across Media

Wolfram Knauer (ed./Hg.): Positionen! Jazz und Politik. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung Bd. 16
Wolke Verlag (Hofheim), 2020, Deutsch, 248 pp., Photos, Paperback, € 24,-, ISBN: 978-3-95593-016-5

„Jazz ist immer politisch …“ Was ist übrig geblieben vom oft behaupteten politischen Impetus und der gesellschaftlichen Relevanz im Jazz der Gegenwart? Der Blick beim 16. Darmstädter Jazzforum im Herbst 2019 richtete sich weniger auf das Mutterland des Jazz, wo lange vor #BlackLivesMatter, #Metoo und Donald Trump viele Jazzmusiker:innen politische Statements abgaben. In Darmstadt wurde vielmehr darüber diskutiert, ob Musik einerseits überhaupt politische Aussagen treffen kann, welche konkreten Beispiele sich andererseits hierzulande dafür finden lassen, dass sich aktuelle Jazzmusiker:innen mit Themen auseinandersetzen wie dem wachsenden Populismus, dem Klimawandel, Krieg, Hunger, ungleicher Wohlstandsverteilung, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus. In Vorträgen und Diskussionsrunden mit Musiker:innen, Journalist:innen und Expert:innen unterschiedlicher Fachbereiche ging es dabei auch um die grundlegende Frage, inwiefern nicht vielleicht gerade durch die Tatsache, dass improvisierte Musik ein seismographisch ziemlich empfindliches Abbild der Gegenwart ist, dieser Musik auch 2020 and beyond ein besonders wichtiger Platz im Kanon der aktuellen Musik gebührt.

Beiträge:

  • Stephan Braese: Stammheim war nie Attica. Zur politischen Widerständigkeit des Jazz in Deutschland seit 1945
  • Henning Vetter: Politischer Jazz oder Deutungshoheit: Wem gehört das Gehörte? Eine Untersuchung am Beispiel des Musikerkollektives The Dorf
  • Nina Polaschegg: Sind frei Improvisierende die besseren Demokraten?
  • Benjamin Weidekamp + Michael Haves: Alles wird gut gegangen sein – Der Talk
  • Wolfram Knauer: Jazz und Politik – politischer Jazz?Eine bundesdeutsche Perspektive
  • Mario Dunkel: Zusammenhänge zwischen Populismus, Jazz und afrodiasporischen Musiken als Ausgangspunkt für Demokratiebildung
  • Martin Pfleiderer: „… an outstanding artistic model of democratic cooperation“? Zur Interaktion im Jazz
  • Nadin Deventer, Tina Heine, Lena Jeckel, Ulrich Stock: Veranstalter:innen: die Influencer des Jazz?
  • Nikolaus Neuser (Trompete) und Florian Juncker (Posaune): „Occupied Reading“. Musikalische Intervention
  • Hans Lüdemann: Gesellschaftliche und politische Positionierung eines deutschen Jazzmusikers heute
  • Nikolaus Neuser: Improvisation als Handlungskonzept
  • Michael Rüsenberg: „Jazz ist stets politisch“. Stimmt diese Aussage von Mark Turner? Und, hört man sie in seiner Musik?
  • Thomas Krüger:Politische Dimensionen des Jazz im Kontext von Emanzipation und Kulturalisierung
  • Korhan Erel, Tim Isfort, Angelika Niescier, Victoriah Szirmai: … im Ohr des Betrachters …Ein Panel über das Politische in der Musik
  • Atef Ben Bouzid / Ulrich Stock: „Cairo Jazzman – The Groove of a Megacity“

Wolfram Knauer (Hg.): ROOTS | HEIMAT. Diversity in Jazz. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung Bd. 17
Wolke Verlag (Hofheim), 2022, Deutsch, 303 pp., Fotos, Paperback, € 29,-, ISBN: 978-3-95593-017-2

Jazz ist ein Symbol für Diversität – so mag man zumindest meinen, wenn man die Geschichte afro-amerikanischer Musik betrachtet. Doch zollen wir insbesondere in Europa dieser Idee genügend Respekt? Ist unsere Verehrung der großen Jazzheroen nicht ein bloßes Lippenbekenntnis, wenn wir in dieser Musik, die doch von Freiheit und Individualität handelt, gleichzeitig feststellen müssen, dass Frauen hierzulande nach wie vor selten sind, von BIPoC (Black, Indigenous, People of Color) einmal ganz zu schweigen? Ist der Jazz in Deutschland nicht lange zu einer etablierten Hochkultur geworden, die nur von einer akademischen Minderheit gemacht und gehört wird? Und wenn dem so ist, wie zufrieden sind wir mit dem Status quo bzw. wie können wir diesen ändern? Fragen, auf die dieses Buchs in sehr unterschiedlichen Ansätzen nach Antworten sucht.

Beiträge:

  • Wolfram Knauer: Vorwort – Wie offen ist der Jazz?
  • Philipp Teriete: The Classical Training of Early African American Jazz Musicians. Der musikalische Ausbildungskanon an den Historically Black Colleges and Universities im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und der Einfluss auf den frühen Jazz
  • Vincent Bababoutilabo: Black Music Matters. Beobachtungen eines Antirassisten in der deutschen Jazzausbildung
  • Roundtable 1 mit Simin Tander, Reza Askari, Gabriele Maurer: Vom Fremdsein, Ankommen, Fremdbleiben. Gespräch über eigene Erfahrung der Identitätswahrnehmung.
  • Philipp Schmickl: Re-inventing the World at Home. How Globally Circulating Forms Fuel the Imagination of Local Festival Organizers
  • Ádám Havas: Zur Dekonstruktion hegemonialer Jazz-Narrative. Die Rolle von Roma-Musikern bei der Artikulation einer osteuropäischen Differenz
  • Gestaltung ist eine Haltung. Niklaus Troxler im Gespräch mit Wolfram Knauer
  • Harald Kisiedu: „We Are Bessie Smith’s Grandchildren“. Reflections on Creolization in post-1950s Experimental Jazz in Europe
  • Timo Vollbrecht: Das Problem des Othering. Exotismus im Jazz, Artistic Othering und Komplexe Intersektionalität
  • Stephan Meinberg: Vom Umgang mit dem Privilegiert-Sein
  • Roundtable 2 mit Jean-Paul Bourelly, Kornelia Vossebein, Frieder Blume und Joana Tischkau: An die Arbeit: Realität verändern!!! Get to work! Let’s change reality!!!
  • Nico Thom: „Der Mann mit der schwarzen Stimme“. Europäischer Amerikanismus am Beispiel von Bill Ramsey
  • Anna-Lise Malmros: Black Dada / Ascension Unending. From Baraka to Coltrane, from Hell to Heaven. John Tchicai in the 1960s in New York and Copenhagen: Breaking the Hidden and Open Rules of Jazz
  • Peter Kemper: „Ich hatte halt den Blues nicht mit der Muttermilch eingesogen.“ Heinz Sauer & Archie Shepp: Differenzen eines musikalischen Dialogs
  • Wir wie die Welt sehen (wollen) Jo Wespel & Sanni Lötzsch: FESTIVAL BOOST NOW! Selbstermächtigung der Musiker:innen, Communities und zugängliche Strukturen
  • Luise Volkmann: Ritualität im Jazz. Das Musikritual als Synthese von Herkunft, Heimat und dem futuristischen Jetzt
  • Luise Volkmann & Ella O’Brien-Coker: Ritualität, unsere vielen Identitäten und das performative Sprechen
  • Roundtable 3 mit Constanze Schliebs, Therese Hueber und Sylvia Freydank: Exportieren wir eigentlich nur Musik oder auch unsere Weltsicht?

Wolfram Knauer (Hg.): destination unknown. Die Zukunft des Jazz. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung Bd. 18
Wolke Verlag (Hofheim), 2024, Deutsch, 272 pp., Fotos, Paperback, € 29,-, ISBN: 978-3-95593-018-9
Wie klingt der Jazz der Zukunft? Wen erreichen wir mit dieser Musik und wen wollen wir erreichen? Wie wichtig sind Räume, im wörtlichen genauso wie im metaphorischen Sinne, um musikalische Kreativität zu ermöglichen, und wie sichern wir diese? Wie sahen Musiker:innen der Vergangenheit die Zukunft ihrer Kunst und was lässt sich daraus für die Gegenwart ableiten? Macht es überhaupt noch Sinn von der Zukunft einer Musik zu sprechen, die als Genre Vergangenheit zu sein scheint? Und überhaupt: Was ist eigentlich „Jazz“ in einer Welt des Post-Genre? Dieses Buch enthält einige Antworten, vor allem aber weitere Fragen, die zeigen, dass Jazz, improvisierte Musik, Black American Music oder wie immer man sie bezeichnen will, gerade deshalb eine Zukunft hat, weil sie Diskurse der Gegenwart aufgreift, dreht, wendet und dabei neue Perspektiven aufzeigt.
Beiträge:
  • Wolfram Knauer: Vorwort – Destination Unknown. Die Zukunft des Jazz
  • André Doehring: Glotzmusik und Blubberbumm: Wolfgang Dauners vergangene Zukunft des Jazz ins Heute gewendet
  • Harald Kisiedu: “JAZZ IS DEAD”: Überlegungen zu einer gar nicht mal so neuen Idee
  • Panel 1 Jazz – aber für wen eigentlich? mit James Banner, Evi Filippou und Julia Kadel
  • Richard Herzog: Ancient to the Future – Jazz ersteht aus seiner Vergangenheit auf, bei Matana Roberts und Moor Mother
  • Magdalena Fürnkranz: Jazz and Afrofuturism. When Sun Ra met Janelle Monáe
  • Bettina Bohle: Genre & Jazz – Eine sprachpragmatische Annäherung an eine hitzige Diskussion
  • Niels Klein + Jorik Bergman: Zukunftsmusik. Ein Gespräch
  • Marie Härtling: The All of Everything
  • Frank Gratkowski: Was ist Jazz? Was könnte Jazz sein? Was könnte aus ihm werden? Ein paar persönliche Anmerkungen
  • Panel 2 Macht Platz! mit Esther Weickel, Jonas Pirzer und Camille Buscot
  • Teresa Becker: Zur Rolle und Funktion von Musiker:innen in der Nachhaltigkeitskommunikation
  • Monika Herzig: New Standards: 101 Action Items. Ein praktischer Leitfaden zur Genderparität
  • Kaspar von Grünigen: Möglichkeiten und Grenzen der Demokratisierung von Kulturpolitik: Die Basler „Initiative für mehr Musikvielfalt“
  • Thomas Meinecke im Gespräch mit Peter Kemper
  • Uli Kempendorff: Exit from the Nineties
  • Panel 3 Es geht ums Ganze! mit Mariana Bondarenko, Akiko Arendt und Jan Klare

Jazz Index: Peter Brötzmann

Beispiel für einen Jazz Index zu Peter Brötzmann

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Jazz Index – created on 13. August 2014

The following bibliographical information is drawn from periodicals and books present in the archive of the Jazzinstitut Darmstadt. Our extensive periodical collection comprises more than 55,000 issues of some 1,050 jazz periodicals. Close to two-thirds of the collection has been indexed.

