Random thoughts / zufällige Gedanken
zum 18. Darmstädter Jazzforum 2023
20. Juni 2023
(10) Diversity…
… war ja das Thema unseres letzten Darmstädter Jazzforums, aber natürlich spielt der Bereich der Diversität auch eine Rolle, wenn wir über die Zukunft dieser Musik reden. Wir stellen fest: Jazzmusiker:innen in Deutschland sind nach wie vor zu einem großen Prozentsatz männlich, überwiegend weiß („caucasian“ sagt man im Amerikanischen), stammen meist aus eher gebildeten Familien und haben in der Regel auch selbst studiert.
Wie, fragten sich beispielsweise die Verantwortlichen des Deutschen Jazzpreises, der in den ersten Jahren für die mangelnde Diversität in Beirat, Jury und bei den Preisträger:innen kritisiert wurde (Musicians For), kann man all das ändern? Konzepte gibt es ja schon lange: affirmative action in den USA, Quotenregelung bei uns.
Und ja, es hat sich einiges geändert in den letzten Jahren: Öffentliche Jurys haben in der Regel Geschlechterparität (wenn nicht, ist der Ärger – berechtigt! – vorprogrammiert). Es gibt namhafte Preise und Förderprogramme, die darauf achten abwechselnd Künstlerinnen und Künstler zu bedenken. Die Awareness gerade für die Präsenz von Musikerinnen im Jazz ist auch bei den Musikern selbst angelangt, die entweder aus strategischen Gründen Bands mit Musikerinnenanteil gründen („macht sich gut auf Anträgen“) oder aber (eigentlich immer öfter, und das ist der Fortschritt, den zumindest ich hier sehe) erkennen, dass Bands mit Musikerinnen und Musikern einen ganz anderen kreativen Weg einschlagen können, neue Räume aufmachen, zu einem anderen Aufeinander-Reagieren, Miteinander-Umgehen führen.
Ich neige, muss ich an dieser Stelle betonen, zum Optimismus. Ich sehe diese letzte Entwicklung bei zahlreichen jungen Ensembles (also Musiker:innen in ihren 20ern, frühen 30ern), für die Geschlechterbalance fast schon eine Selbstverständlichkeit ist, während man noch vor einigen Jahren mit Künstler:innen (und zwar wirklich sowohl Musikern wie auch Musikerinnen) darüber trefflich streiten konnte. Also alles gut? Mitnichten!
Der Jazz, behaupten wir gern – übrigens auch im Teaser für die letzten, also das 16. (Jazz und Politik) und das 17. Darmstädter Jazzforum (Diversität im Jazz), – bildet idealerweise die Diskurse unserer Gesellschaft ab. Wo aber sind dann die Musiker:innen migrantischen Backgrounds? Wo findet sich die „letzte Generation“ auf der Jazzbühne wieder? Wo kämpfen Instrumentalist:innen für die Rechte marginalisierter Gruppen unserer Gesellschaft?
All das sind auf jeden Fall Themen, die uns beschäftigen werden während des 18. Jazzforums, etwa wenn Evi Filippou über ihre Arbeit mit Schüler:innen im Grundschulalter spricht, wenn James Banner sein class-work-Projekt vorstellt, bei dem er vor allem Kolleg:innen eingeladen hat, die eher aus einem Arbeiter- als einem Bildungsbackground kommen, wenn Julia Kadel die Beweggründe schildert, warum 2022 die Initiative Queer Cheer gestartet wurde (die übrigens den Sonderpreis der Jury des Deutschen Jazzpreises erhielt), wenn Christopher Dell Improvisation als Modell des gesellschaftlichen Zusammenlebens begreift, wenn Sabina Akiko Ahrendt über den Zusammenhang von Musik und politischem Aktivismus berichtet, wenn Mariana Bodarenko darüber reflektiert, welche Rolle Musik in Zeiten des Krieges spielt.
Wir können die Zukunft nicht voraussehen. Wir können uns auf sie vorbereiten. Wir können Räume schaffen, Räume sichern, in denen die Zukunft erlebbar sein wird. Wir können darauf hinwirken, dass es beim Sprechen über Diversität irgendwann nicht mehr um Quoten und Schuldzuweisungen geht, sondern um die kreative Kraft der Vielfalt. Auch im Jazz. Aber nicht nur im Jazz. An jeder Stelle, an der wir uns einbringen. Bewusstsein. Bewusstseinswandel. Nicht bei anderen. Bei uns selbst. So geht Zukunft. (finde ich…)
Wolfram Knauer (20. Juni 2023)
1. Juni 2023
(9) Ohne Vergangenheit keine Zukunft
Es ist ja eine Binsenweisheit, dass das „Neue um des Neuen willen“ eigentlich ein alter Hut ist. Spätestens seit den 1970er Jahren geht das nicht mehr, diese Forderung, Jazz, Musik, Kunst ganz allgemein habe sich immer weiter zu entwickeln, immer neue Spielformen, Klänge, Approaches zu erfinden, dürfe sich auf keinen Fall wiederholen.
Tatsächlich hält sich diese Denkweise aber bis heute, zumindest bei uns in Deutschland, und sie ist wahrscheinlich auch dem Kulturdiskurs der Nachkriegszeit geschuldet, der in der Entwicklung ja immer die Hoffnung des Sich-Neu-Erfindens sah … verstehen Sie: sich neu erfinden in einer Gesellschaft, die an die zumindest jüngere Vergangenheit am liebsten gar nicht mehr denken wollte.
Die Amerikaner haben weniger Probleme mit dem Verweis auf Tradition, mit dem Nebeneinander-Stehenlassen von stilistischen Richtungen. Naja, stimmt nicht ganz, Wynton Marsalis führte, zumindest in New York (oder in Europa) durchaus zu Diskussionen, als er in den 1990er Jahren eine swing- und harmonie-bezogene Ästhetik des Jazz verteidigte und Fusion-Sounds oder improvisatorische Experimente aus der freieren Ecke als ganz interessant, „aber warum muss man das auch Jazz nennen“ bezeichnete und deshalb seinerseits von der Avantgardeszene des Big Apple (und darüber hinaus) angefeindet wurde. Von Mickymaus-Bands reden wir also gar nicht, wenn wir Tradition meinen, sondern erst einmal von kreativen Versuchen aus der Jazzgeschichte heraus eine eigene Stimme zu gewinnen. Marsalis ist das ja durchaus gelungen: sowohl als Trompeter wie auch als Komponist.