Following the more recent entries are abbreviations denoting the nature of the material in the respective articles. These symbols are:

[A] = analytical remarks
[B] = extensive book review
[BT] = blindfold test
[C] = concert review
[D] = discography
[F] = feature article
[I] = interview
[“I”] = article written by the respective musician himself
[N] = (very short) news item
[O] = obituary
[R] = extensive record review
[T] = transcription

The Jazz Index is a service of the…

Jazzinstitut Darmstadt, Bessunger Strasse 88d, D-64285 Darmstadt, Germany
phone ++49 (6151) 963700

This bibliography has been compiled and mailed by … Jazzinstitut Darmstadt,
e-mail: jazz@jazzinstitut.de, Internet: www.jazzinstitut.de

Brötzmann, Peter (ts * b: 6.Mar.1941, Remscheid/Germany; Lexikon: Feather [1976,1999]; Companion [1987]; New Grove [1988,2001]; rororo [1988]; Reclam [1989]; Dictionnaire [1988,1995]; MusicHound [1999]; Rough Guide [1999,2000]; Wölfer [2008]; vertical file: Peter BRÖTZMANN [1986-1987,1992-1995,1999,2002,2006])

***

J.-M. Fehlhaber: Das Peter Brötzmann Trio in Aachen, in: Sounds, 1/1966-67, p. 25-26 (C)

Rainer Blome: Ein neues Gesicht im Jazz. Peter Brötzmann, in: Jazz Podium, 125/8 (Aug.1966), p. 216 (F/I) [digi.copy]

Rainer Blome: Peter Brötzmann – Do It Yourself / Peter Brötzmann Trio, in: Sounds, 4/1967, p. 33-34 (R)

Manfred Miller: Irene Schweizer / Peter Brötzmann. Deserving of wider recognition, in: Jazz Podium, 16/3 (Mar.1967), p. 86-87 (F) [digi.copy]

NN: Jazz in Deutschland 1967. Die Musiker. Peter Brötzmann Trio, in: Jazz Podium, 16/3 (Mar.1967), p. 66 (F) [digi.copy]

NN: Free Jazz – Pop Jazz. Jazz – unverständlich oder populär? Klaus Doldinger und sein Quartett, Vertreter des modernen Jazz und Peter Brötzmann und sein Trio, exponierte freejazzer, liefern sich musikalisch und in der Diskussion eine harte Auseinandersetzung, in: [WDR archive, call slip], 12.May 1967 (call slip; no further information; video not available at the Jazzinstitut) [digi.copy]

Keith Knox: Peter Brötzmann, in: Jazz Monthly, #155 (Jan.1968), p. 15 (F)

Siegfried Schmidt-Joos: “Weil viele Dinge geändert werden müssen.” Ein Interview mit Peter Brötzmann, in: Jazz Podium, 17/4 (Apr.1968), p. 128-129 (I) [digi.copy]

NN: Wohlklang nein. “Machine Gun” (Brötzmann 2), in: Der Spiegel, 10.Sep.1968, p. 195 (R) [digi.copy]

Manfred Miller: Peter Brötzmann, in: Sounds, #8 (Sep.1968), p. 16-17 (F)

H.D. Schelte: Peter Brötzmann und die Jazzkritik, Köln 1969 [book: Sounds], passim (F/A: “Machine Gun”) [digi.copy]

Günther Eichler: Zwischen Klarheit und Chaos. Konstruktivismus und Free Jazz im Darmstädter Studentenkeller, in: Darmstädter Echo, 6.May 1969 (C: Peter Brötzmann, Fred van Howe, Peter Kowald, Sven Ake Johansson) [digi.copy]

NN: “Brötzmann kommt”, in: [concert info], Darmstadt, 19.Jun.1969 (short F) [digi.copy]

NN: Das neue Profil der deutschen Jazzmusiker. Peter Brötzmann, in: Jazz Podium, 19/3 (Mar.1970), p. 91-92 (F)

R. Williams: “Nipples” Is Outstanding, in: Melody Maker, 21.Nov.1970, p. 32 (R)

European Jazz Personalities. German Federal Republic, Part 1, in: Jazz Forum, #13/14 (Fall/Winter 1971), p. 108 (short F: biography)

Dieter Zimmerle: Brötzmann Trio, in: Jazz Podium, 20/8 (Aug.1971), p. 280-286 (F/I with Peter Brötzmann, Fred van Hove, Han Benning) [digi.copy]

Nele Hertling & Peter Brötzmann & Jost Gebers: Free Jazz und Kinder. 15 Kinder & Brötzmann, Van Hove, Bennink, in: Free Jazz und Kinder [EP], FMP S 1/2 (1972) (F/”I”: liner notes) [digi.copy]

W.P.: Peter Brötzmann + Albert Mangelsdorff, in: Sounds, 6/1972, p. 36 (R)

NN: Platte des Monats. Peter Brötzmann Trio + Albert Mangelsdorff, in: Jazz Podium, 21/2 (Feb.1972), p. 34 (R)

R. Williams: Blasting Berlin, in: Melody Maker, 5.Feb.1972, p. 34 (R: Florence Nightingale / The End u.a.)

NN: Brötzmann-van Hove-Bennink, in: Jazz Podium, 21/4 (Apr.1972), p. 104-105 (F)

Peter Schulze: Free Jazz ohne Publikum, in: Jazz Podium, 21/9 (Sep.1972), p. 15-17 (F/I)

NN: Free-Jazz-Förderung, in: Der Spiegel, 19.Mar.1973, p. 137 (short F/I) [digi.copy]

D. Pennequin: Onze Européens parlent de leur musique. Peter Brötzmann, in: Jazz Magazine, #220 (1974), p. 19-21

Gérard Rouy: Brötzmann-Mangelsdorff (Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, in: Jazz Magazine, #220 (1974), p. 4-5

Alfred König: Podium Jam Session. Brötzmann “Einheitsfrontlied”, in: Jazz Podium, 23/1 (Jan.1974), p. 27 (letter)

Werner Panke: A Portrait of Peter Brötzmann, in: Jazz Forum, #38 (Dec.1975), p. 46-48 (F/I)

Peter Brötzmann & Jost Gebers: Free Jazz und Kinder, in: Jost Gebers (ed.): For Example. Workshop Freie Musik 1969-1978. Photographs, Documents, Statements, Analyses, Berlin 1978 [book/LP booklet: FMP/Free Music Production], p. 21 (“I”)

Peter Brötzmann: 10mal Spaß und Musik / Ten Times Fun and Music, in: Jost Gebers (ed.): For Example. Workshop Freie Musik 1969-1978. Photographs, Documents, Statements, Analyses, Berlin 1978 [book/LP booklet: FMP/Free Music Production], p. 126a-127a (“I”)

H. Lukas Lindenmaier: Peter Brötzmann. Interview, in: Cadence, 4/10 (Oct.1978), p. 3, 5-7, 20, 22 (I) [digi.copy]

Werner Panke: Ohne Kompromiß. Weg mit den Jugendsünden des Jazz!, in: Fono Forum, 10/1979, p. 56-57

John Fordham: Storm, in: John Fordham: Shooting from the Hip. Changing Tunes in Jazz, London 1996 [book: Kyle Cathie Limited], p. 83-84 (C; Reprint, from: The Guardian, Oct.1980)

Bert Noglik: Peter Brötzmann, in: Bert Noglik: Jazz-Werkstatt International, Berlin 1981 [book], p. 190-211 (I)

Bernd Ogan: Peter Brötzmann Trio. Aggressivität und Nuancenreichtum, in: Jazz Podium, 30/3 (Mar.1981), p. 22-23

Philippe Haller: Jazz en direct. Peter Brötzmann, in: Jazz Magazine, #296 (Apr.1981), p. 14-15 (C)

Werner Panke: Brötzmann-Schönenberg. Unüberhörbare Annäherungen, in: Jazz Podium, 31/2 (Feb.1982), p. 19

Bernd Ogan: Peter Brötzmann Trio. Überraschende, unkalkulierbare Variationen und Spielarten, in: Jazz Podium, 31/5 (May 1982), p. 25

Peter Kostakis: Peter Brötzmann & Harry Miller & Louis Moholo – “Opened, But Hardly Touched” (FMP), in: Down Beat, 50/4 (Apr.1983), p. 30-32 (R)

Peter Brötzmann: Pieces for Reed-Instruments Solo, Berlin 1984 [sheet music: FMP/Free Music Production] (T)

H.D. Grünfeld: Interview mit Peter Brötzmann. Zu Kurz gekommen: die Klarinette, in: Jazz Podium, 33/11 (Nov.1984), p. 7-8 (I)

Steve Lake: Great Recordings. The Peter Brötzmann Octet – Machine Gun, in: The Wire, #13 (Mar.1985), p. 45 (F/R)

Bernd Ogan: Brötzmann/Hannes Bauer/Bennink (im Nürnberger Jazzstudio), in: Jazz Podium, 34/5 (May 1985), p. 19 (C)

D. Ilic: Peter Brötzmann – 14 Love Poems, in: The Wire, #23 (1986), p. 52 (R)

NN: Szene. Lärm pur von “Last Exit”, in: Der Spiegel, 19.May 1986, p. 185 (short F) [digi.copy]

Steve Lake: Last Exit. The Living End, in: The Wire, #29 (Jul.1986), p. 22-23, 25 (I with Peter Brötzmann, Bill Laswell, Ronald Shannon Jackson, Sonny Sharrock)

Werner Wenzel: Brötzmann – Harth. Offener Austausch, in: Jazz Podium, 35/8 (Aug.1986), p. 27 (C)

Ekkehard Jost: Sieben Wege, ins Freie zu gelangen. Peter Brötzmann: For Adolphe Sax [p. 99-102 (F/A)], Brötzmann – van Hove – Bennink [p. 121-134 (F/A)], in: Ekkehard Jost: Europas Jazz 1960-80, Frankfurt/Main 1987 [book]

Bill Shoemaker: Han Bennink & Peter Brötzmann. First Entrances and Last Exits, in: Down Beat, 54/1 (Jan.1987), p. 24-26 (F/I)

Bill Shoemaker: Peter Brötzmann & Bill Laswell – “Low Life” (Celluloid), in: Down Beat, 54/8 (Aug.1987), p. 40 (R)

Thomas Tang: Peter Brötzmann & Alfred Harth. Offener Austausch, in: Jazz Podium, 36/12 (Dec.1987), p. 31 (C) [digi.copy]

Michael Rüsenberg: Es ist nicht das Metall – Peter Brötzmann, in: Ekkehard Jost & Annette Hauber & Klaus Wolbert (Hgg.): That’s Jazz. Der Sound des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 1988 [book], p. 685-687 (I)

James Brinsfield: Peter Brötzmann – “Last Exit” (Enemy); “The Noise of Trouble” (Enemy), in: Down Beat, 55/1 (Jan.1988), p. 27-28 (R)

Edward Jarvis: Tyskfrijazz lever och har hälsan, in: Orkester Journalen, 56/4 (Apr.1988), p. 31-33 (R: several records on FMP)

Ulrich Stock: Peter und Caspar Brötzmann. Nie schön. Der Vater macht Free Jazz, der Sohn Rockmusik, in: Die Zeit, 12.Aug.1988 (F/I) [vert.file]

Thomas Tang: Floros Floridis Meets Peter Brötzmann & Paul Lytton. Energy- and Power-Play, in: Jazz Podium, 38/5 (May 1989), p. 34 (C)

Steve Lake: Backgrounds + Reviews. Last Exit – A Lexicon of Lightning, in: Day In Day Out, #4 (1990), p. 35-36 (F/I)

Michael Scheiner: Das Jazz-Portrait. Peter Brötzmann, in: Jazz Zeitung, 15/2 (Feb.1990), p. 2-3 (F/I)

John Fordham: Cabaret for Elephants, in: John Fordham: Shooting from the Hip. Changing Tunes in Jazz, London 1996 [book: Kyle Cathie Limited], p. 226-227 (C; Reprint, from: The Guardian, Oct.1990)

Ekkehard Jost: Free Jazz. Peter Brötzmann – “Machine Gun” (BRO 2), in: Barry Kernfeld (ed.): The Blackwell Guide to Recorded Jazz, Cambridge/MA 1991 [book: Basil Blackwell]¸p. 413-415 (R)

Thomas Mießgang: Peter Brötzmann, in: Thomas Mießgang: Semantics. Neue Musik im Gespräch, Hofheim 1991 [book], p. 61-66 (I)

Thomas Tang: Peter Brötzmann zum 50. Einen kleinen Auschnitt aus einem kleinen Leben erzählen, in: Jazz Podium, 40/3 (Mar.1991), p. 10-12 (I)

Markus Müller: Nachrichten aus der Wirklichkeit. Die ganze Wahrheit in zwei Akten, in: Jazzthetik, 5/5 (May 1991), p. 16-23 (I)

Bert Noglik: Danke und guten Weg. Peter Brötzmann zum 50., in: Neue Zeitschrift für Musik, 152/6 (Jun.1991), p. 30-35 (F/I)

Peter Erik Hillenbach: Familienkrach. Portrait: Brötzmann & Brötzmann, in: Zeitmagazin, 27.Mar.1992, p. 46-48, 52 (F/I)

Gérard Rouy: Jazz en direct. Peter Brötzmann, in: Jazz Magazine, #311 (Oct.1992), p. 6 (C)

Thomas Tang: Peter Brötzmann. Film-Portrait ist meine Sprache, in: Jazz Podium, 42/1 (Jan.1993), p. 29 (C)

John Corbett: Machine Gun Etiquette, in: The Wire, #108 (Feb.1993), p. 42-43, 46-47 (I) [digi.copy]

Gary Parker Chapin: Brötzmann / Van Hove / Bennink plus Albert Mangelsdorff – “Live in Berlin ’71” (FMP CD 34/35), in: Coda, #253 (Jan/Feb.1994), p. 25 (R) [digi.copy]

Manu Holterbach, Jérome Noetinger & Pascal Kobert: Peter Brötzmann, in: Revue & Corrigée, #22 (Dec.1994), p. 20-21 (I)

Bert Noglik: Peter Brötzmann Quartet, in: Jazzfest Berlin ’95, Berlin 1995 [program], p. 58-59 (F)

Gudrun Edel-Rösnes: Peter Brötzmann. När det låter runt, starkt och skönt – då tycker jag om det, in: Gränslöst, #1 (May 1995), p. 12-16 (I)

Peter Kemper: Behutsamer Berserker. Peter Brötzmann als unermüdlicher Prophet des freien Jazz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.Sep.1995 (F/C) [vert.cile]

Chema Chacón: Peter Brötzmann, in: Margen (Spain), #8 (Winter 1996/1997), p. 39 (F)

Wolfram Knauer: Emanzipation wovon? Zum Verhältnis des amerikanischen und des deutschen Jazz in den 50er und 60er Jahren, in: Wolfram Knauer (Hg.): Jazz in Deutschland, Hofheim 1996 [book], p. 141-157 (F)

Gérard Rouy: Peter Brötzmann. Le free explosif, in: Jazz Actuel, #3 (Apr.1996), p. 4-5 (I)

Ssirus W. Pakzad & Christian Stolberg: Könner an der Kanne, in: WOM Journal, Aug.1996, p. 40 (short F)

Franck Médioni & Alexandre Pierrepont & Gérard Rouy: Albert Ayler. Message reçu, in: Jazz Magazine, #462 (Sep.1996), p. 34 (short I über Albert Ayler)

Jörg Fischer: “Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann”. Zur stilistischen Entwicklung Han Benninks unter besonderer Berücksichtigung von Einflüssen aus den bildenden Künsten, Mainz 1997 [Examensarbeit], p. 30-31 (A: Brötzmann/van Hove/Bennink: “Balls”, 1970); p. 50-51 (A: Brötzmann/van Hove/Bennink); p. 54-61 (A: Das Spielen mit verschiedenen Idiomen bei Brötzmann/van Hove/Bennink); p. 70-71 (A: “Schwarzwaldfahrt”); passim (F)

Kouichi Ohshima: Peter Brötzmann Discography, Tokyo 1997 [book: Improvised Company] (D)

Gérard Rouy: Les tendres violences de Peter Brötzmann, in: Jazz Magazine, #470 (May 1997), p. 38-39 (I)

Marcello Lorrai: Peter Brötzmann vecchio ragazzo free, in: Musica Jazz, 53/7 (Jul.1997), p. 28-30, 32 (I)

Felix Klopotek: Peter Brötzmann. Saxophonsoloaufnahmen sind heute keine Besonderheiten mehr…, in: Jazzthetik, 11/9 (Sep.1997), p. 52-55 (F/I)

Adam Strider: Peter Brötzmann. Two Nights in New York City, in: Stridernews, #5 (Jul.1998), p. 6-7 (C)

Patrik Landolt: Peter Brötzmann. Genie des Dilettanten. Das große Donnern und der lange Nachhall, in: DU, Jul.1998, p. 70-72 (F)

Bruce Carnevale: Common Currencies. For European jazz musicians bent on freedom and independence, cultural exchange has led to a new definition of terms, in: Jazziz, 15/9 (Sep.1998), p. 116-117 (F/short I with Evan Parker, Peter Kowald, Peter Brötzmann)

Harald Hult: Öppna Öron. Peter Brötzmann, in: Gränslöst, 4/3 (Sep.1998), p. 36-38 (BT: George Lewis: Ice Cream”; Bose Wärmell: “The Golden View”; Don Cherry & Bernt Rosengren: “Brotherhood Suite II”; Anthony Dalgas: “Manes Begoglou”; Ethnic Heritage Ensemble: “Afro Slick”; David Ware: “Blues for a Change”; Lennie Tristano: “Ghost of a Chance”; John Russell & Roger Turner: “Romney Marsh”)

Wolf Kampmann: Peter Brötzmann Chicago Tentet, in: Jazz Fest Berlin ’99, Berlin 1999 [program booklet], p. 22-23 (F)

Bruce Carnevale: Auditions. Peter Brötzmann – “The Chicago Octet/Tentet” (Okla Disk), in: Jazziz, 16/1 (Jan.1999), p. 60 (F/R)

Reiner Kobe: Die Like a Dog Quartet – “Little Birds Have Fast Hearts” (FMP), in: Jazz Podium, 48/1 (Jan.1999), p. 68 (R)

Bob Rusch: Peter Brötzmann Review, in: Cadence, 25/2 (Feb.1999), p. 5-7 (I)

James Hale: Brötzmann 1998, in: Coda, #284 (Mar/Apr.1999), p. 12-14 (F/R)

Sam Prestianni: Peter Brötzmann’s Die Like a Dog Quartet – “Little Birds Have Fast Hearts, No. 1” (FMP), in: Jazziz, 16/3 (Mar.1999), p. 71 (R)

Steven A. Loewy: Peter Brötzmann Unmasked. Leader of the Pack, in: Coda, #284 (Mar/Apr.1999), p. 8-12 (F/I)

Ben Watson: Peter Brötzmann’s Die Like a Dog Quartet – “Little Birds Have Fast Hearts, Volume Two” (FMP), in: Jazziz, 16/7 (Jul.1999), p. 81, 83 (R)

Carina Prange: Peter Brötzmann. Wanderer dies- und jenseits der Grenzen, in: Jazz Podium, 48/10 (Oct.1999), p. 30-31 (I)

John Corbett: Machine Gunners. Evan Parker / Peter Brötzmann, in: Down Beat, 66/10 (Oct.1999), p. 40-44 (F/I); response, by Matt Banash, in: Down Beat, 66/12 (Dec.1999), p. 12 (letter)

Jon C. Morgan: Iron Lungs. After four decades of intense activity, Peter Brötzmann’s spirit is undiminished, in: The Wire, #188 (Oct.1999), p. 26-29 (F/I)

Klaus Mümpfer: Solokonzertreihe der Jazz-Fabrik Rüsselsheim mit Mangelsdorff, Schlippenbach, Brötzmann, in: Jazz Podium, 48/11 (Nov.1999), p. 40 (C)

Mark Greenaway: Peter Brötzmann. Nipples Out Again, in: Avant, #17 (fall 2000), p. 25 (F)

Mike Heffley: Northern Sun, Southern Moon. Identity, Improvisation, and Idiom in Freie Musik Produktion, Middletown/CT 2000 [PhD thesis: Wesleyan University], passim, especially p. 568-571, 583-584, 590-591, p. 676-721 (F/I), p. 1332-1334 (A: “Die Like a Dog”, p. 1335-1337 (A: “For Adolphe Sax”) [digi.copy]

Steve Kulak: Dying Like a Dog. Inside the mind of God: Sunday Morning, Frankfurt, with the Peter Brötzmann Quartet, in: Avant, #14 (Winter 2000), p. 6-9 (F)

Patrick Hughes: Peter Brötzmann’s Die Like a Dog Quartet featuring Roy Campbell – “From Valley to Valley” (Eremite), in: Jazziz, 17/3 (Mar.2000), p. 66-67 (R)

John Corbett: Freeways. A Tour Diary from the Improvised Road with the Peter Brötzmann Chicago Tentet Plus Two, in: Down Beat, 67/10 (Oct.2000), p. 36-39 (F)

Amiri Baraka: Peter Brötzmann Sextet & Quartet – “Nipples” (Unheard Music Series/Atavistic), in: Jazz Times, 30/10 (Dec.2000), p. 148 (R)

Jon Andrews: Peter Brötzmann Chicago Tentet – “Stone/Water” (Okadisk); Peter Brötzmann Sextet/Quartet – “Nipples” (UMS/ALP), in: Down Beat, 67/12 (Dec.2000), p. 76, 78 (R) [digi.copy]

Dan Warburton: On Location. Peter Brötzmann’s Chicago Tentet, Banlieue Bleue Festival, Paris, in: Signal to Noise, #22 (summer 2001), p. 39 (C)