Wo finden wir das hierzulande? Ach ja, Till Brönner, auf jeden Fall, er hat ähnliche Anwürfe auszuhalten aus einer jungen sich als Experiment verstehenden Jazzszene; er ist ähnlich gesettled in seinem Erfolg. Er setzt sich andererseits seit Jahren für ein House of Jazz Berlin ein, auch wenn das nicht seine eigene Klangfarbe widergeben würde. Tills Musik ist … ich wollte schreiben massenkompatibel, aber stapeln wir mal nicht zu hoch, auf jeden Fall aber kompatibel mit vielen musikalisch offenen Menschen, die auch Jazz gern hören, zumindest wenn er melodisch ist, aber „wenn es zu wild wird, ist das nichts mehr für uns“.
Tatsächlich vertritt Brönner genauso den Diskurs um die Zukunft dieser Musik hierzulande wie die in ihrem musikalischen Ansatz sehr unterschiedlichen Künstler:innen, die etwa mit dem diesjährigen Deutschen Jazzpreis ausgezeichnet wurden, genauso wie aber auch die (inzwischen nicht mehr allzu zahlreichen) Trad-Bands, die sich der Musik der 1920er und 1930er Jahre oder Musiker, die sich dem swingenden Mainstream verschrieben haben, sofern sie denn einen eigenen Klang daraus generieren konnten. Letztere Szene ist in diesem Diskurs (also dem um die Zukunft des Jazz) übrigens kaum zu hören, wird, wenn sie erklingt, auch nicht sonderlich wahr- bzw. ernstgenommen, unter anderem, weil ihre Fürsprecher oft gerade nicht die Musiker:innen sind, sondern Fans, die eher ideologisch als musikalisch argumentieren. Wenn man genau hinhört, dann lassen sich durchaus Bands entdecken, denen eine eigene Positionierung auch innerhalb traditioneller Spielarten des Jazz gelungen ist, die Echoes of Swing etwa, sicher Musiker wie Trevor Richards oder Reimer von Essen, Martin Sasse, Thilo Wagner und andere.
Deren Musik macht enorm Spaß. Sie wirkt kein bisschen museal, weil sie im Hier und Jetzt erklingt und eine Energie erzeugt, die sich direkt mitteilt. Und doch wird sie, zumindest in der Jazzszene als rückwärtsgewandt wahrgenommen. Gegenbeispiele sind etwa Uwe Obergs Ellington-Projekt, der Lacy Pool, oder „Transformations and Further Passages“ des Clarinet Trio, ein Projekt, das sich Kompositionen deutscher Jazzmusiker:innen aus den 1950er und 1960er Jahren annimmt.
Was also ist die Zukunft des Jazz? Ganz bestimmt geht es bei ihr nicht nur um das „bislang Un-gehörte“. Es geht um das Bewusstsein, dass Musik Positionen markiert, musikalische, ästhetische, gesellschaftliche, und dass man sich als Musiker:in dieser Positionen klar sein sollte, im Konzert, in der Entscheidung fürs nächste Albumrepertoire, in der Ansprache an sein Publikum. Wenn überhaupt, ist Zukunft nämlich keine Zeit-, sondern eine Ortsbestimmung. Sie bezeichnet ein Ziel, auf das man zusteuert, auf das man aber nur zusteuern kann, wenn man weiß, wo man sich eigentlich befindet. Position beziehen aber lässt sich tatsächlich von jeder stilistischen Warte aus. Es gehört nur der Mut dazu, diese immer wieder neu zu beschreiben und sie in Beziehung zur aktuellen Wirklichkeit zu bringen.
(Wolfram Knauer, 1. Juni 2023)
9. Januar 2023
(8) … links 2 3 4, rechts 2 3 4, oder: Die Künstliche Intelligenz und Jazz
Mark Schieritz hat eine französische Website entdeckt, die rein durch „Künstliche Intelligenz“ alle möglichen Begriffe danach verortet, ob sie politisch „links“ oder „rechts“ stehen (https://linksoderrechts.delemazure.fr/). Das führt zu kuriosen Zuordnungen wie etwa: Rose = links; Tulpe = rechts; Tomate = links; Roggen = rechts; zwei = links; drei = rechts. Schieritz spiegelt probehalber zahlreiche Begriffe seines Alltags durch den KI-Filter und sinniert danach, (1.) wie die Einordnung wohl zustande gekommen sein mag und (2.) wie er selbst über sie denkt. Der französische Informatikstudent Theo Délemazure, der die besagte Website programmiert hat, nutzt dafür die Software GPT3, die den eingegebenen Begriff quasi in einer Art stumpfer Kontextsuche im Internet abarbeitet.
Schieritz’s Artikel ist höchst amüsant zu lesen (Die Zeit, hinter der Bezahlschranke). Er hat Délemazures KI übrigens auch auf musikalische Begriffe befragt: Georg Friedrich Händel = rechts; Johann Sebastian Bach = links; C-Dur = rechts; D-Dur = links. (Schieritz: „D-Dur klingt nach Revolution, C-Dur nach Restauration. Fragen Sie nicht!“) Was mich neugierig machte. Den Jazz verorten wir ja immer schon Links (richtig!). Laut Délemazure hat er das gemeinsam mit Neuer Musik, mit Rock (aber nicht mit Rechtsrock), mit Barock. Klassik ist links, Klassische Musik dagegen rechts. Lydisch ist links, phrygisch rechts. Count Basie: links; Glenn Miller: rechts. Und dann gibt es auch genügend Widersprüche: Charlie Parker: links, aber Bebop: rechts. Selbst im Jazzinstitut Darmstadt stehen wir nicht alle auf derselben Seite, zumindest, wenn es nach der Erkenntnis der Künstlichen Intelligenz geht.