Hannes Schweiger: Peter Brötzmann. Much to Say, in: Jazz Live, 131 (2001), p. 8 (F/I)

Serge Perrot: Peter Brötzmann, in: ImproJazz, #71 (Jan.2001), p. 4-5 (I)

Gérard Rouy: Peter Brötzmann, le colosse de Wuppertal, in: Jazz Magazine, #512 (Feb.2001), p. 24-25 (F/I)

Phil Freeman: Peter Brötzmann Group – “Fuck de Boere” (Atavistic), in: Jazziz, 18/8 (Aug.2001), p. 50 (R)

Andreas Felber: Peter Brötzmann. Teatime in Wuppertal, in: Jazzthetik, 15/11 (Nov.2001), p. 46-48, 50-51 (I) [xerox in vert.file]

Gérard Rouy: Peter Brötzmann, 60 ans saxophoniste, in: Jazz Magazine, #520 (Nov.2001), p. 34-35 (F/I)

Felix Klopotek: Peter Brötzmann, Gregor Hotz. One That Stood Alone, in: Felix Klopotek: How They Do It. Free Jazz, Improvisation und Niemandsmusik, Mainz 2002 [book: Ventil], p. 45-50 (F)

Klaus Mümpfer: Brötzmann-Sommer. Leidenschaftliche Verausgabung, in: Jazz Podium, 51/1 (Jan.2002), p. 43 (C)

Mitch Myers: Peter Brötzmann – “Fuvk de Boere” (Unheard Music/Atavistic); Haaz & Company – “Unlawful Noise” (Unheard Music/Atavistic), in: Down Beat, 69/1 (Jan.2002), p. 73 (R)

Andreas Felber: Der unbezähmbare Realo. Die kultige Sturheit des Peter Brötzmann, in: Jazz Zeit, #30 (Jul/Aug.2002), p. 8 (F/I)

Peter Margasak: Peter Brötzmann, in: Down Beat, 69/9 (Sep.2002), p. 17 (C)

Phil Freeman: Peter Brötzmann Trio – “For Adolphe Sax” (Atavistic), in: Jazziz, 19/10 (Oct.2002), p. 65 (R)

Marc Chénard: Brötzmann + 9 = Wild Nights at the Casa, Casa del Popolo, Montreal, in: Coda, #306 (Nov/Dec.2002), p. 27-28 (C)

Clifford Allen: Peter Brötzmann, in: All About Jazz, #13 (May 2003), p. 5, 17 (I)

Michael Rosenstein: Peter Brötzmann, Four CDs, in: Coda, #309 (May/Jun.2003), p. 23-24 (R)

Bill Shoemaker: Peter Brötzmann & William Parker & Hamid Drake – “Never Too Late but Always Too Early” (Eremite); Peter Brötzmann Die Like a Dog Quartet – “Aoyama Crows” (FMP); Peter Brötzmann Sextet/Quartet – “More Nipples” (Unheard Music Series/FMP Archive Edition), in: Jazz Times, 33/7 (Sep.2003), p. 108 (R)

Georg Kleinert: Peter Brötzmann Chicago Tentet, in: Jazzclub Magazin (Karlsruhe), 18/4 (Sep/Oct.2003), p. 7 (F: concert preview)

Jérôme Baboulène: Eric Dolphy. L’outrepasseur. La jazz dans la troisième dimension, in: Jazz Magazine, #552 (Oct.2004), p. 18-23 (F/short I with Peter Brötzmann, Denis Colin, Han Bennink, Mats Gustafsson, Joe McPhee, Misha Mengelberg, Evan Parker, Michel Portal, Louis Sclavis, Jef Sicard, Ken Vandermark, Otomo Yoshihide, Mike Zwerin)

Chris Kelsey: Peter Brötzmann Chicago Tentet – “Signs” (Okkadisk), in: Jazz Times, 34/10 (Dec.2004), p. 125-126 (R)

David Borgo: Sync or Swarm. Improvising Music in a Complex Age, New York 2005 [book: Continuum], passim (F/A)

Mike Heffley: Northern Sun / Southern Moon. Europe’s Reinvention of Jazz, New Haven 2005 [book: Yale University Press], passim; especially p. 137-145 (F: chapter “Peter Brötzmann (Improvisation)” [digi.copy]; “The ’68ers”); p. 265-266 (F/I: chapter “Peter Brötzmann”) [digi.copy]

Ralf Dombrowski: Basis-Diskothek Jazz, Stuttgart 2005 [book: Reclam], p. 31-32 (R: “Machine Gun”, FMP); reprint, in: Ralf Dombrowski: Basis-Diskothek Jazz, Stuttgart 4/2011 [book: Reclam], p. 35-36 (R)

Thomas Loewner: Peter Brötzmann, in: Peter Niklas Wilson (ed.): Jazz Klassiker, Stuttgart 2005 [book: Reclam], p. 659-666 (F)

Ulfert Goeman: Trio Sonore. Überzeugt mit freiem Spiel, in: Jazz Podium, 54/4 (Apr.2005), p. 40 (C)

Christian Broecking: Peter Brötzmann. Harte Arbeit Free Jazz, in: Jazz Thing, #61 (Nov/Jan.2005/2006), p. 78-79 (F/I)

E. Dieter Fränzel & Dietrich Rauschtenberger: Peter Brötzmann. “Wir hatten den Willen, so weit wie möglich zu gehen”, in: E. Dieter Fränzel & JAZZ AGe Wuppertal (eds.): sounds like whoopataal. Wuppertal in der Welt des Jazz, Essen 2006 [book: Klartext], p. 171-181 (I)

E. Dieter Fränzel & Heiner Bontrup: Peter Brötzmann, der Free Jazz und der Zeitgeist, in: E. Dieter Fränzel & JAZZ AGe Wuppertal (eds.): sounds like whoopataal. Wuppertal in der Welt des Jazz, Essen 2006 [book: Klartext], passim; especially p. 168-170 (F)

E. Dieter Fränzel & JAZZ AGe Wuppertal (eds.): sounds like whoopataal. Wuppertal in der Welt des Jazz, Essen 2006 [book: Klartext], passim (F)

Lloyd Peterson: Music and the Creative Spirit. Innovators in Jazz, Improvisation, and the Avant-Garde, Lanham/Md 2006 [book: Scarecrow Press], p. 29-33, 43-55 (I)

Hans-Jürgen von Osterhausen: Musik und Bildende Kunst. Gemeinschaftsausstellung Peter Brötzmann / Han Bennink im Remscheid, in: Jazz Zeitung, 31/3 (Mar.2006), p. 4 (F)

Adam Olschewski: Poesie ist in Musik verwandelte Sprache. Freejazz-Veteran Peter Brötzmann hat sich mit dem Chicago Tentet dem Beatnik Kenneth Patchen zugewandt. Ein kleines Update über Jazz und Lyrik und ihre verschiedenen Annäherungen, in: Frankfurter Rundschau, 20.Apr.2006 (F) [vert.file] [digi.copy]

Andreas Fellinger: Live! Gemütlichkeit unerwünscht. Peter Brötzmann Tentett, Alter Schlachthof Wels, in: FreiStil, #9 (Aug.2006), p. 11 (C)

Leif Wigh: På scen. Tre imponerande improvisatörer. Sonore, Ugglan, Stockholm, in: Orkester Journalen, 74/10 (Oct.2006), p. 22 (C)

Scott Verrastro: Peter Brötzmann Group – “Alarm” (Atavistic), in: Jazz Times, 37/1 (Feb.2007), p. 132 (R)

Thierry Lepin: Peter Brötzmann, l’insurgé, in: Jazzman, #138 (Sep.2007), p. 30-32 (F/I)

Christian Broecking: Wer auftreten will, muss Geld mitbringen. Peter Brötzmann im Gespräch über das Berliner Jazzfest, Exportsubventionen und seine Musik, in: Berliner Zeitung, 29.Oct.2007, p. 33 (F/I) [digi.copy]

Bill Meyer: Peter Brötzmann Chicago Tentet – “American Landscapes 1” (Okka Disk 12067); “American Landscapes 2” (Okka Disk 12068), in: Down Beat, 74/10 (Oct.2007), p. 82 (R: 3 1/2 stars; 4 stars)

Howard Reich: Brotzmann ignites fellow tentet players, in: Chicago Tribune, 3.Dec.2007 (C) [digi.copy]

Michael Jackson: Caught. Ten-Year Brötzmann Tentet Takes Chicago by Storm, in: Down Beat, 75/3 (Mar.2008), p. 22-23 (C) [digi.copy]

NN: Peter Brötzmann / Pal Nilssen – “Love”; Mats Gustafsson – “The Fat Is Gone” (Smalltown Superjazz), in: Eartrip, #1 (Mar.2008), p. 72-74 (R) [digi.copy]

Anders Lindén: Brötzmann Brölar, in: Orkester Journalen, 76/5 (Oct/Nov.2008), p. 26-27 (poem)

“swm”: Wie ein einziger kollektiver Urschrei. Enjoy Jazz: Debüt von Saxofonist Peter Brötzmanns Sextett Full Blast in der Alten Feuerwache, in: Mannheimer Morgen, 8.Nov.2008 (C) [digi.copy]

Daniel Spicer: Master Blaster. Until you’ve heard saxophonist Peter Brötzmann in the flesh you only can gain a partial sense of the primeval sound and sheer power of the free jazz German pioneer through listening to him on CD. For those who haven’t heard him live already, this month you’ll get the chance at the London Jazz Festival. Daniel Spicer talks to him about his motivations for playing the way he does and looks back at his seminal album ‘Machine Gun’ 40 years ago, in: Jazzwise, #125 (Nov.2008), p. 30-32 (F/I)

Hans-Jürgen Linke: Das Rudel. Peter Brötzmanns Full Blast in Mannheim, in: Frankfurter Rundschau, 8.Nov.2008 (C) [digi.copy]

Maxi Sickert: Was bleibt, sind die Bilder. Wertmüller, Brötzmann und Haino spielten im Quasimodo ihre Mitmusiker an die Wand, in: die tageszeitung, 8.Nov.2008 (C) [digi.copy]

Amiri Baraka: Digging. The Afro-American Soul of American Classical Music, Berkeley 2009 [book: University of California Press], p. 398-400 (F/R: chapter “Peter Brötzmann, ‘Nipples’, and Joe McPhee, ‘Nation Time'”)

Andrew Wright Hurley: The Return of Jazz. Joachim-Ernst Berendt and West German cultural change, New York 2009 [book: Berghahn Books], passim; especially p. 118-121 (F: chapter “Peter Brötzmann and the “Kaputtspiel” (Playing Things to Pieces)” / “‘Machine Gun’, Free Jazz, and Politics”)

Erik van den Berg: Han Bennink. De wereld als trommel, Amsterdam 2009 [book: Uitgeverij Thomas Rap], passim (F/I)

NN: Peter Brötzmann – “Berg- und Talfahrt. A Night in Sana’a” (ARM 02), in: [CD info], Nov.2009 (F) [digi.copy]