Aber vergnügen Sie sich selbst damit: Es macht großen Spaß, die Website „links oder rechts“ nach allen möglichen Begriffen, Namen, Kontexten zu befragen. Und tatsächlich kann man die Zukunft (sprich: die künftigen Ergebnisse) auch beeinflussen, kann also zurückspiegeln, wenn ein Ergebnis einem nicht richtig erscheint.
Was hat das alles mit der Zukunft des Jazz zu tun? Nun, gar nichts… oder aber ganz viel. Tatsächlich wird allerorten daran geforscht, wie sich Künstliche Intelligenz und Musik zusammenbringen lassen. Schon heute etwa eignen sich Computer zum Analysieren und Auswerten von Musik (Jazzomat). Man könnte „neue Musik“ historischer Jazzgrößen generieren lassen, wie kein Geringerer als Kenny G kürzlich vormachte, als er Künstliche Intelligenz mit Samples von Stan Getz’s Saxophonton fütterte und sie dann eine neue Melodie „erfinden“ ließ (AI and Jazz). Oder aber: George E. Lewis, Posaunist, Komponist und Musikwissenschaftler, arbeitet seit langem an einem Computerprogramm, das es ihm oder anderen ermöglicht, zusammen mit dem Computer zu improvisieren (MIT lecture). Interaktion, Neu-Rekreation, Analyse – die neuen Technologien lassen sich also für alles Mögliche einsetzen.
Wie aber lassen sie sich in einer Musikpraxis einsetzen, die so stark von Individualität, Authentizität, Einmaligkeit geprägt ist wie der Jazz? Oder anders gefragt: Ist diese Art der Individualitätsästhetik, die den Jazzdiskurs bis in die Gegenwart prägt, eigentlich für alle Zukunft festgelegt? Könnte man nicht vielleicht mal drüber sprechen? Die Diskussion, die es allerorten über die Hegemonie einer europäischen Werteästhetik gibt, betrifft ja durchaus auch die Vorstellungen davon, was denn eigentlich gut ist in einer Musik, was als fortschrittlich erachtet wird, wie wichtig Progressivität für die Entwicklung einer Kunstform ist. Oder ob nicht das Alternativmodell zu Individualität die Community sein könnte, ob Fortschritt nicht auch das Neuentdecken vermeintlich alter Praktiken mit einschließt. Zur Zukunft einer jeden Kunstform gehört nun mal, dass wir laufend neu aushandeln, welchen Raum wir ihr geben, wie sie am gesellschaftlichen und kulturellen Diskurs teilhat, wie sie damit sich selbst immer wieder neu definiert, ihre unterschiedlichen Kontexte auslotet, ihren Stellenwert im Verband der aktuellen Künste festigt, ihr politisches Gewicht einbringt, ihre kreative Kraft weiterentwickelt. In allen Kunstformen, und damit auch im Jazz!
Julia Hülsmann = links; Christopher Dell = rechts; Till Brönner = links; Angelika Niescier = rechts????
Ach, Künstliche Intelligenz, Du hast noch einiges zu lernen!
Wolfram Knauer (9. Januar 2023)
3. Januar 2023
(7) Jazz ist die Mutter des HipHop
Unlängst stolperte ich über ein Video des Pianisten Robert Glasper, der 2019 in einem „Jazz-Night in America“-Video erklärte „why Jazz is the mother of HipHop“. Robert Glasper über Jazz und HipHop
Wenn es nach mir geht, brauche ich diese Erklärung gar nicht. Hört man sich die Samples von DJs wie Africa Bambaataa der frühen HipHop-Ära an, ist für mich evident: Dem HipHop fließt Jazz-DNA in den Adern. Und es ist kein Blick über den Großen Teich oder in die Vergangenheit nötig, um die Verbindung zwischen HipHop und Jazz zu finden. Man braucht sich bloß junge Jazz-Schlagzeuger wie Silvan Strauss anzuhören. Album „Facing“ von Silvan Strauss
Längst tue ich mich schwer damit, Jazz oder irgendeine andere Musikform als ein abgeschlossenes Genre anzusehen. Die Zuschreibung von unterschiedlicher Musik zu festgelegten Genre ist ein künstliches (kein künstlerisches) Konstrukt.
Die Eingrenzung und Legitimationsversuche des Jazz in Abgrenzung zur populären Musik machen mich regelmäßig stutzig und das Naserümpfen, wenn es um HipHop-Musik geht, wirft für mich einige Fragen auf. Ist es nicht leichter, Jazz und HipHop, sei es historisch oder musikalisch betrachtet, in den Zusammenhang zu stellen, als sie zu unterscheiden? Und wäre es nicht klüger, in der ständigen Debatte um den hohen Altersdurchschnitt bei Jazzfans von einer reaktionären Denke abzusehen?
Denn wirft man einen realistischen und gegenwartsbezogenen Blick auf das Ganze, stellt man fest, dass die jungen Leute Jazzstandards wegen der HipHop-Samples im Ohr haben und sich dessen gar nicht bewusst sind. Worüber sie sich aber bewusst sind, ist, dass MCs und DJs Zukunftsmusik spielen, sich immer wieder selbst überhöhen und gegenseitig steigern und damit das Innovative in der Szene befeuern, den jungen Leuten eine Zugewandtheit zur Zukunft vermitteln. Virtuos batteln sich Rapper:innen während der Cypher; Freestyle bedeutet Improvisation, bedeutet Innovation. Und das kennen wir doch irgendwoher.
Das alles kann man anerkennen, kann den Geist, der durch diese Musik weht, bündeln und das Potenzial, das in der Innovationsfähigkeit von Jazz und HipHop liegt, nutzen, um für das Große und Ganze eine vorteilhafte Zukunft zu gestalten.
Marie Härtling (3. Januar 2023)
20. Dezember 2022
(6) Jazz: die politischste aller Künste… wirklich?
Wir machen’s ja auch, zählen auf, wofür der Jazz alles steht: Individualität, Freiheit, Offenheit, Toleranz, Diversität, Experiment, Fortschritt, Zukunft… Aber tun wir der Musik mit diesen Aufladungen wirklich etwas Gutes? Oder entstammen sie nicht tatsächlich unseren politischen Strategien, dem Jazz, also „unserer“ Musik, zu mehr Ansehen und Respekt zu verhelfen, zu mehr Spielräumen, zu mehr Förderung?