Uli Armbruster: Peter Brötzmann – “Berg- und Talfahrt / A Night in Sana’a / Live at ‘Deutsches Haus'” (ARM 02), in: [CD flyer], Nov.2009 (F) [digi.copy]

Galerie Epikur (ed.): Brötzmann. Arbeiten 1959-2010, Wuppertal 2011 [book: Galerie Epikur], passim (F/art work) [digi.copy]

Harald Kisiedu: “European Freedom”. Zum Verhältnis von Musik und Politik bei Peter Brötzmann, in: Wolfram Knauer (ed.): Albert Mangelsdorff. Tension / Spannung, Hofheim 2010 [book: Wolke Verlag], p. 141-155 (F) [digi.copy]

John Corbett: Chicago, Januar 2011 / January 2011, in: Galerie Epikur (ed.): Brötzmann. Arbeiten 1959-2010, Wuppertal 2011 [book: Galerie Epikur], p. 14-15 (F) [digi.copy]

Jürgen Arndt: Misha Mengelberg und Peter Brötzmann in improvisatorischen Dialogen zwischen Europa und den USA, in: Jazzforschung/jazz research, #42 (2010), p. 33-58 (F)

Marcello Lorrai: William Parker. Conversazioni sul jazz, Milano 2010 [book: Auditorium], passim (F)

Mike Pearson: Cardiff, Dezember 2010 / December 2010, in: Galerie Epikur (ed.): Brötzmann. Arbeiten 1959-2010, Wuppertal 2011 [book: Galerie Epikur], p. 16-17 (F) [digi.copy]

Peter Brötzmann: Personal Statement, in: Jost Gebers (ed.): FMP. Im Rückblick – In Retrospect. 1969-2010, Berlin/Wuppertal 2010 [book: FMP-Publishing], p. 11-16 (“I”/photos)

Ralf Dombrowski: Portrait Saxofon. Kultur, Praxis, Repertoire, Interpreten, Kassel 2010 [book: Bärenreiter], p. 51-52 (F: chapter “Stimmen Europas. Von Peter Brötzmann bis Jan Garbarek”); p. 99-100 (F: chapter “Peter Brötzmann. For Adolphe Sax”)

Susanne Buckesfeld: Die Kunst von Peter Brötzmann, in: Galerie Epikur (ed.): Brötzmann. Arbeiten 1959-2010, Wuppertal 2011 [book: Galerie Epikur], p. 9-11 (F); englisch translation as: The Art of Peter Brötzmann, in: Galerie Epikur (ed.): Brötzmann. Arbeiten 1959-2010, Wuppertal 2011 [book: Galerie Epikur], p. 12-13 (F) [digi.copy]

Dan Rule: No artificial ingredients. Jazz. In his playing as in his art, saxophonist and visual artist Peter Brotzmann is cutting through the claptrap, in: The Age (Melbourne), 1.May 2010, p. 21 (F/I: about his graphic work) [digi.copy]

NN: Hairy Bones, in: Sandra Costantini (ed.): Crossroads. Jazz e altro in Emilia Romagna, Italy, 27.Feb.2010 – 23.May 2010 [festival booklet], p. 22 (F: concert preview) [digi.copy]

Brent Burton: Peter Brötzmann – “Lost & Found” (FMP), in: Jazz Times, 40/2 (Mar.2010), p. 52-53 (R)

Bill Meyer: Sonore – “Call Before You Dig” (Okka Disk 12083), in: Down Beat, 77/4 (Apr.2010), p. 52 (R: 3 1/2 stars) [digi.copy]

Daniel Spicer: On Location. Peter Brötzmann, Café Oto, London, in: The Wire, #314 (Apr.2010), p. 81 (C)

John Fordham: 50 great moments in jazz. Peter Bröttmann’s Machine Gun. A trailblazing piece of free jazz that arrived in the revolutionary year of 1968 – and later found a fan in Bill Clinton, in: The Guardian, 22.Nov.2010 (F) [digi.copy]

Uli Kurth: The 4th Quarter of the Triad. Tony Oxley. Fünf Jahrzehnte improvisierter Musik, Hofheim 2011 [book: Wolke], passim, especially p. 159-162 (F)

Wolfram Knauer: Der europäische Free Jazz, in: Helga de la Motte-Haber & Lydia Rilling & Julia H. Schröder (Eds.): Dokumente zur Musik des 20. Jahrhunderts, Teil 2, Laaber 2011 [book: Laaber], p. 118-119 (F: about Rainer Blome’s “Ein neues Gesicht im Jazz. Peter Brötzmann”)

Julian Weber: Sie nennen ihn Machine Gun. Ausnahmemusiker. Er ist der radikalste Vertreter des Free Jazz – der Saxofonist Peter Brötzmann feiert seinen 70sten, in: die tageszeitung (TAZ), 5.Feb.2011 (F/I) [digi.copy]

Volker Lüke: Nicht mehr alle Tassen im Schrank. Peter Brötzmann im HAU, in: Der Tagesspiegel (Berlin), 9.Feb.2011 (C) [digi.copy]

Valeska von Dolega: Peter Brötzmann. Geburtstag eines Grenzgängers, in: Westdeutsche Zeitung, 4.Feb.2011 (F) [digi.copy]

Markus Schneider: Die Teutonische Axt. Dem großen Free-Jazz-Saxofonisten Peter Brötzmann zum 70. Geburtstag, in: Berliner Zeitung, 5./6.Mar.2011 (F) [digi.copy]

NN: Jazz-Musiker Brötzmann stellt seine Bilder aus, in: Westdeutsche Zeitung, 10.Apr.2011 (short F) [digi.copy]

NN: “Rage!” Un film de Bernard Josse en collaboration avec Gérard Rouy, in: [film info], 30.Apr.2011 (F) [digi.copy]

Alain Brunet: Peter Brötzmann. Un demi-siècle d’improvisation libre, in: , 21.May 2011 (F/I) [digi.copy]

Steven Lafortune: Le jazz expérimental en péril selon Peter Brötzmann, in: La Nouvelle Union (Canada), 21.May 2011 (F/I) [digi.copy]

Nate Chinen: A Kind of Orthodoxy Built on Improvisation, in: New York Times, 9.Jun.2011 (C) [digi.copy]

Valeska von Dolega: Ein Film über Peter Brötzmann. Die leisen Töne der Jazz-Ikone, in: Westdeutsche Zeitung, 16.Jun.2011 (F/I/Film-R: “Brötzmann”) [digi.copy]

Anders Lindén: Brötzmann brölar, in: Orkester Journalen, 79/3 (Jun/Aug.2011), p. 14-15 (poem)

Christian Broecking: Jazzpreis. Er hat wieder gebrötzt, in: Berliner Zeitung, 20.Sep.2011 (F) [digi.copy]

Dan Warburton: Soldier on the Road. Brötz on Film, in: The Wire, #331 (Sep.2011), p. 10 (Film-R) [digi.copy]

Ted Panken: Caught. Vision Fest Brings Brötzmann, New Combos Into Sight, in: Down Beat, 78/9 (Sep.2011), p. 17 (C) [digi.copy]

Gudrun Endress: Peter Brötzmann. Glauben an das, was man tut, in: Jazz Podium, 60/10 (Oct.2011), p. 3-4, 6, 8-9 (I) [digi.copy]

NN: Long Story Short. Brötzmann, in: [festival program], Wels, Austria, 3.-6.Nov.2011 (F) [digi.copy]

“pd” & Peewee Windmüller: Albert-Mangelsdorff-Preis (Deutscher Jazzpreis) 2011 an Peter Brötzmann, in: Jazz ‘n’ More, Nov/Dec.2011, p. 4 (short F)

Andreas Felber: Einen Peter Brötzmann braucht die Welt! Music Unlimited feierte Peter Brötzmann und sich selbst. Die Welser Dezibel-Festspiele gerieten Anfang November 2011 zum denkwürdigen Ereignis, in: Concerto, Dec/Jan.2011/2012, p. 36 (F)

Christoph J. Bauer: Brötzmann. Gespräche, Berlin 2012 [book: Posth Verlag], passim (“I”)

Josef Woodard: Peter Brötzmann. Perpetually Seeking Freedom, in: Down Beat, 79/1 (Jan.2012), p. 40-42, 44-45 (F/I with Peter Brötzmann, Evan Parker, Ken Vandermark, Peer Nilssen-Love) [digi.copy]

Wolfram Knauer & Dieter Mack & Klaus Walter & Armin Köhler: Zitat und Transkulturalität. Beispiele aus der Sicht des Beirats Musik, in: [Goethe-Institut, Protokoll], 4.Mar.2012 (F: Peter Brötzmann – Berg- und Talfahrt: A Night in Sana’a: Live) [digi.copy] {confidential; internal use only}

Shaun Brady: Full Blast & Friends – “Sketches and Ballads” (Trost), in: Jazz Times, 42/3 (Apr.2012), p. 60-61 (R)

Ben Ratliff: Generations United for Improvisation, Refined but Violent. Peter Brötzmann and Jason Adasiewicz at Le Poisson Rouge, in: new York Times, 6.Sep.2012 (C) [digi.copy]

Wolf Kampmann: Mauerpark. Fluchtpunkte. Kraftvoll interurban, in: Jazz Thing, #95 (Sep/Oct.2012), p. 27 (C)

Andrey Henkin: New York at Night. Peter Brötzmann & Jason Adasiewicz, in: New York City Jazz Record, #126 (Oct.2012), p. 5 (C) [digi.copy]

Jacek Slaski: Ein herrliches Gebrüll! Peter Prötzmann im Hau 2. Eine symbolträchtige Entscheidung. Peter Brötzmann, 71, Träger des Deutschen Jazzpreises, spielte mit seinem Chicago Tentet einen Tag nach dem Ende des diesjährigen Jazzfests, in: Frankfurter Rundschau, 6.Nov.2012 (C) [digi.copy]

Jacek Slaski: Ein herrliches Gebrüll! Peter Prötzmann mit seinem Chicago tentet im Hau 2, in: Berliner Zeitung, 7.Nov.2012 (C) [digi.copy]

Alain Drouot: Peter Brötzmann – “Solo + Trio Roma” (Victo 122/123), in: Down Beat, 79/11 (Nov.2012), p. 65 (R: 4 stars) [digi.copy]

Daniel Spicer: The Primner. In the second part of our Peter Brötzmann special, Daniel Spicer provides a user’s guide to the veteran saxophonist’s crucial recordings, in: The Wire, #345 (Nov.2012), p. 46-52 (F) [digi.copy]

Daniel Spicer: The Visual Primer. A guide to the art of Peter Brötzmann, in: The Wire, #345 (Nov.2012), p. 53 (F) [digi.copy]

David Keenan: Last Man Standing. Peter Brötzmann is a legend in his own lifetime – at the age of 71 he remains one of the most uncompromising and catalytic figures in Europe’s postwar free music avant garde. In the forst of a two part special, David Keenan meets the saxophonist and visual artist at his home in Wuppertal to hear about some of the forces and experiences that have shaped his total synthesis of life, music and art over more than four decades, in: The Wire, #345 (Nov.2012), p. 38-45 (F/I) [digi.copy]

Willy Theobald: Culture Club. Ist Free Jazz heilbar? Was soll das Theater, wo spielt die Musik? Unser Experte weist den Weg durch den Kulturbetrieb der nächsten Woche. Diesmal: Die Free-Jazz-Legende Peter Brötzmann, in: Financial Times Deutschland, 3.Dec.2012 (F) [digi.copy]

Henrik Günther: Peter Brötzmann: “Wir sind dabei, einzuschlafen”. Der Jazz-Musiker stellte im Café Ada an der Wiesenstraße sein neues Buch vor, in: Westdeutsche Zeitung, 16.Dec.2012 (F/I) [digi.copy]

David Keenan: Last Man Still Standing. We so enjoyed David Keenan’s interview with peter Brötzmann in last month’s issue, that when we found out he had extracted it from a 35,000 word transcript, we asked him to write up part two from the best of the outtakes, in: The Wire, #346 (Dec.2012), p. 32-37 (F/I) [digi.copy]

Daniel Spicer: After the storm – Peter Brötzmann calls time on Chicago Tentet, in: Jazzwise, #172 (Mar.2013), p. 8 (F/I: announces end of tentet) [digi.copy]

Daniel Spicer: Brötzmann / Edwards / Noble, The Green Door Store, Brighton, in: Jazzwise, #172 (Mar.2013), p. 58 (C) [digi.copy]

Jürg Solothurnmann: “Es gibt keine Freundlichkeiten, es gibt nur Musik.” Jürg Solothurnmann über das neue Buch “Brötzmann – Gespräche” von Christoph J. Bauer und Peter Brötzmann, in: Jazz ‘n’ More, Mar/Apr.2013, p. 28 (B) [digi.copy]

Mats Guistafsson: Vaxdax. I örat på en discaholic, in: Orkester Journalen, 81/2 (Apr/May 2013), p. 46-47 (F: early FMP releases)

Peter Margasak: Peter Brötzmann Creates Strong Global Legacy. “Long Story Short” (Trost 112); “Boneshaper” (Trost 113); Exit!” (Rune Grammofon 2138); “Provoke” (Clean Feed 273), in: Down Beat, 80/5 (May 2013), p. 51 (R: 4 1/2 stars; 4 stars; 4 stars; 4 stars) [digi.copy]

Steve Greenlee: “Long Story Short. Curated by Peter Brötzmann”, in: Jazz Times, 43/4 (May 2013), p. 70 (R)

Simon Leth Stolzenbach: Peter Brötzmann. Skamfuld saxofon fra Tyskland, in: Jazz Special, #133 (Jun/Jul.2013), p. 84-87 (F/I)

Olaf Maikopf: Peter Brötzmann Jubiläum in Wels 2011, in: Jazzthetik, 27/7-8 (Jul/Aug.2013), p. 75 (F/R) [digi.copy]

Olivier Ledure: Peter Brötzmann. Un instant chaviré, Montreuil, in: ImproJazz, #200 (Nov/Dec.2013), p. 47-48 (C)

Michael Jackson: Brötzmann / Noble – “I Am Here Where Are You” (Trost 122), in: Down Beat, 80/12 (Dec.2013), p. 85 (R: 4 stars) [digi.copy]

Oliver Augst: Ab Goldap. Rüdiger Carl im Gespräch mit Oliver Augst, Frankfurt/Main 2014 [book: weissbooks], passim (F) [digi.copy]

Peter Brötzmann & Gérard Rouy: We Thought We Could Change the World. Conversations with Gérard Rouy, Hofheim 2014 [book: Wolke Verlag], passim (“I”)

Rainer Bratfisch: Jazz in Berlin, Berlin 2014 [book: Nicolai Verlag], passim (F)

Reiner Kobe: “Brötzmann Conversations with Gérard Rouy. We Thought We Could Change the World”, in: Jazz Podium, 67/6 (Jun.2014), p. 60 (B) [digi.copy]

Ted Panken: The 80 Coolest Things in Jazz Today. Global Jazz. Peter Brötzmann, in: Down Beat, 81/7 (Jul.2014), p. 50 (short F) [digi.copy]

Example for a Jazz Index on Peter Brötzmann

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Jazz Index – created on 13. August 2014

The following bibliographical information is drawn from periodicals and books present in the archive of the Jazzinstitut Darmstadt. Our extensive periodical collection comprises more than 55,000 issues of some 1,050 jazz periodicals. Close to two-thirds of the collection has been indexed.

Following the more recent entries are abbreviations denoting the nature of the material in the respective articles. These symbols are:

[A] = analytical remarks
[B] = extensive book review
[BT] = blindfold test
[C] = concert review
[D] = discography
[F] = feature article
[I] = interview
[“I”] = article written by the respective musician himself
[N] = (very short) news item
[O] = obituary
[R] = extensive record review
[T] = transcription

The Jazz Index is a service of the…

Jazzinstitut Darmstadt, Bessunger Strasse 88d, D-64285 Darmstadt, Germany
phone ++49 (6151) 963740, fax ++49 (6151) 963744

This bibliography has been compiled and mailed by … Jazzinstitut Darmstadt,
e-mail: jazz@jazzinstitut.de, Internet: www.jazzinstitut.de

Brötzmann, Peter (ts * b: 6.Mar.1941, Remscheid/Germany; Lexikon: Feather [1976,1999]; Companion [1987]; New Grove [1988,2001]; rororo [1988]; Reclam [1989]; Dictionnaire [1988,1995]; MusicHound [1999]; Rough Guide [1999,2000]; Wölfer [2008]; vertical file: Peter BRÖTZMANN [1986-1987,1992-1995,1999,2002,2006])

***

J.-M. Fehlhaber: Das Peter Brötzmann Trio in Aachen, in: Sounds, 1/1966-67, p. 25-26 (C)

Rainer Blome: Ein neues Gesicht im Jazz. Peter Brötzmann, in: Jazz Podium, 125/8 (Aug.1966), p. 216 (F/I) [digi.copy]

Rainer Blome: Peter Brötzmann – Do It Yourself / Peter Brötzmann Trio, in: Sounds, 4/1967, p. 33-34 (R)

Manfred Miller: Irene Schweizer / Peter Brötzmann. Deserving of wider recognition, in: Jazz Podium, 16/3 (Mar.1967), p. 86-87 (F) [digi.copy]

NN: Jazz in Deutschland 1967. Die Musiker. Peter Brötzmann Trio, in: Jazz Podium, 16/3 (Mar.1967), p. 66 (F) [digi.copy]

NN: Free Jazz – Pop Jazz. Jazz – unverständlich oder populär? Klaus Doldinger und sein Quartett, Vertreter des modernen Jazz und Peter Brötzmann und sein Trio, exponierte freejazzer, liefern sich musikalisch und in der Diskussion eine harte Auseinandersetzung, in: [WDR archive, call slip], 12.May 1967 (call slip; no further information; video not available at the Jazzinstitut) [digi.copy]

Keith Knox: Peter Brötzmann, in: Jazz Monthly, #155 (Jan.1968), p. 15 (F)

Siegfried Schmidt-Joos: “Weil viele Dinge geändert werden müssen.” Ein Interview mit Peter Brötzmann, in: Jazz Podium, 17/4 (Apr.1968), p. 128-129 (I) [digi.copy]

NN: Wohlklang nein. “Machine Gun” (Brötzmann 2), in: Der Spiegel, 10.Sep.1968, p. 195 (R) [digi.copy]

Manfred Miller: Peter Brötzmann, in: Sounds, #8 (Sep.1968), p. 16-17 (F)

H.D. Schelte: Peter Brötzmann und die Jazzkritik, Köln 1969 [book: Sounds], passim (F/A: “Machine Gun”) [digi.copy]

Günther Eichler: Zwischen Klarheit und Chaos. Konstruktivismus und Free Jazz im Darmstädter Studentenkeller, in: Darmstädter Echo, 6.May 1969 (C: Peter Brötzmann, Fred van Howe, Peter Kowald, Sven Ake Johansson) [digi.copy]

NN: “Brötzmann kommt”, in: [concert info], Darmstadt, 19.Jun.1969 (short F) [digi.copy]

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Bernd Ogan: Peter Brötzmann Trio. Überraschende, unkalkulierbare Variationen und Spielarten, in: Jazz Podium, 31/5 (May 1982), p. 25

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Franck Médioni & Alexandre Pierrepont & Gérard Rouy: Albert Ayler. Message reçu, in: Jazz Magazine, #462 (Sep.1996), p. 34 (short I über Albert Ayler)

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Kouichi Ohshima: Peter Brötzmann Discography, Tokyo 1997 [book: Improvised Company] (D)

Gérard Rouy: Les tendres violences de Peter Brötzmann, in: Jazz Magazine, #470 (May 1997), p. 38-39 (I)

Marcello Lorrai: Peter Brötzmann vecchio ragazzo free, in: Musica Jazz, 53/7 (Jul.1997), p. 28-30, 32 (I)

Felix Klopotek: Peter Brötzmann. Saxophonsoloaufnahmen sind heute keine Besonderheiten mehr…, in: Jazzthetik, 11/9 (Sep.1997), p. 52-55 (F/I)

Adam Strider: Peter Brötzmann. Two Nights in New York City, in: Stridernews, #5 (Jul.1998), p. 6-7 (C)

Patrik Landolt: Peter Brötzmann. Genie des Dilettanten. Das große Donnern und der lange Nachhall, in: DU, Jul.1998, p. 70-72 (F)

Bruce Carnevale: Common Currencies. For European jazz musicians bent on freedom and independence, cultural exchange has led to a new definition of terms, in: Jazziz, 15/9 (Sep.1998), p. 116-117 (F/short I with Evan Parker, Peter Kowald, Peter Brötzmann)

Harald Hult: Öppna Öron. Peter Brötzmann, in: Gränslöst, 4/3 (Sep.1998), p. 36-38 (BT: George Lewis: Ice Cream”; Bose Wärmell: “The Golden View”; Don Cherry & Bernt Rosengren: “Brotherhood Suite II”; Anthony Dalgas: “Manes Begoglou”; Ethnic Heritage Ensemble: “Afro Slick”; David Ware: “Blues for a Change”; Lennie Tristano: “Ghost of a Chance”; John Russell & Roger Turner: “Romney Marsh”)

Wolf Kampmann: Peter Brötzmann Chicago Tentet, in: Jazz Fest Berlin ’99, Berlin 1999 [program booklet], p. 22-23 (F)

Bruce Carnevale: Auditions. Peter Brötzmann – “The Chicago Octet/Tentet” (Okla Disk), in: Jazziz, 16/1 (Jan.1999), p. 60 (F/R)

Reiner Kobe: Die Like a Dog Quartet – “Little Birds Have Fast Hearts” (FMP), in: Jazz Podium, 48/1 (Jan.1999), p. 68 (R)

Bob Rusch: Peter Brötzmann Review, in: Cadence, 25/2 (Feb.1999), p. 5-7 (I)

James Hale: Brötzmann 1998, in: Coda, #284 (Mar/Apr.1999), p. 12-14 (F/R)