Tatsächlich ist Jazz für jede:n von uns ja ganz unterschiedlichste Dinge. Für mich ist Whitney Ballietts Definition des „sound of surprise“ immer noch eine der stimmigsten. Ja, im besten Fall überrascht mich Jazz – mehr als ich das von beinahe jeder anderen Kunstform erwarte… aber Stop! Da geht schon wieder der Jazzer in mir durch, der dem Jazz gleich noch ein „mehr“ an Fähigkeiten zuspricht als der zeitgenössischen Neuen Musik, als avancierten Formen populärer Musik, als der Avantgarde in Bildender Kunst, Tanz, Theater oder Literatur…
Und ähnlich ist es ja mit dem „Repertoire“, also mit den Rückbesinnungen auf die großen Aufnahmen der Jazzgeschichte. Tatsächlich fallen diese oft genug aus unserem Diskurs einer fortschritts-gerichteten Kunstform. Der „Mainstream“ – also der Jazz-Mainstream, was ein anderer Begriff ist als der „Mainstream“ an sich… wieder so ein Thema, wie nämlich Begriffe so oft etwas anderes meinen, wenn man sie in unterschiedlichen Kontexten nutzt… der Mainstream also taucht in der Förderung unserer Musik nicht auf. Er „forscht“ offenbar nicht genug, er verlässt sich aufs „Gefällige“: der Blick in den Rückspiegel kann doch nicht die Zukunft sein! Vom traditionellen Jazz mal ganz abgesehen. Schauen Sie nur auf die Gewinner des Deutschen Jazzpreises.
Ich will das gar nicht kritisieren. Ich glaube, dass es Musik gibt, die der Förderung eher bedarf als andere, und ich glaube, dass wir hierzulande durchaus ein ganz gutes System gefunden haben, „Räume“ für kreative Musik zu schaffen und zu sichern. ABER: Sollten wir uns nicht ehrlich machen, den Jazz als nur eine von zahlreichen Avantgarden identifizieren und vielleicht das wirklich Herausragende in den Vordergrund stellen: dass er nämlich eigentlich gar nicht so in unser europäisch geprägtes Avantgarde-Konzept passt, dass in ihm als einer afro-diasporischen Tradition andere Wertmaßstäbe möglich sind und gelebt werden, dass er uns im Idealfall immer auch mit unseren eigenen Missverständnissen gegenüber dieser Musik konfrontiert?
Zugegeben: Es fällt mir schwer, auf die Superlative zu verzichten. Sie funktionieren übrigens auch ganz gut im Gespräch mit Jazzfreunden genauso wie mit Jazzfernen. Und für mich ganz persönlich handelt Jazz ja von genau all dem: von Individualität, Freiheit, Offenheit, Toleranz, Diversität, Experiment, Fortschritt, Zukunft, und zwar mehr als jede andere Form von Musik. Das allerdings hat mehr mit meinem eigenen Fokus zu tun als mit der Musik selbst.
Das sollten wir uns halt ab und zu bewusst machen, wie zahlreiche Argumente für den Jazz mehr unserer Liebe zu der Musik geschuldet sind als dem objektiven Blick auf sie. Und wie sie dabei durchaus auch unseren Blick darauf verschließen, was eine unbefangenere Auffassung von Jazz denn zum allgemeinen Kulturdiskurs beitragen könnte.
Wolfram Knauer (20. Dezember 2022)
31. Oktober 2022
(5) es geht voran… (women in jazz)
Zukunft ist ja immer auch Gegenwart und Vergangenheit, weil wir sie aus unserer Erfahrung des Erlebten heraus gestalten und weil wir jetzt anfangen müssen, Dinge zu verändern, die wir anders haben wollen. Das geht mir dieser Tage durch den Kopf, wo ich in deutschen und amerikanischen Zeitungen von Terri Lyne Carringtons Veröffentlichung „New Standards. 101 Lead Sheets by Women Composers“ lese (z.B. die tageszeitung). Das Thema „Women in Jazz“ ist ja kein Neues. Zugleich ist es eins, an dem sich die Veränderungen in unserer Szene fast schon beispielhaft nachverfolgen lässt. Bis mindestens in die 1970er Jahre hinein waren Jazzmusikerinnen / Instrumentalistinnen rar – zumindest schien dies so, weil die Presse vor allem über ihre männlichen Kollegen berichtete.
Immer mal wieder gab es Vorstöße in der Jazzpresse, dann in den 1980er Jahren erste Veröffentlichungen, die dokumentieren sollten, dass es da eine eklatante Lücke der Jazzgeschichte gab. Rosetta Reitz’s Plattenreihe „Women in Jazz“ (1980-1981), Sally Placksins Buch „Women in Jazz“ (1982), Linda Dahls „Stormy Weather. The Music and Lives of a Century of Jazzwomen“ (1984) veränderten das Narrativ. Sie dokumentierten, dass es über die gesamte Jazzgeschichte hinweg immer Musikerinnen gegeben hatte, Vokalistinnen genau wie Instrumentalistinnen. Sie veränderten also die Wahrnehmung von Geschichte, nicht so sehr aber die Gegenwart, die nach wie vor geprägt war von einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Musikerinnen in einer männlich geprägten Szene.
Es waren erst singuläre, dann immer mehr Veranstaltungen, Workshops, Konzerte, Festivals, die die Präsenz von Frauen im Jazz in den Fokus nahmen. Und es gab immer öfter Forderungen nach einer geschlechterausgewogenen Besetzung von Gremien, nach Programmen, bei denen die Quote an Musikerinnen (oder zumindest Bandleaderinnen) zumindest genauso hoch wie die der Männer ist. Es gab ein Bewusstsein dafür, dass sich eine wünschenswerte Zukunft nur dann erreichen lässt, wenn man in der Gegenwart für Veränderungen sorgt. Paritätisch besetzte Jurys sind mittlerweile eher die Norm als die Ausnahme; Festivals oder Workshops, die nicht auf eine zumindest angemessene Repräsentanz von Künstlerinnen achten, müssen mit einem wohl-verdienten Shitstorm rechnen. Bei den Hochschulprofessuren und in den Rundfunk-Bigbands bleibt noch einiges zu tun, aber grundsätzlich ist das Thema überall angekommen. Es ist ja ein Thema nicht nur im Jazz, sondern eigentlich in der ganzen Gesellschaft, also lässt es sich so einfach nicht mehr beiseite drängen. Auch beim Darmstädter Jazzforum haben wir einen Fokus auf die Thematik gelegt (z.B. 2015: Gender and Identity in Jazz; 2021: Roots | Heimat: Diversität im Jazz), und doch müssen auch wir uns vorwerfen lassen, unser Programm nicht immer vorbildlich gestaltet zu haben: Die mangelnde Geschlechterausgeglichenheit herrscht ja nicht nur im Jazz, sondern genauso in der Jazzforschung oder Jazzpublizistik.
Jetzt also Terri Lyne Carringtons „New Standards“: ein mindestens doppeldeutiger Titel ihres Buchs, das einerseits nach einem anderen Repertoire sucht, das Musikerinnen sichtbarer (hörbarer) macht, das aber andererseits auch neue Standards im Jazzalltag verlangt – und zwar nicht nur verlangt, sondern dafür gleich das nötige Material zur Verfügung stellt. Damit aber verändert Carrington eben nicht nur die Gegenwart, ihr Buch – genauso wie ihre Arbeit am von ihr 2018 gegründeten Berklee Institute of Jazz and Gender Justice – ist auf die Zukunft des Jazz gerichtet.
Zukunft – so viel sei hier also zusammenfassend bemerkt, besteht niemals nur aus Hoffnung; sie braucht Aktivist:innen in der Gegenwart. Das ist uns allerdings auch nicht gerade neu; gesellschaftlich erleben wir das ja zurzeit überall. Wenn wir über Zukunft sprechen, müssen wir also immer auch einen Blick auf die Diskurse der Gegenwart richten, nicht so sehr kritisch hinterfragend als vielmehr ermutigend. Je mehr Meinungen da zu Worte kommen, je mehr Menschen sich mit dem Thema identifizieren, desto besser lässt sich eine Zukunft aushandeln, in der sich alle mitgenommen fühlen.
(Wolfram Knauer, 31. Oktober 2022)
6. Oktober 2022
(4) … unendliche Weiten…
Theo Croker hat vor kurzem ein Original aufgenommen mit dem Titel „Jazz Is Dead“. Pirmin Bossart überschreibt seinen Artikel im Herbstheft des Schweizer Magazins Jazz ’n‘ More „Jazz ist tot – aber die kreative Musik lebt“ und zitiert Croker, der Genres für veraltet hält und findet, dass das, was einige HipHopper heute machen „mehr Jazz ist als das, was Jazzmusiker machen“.
Da sind wir dann also bei der Frage, die den Jazz schon seit Jahrzehnten begleitet und die in den letzten Jahren – unter veränderten Vorzeichen – wieder laut geworden ist: Behindert das Label „Jazz“ nicht eher die Wahrnehmung der Musik als eine kreative, die Gegenwart widerspiegelnde Kunst? Trägt das Label nicht viel zu viel Ballast mit sich herum und wäre uns nicht allen geholfen, wenn wir endlich darauf verzichten würden, Musik in Genres einzuteilen?
Meine eigene Meinung: Ich finde „Jazz“ einen Klasse-Begriff, aber auch, weil ich ihn so lange kenne und weil er nun mal für die Musik steht, der ich mich emotional so stark verbunden fühle. Ich finde, dass es Labels braucht, um über etwas zu sprechen – hätte ich keine Genrelabels, müsste ich jedes Mal neu definieren, von was ich gerade rede (natürlich, das kann auch schön sein, ist aber ziemlich mühselig…). Das Problem sind – meiner Meinung nach – nicht die Labels, sondern die Tendenz vieler Rezipientinnen und Rezipienten, diese Labels absolut zu setzen, die Schubladenbeschriftung also mit der Sache selbst zu verwechseln. Das Problem ist immer noch, dass „Jazz“ als ein klar umschreibbares Genre verstanden wird statt als eine musikalische Praxis. Das Problem wurde durch die Tonträgerindustrie noch befördert, die sehr bewusst labelte – „file under jazz / rock / country“ etc. –, um ihre Produkte gezielt an potentielle Käufer:innen vermarkten zu können.
Eigentlich aber ist es egal, wie man es benennt, solange man sich der Offenheit dieser Musik bewusst bleibt. Persönlich habe ich nie ganz verstanden, dass ausgerechnet in der – meiner Meinung nach – offensten Musik, dem Jazz, so starre ästhetische Diskussionen über die Zulässigkeit von stilistischen Entwicklungen möglich waren, wo doch diese Musik – nochmals: meiner Auffassung nach – gerade von In- statt Exklusivität lebt. So verstehe ich dann auch den Satz von Theo Croker. Wenn man „Jazz“ als eine musikalische Praxis erkennt, lässt er sich in allen möglichen musikalischen Projekten ausmachen. Kritiker warnen, das führe zur Beliebigkeit, tatsächlich aber fordert ein solches Verständnis halt einfach zum offeneren und zugleich genaueren Zuhören auf. Und warum sollte man sich nicht ab und zu darüber streiten, ob eine Aufnahme, ob ein Konzert, ob eine musikalische Haltung für einen persönlich noch die Kriterien dessen erfüllt, was „Jazz“ ist?
Sofern Kunst kreativ ist, verändert sie sich fortlaufend, und mit ihr die ästhetischen Kriterien. Wir alle, die wir irgendwie mit dieser Musik zu tun haben, ob professionell oder nicht, müssen uns halt zu dieser Veränderung verhalten. Ob wir sie akzeptieren oder nicht, geschenkt! Kreativität fordert eben nicht nur die Kreativen selbst, sondern auch ihre Rezipienten. Darum, genau darum ist Kunst, insbesondere auch Musik, ja ein Spiegel der Gesellschaft. Gerade in der Kunst fordern Experimente oft zum Widerspruch heraus, weil sie Denkstrukturen in Frage stellen, in denen wir es uns eigentlich ganz bequem eingerichtet haben.