Sam Prestianni: Peter Brötzmann’s Die Like a Dog Quartet – “Little Birds Have Fast Hearts, No. 1” (FMP), in: Jazziz, 16/3 (Mar.1999), p. 71 (R)

Steven A. Loewy: Peter Brötzmann Unmasked. Leader of the Pack, in: Coda, #284 (Mar/Apr.1999), p. 8-12 (F/I)

Ben Watson: Peter Brötzmann’s Die Like a Dog Quartet – “Little Birds Have Fast Hearts, Volume Two” (FMP), in: Jazziz, 16/7 (Jul.1999), p. 81, 83 (R)

Carina Prange: Peter Brötzmann. Wanderer dies- und jenseits der Grenzen, in: Jazz Podium, 48/10 (Oct.1999), p. 30-31 (I)

John Corbett: Machine Gunners. Evan Parker / Peter Brötzmann, in: Down Beat, 66/10 (Oct.1999), p. 40-44 (F/I); response, by Matt Banash, in: Down Beat, 66/12 (Dec.1999), p. 12 (letter)

Jon C. Morgan: Iron Lungs. After four decades of intense activity, Peter Brötzmann’s spirit is undiminished, in: The Wire, #188 (Oct.1999), p. 26-29 (F/I)

Klaus Mümpfer: Solokonzertreihe der Jazz-Fabrik Rüsselsheim mit Mangelsdorff, Schlippenbach, Brötzmann, in: Jazz Podium, 48/11 (Nov.1999), p. 40 (C)

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Gérard Rouy: Peter Brötzmann, 60 ans saxophoniste, in: Jazz Magazine, #520 (Nov.2001), p. 34-35 (F/I)

Felix Klopotek: Peter Brötzmann, Gregor Hotz. One That Stood Alone, in: Felix Klopotek: How They Do It. Free Jazz, Improvisation und Niemandsmusik, Mainz 2002 [book: Ventil], p. 45-50 (F)

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Mitch Myers: Peter Brötzmann – “Fuvk de Boere” (Unheard Music/Atavistic); Haaz & Company – “Unlawful Noise” (Unheard Music/Atavistic), in: Down Beat, 69/1 (Jan.2002), p. 73 (R)

Andreas Felber: Der unbezähmbare Realo. Die kultige Sturheit des Peter Brötzmann, in: Jazz Zeit, #30 (Jul/Aug.2002), p. 8 (F/I)

Peter Margasak: Peter Brötzmann, in: Down Beat, 69/9 (Sep.2002), p. 17 (C)

Phil Freeman: Peter Brötzmann Trio – “For Adolphe Sax” (Atavistic), in: Jazziz, 19/10 (Oct.2002), p. 65 (R)

Marc Chénard: Brötzmann + 9 = Wild Nights at the Casa, Casa del Popolo, Montreal, in: Coda, #306 (Nov/Dec.2002), p. 27-28 (C)

Clifford Allen: Peter Brötzmann, in: All About Jazz, #13 (May 2003), p. 5, 17 (I)

Michael Rosenstein: Peter Brötzmann, Four CDs, in: Coda, #309 (May/Jun.2003), p. 23-24 (R)

Bill Shoemaker: Peter Brötzmann & William Parker & Hamid Drake – “Never Too Late but Always Too Early” (Eremite); Peter Brötzmann Die Like a Dog Quartet – “Aoyama Crows” (FMP); Peter Brötzmann Sextet/Quartet – “More Nipples” (Unheard Music Series/FMP Archive Edition), in: Jazz Times, 33/7 (Sep.2003), p. 108 (R)

Georg Kleinert: Peter Brötzmann Chicago Tentet, in: Jazzclub Magazin (Karlsruhe), 18/4 (Sep/Oct.2003), p. 7 (F: concert preview)

Jérôme Baboulène: Eric Dolphy. L’outrepasseur. La jazz dans la troisième dimension, in: Jazz Magazine, #552 (Oct.2004), p. 18-23 (F/short I with Peter Brötzmann, Denis Colin, Han Bennink, Mats Gustafsson, Joe McPhee, Misha Mengelberg, Evan Parker, Michel Portal, Louis Sclavis, Jef Sicard, Ken Vandermark, Otomo Yoshihide, Mike Zwerin)

Chris Kelsey: Peter Brötzmann Chicago Tentet – “Signs” (Okkadisk), in: Jazz Times, 34/10 (Dec.2004), p. 125-126 (R)

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Mike Heffley: Northern Sun / Southern Moon. Europe’s Reinvention of Jazz, New Haven 2005 [book: Yale University Press], passim; especially p. 137-145 (F: chapter “Peter Brötzmann (Improvisation)” [digi.copy]; “The ’68ers”); p. 265-266 (F/I: chapter “Peter Brötzmann”) [digi.copy]

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Thomas Loewner: Peter Brötzmann, in: Peter Niklas Wilson (ed.): Jazz Klassiker, Stuttgart 2005 [book: Reclam], p. 659-666 (F)

Ulfert Goeman: Trio Sonore. Überzeugt mit freiem Spiel, in: Jazz Podium, 54/4 (Apr.2005), p. 40 (C)

Christian Broecking: Peter Brötzmann. Harte Arbeit Free Jazz, in: Jazz Thing, #61 (Nov/Jan.2005/2006), p. 78-79 (F/I)

E. Dieter Fränzel & Dietrich Rauschtenberger: Peter Brötzmann. “Wir hatten den Willen, so weit wie möglich zu gehen”, in: E. Dieter Fränzel & JAZZ AGe Wuppertal (eds.): sounds like whoopataal. Wuppertal in der Welt des Jazz, Essen 2006 [book: Klartext], p. 171-181 (I)

E. Dieter Fränzel & Heiner Bontrup: Peter Brötzmann, der Free Jazz und der Zeitgeist, in: E. Dieter Fränzel & JAZZ AGe Wuppertal (eds.): sounds like whoopataal. Wuppertal in der Welt des Jazz, Essen 2006 [book: Klartext], passim; especially p. 168-170 (F)

E. Dieter Fränzel & JAZZ AGe Wuppertal (eds.): sounds like whoopataal. Wuppertal in der Welt des Jazz, Essen 2006 [book: Klartext], passim (F)

Lloyd Peterson: Music and the Creative Spirit. Innovators in Jazz, Improvisation, and the Avant-Garde, Lanham/Md 2006 [book: Scarecrow Press], p. 29-33, 43-55 (I)

Hans-Jürgen von Osterhausen: Musik und Bildende Kunst. Gemeinschaftsausstellung Peter Brötzmann / Han Bennink im Remscheid, in: Jazz Zeitung, 31/3 (Mar.2006), p. 4 (F)

Adam Olschewski: Poesie ist in Musik verwandelte Sprache. Freejazz-Veteran Peter Brötzmann hat sich mit dem Chicago Tentet dem Beatnik Kenneth Patchen zugewandt. Ein kleines Update über Jazz und Lyrik und ihre verschiedenen Annäherungen, in: Frankfurter Rundschau, 20.Apr.2006 (F) [vert.file] [digi.copy]

Andreas Fellinger: Live! Gemütlichkeit unerwünscht. Peter Brötzmann Tentett, Alter Schlachthof Wels, in: FreiStil, #9 (Aug.2006), p. 11 (C)

Leif Wigh: På scen. Tre imponerande improvisatörer. Sonore, Ugglan, Stockholm, in: Orkester Journalen, 74/10 (Oct.2006), p. 22 (C)

Scott Verrastro: Peter Brötzmann Group – “Alarm” (Atavistic), in: Jazz Times, 37/1 (Feb.2007), p. 132 (R)

Thierry Lepin: Peter Brötzmann, l’insurgé, in: Jazzman, #138 (Sep.2007), p. 30-32 (F/I)

Christian Broecking: Wer auftreten will, muss Geld mitbringen. Peter Brötzmann im Gespräch über das Berliner Jazzfest, Exportsubventionen und seine Musik, in: Berliner Zeitung, 29.Oct.2007, p. 33 (F/I) [digi.copy]

Bill Meyer: Peter Brötzmann Chicago Tentet – “American Landscapes 1” (Okka Disk 12067); “American Landscapes 2” (Okka Disk 12068), in: Down Beat, 74/10 (Oct.2007), p. 82 (R: 3 1/2 stars; 4 stars)

Howard Reich: Brotzmann ignites fellow tentet players, in: Chicago Tribune, 3.Dec.2007 (C) [digi.copy]

Michael Jackson: Caught. Ten-Year Brötzmann Tentet Takes Chicago by Storm, in: Down Beat, 75/3 (Mar.2008), p. 22-23 (C) [digi.copy]

NN: Peter Brötzmann / Pal Nilssen – “Love”; Mats Gustafsson – “The Fat Is Gone” (Smalltown Superjazz), in: Eartrip, #1 (Mar.2008), p. 72-74 (R) [digi.copy]

Anders Lindén: Brötzmann Brölar, in: Orkester Journalen, 76/5 (Oct/Nov.2008), p. 26-27 (poem)

“swm”: Wie ein einziger kollektiver Urschrei. Enjoy Jazz: Debüt von Saxofonist Peter Brötzmanns Sextett Full Blast in der Alten Feuerwache, in: Mannheimer Morgen, 8.Nov.2008 (C) [digi.copy]

Daniel Spicer: Master Blaster. Until you’ve heard saxophonist Peter Brötzmann in the flesh you only can gain a partial sense of the primeval sound and sheer power of the free jazz German pioneer through listening to him on CD. For those who haven’t heard him live already, this month you’ll get the chance at the London Jazz Festival. Daniel Spicer talks to him about his motivations for playing the way he does and looks back at his seminal album ‘Machine Gun’ 40 years ago, in: Jazzwise, #125 (Nov.2008), p. 30-32 (F/I)

Hans-Jürgen Linke: Das Rudel. Peter Brötzmanns Full Blast in Mannheim, in: Frankfurter Rundschau, 8.Nov.2008 (C) [digi.copy]

Maxi Sickert: Was bleibt, sind die Bilder. Wertmüller, Brötzmann und Haino spielten im Quasimodo ihre Mitmusiker an die Wand, in: die tageszeitung, 8.Nov.2008 (C) [digi.copy]

Amiri Baraka: Digging. The Afro-American Soul of American Classical Music, Berkeley 2009 [book: University of California Press], p. 398-400 (F/R: chapter “Peter Brötzmann, ‘Nipples’, and Joe McPhee, ‘Nation Time'”)

Andrew Wright Hurley: The Return of Jazz. Joachim-Ernst Berendt and West German cultural change, New York 2009 [book: Berghahn Books], passim; especially p. 118-121 (F: chapter “Peter Brötzmann and the “Kaputtspiel” (Playing Things to Pieces)” / “‘Machine Gun’, Free Jazz, and Politics”)

Erik van den Berg: Han Bennink. De wereld als trommel, Amsterdam 2009 [book: Uitgeverij Thomas Rap], passim (F/I)

NN: Peter Brötzmann – “Berg- und Talfahrt. A Night in Sana’a” (ARM 02), in: [CD info], Nov.2009 (F) [digi.copy]