Also, zurück zum Darmstädter Jazzforum. Das haben wir mit einem Sun Ra-Zitat überschrieben: Destination unknown: Die Zukunft des Jazz. Die Ungewissheit des Ziels, sie ist uns ja allen irgendwie bekannt: Wir wissen in der Regel, woher wir kommen, wir wissen, in welchen Strukturen wir leben. Aber wie wir die Zukunft gestalten, wie diese Zukunft unser eigenes Leben und Denken beeinflussen wird, das wissen wir eben nicht. Das Unbekannte, das Unbestimmte ist allerdings nicht nur furchteinflößend, es beschreibt zugleich die Hoffnung auf eine „bessere“, „gerechtere“ Welt.
Entwicklung jedenfalls ist eigentlich immer ein Schritt … nach vorne.
(Wolfram Knauer, 6. Oktober 2022)
4. Oktober 2022
(3) Wer Visionen hat…
Ich hab’s ja schon zweimal angekündigt. Heute also „Visionen“. Und, nein, man muss nicht zum Arzt gehen, wenn man Visionen hat, wie Helmut Schmidt das einst so schön geraten hat. Es reicht, die Visionen regelmäßig mit der Wirklichkeit abzugleichen, sich also bewusst zu bleiben, dass die Vision eventuell ein Fernziel ist, auf das man hinarbeiten kann, das sich dabei allerdings einerseits selbst immer wieder verändert, das andererseits aber schon allein im Denken die eigene Wirklichkeitswahrnehmung und in der Arbeit am Weg oder im Sprechen über ihn auch tatsächlich die Realität beeinflusst.
Konkret also: Was sind denn Visionen? Es ließe sich in unserem Zusammenhang über die musikalische Vision spekulieren, die Vorstellung beispielsweise, eine zumindest für einen selbst bislang unerhörte Zusammenklangskonstellation zu bewerkstelligen, oder die Vorstellung einer interkulturellen Improvisation, bei der alle beteiligten Künstler:innen den Konventionen folgen, denen Improvisation in ihren jeweiligen Kulturen unterliegen. Eine Vision könnte sich einzig aufs Instrument beschränken, auf technische Details, auf die Beherrschung desselben oder auf mechanische Veränderungen, die angestrebte musikalische Prozesse vereinfacht. Wäre es nicht gut, könnte eine weitere Vision sein, auf die man hinarbeiten kann, wenn sich unsere Gesellschaft komplett im Bereich von Jazz und improvisierter Musik abbilde, in ihrer ganzen Diversität?
Visionen sind tatsächlich erst einmal nur das, die Vorstellung eines ideellen Ziels. Sie haben allerdings meist ganz praktische Auswirkungen, oft bereits auf das ganz aktuelle eigene Tun. In dem Augenblick, in dem ich etwas vor Augen habe, das mir als wünschenswert erscheint, werde ich bereits mein aktuelles Handeln daraufhin überprüfen, ob es dem Weg dorthin hilft oder eher hinderlich ist. Jede Vision also beeinflusst mein Handeln. Zugleich beeinflusst mein Handeln die Vision. Die Vision hat ja den Vorteil, die Realität auszublenden. Im konkreten Tun erkennt man dann, was möglich ist, besser vielleicht: was einem selbst möglich scheint, und automatisch gleicht man die Vision an. Mit jedem Schritt wird die Vision mehr zu einem Ziel, mehr zum Kompromiss zwischen Vision und Realität. Das also ist der dritte Begriff hier: Vision – Realität – Kompromiss. Der Kompromiss aber ist keine abgespeckte Vision, er ist das in der Realität (für einen selbst) Machbare.
Jazz, Jazz Jazz…. Für mich war der Jazz immer eine visionäre Musik. Über die einzelnen Visionen der Musiker kann ich nur spekulieren; selbst wenn sie drüber gesprochen haben, sind „ausgeprochene“ Visionen ja etwas anderes als die Idee an sich. Für mich hatte Duke Ellington die Vision, dass Musik die Realität der afro-amerikanischen Erfahrung fassen und damit das Verständnis für die Missstände in der US-amerikanischen Gesellschaft verstärken könne. Für mich hatte Charlie Parker die Vision einer musikalischen Sprache, bei der das Zusammenkommen melodischer, harmonischer, rhythmischer Aspekte mit dem Moment der Komplexität, das insbesondere durch die technische Beherrschung seines Instruments mit hineinkam, neue klangliche Welten hervorbringen konnte. Miles Davis und seine Vision des Klangs – seiner Trompete genauso wie seiner Band und seiner Produktionen. Peter Brötzmann und die / eine Vision des freien Zusammenspiels. Die Vision national oder regional verbundener Klänge (Garbarek, Stanko). Die Vision einer nicht zuordbaren Folklore (Louis Sclavis, Erika Stucky, ARFI). Die Vision des Jazz als eines Beispiels für Demokratie (Willis Conover oder das US-amerikanische State Department der 1950er und 1960er Jahre) oder als Beispiel für eine gerechte Gesellschaft (John Lewis, Billy Taylor, Gunter Hampel). Die Vision von Geschlechtergerechtigkeit – auch im Jazz (Terri Lyne Carrington). Die Vision des Jazz als politische und gesellschaftliche Positionierung (Abbey Lincoln, Charles Mingus, Archie Shepp, Sebastian Gramss). Man muss die Visionen nicht kennen, die den Musikern vorschwebten, um ihre Musik genießen zu können, aber wenn man um sie weiß, gibt das den Aufnahmen und Konzerten noch zusätzliche Informationen.
Die Beispiele zeigen: Mal handelt es sich tatsächlich um Visionen, mal haben sich die – wirklich nur beispielhaft genannten – Musiker:innen bereits auf den Weg gemacht, mal kann man den Abgleich von Vision mit Wirklichkeit quasi parallel mitverfolgen. Was alle eint und worum es uns auch beim 18. Darmstädter Jazzforum gehen wird ist: Der Jazz ist eine in die Zukunft gerichtete Musik. Musikerinnen und Musiker wollen mit anderen zusammen Neues kreieren. Sie wollen neue Klänge, neue Sounds, neue Konstellationen, neue Erfahrungen generieren, und zwar solche, die ihre jeweilige Gegenwart abbilden, die – wie vielleicht jede Art von Avantgarde – etwas zum aktuellen kulturellen Diskurs beitragen. Um aber überhaupt die Freiheit zu haben künstlerische Visionen zu entwickeln braucht es Strukturen, die dies zumindest befördern. Solche Strukturen können Künstler:innenkollektive genauso sein wie Ausbildungsstätten, Förderprogramme genauso wie staatliche Institutionen. Visionen nämlich ohne die Möglichkeit sie umzusetzen bleiben – meistens – Visionen.
Was also ist nötig, um Musikerinnen und Musiker, Veranstalterinnen und Veranstalter, Journalistinnen und Journalisten, Musikkuratorinnen und Musikkuratoren zu ermutigen ihre Visionen anzugehen? Wir hoffen insbesondere in den Panels des Darmstädter Jazzforums auch über konkrete Vorschläge diskutieren zu können, nicht darüber also, was uns nicht so passt in der Gegenwart, sondern darüber, wie wir uns eine bessere Zukunft ausmalen.
(Wolfram Knauer, 4. Oktober 2022)
28. September 2022
(2) Spökenkiekerei
Ted Gioia hat sich unsere 18. Darmstädter Jazzforum heute zum Thema seines Blogeintrags gemacht – naja, nicht wirklich, aber sein Beitrag über „20 Predictions for the Music Business in 10 Years“ (The Honest Broker) lässt einen zumindest darüber nachdenken, was sich überhaupt über die Zukunft aussagen lässt. Gioia sagt augenzwinkernd voraus, dass die Musik der Zukunft wieder stärker auf das Musikalische fokussiert sein wird, zumindest will uns das Marketing so etwas weismachen wollen. Physische Tonträger werden keine Rolle mehr für die Karriere von Künstler:innen spielen. Diese entwickeln Strategien, beim Vermarkten ihrer Musik im Internet immerhin 80-90 Prozent der Einnahmen für sich behalten zu können. Der größte Hit auf den Billboard-Charts wird von Künstlicher Intelligenz erzeugt worden sein. Die einzelnen Tracks eines neuen Albums (von großen Stars) werden vor Veröffentlichung als NFTs versteigert. Gestreamte Musik wird mehr Umsatz bringen als Livekonzerte (ist das nicht schon heute so?). Es wird weiterhin Plattenfirmen geben, die allerdings vor allem ihren Backkatalog vermarkten und sich um das Auslaufen des Urheberrechtsschutzes für ihre Produkte sorgen. Die neuen Hubs der Musikindustrie werden in Seoul, Kinshasa und Jakarta liegen. Gioia sagt außerdem noch voraus, dass in zehn Jahren Posaunen zum großen neuen Ding werden, weil es einen groß gehypten Celebrity-Skandal gab, bei dem das Instrument eine zentrale Rolle spielte.
Hmmm, wir werden’s hoffentlich alle sehen. Für unser Thema immerhin zeichnet sich ein wichtiger Aspekt ab: Musik scheint schon seit den 1920er Jahren unausweichlich mit der Entwicklung der Tonträgerindustrie verbunden – so sehr, dass technologische Entwicklungen automatisch Auswirkungen auf das Leben, das Einkommen und die Kunst von Musikerinnen und Musikern haben. Das gilt für die gesamte Musikbranche, für den Jazz aber vielleicht noch ein Stückchen mehr, weil er als improvisierte Musik ja quasi immer schon NFTs verkaufte, non-fungible tokens. Jede Aufnahme, jeder Auftritt von Jazzmusiker:innen ist ein Unikat. Es gab und gibt Künstler:innen, die tatsächlich so viel wie möglich mitschneiden, teils zur eigenen Kontrolle (z.B. Duke Ellington in den 1960ern), teils, um sie zu pressen und einem Publikum zugänglich zu machen, dass um die Singularität eines jeden Auftritts weiß (z.B. Gunter Hampel).
Die Dystopie einer zukünftigen Musik wäre vielleicht tatsächlich die Vorstellung, dass durch Artificial Intelligence erzeugte Kunst ähnliche emotionale Wirkung haben könnte wie von Menschen gemachte. Ich bin da relativ relaxt: Klar wird es möglich sein, Musik zu generieren, die klingt „wie“ etwas anderes, Musik also, die auf Klangklischees der Vergangenheit Bezug nimmt, Parker, Coltrane, Miles, diese aber neu mischt. Bestimmt kann AI irgendwann auch Musik erzeugen, die klingt „wie ein Experiment“, wie das also, was wir an aktueller improvisierter Musik spannend finden. Kann aber eine Maschine Risiken eingehen? Improvisatorische Risiken, wenn Musiker:innen sich auf die Reaktion anderer Kolleg:innen einlassen, auf die sie wiederum selbst reagieren; ästhetische Risiken des Gelingens eines vorher vorgestellten Konzepts, bei dessen Ausarbeitung man in improvisierter Musik allerdings eben nie bis zum Ende plant, sondern ganz bewusst aufs Risiko setzt? Es gibt diesbezüglich ja durchaus schon Versuchsanordnungen (George Lewis‘ Voyager; Dan Tepfers „Natural Machines“-Projekt).
Ich mag die Vergleiche zwischen Musik und Sport nicht, aber doch: Klar kann eine Maschine schneller laufen als ein Mensch. Aber wird sie schwitzen? Wird man die Aufregung riechen? Wird man die emotionale Verausgabung spüren und die Freude oder Enttäuschung über das Ergebnis? Musik kann man auch „riechen“. Sie entsteht im gemeinsamen Agieren von Musiker:innen, die zu immer neuen musikalischen Aggregatzuständen führen, zu neuen klanglichen Verbindungen, zu unerwarteten oder aber auch erwartbaren Reaktionen, zu Freude, einsetzender Langeweile, Nervenkitzel oder diesem unbeschreibbaren Selbst-Teil-des-kreativen-Prozesses-Werden.