Uli Armbruster: Peter Brötzmann – “Berg- und Talfahrt / A Night in Sana’a / Live at ‘Deutsches Haus'” (ARM 02), in: [CD flyer], Nov.2009 (F) [digi.copy]

Galerie Epikur (ed.): Brötzmann. Arbeiten 1959-2010, Wuppertal 2011 [book: Galerie Epikur], passim (F/art work) [digi.copy]

Harald Kisiedu: “European Freedom”. Zum Verhältnis von Musik und Politik bei Peter Brötzmann, in: Wolfram Knauer (ed.): Albert Mangelsdorff. Tension / Spannung, Hofheim 2010 [book: Wolke Verlag], p. 141-155 (F) [digi.copy]

John Corbett: Chicago, Januar 2011 / January 2011, in: Galerie Epikur (ed.): Brötzmann. Arbeiten 1959-2010, Wuppertal 2011 [book: Galerie Epikur], p. 14-15 (F) [digi.copy]

Jürgen Arndt: Misha Mengelberg und Peter Brötzmann in improvisatorischen Dialogen zwischen Europa und den USA, in: Jazzforschung/jazz research, #42 (2010), p. 33-58 (F)

Marcello Lorrai: William Parker. Conversazioni sul jazz, Milano 2010 [book: Auditorium], passim (F)

Mike Pearson: Cardiff, Dezember 2010 / December 2010, in: Galerie Epikur (ed.): Brötzmann. Arbeiten 1959-2010, Wuppertal 2011 [book: Galerie Epikur], p. 16-17 (F) [digi.copy]

Peter Brötzmann: Personal Statement, in: Jost Gebers (ed.): FMP. Im Rückblick – In Retrospect. 1969-2010, Berlin/Wuppertal 2010 [book: FMP-Publishing], p. 11-16 (“I”/photos)

Ralf Dombrowski: Portrait Saxofon. Kultur, Praxis, Repertoire, Interpreten, Kassel 2010 [book: Bärenreiter], p. 51-52 (F: chapter “Stimmen Europas. Von Peter Brötzmann bis Jan Garbarek”); p. 99-100 (F: chapter “Peter Brötzmann. For Adolphe Sax”)

Susanne Buckesfeld: Die Kunst von Peter Brötzmann, in: Galerie Epikur (ed.): Brötzmann. Arbeiten 1959-2010, Wuppertal 2011 [book: Galerie Epikur], p. 9-11 (F); englisch translation as: The Art of Peter Brötzmann, in: Galerie Epikur (ed.): Brötzmann. Arbeiten 1959-2010, Wuppertal 2011 [book: Galerie Epikur], p. 12-13 (F) [digi.copy]

Dan Rule: No artificial ingredients. Jazz. In his playing as in his art, saxophonist and visual artist Peter Brotzmann is cutting through the claptrap, in: The Age (Melbourne), 1.May 2010, p. 21 (F/I: about his graphic work) [digi.copy]

NN: Hairy Bones, in: Sandra Costantini (ed.): Crossroads. Jazz e altro in Emilia Romagna, Italy, 27.Feb.2010 – 23.May 2010 [festival booklet], p. 22 (F: concert preview) [digi.copy]

Brent Burton: Peter Brötzmann – “Lost & Found” (FMP), in: Jazz Times, 40/2 (Mar.2010), p. 52-53 (R)

Bill Meyer: Sonore – “Call Before You Dig” (Okka Disk 12083), in: Down Beat, 77/4 (Apr.2010), p. 52 (R: 3 1/2 stars) [digi.copy]

Daniel Spicer: On Location. Peter Brötzmann, Café Oto, London, in: The Wire, #314 (Apr.2010), p. 81 (C)

John Fordham: 50 great moments in jazz. Peter Bröttmann’s Machine Gun. A trailblazing piece of free jazz that arrived in the revolutionary year of 1968 – and later found a fan in Bill Clinton, in: The Guardian, 22.Nov.2010 (F) [digi.copy]

Uli Kurth: The 4th Quarter of the Triad. Tony Oxley. Fünf Jahrzehnte improvisierter Musik, Hofheim 2011 [book: Wolke], passim, especially p. 159-162 (F)

Wolfram Knauer: Der europäische Free Jazz, in: Helga de la Motte-Haber & Lydia Rilling & Julia H. Schröder (Eds.): Dokumente zur Musik des 20. Jahrhunderts, Teil 2, Laaber 2011 [book: Laaber], p. 118-119 (F: about Rainer Blome’s “Ein neues Gesicht im Jazz. Peter Brötzmann”)

Julian Weber: Sie nennen ihn Machine Gun. Ausnahmemusiker. Er ist der radikalste Vertreter des Free Jazz – der Saxofonist Peter Brötzmann feiert seinen 70sten, in: die tageszeitung (TAZ), 5.Feb.2011 (F/I) [digi.copy]

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Valeska von Dolega: Peter Brötzmann. Geburtstag eines Grenzgängers, in: Westdeutsche Zeitung, 4.Feb.2011 (F) [digi.copy]

Markus Schneider: Die Teutonische Axt. Dem großen Free-Jazz-Saxofonisten Peter Brötzmann zum 70. Geburtstag, in: Berliner Zeitung, 5./6.Mar.2011 (F) [digi.copy]

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Christoph J. Bauer: Brötzmann. Gespräche, Berlin 2012 [book: Posth Verlag], passim (“I”)

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Jacek Slaski: Ein herrliches Gebrüll! Peter Prötzmann im Hau 2. Eine symbolträchtige Entscheidung. Peter Brötzmann, 71, Träger des Deutschen Jazzpreises, spielte mit seinem Chicago Tentet einen Tag nach dem Ende des diesjährigen Jazzfests, in: Frankfurter Rundschau, 6.Nov.2012 (C) [digi.copy]

Jacek Slaski: Ein herrliches Gebrüll! Peter Prötzmann mit seinem Chicago tentet im Hau 2, in: Berliner Zeitung, 7.Nov.2012 (C) [digi.copy]

Alain Drouot: Peter Brötzmann – “Solo + Trio Roma” (Victo 122/123), in: Down Beat, 79/11 (Nov.2012), p. 65 (R: 4 stars) [digi.copy]

Daniel Spicer: The Primner. In the second part of our Peter Brötzmann special, Daniel Spicer provides a user’s guide to the veteran saxophonist’s crucial recordings, in: The Wire, #345 (Nov.2012), p. 46-52 (F) [digi.copy]

Daniel Spicer: The Visual Primer. A guide to the art of Peter Brötzmann, in: The Wire, #345 (Nov.2012), p. 53 (F) [digi.copy]

David Keenan: Last Man Standing. Peter Brötzmann is a legend in his own lifetime – at the age of 71 he remains one of the most uncompromising and catalytic figures in Europe’s postwar free music avant garde. In the forst of a two part special, David Keenan meets the saxophonist and visual artist at his home in Wuppertal to hear about some of the forces and experiences that have shaped his total synthesis of life, music and art over more than four decades, in: The Wire, #345 (Nov.2012), p. 38-45 (F/I) [digi.copy]

Willy Theobald: Culture Club. Ist Free Jazz heilbar? Was soll das Theater, wo spielt die Musik? Unser Experte weist den Weg durch den Kulturbetrieb der nächsten Woche. Diesmal: Die Free-Jazz-Legende Peter Brötzmann, in: Financial Times Deutschland, 3.Dec.2012 (F) [digi.copy]

Henrik Günther: Peter Brötzmann: “Wir sind dabei, einzuschlafen”. Der Jazz-Musiker stellte im Café Ada an der Wiesenstraße sein neues Buch vor, in: Westdeutsche Zeitung, 16.Dec.2012 (F/I) [digi.copy]

David Keenan: Last Man Still Standing. We so enjoyed David Keenan’s interview with peter Brötzmann in last month’s issue, that when we found out he had extracted it from a 35,000 word transcript, we asked him to write up part two from the best of the outtakes, in: The Wire, #346 (Dec.2012), p. 32-37 (F/I) [digi.copy]

Daniel Spicer: After the storm – Peter Brötzmann calls time on Chicago Tentet, in: Jazzwise, #172 (Mar.2013), p. 8 (F/I: announces end of tentet) [digi.copy]

Daniel Spicer: Brötzmann / Edwards / Noble, The Green Door Store, Brighton, in: Jazzwise, #172 (Mar.2013), p. 58 (C) [digi.copy]

Jürg Solothurnmann: “Es gibt keine Freundlichkeiten, es gibt nur Musik.” Jürg Solothurnmann über das neue Buch “Brötzmann – Gespräche” von Christoph J. Bauer und Peter Brötzmann, in: Jazz ‘n’ More, Mar/Apr.2013, p. 28 (B) [digi.copy]

Mats Guistafsson: Vaxdax. I örat på en discaholic, in: Orkester Journalen, 81/2 (Apr/May 2013), p. 46-47 (F: early FMP releases)

Peter Margasak: Peter Brötzmann Creates Strong Global Legacy. “Long Story Short” (Trost 112); “Boneshaper” (Trost 113); Exit!” (Rune Grammofon 2138); “Provoke” (Clean Feed 273), in: Down Beat, 80/5 (May 2013), p. 51 (R: 4 1/2 stars; 4 stars; 4 stars; 4 stars) [digi.copy]

Steve Greenlee: “Long Story Short. Curated by Peter Brötzmann”, in: Jazz Times, 43/4 (May 2013), p. 70 (R)

Simon Leth Stolzenbach: Peter Brötzmann. Skamfuld saxofon fra Tyskland, in: Jazz Special, #133 (Jun/Jul.2013), p. 84-87 (F/I)

Olaf Maikopf: Peter Brötzmann Jubiläum in Wels 2011, in: Jazzthetik, 27/7-8 (Jul/Aug.2013), p. 75 (F/R) [digi.copy]

Olivier Ledure: Peter Brötzmann. Un instant chaviré, Montreuil, in: ImproJazz, #200 (Nov/Dec.2013), p. 47-48 (C)

Michael Jackson: Brötzmann / Noble – “I Am Here Where Are You” (Trost 122), in: Down Beat, 80/12 (Dec.2013), p. 85 (R: 4 stars) [digi.copy]

Oliver Augst: Ab Goldap. Rüdiger Carl im Gespräch mit Oliver Augst, Frankfurt/Main 2014 [book: weissbooks], passim (F) [digi.copy]

Peter Brötzmann & Gérard Rouy: We Thought We Could Change the World. Conversations with Gérard Rouy, Hofheim 2014 [book: Wolke Verlag], passim (“I”)

Rainer Bratfisch: Jazz in Berlin, Berlin 2014 [book: Nicolai Verlag], passim (F)

Reiner Kobe: “Brötzmann Conversations with Gérard Rouy. We Thought We Could Change the World”, in: Jazz Podium, 67/6 (Jun.2014), p. 60 (B) [digi.copy]

Ted Panken: The 80 Coolest Things in Jazz Today. Global Jazz. Peter Brötzmann, in: Down Beat, 81/7 (Jul.2014), p. 50 (short F) [digi.copy]