Die Zukunft der Musikindustrie also, und die Einbindung der Musiker:innen in sie: sicher ein wichtiges Thema auch fürs Jazzforum. Eigentlich schon lange ein wichtiges Thema im Jazz, spätestens seit Charles Mingus und Max Roach mit Debut auch die Vermarktung ihrer Aufnahmen in eigene Hände nehmen wollten. Was ist möglich, was wünschenswert, was unausweichlich, was unbedingt zu verhindern? Oder sollten wir uns nicht auf die Kreativität gerade unseres Metiers verlassen, die aus jeder Gemengelage etwas Spannendes generieren kann, weil sie nämlich idealerweise auf Gegenwart reagiert und Zukunft ausprobiert statt Vergangenheit nachzukauen?
Ah, eigentlich hatte ich über „Vision und Wirklichkeit“ schreiben wollen, jetzt hat mich Ted Gioia aber erst mal auf ein anderes Pferd gehoben. Next time also…
(Wolfram Knauer, 28. September 2022)
26. September 2022
(1) The devil You (don’t) know…
Das Vorhersehen kultureller Entwicklungen hat eigentlich noch nie richtig geklappt. Wir stecken dafür ja viel zu sehr in den Gedankenstrukturen, die unsere kulturelle Gegenwart prägen, müssten aber nicht nur die künstlerischen Diskurse voraussehen, sondern genauso alternative Räume, in denen Diskurse geführt werden können, Themen, die wir zurzeit für vielleicht gar nicht so wichtig erachten, eine veränderte (Selbst-)Auffassung von Kunst. Wir müssten Institutionen mitdenken und ihre Veränderungen (vgl. z.B. die Forderungen, die beim Darmstädter Jazzforum 17 in Bezug auf Diversität in den Institutionen gestellt wurden), politische Befindlichkeiten (vgl. z.B. die Diskussionen um die Documenta 15 und die Kontrollpflichten von Kurator:innen genauso wie von Politik), Veränderungen in der Wahrnehmung und Anerkennung von Künstler:innen und ihrer kreativen Arbeit in der Gesellschaft. Und natürlich müssten wir die künstlerische Aussage selbst mitdenken, den kreativen Prozess und sein Ergebnis, im Falle der Musik das Konzert, die Studioproduktion, den Konnex mit dem Publikum.
Wie sähe das alles im Jazz aus? Wir haben uns da ja auf – wenn auch unterschiedlich bewertete – Identifikatoren „unserer“ Musik geeinigt. Zum Beispiel: improvisatorisch, forschend, die Intensität neu ausdeutend, die bislang entweder durch „swing“ oder „energy play“ oder andere Arten der Verzahnung rhythmischer, melodischer und harmonischer Impulse gekennzeichnet war. Ein Bezug auf die afro-amerikanische Herkunft der Musik und all die damit verbundenen Konnotationen, insbesondere jene der Community: dass also Jazz eine Musik ist, die Gemeinschaft braucht, die Reaktion des Publikums. Ein solcher Bezug kann ganz direkt passieren (melodisches, harmonisches oder Sound-Zitat), aber genauso auch indirekt („mit dem Bewusstsein von…“). Zurzeit wird dieser Respekt vor der afro-amerikanischen Herkunft und Erfahrung des Jazz auch hierzulande vermehrt eingefordert, zum Beispiel in Bezug auf ethnische Diversität bei Konzert- und Festivalprogrammen.
Wird das aber in zehn Jahren auch noch der Fall sein oder werden wird die aktuelle Tendenz zum aktiven Ausgleich sozialer und kultureller Ungerechtigkeiten bis dahin nicht mehr als so wichtig erachtet werden und stattdessen vielleicht stärker darauf geachtet, was improvisierte Musik uns „heute“, also 2032, sagen kann? Wird das House of Jazz in Berlin realisiert sein und werden ähnliche Konzerträume auch anderswo in der Republik zur Verfügung stehen, entweder hochsubventioniert durch die öffentliche Hand oder aber privat finanziert durch kommerzielle Geldgeber, die erkannt haben, das künstlerische Forschung auch für ihr Gebiet nicht weniger wichtig ist als jene im analogen oder virtuellen Labor? Werden wir nach wie vor Clubkonzerte vor Livepublikum haben, oder ermöglichen die Entwicklungen der virtuellen Realität uns entsprechende gemeinsame Erlebnisse auf andere Weise? Wird das Musiker:innenleben nach wie vor vor allem aus Reisen, Forschen und Unterrichten bestehen oder werden sie ihrer kreativen Arbeit co2-neutral mehr und mehr von Zuhause aus nachgehen können?
Arrghhh… Ich bin nicht gut in Science Fiction. Vielleicht bin ich zu sehr Realist, vielleicht zu furchtsam, vielleicht einfach zu wenig Künstler… Jedenfalls folgen jedem „Warum nicht!“ in meinem Kopf jede Menge an Fragezeichen. Man neigt ja leicht dazu, die Sicherheit der aktuellen Realität der Unsicherheit des Experiments vorzuziehen: „the devil you know is better than the devil you don’t know…“ Ich belasse es mal dabei und ahne: genauso wenig, wie ich die Zukunft des Jazz ausmalen kann, kann ich mir wirklich die Diskussionen ausmalen, die wir im September 2023 beim Darmstädter Jazzforum über sie haben könnten. Was mich dabei versöhnlich stimmt: dass ich weiß, es mit kreativen Künstler:innen zu tun zu haben, die sich nicht scheuen, einen Gedanken zu nehmen und ihn einfach mal weiterzuspinnen, egal wieviel Anpassungen des Kontextes dabei nötig sind. Das ist schließlich eine der Stärken des Jazz (wie auch anderer künstlerischer Avantgarden): dass er dazu in der Lage ist, sich auf einzelne Motive zu fokussieren, auf rhythmische Strukturen, auf emotionale Ahnungen, diese jeweils zu sezieren und dabei quasi nebenbei Neues zu erschaffen.
Was mich allerdings gleich wieder darüber sinnieren lässt, ob Zukunft immer, nun, zumindest „auch“ Zufall ist? Aber das wäre das Thema eines weiteren Blogeintrags – übrigens genauso wie das Thema „Vision meets Wirklichkeit“, über das ich mir beim nächsten Mal Gedanken machen möchte…
(Wolfram Knauer, 26. September 2022)
Alle Fotos in diesem Blog stammen aus dem Sun Ra Archive der Hartmut Geerken-Sammlung im Jazzinstitut Darmstadt.